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English Pages 516 [542] Year 2005
Springer-Lehrbuch
Bernd Hecker
Europaisches Strafrecht
4y Springer
Professor Dr. Bernd Hecker Justus-Liebig-Universitat Lehrstuhl fur Strafrecht und Strafprozessrecht Hein-Heckroth-Strafie 3 35390 Giefien [email protected]
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet iiber abrufbar.
ISBN 3-540-21669-3 Springer Berlin Heidelberg New York Dieses Werk ist urheberrechtlich geschiitzt. Die dadurch begriindeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfaltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfaltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulassig. Sie ist grundsatzlich vergiitungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2005 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten waren und daher von jedermann benutzt werden durften. Umschlaggestaltung: design & production GmbH, Heidelberg SPIN 11000471
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Vorwort
Europaisches Strafrecht ist eine junge, in dynamischer Entwicklung begriffene Rechtsdisziplin. Der Zugang zu dieser Rechtsmaterie ist dadurch erschwert, dass der einschlagige Rechtsstoff supranationalen, volkerrechtlichen und innerstaatlichen Rechtsquellen verschiedener Hierarchien entstammt. Zu denken ist etwa an Gemeinschaftsprimarrecht, EG-Verordnungen, Richtlinien, volkerrechtliche Ubereinkommen, Rahmenbeschliisse sowie an nationale Gesetze und Rechtsverordnungen. Zwar existiert bereits eine recht stattliche Anzahl an Monographien, Zeitschriftenbeitragen sowie Entscheidungen nationaler und europaischer Gerichte (EuGH und EGMR), die sich mit Fragen des Europaischen Strafrechts befassen. Diese sind jedoch regelmaBig auf die Erorterung bestimmter Themenausschnitte bzw. spezieller Einzelprobleme fokussiert. Auch ist die Lekttire tiefschiirfender Dissertationen, Habilitationsschriften und sonstiger wissenschaftlicher Monographien eine recht ,,schwere Kost", die sich kaum fur Leser eignet, die sich in ein fur sie neues, noch weitgehend unbekanntes Rechtsgebiet einarbeiten wollen. Fur diesen Kreis von Interessenten bietet sich das Studium von Lern- und Ubersichtbeitragen an, die — mit unterschiedlicher Problemgewichtung - in bestimmte Themen des Europaischen Strafrechts einfuhren. Schon aufgrund der in Zeitschriften ilblichen Seitenbegrenzungen vermogen diese Aufsatze freilich keine primar didaktisch ausgerichtete Gesamtdarstellung des Europaischen Strafrechts zu ersetzen, die - im Idealfall - den Rechtsstoff vollstandig und systematisch aufarbeitet, fachliche und methodische Grundkenntnisse des Rechtsgebietes vermittelt, praxisnahe Vertiefungsschwerpunkte setzt, Anleitungen fur die Losung konkreter Falle gibt, zentrale Thesen und Erkenntnisse einpragsam zusammenfasst, wichtige Literaturbeitrage und aktuelle Rechtsprechung nachweist, dogmatisches und kriminalpolitisches Problembewusstsein weckt, zum Lernen und Weiterdenken anregt sowie nicht zuletzt - einen Kanon ,,abfragbaren Wissens" prasentiert. Ob und wie gut dies dem vorliegenden Lehrbuch gelungen ist, mogen die Leser entscheiden. Fur konstruktive Kritik und Verbesserungsvorschlage jeder Art ist der Verfasser offen und dankbar. Das vorliegende Lehrbuch richtet sich in erster Linie an Studierende der Rechtswissenschaften sowie Absolventen von Polizeifachhochschulen, die sich in das Europaische Strafrecht einarbeiten, ihr Wissen festigen und erweitern oder auch nur Prufungsstoff repetieren wollen. Insbesondere Studierenden, die Strafrecht oder Europarecht als Vertiefungs- bzw. Schwerpunktfach gewahlt haben, moge das Lehrbuch niltzliche Dienste erweisen. Aber auch Rechtspraktikern, die z. B. als Richter, Staatsanwalt, Strafverteidiger oder Rriminalbeamter mit der Be-
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Vorwort
arbeitung grenzilberschreitender oder europarechtsbeziiglicher Strafrechtsfalle befasst sind, soil der ,,Einstieg" in die Materie erleichtert und ein rascher Zugang zu den breit verstreuten Rechtsbestimmungen sowie zu problemvertiefender Rechtsprechung und Literatur ermoglicht werden. SchlieBlich moge das Lehrbuch den in Wissenschaft und Lehre tatigen Kollegen Anregungen fur Vortrage und Lehrveranstaltungen sowie Inspiration fur die weitere Erforschung ernes in rasanter Entwicklung befindlichen Rechtsgebietes bieten. Eine gewinnbringende Nutzung dieses Lehrbuches setzt ein gewisses MaB an fachlichem Vorwissen auf Seiten des Lesers voraus. Dieser sollte ilber fortgeschrittene Kenntnisse des deutschen Straf- und Strafprozessrechts sowie zumindest tlber Basiswissen in den Bereichen Verfassungs-, Europa- und Volkerrecht verfiigen. Studierende der Rechtswissenschaften oder Absolventen von Polizeifachhochschulen dilrften diese Voraussetzungen spatestens ab dem 4. Studiensemester mitbringen. Es erscheint sinnvoll, dargebotene Beispielsfalle zunachst selbstandig zu durchdenken und sodann mit den Losungshinweisen zu vergleichen. Zur Vertiefung bestimmter Einzelprobleme oder Themenkomplexe empfiehlt sich das Studium der angegebenen Literatur und Rechtsprechung. Dem eiligen oder um Vororientierung bemuhten Leser sei die Lekture der am Ende jedes Kapitels befindlichen Zusammenfassungen empfohlen. Auf den nachfolgend genannten Internetseiten findet der Leser Informationen iiber aktuelle europapolitische Themen und rechtliche Entwicklungen auf europaischer Ebene. Uber http://www.coe.int gelangt man auf die Homepage des Europarates und ilber http://www.europa.eu.int auf die der Europaischen Union. Der Zugriff auf die Datenbank CELEX (Recht der EU) erfolgt ilber http://europa.eu.int/celex. Fur wertvolle Diskussionen, Anregungen, Fundstellenrecherchen und sonstige tatkraftige Unterstutzung in der Entstehungsphase dieses Buches danke ich Herrn Richter Dr. Lars Witteck sowie meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Herrn Markus Benner, Frau Melanie Berkl, Herrn Dominique Dahlmanns, Frau Anja Dohmen und Herrn Andreas Glaser.
GieBen, im Januar 2005
Bernd Hecker
Inhaltsubersicht
Abktirzungsverzeichnis Abgekiirzt zitierte Literatur
XXV XXXIII
Europaische Integration: Wichtige Daten und Ereignisse imUberblick
XXXIX
Teil I: Einfuhrung § 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts § 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzilberschreitenden Bezugen
3 25
Teil II: Trager des Europaischen Strafrechts und ihre Handlungsformen §3Europarat
79
§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
113
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk globaler, europaischer oder bilateraler Kooperation in Strafsachen § 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
163 213
Teil III: Strafrechtsrelevante Europaisierungsfaktoren § 7 Assimilierungsprinzip
229
§ 8 Strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG
269
§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
303
§ 10 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
327
§ 11 Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Saule
365
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
421
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot in derEU
449
VIII
Inhaltsiibersicht
Teil IV: Strafrechtlicher Schutz der finanziellen Interessen der EG § 14 Betrugsbekampfung durch Europaisches Strafrecht
483
Stichwortverzeichnis
509
Inhaltsverzeichnis
Abkiirzungsverzeichnis
XXV
Abgekiirzt zitierte Literatur
XXXIII
Europaische Integration: Wichtige Daten und Ereignisse im Uberblick
XXXIX
Teil I: Einfuhrung § 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts 3 A. Einleitung 3 B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"? 4 I. Europaisches Strafrecht als strafrechtliche Rechtsmaterie sui generis.... 4 1. Gemeinsames rechtskulturelles Erbe der europaischen Staaten 4 2. Europaisches Strafrecht und Europaisierung des Strafrechts 5 II. Europaisches Strafrecht als rechtswissenschaftliche Querschnittsmaterie 7 1. Kriminalpolitik 7 2. Strafrechtsdogmatik 8 3. Strafverfahrensrecht 9 4. Kriminologie 10 5. Europarecht 11 6. Verfassungs- und Volkerrecht 12 III. Praktische Bedeutung des Europaischen Strafrechts 12 1. Strafrechtsbegrenzende Europaisierungseffekte 12 2. Starkung strafprozessualerRechtspositionen 15 3. Strafrechtsausdehnende Europaisierungseffekte 17 a) Europa als ,,kriminalgeographischer Raum" 17 b) Europaisches Strafrecht als Antwort auf grenziiberschreitende Kriminalitat 18 C. Literaturhinweise 21 D. Rechtsprechungshinweise 22 E. Zusammenfassung von § 1 23
X
Inhaltsverzeichnis
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Beziigen 25 A. Internationales Strafrecht 25 I. Begriff und Funktion des internationalen Strafrechts 25 II. Schutzbereich deutscher Straftatbestande 26 III. Volkerrechtliche Grundlagen des internationalen Strafrechts 29 IV. Prinzipien des internationalen Strafrechts 30 1. Territorialitatsprinzip 30 a) Inlandsbegriff 30 b) Ubiquitatsgrundsatz 31 aa) Anwendungsbeispiele 32 bb) Abtreibungstourismus 34 c) Distanzdelikte 36 aa) Internetkriminalitat 36 bb) Grenzuberschreitende Umweltdelikte 38 2. Flaggenprinzip 42 3. Aktives Personalitatsprinzip 42 4. Passives Personalitatsprinzip 43 5. Schutzprinzip 43 6. Weltrechtsprinzip 44 7. Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege 46 8. Kompetenzverteilungsprinzip 49 9. Prozessuale Aspekte der Verfolgung von Auslandstaten 50 V. Literaturhinweise 50 VI. Rechtsprechungshinweise 51 B. Transnationales Strafrecht 51 I. Begriff und Funktion des transnationalen Strafrechts 51 II. Rechtshilfe in Strafsachen am Beispiel der Auslieferung 54 1. Rechtliche Grundlagen des Auslieferungsverkehrs 54 2. Grundprinzipien und allgemeine Voraussetzungen der Auslieferung 56 a) Grundsatz der Gegenseitigkeit 56 b) Beiderseitige Straf- und Verfolgbarkeit 56 c) Grundsatz der Spezialitat 57 d) Auslieferungshindernisse 57 3. Auslieferungsverfahren 59 a) Verfahrensweise nach einem Fahndungserfolg in Deutschland.. 59 b) Formliches Auslieferungsverfahren in Deutschland 61 III. Literaturhinweise 62 IV. Rechtsprechungshinweise 63 C. Volkerstrafrecht 63 I. Begriff und Funktion des Volkerstrafrechts 63 II. Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) 64 III. Durchsetzung des Volkerstrafrechts 66 IV. Deutsches Volkerstrafgesetzbuch (VStGB) 68 1. Strafanwendungsrecht des VStGB 69 2. Allgemeiner Teil des VStGB 69
Inhaltsverzeichnis 3. Besonderer Teil des VStGB 4. Zusammenfassende Bewertung - Vorbildcharakter des VStGB V. Literaturhinweise D. Zusammenfassung von § 2
XI 70 71 72 72
Teil II: Trager des Europaischen Strafrechts und ihre Handlungsformen §3Europarat A. Strukturen und Ziele des Europarates I. Rechtsnatur des Europarates II. Organe des Europarates III. Arbeitsprogramm des Europarates B. Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Europarates I. European Commitee on Crime Problems II. Strafrechtsrelevante Konventionen l.Ubersicht 2. Praktische Bedeutung der Konventionen III. Europarat als Forum paneuropaischer Kooperation IV. Literaturhinweise C. Bedeutung der EMRK fur die europaische Strafrechtspflege I. System des Menschenrechtsschutzes 1. Konventionsorgane 2. Verfahrensgang nach Einlegung einer Individualbeschwerde 3. Wirkung rechtskraftiger Urteile des Gerichtshofs 4. Innerstaatliche Umsetzung von Urteilen des Gerichtshofs II. Anwendungsbereiche strafrechtsrelevanter Konventionsrechte 1. Autonome Auslegung der Konventionsrechte 2. Konventionsgarantien als Auslieferungshindernis a) Drohende Todesstrafe und unmenschliche Behandlung b) Rechtschutzdefizit und ,,drakonische" Strafe 3. Strafprozessuale Verfahrensgarantien a) Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten b) Einsatz von Lockspitzeln c) Frage- und Konfrontationsrecht des Beschuldigten d) Uberlange Verfahrensdauer 4. Freiheitsrechte und strafprozessuale Untersuchungshaft 5. Einfluss von Konventionsrechten auf das materielle Strafrecht III. Keine unmittelbare Bindung der EG an die EMRK D. Literaturhinweise E. Rechtsprechungshinweise F. Zusammenfassung von § 3
79 79 79 81 81 82 82 83 83 84 86 87 87 89 90 90 91 92 93 93 94 95 97 100 100 101 101 103 104 106 108 109 110 110
§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union A. Europaische Gemeinschaft (EG) I. Rechtsnatur der EG II. Organe der EG und ihre Funktionen
113 113 114 115
XII
Inhaltsverzeichnis 1. Rat der Europaischen Gemeinschaften (Rat der Europaischen Union) 115 a) Allgemeines 115 b) Aufgaben des Rates 116 c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Rates 117 2. Kommission der Europaischen Gemeinschaften (Kommission).... 119 a) Allgemeines 119 b) Aufgaben der Kommission 120 c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten der Kommission 121 d) Europaisches Amt fur Betrugsbekampfung (OLAF) 123 3. Europaisches Parlament 126 a) Allgemeines 126 b) Aufgaben des Europaischen Parlaments 126 c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Europaischen Parlaments.. 128 4. Europaischer Gerichtshof 129 a) Allgemeines 129 b) Aufgaben des Gerichthofes 129 c) Klage- und Verfahrensarten 130 aa) Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EGV; Art. 35 EUV) 130 bb) Vertragsverletzungsklagen (Art. 226 EGV) 131 cc) Nichtigkeitsklagen (Art. 230 EGV) 132 dd) Untatigkeitsklagen (Art. 232 EGV) 132 d) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des EuGH 132 5. Europaischer Rechnungshof 133 a) Allgemeines 133 b) Aufgaben des Rechnungshofes 133 c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Rechnungshofs 134 III. Rechtsquellen und Charakteristika der Gemeinschaftsrechtsordnung 134 1. Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung 134 2. Primares Gemeinschaftsrecht 136 3. Sekundares Gemeinschaftsrecht 137 a) Verordnungen (Art. 249 II EGV) 137 b) Richtlinien (Art. 249 III EGV) 137 c) Entscheidungen (Art. 249 IV EGV) 139 d) Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 249 V EGV) 139 e) Sonstige Rechtsakte (,,ungekennzeichnete Rechtshandlungen"). 139 IV. Literaturhinweise 139 V. Rechtsprechungshinweise 140 B. Kompetenzen der EG zur originaren Strafgesetzgebung 140 I. Strafrecht als autonom zu bestimmender Begriff des Gemeinschaftsrechts 141 1. Untauglichkeit einer formalen Begriffsbestimmung 141 2. Begriffsbestimmung anhand materieller Kriterien 142
Inhaltsverzeichnis 3. Abgrenzung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht im weiteren Sinne 4. Zuordnung einzelner Sanktionstypen des Gemeinschaftsrechts a)GeldbuBen b) Zwangsgeld und Strafgeld c) Sanktionen im Agrar- und Fischereirecht II. Diskussion einer etwaigen Strafgesetzgebungsbefugnis der EG 1. Judikatur des EuGH und deutscher Gerichte 2. Literaturansichten 3. Vertiefende Diskussion zentraler Gesichtspunkte a) Kompetenzproblem und Legitimationsfrage b) Wortlaut potentieller Ermachtigungsnormen und systematische Aspekte c) Kriminalstrafrecht als Gegenstand der dritten Saule der EU d) Bedeutung des Art. 280 IV EGV 4. Ergebnis - Kerne Strafgesetzgebungsbefugnis der EG III. Literaturhinweise IV. Rechtsprechungshinweise C. Europaische Union (EU) I. Rechtsnatur der EU II. Verhaltnis der EG zur EU - Tempelarchitektur der EU III. Literaturhinweise IV. Rechtsprechungshinweise D. Zusammenfassung von § 4 § 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk globaler, europaischer oder bilateraler Kooperation in Strafsachen A. EU-Mitgliedstaaten als Trager des Europaischen Strafrechts B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen I. Einfuhrung II. Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) III. Vereinte Nationen (UN) 1. Bekampfung der Geldwasche und Betaubungsmittelkriminalitat... 2. Bekampfung grenztiberschreitender Verbringung gefahrlicher Abfalle 3. Bekampfung der transnationalen Kriminalitat IV. Organisation fur wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 1. Bekampfung von Korruption und Bestechung 2. Bekampfung der Geldwasche V. Gipfelkonferenz der G7/G8-Staaten VI. Zusammenarbeit im Europarat 1. Bekampfung der Geldwasche und Betaubungsmittelkriminalitat... 2. Bekampfung der Korruption 3. Bekampfung der Cyber-Kriminalitat 4. Bedeutung der Zusammenarbeit im Europarat
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Inhaltsverzeichnis
C. Intergouvemementale Zusammenarbeit in der Europaischen Union 174 I. Informelle Zusammenarbeit 174 1. TREVI-Arbeitsgruppen 174 2. CELAD 175 II. Zusammenarbeit im Rahmen der Schengener Abkommen 176 1. Schengen I und Schengen II (SDU) 176 2. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit auf der Basis desSDU 177 a)Uberblick 177 b) Polizeilicher Informationsaustausch (Art. 39 SDU) 178 c) Grenzuberschreitende Observation (Art. 40 SDU) 179 d) Grenzuberschreitende Nacheile (Art. 41 SDU) 181 e) Gleichstellung der Beamten (Art. 42 SDU) und Schadensersatz (Art. 43 SDU) 182 f) Das Schengener Informationssystem - SIS (Art. 92-119 SDU). 183 III. Die dritte Saule der EU 185 1. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) 185 2. European Drug Unit (EDU) 186 3.Europol 187 a) Organisatorische Strukturen und Kontrolle von Europol 187 b) Aufgaben von Europol 188 c) Datenschutz 190 4. Europaisches Justizielles Netz (EJN) 191 5. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 192 6. Eurojust 194 a) Organisatorische Strukturen von Eurojust 194 b) Aufgaben von Eurojust 194 D. Bilaterale Zusammenarbeit mit Drittstaaten am Beispiel des deutschschweizerischen Polizeivertrags 196 I. Motive und Ziele des Polizeivertrages 196 II. Wesentlicher Inhalt des Polizeivertrages 197 l.Uberblick 197 2. Observation (Art. 14, 15) 198 3. Nacheile (Art. 16) 200 4. Verdeckte Ermittlungen (Art. 17, 18) 201 5. Kontrollierte Lieferungen (Art. 19) 202 6. Datenschutz (Art. 26-28) 203 7. Rechtsverhaltnisse bei Amtshandlungen im anderen Vertragsstaat 204 8. Sonstige Regelungen 204 III. Wiirdigung des Polizeivertrages 205 E. Rechtsschutz gegen grenzuberschreitende Strafverfolgung 206 F. Literaturhinweise 209 G. Zusammenfassung von § 5 210
Inhaltsverzeichnis
§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit A. Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das Strafverfahren I. Funktion und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens 1. Sicherung des Auslegungs- und Verwerfungsmonopols des EuGH 2. Individualschutzfunktion II. Vorlagebefugnis und Vorlagepflicht III. Fallgruppen von Vorlagen im Strafprozess IV. Wirkungen der Vorabentscheidung B. Vorabentscheidungsverfahren und strafprozessuale Maximen I. Vorabentscheidung im Haupt- und Zwischenverfahren 1. Zulassigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens 2. Vorlageermessen und Ermittlungsgrundsatz II. Vorabentscheidung im Ermittlungsverfahren 1. Zulassigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens 2. Konflikt zwischen Vorlage und Funktion des Ermittlungsverfahrens III. Auswirkung vorlagebedingter Verfahrensverzogerungen C. Literaturhinweise D. Rechtsprechungshinweise E. Zusammenfassung von § 6
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213 213 213 213 214 215 216 218 218 219 219 219 220 220 220 222 223 223 224
Teil III: Die strafrechtsrelevanten Europaisierungsfaktoren § 7 Assimilierungsprinzip A. Mitgliedstaatliches Strafrecht im Dienste des Gemeinschaftsrechts B. Assimilierung durch supranational Verweisungen I. Primarrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestande 1. Aussagedelikte 2. Verletzung von Geheimhaltungspflichten II. Sekundarrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestande C. Assimilierung als Auspragung der Schutzverpflichtung aus Art. 10EGV I. Befugnis der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von VerstoBen gegen Gemeinschaftsrecht (,,Amsterdam Bulb") II. Pflicht der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von VerstoBen gegen Gemeinschaftsrecht 1. Mindestanforderungen an Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts (,,von Colson und Kamann") 2. Gleichstellungserfordernis und Mindesttrias (,,Griechischer Mais") a) Der Fall ,,Griechischer Mais" - ein ,,leading case" des Europaischen Strafrechts b) Bedeutung des ,,Mais-Urteils" 3. Gegenstand der strafrechtlichen Schutzverpflichtung
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Inhaltsverzeichnis
III. Gemeinschaftsrechtlicher Rahmen fur Strafgesetze im Dienste des Gemeinschaftsrechts 243 1. Gemeinschaftsrechtlich festgelegte Untergrenze 243 2. Prazisierung der Untergrenze der Sanktionierungspflicht (,,Vandevenne") 243 3. Gemeinschaftsrechtlich festgelegte Obergrenze 244 4. Prazisierung der Obergrenze strafrechtlicher Sanktionen (,,Hansen") 246 5. Inhaltsbestimmung der gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbegriffe 248 a) Konkretisierungsspielraum der Mitgliedstaaten 248 b) Gleichstellungserfordernis 249 c) Wirksamkeits- und Abschreckungserforderais 250 d) VerhaltnismaBigkeit (Angemessenheit) der Sanktion 252 D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht 253 I. Schutzbereichsausdehnung durch Gleichstellungsvorschriften 253 1. Gleichstellungsbestimmung des § 264 VII Nr. 2 StGB 254 2. Gleichstellungsbestimmung des EUBestG 255 II. Verweisung auf Gemeinschaftsrecht durch Blankettstrafgesetze 256 1. Gemeinschaftsrechtsakzessorisches Blankettstrafrecht 256 2. Grundtypen gemeinschaftsrechtsakzessorischer Blankettstrafgesetze 258 a) Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Ver- oder Gebote einer EG-Verordnung 258 b) Strafbarkeitslucken durch Austausch des Verweisungsobjekts.. 261 c) Strafbewehrung von Gemeinschaftsrecht durch Festlegungen des deutschen Verordnungsgebers 262 3. Zusammenfassende Wilrdigung 265 E. Literaturhinweise 266 F. Rechtsprechungshinweise 266 G. Zusammenfassung von § 7 267 § 8 Strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG A. Strafrechtsrelevante Sekundarrechtspraxis I. Anweisungskompetenz der EG und mitgliedstaatliche Handlungspflicht II. Kontroverse Standpunkte von Kommission und Mitgliedstaaten 1. Kommissionsvorschlag fur eine Geldwascherichtlinie 2. Kommissionsvorschlag fur eine Verordnung ttber die Einfuhrung des Euro 3. Kommissionsvorschlag fur eine Richtlinie zum Umweltstrafrecht III. EG-Anweisungen mit Strafrechtsbezug - bisherige Praxis 1. Ausgangslage 2. Beispiele sekundarrechtlicher Anweisungen zu Sanktionsmaflnahmen
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Inhaltsverzeichnis
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a) Verordnung uber Vermarktungsnormen fiir bestimmte Lebensmittel 279 b) ,,Basisverordnung" J m Bereich des Lebensmittelrechts 280 c) EG-Abfallverbringungsverordnung 281 d) Insider-Richtlinie 282 B. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 282 I. Meinungsstand in der Literatur 283 II. Begriindungsansatze fur eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG 283 1. Anweisungskompetenzen aus Art. 10 EGV 284 2. Spezielle und allgemeine Harmonisierungsbefugnisse des EGV ... 284 3. Annex-Kompetenzen 286 III. Potentielle Ermachtigungsgrundlagen fur strafrechtliche Anweisungen 286 1. Spezialermachtigungen im Bereich der gemeinsamen Politiken.... 287 a) Gemeinsame Agrarpolitik (Art. 32-38 EGV) 287 b) Gemeinsame Verkehrspolitik (Art. 70-80 EGV) 287 c) Umweltschutz (Art. 174-176 EGV) 288 2. Allgemeine Harmonisierungsbefugnisse (Art. 94, 95 EGV) 289 3. Schutz der EG-Finanzinteressen (Art. 280 IV EGV) 292 4. Grenzen der strafrechtlichen Anweisungskompetenz 295 a) SubsidiarMtsprinzip 295 b) VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz 297 c) Reichweite der strafrechtlichen Anweisungsbefugnis der EG.... 298 C. Literaturhinweise 300 D. Zusammenfassung von § 8 300 § 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts A. Gemeinschaftsrecht und nationales Recht I. Grundlagen II. Vorranggrundsatz 1. Position des EuGH - Unbeschrankter Vorrang des Gemeinschaftsrechts 2. Position des BVerfG - Begrenzter Vorrang des Gemeinschaftsrechts 3. Anwendungs- versus Geltungsvorrang B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht I. Neutralisierung mitgliedstaatlicher Strafvorschriften II. Uberlagerung strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen III. Kollisionskonstellationen 1. Echte und unechte (scheinbare) Kollision 2. Direkteund indirekte Kollision IV. Fallbeispiele aus Praxis und Literatur 1. Unbefugte Ausilbung einer veterinarmedizinischen Tatigkeit (,,Auer")
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Inhaltsverzeichnis
2. VerstoB gegen nationale Kennzeichnungsvorschriften (,,Ratti").... 313 3. Grenziiberschreitende Veranstaltung einer Lotterie oder Werbung hierfur 315 4. Ubertreibende Produktanpreisung in grenzuberschreitender Werbekampagne 316 5. Abtreibungstourismus 317 a) Gemeinschaftsrechtsbezug des Falles 317 b) Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote 318 c) Grundfreiheiten als Beschrankungsverbote 318 d) Schutz des ungeborenen Lebens als zwingender Grand des Allgemeininteresses 319 e) Strafbarkeit der Schwangeren und VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz 319 f) Strafbarkeit des Arztes und VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz 321 6. Lebenslange Ausweisung als strafrechtliche Nebenfolge CCalfa") 322 C. Literaturhinweise 323 D. Rechtsprechungshinweise 323 E. Zusammenfassung von § 9 324 § 10 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 327 A. Das Rechtsinstitut der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 327 I. Bedeutung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 327 II. Begrundung und Inhalt der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 328 1. Leitentscheidungen des EuGH (,,von Colson und Kamann"; ,,Harz") 328 2. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen des Auslegungsgebotes 330 3. Nationale Rechtsgrundlagen einer gemeinschaftsrechtsfreundlichen Auslegung 331 III. Gegenstand der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 332 1. Umsetzungsrecht und sonstiges nationales Recht (,,Marleasing"). 332 2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts ohne vorangegangene Transformationsgesetzgebung 333 a) Richtlinie und nationales Recht 333 b) Fallbeispiel ,,Nostalgiewerbung" fur Lebensmittel 336 IV. Richtlinienkonforme Auslegung als mehrphasiger Interpretationsakt 338 V. Verhaltnis der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zu nationalen Auslegungsmethoden 339 VI. Beginn der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung 341 VII. Grenzen des Gebots gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung 344 B. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht 346 I. Aussagen des EuGH 346
Inhaltsverzeichnis 1. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt nicht umgesetzten Richtlinie (,,Kolpinghuis Nijmegen") 2. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt fehlerhaft umgesetzten Richtlinie (,,Arcaro") 3. Erfordernis der Bestimmtheit von Richtlinie und Strafgesetz (,,Telecom Italia") II. Aussagen des BGH (,,Pyrolyse-Urteil") III. Zur sog. ,,strafbarkeitserweiternden" Auslegung IV. Anwendungsfelder der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung imStrafrecht 1. AmtsanmaBung (§ 132 StGB) 2. Verwahrungsbruch (§ 133 StGB) 3. Aussagedelikte (§§ 153 ff. StGB) 4. Urkundendelikte (§§ 267, 271, 274, 348 StGB) 5. Umweltdelikte (§§ 324 a I, 325 I, II, 325 a I, II StGB) 6. Fahrlassigkeitsdelikte C. Literaturhinweise D. Rechtsprechungshinweise E. Zusammenfassung von § 10 § 11 Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Saule A. Einfuhrung B. Angleichung des materiellen Strafrechts im Rahmen der PJZS I. Rechtlicher Rahmen der Strafrechtsangleichung 1. Begrenzung auf Mindestvorschriften 2. Gemeinsame Definitionen 3. Festlegung von Mindesthochststrafen II. Grenzen der Strafrechtsangleichung III. Handlungsformen der Strafrechtsangleichung C. Bereiche zulassiger Strafrechtsangleichung nach Art. 31 lit. e EUV I. Organisierte Kriminalitat 1. Anwendungsbereich 2. Rahmenbeschluss I zum strafrechtlichen Schutz des Euro a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 3. Rahmenbeschluss II und Beschluss ttber den Schutz des Euro vor Falschungen 4. Rahmenbeschluss zur Bekampfung des Menschenhandels a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 5. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Schleuserkriminalitat a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses
XIX
346
348 349 351 353 355 355 356 357 357 358 360 361 362 382 365 365 366 366 366 366 367 367 368 369 369 369 370 370 371 371 372 373 373 373 375 375 376
XX
Inhaltsverzeichnis b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 6. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Geldwasche a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht II. Terrorismus 1. Anwendungsbereich 2. Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekampfung a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 3. Rahmenbeschluss ilber gemeinsame Ermittlungsgruppen III. Illegaler Drogenhandel 1. Anwendungsbereich 2. Rahmenbeschlussvorschlag zur Bekampfung des illegalen Drogenhandels a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlussvorschlages b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht IV. Ausdehnung der Angleichungsbefugnis auf weitere Kriminalitatsfelder 1. Weite Auslegung des Art. 31 lit. e EUV 2. Rahmenbeschluss zum strafrechtlichen Schutz bargeldloser Zahlungsmittel a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 3. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Kinderpornographie a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 4. Rahmenbeschluss zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 5. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Bestechung im privaten Sektor a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 6. Rahmenbeschlussvorschlag zur Bekampfung von Fremdenfeindlichkeit a) Regelungsgegenstand und Ziel des vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses
377 378 378 379 380 380 381 381 382 383 383 385 386 387 387 388 389 389 391 393 393 394 394 394 396 397 397 398 400 401 403 403 404 406 406 407 408 409 410
Inhaltsverzeichnis b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht 7. Rahmenbeschlussvorschlag iiber Angriffe auf Informationssysteme a) Regelungsgegenstand und Ziel des vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses b) Wesentlicher Inhalt c) Deutsches Strafrecht D. Literaturhinweise E. Zusammenfassung von § 11
XXI 411 413 413 415 415 418 419 419
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen 421 A. Einfuhrung 421 B. Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit 422 I. Instrumente des Rechtshilfeverkehrs in Europa 422 1. Europaisches Rechtshilfeubereinkommen des Europarates 423 2. Rechtshilfekooperation nach Art. 48 ff. SDU 423 3. EU-Ubereinkommen ilber die Rechtshilfe in Strafsachen (EURU) 423 4. Rahmenbeschlussvorschlag iiber die Europaische Beweisanordnung 424 II. Instrumente des Vollstreckungshilfeverkehrs in Europa 425 C. Erleichterung der Auslieferung 426 I. Instrumente des Auslieferungsverkehrs in Europa 427 1. Europaisches Auslieferungsiibereinkommen des Europarates 427 2. Erleichterung des Auslieferungsverkehrs durch Art. 59 ff. SDO ... 428 3. EU-Ubereinkommen ttber das vereinfachte Auslieferungsverfahren 429 4. EU-Auslieferungsiibereinkommen (EUAU) 429 II. Rahmenbeschluss iiber den Europaischen Haftbefehl 430 1. Einfuhrung 430 2. Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 431 3. Wesentlicher Inhalt des Rahmenbeschlusses..., 431 a) Verfahrensrechtliche Regelungen 431 b) Materielle Bestimmungen 432 4. Vorlaufige Bewertung und Ausblick 436 D. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen 439 I. Anwendungsfeld 439 II. Gemeinschaftsrechtlicher Hintergrund des Prinzips 440 III. Tragfahigkeit des Prinzips beim transnationalen Beweistransfer 442 IV. Losungsmoglichkeiten de lege ferenda 444 E. Literaturhinweise 446 F. Rechtsprechungshinweise 446 G. Zusammenfassung von § 12 446
XXII
Inhaltsverzeichnis
§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot in der EU 449 A. Einfuhrung 449 B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU 457 I. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gem. Art. 35 EUV 457 II. Das Merkmal ,,rechtskraftige Aburteilung" 459 1. Belgische ,,transactie" 460 2. Osterreichisches Straferkenntnis 461 3. Niederlandische ,,transactie" und staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung gem. § 153 a StPO 462 4. Vertiefende Diskussion 463 a) Wortlautinterpretation 464 b) Systematische Interpretation 465 c) Teleologische Interpretation 466 d) Definition des Merkmals ,,rechtskraftige Aburteilung" 467 III. Vollstreckungselemente des Art. 54 SDU 468 1. Erstes Vollsteckungselement 469 2. Zweites Vollstreckungselement 469 3. Drittes Vollstreckungselement 470 a) Wortlautauslegung 472 b) Teleologische Auslegung 472 IV. Tatbegriff und Reichweite der materiellen Rechtskraft 473 1. Deutscher Strafbefehl und Art. 54 SDU 474 2. Einstellung des Verfahrens nach Erfullung einer Auflage 475 V. Anwendbarkeit des Art. 54 SDU auf Entscheidungen im BuBgeldverfahren 476 1. Verurteilung zu einer BuBgeldzahlung 476 2. Erledigungswirkung eines rechtskraftigen BuBgeldbescheids 477 VI. Zur Frage der Weitergeltung mitgliedstaatlicher Erklarungen und Vorbehalte nach der Uberfuhrung des SDU in den Rahmen der EU .. 477 C. Ausblick 478 D. Literaturhinweise 479 E. Rechtsprechungshinweise 480 F. Zusammenfassung von § 13 480 Teil IV: Strafrechtlicher Schutz der finanziellen Interessen der EG § 14 Betrugsbekampfung durch Europaisches Strafrecht A. Gemeinschaftsfinanzen als Angriffsflache fur kriminelle Praktiken I. Einfuhrung II. Gemeinschaftsfinanzen I.EigenmittelderEG 2. Ausgaben der EG III. Deliktsformen und Taterstrukturen 1. Erscheinungsformen der EG-Betriigereien a) Hinterziehung von Abgaben bei der Wareneinfuhr b) Erschleichung von Erstattungen bei der Warenausfuhr
483 483 483 485 486 486 487 487 488 488
Inhaltsverzeichnis c) Abgabenhinterziehung und Subventionserschleichung innerhalb der EG 2. TSterstrukturen und SchadensschStzungen IV. Praventionsstrategien B. EG-Finanzinteressen als Schutzobjekt des Europaischen Strafrechts I. Mitgliedstaatliche Schutzverpflichtung II. Rechtszersplitterung als Hindernis fur eine effektive Betrugsbekampfung III. Wege zur Uberwindung der Rechtszersplitterung in Europa IV. Ubereinkommen iiber den Schutz der finanziellen Interessen der EG 1. Wesentlicher Inhalt der PIF-Konvention 2. Umsetzung in Deutschland C. Modelle fur die kunftige Entwicklung des Europaischen Strafrechts I. Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen der EU 1. Wesentlicher Inhalt des Corpus Juris 2. Bedeutung des Corpus Juris II. Grtinbuch der Kommission 1. Wesentlicher Inhalt des GrUnbuchs 2. Kritische Wiirdigung III. Supranationales Betrugsstrafrecht auf Grundlage der zukiinftigen EU-Verfassung D. Literaturhinweise E. Zusammenfassung von § 14 Stichwortverzeichnis
XXIII
488 489 490 491 491 491 493 494 494 496 497 497 497 499 500 500 502 504 505 506 509
Abkurzungsverzeichnis
a.A. aaO abl. AB1EG Abs. AE a.F. AG AIDP Alt. AMG Anm. AO A6R Art. AT ATS Aufl. AuslG
anderer Ansicht am angegebenen Ort ablehnend Amtsblatt der Europaischen Gemeinschaften Absatz Alternativentwurf Europaische Strafverfolgung alte Fassung Amtsgericht Association internationale de droit penal Alternative Arzneimittelgesetz Anmerkung Abgabenordnung Archiv fur Sffentliches Recht Artikel Allgemeiner Teil Osterreichische Schilling Auflage Auslandergesetz
BAG BAGE BayObLG BayObLGSt
Bundesarbeitsgericht Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts Bayerisches Oberstes Landesgericht Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Strafsachen Betriebs-Berater betreffend Band Biirgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt (Teil, Seite) Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen Entscheidungen des GroBen Senats des Bundesgerichtshofes in Strafsachen
BB betr. Bd. BGB BGB1. BGH BGHSt BGHStGrS
XXVI
Abkiirzungsverzeichnis
bzw.
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Bundeskriminalamt Bundesnaturschutzgesetz Bundesrepublik Deutschland Bundesratsdrucksache Besonderer Teil Bundestags-Drucksache Betaubungsmittelgesetz Basler Ubereinkommen tlber die Kontrolle der grenziiberschreitenden Verbringung gefahrlicher Abfalle und ihrer Entsorgung Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise
ChemG CELAD CJ C.SIS
Chemikaliengesetz Comite Europeen de la Lutte Antidrogue Corpus Juris Central Schengen Information System
d. ders. d.h. dies. Diss. DM DOV DRiZ DVB1
der, des derselbe das heiBt dieselben Dissertation Deutsche Mark Die Offentliche Verwaltung Deutsche Richter Zeitung Deutsches Verwaltungsblatt
EAG EAGV
Europaische Atomgemeinschaft Vertrag zur Griindung der Europaischen Atomgemeinschaft European Commitee on Crime Problems European Currency Unit European Drug Unit Europaische Gemeinschaft Verordnung zur Uberwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfallen in der, in die und aus der Europaischen Gemeinschaft Europaische Gemeinschaft fur Kohle und Stahl
BGHZ BKA BNatSchG BRD BR-Drs. BT BT-Drs. BtMG BU
BVerfG BVerfGE BVerwG BVerwGE
ECCP ECU EDU EG EGAbfVerbVO
EGKS
Abkiirzungsverzeichnis EGMR EGV EJN ELR EMRK endg. EP ETS EU EuAlUbk EUAU EUBestG EuG EuGH EuGHE EUR EuR Euratom EuRhUbk EURU EUV EuZW evtl. EWG exempl. EZB f. FATF FCKW ff. FS GA GASP GD gem. GG GKG
XXVII
Europaischer Gerichtshof fur Menschenrechte Vertrag zur Grundung der Europaischen Gemeinschaft Europaisches Justizielles Netz European Law Review Europaische Menschenrechtskonvention endgilltige Fassung Europaisches Parlament European Treaty Series Europaische Union Europaisches Auslieferungsiibereinkommen Auslieferungsiibereinkommen der Mitgliedstaaten der EU EU-Bestechungsgesetz Europaisches Gericht erster Instanz Europaischer Gerichtshof Entscheidungen des Europaischen Gerichtshofs Euro Europarecht (Zeitschrift) siehe EAG Europaisches Ubereinkommen tiber die Rechtshilfe in Strafsachen Ubereinkommen uber die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU Vertrag ilber die Europaische Union Europaische Zeitschrift fur Wirtschaftsrecht eventuell Europaische Wirtschaftsgemeinschaft exemplarisch Europaische Zentralbank folgende(r) Financial Action Task Force on Money Laundering Fluorchlorkohlenwasserstoff fortfolgende Festschrift Goltdammers's Archiv fur Strafrecht Gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik Generaldirektion(en) gemaB Grundgesetz fur die Bundesrepublik Deutschland Gerichtskostengesetz
XXVIII
Abkiirzungsverzeichnis
GMB1. GRECO GRUR GwG
Gemeinsames Ministerialblatt Gruppe der Staaten gegen Korruption Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht Geldwaschegesetz
h.A. h.L. h.M. Hrsg.
herrschende Ansicht herrschende Lehre herrschende Meinimg Herausgeber
i.d.R. i.d.F. i.e.S. IKPK
IRhSt IStGH i.V.m. i.w.S.
in der Regel in der Fassung im engeren Sinn Internationale Kriminalpolizeiliche Kommission International Mitlitary Tribunal Gesetz iiber die Bekampfung des Bestechung auslandischer Amtstrager im internationalen Geschaftsverkehr Internationaler Pakt ilber Biirgerliche und Politische Rechte Gesetz iiber die internationale Rechtshilfe in Strafsachen Internationale Rechtshilfe in Strafsachen Internationaler Strafgerichtshof in Verbindung mit im weiteren Sinn
JA jew. JI JR JURA JuS JZ
Juristische Arbeitsblatter jeweils Justiz und Inneres Juristische Rundschau Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung
Kap. KfZ KG kg KK KOM KorrBG krit. KritV
Kapitel Kraftfahrzeug Kammergericht Kilogramm Karlsruher Kommentar Europaische Kommission Korruptionsbekampfungsgesetz kritisch Kritische Vierteljahresschrift fiir Gesetzgebung und Rechtswissenschaft
IMT IntBestG
IPBPR IRG
Abkurzungsverzeichnis
XXIX
KSZE
Konferenz fiir Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
LFGB LG lit. LK LKA LMBG LRE
Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch Landgericht litera (Buchstabe) Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch Landeskriminalamt Lebensmittel- und Bedarfsgegenstandegesetz Sammlung lebensmittelrechtlicher Entscheidungen
m. MarkenG MDR MedR MoU MuKoStGB m.w.N.
mit Gesetz ilber den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen Monatsschrift fur Deutsches Recht Medizinrecht Memorandum of Understanding Munchner Kommentar zum Strafgesetzbuch mit weiteren Nachweisen
NATO n.F. NJW NK NL NLG Nr. N.SIS NStZ NStZ-RR NuR NVwZ NZV
North Atlantic Treaty Organization neue Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch Niederlande Niederlandische Gulden Nummer National Schengen Information System Neue Zeitschrift fiir Strafrecht NStZ-Rechtsprechungs-Report Natur und Recht Neue Zeitschrift fur Verwaltungsrecht Neue Zeitschrift fiir Verkehrsrecht
OECD
Organisation for Economic Cooperation and Development Organisierte Kriminalitat Office europeen de Lutte Anti-Fraude Osterreichische Juristenzeitung Oberlandesgericht Entscheidungen der Oberlandesgerichte zum Straf- und Strafverfahrensrecht Gesetz zur Bekampfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalitat
OK OLAF OJZ OLG OLGSt OrgKG
XXX
Abkilrzungsverzeichnis
OWiG
Ordnungswidrigkeitengesetz
PC PIF PJZS
Personal Computer Protection des interets financiers Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Partiya Karkeren Kurdistan Personenkraftwaeen
PKK PKW RabelsZ RIW RL Rn. Rspr. Rz. s.
S. SchwZStrR SDU SIRENE SIS SK sog.
StA StAG StGB StPO str. StraFo StV StVJ u.a. UbK UCLAF UKG UPR UN UN-TransKrimUbK USA
Rabels Zeitschrift fur auslandisches und internationales Privatrecht Recht der internationalen Wirtschaft Richtlinie Randnummer Rechtsprechung Randziffer siehe Satz, Seite Schweizerische Zeitschrift fur Strafrecht Schengener Durchfuhrungsubereinkommen Supplementary Information Request at the National Entry Schengener Informationssystem Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch sogenannte(r) Staatsanwaltschaft Strafrechtsanderungsgesetz Strafbesetzbuch Strafprozessordnung streitig Strafverteidiger Forum Strafverteidiger Steuerliche Vierteljahreszeitschrift unter anderem, und andere Ubereinkommen Unite de Coordination de la Lutte Anti-Fraude Gesetz zur Bekampfung der Umweltkriminalitat Umwelt- und Planungsrecht United Nations Ubereinkommen der Vereinten Nationen iiber die Bekampfung transnationaler Kriminalitat United States of America
Abkurzungsverzeichnis
XXXI
usw. u.U. UWG
und so weiter unter Umstanden Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb
v. VereinsG VG vgl. VO Vol. % Vorbem. VRS VStGB
vom, von Vereinsgesetz Verwaltungsgericht vergleiche Verordnung Volumenprozent Vorbemerkung Verkehrsrechts- Sammlung Volkerstrafgesetzbuch
WeinG WiKG
Weingesetz Gesetz zur Bekampfung der Wirtschaftskriminalitat Zeitschrift fur Wirtschafts- und Steuerstrafrecht Wirtschaftskontrolldienst Wertpapiermitteilungen Wertpapierhandelsgesetz Wettbewerb in Recht und Praxis Wirtschaftsverwaltungs- und Umweltrecht Wirtschaft und Wettbewerb Wiener Vertragsrechtskonvention
wistra WKD WM WpHG WRP WuR WuW WVK ZaoRV ZBJI z.B. ZeuS ZfRV ZHR ZLR ZRP ZStW zust. zutr.
Zeitschrift fur auslandisches offentliches Recht und Volkerrecht Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres zum Beispiel Zeitschrift fur europarechtliche Studien Zeitschrift fur Rechtsvergleichung, internationales Privatrecht und Europarecht Zeitschrift fur das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht Zeitschrift fur das gesamte Lebensmittelrecht Zeitschrift fUr Rechtspolitik Zeitschrift fur die gesamte Strafrechtswissenschaft zustimmend zutreffend
Abgekurzt zitierte Literatur
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XXXIV
Abgekurzt zitierte Literatur
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Abgekurzt zitierte Literatur
XXXV
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XXXVI
Abgekilrzt zitierte Literatur
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XXXVII
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Europaische Integration: Wichtige Daten und Ereignisse im Uberblick
5. Mai 1949 Griindung des Europarates 4. November 1950 Europaische Menschenrechtskonvention (EMRK) 18. April 1951 Vertrag liber die Grundung der Europaischen Gemeinschaft fur Kohle und Stahl (EGKS/Montanunion). Grilndungsmitglieder: Frankreich, BRD, Italien, Luxemburg und Niederlande. Der Vertrag trat am 27. Juli 1952 in Kraft 25. Marz 1957 Romische Vertrage uber die Europaische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europaische Atomgemeinschaft (EAG bzw. Euratom). Griindungsmitglieder: Frankreich, BRD, Italien, Benelux-Staaten. Die romischen Vertrage traten am 1. Januar 1958 in Kraft 8. April 1965 Fusionsvertrag trat am 1. Juli 1967 in Kraft: EGKS, EWG und EAG bilden zusammen die Europaischen Gemeinschaften mit gemeinsamen Organen 1970 EG-Finanzreform (System der Eigenfmanzierung der EG) 1973 EG-Erweiterung durch den Beitritt Grofibritanniens, Danemarks und Irlands 1979 Erste Direktwahlen zum Europaischen Parlament 1981 EG-Erweiterung durch den Beitritt Griechenlands 14. Juni 1985 Schengen-Ubereinkommen zwischen Belgien, BRD, Frankreich, Luxemburg und den Niederlanden uber den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zum 1. Januar 1990 (Schengen I) 1986 EG-Erweiterung durch den Beitritt Portugals und Spaniens 17./28. Februar 1986 Einheitliche Europaische Akte (EEA): Erweiterung der Kompetenzen der Gemeinschaften. Festschreibung des Zieles, bis Ende 1992 den europaischen Binnenmarkt zu realisieren 19. Juni 1990 Ubereinkommen zur Durchfuhrung des Schengen-tibereinkommens tiber den volligen Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Binnengrenzen, deren Verlegung an die AuBengrenzen und eine Reduzierung der Kontrollen im Warenverkehr ab 1. Januar 1993 - SDU - (Schengen II). Das SDU trat am 26. Marz 1995 in Kraft 7. Februar 1992 Vertrag von Maastricht tiber die Europaische Union (EUV), der am 1. November 1993 in Kraft trat: Grundung der Europaischen Union
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Europaische Integration: Wichtige Daten und Ereignisse im Uberblick
(EU) mit dem Ziel weiterer politischer, sozialer und wirtschaftlicher Integration (,,Drei-Saulen-Architektur"). Er bildet die Grundlage fur die Vollendung der Europaischen Wirtschafts- und Wahrungsunion bis 1999 sowie fur weitere politische Integrationsschritte, insbesondere eine gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik (GASP) und eine Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI). Aus der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) wird die Europaische Gemeinschaft (EG) - 1995 EG/EU-Erweiterung durch den Beitritt Osterreichs, Finnlands und Schwedens — 26. Juli 1995 Europol-Ubereinkommen: Errichtung eines europaischen Polizeiamtes (Europol) in Den Haag. Nach Abschluss der Ratifikationsverfahren in alien Mitgliedstaaten hat Europol am 1. Juli 1999 seine Arbeit aufgenommen - 2. Oktober 1997 Vertrag von Amsterdam, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat: Er sieht u. a. neue Handlungsformen fur die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) vor. Der sog. Schengen-Besitzstand wird in die dritte Saule des EUV uberfuhrt. Die MQglichkeit der Vorabentscheidung durch den EuGH wird eingefuhrt (Art. 35 I EUV) — 29. Juni 1998 Einrichtung eines Europaischen Justiziellen Netzes (EJN) auf der Grundlage einer Gemeinsamen MaBnahme des Europaischen Rates, die am 7. August 1998 in Kraft trat - 14. Dezember 2000 Einrichtung einer vorlaufigen Stelle zur justiziellen Zusammenarbeit (Pro-Eurojust), die am 1. Marz 2001 ihre Arbeit in Briissel aufgenommen hat — 7./8. Dezember 2001 Vertrag von Nizza, der am 1. Februar 2003 in Kraft trat: Die Stimmengewichtung im Rat wird deutlicher an die BevolkerungsgroBe der Mitgliedstaaten angepasst und die Stellung des Europaischen Parlaments gestarkt. AuBerhalb einer formlichen Vertragsanderung ist auf dem Gipfel von Nizza feierlich die Charta der Grundrechte der Europaischen Union proklamiert worden — 1. Januar 2002 Der Euro lost in 12 Mitgliedstaaten die nationalen Wahrungen ab - 28. Februar 2002 Einrichtung der Koordinierungsstelle Eurojust mit Sitz in Den Haag, deren Aufgabe vor allem darin besteht, juristische Informationen zwischen den Strafverfolgungsbehorden der Mitgliedstaaten auszutauschen sowie transnationale Ermittlungsverfahren zu koordinieren und zu unterstiitzen — 1. Mai 2004 Beitritt von zehn sud- und osteuropaischen Staaten zur EU, die damit auf insgesamt 25 Mitgliedstaaten anwachst. Beitrittslander sind Malta, Zypern, Slowenien, Ungarn, Slowakei, Tschechien, Polen, Litauen, Lettland und Estland - 29. Oktober 2004 Unterzeichnung des Vertrages iiber eine Verfassung fur Europa durch die Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedstaaten. Dieser Vertrag kann jedoch erst in Kraft treten, wenn er von jedem Unterzeichnerstaat nach dem in seiner Verfassung vorgeschriebenen Verfahren angenommen (ratifiziert) wurde
Teill Einfuhrung
§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
A. Einleitung Die Strafrechtssysteme der europaischen Staaten - vor allem der EU-Mitgliedstaaten - befinden sich derzeit in einem regelrechten ,,Europaisierungssog". Europaisches Strafrecht lasst sich nicht als statischer Rechtszustand, sondern vielmehr als dynamisch ablaufender Prozess der Europaisierung des Strafrechts und der Strafrechtspflege begreifen. Die Strafrechtsentwicklung in Europa wird von zahlreichen und vielschichtigen Europaisierungsfaktoren allgemeiner und bereichsspezifischer Natur gepragt, die mit dem Phanomen der ,,gemeinschaftsrechtlichen tiberlagerung"1 keineswegs abschliefiend beschrieben sind (man denke nur an die Rolle der EMRK oder an die MaBnahmen im Rahmen der dritten Saule der EU). Vor diesem Hintergrund erklart sich der Aufbau und das didaktische Konzept dieses Lehrbuches, das den Blick des Lesers nach einer Einfuhrung in die Grundlagen des Europaischen Strafrechts und sonstiger international ausgerichteter Strafrechtsdisziplinen (Teil I) zunachst auf die Trager des Europaischen Strafrechts lenkt (Teil II), die als institutionelle Akteure die rechtstatsachlichen Impulse fur die Europaisierung der Strafrechtssysteme setzen und - in den ihnen jeweils eigenen Handlungsformen - entsprechende MaBnahmen treffen (z. B. durch Abschluss von Konventionen, Erlass von Rahmenbeschliissen oder Richtlinien, legislative oder judikative Umsetzung europaischer Wertungsvorgaben in nationales Strafrecht). Sodann werden die zentralen Europaisierungsfaktoren im Einzelnen beleuchtet, insbesondere ihre rechtliche Ableitung, ihr Geltungsanspruch und ihre Wirkungsweise erlautert (Teil III). In Teil IV wird eine besonders praxisrelevante Spezialmaterie des Europaischen Strafrechts beleuchtet - der strafrechtliche Schutz der EG-Finanzinteressen. Die Behandlung dieser Thematik in einem eigenen Teil ist schon deshalb geboten, weil die im Grundsatz allseits anerkannte Notwendigkeit eines effektiven strafrechtlichen Schutzes des EGFinanzhaushaltes inzwischen - unter maBgeblicher Beteiligung der EuGH-Judikatur (sog. ,,Mais-Rechtsprechung") - zur Herausbildung eines gemeinschaftsweiten strafrechtlichen Mindestschutzstandards gefuhrt hat, der Modellcharakter fur andere Bereiche haben konnte. Auch wird die Reformdiskussion - etwa liber die Einfuhrung eines Europaischen Finanzstrafgesetzbuches oder die Einsetzung
Vgl. hierzu Bleckmann, Stree/Wessels-FS, S. 107.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
eines Europaischen Staatsanwaltes — zumeist im Zusammenhang mit dem strafrechtlichen Schutz der EG-Finanzinteressen gefiihrt. Im Juni 2004 konnte sich die Briisseler Regierungskonferenz in einem ,,zweiten Anlauf' auf die Annahme einer Verfassung fur Europa einigen2. Der Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa3 (EU-Verfassung) wurde am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedstaaten unterzeichnet. Der Verfassungsvertrag bedarf der Ratifikation durch alle Vertragsparteien (Art IV-447 I EU-Verfassung). Er tritt am 1. November 2006 in Kraft, sofern alle Ratifikationsurkunden bei der Regierung der Italienischen Republik hinterlegt worden sind, oder andernfalls am ersten Tag des zweiten auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats (Art. IV-447 II EU-Verfassung). Auf bedeutsame Perspektiven der EU-Verfassung fur die kunftige Rechtsentwicklung innerhalb der neu zu schaffenden EU (Rechtsnachfolgerin der bisherigen EU und EG), die fur das Europaische Strafrecht von besonderer Bedeutung sind, wird an geeigneter Stelle hingewiesen4.
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"? I. Europaisches Strafrecht als strafrechtliche Rechtsmaterie sui generis 1. Gemeinsames rechtskulturelles Erbe der europaischen Staaten Die europaischen Staaten konnen durchaus auf ein gemeinsames rechtskulturelles Erbe zurilckblicken, das sich in ihren jeweiligen Strafrechtsordnungen widerspiegelt. Dieses Erbe wurzelt im romischen Recht der Antike, in der Ethik-Lehre des Christentums, der Philosophie der Aufklarung und dem auBerordentlich lebhaften Informations- und Erfahrungsaustausch auf dem Gebiet des Strafrechts und der Kriminalpolitik seit dem Ende des 19. Jahrhunderts5. Die internationale wissenschaftliche Diskussion war vor allem das Werk der groBen strafrechtlichen Vereinigungen, zu denen die im Jahre 1889 gegrilndete Internationale Kriminalistische Vereinigung gehorte. Diese wurde im Jahre 1924 als Association Internationale de Droit Penal (AIDP) in Paris wiedergegriindet. Auf dem XIV. Internationalen Strafrechtskongress im Jahre 1989 in Wien hat die AIDP im Rtickblick auf ihre Geschichte den durch sie geschaffenen weltweiten, uber Europa hinausgehenden Zusammenhang der Strafrechtswissenschaft gewlirdigt6. Als gemeineuropaische Charakteristika auf dem Gebiet des Strafrechts sind das Rechtsstaatsprinzip, vor 2
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Vgl. hierzu Einem, EuR 2004, 202; Ruffert, EuR 2004, 165; Wuermeling, EuR 2004, 216. Im Internet: http://ue.eu.int/ueDocs/cms_Data/docs/pressData/de/misc/81700.pdf. Einen Uberblick iiber die strafrechtliche Dimension der zukunftigen Europaischen Verfassung gibt Weigend, ZStW 116 (2004), S. 275 ff. Jescheck, Jhong-Won Kim-FS, S. 947, 949. Jescheck, Revue international de droit penal 1990, S. 59 ff.
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"?
allem in Gestalt des Gesetzlichkeitsprinzips, das Schuldprinzip, das Prinzip des ,,fair trial" im Strafprozess imd das Humanitatsprinzip zu nennen, das vor allem fur den Strafvollzug von Bedeutung ist.
2. Europaisches Strafrecht und Europaisierung des Strafrechts Trotz dieses gemeinsamen europaischen Erbes sind die Strafrechtsordnungen der Staaten Europas hochst unterschiedlich ausgestaltet. Von einem europaischen Rechtsraum, in dem die nationalen Strafrechtssysteme vereinheitlicht sind bzw. eine supranationale Strafgewalt mit eigenen Justizorganen aufgrund eines genuin europaischen Straf- und Strafverfahrensrechts tatig ist, sind wir derzeit noch weit entfernt. Dennoch hat sich in der Strafrechtswissenschaft die Rede vom ,,Europaischen Strafrecht" inzwischen als allgemein anerkannter Sammelbegriff fur einen eigenstandigen strafrechtlichen Forschungsgegenstand durchgesetzt. Es handelt sich dabei um eine Rechtsmaterie eigener Art, die sowohl strafrechtsrelevantes Gemeinschaftsrecht, Unionsrecht und Volkerrecht als auch gemeinschafts-, unions- und volkerrechtlich beeinflusstcs nationales Strafrecht umfasst7. Im Blickfeld des Europaischen Strafrechts stehen somit zum einen alle das Straf- und Strafverfahrensrecht der europaischen Staaten (die europaische Strafrechtspflege im weitesten Sinne) unmittelbar oder mittelbar beeinflussenden Normen der Gemeinschaftsvertrage (EGV, EAGV), des Vertrages (iber die Europaische Union (EUV) und des Volkerrechts (EMRK) sowie das abgeleitete Recht (z. B. Richtlinien, Verordnungen, Rahmenbeschlilsse, Ubereinkommen) der supranationalen und internationalen Organisationen Europas (namentlich EG, EAG, Europarat, OECD). Zum anderen umfasst das Europaische Strafrecht die durch Primar- und Sekundarrecht in vielfaltiger Weise ilberlagerten Strafrechts- und Strafverfahrensregelungen des innerstaatlichen Rechts, also das europaisierte nationale Strafrecht (,,nationales Europaisches Straf- und Strafverfahrensrecht"). Die nationalen Strafrechtssysteme der europaischen Staaten sind in einen dynamisch verlaufenden Prozess der Europaisierung eingebunden, der sich vor allem auf die Aktivitaten des Europarates und der Europaischen Gemeinschaft, auf die intergouvernementale Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten sowie auf die Tatigkeit der europaischen Gerichtshofe in StraBburg und Luxemburg (EGMR und EuGH) zuruckfuhren lasst (§ 3 Rn. 24 ff.; § 4 Rn. 41 ff.). So werden die Strafrechtssysteme nicht nur durch die Europaische Menschenrechtskonvention (EMRK) und die diesbezilgliche Judikatur des Europaischen Gerichtshofs fur Menschenrechte (EGMR) auf ilbernational verbindliche Grundrechtsstandards festgelegt. Dariiber hinaus wird das Straf- und Strafverfahrensrecht innerhalb der Europaischen Union (EU) in vielfaltiger Weise durch Gemeinschaftsrecht sowie Rechtsakte der sog. dritten Saule der EU tiberlagert und beeinfiusst. Hervorzuhe7
Vgl. hierzu Dannecker, JURA 1998, 79; Hecker, JA 2002, 723; Jung, JuS 2000, 417; Kiihne, Strafprozessrecht, 6. Aufi., 2003 Rn. 54 ff.; Sieber, ZStW 103 (1991), S. 957, 963 ff.; Zieschang, in: Hohloch (Hrsg.), Wege zum Europaischen Recht, 2002, S. 39, 40.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
ben ist in diesem Zusammenhang das gemeinschaftsrechtliche Assimilierungsprinzip, das zu einer ,,Indienststellung" bzw. ,,Instrumentalisierung" der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen zum Schutze supranationaler Rechtsguter fuhrt, auf welche die EG mangels einer eigenen kriminalstrafrechtlichen Rechtssetzungskompetenz (§ 4 Rn. 101) angewiesen ist. Das aus dem EGV abzuleitende gemeinschaftsrechtliche Rahmensystem legt Untergrenzen fur mitgliedstaatliches Strafrecht im Dienste des Gemeinschaftsrechts fest, die nicht unterschritten, aber auch Hochstgrenzen, die vom nationalen Strafrecht nicht uberschritten werden diirfen. Strafhormen werden, soweit sie mit Primarrecht kollidieren, von diesem neutralisiert (§ 9 Rn. 10). Die Anwendung von Sanktionsbestimmungen darf die Burger nicht an der Ausiibung ihrer durch den EGV garantierten Grundfreiheiten hindern8. Eine Neutralisierung mitgliedstaatlicher Straftatbestande ist allerdings immer nur die letzte Moglichkeit, Widerspruche zwischen nationalem Strafrecht und unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht aufzulosen. Kollisionen lassen sich zumeist schon durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung vermeiden. Im Ubrigen ist das nationale Strafrecht - ungeachtet der fehlenden Rechtssetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts - prinzipiell einer Harmonisierung durch Sekundarrechtsakte zuganglich. Ein erheblicher Harmonisierungsschub wurde in den letzten Jahren durch intergouvernementale Mafinahmen der EU-Mitgliedstaaten (vblkerrechtliche Ubereinkommen und Rahmenbeschlilsse) ausgelost. Hinzu tritt der Ausbau der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen mit dem Ziel, tiber den status quo der auf den Europaratskonventionen beruhenden Rechtshilfekooperationen hinauszugehen. Das lange Zeit als ,,Reservat" bzw. als ,,letzte Bastion" staatlicher Souveranitat geltende Strafrecht folgt - wie der Freiburger Strafrechtler Tiedemcmn treffend formuliert - mit ,,genuiner Verspatung" der Europaisierung anderer Teilgebiete des Rechts9. Die Entwicklung des Europaischen Strafrechts ist untrennbar mit der Geschichte des europaischen Integrationsprozesses verbunden, ja geradezu ein Indikator fur dessen Fortschreiten (vgl. hierzu den historischen Uberblick ,,Europaische Integration", S. XXXIX). Nachdem das Ziel der Schaffung eines europaischen Binnenmarkts erreicht und die Personenkontrollen an den Binnengrenzen infolge des Schengenprozesses abgeschafft wurden, wachst Europa politisch und rechtlich immer starker zusammen, wenn auch die Europaische Union von einem Bundesstaat nach wie vor weit entfernt ist. Mit dem Inkrafttreten einer Europaischen Verfassung, die nach der Unterzeichnung des Verfassungsvertrages am 29. Oktober 2004 vor dem Ratifikationsprozess in den Mitgliedstaaten steht, wird die politische Integration Europas einen vorlaufigen Hohepunkt erreicht haben10.
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EuGHE 1999, 11 m. Anm. v. Hanf, JZ 1999, 785 ff. Tiedemann, Europaisierung, S. 134. Vgl. hierzu Zuleeg, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europaisches Verfassungsrecht, S. 931 ff.
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"?
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II. Europaisches Strafrecht als rechtswissenschaftliche Querschnittsmaterie Als Wissenschaftsdisziplin stellt das Europaische Strafrecht eine rechtswissen- 9 schaftliche Querschnittsmaterie dar, die zahlreiche, sich teilweise ilberschneidende Probleme aus den Bereichen Kriminalpolitik, Strafrechtsdogmatik, Strafverfahrensrecht, Kriminologie, Europarecht sowie Verfassungs- und Volkerrecht jeweils unter Einbeziehung rechtsvergleichender Forschung - aufwirft11. Nachfolgend sollen exemplarisch - freilich ohne Anspruch auf Vollstandigkeit - einige fur das Europaische Strafrecht zentrale Themen aus diesen Wissenschaftsfeldern aufgefuhrt werden.
1. Kriminalpolitik Europaische Kriminalpolitik umfasst den Inbegriff der Aussagen daruber, was 10 in Europa strafrechtlich gelten soil, also die europaische lex criminalis desiderata12. Die europaische Kriminalpolitik fragt danach, ob und inwieweit es notwendig und sinnvoll ist, in bestimmten Bereichen - etwa zur Bekampfung bestimmter grenziiberschreitender Straftaten oder von Betrugereien zum Nachteil des EGHaushaltes mit strafrechtlichen Mitteln zu reagieren. Weitere zentrale Fragen lauten: Wie kann die demokratische Legitimation des Europaischen Strafrechts gewahrleistet werden?13 - Wie erfolgt die verfassungsrechtliche und gerichtliche Kontrolle des Europaischen Strafrechts und seiner Akteure? - In welchen Bereichen und in welchem Umfang soil Europaisches Strafrecht geschaffen werden? Ist ein supranationales Strafrecht erstrebenswert? - Soil lediglich eine Mindestharmonisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts erfolgen oder soil auf solche MaBnahmen ganzlich verzichtet werden?14 - Besteht Bedarf fur die Schaffung supranationaler Strafverfolgungsorgane, z. B. eines ,,Europaischen Staatsanwal-
Vgl. hierzu Dannecker, JZ 1996, 869 ff.; Vogel, GA 2002, 517. Zu den Sachfragen der europaischen Kriminalpolitik vgl. Sieber, JZ 1997, 369 f.; Vogel, GA 2002, 517,522 ff. Vgl. hierzu Schunemann, ZStW 116 (2004), S. 376, 390; Vogel, ZStW 116 (2004), S. 400 ff. Vgl. hierzu Fuchs, ZStW 116 (2004), S. 368, 369; Ruter, ZStW 105 (1993), S. 30 ff; Sieber, ZStW 103 (1991), S. 957, 968 ff; ders., Corpus Juris, S. 2 ff; Perron, ZStW 109 (1997), S. 281 ff; Zieschang, ZStW 113 (2001), S. 255 ff. sowie die Antwort der Bundesregierung auf die GroBe Anfrage der CDU/CSU-Fraktion ,,Strafverfolgung in einem zusammenwachsenden Europa" BT-Drs. 14/4991, S. 1 ff.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
tes"?15 - Empfiehlt sich die europaweite Einftihrung kriminalstrafrechtlicher Sanktionen gegen Verbande?16 11 Aufgrund der rasanten Entwicklung des noch in den ,,Kinderschuhen" steckenden Europaischen Strafrechts verdient die kriminalpolitische Frage, in welche Richtung die Entwicklung gehen soil, mindestens ebensoviel Beachtung wie die strafrechtsdogmatische Analyse des bereits geltenden Europaischen Strafrechts. Die Strafrechtswissenschaft ist dazu aufgerufen, ihren Sachverstand in diese Debatte einzubringen und die europaische Kriminalpolitik mit konstruktiven Beitragen zu unterstutzen17. Als herausragendes Beispiel fur konstruktive Mitwirkung der Wissenschaft ist zunachst die Arbeit der seit 1995 im Auftrag des Europaischen Parlaments tatigen internationalen Expertengruppe unter Leitung der franzosischen Strafrechtswissenschaftlerin Mireille Delmas-Marty zu nennen, die ein aus Vorschriften des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts bestehendes ,,Corpus Juris" speziell fur den Schutz der EG-Finanzinteressen entworfen hat (§ 14 Rn. 29 ff.)- Die iiberarbeitet Fassung des Corpus Juris (sog. ,,FlorenzEntwurf) ist dem Europaischen Parlament im September 1999 vorgestellt worden18. Beachtung verdient des Weiteren der von einer internationalen Arbeitsgruppe von Strafrechtswissenschaftlern vorgelegte ,,Alternativentwurf Europaische Strafverfolgung" (AE)19, der einen Gegenentwurf zu den strafrechtsrelevanten Bestimmungen der geplanten Europaischen Verfassung prasentiert. Eine der innovativsten Ideen des AE ist die Errichtung eines ,,Eiirodefensor" als Gegenpart zu den europaischen Strafverfolgungsinstitutionen.
2. Strafrechtsdogmatik 12 Europaische Strafrechtsdogmatik umfasst den Inbegriff der Aussagen daruber, was in Europa strafrechtlich gilt, also die europaische lex criminalis lata20. Deren Aufgabe ist es, die Strafrechtsnormen in ihrem inneren Zusammenhang, also systematisch zu entwickeln und zu deuten. Allerdings ist die klassische StrafSo der Vorschlag der Kommission in ihrem Grilnbuch vom 11. Dezember 2001; KOM (2001) 715 endg.; vgl. hierzu Hecker, Kreuzer-Freundesgabe, S. 181 ff.; Satzger, StV 2003, 137 ff.; Radtke, GA 2004, 1 ff. Vgl. hierzu Bahnmuller, Strafrechtliche Unternehmensverantwortlichkeit im europaischen Gemeinschafts- und Unionsrecht, 2004, passim; Dannecker, GA 2001, 101 ff; Heine, in: Hettinger (Hrsg.), Verbandsstrafe, Bd. 3, 2002, S. 121 ff. Vgl. hierzu den Ruckblick von Krefi, ZStW 116 (2004), S. 445 ff. auf die auBerordentliche Strafrechtslehrertagung am 778. November 2003 in Dresden, die sich mit zentralen Fragen des Europaischen Strafrechts befasste. Vgl. Huber, Das Corpus Juris als Grundlage eines europaischen Strafrechts, 2000; vgl. hierzu auch Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 273 ff; Ktihne, Strafprozessrecht, Rn. 63 ff.; Sieber, Corpus Juris, S. 2 ff. Zu dessen Inhalt vgl. Schunemann (Hrsg.), Alternativentwurf Europaische Strafverfolgung, 2004, S. 10 ff; hierzu Schunemann, ZStW 116 (2004), S. 376 ff; krit. Militello, ZStW 116 (2004), S. 436 ff; Vogel, ZStW 116 (2004), S. 400 ff. Zu den Sachfragen der europaischen Strafrechtsdogmatik Dannecker, JZ 1996, 869, 870; Vogel, GA 2002, 517, 519 ff., 529 ff.
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"?
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rechtsdogmatik national gebunden und erweist sich deshalb, soweit es um die Harmonisierung der Strafrechtsordnungen in Europa geht, als zu eng. Bei der Auslegung werden also Erkenntnisse der Strafrechtsvergleichung, aber auch neue Interpretationsmethoden wie z. B. die gemeinschaftsrechtskonforme (insbesondere richtlinienkonforme) Auslegung anzuwenden sein. Weite Bereiche des Wirtschafts-, Lebensmittel-, Artenschutz-, Naturschutz- und Umweltstrafrechts, aber auch des Ordnungswidrigkeitenrechts werden heute direkt oder indirekt von gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben beeinflusst. Es ist eine Aufgabe der europaischen Strafrechtsdogmatik, diese Einwirkungen - man spricht auch von ,,gemeinschaftsrechtlicher Uberlagerung" des nationalen Sanktionenrechts — aufzudecken und ihre rechtlichen Auswirkungen aufzuzeigen. Mit ihrer Aufklarung leistet die Strafrechtswissenschaft zugleich einen wichtigen Beitrag zur Befolgung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten. Vorhaben, die auf eine Vereinheitlichung oder auch nur Angleichung des mate- 13 riellen Strafrechts abzielen, werden nur dann auf allgemeine politische Akzeptanz in den betroffenen Staaten stofien und von dauerhaftem Erfolg gekront sein, wenn es gelingt, die wesentlichen Wertungsfragen des Strafrechts auf einer abstrakten Ebene in einer fur alle Strafrechtssystem giiltigen Weise zu formulieren21. Insoweit kommt der Strafrechtsvergleichung eine herausragende Bedeutung zu.
3. Strafverfahrensrecht Auch jenseits der durch die EMRK festgelegten und durch die Judikatur des 14 EGMR fortentwickelten Mindeststandards, die in den Mitgliedstaaten des Europarates bereits eine Art paneuropaisches Strafverfahrensrecht begrilndet haben22, schreitet die Europaisierung des Strafverfahrensrechts voran23. Vor diesem Hintergrund stellt sich fur den strafprozessualen Zweig der Strafrechtswissenschaft zum einen die Aufgabe, die gemeinschaftsrechtliche Instrumentalisierung des nationalen Strafprozessrechts und insbesondere das Zusammenspiel zwischen nationaler und supranationaler Gerichtsbarkeit - etwa im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens - zu beleuchten24. Zum anderen gilt es, die europarechtlichen Einflussfaktoren auf die mitgliedstaatlichen Strafverfahrensordnungen sichtbar zu machen, dogmatisch aufzuarbeiten und die Konsequenzen fur die praktische Rechtsanwendung aufzuzeigen. Dies betrifft nicht nur die spezifisch gemeinschaftsrechtlichen, sondern auch die unionsrechtlichen Europaisierungselemente. Zu denken ist etwa an den durch Rahmenbeschluss der EU-Mitgliedstaaten geschaffenen Europaischen Haftbefehl, der am 7. August 2002 in Kraft getreten und von den Mitgliedstaaten in nationales Recht zu transformieren
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Vgl. hierzu Fuchs, ZStW 116 (2004), S. 368; Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 300 ff. Vgl. hierzu Esser, Europaisches Strafverfahrensrecht, passim. Vgl. hierzu Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, passim und Ktihne, Strafverfahrensrecht, Rn. 43 ff. Vgl. hierzu Dannecker, Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 3 4 - 8 1 ; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 171 ff.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
ist25. Zukunftsprojekte wie z. B. ein ,,europaisches Ermittlungsverfahren" sind - falls politisch gewollt - nur auf der Grundlage grilndlicher rechtswissenschaftlicher Vorarbeiten realisierbar, wobei auch hier die Rechtsvergleichung eine besondere Rolle spielt26. Diffizile strafprozessuale Grundlagenprobleme wirft ferner das von der Kommission angedachte Griinbuch-Konzept27 eines ,,europaweit verkehrsfahigen Beweises"28 auf, wonach die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet werden sollen, jedes Beweismittel zuzulassen, das nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaates rechtmaBig erhoben wurde. Bereits die unterschiedliche Struktur von Beweisverboten in den nationalen Verfahrenssystemen29 diirfte jedenfalls einer unreflektierten Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung in einem europaischen Strafverfahrensrecht Grenzen setzen30. Von herausragender Bedeutung ist in einem immer starker zusammenwachsenden europaischen Strafrechtsraum schlieBlich das transnationale Doppelbestrafungsverbot (namentlich Art. 54 SDt)), das im Lichte der Rechtsprechung des EuGH auszuformen und zu konkretisieren ist.
4. Kriminologie 15 Rationale Kriminalpolitik erfordert die Bereitstellung umfassenden und aussagekraftigen empirischen Materials31. Die notwendigen Informationen konnen nur mittels kriminologischer Untersuchungen erlangt werden. Die Kriminologie muss im Interesse einer effektiven Kriminalpravention z. B. Aussagen treffen uber typische Deliktsgestaltungen und Taterprofile etwa im Zusammenhang mit Angriffen auf den EG-Finanzhaushalt (,,Organisierte Kriminalitat"). Bei den zum Nachteil des EG-Finanzhaushalts begangenen Betrugs-, Steuer- und Zolldelikten handelt es sich um besondere Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalitat, deren Strukturen es aufzudecken gilt (§ 14 Rn. 9 ff.). Gleiches gilt etwa fur das komplexe Phanomen der Geldwaschekriminalitat, die eine Gefahr fur die Funktionsfahigkeit der Wirtschaft innerhalb des europaischen Binnenmarktes darstellt. Ein weiterer Bereich, der Kriminologie und Europaisches Strafrecht verbindet, ist die Justizforschung, die sich etwa mit der Frage befasst, ob europarechtliche Vorgaben in der Strafjustiz der Mitgliedstaaten gehfirig umgesetzt werden.
25 26 27 28 29 30
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Vgl. hierzu v. Heintschel-Heinegg/Rohlff, GA 2003, 44 ff.; Rohlff, Der Europaische Haftbefehl, 2003, passim. Vgl. hierzu Perron, ZStW 112 (2000), S. 202 ff. KOM (2001) 715 endg. Vgl. hierzu Glefi, Z S t W 115 (2003), S. 131. Vgl. hierzu Kiihne, Strafverfahrensrecht, Rn. 47. Vgl. hierzu Fuchs, Z S t W 116 (2004), S. 368; Glefi, Z S t W 115 (2003), S. 131, 143 f.; Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332, 335 ff; Radtke, GA 2004, 118; Satzger, StV 2003, 137, 141; Perron, ZStW 112 (2000), S. 202, 211 ff. Vgl. zu den Anforderungen des Europaischen Strafrechts an die Kriminologie den Beitrag von Dannecker, JZ 1996, 869, 870 ff.
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"?
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5. Europarecht Das Recht der Europaischen Gemeinschaften (Gemeinschaftsrecht) und das die in- 16 tergouvernementale Zusammenarbeit in Strafsachen betreffende Unionsrecht (dritte Saule des EUV) sind in erheblichem Mafie mit dem nationalen Strafrecht verschrankt. Zentrale Probleme des Europaischen Strafrechts sind an der Schnittstelle zwischen nationalem Strafrecht und supranationalem Europarecht angesiedelt. Das Zusammenspiel zweier getrennter, nebeneinander stehender, aber verflochtener Rechtsordnungen wirft neuartige Fragen auf, die im innerstaatlichen Rechtssystem keine Entsprechung finden32. Aufgrund dieser Entwicklung versteht es sich von selbst, dass die Beschaftigung mit Europaischem Strafrecht spezifisch europarechtliches Wissen voraussetzt. Das Europarecht beantwortet z. B. die Frage, ob sich aus dem EGV strafrechtsrelevante Rechtssetzungs- oder Anweisungskompetenzen der EG ableiten lassen. Auch die Frage nach der Existenz und Reichweite gemeinschafts- oder unionsrechtlich begriindeter Sanktionierungsverpflichtungen der Mitgliedstaaten ist spezifisch europarechtlicher Natur. Die Auseinandersetzung mit der Europaisierung des Strafrechts und der international-arbeitsteiligen Strafrechtspflege erfordert eine grilndliche Durchdringung des europarechtlichen Normengeflechts aus gemeinschaftsrechtlichem Primar- und Sekundarrecht sowie Unionsrecht unter besonderer Berucksichtigung der Rechtsprechung des EuGH. Die Europarechtswissenschaft ist daher neben der Volkerund Verfassungsrechtswissenschaft eine zentrale Bezugswissenschaft fur das Europaische Strafrecht. Das Gelingen der europaischen Integration auf dem Gebiet der Strafrechtspflege hangt in nicht unerheblichem Mafle davon ab, inwieweit nationale Strafrechtspraktiker das Europarecht ebenso selbstverstandlich und sicher anwenden wie die innerstaatlichen Rechtsnormen. Im Hinblick auf die — in dem Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa kon- 17 krete Gestalt annehmende - Perspektive der Griindung einer mit Rechtspersonlichkeit ausgestatteten Europaischen Union als Rechtsnachfolgerin von EG und EU (Art. IV-438 I EU-Verfassung) kommt dem Europaischen Verfassungsrecht als Teilgebiet der Europarechtswissenschaft wachsende Bedeutung zu33. Aus Sicht des Europaischen Strafrechts ist vor allem die Ausdeutung derjenigen Verfassungsartikel von unmittelbarem Interesse, die sich mit den justiziellen Rechten (Art. 11-107-110 EU-Verfassung), der justiziellen und polizeilichen Zusammenarbeit sowie mit den Harmonisierungskompetenzen auf dem Gebiet der europaischen Strafrechtspflege befassen (vgl. Art. III-270-277, III-415 EU-Verfassung)34.
32 33
34
Vgl. hierzu Nettesheim, AoR 119(1994), S. 261 ff.; Zuleeg, JZ 1992, 761 ff. V g l . hierzu die Grundlagenbeitrage in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europaisches Verfassungsrecht. Vgl. hierzu Weigend, Z S t W 116 (2004), S. 275 ff.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
6. Verfassungs- und Volkerrecht 18 Das nationale Verfassungsrecht normiert ebenso wie das Volkerrecht fundamentale Grund- und Menschenrechte sowie Verfahrensgarantien, die von den nationalen Gesetzgebern und Strafverfolgungsbehorden zu beachten sind. Zu denken ist nur an das Bestimmtheits- und Rilckwirkungsverbot des Art. 103 II GG sowie an die strafprozessualen Garantien der EMRK. Es gilt, die Beziige zwischen den verfassungs- und volkerrechtlichen Prinzipien sowie dem Europaischen Strafrecht herzustellen. Inwieweit werden dem Europaischen Strafrecht hierdurch Schranken gesetzt? - Wo liegen die Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung von Straftatbestanden? - Genilgen die vom deutschen Gesetzgeber verwendeten Blankettgesetzgebungstechniken dem Bestimmtheitsgrundsatz und dem Parlamentsvorbehalt? 19 Weitere typische Fragen, die an der Schnittstelle zwischen Europaischem Strafrecht und Verfassungsrecht/Volkerrecht angesiedelt sind, lauten: Wie ist die Rechtsstellung des Beschuldigten bzw. der Verteidigung in einem international-arbeitsteiligen Strafverfahren institutionell und verfahrensrechtlich ausgestaltet?35 - Inwieweit ist der Beschuldigte bei grenzuberschreitend gefuhrten Strafverfahren vor mehrfacher Strafverfolgung wegen derselben Tat geschiitzt?
III. Praktische Bedeutung des Europaischen Strafrechts 20 Nachdem oben die wissenschaftlichen Herausforderungen des Europaischen Strafrechts beleuchtet wurden, soil es im Folgenden darum gehen, anhand einiger Beispiele und Fragenkomplexe die Praxisrelevanz dieses neuartigen Rechtsgebietes aufzuzeigen. Im materiellen Strafrecht lassen sich sowohl strafrechtsbegrenzende als auch strafrechtsausdehnende Europaisierungseffekte nachweisen. Auch in strafprozessualer Hinsicht verlauft die Europaisierung in zwei Richtungen. Zum einen werden bestimmte strafprozessuale Rechtspositionen von Beschuldigten und Opfera durch europarechtliche Vorgaben gestarkt. Zum anderen wird — vor dem Hintergrund transnationaler KriminalitatspMnomene (,,Europa als kriminalgeographischer Raum") — die international-arbeitsteilige Strafverfolgung in Europa ausgebaut und intensiviert. Es gehort zu den wichtigsten Aufgaben der europaischen Kriminalpolitik, fur eine gerechte Balance zwischen den Belangen einer effektiven Strafrechtspflege einerseits und der rechtsstaatlich gebotenen Wahrung von Bilrgerrechten andererseits zu sorgen.
1. Strafrechtsbegrenzende Europaisierungseffekte 21 Kein Strafrechtspraktiker kann sich der europaischen Dimension seines Arbeitsgebietes heute mehr entziehen. Uberholt sind heute Vorgange, in denen sich die Praxis dem Gemeinschaftsrecht gegenilber zuweilen geradezu ignorant verhalten Vgl. hierzu Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332 ff.; Schiinemann, ZStW 116 (2004), S. 376, 382 ff.; Vogel, ZStW 116 (2004), S. 400, 404 f.
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"?
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hat, wie jener steuerstrafrechtliche Fall, den das LG Bonn Ende der 1980er Jahre zu entscheiden hatte. Ein Steuerpflichtiger war vor diesem Gericht u. a. wegen fortgesetzter Umsatzsteuerhinterziehung angeklagt worden, weil er keine monatlichen Umsatzsteuervoranmeldungen abgegeben hatte. Gegen diesen Vorwurf verteidigte sich der Angeklagte mit dem Einwand, dass zumindest seine Umsatze aus Kreditvermittlung nicht umsatzsteuerpflichtig gewesen seien. Dies ergebe sich aus einer EG-Richtlinie. Das LG Bonn wischte die europarechtlichen Einwande des Angeklagten mit der folgenden Bemerkung vom Tisch: ,,Die Kammer glaubt dem Angeklagten nicht, dass er bei seinen steuerlichen Fachkenntnissen auch nur im Entferntesten davon ausging, dass die deutsche Steuergesetzgebung durch europaische Richtlinien auBer Kraft gesetzt wird." Der BGH hob dieses Urteil spater im Revisionsverfahren wegen VerstoBes gegen Gemeinschaftsrecht auf und stellte zutreffend fest, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, ihr nationales Recht an die Bestimmungen der Richtlinie anzupassen. Erfolge die Umsetzung nicht innerhalb der vorgesehenen Frist, so konne sich nach standiger Rechtsprechung des EuGH36 auch ein Einzelner davon betroffener Marktbilrger auf die Bestimmung der Richtlinie berufen, wenn diese so klar umrissen sei, dass sie auch ohne DurchfuhrungsmaBnahmen des nationalen Gesetzgebers angewendet werden konnten37. Unter dem Eindruck der neueren Rechtsprechung des EuGH hat sich die Er- 22 kenntnis durchgesetzt, dass das Gemeinschaftsrecht auch in die nationalen Strafrechtsordnungen hineinwirkt und diese ilberlagert. Zum Verhaltnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht fuhrte der EuGH in der Rechtssache ,,Cowan" aus: ,,...Derartige Rechtsvorschriften dtirfen weder zu einer Diskriminierung von Personen ftihren, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschra'nken..."38. Neben dem VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz39 und dem Diskriminierungsverbot40 hat der EuGH weitere strafrechtsrelevante Garantien wie den nullum crimen sine lege- Grundsatz41 mit seinen Auswirkungen des Riickwirkungsverbots42 und des Bestimmtheitsgrundsatzes43 sowie bestimmte Auspragungen des ne bis in idem-Grundsatzes44 als allgemeine Rechtsgrundsatze des Gemeinschaftsrechts anerkannt45. 36
37 38 39 40 41 42 43 44 45
Vgl. hierzu EuGHE 1974, 1337, 1349; 1979, 1629, 1641; 1982, 53, 71; 1983, 2727, 2744; 1986, 3855, 3875; 1989, 1839, 1870. Die Rspr. des EuGH wird von BVerfGE 75, 223 ff. im Grundsatz als zulassige Rechtsfortbildung gebilligt. BGHSt 37, 168 ff. = NJW 1991, 1622; vgl. hierzu Schroder, Richtlinien, S. 13 f. EuGHE 1989, 195, 222; vgl. auch EuGHE 1999, 11, 29; 1988, 1213, 1235; 1981, 2595, 2618; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 19 ff, 27 ff. EuGHE 1955/56, 197, 3 1 1 ; 1964, 175, 204. EuGHE 1962, 653, 692 f. EuGHE 1984, 3291. EuGHE 1984, 2689; 1990, 4023. EuGHE 1984, 3291;1987, 4587; 1991, 2431. EuGHE 1966, 153, 178; 1969, 1; 1984, 4177. Zur Anwendbarkeit der rechtsstaatlichen Garantien des Gemeinschaftsrechts auf europaisiertes Strafrecht vgl. Satzger, Europaisierung, S. 177 ff.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
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Die nationalen Gerichte und Gesetzgeber haben den Grundsatz des Vorrangs des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts (§ 9) auch im Strafrecht zu beachten. Anlass fur eine Uberprilfung nationaler Strafbestimmungen auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht besteht insbesondere immer dann, wenn die Anwendung des Straftatbestandes in den Schutzbereich gemeinschaftsrechtlich garantierter Grundfreiheiten eingreift. Beispielsweise wird die strafrechtliche Produkthaftung in Fallen grenzilberschreitender Produktvermarktung durch die vom EuGH konkretisierten Vorgaben der Warenverkehrsfreiheit begrenzt46. Infolge des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts sind die nationalen Strafverfolgungsorgane daran gehindert, Strafrechtsnormen anzuwenden, soweit diese nicht im Einklang mit demselben stehen (§ 9 Rn. 11). So wurde z. B. die von einem griechischen Gericht gegen die italienische Touristin Calfa wegen illegalen Betaubungsmittelbesitzes verhangte StrafmaBnahme der lebenslangen Ausweisung aus Griechenland vom Europaischen Gerichtshof (EuGH) als mit Primarrecht (passive Dienstleistungsfreiheit) unvereinbare MaBnahme eingestuft47 (§ 9 Rn. 43 f.). Neben den primarrechtlichen Grundfreiheiten entfalten - wie bereits der eingangs geschilderte Fall aus dem Bereich des Steuerstrafrechts zeigt - nicht selten auch sekundarrechtliche Wertungsvorgaben strafrechtsbegrenzende Wirkungen48. Die erfolgreiche Berufung auf eine unmittelbar anwendbare begunstigende Richtlinie schiltzte z. B. den vor einem franzosischen Gericht Angeklagten Auer vor Bestrafung, der - im Besitz eines italienischen, aber eben nicht eines franzosischen veterinarmedizinischen Diploms - in Frankreich die Tatigkeit eines Tierarztes ausubte49 (§ 9 Rn. 19 f.). 24 Reichhaltiges Anschauungsmaterial fur die Uberlagerung des nationalen Strafrechts durch Gemeinschaftsrecht liefert das Lebensmittelstrafrecht, das in besonderem MaBe durch EG-Verordnungen und Richtliniendirektiven uberlagert ist50. EG-Sekundarrecht determiniert nicht nur die fur alle Fahrlassigkeitstatbestande mafigeblichen Sorgfaltsanforderungen, sondern legt die Mitgliedstaaten im Bereich des Tauschungsschutzes auf ein europaisches Verbraucherleitbild fest, was in einigen Mitgliedstaaten (darunter Deutschland) zu einer Neubestimmung des Verbraucherschutzstandards im Sinne einer Liberalisierung der Lebensmittelvermarktung filhrt (§10 Rn. 17 ff.). Beispielsweise darf- um einen etwas skurrilen Fall aus der deutschen buBgeldrechtlichen Praxis51 aufzugreifen - den inlandischen Anbietern importierter Lebensmirtel nicht die Vornahme einer ausschlieBlich deutschsprachigen Kennzeichnung abverlangt werden, wenn es sich um europa- oder weltweit vermarktete Erzeugnisse mit hohem Bekanntheitsgrad in Deutschland handelt. Die Vermarktung dieser Produkte in ihrer Originalverpa46
Hecker, Produktwerbung, S. 284 ff.; Ronnau, wistra 1994, 203 ff.; Satzger, rung, S. 494 ff.
Europaisie-
47
EuGHE1999, 11.
48
Vgl. hierzu allgemein Schroder, Richtlinien, 13 f, 250 ff. und im Besonderen (am Beispiel des § 266 a StGB) Ignor/Rixen, wistra 2 0 0 1 , 2 0 1 . E u G H E 1983, 2727; vgl. hierzu Hanf, JZ 1999, 785. Hecker, Produktwerbung, S. 58 ff, 65 ff, 78 ff. AG Koln, ZLR 2002, 525 m. Anm. Hecker, ZLR 2002, 527.
49 50 51
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"?
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ckung mit fremdsprachiger Etikettierung darf nicht als ordnungswidriger KennzeichnungsverstoB geahndet werden. Folglich milssen die Liebhaber englischen Lebensstils nicht darauf verzichten, einen ,,Hauch von Harrods" zu verspilren, wenn sie in Deutschland ein Fachgeschaft filr Originalerzeugnisse aus Groflbritannien aufsuchen. Es ist Aufgabe der nationalen Gerichte, sich im Rahmen der Anwendung und 25 Auslegung der geltenden Gesetze mit den Einflussen des Gemeinschaftsrechts auf das innerstaatliche Recht zu befassen und die Auswirkungen der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben auf das nationale Recht zu berilcksichtigen52. Mitgliedstaatliche Gerichte, deren Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden konnen, miissen gem. Art. 234 EGV die Frage nach der Auslegung und Gultigkeit von Gemeinschaftsrecht dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegen, wenn die Frage entscheidungserheblich ist (§ 4 Rn. 45; § 6 Rn. 7). Am 1. Mai 1999 ist erganzend das Gesetz betreffend die Anrufung des Gerichtshofes der Europaischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 35 EUV (EuGH-Gesetz53) in Kraft getreten, durch das auch Rechtsakte der ,,dritten Saule" der EU der Auslegung durch den EuGH zuganglich gemacht werden.
2. Starkung strafprozessualer Rechtspositionen Zwar kennt das Rechtssystem der EG (noch) kein eigenes supranationales Straf- 26 verfahrensrecht, doch haben einige Urteile des EuGH deutlich gemacht, dass die gemeinschaftsrechtliche Uberlagerung sich keineswegs auf das materielle Strafrecht beschrankt54. Dass das Gemeinschaftsrecht zu einer Ausweitung strafprozessualer Rechtspositionen fuhren kann, zeigen folgende Fallbeispiele aus der Praxis: (1) In dem vor einem italienischen Gericht gefiihrten Strafverfahren gegen 27 Bickel und Franz hat der EuGH das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV (ex-Art. 6 EGV) ausdriicklich auch auf strafprozessuale Regelungen bezogen55. Personen, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation in einem anderen Mitgliedstaat befinden, miissen vor dessen Gerichten genauso behandelt werden wie dessen Angehorige. Dies bedeutet im konkreten Fall, dass eine verfahrensrechtliche Regelung, die der deutschsprachigen BevSlkerung in Bozen das Recht auf eine Gerichtsverhandlung in deutscher Sprache einraumt, auch zugunsten von Angeklagten deutscher und osterreichischer StaatsangehOrigkeit anzuwenden ist.
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Vgl. zur Europaisierung des Strafrechts als Aufgabe der nationalen Rechtsprechung Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339 ff. BGB1.1 1998, S. 2035. Vgl. hierzu Esser, StV 2004, 221 ff.; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 143 f.; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 56. EuGH EuZW 1999, 82.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
(2) In der Rechtssache ,,Cowan"56 ging es um einen britischen Touristen, der bei einem Aufenthalt in Paris tatlich angegriffen und schwer verletzt wurde. Das franzosische Strafverfahrensrecht sah einen Entschadigungsanspruch des Opfers gegen den Staat nur unter der Voraussetzung vor, dass das Opfer franzosischer Staatsangehoriger, Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehoriger eines Staates ist, der mit Frankreich ein Gegenseitigkeitsabkommen fur die Anwendung der einschlagigen Vorschrift geschlossen hat. Diese Voraussetzungen lagen in dem konkreten Fall nicht vor. Der EuGH erblickte in der franzosischen Regelung eine gemeinschaftsrechtswidrigeUngleichbehandlung. 29 (3) In einer Vorabentscheidung, um die das AG Schleswig ersucht hatte, postulierte der EuGH ein gemeinschaftsrechtliches Beweisverwertungsverbot, welches der Berilcksichtigung eines auf staatlich veranlassten Probenahmen beruhenden Analysegutachtens in einem nationalen Ordnungswidrigkeitenverfahren entgegensteht57. Dem Verantwortlichen eines Lebensmittelunternehmens wurde in einem BuBgeldverfahren vor einem deutschen Gericht vorgeworfen, unzutreffend deklarierte Wursterzeugnisse fahrlassig in den Verkehr gebracht zu haben. Die Lebensmittelbehorden hatten zuvor in mehreren Einzelhandelsgeschaften Proben von Erzeugnissen des Unternehmens genommen und von jeder Probe eine Zweitprobe in den Geschaften zuriickgelassen. Aus ungeklarten Griinden hatten weder der Betroffene noch das Unternehmen Kenntnis von den staatlich veranlassten Probenentnahmen erlangt, so dass sie nicht in der Lage waren, ein (moglicherweise entlastendes) Gegengutachten einzuholen. Der EuGH stellte fest, dass sich ein Lebensmittelhersteller nach Art. 7 der Richtlinie 89/397/EWG iiber die amtliche Lebensmitteluberwachung gegeniiber den zustandigen Behorden eines Mitgliedstaates auf ein Recht zur Einholung eines Gegengutachtens berufen kann, wenn diese Behorden aufgrund einer Analyse von im Einzelhandel entnommenen Proben seiner Erzeugnisse die Auffassung vertreten, dass diese nicht den nationalen lebensmittelrechtlichen Bestimmungen genilgen. Analysegutachten, die auf nationaler Ebene entgegen diesen Richtlinienvorgaben erhoben worden sind und von der durch die Uberwachung betroffenen Person nicht mehr unter Berilcksichtigung der Grundsatze eines fairen, kontradiktorischen Verfahrens angegriffen werden konnen, unterliegen einem gemeinschaftsrechtlichen Beweisverwertungsverbot. Der Ausschluss des Gutachtens als Beweismittel steht also nicht im Ermessen des nationalen Gerichts, sondern ist nach Ansicht des Gerichtshofs zwingend geboten, wenn sich die Fairness des Verfahrens bei Verwertung des Gutachtens nicht mehr gewahrleisten lasst. Das AG Schleswig zog aus dieser Vorabentscheidung des EuGH die Konsequenz, das BuBgeldverfahren einzustellen58. 28
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(4) Von erheblicher praktischer Bedeutung ist schlieBlich das in Art. 54 SDU verankerte grenzuberschreitende Doppelbestrafungsverbot (§ 13). In einer neueren Entscheidung stellte der EuGH fest, dass nicht nur rechtskraftige Gerichtsurteile, sondern auch die staatsanwaltliche Einstellung des Verfahrens gegen 56 57 58
EuGHE 1989, 195 ff. EuGHE 2003, 3735; vgl. hierzu die ausfuhrliche Besprechung von Esser, StV 2004, 221 ff. Vgl. hierzu Esser, StV 2004, 221, 227.
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Zahlung einer Geldbufie (§ 153 a StGB) zu einem transnationalen Verbrauch der Strafklage flihrt59. Als uberaus bedeutsame, die Rechtsposition von Beschuldigten ausbauende Eu- 31 ropaisierungsfaktoren erweisen sich nicht zuletzt die in der Europaischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verbrieften und vom EGMR ausgeformten Verfahrensgarantien, die zum Teil iiber die Gewahrleistungen des nationalen Rechts hinausgehen. Dieser Befund sollte vor allem Strafverteidiger zu einer vertieften Beschaftigung mit der Konvention veranlassen60 (§ 3 Rn. 20). Mit der Individualbeschwerde, die nach Ausschopfung des nationalen Rechtsweges beim Europaischen Gerichtshof fur Menschenrechte (EGMR) in Strafiburg erhoben werden kann, steht dem strafrechtlich Verfolgten ein machtiges Rechtsinstrument zur Verfugung, mit dem z. B. Auslieferungshindernisse geltend gemacht, die Einhaltung bestimmter Verfahrensrechte eingefordert, der staatliche Einsatz von Lockspitzeln gerilgt oder eine ilberlange Untersuchungshaft- oder Verfahrensdauer beanstandet werden konnen (§ 3 Rn. 33 ff.).
3. Strafrechtsausdehnende Europaisierungseffekte Die nachfolgend zu behandelnden strafrechtsausdehnenden Europaisierungseffek- 32 te sind vor dem Hintergrund der Kriminalitatsentwicklung in Europa zu betrachten. a) Europa als ,,kriminalgeographischer Raum" Im Wirtschaftsraum der 25 EU-Mitgliedstaaten leben derzeit ca. 455 Millionen 33 Menschen in einem Zustand relativ hohen materiellen Wohlstands. Leider profitieren nicht nur unbescholtene Burger von den Errungenschaften und Vorteilen des europaischen Binnenmarktes. Auch Kriminelle haben erkannt, dass sie sich dank der Gewahrung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten und nach dem Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen der EG-Mitgliedstaaten relativ ungehindert bewegen konnen. Es liegt auf der Hand, dass die Zentren der Wohlstandsgesellschaft zum einen eine breite Angriffsflache fllr terroristische und sonstige kriminelle Operationen bieten, zum anderen begehrte Absatzmarkte fur illegale Produkte aller Art darstellen. Kriminalgeographisch ist Europa langst eine Einheit61. Vor allem folgende Kriminalitatsphanomene stehen im Mittelpunkt transnationaler Kriminalitat, die nicht selten einen hohen Organisationsgrad aufweist62:
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EuGHNJW 2003, 1173. Jung, StV 1990, 509 ff.; Weigend, StV 2000, 384 ff. So Zachert, in: Sieber (Hrsg.), Europaische Einigung, S. 61, 76. Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2001, 165 ff; Duyne van, in: Wolf (Hrsg.), Kriminalitat im Grenzgebiet, Bd. 2, 1998, S. 259 ff; Hecker, JA 2002, 723 ff; Zachert, in: Sieber (Hrsg.), Europaische Einigung, S. 61 ff.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts Terrorismus, Waffen- und Rauschgifthandel, Schleuserkriminalitat, Menschenhandel, Organhandel, Kfz-Verschiebungen, Illegaler Abfallexport (,,Mulltourismus"), VerstoBe gegen Lebensmittel- und Arzneimittelrecht, Illegaler Technologietransfer, Artenschutzkriminalitat, Illegale Zuwanderung, illegale Arbeitnehmerbeschaftigung, Computerkriminalitat (Angriffe auf Informationssysteme), Geldwasche, Angriffe auf die Finanzinteressen der EG, Angriffe auf die europaische Wahrung Euro (Falschgelddelikte).
34 Begunstigt wird die transnationale Kriminalitat dadurch, dass die Einfuhrkontrollen nach der Offnung der Binnengrenzen und der Abschaffung der Personenkontrollen im Rahmen des Schengener Abkommens (,,Schengen I") nur noch an den AuBengrenzen erfolgen, dort aber ausschlieBlich nach den Gesetzen des jeweils zustandigen Staates, der ilber Umfang und Intensitat der Kontrollen entscheidet (§ 5 Rn. 30 ff.). Das nicht unbetrachtliche Entdeckungsrisiko, dem sich Straftater frilher beim Grenziibertritt ausgesetzt sahen, ist in Wegfall geraten. Der damit einhergehende Verlust an Sicherheit gibt dringend Anlass, tiber polizei- und strafrechtliche AusgleichsmaBnahmen nachzudenken. b) Europaisches Strafrecht als Antwort auf grenzuberschreitende Kriminalitat 35 Die Globalisierung der organisierten Kriminalitat und deren Hineinwirken in den Rechtsraum der EU-Mitgliedstaaten stellen neue Herausforderungen fur die grenzuberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Europa dar. Es liegt im gemeinsamen Interesse aller Mitgliedstaaten, der transnationalen Kriminalitat unter Wahrung rechtsstaatlicher Grundsatze moglichst wirkungsvoll entgegenzutreten. Gleiches gilt im Zusammenhang mit der Bekampfung von Angriffen auf den EG-Finanzhaushalt durch betriigerisch agierende Marktteilnehmer (zu denken ist vor allem an die Erlangung ungerechtfertigter Vorteile durch Subventionsbetrug und Abgabenhinterziehung) oder korrupte Amtstrager. Fraglich ist, ob es hierzu supranationaler strafrechtlicher Konzeptionen (bis hin zur Schaffung eines europaischen Strafgesetzbuches) bedarf oder ob schon ein auf Rechtsangleichung abzielender Ausbau der mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme sowie eine Verbesserang (Erleichterung, Intensivierung) der internationalen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit ausreichen. Die Mitgliedstaaten als ,,Herren der Vertrage" haben den Gemeinschaften bislang keine Kompetenz zur Schaffung und Setzung kriminalstrafrechtlicher Normen iibertragen (§ 4 Rn. 101). Bei realistischer Betrachtung der politischen Gegebenheiten lasst sich die Vision eines supra-
B. Was ist ,,Europaisches Strafrecht"?
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nationalen Strafrechts63 jedenfalls in absehbarer Zeit nicht realisieren, zumal auch das Europaische Parlament und der Europaische Rat zum gegenwartigen Zeitpunkt keine Supranationalisierung des Strafrechts anstreben64. Auch der am 29. Oktober 2004 von den EU-Staats- und Regierungschefs unterzeichnete Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa enthalt keine Kompetenztitel fur die generelle Einfuhrung supranationaler Strafbestimmungen. Eine bedeutsame Ausnahme bildet freilich der in Art. III-415 IV EU-Verfassung enthaltene - bereichsspezifische - Kompetenztitel (§ 14 Rn. 46). Bereits nach heutiger Rechtslage besteht jedoch eine gemeinschaftsrechtliche 36 Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur strafrechtlichen Verfolgung von Angriffen auf Rechtsgtiter der EG, namentlich solche, die gegen ihre Finanzinteressen gerichtet sind. VerstoBe gegen Gemeinschaftsrecht sind nach ahnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie nach Art und Schwere vergleichbare VerstoBe gegen nationales Recht (§ 7 Rn. 29 ff.). Bei der Verfolgung solcher Straftaten ist das Einstellungsermessen der nationalen Strafverfolgungsbehorden (Opportunitatsprinzip) gemeinschaftsrechtlich begrenzt und kann im Einzelfall sogar auf Null reduziert sein65. Im Ubrigen wird der Grundsatz der verfahrensmaBigen Autonomie der Mitgliedstaaten durch den Vorranganspruch des Gemeinschaftsrechts eingeschrankt66. Beispielsweise entfallt die Vorlagepflicht nach § 121 II GVG, wenn ein OLG in Ubernahme der Judikatur des EuGH von der Rechtsprechung eines anderen OLG abweichen will67. Als zentraler und herausragender Faktor der Europaisierung des materiellen 37 Strafrechts und der international-arbeitsteiligen Strafrechtspflege erweist sich derzeit das gemeinsame Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (§ 11 Rn. 1). Auf der Grundlage der Art. 29, 31 lit. e EUV wurden bereits zahlreiche Rechtsakte (in der Regel Rahmenbeschlusse) erlassen oder geplant, die auf eine Mindestangleichung des materiellen Strafrechts der EU-Mitgliedstaaten abzielen und ein breites Kriminalitatsspektrum betreffen, namentlich Organisierte Kriminalitat, Falschgelddelikte, Menschenhandel, Schleuserkriminalitat, Geldwasche, Terrorismus, illegaler Drogenhandel, Straftaten im Zusammenhang mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, Kinderpornographie, Umweltkriminalitat, Korruption im privaten Sektor, rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Straftaten sowie Angriffe auf Informationssysteme68. Daneben wird auf EU-Ebene - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Terroranschlage vom 11. September 2001 - an MaBnahmen gearbeitet, die der Umsetzung des in Art. 29 EUV formulierten Handlungsauftrages dienen, die justizielle ZuVgl. zu dieser Perspektive Perron, Strafrechtsvereinheitlichung, S.I35; ders., ZStW 112 (2000), S. 202, 210; Sieber, ZLR 1991, 451, 475 ff. Vgl. die EntschlieBung des EP zu den Strafverfahren im Rahmen der EU (Corpus Juris), BR-Drs. 276/99 sowie die Mitteilungen tiber die Empfehlung des Europaischen Rates betreffend ,,Unionsweite Kriminalitatsbekampfung", NJW 2000, 339. Vgl. hierzu Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 149 ff. Kiihne, Strafverfahrensrecht, Rn. 58. BGHSt 36, 92; Dannecker, Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 68. Vgl. hierzu nur v. Bubnoff, ZEuS 2001, 165 ff.; ders., NJW 2002, 1 ff.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
sammenarbeit in Strafsachen dynamisch fort zu entwickeln, d. h. liber den Status quo der bestehenden Rechtshilfekooperation (Auslieferung, Vollstreckungshilfe, sonstige Rechtshilfe) hinauszugehen. So leitet der ,,Europaische Haftbefehl" einen Paradigmenwechsel im Auslieferungsverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten ein(§ 12 Rn. 19 ff.). 38 Den EU-Strafrechtsaktivitaten der dritten Saule haftet eine expansive Tendenz an, weshalb sie in Wissenschaft und Praxis mitunter auf dezidierte Ablehnung stoBen69. Auch wenn man die teilweise nicht ganz frei von Polemik vorgetragene Fundamentalopposition gegen die derzeitige EU-Kriminalpolitik nicht unterstutzt, kann man sich einigen fachlichen Bedenken gegen eine unreflektierte Strafrechtsexpansion nicht verschlieBen. Dies gilt z. B. fur die berechtigte Kritik an der Ubertragung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung auf den Bereich des Strafprozessrechts (§12 Rn. 44 ff). Auch so lite die europaische Kriminalpolitik darauf achten, dass die gewachsenen Strafrechtskulturen der Mitgliedstaaten nicht ohne Not zerschlagen oder zersetzt werden. Dem strafrechtsspezifischen Schonungsgebot70 ist bestmoglich Rechnung zu tragen, handelt es sich bei den nationalen Strafrechtsordnungen doch um hochkomplexe und dynamische Systeme, die durch ein breites Ensemble materiellrechtlicher und prozessualer Normen, dogmatischer Maximen und nationalspezifischer Praktiken der Rechtsdurchsetzung gekennzeichnet sind71. Auch ist mit einer Vereinheitlichung des materiellen Strafrechts noch nicht das Problem gelost, dass in den EU-Mitgliedstaaten unterschiedliche Verfahrensordnungen und Strafverfolgungsintensitaten bestehen72. Erfahrene Rechtsvergleicher weisen schon seit jeher darauf hin, dass Rechtsangleichung auf einem Gebiet wie dem Strafrecht ein komplexes, delikates und miihseliges Unterfangen darstellt73. 39
Nichtsdestotrotz diirfen die Augen vor dem kriminalpolitischen Handlungsbedarf nicht verschlossen werden. Der durch den Beitritt ost- und sudeuropaischer Lander auf derzeit 25 Mitgliedstaaten angewachsene ,,kriminalgeographische Raum Europa" stellt ein gemeinsames - alle EU-Mitgliedstaaten als solche und die EU als politische Organisation betreffendes - kriminalpolitisches Problem ersten Ranges dar. Da dieser Herausforderung nicht durch nationale Alleingange einzelner Mitgliedstaaten, sondern nur durch eine moglichst reibungslos aufeinander abgestimmte Polizei- und Strafverfolgungsarbeit aller Mitgliedstaaten begegnet werden kann, besteht nach hier vertretener Auffassung keine sinnvolle Alternative zu einer an rechtsstaatlichen Prinzipien orientierten Weiterentwicklung des Europaischen Strafrechts. Der die nationalen Strafrechtsordnungen nach wie vor be69
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72 73
Exemplarisch hierfur stehen die Beitrage von Albrecht, Z R P 2004, 1; AlbrechtlBraum, KritV 1998, 460; Braum, StV 2003, 576; ders., Europaische Strafgesetzlichkeit, 2003, passim; Hassemer, Z S t W 116 (2004); S. 304; Nestler, Z S t W 116 (2004), S. 332; Schtinemann, G A 2002, 5 0 1 ; ders., Z R P 2003, 185. Satzger, Europaisierung, S. 166 ff. Vgl. hierzu Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 288, 299; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774, 789. Vgl. hierzu Perron, Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 145. Jung/Schroth, GA 1983, 241, 248.
C. Literaturhinweise
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stimmende Territorialbezug vermag den grenzubergreifenden Kriminalitatsformen nicht durchweg adaquat zu begegnen. Eine Effektivierung der zwischenstaatlichen Kooperationsformen erscheint unabdingbar, da sich das tradierte Rechtshilfesystem nach den Erfahrungen der Strafverfolgungspraxis vielfach als zu schwerfallig und ineffizient erwiesen hat74. Daher flihrt kein Weg an einer bereichsspezifischen Angleichung des materiellen und formellen Strafrechts und einer Verbesserung der institutionell-organisatorischen Rahmenbedingungen fur eine grenzuberschreitende Strafverfolgung vorbei. Allerdings sollte der notwendige Ausbau der international-arbeitsteiligen Strafrechtspflege nicht nur einseitig an den Belangen und Wunschen der Strafverfolgungsseite orientiert sein, sondern bei allem berechtigten Streben nach Effektivitat stets auch die rechtsstaatlich gebotene Wanning der Bilrgerrechte im Auge behalten. Derzeit eilt die Praxis des Europaischen Strafrechts der Wissenschaft voraus. Es gehort indes zu den vornehmsten Aufgaben der Kriminal- und Strafrechtswissenschaft, den Europaisierungsprozess unter den vorgenannten Aspekten konstruktiv-kritisch zu begleiten75.
C. Literaturhinweise AlbrechtlBraum, Defizite europaischer Strafrechtsentwicklung, KritV 1998, 460 Bleckmann, Die Uberlagerung des nationalen Strafrechts durch das Europaische Gemeinschaftsrecht, Stree/Wessels-FS, 1993, S. 107 Braum, Europaische Strafgesetzlichkeit, 2003, passim v. Bubnoff, Schwerpunkte strafrechtlicher Harmonisierung in Europa unter Berucksichtigung der Orientierungsvorgaben aus der Grundrechtscharta 2000, ZEuS 2001, 165 Dannecker, Strafrecht in der Europaischen Gemeinschaft, JZ 1996, 869 ders., Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, JURA 1998, 79 ders., Das Europaische Strafrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichthofs in Strafsachen, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 339 Eisele, Einflihrung in das Europaische Strafrecht, JA 2000, 896 Esser, Europaische Vorgaben fllr die amtliche Lebensmitteliiberwachung - Auf dem Weg zu einem europaischen Beweisverwertungsverbot, StV 2004, 221 Hassemer, Strafrecht in einem europaischen Verfassungsvertrag, ZStW 116 (2004), S. 304 Becker, Europaisches Strafrecht als Antwort auf transnationale Kriminalitat?, JA 2002, 723 Jung, Strafverteidigung in Europa, StV 1990, 509
Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2000, 185, 188 f.; Perron, Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 147 ff.; Wasmeier, ZStW 116 (2004), S. 320 f.; Zieschang, in: Hohloch (Hrsg.), Wege zum Europaischen Recht, 2002, S. 39, 46 ff. Vgl. hierzu (jeweils zu unterschiedlichen Aspekten) Ku'hl, Sollner-FS, S. 613; Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332; Radtke, GA 2004, 1; Schunemann, ZStW 116 (2004), S. 376; Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401; Vogel, GA 2002, 517; ders., ZStW 116 (2004), S. 400; Weigend, StV 2001, 63; ders., ZStW 105 (1991), S. 774; Wolter, KohlmannFS, S. 693; Zieschang, ZStW 113 (2001), S. 255.
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
ders., Konturen und Perspektiven des europaischen Strafrechts, JuS 2000, 417 Krefi, Das Strafrecht auf der Schwelle zum europaischen Verfassungsvertrag, ZStW 116 (2004), S. 445 Kuhne, Strafprozessrecht, 6. Aufl., 2003, Rn. 43-100.3 Perron, Sind die nationalen Grenzen des Strafrechts uberwindbar?, ZStW 109 (1997), S. 281 ders., Strafrechtsvereinheitlichung in Europa, in Dorr, Dieter/Dreher, Meinrad (Hrsg.), Europa als Rechtsgemeinschaft, 1997, S. 135 Schilnemann, Grundzuge eines Alternativ-Entwurfs zur europaischen Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), S. 376 Sieber, Europaische Einigung und Europaisches Strafrecht, ZStW 103 (1991), S. 957 ders., Memorandum fur ein Europaisches Modellstrafgesetzbuch, JZ 1997, 369 ders., Auf dem Weg zu einem europaischen Strafrecht - Einfuhrung zum Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der fmanziellen Interessen der EU, in: Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Union, 1998, S. 2 Tiedemann, Europaisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, NJW 1993, 23 ders., Die Europaisierung des Strafrechts, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europaisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der EU, 1997, S. 134 ders., EG und EU als Rechtsquellen des Strafrechts, Roxin-FS, S. 1401 Vogel, Europaische Kriminalpolitik — europaische Strafrechtsdogmatik, GA 2002, 517 ders., Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf Europaische Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), S. 400 Wasmeier, Stand und Perspektiven des EU-Strafrechts, ZStW 116 (2004), S. 320 Weigend, Die Europaische Menschenrechtskonvention als deutsches Recht -Kollisionen und ihre LOsung, StV 2000, 384 ders., Der Entwurf einer Europaischen Verfassung und das Strafrecht, ZStW 116 (2004), S. 275 Zieschang, Chancen und Risiken der Europaisierung des Strafrechts, ZStW 113 (2001), 255 ders., Akzeptanz Europaischen Strafrechts?, in: Hohloch (Hrsg.), Wege zum Europaischen Recht, 2002, S. 39 Zuleeg, Der Beitrag des Strafrechts zur europaischen Integration, JZ 1992, 761 ders., Die Vorztlge der Europaischen Verfassung, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europaisches Verfassungsrecht, 2003, S. 931
D. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1983, 2727 (Strafverfahren gegen Auer wegen illegaler Ausubung einer arztlichen Tatigkeit) EuGHE 1989, 195 (Rechtssache Cowan - Opferentschadigungsanspruch und gemeinschaftsrechtlichesDiskriminierungsverbot) EuGHE 1999, 11 (Strafverfahren gegen Calf a wegen unerlaubten Betaubungsmittebesitzes) EuGH EuZW 1999, 82 (Strafverfahren gegen Bickel und Franz - gemeinschaftsrechtlicher Anspruch auf Gleichbehandlung im Strafverfahren) EuGH NJW 2003, 1173 (transnationales Doppelbestrafungsverbot)
E. Zusammenfassung von § 1
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EuGHE 2003, 3735 (BuBgeldverfahren gegen Steffensen - gemeinschaftsrechtliches Beweisverwertungsverbot)
E. Zusammenfassung von § 1 Obwohl die europaischen Staaten ilber ein gemeinsames rechtskulturelles Erbe 40 verfilgen, das sich in fundamentalen Prinzipien ihrer Strafrechtsordnungen widerspiegelt, ist ihr Strafrecht hochst unterschiedlich ausgestaltet. Ein echtes Europastrafrecht — etwa in Gestalt eines europaischen Strafgesetzbuches oder einer europaischen Strafprozessordnung — existiert derzeit nicht. Dennoch hat sich in der Strafrechtswissenschaft die Rede vom Europaischen Strafrecht inzwischen als allgemein anerkannter Sammelbegriff fur einen eigenstandigen strafrechtlichen Forschungsgegenstand durchgesetzt. Der Begriff Europaisches Strafrecht beschreibt derzeit eine Rechtsmaterie eigener Art, die sowohl strafrechtsrelevantes Gemeinschaftsrecht, Unionsrecht und Volkerrecht als auch gemeinschafts-, unions- und volkerrechtlich beeinflusstes nationales Strafrecht umfasst. Die nationalen Strafrechtssysteme sind in einen dynamisch verlaufenden Pro- 41 zess der Europaisierung eingebunden, der sich vor allem auf die Aktivitaten des Europarates, die intergouvernementale Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten sowie auf den Einfluss des Gemeinschaftsrechts zuriickfuhren lasst. Als zentrale Europaisierungsfaktoren wirken vor allem die vom EGMR ausgeformten Garantien der Europaischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die Rechtshilfekonventionen des Europarates, die HarmonisierungsmaBnahmen der ersten und dritten Saule der EU sowie die vom EuGH konkretisierten Prinzipien des Gemeinschaftsrechts (z. B. Assimilierungsprinzip, Vorrangprinzip, Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung) auf das nationale Straf- und Strafverfahrensrecht ein. Als Wissenschafitsdisziplin stellt das Europaische Strafrecht eine rechtswissenschaftliche Querschnittsmaterie dar, die zahlreiche, sich teilweise uberschneidende Probleme aus den Bereichen Kriminalpolitik, Strafrechtsdogmatik, Strafverfahrensrecht, Kriminologie, Europarecht sowie Verfassungs- und Volkerrecht — jeweils unter Einbeziehung rechtsvergleichender Forschung aufwirft. Auch die Strafrechtspraxis kann sich der europaischen Dimension ihres Arbeitsgebietes nicht mehr entziehen. Es ist Aufgabe der nationalen Gerichte, sich im Rahmen der Anwendung und Auslegung der geltenden Gesetze mit den europaischen Einfliissen auf das innerstaatliche Recht zu befassen und die Auswirkungen europaischer Wertungsvorgaben auf das nationale Recht zu beriicksichtigen. Eine besondere Rolle kommt hierbei dem Zusammenspiel zwischen der supranationalen Gerichtsbarkeit des EuGH und den nationalen Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV, 35 I EUV zu. Die Globalisierung der organisierten Kriminalitat und deren Hineinwirken in 42 den Rechtsraum der EU-Mitgliedstaaten (Europa als ,,kriminalgeographischer Raum") stellen neue Herausforderungen fur die grenzilberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Europa dar. Bereits nach geltendem Recht be-
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§ 1 Grundbegriffe und Grundfragen des Europaischen Strafrechts
steht eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur strafrechtlichen Verfolgung von Angriffen auf Rechtsgiiter der EG, namentlich solche, die gegen ihre Finanzinteressen gerichtet sind. Der die nationalen Strafrechtsordnungen nach wie vor pragende Territorialbezug vermag den grenzilbergreifenden Kriminalitatsformen nicht durchweg adaquat zu begegnen. Eine Effektivierung der zwischenstaatlichen Kooperationsformen erscheint unabdingbar, da sich das tradierte Rechtshilfesystem nach den Erfahrungen der Strafverfolgungspraxis vielfach als zu schwerfallig und ineffizient erwiesen hat. Als zentraler und herausragender Faktor der Europaisierung des materiellen Strafrechts und der international-arbeitsteiligen Strafrechtspflege erweist sich daher das gemeinsame Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit. Auf der Grundlage der Art. 29, 31 lit. e EUV wurden bereits zahlreiche Rechtsakte (in der Regel Rahmenbeschlusse) erlassen oder geplant, die auf eine Mindestangleichung des materiellen Strafrechts der EU-Mitgliedstaaten abzielen und ein breites Kriminalitatsspektrum betreffen, namentlich Organisierte Kriminalitat, Falschgelddelikte, Menschenhandel, Schleuserkriminalitat, Geldwasche, Terrorismus, illegaler Drogenhandel, Straftaten im Zusammenhang mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, Kinderpornographie, Umweltkriminalitat, Korruption im privaten Sektor, rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Straftaten sowie Angriffe auf Informationssysteme. Daneben wird auf EU-Ebene - nicht zuletzt unter dem Eindruck der Terroranschlage vom 11. September 2001 - an MaBnahmen zur Verbesserung der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen gearbeitet. Eine hochst praxisrelevante Frucht dieser von alien EU-Mitgliedstaaten getragenen europaischen Kriminalpolitik ist der Europaische Haftbefehl.
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Bezugen
Um strafrechtliche Spezialgebiete mit grenzuberschreitenden Bezugen handelt es sich beim internationalen Strafrecht, transnationalen Strafrecht und Volkerstrafrecht. Es geht hierbei um eigenstandige Strafrechtsmaterien mit jeweils spezifischen Funktionen und Strukturprinzipien. Insbesondere das internationale und das transnationale Strafrecht werden in nicht unerheblichem MaBe von rechtlichen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts (erste Saule der EU) und des Unionsrechts (dritte Saule der EU) beeinflusst und iiberlagert. Insoweit konnen die betroffenen Regelungskomplexe zugleich dem Besitzstand des Europaischen Strafrechts zugerechnet werden. Das Volkerstrafrecht als supranationals Strafrecht mit weltweitem Geltungsanspruch konnte in mancherlei Hinsicht Vorbild fur die Weiterentwicklung des Europaischen Strafrechts zu einem echten Europastrafrecht sein.
A. Internationales Strafrecht I. Beg riff und Funktion des internationalen Strafrechts Die in der deutschen Rechtsterminologie gebrauchliche Bezeichnung Internationales Strafrecht" ist insoweit irrefuhrend, als sie suggeriert, es gehe hierbei um einen Katalog supranationaler Strafrechtsnormen mit weltweitem Geltungsanspruch. Dem ist freilich nicht so. Echtes supranationales Strafrecht ist nur das Volkerstrafrecht (Rn. 84 ff.). Bei den in §§ 3-7, 9 StGB normierten Bestimmungen des internationalen Strafrechts handelt es sich indes schlicht um innerstaatliches Strafanwendungs-, Strafgewalts- bzw. Geltungsbereichsrecht1. Die Regeln des internationalen Strafrechts geben Auskunft dariiber, ob auf einen bestimmten Lebenssachverhalt, der sich im Ausland abspielt oder an dem auslandische Tater und/oder Opfer beteiligt sind, deutsche Strafhormen Anwendung finden. Das Strafanwendungsrecht ist innerstaatliches Recht, durch das die Staaten den Umfang und die Grenzen ihrer nationalen Strafgewalt einseitig festlegen, ohne hierdurch einen etwa koexistierenden auslandischen Strafanspruch auszuschlieBen. Im Gegensatz zu den Kollisionsnormen des internationalen Privatrechts, die sich mit der Koordinierung kollidierender Geltungsanspriiche konkurMiiKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 2; Scholten, Tatortstrafbarkeit, S. 10; WerlelJefiberger, JuS 2001, 35, 36.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Beziigen
rierender Rechtsordnungen befassen, indem sie festlegen, welches nationale (inlandische oder auslandische) Recht bei der konkreten Sachentscheidung zugrunde zu legen ist, wenden deutsche Strafverfolgungsbehorden und Strafgerichte ausschlieBlich deutsches Strafrecht an2. Dementsprechend kann sich die Strafverfolgung durch deutsche Strafverfolgungsbehorden lediglich auf solche Taten beziehen, die nach innerstaatlichem Recht strafbar sind. Hinweis: Dass ein echtes Kollisionsrecht auch im Bereich des internationalen Strafrechts durchaus moglich ist, zeigt das Schweizerische internationale Strafrecht. Art. 5 schweiz. StGB (Verbrechen oder Vergehen im Auslande gegen Schweizer) bestimmt: ,,Wer im Auslande gegen einen Schweizer ein Verbrechen oder ein Vergehen veriibt, ist, sofern die Tat auch am Begehungsorte strafbar ist, dem schweizerischen Gesetz unterworfen, wenn er sich in der Schweiz befindet und nicht an das Ausland ausgeliefert, oder wenn er der Eidgenossenschaft wegen dieser Tat ausgeliefert wird. Ist das Gesetz des Begehungsortes fur den later das mildere, so ist dieses anzuwenden." Die Regelungen der §§ 3-7, 9 StGB sind konstitutiver Bestandteil der primaren Strafrechtsnormen, indem sie den Anwendungsbereich beschreiben, fur den sich das deutsche Strafrecht einen Bewertungsanspruch zuerkennt3. Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts ist freilich kein Tatbestandselement, sondern objektive Bedingung der Strafbarkeit, auf die sich der Vorsatz des Taters nicht erstrecken muss4. Lassen die Regelungen des internationalen Strafrechts die Austibung deutscher Strafgewalt im Einzelfall nicht zu, so stellt dies nach gangiger deutscher Rechtspraxis ein Prozesshindernis dar, das zur Einstellung des Verfahrens filhrt5. Die Erstreckung des innerstaatlichen Strafrechts auf Lebenssachverhalte mit Auslands- bzw. Auslanderbezug kann dazu fuhren, dass ein Tater wegen derselben Tat von mehreren Staaten gleichzeitig oder nacheinander verfolgt wird. Das Nebeneinander mehrerer nationaler Strafanspriiche wirft die Frage auf, ob bzw. inwieweit der Tater vor einer mehrfachen Verfolgung und Bestrafung geschiitzt ist. Hierauf wird im Rahmen des transnationalen Doppelbestrafungsverbots innerhalb der EU (,,ne bis in idem") naher einzugehen sein (vgl. § 13).
II. Schutzbereich deutscher Straftatbestande Bei Sachverhalten mit Auslands- bzw. Auslanderbezug stellt sich unabhangig von der Frage des Geltungsbereichs deutschen Strafrechts das jeweils gesondert zu erorternde Problem, ob der einschlagige deutsche Straftatbestand tlberhaupt den Schutz auslandischer Rechtsgiiter und Interessen umfasst oder ob er eine tatbeMuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 2; WerlelJefiberger, JuS 2001, 35, 36. Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 35 ff., 43. Gribbohm, JR 1998, 177, 179; Schonke/Schroder/Eser, Vor § 3 Rn. 61. BGHSt 34, 1, 3 f.; BGH NJW 1995, 1844, 1845; NStZ 1997, 119; MuKoStGB/zlmfcas, Vor §§ 3-7 Rn. 4; Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 45; Schonke/Schrflder/Eser, Vor § 3 Rn. 2.
A. Internationales Strafrecht
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standsimmanente Beschrankung auf einen rein inlandischen Rechtsgiiterschutz aufweist6. Bei der Beantwortung dieser Frage kann nicht etwa auf die geografische Lage des Tatobjekts oder die Staatsangehorigkeit von Tater und Opfer, also gerade nicht auf internationalstrafrechtliche Kriterien abgestellt werden. Vielmehr ist durch eine umfassende Normauslegung die Reichweite des von ihr intendierten Rechtsgiiterschutzes zu ermitteln. Beispielsweise bezwecken die Staatsschutzdelikte (§§ 80 ff. StGB) nur den Schutz der Bundesrepublik Deutschland vor Angriffen auf ihre innere und auBere Sicherheit. Es ist nicht Aufgabe des deutschen Strafrechts, auslandische Staaten gegen Angriffe auf ihre Staatsgewalt und Souveranitat zu schiitzen7. Ebenso ist eine Widerstandshandlung, die ein deutscher Hooligan gegenuber einem auslandischen Polizeibeamten im Ausland verubt, keine nach § 113 1 StGB strafbare Handlung, da diese Bestimmung nur der Durchsetzung innerstaatlicher Vollstreckungsakte zu dienen bestimmt ist und demgemaB nur Amtstrager geschutzt werden, denen nach deutschem Recht eine bestimmte hoheitliche Funktion obliegt (vgl. auch § 11 I Nr. 2 lit. a-c StGB). Im Ubrigen erschliefit sich der Schutzbereich von Straftatbestanden im Hinblick auf die Einbeziehung nichtdeutscher Rechtsgilter bzw. Interessen nicht immer so eindeutig aus der tatbestandlichen Umschreibung wie bei den Staatsschutz- oder Widerstandsdelikten. So unterfallt z. B. die Verletzung einer nach auslandischem Recht begriindeten Unterhaltspflicht durch einen im Inland lebenden Auslander oder auch eines Deutschen gegenuber einem im Ausland lebenden Auslander nicht dem Tatbestand des § 170 I StGB, da diese Bestimmung nicht den Schutz auslandischer Sozialbehorden vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme bezweckt8. Ist dagegen ein im Ausland lebender Deutscher als Unterhaltsberechtigter betroffen, bleibt fur § 170 I StGB Raum9. Individualrechtsgiiter wie z. B. Leben (§§ 211 ff. StGB), Gesundheit (§§223 ff. StGB), Eigentum (§§ 242 ff. StGB), Vermogen (§§ 263, 266 StGB) sowie Fortbewegungs- und Willensfreiheit (§§ 239, 240 StGB) werden auch dann von den einschlagigen deutschen Straftatbestanden geschutzt, wenn der von einer Inlandstat betroffene Rechtsgutstrager Auslander ist10. Verkehrsstraftaten (namentlich §§ 316, 315 c, 142 StGB, § 21 StVG) Deutscher, die im auslandischen StraBenverkehr begangen werden, sind nach MaBgabe des § 6 Nr. 9 bzw. § 7 I Nr. 1, II Nr. 1 StGB nach deutschem Strafrecht verfolgbar, soweit durch diese Ta-
MuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 81 ff.; Eser, BGH-Festgabe, S. 3, 8 ff. Nach h. M. geht die Frage nach dem tatbestandlichen Schutzbereich der internationalstrafrechtlichen Geltungsfrage ,,logisch" vor; vgl. hierzu MMKo'&tGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 89; Tron&XdFischer, Vor § 3 Rn. 4; Schonke/Schroder/Eser, Vor § 3 Rn. 13. BGHSt 22, 282, 285; 29, 73, 75 ff.; MiiKoStGBA4m6as, Vor §§ 3-7 Rn. 81; Schonke/Schroder/Eser, Vor § 3 Rn. 17 f.; Trondle/'Fischer, Vor § 3 Rn. 9. Vgl. BGHSt 29, 85, 89; BayObLG NJW 1982 1243; Lackner/SW, § 170 Rn. 2; Kunz, NJW 1980, 1201; Oehler, JR 1980, 381. KG JR 1985, 516; Schonke/Schroder/Lewcfcwer, § 170 Rn. 1 b. BGHSt 29, 85, 88;Trondle/F;.scfer, Vor §§ 3-7 Rn. 8; LYJGribbohm, Vor §§ 3-7 Rn. 24.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Beziigen
ten (auch) dem Individualrechtsgiiterschutz dienende Tatbestande verwirklicht werden11. Der Schutzbereich deutscher Strafrechtsnormen kann auch durch gemeinschaftsrechtliche Faktoren, namentlich durch das sog. Assimilierungsprinzip. dergestalt ilberlagert sein, dass er sich auch auf supranational Rechtsgiiter bzw. Gemeinschaftsinteressen erstreckt (vgl. § 7 Rn. 34). Typische Beispiele hierfur bilden zum einen der Tatbestand des Meineids (§ 154 StGB), der kraft einer primarrechtlichen Assimilierungsbestimmung auch auf Angriffe gegen die supranationale Gerichtsbarkeit des EuGH anzuwenden ist (§ 7 Rn. 13), zum anderen der Subventionsbetrug (§ 264 I StGB), der sich im Lichte des durch die ,,MaisRechtsprechung" des EuGH konkretisierten Loyalitatsgebotes (Art. 10 EGV) auf den Schutz des EG-Finanzhaushalts zu erstrecken hat (§ 7 Rn. 72 ff.). Wenn eine sog. ,,Gleichstellungsklausel" nach dem Vorbild des § 264 VII Nr. 2 StGB fehlt, kann insbesondere die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung zu einer Schutzbereichsausdehnung nationaler Straftatbestande auf supranationale Rechtsgiiter fiihren. Aus der in Art. 10 EGV verankerten Loyalitatspflicht lasst sich u. a. eine Pflicht der Mitgliedstaaten ableiten, der Rechtspflege des EuGH den gleichen strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen, den das nationale Recht bei gleichartigen Angriffen auf die innerstaatliche Rechtspflege vorsieht. Da § 153 StGB einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zuganglich ist (§ 10 Rn. 69), sind - im Zusammenspiel mit § 6 Nr. 9 StGB (Rn. 53 f.) - auch uneidliche Falschaussagen vor dem EuGH nach deutschem Recht strafbar12. Ein hochst praxisrelevantes, jedoch wissenschaftlich noch wenig geklartes Diskussionsfeld fur die Frage der Europaisierung des Schutzbereichs nationaler Straftatbestande bietet das Umweltstrafrecht im Zusammenhang mit grenzuberschreitenden Umweltbeeintrachtigungen13. In der Literatur wird vorgeschlagen, die deutschen Umweltdelikte, die auf eine ,,Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" abstellen (§§ 324 a, 325 StGB), im Lichte des aus Art. 10 EGV abzuleitenden Assimilierungsgebotes als europarechtsakzessorische Tatbestande zu interpretieren (§10 Rn. 75). Diesem Auslegungsvorschlag zufolge umfassen die nach der Legaldefmition des § 330 d Nr. 4 lit. a StGB tatbestandsrelevanten Rechtsvorschriften nicht nur deutsche Umweltgesetze, sondern auch EG-Verordnungen sowie das gesamte harmonisierte Umweltrecht der EG-Mitgliedstaaten14. Nachdem der deutsche Gesetzgeber durch das 2. UKG15 die Beschrankung des Gewasserbegriffs in § 330 d Nr. 1 StGB auf Tatobjekte ,,im raumlichen Geltungsbereich dieses Gesetzes" aufgehoben hat, schutzt der Tatbestand der Gewasserverunreinigung (§ 324 StGB) auch im Ausland liegende Gewasser. Damit ist zugleich die BGHSt 20, 45, 51 f.; BayObLG VRS 26, 100, 101; MiiKoStGWAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 91; Schonke/Schroder/Eser, Vor § 3 Rn. 19; TrondAdFischer, Vor §§ 3-7 Rn. 11. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 72 f.; Satzger, Europaisierung, S. 575 ff.; a. A. TrondldFischer, Vor § 3 Rn. 9. Vgl. hierzu DanneckerlStreinz, EUDUR, § 8 Rn. 47 m. w. N. Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 898 ff. Zweites Gesetz zur Bekampfung der Umweltkriminalitat v. 27. Juni 1994 (BGB1. I 1994, S. 1440).
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frilhere Rechtsprechung des BGH16 tlberholt, wonach § 326 StGB nur inlandische Individualrechts- und Umweltgiiter (Gewasser, Boden, Luft) schutze17. Der letztgenannten Ansicht ist schon deshalb zu folgen, weil es sich bei den Umweltgiltern um supranationale Schutzgiiter der EG handelt, deren (auch) strafrechtlicher Schutz eine gemeinsame Angelegenheit aller Mitgliedstaaten ist18. Die Staaten konnen schliefllich aufgrand von volkerrechtlichen Vereinbarungen verpflichtet sein, ihren Strafrechtsschutz auch fremdstaatlichen Kollektivrechtsgutern angedeihen zu lassen. So hat die Bundesrepublik Deutschland den Schutzbereich bestimmter Staatsschutztatbestande (§§ 93 ff. StGB) zugunsten der NATO-Vertragspartner erweitert19.
III. Volkerrechtliche Grundlagen des internationalen Strafrechts Es besteht heute Einigkeit dartiber, dass eine unbegrenzte Ausdehnung der natio- 10 nalen Strafgewalt unzulassig ist20. In welchem Umfang ein Staat seine Strafgewalt in Anspruch nehmen und ausdehnen darf, wird durch das Volkerrecht bestimmt, das in alien Fallen mit Auslandsberuhrung die Geltendmachung eines legitimierenden Ankniipfungspunkts (,,genuine link") verlangt, der im Einzelfall einen unmittelbaren Bezug zur Strafverfolgung im Inland herstellt21. Aus dem Grundsatz der souveranen Gleichheit aller Staaten folgt, dass diese ihre Strafgewalt jedenfalls auf das eigene Territorium und die eigenen Staatsangehorigen erstrecken durfen. Die Ausdehnung der Strafgewalt iiber das eigene Staatsgebiet darf nur erfolgen, wenn kein volkerrechtliches Verbot entgegensteht. Eine willkurliche Ausdehnung der staatlichen Strafgewalt, die einem ,,Strafrechtsimperialismus" gleichkame, verstieBe gegen das volkerrechtliche Nichteinmischungsgebot22. Bei der Pruning, ob eine exrraterritoriale Strafgewaltserstreckung mit dem 11 Nichteinmischungsgebot vereinbar ist, muss auf einer ersten Stufe festgestellt werden, ob der strafrechtsrelevante Lebenssachverhalt eine besondere Nahebeziehung zu dem Staat aufweist, der die Ausiibung der Strafgewalt beansprucht. Wenn diese vorliegt, spricht eine Vermutung fur die volkerrechtliche Unbedenklichkeit der Strafgewaltsausdehnung. Auf einer zweiten Stufe ist sodann zu prufen, 16 17
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22
BGHSt 40, 79 zu § 326 I Nr. 3 StGB (a. F.). Dannecker, EUDUR, § 8 Rn. 47; Rengier, JR 1996, 34 ff.; SKJHorn, § 326 Rn. 2; Lackner/Kuhl, § 326 Rn. 6; Schonke/Schrbder/Cramer/Heine, § 330 d Rn. 4; Schonke/Schroder/Lenckner/Heine, § 326 Rn. 7; Trondle/Fischer, § 326 Rn. 5 b; a. A. LYJSteindorf, § 326 Rn. 94. Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 897 ff. 1rHnd\dFischer, Vor § 3 Rn. 5; UUGribbohm, Vor §§ 3-7 Rn. 168 jew. m. w. N. Vgl. hierzu den beriihmten Lotus-Fall des Internationalen Gerichtshofes v. 7. September 1927 (PCU Ser. A Nr. 10); MiXKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 17; JeschecklWeigend, AT, § 2 I. IGH ICJ-Rep. 1955, 24 ff. (,,Nottebohm"); IGH ICJ-Rep. 1970, 1 ff. (,,Barcelona Traction"); BVerfGE 63, 343, 369; 92, 277, 320 f.; BGHSt 27, 30, 32; 34, 334, 336; BayObLGNJW 1998, 393. MvXLoSXGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 19 ff.; Kasper, MDR 1994, 545.
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ob der Ausiibung extraterritorialer Strafgewalt im konkreten Fall gleichwohl ein volkerrechtliches Verbot entgegensteht, wobei insoweit nur das Willkilr- und das Rechtsmissbrauchsverbot in Betracht kommen23. Im Rahmen dieser materiellvolkerrechtlichen Priifiing ist unter Abwagung der betroffenen Staaten- und Souveranitatsinteressen daruber zu befinden, ob der abstrakt-generelle Anknupfungspunkt auch die konkrete Hoheitsausilbung legitimiert. Dabei gilt die Maxime, dass jeder Staat seine Strafgewalt soweit als moglich, aber im Verhaltnis zu anderen Staaten nur soweit als notig ausdehnen darf, um deren Interessen nicht ungebiihrlich zu verletzen24. Von einer ungebuhrlichen Verletzung der fremdstaatlichen Souveranitat ist auszugehen, wenn sich die Strafgewaltsausdehnung im konkreten Fall als unzulassige Einmischung in die inneren Angelegenheiten des anderen Staates darstellt. 12 Als volkerrechtlich legitimierende Anknupfungspunkte kommen insbesondere der Begehungsort einer Tat (Territorialitatsprinzip), die Staatsangehorigkeit des Taters oder des Opfers (aktives und passives Personalitatsprinzip), der Schutz bestimmter inlandischer Rechtsgiiter (Schutzprinzip) bzw. von Interessen universellen Charakters (Weltrechtsgrundsatz), das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege sowie das Kompetenzverteilungsprinzip in Betracht25. Im deutschen Strafanwendungsrecht (§§ 3-7, 9 StGB) finden alle genannten Prinzipien - zumeist in kombinierter Form - ihren spezifischen Ausdruck, freilich mit unterschiedlicher Gewichtung. Aus volkerrechtlicher Sicht sind sie jedoch nur insoweit als verbindlich hinzunehmen, als sie mit dem Nichteinmischungsgebot (das als allgemeine Regel des Volkerrechts gem. Art. 25 GG den innerstaatlichen einfachen Gesetzen vorgeht) vereinbar sind26.
IV. Prinzipien des internationalen Strafrechts 1. Territorialitatsprinzip a) Inlandsbegriff 13 Nach deutschem Recht sind zunachst alle im Inland begangenen Taten strafbar (§ 3 StGB). Der Begriff des ,,Inlands" umfasst das gesamte Staatsgebiet, in dem deutsches Strafrecht aufgrund hoheitlicher Strafgewalt seine Ordnungsfunktion geltend macht27. Seit dem Beitritt der DDR umfasst das Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland die in der Praambel des GG genannten 16 Bundeslander (staatsrechtlicher Inlandsbegriff). Zum Inland gehbren neben dem deutschen Landgebiet (einschlieBlich deutscher Exklaven, Zollgebiete und Freihafen) auch
23 24 25
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MuKoStGB/'Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 22 m. w. N. MuKoStGBA4m6o,s, Vor §§ 3-7 Rn. 23 m. w. N . MilKoStGB/'Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 25-61; Werle/Jefiberger, JuS 2001, 35, 37; WesselslBeulke, Strafrecht AT, Rn. 62 ff. MuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 24 m. w. N. BGHSt30, 1.
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die Eigengewasser, das Ktistenmeer und der Luftraum tlber dem Staatsgebiet, nicht jedoch der Festlandsockel28. Fall 1: Die Botschaft eines auslandischen Staates in Berlin wird von Demonstranten be- 14 setzt. Bei einem Handgemenge im Eingangsbereich des Botschaftsgelandes lost sich durch Unachtsamkeit ein Schuss aus der Dienstwaffe des deutschen Polizeibeamten P, wodurch der Demonstrant D - ein auslandischer Staatsangehoriger - zu Tode kommt. Kann P wegen dieses Vorfalles in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden?29 Losungshinweise Fall 1: P kann in Deutschland wegen Verdachts der fahrlassi- 15 gen Totung (§ 222 StGB) strafrechtlich verfolgt werden, wenn der Eingangsbereich der auslandischen Botschaft zum deutschen Staatsgebiet gehort. Nach h. M. gelten auch die Dienst- und Wohngebaude diplomatischer und konsularischer Vertretungen als Inland30. Das Territorialitatsprinzip (§ 3 StGB) ermoglicht somit die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts und legitimiert die Ausiibung innerstaatlicher Strafgewalt. Besondere Bedeutung hat das Territorialitatsprinzip im Recht der Ordnungs- 16 widrigkeiten, da die Regelungen des OWiG grundsatzlich nur auf Inlandstaten Anwendung fmden (§§ 5, 7 OWiG)31. Insoweit kann auf die Ausfuhrungen in Rn. 13 verwiesen werden. Als Inlandstaten gelten im Ordnungswidrigkeitenrecht auch Handlungen, die auf einem Schiff oder Luftfahrzeug begangen werden, das berechtigt ist, die Bundesflagge oder das Staatszugehorigkeitszeichen der Bundesrepublik Deutschland zu filhren. § 5 OWiG lasst ferner eine Ausdehnung der deutschen BuBgeldgewalt auf Handlungen auBerhalb des raumlichen Geltungbereichs des OWiG fur den Fall zu, dass dies durch Gesetz bestimmt wird. Bei diesen sog. ,,Vorbehaltsklauseln" kann es sich um originare innerstaatliche Bestimmungen oder um Regelungen aufgrund ratifizierter internationaler Abkommen handeln32. b) Ubiquitatsgrundsatz Das in § 3 StGB verankerte Territorialitatsprinzip wird erganzt durch den in § 9 17 StGB normierten Ubiquitatsgrundsatz. Begangen ist die Tat demnach an jedem Ort, an dem der Tater gehandelt hat (§ 9 I, 1. Var. StGB) oder im Falle des Unterlassens hatte handeln miissen (§ 9 I, 2. Var. StGB) oder an dem der zum Tatbestand gehorende Erfolg eingetreten ist (§ 9 I, 3. Var. StGB) oder nach der Vorstellung des Taters eintreten sollte (§ 9 I, 4. Var. StGB). Sobald ein Mittater (§ 25 II StGB) im Inland handelt, wird dies den anderen Mittatern zugerechnet, so dass auch deren Tatbeitrage als im Inland begangen betrachtet werden33. Ebenso wird dem mittelbaren Tater (§ 25 I S. 1, 2. Var. StGB) die Handlung seines Tat28 29 30
31 32 33
MuKoStGB/'Ambos, § 3 Rn. 8-22; LacknerlYSM, Vor §§ 3-7 Rn. 4. Vgl. hierzu WerklJefiberger, JuS 2001, 35, 38. R G S t 69, 54, 55; O L G Koln StV 1982, 4 7 1 ; M i l K o S t G B / ^ m ^ o i , § 3 Rn. 10; Schonke/Schroder/Eser, Vor § 3 Rn. 3 1 . KKOWiG/Bohnert, Einleitung Rn. 181; KKOWiG/Rogall, § 5 Rn. 6 ff. Vgl. hierzu KKOWiG/Rogall, § 5 Rn. 31 ff. BGHSt 39, 88, 90; BGH NStZ 1997, 502; MiXKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 10; Schonke/Schroder/Eser, § 9 Rn. 4; a. A. SKJHoyer, § 9 Rn. 5.
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werkzeugs zugerechnet. Handlungsort des mittelbaren Taters ist folglich sowohl der Ort, an dem er selbst eine tatbestandsmaBige Aktivitat entfaltet als auch der Ort, an dem der Tatmittler gehandelt hat34. Die Teilnahme (Anstiftung und Beihilfe) ist sowohl am Ort der Haupttat (§ 9 II S. 1, 1. Var. StGB) als auch an jedem Ort begangen, an dem der Teilnehmer gehandelt hat (§ 9 II S. 1, 2. Var. StGB) oder im Falle des Unterlassens hatte handeln miissen (§ 9 II S. 1,3. Var. StGB) oder an dem nach seiner Vorstellung die Haupttat begangen werden sollte (§ 9 II S. 1, 4. Var. StGB). Hat der Teilnehmer an einer Auslandstat im Inland gehandelt, so gilt fur die Teilnahme das deutsche Strafrecht, auch wenn die Tat nach dem Recht des Tatorts nicht mit Strafe bedroht ist (§ 9 II S. 2 StGB). aa) Anwendungsbeispiele 18 (1) Tater handelt im Inland: T schieBt im Bereich des deutsch-schweizerischen Grenziiberganges mit Totungsvorsatz von Konstanz (D) aus auf sein nur wenige hundert Meter entferntes, in Kreuzlingen (CH) stehendes Opfer O. Deutsches Strafrecht (§ 212 StGB bzw. §§ 212, 22 StGB; ggf. §§ 223, 224 I Nr. 2, Nr. 5 StGB) fmdet auf diesen Fall - unabhangig von einem nach Schweizer Recht begrilndeten Strafanspruch - gem. §§ 3, 9 I, 1. Var. StGB Anwendung. MaBgeblicher Anknilpfungspunkt hierfilr ist der deutsche Handlungsort. 19 (2) Eingetretener oder vorgestellter Erfolgsort im Inland: T schieBt im Bereich des deutsch-schweizerischen Grenziiberganges mit Totungsvorsatz von Kreuzlingen (CH) aus auf sein nur wenige hundert Meter entferntes, in Konstanz (D) stehendes Opfer O. In dieser Fallkonstellation ist deutsches Strafrecht im Hinblick auf den in Deutschland gelegenen Erfolgsort anwendbar, falls O verletzt oder getotet wird (§§ 3, 9 I, 3. Var. StGB). Verfehlt die Kugel den O, ist der T6tungsversuch nach deutschem Strafrecht verfolgbar, weil der tatbestandliche Erfolg nach der Vorstellung des T auf deutschem Territorium eintreten sollte (§§3,9 I, 4. Var. StGB). Fallvariante: Angenommen, T schieBt in Kreuzlingen auf O, der sich sodann schwer verletzt tiber die Grenze nach Konstanz retten kann, wo er spater den Folgen der Schussverletzung erliegt, so findet auch auf diese Fallvariante wegen Erfolgseintritts in Deutschland das deutsche StGB Anwendung35. Falls die Konstanzer Arzte das Leben des O retten konnen und das Totungsdelikt des T damit im Versuchsstadium stecken bleibt, kann die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts jedenfalls nicht auf das Territorialitatsprinzip gestutzt werden. Denn T hat im Ausland gehandelt, der Erfolg des Korperverletzungsdelikts ist im Ausland eingetreten und der Erfolg des Totungsdelikts sollte nach der Vorstellung des T ebenfalls im Ausland eintreten. 20 (3) Inlandischer Handlungs- oder Erfolgsort bei Unterlassungsdelikt: Sachverhalt wie in den Beispielsfallen (1) und (2) jeweils mit dem Zusatz, dass der Bruder B des O neben T steht, als dieser sich anschickt, auf O zu schieBen. Obwohl B zutreffend erfasst, was T vorhat und dies verhindern konnte, bleibt er untatig, weil ihm der Tod des O aufgrund eigener Interessen gelegen kommt. In BGH wistra 1991, 135; MuKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 10; Schonke/Schroder/Eser, § 9 Rn. 4; IXJGribbohm, § 9 Rn. 10; a. A. SYJHoyer, § 9 Rn. 5. Vgl. hierzu den Parallelfall von WerklJefiberger, JuS 2001, 35, 39.
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Beispielsfall (1) ist auf die Unterlassungstat des B (§§ 212, 13 StGB) deutsches Strafrecht anwendbar, weil er die Erfolgsabwendung in Konstanz - also auf deutschem Gebiet - hatte vornehmen miissen (§§ 3, 9 I, 2. Var. StGB). In Beispielsfall (2) ergibt sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts daraus, dass der zum Tatbestand (des unechten Unterlassungsdelikts) gehorende Erfolg in Deutschland eingetreten ist (§§ 3, 9 I, 3. Var. StGB) bzw. nach der Vorstellung des B in Deutschland eintreten sollte (§§ 3, 9 I, 4. Var. StGB). (4) Teilnehmer an einer Inlandstat handelt im Ausland: Sachverhalt wie in 21 den BeispielsfMen (1) und (2) jeweils mit dem Zusatz, dass A den T vom Ausland aus telefonisch zur Totung des O bestimmt hat. In beiden Fallkonstellationen ist A wegen Anstiftung zum (versuchten) TOtungsdelikt nach deutschem Strafrecht verfolgbar. Derm nach § 9 II S. 1, 1. Var. StGB ist die Teilnahme an dem Ort begangen, an dem die Haupttat begangen ist. Die Haupttat des T ist — wie oben gezeigt als Inlandstat zu werten, wobei entweder auf den Handlungs- oder den Erfolgsort abzustellen ist. (5) Teilnehmer an einer Auslandstat handelt im Inland: G iibergibt T in 22 Kenntnis und mit Billigung von dessen Totungsvorhaben in Konstanz (D) die Waffe, mit welcher T kurze Zeit spater in Kreuzlingen (CH) den O erschieBt. Die Erstreckung deutscher Strafgewalt auf die in der Schweiz spielende Haupttat lasst sich nicht auf § 3 StGB stiitzen, da kein inlandischer Handlungsoder Erfolgsort vorliegt. Ob die Haupttat des T gem. § 7 I, II StGB nach deutschem Strafrecht aburteilbar ist, hangt u. a. von der Staatsangehorigkeit von Tater und Opfer ab. Dessen ungeachtet findet jedenfalls auf den in Deutschland erbrachten Tatbeitrag des G deutsches Strafrecht (§§ 211, 212, 27 StGB) Anwendung, weil G im Inland gehandelt hat (§§ 3, 9 II S. 1, 2. Var. StGB)36. (6) Versuch der Beteiligung: A hat den Berufskiller T im Ausland mit der 23 Ermordung des O in Deutschland beauftragt. Noch bevor der zur Durchftlhrung dieses Auftrages bereite T zur Tatdurchfuhrung schreiten kann, wird er verhaftet. Sowohl die nach §§ 30 II, 211, 212 StGB strafbare Bereiterklarung des T, einen Mord (Verbrechen) zu begehen als auch die von A begangene versuchte Anstiftung zum Mord (strafbar gem. §§ 30 I, 211, 212 StGB) sind nach deutschem Strafrecht verfolgbar, weil der tatbestandsmaBige Erfolg (Tod des O) nach der Vorstellung beider Beteiligen in Deutschland eintreten sollte (§ 9 II S. 1, 4. Var. StGB). Deutsches Strafrecht fmdet auch Anwendung, wenn der Versuch der Beteiligung im Inland begangen ist (§ 9 II S. 1, 2. Var. StGB)37. (7) Beteiligung im Inland an einer Auslandstat, die nach Tatortrecht nicht 24 mit Strafe bedroht ist: Um diese Fallgruppe geht es insbesondere in den Fallen des sog. ,,Abtreibungstourismus", die im Folgenden etwas ausfiihrlicher behandelt werden soil (Fall 2).
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Vgl. hierzu OLG Schleswig NStZ-RR 1998, 313. MilKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 37.
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bb) Abtreibungstourismus 25 Mit dem Schlagwort ,,Abtreibungstourismus" wird gemeinhin das Phanomen umschrieben, dass eine Schwangere sich ins Ausland begibt, um dort von einera Arzt eine nach Tatortrecht legale Abtreibung ihrer Leibesfrucht vornehmen zu lassen. 26 Fall 2: In der 16. Woche ihrer Schwangerschaft entschlieBt sich S, in einer niederlandischen Klinik eine Abtreibung ihrer Leibesfrucht vornehmen zu lassen. Ihr Freund F, der nicht der Kindsvater ist, fahrt die S in Kenntnis und mit Billigung ihres Vorhabens in eine niederlandische Stadt, wo S bei dem dort praktizierenden Arzt A den Eingriff nach MaBgabe niederlandischen Rechts legal durchfuhren lasst. Bei S und F handelt es sich um deutsche Staatsbtirger, die ihren standigen Wohnsitz in Deutschland haben. Strafbarkeit von S undF?
27 Losungshinweise Fall 2 (Strafbarkeit der S): Seit der Reform des niederlandischen Abtreibungsstrafrechts, die am 1. November 1984 in Kraft trat, ist ein Schwangerschaftsabbruch, den die Schwangere von einem Arzt an sich vornehmen lasst, in den Niederlanden auch formell nicht mehr strafbar38. In Deutschland wurde das Abtreibungsstrafrecht zwar insofern liberalisiert, als das fruhere Modell einer Indikationenlosung im Jahre 1995 durch ein Modell der Fristenlosung mit Beratungspflicht ersetzt wurde39. Die Schwangere unterliegt indes der Strafandrohung des § 218 III StGB, wenn sie eine Abtreibung an sich vornehmen lasst, die nicht nach Mafigabe des § 218 a StGB von der Strafbarkeit ausgenommen ist. So liegt der Fall hier: Der von S veranlasste und geduldete Schwangerschaftsabbruch in der 16. Woche ihrer Schwangerschaft erfullt in objektiver und subjektiver Hinsicht den Straftatbestand der Abtreibung gem. § 218 I StGB. Die in § 218 a I StGB normierten Voraussetzungen fur einen straflosen Schwangerschaftsabbruch sind nicht gegeben, da der Eingriff auBerhalb der Zwolfwochenfrist ohne die gesetzlich vorgeschriebene Pflichtberatung (§219 StGB) vorgenommen wurde. Eine den Schwangerschaftsabbruch rechtfertigende Indikation nach § 218 a II bzw. Ill StGB liegt nicht vor. Auch der personliche StrafausschlieBungsgrund des § 218 a IV 1 StGB, der die Schwangere straflos stellt, wenn der Abbruch von einem Arzt vor Verstreichen der 22. Schwangerschaftswoche vorgenommen wird, greift nicht ein, da es an der vorgeschriebenen Beratung fehlte40. Da der Schwangerschaftsabbruch im Ausland vorgenommen wurde, ist weiter 28 zu priifen, ob auf den in Rede stehenden Sachverhalt uberhaupt deutsches Strafrecht Anwendung findet. Im vorliegenden Fall ist § 5 Nr. 9 StGB einschlagig, der durch das Anknilpfen an die deutsche Staatsangehorigkeit des Taters dem sog.
Vgl. zum niederlandischen Recht Scholten, in: Eser/Koch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, Teil 1, 1988, S. 1037. Vgl. Art. 8 des Gesetzes zur Vermeidung und Bewaltigung von Schwangerschaftskonflikten i. d. F. des Anderungsgesetzes v. 21.8.1995 (BGB1. I 1995, 1050), in Kraft getreten am l.Oktober 1995; vgl. zur Entstehungsgeschichte MtiKoStGB/Gropp, Vor §§ 218 ff. Rn. 1-10. Vgl. hierzu Schonke/Schroder/£«r, § 218a Rn. 71; MuKoStGB/Gropp, § 218 Rn. 80.
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,,aktiven Personalitatsprinzip" (Rn. 46) Ausdruck verleiht41. Danach gilt deutsches Strafrecht fur im Ausland begangene Taten i. S. d. § 218 I StGB, wenn der Tater zur Zeit der Tat Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im Geltungsbereich des StGB, also in Deutschland, hat. Entgegen einer in der Bevolkerung weit verbreiteten Ansicht konnen sich demnach Schwangere deutscher Staatsangehorigkeit durch das Ausweichen in eine fremde Rechtsordnung, in der der Schwangerschaftsabbruch weitergehend straffrei gestellt ist als im Recht ihres Heimatstaates, dem deutschen Strafrecht nicht entziehen. Gegen S besteht mithin ein deutscher Strafanspruch gem. §§218 1, III, 5 Nr. 9 StGB (zur Vereinbarkeit dieses Strafanspruchs mit Gemeinschaftsrecht vgl. § 9 Rn. 30 ff.). Losungshinweise Fall 2 (Strafbarkeit des F): Eine Strafbarkeit des F als Mitta- 29 ter einer Abtreibung gem. §§ 218 I, 25 II StGB kann nicht bejaht werden, da seinem lediglich im Vorfeld des Schwangerschaftsabbruches erbrachten Tatbeitrag nicht das fur eine Mittaterschaft notwendige Gewicht zukommt. Das Ob und Wie der Tatbestandserfullung lag objektiv und nach dem Willen des F vom Fahrtantritt bis zur Vornahme des Eingriffes stets in den Handen der S. Nach alien Taterlehren, also unabhangig davon, ob man maBgeblich auf die Tatherrschaft oder auf den Taterwillen abstellt, muss eine Mittaterschaft des F abgelehnt werden. Auch eine Unterlassungstaterschaft des F gem. §§ 218 I, 13 StGB scheidet aus. Da er nicht der leibliche Vater des Kindes der S ist, existiert keine Garantenstellung, aus der eine Pflicht zur Verhinderung eines verbotenen Schwangerschaftsabbruches abgeleitet werden konnte42. F hat indes dadurch, dass er die S in Kenntnis und mit Billigung ihres Vorha- 30 bens mit seinem Wagen zu der hollandischen Abtreibungsklinik fuhr, eine nach §§218 I, 27 StGB strafbare Beihilfe zur Abtreibung begangen. Von einem Teil der Rechtsprechung und Literatur wird die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bei Gehilfentaten auf § 5 Nr. 9 StGB gestutzt, obwohl diese Bestimmung ausdrucklich nur von dem ,,Tater" spricht, der zur Zeit der Tat Deutscher sein und seine Lebensgrundlage im Inland haben muss43. Dieser Auslegungsansatz geht von der Pramisse aus, dass der Begriff ,,Tater" in § 5 Nr. 9 StGB nicht im materiellrechtlichen, sondern in einem prozessualen Sinne zu verstehen sei. ,,Tater" einer im Ausland vorgenommenen Abtreibung sei demzufolge jede Person, gegen die sich das Strafverfahren wegen eines im Ausland durchgefuhrten Schwangerschaftsabbruches richtet, mag ihr Tatbeitrag materiellrechtlich auch als Anstiftung oder Beihilfe zu werten sein44.
Vgl. MUKoStGB/^mfcoj, Vor §§ 3-7 Rn. 35 und § 5 Rn. 28; Sch6nke/Schroder/Eser, Vor § 3 Rn. 6, § 5 Rn. 1, 17. Vgl. zur Garantenstellung des leiblichen Vaters Schonke/Schroder-Eser, § 218 Rn. 54; Trondle/Fischer, § 218 Rn. 7; MuKoStGB/Gropp, 2003, § 218 Rn. 51. Vgl. AG Albstadt MedR 1988, 261, 262; LK-Gribbohm, § 5 Rn. 44; Mitsch, JURA 1989, 193, 196; dagegen MiiKoStGB/Ambos, § 5 Rn. 28; Schdnke/Schroder/&er, § 5 Rn. 17; Trondle/Fischer, § 5 Rn. 9. LK-Gribbohm, § 5 Rn. 53, 44.
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Ob diese weite Auslegung Zustimmung verdient, kann jedenfalls in den Standardfallen des Abtreibungstourismus, in denen der Teilnehmer seinen Tatbeitrag bereits im Inland erbringt, offen bleiben, da die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts hier schon aus dem Territorialitatsprinzip (§ 3 StGB) folgt. Als problematisch konnte sich auf den ersten Blick jedoch der Umstand erweisen, dass die von S in den Niederlanden begangene Haupttat nach Tatortrecht nicht strafbar ist. Wegen der (limitierten) Akzessorietat der Teilnahme ist die Strafbarkeit des Teilnehmers grundsatzlich von der Strafbarkeit der im In- oder Ausland veriibten Haupttat abhangig. Demnach milsste nach allgemeinen Grundsatzen eine Strafbarkeit des im Inland handelnden Teilnehmers ausscheiden, wenn die im Ausland begangene Haupttat nach Tatortrecht nicht mit Strafe bedroht ist. Diese Konsequenz wendet jedoch die Vorschrift des § 9 II S. 2 StGB ab, indem sie die Geltung deutschen Strafrechts fiir den im Inland handelnden Teilnehmer an einer Auslandstat auch fiir den Fall anordnet, dass diese Tat nach dem Recht des Tatorts nicht strafbar ist45. Die vor dem Grenzubertritt von F geleistete Hilfe zu der in den Niederlanden vollzogenen Abtreibung kann also gem. §§ 3, 9 II 2 StGB nach deutschem Strafrecht abgeurteilt werden, wobei es nicht darauf ankommt, ob der Schwangerschaftsabbruch nach dem Recht des Tatortes mit Strafe bedroht ist46.
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Hinweis: Vielfach erfahren abtreibungswillige Frauen Unterstiitzung im Inland, z. B. durch die Vermittlung der Adresse einer auslandischen Abtreibungsklinik, Herstellung eines entsprechenden Kontaktes oder durch die Finanzierung der Fahrtkosten. Wird damit ein nach § 218 I StGB tatbestandsmaBiger Schwangerschaftsabbruch gefordert, so stellt dies eine nach deutschem Recht strafbare Inlandstat in Form einer Beihilfe zur Abtreibung (§§218 I, 27, 3, 9 II S. 2 StGB) dar47.
c) Distanzdelikte aa) Internetkriminalitat 33 Besondere Schwierigkeiten bereitet die Bestimmung des Tatortes bei sog. ,,Distanzdelikten", die unter Nutzung des Internets begangen werden48. 34 Fall 3 (BGHSt 46, 212): Neonazi A, ein australischer Staatsburger, stellt auf seiner deutschsprachigen Homepage Artikel liber die sog. ,,Auschwitzltlge" ttber einen australischen Server ins Netz. In den Artikeln wird behauptet, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass der Holocaust nicht stattgefunden habe. Der Kripobeamte K liest diese Erklarungen auf seinem Computer in Deutschland. Besteht eine strafrechtliche Handhabe gegen A, falls dieser in den Zugriffsbereich deutscher Strafverfolgungsbehorden gelangt?
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Vgl. hierzu MuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3 - 7 Rn. 39 ff. m. w. N . Zutreffend gesehen von Mitsch, JURA 1989, 193, 194 zum Fall des A G Albstadt MedR 1988, 261. Vgl. zu diesen Fallen Koch, in: Eser/Koch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, 1988, Teil 1, S. 110. Vgl. hierzu MiiKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 26 ff. m. w. N.
A. Internationales Strafrecht
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Losungshinweise Fall 3: A erfullt durch die Leugnung des Holocausts nach deut- 35 schem Strafrecht den Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 III StGB). Da diese Tat vom Ausland aus begangen wurde, stellt sich die Frage, ob A iiberhaupt der deutschen Strafgewalt unterliegt. Zu prilfen ist, ob die Anwendung deutschen Strafrechts auf §§ 3, 9 StGB gestiltzt werden kann. Es miisste sich also um eine Tat handeln, die im Inland begangen wurde. Nach der Legaldefmition des § 9 StGB ist eine Tat an dem Ort begangen, an dem der Tater gehandelt hat oder an dem der zum Tatbestand gehorende Erfolg eingetreten ist. Einige Stimmen in der Literatur wollen eine Inlandshandlung i. S. d. § 9 I, 1. Var. StGB auch dann annehmen, wenn die Wirkung des Verhaltens — hier: das Leugnen des Holocausts - im Inland eingetreten ist49. Mit ,,Handlungsort" meint das Gesetz indes den Aufenthaltsort des Taters bei Vornahme der tatbestandsmaBigen Handlung50 und dieser lag im vorliegenden Fall im Ausland. Moglicherweise ist aber der ,,Erfolg" der Tat in Deutschland eingetreten, so 36 dass es sich gem. §§ 3, 9 I, 3. Var. StGB um eine in Deutschland verfolgbare Inlandstat handelt. Die Bestimmung der Rechtslage bereitet hier Schwierigkeiten, denn § 130 III StGB ist kein klassisches Erfolgsdelikt (wie z. B. §§212, 223 StGB), sondern ein sog. ,,potentielles" Gefahrdungsdelikt (Spezialfall eines abstrakten Gefahrdungsdelikts51). § 130 III StGB kniipft also nicht - wie etwa die Totungs- und Korperverletzungsdelikte - an die tatsachliche Schadigung eines Rechtsgutes an, sondern lasst es ausreichen, dass das geschtltzte Rechtsgut (hier: der offentliche Friede in Deutschland) lediglich einer abstrakt-generellen Gefahr ausgesetzt wird (,,...geeignet, den Qffentlichen Frieden zu storen"). Man konnte daher - wie zahlreiche Stimmen in der Literatur52 und einige Gerichte53 - die Auffassung vertreten, deutsches Strafrecht konne hier schon deshalb nicht zur Anwendung gelangen, weil im Inland kein ,,AuBenwelterfolg" im Sinne einer tatsachlichen Rechtsgutsschadigung (oder zumindest konkreten Gefahr) eingetreten sei. Der BGH bejaht jedoch in seinem Urteil v. 12. Dezember 2000 die Anwend- 37 barkeit deutschen Strafrechts54. Er interpretiert den Erfolgsbegriff des § 9 I, 3. Var. StGB weit und argumentiert, es reiche aus, dass durch die Aufrufbarkeit des volksverhetzenden Inhalts in Deutschland ein zum Tatbestand des § 130 III StGB gehorender ,,Gefahrdungserfolg" (,,Eignung zur Gefahrdung des Offentlichen Friedens") eingetreten sei. Auf dieser Basis kann die von A verwirklichte Straftat als Inlandstat angesehen und in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden. Dabei 49
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Comils, JZ 1999, 394, 396; Schonke/Schroder/fcer, § 9 Rn. 4, 6; Sieber, NJW 1999, 2065 (,,Tathandlungserfolg"); WerlelJefiberger, JuS 2001, 35, 39. Zutr. MiXKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 29. BGHSt 46, 212, 218; BGH NJW 1999, 2129; Trondle/Fischer, vor § 13 Rn. 13 a; Lackner/Kuhl, vor § 13 Rn. 32; a. A. Hoyer, Die Eignungsdelikte, 1987, S. 201. Schonke/Schroder/Eyer, § 9 Rn. 6; UUGribbohm, § 9 Rn. 20; Hilgendorf, NJW 1997, 1873, 1875 f.; HornlHoyer, JZ 1987, 965, 966; Lackner/Kuhl, § 9 Rn. 2; Satzger, NStZ 1998, 112, 114 ff. Vgl. nur OLG Saarbrucken NJW 1975, 506, 507. BGHSt 46, 212.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenztiberschreitenden Beziigen
lasst der BGH offen, ob der Erfolgbegriff bei abstrakten Gefahrdungsdelikten wie von einem Teil der Literatur55 vertreten wird - generell so zu verstehen ist, dass Erfolgsort auch jeder Ort sei, an dem sich die abstakte Gefahr realisiert (vgl. hierzu Rn. 42 ff.). Der Rechtsprechung des BGH wird entgegengehalten, dass sie zu einer extrem weiten Ausdehnung der Anwendung deutschen Strafrechts fuhre, die an die Grenzen der volkerrechtlichen Legitimation deutschen Strafanwendungsrechts stoBe56. Als problematisch erweise sich auch, dass durch diese Rechtsprechung im Ausland begangene AuBerungshandlungen mit Strafe bedroht wilrden, deren Straflosigkeit dort verfassungsrechtlich verbtirgt seien57. 38 Den Kritikern der BGH-Entscheidung ist zuzugeben, dass eine uferlose Strafverfolgungszustandigkeit Deutschlands fur alle im Internet begangenen Straftaten volkerrechtlich nicht zulassig ist und ilberdies unpraktikabel erscheint58. Zu denken ist etwa an den Fall, dass ein amerikanischer Student eine Homepage erstellt, in der er seine Ex-Freundin in beleidigender Form verleumdet. Von der deutschen Staatsanwaltschaft kann nicht ernsthaft verlangt werden, in Fallen dieser Art Ermittlungsverfahren gegen auslandische Tater einzuleiten. Einer zu weitgehenden Ausdehnung der deutschen Strafgewalt im Bereich der Internet-Kriminalitat sollte daher durch eine teleologische Reduktion des Ubiquitatsprinzips begegnet werden, die eine spezifische Inlandsbeziehung der Tathandlung sicherstellt59. Nach hier vertretener Ansicht verdient die Entscheidung des BGH im konkreten Fall jedoch Zustimmung, da im Hinblick auf die offenkundige Adressierung des in deutscher Sprache verfassten Textes an Zielgruppen in Deutschland ein spezifischer Bezug der Tathandlung zu dem Staat besteht, in dem die Gefahr einer Storung des offentlichen Friedens i. S. d. § 130 III StGB eingetreten ist60. Losungsvorschlag Fall 3: A kann in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden. bb) Grenziiberschreitende Umweltdelikte 39 Umweltverschmutzung ist schon ihrem Wesen nach ein grenzuberschreitendes Phanomen. Ober- und unterirdische Gewasser, Luftstromungen, Schallwellen und Strahlungen bewegen sich nach den Eigengesetzlichkeiten der Natur und nehmen keine Riicksicht auf die Grenzen eines Staatsgebietes. Bei grenziiberschreitenden Umweltdelikten, die in deutsches Staatsgebiet hineinwirken (,,Distanzdelikte"), 55
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Grundlegend Martin, Strafbarkeit grenziiberschreitender Umweltbeeintrachtigungen, 1989, S. 17 ff., 48 ff., 79 ff; ders., ZRP 1992, 19; ihm folgend Finke, Die strafrechtliche Verantwortung von Internet-Providern, 1998, S. 48 ff; Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 885 ff; Heinrich, GA 1999, 72, 77 ff; SYJHoyer, § 9 Rn. 7. lrond\dFischer, § 9 Rn. 8a. Sieber, ZRP 2001, 100; TxonAXdFischer, § 9 Rn. 8a. Eser, BGH-Festgabe, S. 3, 23. Vgl. hierzu Breuer, MMR 1998, 141 ff; Cornils, JZ 1999, 394 ff.; Finke, Die strafrechtliche Verantwortung von Internet-Providern, 1998, S. 54 ff; Hilgendorf, NJW 1997, 1873 ff; Koch, GA 2002, 703 ff. und die zahlreichen weiteren Nachweise bei MiXKoStGB/Ambos/Ruegenberg, § 9 Rn. 26 ff. Zustimmung verdient auch KG NJW 1999, 3500 (Verwendung verfassungswidriger Kennzeichen bei einem vom deutschen Fernsehen ubertragenen FuBballspiel im Ausland); krit. hierzu TwndWFischer, § 9 Rn. 8b.
A. Internationales Strafrecht
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stellt sich die Frage, ob ein tatortbegrimdender ,,Erfolg" i. S. d. § 9 I S. 1, 3. Var. StGB gegeben ist, der die Anwendung deutschen Umweltstrafrechts legitimiert. Da diese Frage Gelegenheit zu einer vertiefenden Klarung des internationalstrafrechtlichen Erfolgsbegriffs gibt, ist der nachfolgende Losungsvorschlag bewusst etwas ausfuhrlicher gestaltet. Fall 4: Ein in Frankreich angesiedelter Industriebetrieb produziert im Dreilandereck ein In- 40 sektizid. Die bei der Herstellung anfallenden toxischen Nebenprodukte werden illegal auf offenen Halden innerhalb des Betriebsgelandes gelagert. Der Wind weht den giftigen Staub von Frankreich in die angrenzenden Gebiete Deutschlands, was zu einer Kontamination landwirtschaftlich genutzter Boden fuhrt. Auf diese Weise gelangen gesundheitsschadliche Substanzen in die Milch der dort weidenden Kuhe61. Lasst sich die Anwendbarkeit des § 325 I StGB auf §§ 3, 9 I S. 1, 3. Var. StGB stutzen?
Losungshinweise Fall 4: A hat in objektiver und subjektiver Hinsicht den Tatbe- 41 stand des § 325 I StGB erftillt, wenn man der Auffassung folgt, dass eine ,,Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" im Lichte des gemeinschaftsrechtlichen Assimilierungsgebotes (§ 7 Rn. 29) aus der Verletzung harmonisierten franzosischen Umweltrechts folgt (§10 Rn. 75)62. Im Rahmen der hier untersuchten Fallgruppe grenzilberschreitender Luftverunreinigungen stellt sich die Frage, ob das in § 3 StGB verankerte Territorialitatsprinzip ein strafrechtliches Vorgehen gegen auslandische Storungsquellen gestattet. Da die tatgegenstandliche Anlage in Frankreich betrieben wurde, vermag der Handlungsort (§ 9 I S. 1, 1. Var. StGB) die Anwendung deutschen Umweltstrafrechts nicht zu legitimieren. Es kommt daher aus internationalstrafrechtlicher Sicht entscheidend darauf an, ob die von § 325 Abs. 1 StGB geforderte Schadigungseignung als ,,Erfolg" i. S. d. § 9 I S. 1, 3. Var. StGB gewertet werden kann. Nach h. L. weisen potentielle und rein abstrakte Gefahrdungsdelikte keinen 42 ,,zum Tatbestand gehorenden Erfolg" auf, der bei Distanztaten einen inlandischen Tatort begrilnden konnte63. Als Hauptargument wird angefuhrt, im Rahmen des § 9 StGB meine der Begriff ,,Erfolg" eine von der tatbestandsmaBigen Handlung raumlich und/oder zeitlich abtrennbare Veranderung der AuBenwelt in Form der Verletzung oder konkreten Gefahrdung des geschutzten Rechtsgutes. Bei den abstrakten Gefahrdungsdelikten existiere ein derartiger AuBenwelterfolg nicht, weil hier bereits der bloBe Vollzug der tatbestandsmaBigen Handlung unrechtsbegrilndend wirke, ohne dass es auf den Eintritt einer gesondert festzustellenden Gefahrenlage ankomme. Auf der Basis dieser dogmatischen Pramisse ist § 325 I StGB
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Vgl. hierzu ausfuhrlich Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880 ff. Vgl. zur Tatbestandserfiillung und zur Schutzbereichsdiskussion Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 882 ff., 889 m. w. N. Vgl. Schonke/Schroder/Eser, § 9 Rn. 6; Tmn&ldFischer, § 9 Rn. 4 ff; LK-Gribbohm, § 9 Rn. 20; Hilgendorf, NJW 1997, 1873, 1875 f.; HomlHoyer, JZ 1987, 965, 966; LacknerM:««, § 9 Rn. 2; Satzger, NStZ 1998, 112, 114 ff.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Beziigen
auf einen im Ausland stattfindenden Anlagenbetrieb nicht anwendbar64. Da die genannte Strafbestimmung tatbestandlich nicht auf eine Schadigung oder konkrete Gefahrdung von Rechtsgutern abstellt, konne selbst dann nicht von dem Eintritt eines ,,zum Tatbestand gehorenden Erfolges" gesprochen werden, wenn in tatsachlicher Hinsicht feststilnde, dass der von der auslandischen Anlage produzierte SchadstoffausstoB eine Verletzung oder konkrete Gefahrdung von Rechtsgiitern auf deutschem Gebiet verursacht habe65. 43 Die h. L. vermag nicht zu tiberzeugen. Zustimmung verdient die in der Literatur im Vordringen befindliche und jttngst auch vom BGH66 (Rn. 37) zugrunde gelegte Ansicht, nach der zumindest den potentiellen Gefahrdungsdelikten ein ,,Erfolg" i. S. d. § 9 I S. 1, 3. Var. StGB zugeschrieben werden kann67. Der Wortlaut der Norm lasst durchaus eine Auslegung des Erfolgsbegriffes zu, die den ,,zum Tatbestand gehorenden Erfolg" bereits in dem Hervorrufen einer von dem Tatbestand vorausgesetzten abstrakten Gefahrenlage sieht. Von dieser Sichtweise gepragt ist etwa das Verjahrungsrecht. Der BGH und die h. L. erblicken den fur die Feststellung des Verjahrungsbeginns maBgeblichen Erfolg (vgl. § 78 a S. 2 StGB) bei abstrakten Gefahrdungsdelikten in der mit der Tatbestandsverwirklichung einhergehenden Gefahrdung der geschiltzten Rechtsguter68. Eine weite Auslegung des Erfolgsbegriffes lasst sich des Weiteren auf Argumente aus der Dogmatik der abstrakten Gefahrdungsdelikte und der unechten Unterlassungsdelikte stiltzen. So halt der wohl ilberwiegende Teil der Literatur die Bestrafung aus einem abstrakten Gefahrdungsdelikt fur mit dem Schuldprinzip unvereinbar, wenn die zu beurteilende Tat trotz formeller Erfullung des Tatbestandes im konkreten Fall offensichtlich ungefahrlich und dies bei Vornahme der Handlung erkennbar gewesen sei69. Der BGH hat zu dieser Frage zwar nicht abschlieBend Stellung genommen, halt die Nichtanwendung des abstrakten Gefahrdungstatbestandes der schweren Brandstiftung aber immerhin fur denkbar, wenn der Tater sich beim Inbrandsetzen kleiner uberschaubarer Raumlichkeiten durch absolut zuverlassige lilckenlose MaBnahmen vergewissert hat, dass die tatbestandlich vorausgesetzte Gefahrdung mit Sicherheit nicht eintreten kann70. Diese Ansatze fiihren zu der Erkenntnis, dass das Vgl. DanneckerlStreinz, EUDUR, § 8 Rn. 49; Namini, in: Uwer (Hrsg.), Der Einfluss des EG-Umweltrechts auf das Umweltrecht der Mitgliedstaaten, 1996, S. 45, 55 ff.; TiedemannlKindhauser, NStZ 1988, 337, 346; Wegscheider, DRiZ 1983, 56, 58. So explizit Satzger, NStZ 1998, 112, 114 ff. BGHSt46, 212. Martin, Strafbarkeit grenzuberschreitender Umweltbeeintrachtigungen, 1989, S. 17 ff., 48 ff., 79 ff.; ders., ZRP 1992, 19 ff.; ihm folgend Finke, Die strafrechtliche Verantwortung von Internet-Providern, 1998, S. 48 ff.; Jiinemann, Rechtsmissbrauch im Umweltstrafrecht,1998, S. 158; Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 885 ff; Heinrich, GA 1999, 72, 77 ff.; wohl auch JeschecklWeigend, AT, § 18 IV. 2. b). BGHSt 32, 293, 294; 36, 255, 257; lxond\dFischer, § 78 a Rn. 3; Lackner/iCw«, § 78a Rn. 3; Schonke/SchroderASYree, § 78 a Rn. 11. Vgl. Martin, Strafbarkeit grenzuberschreitender Umweltbeeintrachtigungen, 1989, S. 64 ff. m. w. N. und die zusammenfassende Darstellung bei Roxin, AT Teil 1, § 11 Rn. 127 ff. BGHSt 26, 121, 123 ff.; 34, 115,119.
A. Internationales Strafrecht
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strafbare Unrecht bei den abstrakten Gefahrdungsdelikten nicht schon allein in der formellen Erfullung des Tatbestandes liegt. Notwendig ist stets auch die Schaffung eines rechtlich missbilligten Risikos der Verletzung des geschutzten Rechtsgutes. Folglich kann in dem Risiko eines Schadenseintrittes der vom Handlungsvollzug abtrennbare Erfolg des abstrakten Gefahrdungsdeliktes gesehen werden. Von der Existenz eines den abstrakten Gefahrdungsdelikten immanenten tatbestandlichen Erfolges gehen Rechtsprechung und h. L. auch im Rahmen der unechten Unterlassungshaftung gem. § 13 StGB bzw. § 8 OWiG aus71. In einer allgemeinen Formel lasst sich der von einem Garanten abzuwendende tatbestandsmaBige Erfolg auch beschreiben als die Wirkung, die von dem tatbestandlichen Ereignis ausgeht72. Bildlich gesprochen sind alle Orte, die sich im raumlichen Gefahrenkreis der Anlage befinden, Erfolgsorte i. S. d. § 9 I S. 1, 3. Var. StGB. Der tatsachliche Eintritt einer konkreten Gefahrdung oder gar Verletzung eines geschutzten Rechtsgutes wirkt bei Taten i. S. d. § 325 I StGB zwar nicht erfolgsortbegrilndend, ist jedoch als gewichtiges Indiz dafllr zu werten, dass die tatbestandlich vorausgesetzte abstrakte Gefahrdung auch an diesem Oil bestanden hat bzw. noch fortbesteht73. Nach alledem ist zu konstatieren, dass die These von den angeblich ,,erfolglo- 44 sen" Gefahrdungsdelikten dogmatisch auf unsicherem Grund steht. Auch die kriminalpolitische Zielsetzung, die mit der Schaffung abstrakter Gefahrdungsdelikte intendiert wird, sollte bei der Auslegung des international-strafrechtlichen Erfolgsbegriffes nicht unberiicksichtigt bleiben. Durch die Vorverlagerung der Strafbarkeit sollen bestimmte Rechtsgilter einem erhohten strafrechtlichen Schutz unterstellt werden. Die von der h. L. vertretene enge Auslegung des Erfolgsbegriffes fuhrt jedoch bei grenzilberschreitenden Umweltdelikten zu dem geradezu paradoxen Ergebnis, dass diesen Rechtsgutern der vom Gesetzgeber zuerkannte erhohte Schutz deshalb versagt bleibt, weil sie durch - angeblich ,,erfolglose" - abstrakte bzw. potentielle Gefahrdungsdelikte geschiitzt werden. Den Vorzug verdient nach alledem die weite Interpretation der Erfolgsortklausel des § 9 I S. 1,3. Var. StGB. Sie ftigt sich nicht nur harmonisch in die Dogmatik der abstrakten Gefahrdungsdelikte und der unechten Unterlassungsdelikte ein, sondern iiberzeugt auch unter kriminalpolitischen Aspekten. Erfolgsort der in § 325 I StGB beschriebenen Tat ist also nicht nur der Ort, an dem die schadstoffausstoBende Anlage betrieben wird, sondern auch derjenige, an dem das tatbestandlich missbilligte Risiko einer Rechtsgutsverletzung eintritt. Losungsvorschlag Fall 4: Auf die in Frankreich vorgenommene Handlung (luftverunreinigender Anlagenbetrieb gem. § 325 I StGB) findet deutsches Umweltstrafrecht Anwendung. Zur Anwendbarkeit des § 6 Nr. 9 StGB auf extraterritoriale Umweltstraftaten vgl. Rn. 55.
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BayObLG JR 1979, 289, 290 f.; OLG Stuttgart NuR 1987, 281; Schonke/SchroderASree, § 13 Rn. 3; Trondle/F^c/zer, § 13 Rn. 3; KKOWiG/Rengier, § 8 Rn. 10; a. A. LK-Jescheck, § 13 Rn. 2; SYJRudolphi, § 13 Rn. 10. Vgl. KKOWiG/Rengier, § 8 Rn. 10. Zutr. Heinrich, GA 1999, 72, 81 f.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenziiberschreitenden Bezilgen
2. Flaggenprinzip 45 Eng verwandt mit dem Gebietsgrundsatz ist das Flaggenprinzip (§ 4 StGB). Es besagt, dass der Staat, dessen Flagge ein Schiff oder dessen Staatszugehorigkeitszeichen ein Luftfahrzeug zu flihren berechtigt ist, seine Strafgewalt fur alle Taten in Anspruch nehmen darf, die an Bord des Schiffes oder des Luftfahrzeugs begangen werden74.
3. Aktives Personalitatsprinzip 46 Nach dem aktiven Personalitatsprinzip75, das in §§ 5 Nr. 3 b, Nr. 5 b, Nr. 8, Nr. 9, Nr. 11 a, Nr. 12, 14 a, Nr. 15 StGB und in § 7 II Nr. 1 StGB zum Ausdruck gelangt, darf ein Staat seiner Strafgewalt Handlungen eigener Staatsangehoriger unterwerfen, die im Ausland begangen werden. Hierzu gehoren gem. § 5 Nr. 3 b, Nr. 5 b StGB bestimmte Staatsschutzdelikte deutscher Tater. Nach § 5 Nr. 8 b StGB sind sog. ,,Sextouristen", d. h. deutsche Staatsangehorige, die im Ausland sexuellen Missbrauch von Kindern oder Jugendlichen (§ 176-176 b, 182 StGB) begehen, nach deutschem Strafrecht verfolgbar. Der im Ausland begangene sexuelle Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 I, III StGB) unterliegt demgegeniiber nach § 5 Nr. 8 a StGB nur dann deutscher Strafgewalt, wenn Tater und Opfer zum Tatzeitpunkt Deutsche sind und ihre Lebensgrundlage im Inland haben (Kombination von aktivem und passivem Personalitatsprinzip). ,,Abtreibungstourismus", d. h. die Vornahme einer nach § 218 I StGB tatbestandsma'Gigen Abtreibung im Ausland, ist nach § 5 Nr. 9 StGB strafrechtlich verfolgbar, wenn der Tater zur Zeit der Tat Deutscher ist und seine Lebensgrundlage im Inland hat (vgl. hierzu bereits Rn. 25 ff.). § 5 Nr. 11 a StGB erstreckt den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts auf die Verursachung einer Nuklearexplosion (§ 328 II Nr. 3, 4, IV, V StGB) durch einen Deutschen im Ausland. Auf Taten, die ein deutscher Amtstrager (§ 11 I Nr. 2 StGB) oder fur den offentlichen Dienst besonders Verpflichteter ( § 1 1 1 1 Nr. 4 StGB) wahrend eines dienstlichen Aufenthalts oder in Beziehung auf den Dienst im Ausland begeht, ist nach § 5 Nr. 12 StGB deutsches Strafrecht anwendbar. Zu denken ist etwa an den Fall, dass ein deutscher Behordenleiter wahrend seines Urlaubsaufenthaltes im Ausland Geld oder sonstige Vorteile von einem Geschaftsmann annimmt, der sich hierdurch das Wohlwollen der Behorde erkaufen will (§ 3311 StGB). Nach § 5 Nr. 14 a StGB ist die von einem Deutschen begangene Abgeordnetenbestechung (§ 108 e StGB) unabhangig von der Tatortstrafbarkeit nach deutschem Strafrecht verfolgbar. § 5 Nr. 15 StGB lasst die strafrechtliche Verfolgung des im Ausland stattfindenden Organhandels76 (§ 18 Transplantationsgesetz) zu, wenn er von einem Deutschen betrieben wird.
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Vgl. hierzu MuKoStGB/Ambos, § 4 Rn. 1 ff. m. w. N. Vgl. hierzu MiiKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 35 ff. Vgl. hierzu Konig, Strafbarer Organhandel, passim; ders., D a s strafbewehrte Verbot des Organhandels, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 2000, S. 265.
A. Internationales Strafrecht
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§ 7 II Nr. 1 StGB unterwirft im Ausland begangene Taten der deutschen 47 Strafgewalt, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist (Rn. 59) oder - was hochst selten der Fall ist - der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt77 und wenn der Tater zum Zeitpunkt der Tatbegehung deutscher Staatsangehoriger ist oder danach geworden ist. Das Erfordernis der Strafbarkeit der Auslandstat nach Tatortrecht (doppelte Strafbarkeit) soil verhindern, dass die deutsche Strafgewalt auf Sachverhalte ausgedehnt wird, bei denen der Tatortstaat eine Strafsanktion nicht fur geboten halt78. Beispielsweise ist ein in den Niederlanden wohnhafter deutscher Arzt, der in einer niederlandischen Klinik nach Tatortrecht legale Abtreibungen vomimmt, nicht nach deutschem Recht (§ 218 I StGB) strafbar. § 5 Nr. 9 StGB lasst eine Strafrechtsausdehnung nicht zu, weil dieser Arzt seine Lebensgrundlage nicht in Deutschland hat und § 7 II Nr. 1 StGB kommt mangels Strafbarkeit der Abtreibung im Tatortstaat nicht zur Anwendung.
4. Passives Personalitatsprinzip An das passive Personalitatsprinzip79 knilpfen diejenigen Bestimmungen des in- 48 ternationalen Strafrechts an, die eine Auslandserstreckung deutschen Strafrechts auf im Ausland gegen einen Deutschen begangene Taten zulassen. Auf die deutsche Staatsangehorigkeit des Opfers einer Auslandstat stellen namentlich ab § 5 Nr. 6 StGB in Fallen der Verschleppung und politischen Verdachtigung (§§ 234 a, 241 a StGB), § 5 Nr. 6 a StGB bei Kindesentziehungen in Fallen des § 235 II Nr. 2 StGB, § 5 Nr. 8 a StGB bei sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen (§ 174 I, III StGB), § 5 Nr. 15 StGB in Fallen der Bestechung deutscher Abgeordneter (§ 108 e StGB) sowie § 7 I StGB, wenn die Tat am Tatort mit Strafe bedroht ist oder - was hochst selten der Fall ist - der Tatort keiner Strafgewalt unterliegt.
5. Schutzprinzip Das Schutzprinzip beruht auf einer engen sachlichen Bezogenheit des strafrecht- 49 lichen Schutzgegenstandes zu dem die Strafgewalt beanspruchenden Staat. Demgemafi erstreckt sich die nationale Strafgewalt auch auf bestimmte Auslandstaten, die inlandische Rechtsgiiter verletzen oder gefahrden80. Eine spezielle Auspragung des Schutzprinzips im staatsschutzrechtlichen Sinne ist das Realprinzip, dem die volkergewohnheitsrechtlich anerkannte Idee zugrunde liegt, dass es einem Staat nicht verwehrt werden darf, sich Angriffen auf seine politische und militarische Integritat mit strafrechtlichen Mitteln zu erwehren81. Beispielsweise ist ein englischer Hooligan, der wahrend einer im Ausland stattfindenden Sportveranstal77 78 79 80
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Vgl. hierzu MilKoStGB/Ambos, § 7 Rn. 17 f. Vgl. hierzu MilKoStGB/Ambos, § 7 Rn. 5 ff.; Eser, BGH-Festgabe, S. 3, 12 f. Vgl. hierzu MiiKoStGB/'Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 42 ff. Vgl. hierzu BGHSt 34, 334, 339; MuKoStGB/'Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 39; WerlelJefiberger, JuS 2001, 141. MiiKoStGBA4m&o,s, Vor §§ 3-7 Rn. 40 m. w. N.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenziiberschreitenden Bezugen
tung offentlich eine deutsche Fahne verbrennt oder darauf uriniert (,,beschimpfenden Unfug daran vertibt"; vgl. § 90 a II StGB) gem. § 5 Nr. 3 b StGB nach deutschem Strafrecht verfolgbar82. Die volkerrechtliche Legalitat und Legitimitat der in § 5 Nr. 1 bis 5 StGB getroffenen Strafrechtsanwendungsbestimmungen - diese beziehen sich auf gegen die Bundesrepublik Deutschland gerichtete Staatsschutzdelikte - ergibt sich deshalb ohne weiteres aus dem Realprinzip. Das Gleiche gilt fur § 5 Nr. 10 StGB, der die deutsche Rechtspflege vor Falschaussagedeliken (§§ 153-156 StGB) schiltzt83. Zu denken ist etwa an die von einem deutschen Gericht angeordnete Vernehmung eines Zeugen im Ausland durch einen beauftragten Richter. 50 Eine individualrechtliche Auspragung fmdet das Schutzprinzip in denjenigen Vorschriften des Strafanwendungsrechts, die auf den strafrechtlichen Schutz inlandischer Tatopfer (passives Personalitatsprinzip; vgl. Rn. 48) oder sonstiger inlandischer Individualschutzgiiter abzielen. Zur letztgenannten Kategorie gehort die fur die Bekampfung der Wirtschaftsspionage84 bedeutsame Bestimmung des § 5 Nr. 7 StGB, der die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts bei Verletzung von Betriebs- oder Geschaftsgeheimnissen eines im Inland ansassigen Betriebes oder Unternehmens anordnet.
6. Weltrechtsprinzip 51 Das Weltrechtsprinzip85 erlaubt die weltweite Verfolgung extraterritorialer Taten unabhangig vom Tatort und der Staatsangehorigkeit von Tater und Opfer. Gegenstand der nach dem Weltrechtsprinzip verfolgbaren Taten sind Handlungen, die sich gegen weltweit anerkannte (universelle) Kulturwerte und Rechtsgiiter richten, an deren Schutz ein gemeinsames Interesse aller Staaten besteht. Als typische Beispiele fur Taten, fur die jedem Staat die Befugnis zur strafrechtlichen Verfolgung zusteht, gelten die See- und Luftpiraterie86, volkerrechtliche Kernverbrechen87 (z. B. VOlkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und Akte des internationalen Terrorismus88. § 6 StGB unterstellt dem Weltrechtsprinzip eine Reihe von Auslandstaten, die sich - so jedenfalls der im Titel der Vorschrift zum Ausdruck gelangende Anspruch - gegen international geschiitzte Rechtsgiiter richten89. 52 Die dem Weltrechtsprinzip zugeordnete Bestimmung des § 6 Nr. 1 StGB a. F. ermoglichte die Verurteilung eines bosnischen Serben fur im Bosnien-Krieg be82 83 84 85 86 87 88 89
WerlelJefiberger, JuS 2001, 141. MuKoStGBA4m6as, § 5 Rn. 30. Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 100 ff.; Mohrenschlager, ebenda, 13. Kap. Rn. 2 ff. Vgl. hierzu MuKoStGBA4m6os, Vor §§ 3 - 7 Rn. 4 7 ff.; WerlelJefiberger, JuS 2001, 141, 142; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 142. MuKoStGBA4m6os, Vor §§ 3-7 Rn. 54. MiiKoStGB/,4/nte, Vor §§ 3-7 Rn. 54. MuKoStGBA4m6o.y, V o r §§ 3 - 7 Rn. 55. Vgl. hierzu aber die kritischen Ausfuhrungen von MuKoStGBA4m6o.s, § 6 Rn. 3.
A. Internationales Strafrecht
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gangene Volkerrechtsverbrechen durch ein deutsches Gericht90. Der frilher in § 6 Nr. 1 StGB normierte Tatbestand des Volkermordes (§ 220 a StGB a. F.) - das Paradigma einer Straftat, deren nationale Verfolgung im Interesse aller Staaten liegt91 - wurde inzwischen in das neu geschaffene deutsche Volkerstrafgesetzbuch (VStGB) eingestellt (Rn. 93 ff.). Die Zuordnung der in § 6 Nr. 2 StGB erfassten Kernenergie-, Sprengstoff- und Strahlungsverbrechen (§§ 307, 308 I-IV, 309 II, 310 StGB) zum Weltrechtsprinzip lasst sich mit der Begrilndung rechtfertigen, dass diese Taten sich kaum auf ein bestimmtes Territorium begrenzen lassen und die Existenz ganzer Bevolkerungsgruppen gefa'hrden konnen92. Dem Weltrechtsprinzip unterstellt sind ferner gem. § 6 Nr. 3 StGB bestimmte Formen der Seeund Luftpiraterie93 (§ 316 c StGB), gem. § 6 Nr. 4 StGB der (schwere) Menschenhandel (§§ 180 b, 181 StGB), gem. § 6 Nr. 5 StGB der unbefugte Vertrieb von Betaubungsmitteln, gem. § 6 Nr. 6 StGB die Verbreitung pornografischer Schriften in den Fallen des § 184 III, IV StGB94, gem. § 6 Nr. 7 StGB die Geld-, Wertpapier- und Zahlungskartenfalschung sowie deren Vorbereitung (§§ 146, 149, 151, 152, 152 a StGB) und gem. § 6 Nr. 8 der Subventionsbetrug (§ 264 StGB)95. Eine Parallelvorschrift zu § 6 Nr. 8 StGB, findet sich - bezogen auf den Schutz staatlicher Einnahmen (Steuern und Abgaben) - in § 370 VII AO. Das deutsche Strafanwendungsrecht tragt in §§ 6 Nr. 8 StGB, 370 VII AO einer aus Art. 280 EGV abzuleitenden gemeinschaftsrechtlichen Pflicht aller Mitgliedstaaten Rechnung, ihr nationales Strafrecht zum Schutze der EG-Finanzinteressen zu funktionalisieren96. § 6 Nr. 9 StGB normiert eine blankettartige Generalklausel, nach der deutsches 53 Strafrecht auf Taten anzuwenden ist, die auf Grund eines fur die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen zwischenstaatlichen Abkommens auch dann zu verfolgen sind, wenn sie im Ausland begangen werden97. Der eigentliche internationalstrafrechtliche Ankniipfungspunkt liegt bei § 6 Nr. 9 StGB in einer volkervertraglich festgelegten und fur die Bundesrepublik Deutschland verbindlichen Verfolgungspflicht. Die Verbindlichkeit setzt die innerstaatliche Ratifikation des zwi-
90
91 92
93 94 95 96
97
BVerfG N S t Z 2 0 0 1 , 240; B G H S t 45, 6 4 m. Anm. Hilgendorf, J R 2 0 0 1 , 82; vgl. hierzu auch Ambos, N S t Z 2000, 7 1 ; LagodnylNill-Theobald, J R 2000, 202, 2 0 5 ; Liider, N J W 2000, 269; Werle, J Z 1999, 1181. LagodnylNill-Theobald, JR 2000, 202, 206. MuKoStGB/^/wfeo5, § 6 Rn. 10; Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, S. 147 f. Vgl. hierzu LKJKonig, § 316 c Rn. 2. Vgl. hierzu die kritischen Ausfuhrungen von MuKoStGB/Ambos, § 6 Rn. 16. Vgl. hierzu die kritischen Ausfuhrungen von MuKoStGB/'Ambos, § 6 Rn. 18. Insoweit besteht auch unstreitig ein legitimierender volkerrechtlicher Ankniipfungspunkt fur die Ausdehnung der deutschen Strafgewalt; vgl. MuKoStGBA4m6c«, § 6 Rn. 18. Vgl. hierzu MuKoStGB/Ambos, § 6 Rn. 19 ff; Schonke/Schroder/Eser, § 6 Rn. 10 f; Wilkitzki, ZStW 99 (1987), S. 455, 475.
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schenstaatlichen Abkommens voraus. Weiterer Ankniipfungspunkte fur die Ausiibung deutscher Strafgewalt bedarf es in diesen Fallen nicht98. 54 Die Bestimmung des § 6 Nr. 9 StGB spielt insoweit, als spezielle Strafrechtsanwendungsnormen zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Ponalisierungspflichten zugunsten von Gemeinschaftsrechtsglitern (z. B. § 6 Nr. 8 StGB bezuglich des im Ausland begangenen Subventionsbetruges zum Nachteil der EG) fehlen, eine nicht zu unterschatzende Rolle, da sie mogliche Inkongruenzen zwischen dem gemeinschaftsrechtlichen Schutzaufitrag und nationalem Strafanwendungsrecht pauschal beseitigt". Soweit der EGV die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet, supranationalen Rechtsgiitern der EG den gleichen strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen wie dies bei gleichartigen Angriffen auf nationale Rechtsguter der Fall ist (§ 7 Rn. 29), muss auch das nationale Strafanwendungsrecht so ausgestaltet sein, dass es eine Verfolgung von Auslandstaten ermoglicht. § 6 Nr. 9 StGB stellt als internationalstrafrechtliche ,,Auffangnorm" sicher, dass deutsches Strafrecht, das dem Schutz von Gemeinschaftsinteressen dient, auf extraterritoriale Taten anwendbar ist100. Ein Beispiel hierfur ist die gem. § 6 Nr. 9 StGB nach deutschem Strafrecht (§ 153 StGB) verfolgbare uneidliche falsche Zeugenaussage eines auslandischen Staatsbiirgers, die vor dem EuGH an dessen Sitz in Luxemburg begangen wird. 55 Noch nicht abschlieCend geklart ist die Frage, ob sich die Anwendung deutschen Umweltstrafrechts auf im Ausland spielende Falle grenzuberschreitender Umweltkriminalitat auf § 6 Nr. 9 StGB stutzen lasst, falls §§ 3, 9, 5 Nr. 11, 7 I, II StGB nicht zur Anwendung gelangen. Auf der Basis der hier vertretenen Ansicht, wonach es sich bei den Umweltgutern (Luft, Boden, Gewasser) um durch Gemeinschaftsrecht ausgeformte supranational Rechtsguter handelt (Rn. 8), lassen sich die deutschen Umweltstraftatbestande als Strafrecht im Dienste der Durchsetzung von Gemeinschaftsrecht begreifen101. Als solche sind sie Uber § 6 Nr. 9 StGB auch auf extraterritoriale Taten anwendbar. 7. Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege 56 Nach dem Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (§ 7 II Nr. 2 StGB) kann der im Inland betroffene auslandische Tater, der aus bestimmten Grunden nicht ausgeliefert wird, wegen einer im Ausland begangenen Tat nach deutschem Strafrecht verfolgt und abgeurteilt werden102. Die Strafverfolgung dient in diesem Fall primar der Durchsetzung des Strafverfolgungsinteresses des Tatortstaates und/oder des Heimatstaates des Taters, der mangels Auslieferung des Taters an der Durchfuhrung eines Strafverfahrens gehindert ist. So lasst sich z. B. die Strafverfolgung eines am Flughafen Frankfurt festgenommenen bosnischen Serben fur in Bosnien begangene Kriegsverbrechen neben § 1 VStGB (Rn. 94) auch auf § 7 98 99 100 101 102
BGHSt 46, 292, 307; MiiKoStGB/Ambos, § 6 Rn. 20. Satzger, Europaisierung, S. 389. MuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 16. Vgl. hierzu eingehend Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 894 ff. WMLoStGBIAmbos, Vor §§ 3-7 Rn. 58 ff., 68, § 7 Rn. 27.
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II Nr. 2 StGB stutzen, wenn eine Auslieferung des Beschuldigten nicht moglich 1st103. Auslander sind nicht nur nicht-deutsche Staatsangehorige, sondern auch Staa- 57 tenlose104. Die Anwendung des § 7 II Nr. 2 StGB setzt voraus, dass die Auslieferung des im Inland betroffenen Taters uberhaupt zulassig ware105, jedoch nicht stattfindet, weil ein Auslieferungsersuchen nicht gestellt oder abgelehnt wird oder die Auslieferung - etwa wegen des schlechten Gesundheitszustandes des Taters - undurchfuhrbar ist. Nach h. M. soil es auf die Grande, die den Tatort- oder Heimatstaat des Taters dazu bewegen, kein Auslieferungsersuchen zu stellen, nicht ankommen und damit der Verfolgungswille dieser Staaten unbeachtlich sein106. Diese Auffassung begegnet Bedenken, da sie einen etwa zum Ausdruck gebrachten Verfolgungsverzicht des auslandischen Staates konterkariert, obwohl doch die Strafverfolgung stellvertretend fur diesen betrieben werden soil107. Fall 5: Die tiirkischen Staatsblirger A und B, beide Funktionare der Arbeiterpartei Kurdis- 58 tans (PKK), toten nach einem Hinrichtungsprozess in einem Ausbildungslager der PKK im Libanon einen Parteigenossen P wegen ,,gruppenschadlichen Verhaltens". Einige Monate spater werden A und B in Deutschland festgenommen. Weder die libanesische noch die turkische Regierung stellen einen Auslieferungsantrag. Im Mordprozess gegen A vor dem zustandigen deutschen Gericht macht die Verteidigung geltend, die Tat sei im Hinblick auf ein zwischenzeitlich erlassenes libanesisches Amnestiegesetz nicht mehr verfolgbar. Frage 1: Wie muss das deutsche Gericht verfahren, wenn der Sachvortrag der Verteidigung zutrifft?108 Frage 2: Wie ist zu entscheiden, wenn es sich bei dem Tatopfer P um einen ttirkischstammigen deutschen Staatsangehorigen handelt? Losungshinweise Fall 5: Falls die Bestimmungen des internationalen Strafrechts 59 (hier: § 7 II Nr. 2 StGB) die Austlbung deutscher Strafgewalt im Hinblick auf das libanesische Straffreiheitsgesetz nicht zulassen, musste das deutsche Gericht das Verfahren wegen Vorliegens eines Prozesshindernisses einstellen (Rn. 4). Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts (§211 StGB) hangt nach § 7 II Nr. 2 StGB davon ab, ob die Tat von A und B auch am Tatort mit Strafe bedroht ist. Nach h. M. erfordert dies die materielle Strafbarkeit der Tat nach Tatortrecht, wobei Rechtfertigungs-, Entschuldigungs- und sonstige StrafausschlieBungsgrunde zu berucksichtigen sind109, soweit sie nicht gegen international anerkannte Rechtsgrundsatze (,,internationaler ordre public") verstoBen110. Unbeachtlich sol103
104 105 106 107 108 109
110
BGHSt 45, 64 (zu § 6 Nr. 1 StGB a. F.); vgl. auch BayObLG NJW 1998, 392 m. Anm. v. Lagodny, JR 1998, 475 ff.; krit. Ambos, NStZ 1998, 138. LK-Gribbohm, § 7 Rn. 69. Vgl. hierzu MiiKoStGB/Ambos, § 7 Rn. 28. OLG Dusseldorf, NStZ 1985, 268; Scholten, NStZ 1994, 266, 268. Vgl. die kritischen Ausfuhrungen von MiXKoStGB/Ambos, § 7 Rn. 30 f. Vgl. hierzu BGH NJW 1992, 2775; WerlelJefiberger, JuS 2001, 141, 143 f. BGHSt 2, 160, 161; 42, 275, 277; MuKoStGBA4m/>os, § 7 Rn. 9 f.; LK/Gribbohm, § 7 Rn. 27; LacknerlYJM, § 7 Rn. 2; Scholten, Tatortstrafbarkeit, S. 145 ff. BGHSt 42, 275, 279 m. Anm. v. Konig, JR 1997, 317.
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len dagegen etwaige am Tatort bestehende prozessuale Strafverfolgungshindernisse sein, weil es allein auf die sachlich-rechtliche Lage ankomme111. Nach dieser Ansicht ginge das Verteidigungsvorbringen von A und B ins Leere und das deutsche Gericht konnte sie wegen des im Libanon begangenen Mordes aburteilen. Mit ilberzeugenden Grunden vertritt eine im Vordringen befindliche Auffassung eine differenzierende Auslegung der Klausel ,,am Tatort mit Strafe bedroht ist". Sie unterscheidet danach, ob der deutsche Strafanspruch an die deutsche Staatsangehorigkeit von Tater oder Opfer (§ 7 I, II Nr. 1 StGB) oder an die Ausiibung stellvertretender Strafrechtspflege (§ 7 II Nr. 2 StGB) anknttpft. Da es im Anwendungsfeld des Personalitatsgrundsatzes um den Schutz deutscher Staatsbtirger im Ausland ( § 7 1 StGB) und um die Verhinderung von Straflosigkeit deutscher Tater fur im Ausland begangene Taten gehe (§ 7 II Nr. 1 StGB), bestehe ein originares Strafverfolgungsinteresse Deutschlands, welches ungeachtet des Bestehens prozessualer Verfolgungshindernisse im Tatortstaat durchzusetzen sei. Demgegenilber verfolge Deutschland im Fall des § 7 II Nr. 2 StGB kein eigenes Strafverfolgungsinteresse, sondern handle lediglich in Vertretung des Tatort-staates. Wurde der Ergreifungsstaat Verfolgungshindernisse des Tatortstaates - etwa eine Amnestie - ignorieren, so kame dies einer Missachtung der souveranen Entscheidung des Tatortstaates gleich und wurde sich als unzulassige ,,Vertretung ohne Vertretungsmacht" darstellen112. Das OLG Dusseldorf hat sich dieser Ansicht bezuglich einer Amnestie im Tatortstaat angeschlossen113. Der BGH hat dieses Urteil jedoch aufgehoben und die vorherrschende Ansicht bestatigt, wonach die Existenz prozessualer Verfolgungshindernisse im Tatortstaat die Austlbung deutscher Strafgewalt gem. § 7 II Nr. 2 StGB nicht hindere114. Losungsvorschlag Frage 1: Entgegen der h. M. liegen die Voraussetzungen des § 7 II Nr. 2 StGB im Hinblick auf das Amnestiegesetz des Tatortstaates nicht vor. Das in Deutschland gefuhrte Verfahren gegen A und B ist einzustellen. Losungsvorschlag Frage 2: Wenn es sich bei dem Tatopfer um einen deutschen Staatangehb'rigen handelt, ist gem. § 7 I StGB nach alien Ansichten deutsches Strafrecht anwendbar. Die Existenz eines prozessualen Verfolgungshindernisses im Tatortstaat ist im Anwendungsbereich des passiven Personalitatsprinzips unbeachtlich.
BGH NJW 1954, 1086 (Strafantrag); BGHSt 20, 22 (ausl. Strafverlangen); BGH GA 1976, 242 (Verjahrung); BGH NStZ-RR 2000, 361 (Verjahrung); KG JR 1988, 345 (Amnestie); ebenso LK/Gribbohm, § 7 Rn. 4 f, 32 ff.; Scholten, NStZ 1994, 266; Trondle/Fischer, § 7 Rn. 7. MiiKoStGB/Ambos, § 7 Rn. 13; Eser, JZ 1993, 875, 878 ff.; LacknerlYJM, § 7 Rn. 2; Oehler, Internationales Strafrecht, 1983, Rn. 151 e; WerlelJefiberger, JuS 2001, 141, 144. OLG Dusseldorf NJW 1992, 2775; zust. Eser, JZ 1993, 875; ders., BGH-Festgabe, S. 3, 13 f; abl. Scholten, NStZ 1994, 266. BGH NJW 1992, 2775; krit. hierzu LagodnylPappas, JR 1994, 162.
A. Internationales Strafrecht
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8. Kompetenzverteilungsprinzip Neben den oben behandelten Prinzipien des internationalen Strafrechts erlangt in 60 jiingerer Zeit das Kompetenzverteilungsprinzip wachsende Bedeutung. Nach dessen Grundidee wird durch volkerrechtliche Vereinbarung die Zustandigkeit eines Verfolgungsstaates festgelegt, um im Falle konkurrierender Strafanspriiche mehrerer Staaten Jurisdiktionskonflikte zu vermeiden115. Als Beispiel fiir einen Jurisdiktionskonflikt mag folgender Fall dienen: Die 61 israelische Botschaft in Berlin wird von tilrkischen Staatsangehorigen angegriffen. Dabei kommt ein deutscher Polizeibeamter durch den Schuss eines Angreifers urns Leben. In diesem Fall konnen drei staatliche Strafgewalten einen Verfolgungsanspruch geltend machen, wobei sich die Ausubung deutscher Strafgewalt auf das Territorialitatsprinzip (Tatort in Deutschland) und den passiven Personalitatsgrundsatz (Staatsangehorigkeit des Opfers), die israelische auf das Realprinzip (Staatsschutzgrundsatz) und die tilrkische auf das aktive Personalitatsprinzip (Staatsangehorigkeit des Taters) berufen kann116. Jurisdiktionskonflikte dieser Art lassen sich nur vermeiden, wenn es gelingt, durch volkerrechtliche Vereinbarungen eine Rangfolge (Hierarchie) der legitimierenden Ankniipfungspunkte zu fixieren und moglicherweise auf verfahrensrechtlicher Ebene eine Instanz zu schaffen, die im Konfliktfall ilber die Verfolgungszustandigkeit entscheidet117. Dass eine solche Losung moglich ist, zeigt die Regelung in Art. 27 UN-Seerechtsubereinkommen118, die der Strafgewalt des Flaggenstaates (Staat, unter dessen Flagge ein Schiff fahrt) Vorrang vor der des Kiistenstaates einraumt119. Gewisse Fortschritte sind insoweit im Rechtsraum der EU zu verzeichnen, in 62 dem eine verstarkte justizielle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten angestrebt wird120. So sieht z. B. der am 23. Juni 2002 in Kraft getretene Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekampfung121 (§11 Rn. 53 ff.) in Art. 9 II eine Koordinierungspflicht vor, wenn mehrere Staaten fur die Strafverfolgung zustandig sind. Die in Art. 54 SDU getroffene Regelung iiber das transnationale Doppelbestrafungsverbot innerhalb des EU-Rechtsraumes beinhaltet zwar keine Festlegung der Strafverfolgungszustandigkeit bei konkurrierenden Strafanspriichen. Sie sorgt aber nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verfahrensabschlieBender Erledigungen (,,rechtskraftige Aburteilung") - fur einen grenzilberschreitenden Strafklageverbrauch nach MaBgabe der Rechtskraftbestimmungen des Erstverfolgerstaates und schlieBt dadurch die erneute Aburteilung derselben Tat in alien anderen Mitgliedstaaten aus (§ 13 Rn. 12, 41).
115 116 1n 118 119 120 121
LKJGribbohm, Vor §§ 3-7 Rn. 137 f.; NK/Lemke, Vor §§ 3-7 Rn. 18. Vgl. zu diesem Fall MiXKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 62. Vgl. hierzu MiXKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 64-72. BGB1. II 1994, 1799; 1995, 602. Vgl. hierzu MilKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 34, 64, § 3 Rn. 13, § 4 Rn. 17. MilKoStGB/Ambos, Vor§§3-7Rn. 61. AB1EG 2002, L 164, S. 3.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenziiberschreitenden Bezugen
9. Prozessuale Aspekte der Verfolgung von Auslandstaten 63 Fur die Verfolgung von Auslandstaten gilt generell das Opportunitatsprinzip (§ 153 c I Nr. 1 StPO), d. h. die Staatsanwaltschaft kann ohne Zustimmung des Gerichts das Verfahren einstellen. Bei Taten i. S. d. § 5 Nr. 2-6 StGB kommt ein Absehen von der Verfolgung aus politischen Grilnden in Betracht (§ 153 d I StPO i. V. m. § 74 a I Nr. 2-6 GVG sowie § 120 I Nr. 2-7 GVG). Zu beachten ist aber, dass das Einstellungsermessen der Staatsanwaltschaft erheblich oder sogar auf Null reduziert sein kann, wenn es um die Verfolgung von Auslandstaten geht, die sich gegen strafrechtlich zu schutzende Interessen der EG richten122. So kann sich etwa die Einstellung eines wegen Verdachts eines im Ausland zum Nachteil der EG begangenen Subventionsbetruges (vgl. §§ 6 Nr. 8, 264 I, VII Nr. 2 StGB) geftihrten Strafverfahrens als VerstoB gegen Art. 280 I EGV darstellen und im Wege eines von der Kommission anzustrengenden Vertragsverletzungsverfahrens durch den EuGH festgestellt werden.
V. Literaturhinweise Breuer, Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts auf extraterritorial handelnde InternetBenutzer, MMR 1998, 141 Cornils, Der Begehungsort von AuBerungsdelikten im Internet, JZ 1999, 394, 396 Eisele, Internationale Beziige des Strafrechts, IA 2000, 424 Eser, Das ,,Internationale Strafrecht" in der Rechtsprechung des BGH, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 3 Hecker, Die Strafbarkeit grenziiberscheitender Luftverunreinigungen im deutschen und europaischen Umweltstrafrecht, ZStW 115 (2003), S. 880 Heinrich, Der Erfolgsort beim abstrakten Gefahrdungsdelikt, GA 1999, 72 Hilgendorf, Uberlegungen zur strafrechtlichen Interpretation des Ubiquitatsprinzips im Zeitalter des Internet, NJW 1997, 1873 Koch, Nationales Strafrecht und globale Internet-Kriminalitat. Zur Reform des Strafanwendungsrechts bei Kommunikationsdelikten im Internet, GA 2002, 703 Lagodny/Nill-Theobald, Anmerkung zu BGHSt 45, 64, JR 2000, 205 Martin, Grenziiberschreitende Umweltbeeintrachtigungen im deutschen Strafrecht, ZRP 1992, 19 Mitsch, Mitwirkung am versuchten Schwangerschaftsabbruch (an) einer Nichtschwangeren im Ausland, JURA 1989, 193 Satzger, Die Anwendung des deutschen Strafrechts auf grenzuberschreitende Geiahrdungsgdelikte, NStZ 1998, 112 Scholten, Das Erfordernis der Tatortstrafbarkeit in § 7 StGB, 1995, passim Sieber, Internationales Strafrecht im Internet - Das Territorialitatsprinzip der §§ 3, 9 StGB im globalen Cyberspace, NJW 1999, 2065 WerlelJefiberger, Grundfalle zum Strafanwendungsrecht, JuS 2001, 35; 141 Zieher, Das sog. Internationale Strafrecht nach der Reform, 1977, passim
Vgl. hierzu Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 166 ff.
B. Transnationales Strafrecht
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VI. Rechtsprechungshinweise BVerfGE 63, 343 (legitimierender Anknilpfungspunkt) BVerfGE 92, 277 (legitimierender Anknupfungspunkt) BGHSt 22, 282 (Schutzbereich der Staatsschutzdelikte) BGHSt 29, 73 (Schutzbereich der Staatsschutzdelikte) BGHSt 29, 85 (Schutzbereich des § 170 StGB) BGH NJW 1992, 2775 (Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege) BGHSt 42, 279 (Erfordernis der Tatortstrafbarkeit) BGHSt 45, 64 (Weltrechtsprinzip; zu § 6 Nr. 1 StGB a.F.) BGHSt 46, 212 (Erfolgsbegriff des § 9 StGB) BGHSt 46, 292 (Weltrechtsprinzip bei der Verfolgung internationaler Verbrechen) OLG Diisseldorf NJW 1992, 2775 (Amnestie im Tatortstaat und § 7 II Nr. 2 StGB)
B. Transnationales Strafrecht I. Beg riff und Funktion des transnationalen Strafrechts Der Begriff„ transnationales Strafrecht" bezeichnet eine Rechtsmaterie, die sich 64 im weitesten Sinne mit dem rechtlichen, institutionell-organisatorischen und verfahrenstechnischen Instrumentarium der (international-arbeitsteiligen) grenzuberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen sowie damit zusammenhangender Rechtsschutzprobleme befasst. Funktional zielt das transnationale Strafrecht auf die Bewaltigung strafrechtsrelevanter Lebenssachverhalte ab, die nicht ausschlieBlich auf nationale materiell- und verfahrensrechtliche Problemlosungen gestiitzt werden konnen123. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden ,,Transnationalisierung der Verbrechensbegehung"124 in einer okonomisch, informationstechnisch und politisch immer enger verfiochtenen Welt (,,Globalisierung"125) hat sich inzwischen die Einsicht durchgesetzt, dass den neuen globalen Herausforderungen der internationalen Kriminalitat nur durch das Zusammenwirken der Staatengemeinschaft und durch eine international koordinierte Strafverfolgung begegnet werden kann. Namentlich der die innere Sicherheit der Staaten bedrohende internationale Terrorismus sowie bestimmte Erscheinungsformen der schweren und organisierten Kriminalitat (u. a. Menschenhandel, Drogen- und Waffenhandel, illegaler Technologietransfer, Angriffe auf Informationssysteme, Umweltkriminalitat) stellen Herausforderungen dar, die auf rein nationaler Ebene nicht zu bewaltigen sind.
123
SchomburglLagodny, IRhSt, Einleitung Rn. 15. Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 36. 125 Ygj z u Globalisierung und Strafrecht Hilgendorf, in: Dreier/Forkel/Laubenthal (Hrsg.), Festschrift 600 Jahre Wurzburger Juristenfakultat, 2002, S. 333, 338 ff. 124
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenziiberschreitenden Beziigen
Ein Bereich, in dem die transnational Zusammenarbeit in Strafsachen schon eine lange Tradition besitzt, ist die internationale Rechtshilfe in Strafsachen126. Hierunter versteht man jede Untersttitzung, die vom ersuchten Staat fur ein auslandisches Strafverfahren (des ersuchenden Staates) gewahrt wird. Dies gilt unabhangig davon, ob das auslandische Verfahren von einem Gericht oder einer Behorde (Staatsanwaltschaft, Polizei-, Zoll- und Finanzbehorden) betrieben wird oder ob die Rechtshilfehandlung von einem Gericht oder einer Behorde vorzunehmen ist. Traditionelle Bereiche der Rechtshilfe sind der zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr127, die Untersttitzung bei der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen (Vollstreckungshilfe)128 und die sog. ,,kleine" oder sonstige Rechtshilfe129, bei der es um alle denkbaren Unterstutzungshandlungen geht, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht des ersuchten Staates zulassig sind. Hierzu gehoren z. B. die Zustellung von Ladungen und Urteilen, die Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten oder die Beschlagnahme und Herausgabe von Beweismitteln, aber auch die Durchfuhrung grenziiberschreitender operativer MaBnahmen wie die Uberwachung des Fernmeldeverkehrs, der Einsatz verdeckter Ermittler, die Observation und kontrollierte Lieferungen. Internationale Kooperation ist immer dann geboten, wenn sich die Aufklarung und Aburteilung einer Straftat sowie die Strafvollstreckung nicht innerhalb eines Staates erledigen lasst. Vgl. zur Veranschaulichung folgenden
66 Beispielsfall: Die deutsche Staatsanwaltschaft ermittelt gegen den turkischen Staatsbilrger A wegen des dringenden Verdachts, in Deutschland einen Auftragsmord begangen zu haben. Noch bevor A in Untersuchungshaft genommen werden kann, hat er sich nach Frankreich abgesetzt. Zwar kann A nach Abschluss der staatsanwaltlichen Ermittlungen auch dann in Deutschland angeklagt werden, wenn er abwesend ist. Die Hauptverhandlung vor einem deutschen Gericht kann aber nur in Anwesenheit des A stattfinden (§ 230 I StPO). Mit Rucksicht auf die volkerrechtliche Souveranitat Frankreichs dilrfen deutsche Staatsorgane nicht einfach nach Frankreich fahren und den mit internationalem Haftbefehl gesuchten A festnehmen, um ihn nach Deutschland zu verbringen. Vielmehr muss der Rechtshilfeweg beschritten werden. Die deutsche Regierung wird die franzosische darum ersuchen, den Aufenthaltsort des A in Frankreich zu ermitteln, ihn festzunehmen und an Deutschland auszuliefern. Die Auslieferung gestaltet sich ggf. so, dass A an der Grenze den deutschen Behorden ubergeben wird. Innerhalb der EU wird kunftig das klassische Auslieferungsverfahren durch ein wesentlich vereinfachtes Ubergabeverfahren ersetzt (,,Europaischer Haftbefehl"; vgl. § 12 Rn. 19 ff.), wenn es sich — wie hier — um eine sog. ,,Katalogtat" (umschrieben als ,,vorsatzliche Totung") handelt.
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Detaillierte Informationen bieten die praxisorientierten Darstellungen von v. Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsubernahme, Vollstreckungshilfe - Ein Handbuch fur die Praxis, 1998, passim; Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, passim; SchomburglLagodny, IRhSt, passim. 127 Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 54 ff. und die instruktive Einfuhrung von Weigend, JuS 2000, 105. 128 Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 133 ff. 129 Yg[ jjierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 171 ff.
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Pflege und Entwicklung der intemationalen Rechtshilfe in Strafsachen sind seit 67 jeher ein zentrales Anliegen des Europarates, der mit derzeit 46 Mitgliedstaaten groBten Staatenvereinigung Europas (§ 3 Rn. 4). Die Europaratskonventionen im Bereich der Rechtshilfe fungieren als ,,Mutterkonventionen" des europaischen Rechtshilfeverkehrs, auf denen zahlreiche bilaterale oder multilaterale Erganzungsvertrage sowie deliktsbezogene Ubereinkommen aufbauen. Zu einer Erleichterung der Rechtshilfekooperation innerhalb der EU ftihren die Art. 48 ff., 59 ff. SDU, die als sog. ,,Schengenbesitzstand" inzwischen in die dritte Saule des EUV uberfilhrt wurden130. Die internationale Kooperation der gegenwartig auf die Zahl 25 angewachsenen EU-Mitgliedstaaten vollzieht sich heute jedoch nicht mehr ausschlieBlich in den Formen des traditionellen Rechtshilfeverkehrs. Innerhalb der EU erlangen neuartige Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen wachsende Bedeutung, die sich von den Mechanismen der klassischen Rechtshilfe losen131. So handelt es sich z. B. in bestimmten Fallen der ,,SchengenKooperation", namentlich bei der grenziiberschreitenden Observation und Nacheile (Art. 40, 41 SDU) nicht mehr um Rechtshilfe im engeren Sinne, weil den observierenden bzw. nacheilenden auslandischen Polizeibeamten eine — freilich eng umgrenzte — Mitnahme von Hoheitsgewalt zugestanden wird (§ 5 Rn. 37, 116). In Eilfallen wird sogar auf ein zuvor gestelltes Ersuchen verzichtet. Zu weiteren Erleichterungen fiihren Bestimmungen wie Art. 52 SDU, wonach die unmittelbare Ubersendung justizieller Urkunden an Personen gestattet ist, die sich in einem Vertragsstaat aufhalten. Auch erfolgt die gesamte ,,Europol-Kooperation" auBerhalb des klassischen Rechtshilfeverkehrs (§ 5 Rn. 64). Der Europaische Haftbefehl stellt den Auslieferungsverkehr zwischen den EU-Mitgliedstaaten auf eine neue rechtliche Grundlage und markiert zugleich einen grundlegenden Paradigmenwechsel (§12 Rn. 19 ff.). Durch die Schaffung eines unionsweit vollstreckbaren Festnahme- und Uberstellungsbefehls riickt das an die Stelle des klassischen Auslieferungsverfahrens tretende EU-interne Ubergabeverfahren zwischen den mitgliedstaatlichen Justizbehorden bereits in die Nahe einer innerstaatlichen Zusammenarbeit. Der weitere Ausbau und die Effektivierung der polizeilichen und justiziellen 68 Zusammenarbeit stellen herausragende Ziele auf dem Weg zu einem ,,Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" (Art. 29 EUV) dar, zu deren Verwirklichung alle Mitgliedstaaten der EU verpflichtet sind. Die Errichtung des Schengener Informationssystems (SIS), des Europaischen Polizeiamtes (Europol), des Europaischen Justiziellen Netzes (EJN) und der supranationalen Clearingstelle Eurojust sowie zahlreiche erlassene bzw. vorbereitete Ubereinkommen und Rechtsakte zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit132 (§ 12 Rn. 4 ff.) zeugen von der fortschreitenden Europaisierung der intemational-arbeitsteiligen Verbrechensbekampfung. Transnationales Strafrecht stellt insoweit eine Spezialmaterie des Europaischen Strafrechts dar. 130
Vgl. hierzu Vogel, JZ 2001, 937, 938 ff. Vgl. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 3; Vogel, JZ 2001, 937, 938 ff. 132 Vgl. die Obersicht von Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 71. 131
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Bezugen
Begleitet werden die von Europarat und EU ausgehenden Aktivitaten zur Verbesserang der zwischenstaatlichen Kooperation von zahlreichen Initiativen auf globaler Ebene, die zur Erarbeitung volkerrechtlicher Ubereinkommen im Rahmen der UN (§ 5 Rn. 5 ff.), zur Schaffung weltweiter Netze des Informationsaustauschs sowie zur Ausweitung der formellen und informellen Zusammenarbeit im Kampf gegen internationale Kriminalitat beitragen133.
II. Rechtshilfe in Strafsachen am Beispiel der Auslieferung 70 In ihrem Kern wird die grenziiberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen auch weiterhin von der traditionellen, durch Ersuchen gekennzeichneten Rechtshilfe gepragt. Ein wegen seiner volkerrechtlichen und politischen Aspekte mitunter hochst brisanter Teilbereich der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ist die Auslieferung'34. Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an das in England gefuhrte Auslieferungsverfahren gegen den chilenischen Ex-Diktator PinochetU5 oder an die vertrackte Situation nach der Festnahme des von Deutschland und der Ttirkei mit Haftbefehlen gesuchten KurdenfUhrers Ocalan in Italien136. Nachfolgend sollen daher am Beispiel der Auslieferung die wesentlichen Grundlagen des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs in Europa dargestellt werden.
1. Rechtliche Grundlagen des Auslieferungsverkehrs 71 Das geltende Auslieferungsrecht beruht auf drei Rechtsschichten: Europaratskonvention nebst Zusatzprotokoll und Erganzungsvertragen, EU-Recht, nationales Recht. Innerhalb Europas und im Verhaltnis zu Israel bildet das Europaische Auslieferungsiibereinkommen v. 13. Dezember 1957 (EuAlUbk)137 des Europarates das zentrale Regelungswerk fur den vertraglichen Auslieferungsverkehr (§ 12 Rn. 14). Dieses wird durch zwei Zusatzprotokolle v. 15. Oktober 1975138
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Vgl. hierzu eingehend Ziegenhcthn, Menschenrechte und grenziiberschreitende Zusammenarbeit, S. 48 ff. Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 54 ff.; Weigend, JuS 2000, 105. Vgl. hierzu Weigend, JuS 2000, 105, 107. Es handelte sich hierbei um einen negativen Strafgewaltskonflikt, da Deutschland kein Auslieferungsersuchen an den Festnahmestaat Italien stellte, der Ocalan daraufhin wieder auf freien FuC setzte. In der Folgezeit kam es dann zu der spektakularen volkerrechtswidrigen Entfiihrung Ocalans in die Tiirkei, wo er zunachst zum Tode, spater zu lebenslanger Haft verurteilt wurde; vgl. hierzu Ktihne, JZ 2003, 670 und Wassermann, NJW 1999, 760. ETS Nr. 24; BGB1. II 1964, 1369; 1976, 1778; I 1982, 2071; II 1994, 299. ETS Nr. 86; von Deutschland nicht ratifiziert.
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und v. 17. Marz 1978139 sowie durch bilaterale AuslieferungsvertrSge140 und deliktsspezifische Europaratsiibereinkommen141 erganzt. Der Auslieferungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten der EU, die an den Schengen-Besitzstand gebunden sind (§ 5 Rn. 31 ff.), wird durch einige Spezialregelungen des multilateralen Schengener Durchfuhrungstibereinkommens (Art. 59-66 SDU) erleichtert (§12 Rn. 16). Hinzu treten erganzend die im Rahmen der dritten Saule der EU entwickelten Instrumente, namentlich das Ubereinkommen v. 27. September 1996 fiber die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU (EUAU)142 und das Ubereinkommen v. 10. Marz 1995 tiber das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU143 (§ 12 Rn. 17 f.). Diese zielen auf eine Vereinfachung und Harmonisierung der Auslieferungsbedingungen ab. Den auf nationaler Ebene erlassenen Rechtshilfegesetzen144 - in Deutschland handelt es sich um das Gesetz iiber die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen v. 23. Dezember 1982 (IRG)145 - kommt im wesentlichen die Bedeutung zu, die Grundsatze festzulegen, die im Auslieferungs- und Rechtshilfeverkehr mit solchen Staaten anzuwenden sind, mit denen keine Vertrage abgeschlossen worden sind (vertragsloser Rechtshilfeverkehr). AuBerdem enthalten die nationalen Gesetze Bestimmungen Uber das innerstaatliche Auslieferungsverfahren. § 1 III IRG stellt klar, dass volkerrechtliche Vereinbarungen146, soweit sie unmittelbar anwendbares innerstaatliches Recht geworden sind, den Vorschriften des IRG vorgehen. Fur die Praxis bedeutet dies, dass in jedem Fall geprilft werden muss, ob eine solche vorrangige Regelung existiert147.
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ETS Nr. 98; BGB1. II 1990, 118; 1991, 874. Beispielsweise hat Deutschland derartige Vertrage mit Italien, den Niederlanden, Osterreich, der Schweiz und Israel abgeschlossen; vgl. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 296. Beispiele hierftlr sind das Europaratsubereinkommen zur Bekampfung des Terrorismus v. 27. Januar 1977 (ETS Nr. 90; BGB1. II 1978, 321, 907; 1989, 857; 1998, 1136) sowie das von Deutschland noch nicht ratifizierte Ubereinkommen iiber Korruption v. 27. Januar 1999 (ETS Nr. 173). AB1EG 1996 Nr. C 313, S. 11; vgl. das deutsche Zustimmungsgesetz v. 27. September 1998 (BGB1. II 1998, 2253). Aufgrund von Art. 18 IV EUAU i. V. m. Art. 1, 3 des Zustimmungsgesetzes kommt das EUAU fur Deutschland im Verhaltnis zu Spanien, Portugal, Danemark, Finnland, den Niederlanden und Osterreich vorzeitig zur Anwendung. AB1EG 1995 Nr. C 78, S. 2; vgl. das deutsche Zustimmungsgesetz v. 7. September 1998 (BGB1. II 1998, 2229, 2253; 1999, 357). Das Ubereinkommen findet fur Deutschland vorzeitige Anwendung im Verhaltnis zu DSnemark, Finnland, den Niederlanden, Osterreich, Schweden und Spanien. Vgl. hierzu die rechtsvergleichenden Hinweise von Schomburg/Lagodny, IRhSt, EinleitungRn. 152 ff. BGB1.1 1982, 2071 i. d. F. v. 27. Juni 1994 (BGB1.1 1994, 1537). Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 9 ff. Vgl. hierzu Schomburg/Lagodny, IRhSt, § 1 IRG Rn. 5 ff.
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2. Grundprinzipien und allgemeine Voraussetzungen der Auslieferung a) Grundsatz der Gegenseitigkeit 72 Rechtshilfe wird nur unter der Voraussetzung geleistet, dass der ersuchende Staat dem ersuchten Staat im vergleichbaren umgekehrten Fall ebenfalls Rechtshilfe leistet (Grundsatz der Gegenseitigkeit). Auf vertragsloser Grundlage ist die Auslieferung einer verfolgten Person nur zulassig, wenn die Gegenseitigkeit generell oder aufgrund einer Zusicherung im Einzelfall verbilrgt ist (§ 5 IRG). Im Vertragsbereich stellt dagegen bereits das Ubereinkommen im Umfang seines Regelungsgehalts die Gegenseitigkeit (,,do ut des") her148. b) Beiderseitige Straf- und Verfolgbarkeit 73 Grundsatzlich hangt die Auslieferungsfahigkeit des Verfolgten davon ab, ob dessen Tat auch nach dem Recht des ersuchten Staates strafbar und verfolgbar ist (§§ 2, 3 I IRG; Art. 2 I EuAlUbk). Deutschland musste daher z. B. das Auslieferungsersuchen eines islamisch gepragten Staates ablehnen, der gegen seinen Staatsangehorigen wegen eines nach islamischem Recht strafbaren Ehebruchs ein Strafverfahren durchfuhren will149. Im Ubrigen erfolgt eine Auslieferung nach § 3 II IRG und Art. 2 I EuAlUbk nicht wegen Straftaten, die nicht mit Freiheitsentzug von mindestens einem Jahr bedroht sind. Im vertraglich geregelten Auslieferungsverkehr gilt regelmaBig ein streng formeller PriifungsmaBstab, d. h., der ersuchte Staat priift nicht selbst den Tatverdacht, sondern unterstellt diesen nach MaBgabe des auslandischen Haftbefehls oder Urteils150. Zu einer Prufung des Tatverdachts kommt es nur dann, wenn besondere Umstande dies im Einzelfall nahe legen, z. B. weil Anhaltspunkte fur eine missbrauchliche Nutzung des Auslieferungsanspruchs bestehen oder die Tat bereits in dem ersuchten oder einem dritten Staat Gegenstand eines mit Freispruch oder Einstellung abgeschlossenen Verfahrens war151. Im vertragslosen Auslieferungsverkehr erstreckt sich die Prufung hingegen regelmaBig darauf, ob hinreichender Tatverdacht vorliegt (Art. 10 II IRG). 74 Der Grundsatz beiderseitiger Straf- und Verfolgbarkeit wird durch einige Erganzungsvertrage und das Ubereinkommen v. 27. September 1996 ttber die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU (EUAU)152 durchbrochen (§ 12 Rn. 18). So entfallen nach Art. 3 EUAU die Vorbehaltsmoglichkeiten bei der Verfolgung bestimmter Taten der Organisierten Kriminalitat sowie bei politischen 148 149 150
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Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 24, 104. Weigend, JuS 2000, 105, 107. BVerfG NJW 1983, 1726; BGH NJW 1984, 2046, 2047 f.; BGHSt 32, 314; Hackner u. a, Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 105. BGHSt 27, 191; BGHSt 32, 314; OLG Karlsruhe NJW 1991, 2225. AB1EG 1996 Nr. C 313, S. 11; vgl. das deutsche Zustimmungsgesetz v. 27. September 1998 (BGB1. II 1998, 2253). Aufgrund von Art. 18 IV EUAU i. V. m. Art. 1, 3 des Zustimmungsgesetzes kommt das EUAU fllr Deutschland im Verhaltnis zu Spanien, Portugal, Danemark, Finnland, den Niederlanden und Osterreich vorzeitig zur Anwendung.
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und Fiskaldelikten. Eine Auslieferung kommt nach dem EUAU auch fllr Delikte in Betracht, fur die im ersuchten Staat nur eine Hochststrafe von mindestens sechs Monaten gilt. Im Umfang der Positivliste des Rahmenbeschlusses iiber den Europaischen Haftbefehl und die Ubergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten153 wird innerhalb der EU kunftig ganz auf das Erfordernis der beiderseitigen Straf- und Verfolgbarkeit verzichtet (§ 12 Rn. 25). c) Grundsatz der Spezialitat Ein weiteres tragendes Prinzip des traditionellen Auslieferungsverkehrs ist der 75 Grundsatz der Spezialitat (§ 11 IRG, Art. 14 I EuAlUbk). Er soil sicherstellen, dass eine ausgelieferte Person im ersuchenden Staat speziell nur wegen der Tat verfolgt wird, deretwegen die Auslieferung bewilligt worden ist154. Beispielsweise kann der ersuchte Staat von dem ersuchenden Staat verbindliche Zusicherungen dafur verlangen, dass der Betroffene ausschlieBlich wegen der Delikte verfolgt wird, die der Auslieferungsbewilligung zugrunde liegen und dass dieser auch nicht ohne ausdriickliche Zustimmung des ersuchten Staates an eine dritten Staat ausgeliefert oder abgeschoben wird. Im vertraglichen Auslieferungsverkehr tritt der Spezialitatsschutz automatisch im vertraglich festgelegen Umfang ein. Dem Ausgelieferten muss ferner nach Abschluss des Strafverfahrens und einer etwaigen Strafvollstreckung eine Frist eingeraumt werden, innerhalb derer er den ersuchenden Staat verlassen kann, ohne den Schutz des Spezialitatsgrundsatzes zu verlieren. Andere, vor der Auslieferung begangene Straftaten des Ausgelieferten sind dadurch der Verfolgungs- und Vollstreckungsgewalt des ersuchenden Staates entzogen. Filr in Deutschland eingehende Auslieferungsersuchen bestimmt § 72 I IRG die Verbindlichkeit auslandischer Bedingungen fur deutsche Strafverfolgungsorgane. Spezialitatsvorbehalte, mit denen ein auslandischer Staat die Auslieferung des Verfolgten verbunden hat, sind daher von deutschen Behorden und Gerichten zu beachten155. Der Spezialitatsgrundsatz dient damit dem Ausgleich zwischen dem Interesse des ersuchenden Staates an umfassender Strafverfolgung einerseits und dem Schutz des Verfolgten vor ubermaBiger Beeintrachtigung andererseits. d) Auslieferungshindernisse Auch wenn alle oben genannten Voraussetzungen gegeben sind, kann Deutschland 76 eine Auslieferung ablehnen, wenn diese auf Grund der besonderen Umstande des Einzelfalles wesentlichen Grundsatzen des Volkerrechts oder der deutschen Rechtsordnung widersprechen wiirde (Vorbehalt des ,,ordre public"; § 73 IRG). Zu nennen sind hier folgende zentralen Auslieferungshindernisse:
AB1EG 2002 Nr. L 190, S. 1; vgl. hierzu das in Deutschland am 23. August 2004 in Kraft getretene Europaische Haftbefehlsgesetz (EuHbG) v. 21. Juli 2004 (BGB1. I 2004, 1748). Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 28, 94 ff.; Weigend, JuS 2000, 105, 109.
Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 98 ff.
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- Grundsatz der Nichtauslieferung eigener Staatsangehoriger (Art. 16 II S. 1 GG). Inzwischen ermoglicht allerdings eine Grundgesetzanderung prinzipiell die Auslieferang Deutscher an internationale Strafgerichtshofe und die Mitgliedstaaten der EU156 (§ 12 Rn. 35), - Drohende Todesstrafe im ersuchenden Staat157 (Art. 102, 2 II S. 1 GG; § 8 IRG)158, - Drohende iibermaltig harte Bestrafung, Folter oder unmenschliche Behandlung im ersuchenden Staat, die sich als VerstoB gegen Art. 3 EMRK darstellen (§ 3 Rn. 38 ff.)159, - Drohende rechtsstaatswidrige Verfolgung im ersuchenden Staat. Eine Auslieferung ist unzulassig, wenn ernstliche Griinde fur die Annahme bestehen, dass die verfolgte Person im Falle ihrer Auslieferung wegen ihrer Rasse, Religion, StaatsangehOrigkeit, Zugehorigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder ihrer politischen Anschauungen verfolgt, bestraft oder benachteiligt werden wttrde (§ 6 II IRG; Art. 3 II EuAlUbk)160, - Grundsatz der Nichtauslieferung bei politischen und militarischen Delikten (§§ 6 I, III, 7 I IRG; Art. 3 I, 4 EuAlUbk)161. Diese Vorbehalte werden indes durch moderne Instrumente der grenzuberschreitenden Zusammenarbeit in Europa eingeschrankt162 (§ 12 Rn. 18, 25), - Grundsatz der Nichtauslieferung bei fiskalischen Taten. Schon das 2. Zusatzprotokoll zu dem Europaischen Auslieferungsubereinkommen sowie nahezu alle modernen Ubereinkommen (vgl. Art. 63 SDU) haben die in Art. 5 EuAlUbk enthaltene fakultative Klausel der Verweigerung von RechtshilfemaBnahmen wegen der steuer- und zollrechtlichen Natur der Straftat so weit eingeschrankt, so dass dieser Vorbehalt kaum noch praktische Bedeutung hat, - Verjahrung. Die Auslieferung ist ausnahmslos unzulassig, wenn die Tat nach dem Recht des ersuchenden Staates verjahrt ist (§ 9 Nr. 2 IRG). Nach Art. 10 EuAlUbk kann die Auslieferung darilber hinaus abgelehnt werden, wenn die Vgl. Art. 1 des Gesetzes v. 29. November 2000 (BGB1. I, 1633); hierzu Uhle, NJW 2001, 1889. Von den 45 Europaratsstaaten konnen derzeit 44 die Todesstrafe in Friedenszeiten weder verhangen noch vollstrecken, da sie das 6. Zusatzprotokoll der EMRK ratifiziert haben. Einzige Ausnahme ist Russland, das noch kein Ratifikationssverfahren durchgeflihrt hat. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 119 ff.; Weigend, JuS 2000, 105, 108; Wolff, StV 2004, 154 ff. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 122 f; Ziegenhahn, Menschenrechte und grenziiberschreitende Zusammenarbeit, S. 409 ff. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 116. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, 2003, Rn. 113 ff; Weigend, JuS 2000, 105, 108. Vgl. insbesondere das Europaratsiibereinkommen zur Bekampfung des Terrorismus v. 27. Januar 1977 (ETS Nr. 90; BGB1. II 1978, 321, 907; 1989, 857; 1998, 1136) sowie das Ubereinkommen v. 27. September 1996 tiber die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU (AB1EG 1996 Nr. C 313, S. 11; BGB1. II 1998, 2253).
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Tat, deretwegen um Auslieferung ersucht wird, nach dem Recht des ersuchten Staates verjahrt ist. Auch nach Art. 62 I SDU ist auf die Verjahrungsfristen des ersuchten Staates abzustellen. Jedoch richtet sich die Frage der Unterbrechung der Verjahrung allein nach dem Recht des ersuchenden Staates163. Insoweit schafft der im Verhaltnis zu einigen EU-Staaten bereits vorzeitig anwendbare Art. 8 I EUAU (§ 12 Rn. 18) eine neue (auslieferungsfreundlichere) Rechtslage. Nach dieser Bestimmung dtlrfen dem Auslieferungsersuchen einer Vertragspartei nicht die Verjahrungsbestimmungen der ersuchten Vertragspartei entgegengehalten werden. In einigen bilateralen Erganzungsvertragen zum EuAlUbk fmden sich vergleichbare Regelungen164, Rechtskraftige Aburteilung derselben Tat im ersuchten Staat (§ 9 Nr. 1 IRG; § 9 EuAlUbk) in Form eines Gerichtsurteils oder einer qualifizierten, d. h. materielle Rechtskraft entfaltenden Verfahrenseinstellung (,,ne bis in idem")165. Das in Art. 54 SDU normierte transnationale Doppelbestrafungsverbot, das derzeit von 27 europalschen Staaten (25 EU-Staaten sowie Island und Norwegen) angewendet wird (§ 13 Rn. 13), bewirkt, dass auch die Aburteilung in einem Drittstaat innerhalb des gesamten Schengener Rechtsraumes zu einem Auslieferungshindernis filhrt166. 3. Auslieferungsverfahren a) Verfahrensweise nach einem Fahndungserfolg in Deutschland Wie sich das Auslieferungsverfahren nach einem Fahndungserfolg in Deutschland 77 praktisch gestaltet, lasst sich an dem folgenden Beispielsfall167 demonstrieren: Bei einer Verkehrskontrolle wird der danische Staatsburger Hansen angehalten. Eine Uberpriifung seiner Personalien ergibt, dass er von der Staatsanwaltschaft Liittich (Belgien) im Schengener Informationssystem (SIS) zur Fahndung ausgeschrieben ist. Der Ausschreibung liegt eine Verurteilung wegen Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Jahren zugrunde, der sich Hansen durch Flucht entzogen hat. Das im Marz 1995 eroffnete und mittlerweile in ganz Westeuropa (mit Aus- 78 nahme der Schweiz) einschlieBlich der am 1. Mai 2004 der EU beigetretenen Staaten etablierte SIS ist ein staatenilbergreifendes, computergestiltztes polizeiliches Fahndungssystem, das in den Vertragsstaaten des SDU (,,Fahndungsunion") den
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Zur Frage der Gleichstellung einer auf einem Ruhen bzw. einer Hemmung beruhenden Verjahrungsverlangerung mit einer Unterbrechung der Verjahrung vgl. BGH NStZ 2002, 661 m. Anm. Hecker, NStZ 2002, 663; OLG Stuttgart NStZ-RR 2001, 345. Vgl. z. B. Art. IV des am 1. Marz 2002 in Kraft getretenen deutsch-schweizerischen Erganzungsvertrages i. d. F. d. Anderungsvertrages v. 8. Juli 1999 (BGB1. II 2001, 961). Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 261 ff.; Weigend, JuS 2000, 105, 108. SchomburglLagodny, IRhSt, Einleitung Rn. 69; Art. 54 SDU Rn. 4. Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 62.
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Online-Zugriff auf polizeiliche Fahndungsdaten ermoglicht168 (§ 5 Rn. 50 ff.). Das Bundeskriminalamt (BKA) als deutsche SIRENE (Supplementary Information Request at the National Entry) erhalt automatisch aufgrund der Abfrage im nationalen Fahndungssystem eine Treffermeldung, die iiber den SIS-Zentralrechner in StraBburg auch die belgische SIRENE erreicht. Diese informiert die zustandigen belgischen Justizbehorden, welche nunmehr die Auslieferung gegen Hansen betreiben miissen. Das BKA erstellt eine Ubersetzung der Rubriken ,,Sachverhaltsbeschreibung" und ,,Beschreibung des Tatvorwurfs" in dem Begleitpapier zur SIS-Fahndung und iibersendet das in franzosischer Sprache verfasste Papier nebst iibersetzten Teilen an die fur die Festnahme verantwortliche Polizeidienststelle. Zugleich wird das zustandige Landeskriminalamt informiert, das seinerseits die nach §§ 13 II, 141IRG sachlich und Ortlich zustandige Generalanwaltschaft sowie das Landesjustizministerium unterrichtet. Die Ausschreibung von Hansen im SIS beruht auf Art. 95 SDU, erfolgte also mit dem Ziel der Festnahme zum Zwecke der anschlieBenden Auslieferung. Nach Art. 64 SDU steht eine Ausschreibung gem. Art. 95 SDU einem Ersuchen um vorlaufige Festnahme i. S. d. Art. 16 EuAlUbk gleich. Die Polizeibeamten werden Hansen daher nach § 19 IRG vorlaufig festnehmen. Nach § 22 IRG ist Hansen unverzuglich, spatestens am Tage nach seiner Festnahme, dem zustandigen Haftrichter am Amtsgericht vorzufuhren und von diesem zu vernehmen. Dabei wird Hansen daruber belehrt, dass er sich der Unterstiitzung eines Beistandes (§ 40 IRG) bedienen kann und es ihm freisteht, sich zum Tatvorwurf zu auBern. Aufierdem erhalt er Gelegenheit, zu seiner vorlaufigen Festnahme Stellung zu nehmen und Einwendungen gegen seine Auslieferung zu erheben. Erhebt er keine Einwendungen, ist er auch iiber die Moglichkeit des vereinfachten Auslieferungsverfahrens169 und dessen Rechtsfolgen zu belehren. Wenn der Haftrichter sich von der Identitat Hansens und davon ilberzeugt hat, dass sich die belgische Ausschreibung auf ihn bezieht, ordnet er an, dass Hansen bis zur Entscheidung des OLG iiber die Anordnung der vorlaufigen Auslieferungshaft170 festzuhalten ist (§ 22 III S. 2 IRG), welche die zustandige Generalstaatsanwaltschaft unverzuglich herbeizufuhren hat (§ 22 III S. 3 i. V. m. § 21 IV S. 2 IRG). Fur Hansen ist diese Entscheidung unanfechtbar (§ 22 III S. 3 i. V. m. § 21 VII IRG). Von der Festnahmeentscheidung ist die belgische Seite zu unterrichten, was die Generalstaatsanwaltschaft - sinnvollerweise liber das BKA und die belgische SIRENE - sicherstellt.
Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 224; GlefilLuke, JURA 1998, 70, 74 f.; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 77; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 143 ff. Im vereinfachten Auslieferungsverfahren, das nur mit Zustimmung des Verfolgten durchgefuhrt wird, entfallt das Zulassigkeitsverfahren vor dem OLG; vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 86 ff. Sie dient der Sicherung des Auslieferungsverfahrens; vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 69 ff.
B. Transnationales Strafrecht
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b) Formliches Auslieferungsverfahren in Deutschland Das formliche Auslieferungsverfahren beginnt, wenn der die Ubergabe einer ver- 79 folgten Person begehrende (ersuchende) Staat mit einem schriftlichen Auslieferungsersuchen an die zustandige deutsche Stelle (ersuchter Staat) herantritt. Nach Art. 12 1 EuAlUbk sind Auslieferungsersuche grundsatzlich auf dem diplomatischen Weg zu ubermitteln. Art. 2 des 2. Zusatzprotokolls zum EuAlUbk erlaubt jedoch die Ubersendung unmittelbar an das Bundesministerium der Justiz und Art. 62 SDU sogar an das zustandige Landesjustizministerium. Da fur Belgien und Deutschland das SDU gilt, wird das belgische Justizministerium im obigen Beispielsfall das Ersuchen um die Auslieferung Hansens direkt an das zustandige deutsche Landesjustizministerium richten. Der weitere Verfahrensgang richtet sich im vertraglichen wie im vertragslosen 80 Auslieferungsverkehr nach den Bestimmungen der §§ 10 ff. IRG. Das Verfahren der Auslieferung ist zweistufig ausgestaltet. Einem justiziellen Zulassigkeitsverfahren schlieBt sich ein ministerialbehordliches Bewilligungsverfahren an. In dieser Zweistufigkeit gelangt zum einen die rechtliche und politische Dimension der Auslieferung zum Ausdruck. Zum anderen ist sie durch die Aufgabenverteilung zwischen Bund und Landern bedingt: Die Strafrechtspflege obliegt den Landern (Art. 74 I Nr. 1 GG), wahrend die Pflege der auswartigen Beziehungen nach Art. 32 I GG eine Bundesangelegenheit darstellt. Zunachst iiberpruft das OLG, in dessen Bezirk der Verfolgte ergriffen oder er- 81 mittelt worden ist (§§ 13, 14 IRG) die rechtliche Zulassigkeit der Auslieferung. Das Zulassigkeitsverfahren dient der Prilfung, ob die unabdingbaren Rechtshilfevoraussetzungen erfullt sind und keine Auslieferungshindernisse bestehen. Vorbereitet und durchgefuhrt werden die Entscheidungen des OLG von der Generalstaatsanwaltschaft (§ 13 II IRG). Vor der Entscheidung des OLG erhalt der Verfolgte rechtliches Gehor vor dem Amtsgericht, in dessen Bezirk er sich aufhalt (§§ 28, 41 IRG). Eine Vemehmung zum Gegenstand der Beschuldigung entfallt, wenn er dem vereinfachten Auslieferungsverfahren (§ 41 IRG) zugestimmt hat. Das OLG entscheidet nach miindlicher Verhandlung durch Beschluss (§§ 31, 32 I IRG). Erklart es die Auslieferung fur unzulassig, so ist die Bewilligungsbehorde hieran gebunden (§ 13 I S. 2 IRG). Auch im umgekehrten Fall ist die Entscheidung nach der ausdriicklichen Bestimmung des § 13 I S. 2 IRG unanfechtbar. Der Verfolgte kann sich nur noch im Wege einer Verfassungsbeschwerde wehren, indem er vor dem BVerfG geltend macht, die Entscheidung des OLG verletze ihn in seinen Grundrechten. Das OLG kann jedoch erneut entscheiden, wenn nach seiner Entscheidung Umstande eingetreten sind, die Anlass zu einer abweichenden Beurteilung geben konnten (§ 33 IRG). Liegt nach Abschluss des Zulassigkeitsverfahrens ein Beschluss des OLG vor, 82 der die Auslieferung des Verfolgen fur zulassig erklart, so erstattet die Generalstaatsanwaltschaft dem Landesjustizministerium hierilber Bericht und fugt den Gerichtsbeschluss bei. Damit beginnt das Bewilligungsverfahren. Da das Bundesministerium der Justiz die Ausiibung seiner Bewilligungskompetenz durch eine Zustandigkeitsvereinbarung auf die Landesjustizverwaltungen iibertragen hat, soweit Auslieferungsersuchen auf eine volkerrechtliche Vereinbarung gestiitzt werden, fungieren im vertraglichen Rechtshilfeverkehr die Landesjustizministerien als
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenziiberschreitenden Bezugen
Bewilligungsbehorden. Das zustandige Landesjustizministerium oder eine von ihm beauftragte Behorde (z. B. Delegation auf die Generalstaatsanwaltschaft) trifft eine endgiiltige Entscheidung tiber die Auslieferung, wobei ihm mit Rticksicht auf auBen- und allgemeinpolitische Erwagungen ein weiter Beurteilungs- und Ermessensspielraum zusteht171. Auch die Bewilligungsbehorde ist verpflichtet, die Zulassigkeit der Auslieferung selbstandig zu priifen und darf sich nicht ohne weiteres auf das Ergebnis der gerichtlichen Prilfung verlassen. Die Ablehnung des Auslieferungsersuchens beendet das Verfahren und verbraucht das Ersuchen, was allerdings ein erneutes Gesuch in gleicher Sache nicht hindert172. Ob der Verfolgte die Bewilligung seiner Auslieferung - ein Verwaltungsakt - gerichtlich anfechten kann, ist umstritten173. Das BVerfG hat sich in einem neueren Beschluss auf den Standpunkt gestellt, eine gesonderte Anfechtung der Bewilligung nach Art. 19 IV GG komme nicht in Betracht, da der Bewilligungsbehorde ein nicht justiziabler auBen- und allgemeinpolitischer Beurteilungsspielraum zugestanden werden miisse174. 83 Das gouvernementale Bewilligungsverfahren als Element des traditionellen Auslieferungsverkehrs wird im Anwendungsbereich des Europaischen Haftbefehls175 abgeschafft werden (§ 12 Rn. 19 ff.). Demnach soil nur noch die zustandige Justizbehorde eines EU-Mitgliedstaates uber die Auslieferung (ktinftig ,,Ubergabe") einer Person entscheiden. Das Ubergabeverfahren wird dann ausschlieBlich und direkt zwischen den beteiligten Justizbehorden abgewickelt. III. Literaturhinweise v. Bubnoff, Auslieferung, Verfolgungsubernahme, Vollstreckungshilfe - Ein Handbuch fur die Praxis, 1998, passim HacknerlSchomburglLagodnylWolf, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen - Ein Leitfaden fur die Praxis, 2003, passim Lagodny, Anmerkung zu BVerfGE 96, 100, JZ 1998, 568 Vogler, Der Schutz der Menschenrechte bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, ZStW 105 (1993), S. 3 Weigend, Grundsatze und Probleme des deutschen Auslieferungsrechts, JuS 2000, 105 Wolff, Die verfassungsrechtlichen Auslieferungsverbote, StV 2004, 154 Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenziiberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, 2002, passim 171
172 173
174 175
Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 68; Weigend, JuS 2000, 105, 109. BVerfGE 50, 244, 250. Ablehnend GriitznerlPotz, International Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., § 12 IRG Rn. 20 ff; VoglerlWilkitzki, Gesetz uber die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, Loseblatt, § 12 IRG Rn. 21-24; befurwortend OVG Berlin StV 2002, 87, 88. BVerfGE 96, 100, 118; krit. hierzu Lagodny, JZ 1998, 568. Vgl. hierzu Rahmenbeschluss uber den Europaischen Haftbefehl und die Ubergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (AB1EG 2002 Nr. L 190, S. 1).
C. Volkerstrafrecht
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IV. Rechtsprechungshinweise BVerfGE 96, 100 (gerichtliche Uberprufbarkeit der Bewilligungsentscheidung)
C. Volkerstrafrecht Vom Europaischen Strafrecht abzugrenzen ist schlieBlich das Volkerstrafrecht. 84 Im Gegensatz zu den Normen des Volkerstrafrechts hat das Europaische Strafrecht noch nicht die Entwicklungsstufe eines echten supranationalen Strafrechts (,,International Criminal Law", ,,Droit penal international") erreicht176. Die dem Europaischen Strafrecht zuzuordnenden Tatbestande vermogen in der Regel keine unmittelbare - ohne Transformation in nationales Recht bestehende - individuelle strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begrilnden (zu den wenigen Ausnahmetatbestanden eines echten Gemeinschaftsstrafrechts vgl. § 7 Rn. 8 ff).
I. Beg riff und Funktion des Volkerstrafrechts Seitdem auch natilrlichen Personen (und nicht nur Staaten) grundsatzlich die Fa- 85 higkeit zuerkannt wird, unmittelbare Trager volkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein, ist die Entwicklung eines Volkerstrafrechts moglich177. Dem Volkerstrafrecht zuzuordnen sind alle universell geltenden Normen, die eine unmittelbare strafrechtliche Verantwortung von Individuen durch Volkerrecht konstituieren178. Synonym werden auch die Begriffe ,,volkerrechtliches Strafrecht"179, ,,materielles internationales Strafrecht"180 oder ,,Verbrechen gegen das Volkerrecht"181 verwendet. Mit volkerstrafrechtlichen Tatbestanden haben wir es also zu tun, wenn diese der Volkerrechtsordnung entstammen, individuell vorwerfbares Unrecht beschreiben und als Rechtsfolge eine Strafe androhen, wobei die Strafbarkeit ihren Geltungsgrund im Volkerrecht selbst findet, also unabhangig von der Transformation des Tatbestandes in die staatliche Rechtsordnung besteht. Das Volkerstrafrecht schiitzt den ,,Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt" als die hochsten Guter der Volkergemeinschaft. Anerkannte Volkerrechtsverbrechen sind die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, V61kermord und das Aggressionsverbrechen (sog. ,,Kernverbrechen"; international crimes")182. Der Angriff auf fundamentale Interessen der Volkergemeinschaft 176 177
178 179 180 181 182
MuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 5; Satzger, Europaisierung, S. 57 ff. Vgl. hierzu nur Ahlbrecht, Geschichte der volkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 19 ff.; Triffterer, ZStW 114 (2002), S. 321, 327 ff.; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 2 ff. Vgl. hierzu nur Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 71 ff. m. w. N. Hoffmann, Strafrechtliche Verantwortung im Volkerrecht, 1962, S. 21 ff. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, Rn. 2. Schindler, Crimes Against the Law of Nations, EPIL I, 1992, S. 875 ff. Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 73, 100; Wilkitzki, ZStW 99 (1987), S. 455, 465 ff.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzilberschreitenden Beziigen
riickt diese Straftaten in eine globale Dimension und macht sie zu VOlkerrechtsverbrechen. Streitig diskutiert wird derzeit, ob tiber die genannten Kernverbrechen hinaus weitere Delikte, wie z. B. intemationaler Rauschgifthandel oder Terrorakte, direkt nach Volkerrecht strafbar sind. Das Volkerstrafrecht berilcksichtigt, dass sich jede Volkerrechtsverletzung letztlich auf das Verhalten von Individuen zuruckfuhren lasst und zielt darauf ab, zu verhindem, dass diese sich - wenn sie als staatliche Organe oder im Auftrag eines Staates gehandelt haben - hinter dem Schutzschild der Immunitat bzw. staatlicher Souveranitat verbergen konnen. Die volkerrechtliche Ponalisierung bestimmter, besonders schwerer Menschenrechtsverletzungen verstarkt die auf intemationaler Ebene bestehenden, nichtstrafrechtlichen Schutzmechanismen und dient damit dem Schutz der Menschenrechte 183 .
86
Solange die Volkergemeinschaft nicht iiber eine eigene Strafgerichtsbarkeit verfugte, erfolgte die Durchsetzung des Volkerstrafrechts im wesentlichen durch die nationalen Organe der Staaten, die ihre Zustandigkeit zur Strafverfolgung durch Annahme eines entsprechenden innerstaatlichen Rechtsakts erklart haben (,,Indirect Enforcement Model")- Eine Strafverfolgung durch internationale Organe (,,Direct Enforcement Model") fand bislang nur in historischen Ausnahmesituationen statt. Zu denken ist etwa an die Internationalen Kriegsverbrechertribunale von Niirnberg und Tokio (^International Military Tribunals" IMT)184 oder an die Einrichtung von Internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshofen zur Verfolgung schwerer Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawlen (1993)185 bzw. in Ruanda (1995)186. Diese internationalen Strafgerichte urteilen auf der Grundlage von Straftatbestanden, die in ihren jeweiligen Statuten187 geregelt und demgemaB dem Volkerrecht zugeordnet sind.
II. Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) 87 Mussten fur die Bewaltigung der Verbrechen und Massaker in Ruanda und dem ehemaligen Jugoslawien noch Ad-hoc-Gerichte auf der Grundlage von Kapitel VII der UN-Charta als MaBnahme ,,zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" etabliert werden, so bietet das IStGH-Statut (Statut von Rom), durch welches die 120 Unterzeichnerstaaten am 17. M i 1998 die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH; Weltstrafgerichtshof) mit Sitz in Den Haag beschlossen haben, eine bislang beispiellose, zukunftsweisende Mog-
183 184
185 186 187
Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 110 ff. m. w. N. Ahlbrecht, Geschichte der volkerrechtlichen Strafgerichtsbarkeit im 20. Jahrhundert, 1999, S. 124 ff.; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 14 ff. jew. m. w. N Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 47 ff. Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 53 f. Die Statuten der Internationalen Strafgerichtshofe sind abgedruckt bei SchomburglLagodny, IRhSt, VI. A und VI. B.
C. Volkerstrafrecht
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lichkeit zur Aburteilung von Volkerrechtsverbrechen188. Nur sieben Staaten, namentlich die USA, China, Israel, Irak, Libyen, Jemen und Katar, lehnten das Statut ab. 21 Staaten enthielten sich der Stimme. Mit Hinterlegung der 60. Ratifikationsurkunde ist das IStGH-Statut am 1. Juli 2002 in Kraft getreten und damit der Weltstrafgerichtshof am gleichen Tag errichtet worden189. Derzeit haben 139 Staaten das Statut gezeichnet, 97 sind ihm bereits beigetreten190. Die Errichtung eines Weltstrafgerichtshofes, der am 11. Marz 2003 in Den 88 Haag seine Arbeit aufgenommen hat, bedeutet einen Quantensprung in der Entwicklung einer Volkerstrafgerichtsbarkeit. Der IStGH ist zustandig fur die Aburteilung von Verbrechen des Volkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggression, die seit dem 1. Juli 2002 auf dem Gebiet eines Vertragsstaates oder durch Angehorige eines Vertragsstaates begangen worden sind191. Mit dem Inkrafttreten des IStGH-Statuts haben die langer als ein Jahrhundert wahrenden Bemilhungen um eine standige internationale Strafgerichtsbarkeit einen historischen Hohepunkt erreicht192. Das Statut umfasst im Ganzen 13 Teile mit insgesamt 128 Artikeln. Geregelt werden Gerichtsorganisation, Straftatbestande, allgemeine Strafrechtsprinzipien, Strafverfahrensrecht sowie die Zusammenarbeit der Staaten mit dem IStGH bei Strafverfahren und Strafvollstreckung193. Die Hauptfunktion des Weltstrafgerichtshofes ist es, Individuen fur solche Verbrechen verantwortlich zu machen, die nicht nur die unmittelbaren Opfer selbst, sondern die internationale Staatengemeinschaft als solche beriihren, weil diese Verbrechen die Grundlagen eines friedlichen und menschenwtirdigen Zusammenlebens der Menschen innerhalb ihrer jeweiligen Volksgemeinschaft sowie der Volker untereinander untergraben. Das Statut ist dementsprechend auf die Wahrung des Weltfriedens zugeschnitten und normiert in Art. 5 die vier Kerntatbestande des Volkerstrafrechts. Entgegen der bisherigen Tradition der Volkerstrafgerichtsbarkeit werden die Volkerstraftaten nicht lediglich durch Zustandigkeitstitel angedeutet, die der Ausfullung durch das Volkergewohnheitsrecht bedilrfen. Vielmehr werden die einzelnen Tatbestande in den Art. 6-8 in fast 70 Untertatbestande aufgegliedert und ausformuliert. Damit macht das Volkerstrafrecht einen gewichtigen Schritt in die Richtung kontinentaler Bestimmtheitsanforderungen194. Dieser Entwicklungs188
189 190
191
192 193 194
Der Text des IStGH-Statuts findet sich im Original und in deutscher Ubersetzung inBT-Drs. 14/2682, S. 9 ff. (Sartorius II Nr. 35); vgl. aus der reichhaltigen Literatur exempl. Ambos, ZStW 111 (1999), S. 176; ders., NJW 1998, 3743; Fastenrath, JuS 1999, 632; Gil Gil, ZStW 112 (2000), S. 381; Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 1-365; Satzger, NStZ 2002, 125; SeidellStahn, JURA 1999, 632. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 8; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 65, 202. Stand: 12/04; Der aktuelle Ratifikationsstand kann abgerufen werden unter http://www.un.org/law/icc/statute/romefra.htm. Fur Staaten, die erst nach Inkrafttreten des Statuts beigetreten sind, ist der Zeitpunkt maBgeblich, zu dem das Statut fur diesen Staat Geltung beansprucht; vgl. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 17; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 202. Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 56 ff. m. w. N. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 10. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 31 ff.; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 68.
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schritt wird in Art. 22 I IStGH-Statut gewissermaBen formlich besiegelt, indem der IStGH darauf festgelegt wird, nur auf der Grundlage der im Statut niedergelegten Tatbestande zu judizieren (spezielles ,,nullum crimen sine lege"-Prinzip). Besonders innovativ ist ferner die Weiterentwicklung der ,,general principles" des Volkerstrafrechts, die einem ,,Allgemeinen Teil" nahe kommen. 89 Die Zustandigkeit des IStGH ,,ratione personae", also die Frage, welche Personen der Strafgewalt des Weltstrafgerichtshofes unterliegen, war die umstrittenste Frage der Verhandlungen195. Das von Deutschland favorisierte Modell automatischer und universeller Zustandigkeit des IStGH vermochte sich ebenso wenig durchzusetzen wie das restriktive Modell, jedes einzelne Strafverfahren von der Zustimmung des betroffenen Staates (Heimatstaat des Beschuldigten; Tatortstaat) abhangig zu machen. Der gefundene Kompromiss, von dem das Statut ausgeht, sieht vor, dass der IStGH zustandig ist, sofern der Tatortstaat oder der Heimatstaat des Taters das Statut ratifiziert haben (Art. 5 i.V.m. Art. 12 IStGH-Statut)196. Folglich unterfallen auch Staatsangehorige von Nichtvertragsstaaten unter das Zustandigkeitsregime des IStGH, wenn sie eine Volkerstraftat auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen haben. Das allgemeine Zustandigkeitsregime wird durch die sog. ,,sicherheitsratsgestiitzte Zustandigkeit" nach Art. 12, 13 IStGH-Statut ilberlagert und erweitert197. Im Falle einer Verfahrensauslosung durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen im Rahmen von Kapitel VII der UN-Charta besteht demnach keine Schranke fur die Ausiibung der IStGH-Zustandigkeit198. Der Sicherheitsrat hat es somit in der Hand, die Zustandigkeit des IStGH fur die Verfolgung von Nichtvertragsstaatsangehorigen zu begrilnden, die im Verdacht stehen, in einem Nichtvertragsstaat Volkerrechtsverbrechen begangen zu haben199.
III. Durchsetzung des Volkerstrafrechts 90 Das IStGH-Statut geht von einer zweifachen Durchsetzungsmoglichkeit des Volkerstrafrechts aus - einer direkten und einer indirekten200. Zum einen erOffnet es den Weg fur eine Aburteilung volkerstrafrechtlicher Delikte auf internationaler Ebene durch den IStGH. Zum anderen la'sst es den Weg offen fur eine Durchsetzung des Volkerstrafrechts durch die Vertragsstaaten. Der IStGH soil die nationale Strafgerichtsbarkeit also nicht ersetzen, sondern erganzen. Erreicht wird dies durch die Festschreibung des Grundsatzes der Komplementaritat, wonach die nationale Strafgerichtsbarkeit Vorrang vor der des Weltstrafgerichtshofes genieBt (Art. 17-19 IStGH-Statut)201. Der IStGH darf seine Gerichtsbarkeit erst ausiiben, wenn ein Vertragsstaat nicht fahig oder willens ist, die Strafverfolgung 195 196 197 198 199 200 201
Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 11 ff. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 12; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 202. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 16, 19; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 202. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 16, 19. Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 63, dort Fn. 120. Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 195 ff. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 22 ff; Satzger, NStZ 2002, 125 f.
C. Volkerstrafrecht
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ernsthaft zu betreiben (Art. 17 IStGH-Statut). Unwillig ist ein Staat, wenn die Strafverfolgung nur zum Schein erfolgt, wenn das Verfahren nicht unabhangig und unparteiisch gefuhrt wird imd sich mit dem wirklichen Willen der Strafverfolgung nicht vereinbaren lasst. Unfahigkeit zur Strafverfolgung liegt vor, wenn das nationale Justizsystem ganz oder teilweise zusammengebrochen ist bzw. nicht zur Verfugung steht und daher eine ordnungsgemaBe Strafverfolgung nicht moglich ist. Dabei liegt die Entscheidung daruber, ob der jeweilige Staat ernsthaft verfolgen kann oder will, beim IStGH202. Die Hauptlast der Durchsetzung des Volkerstrafrechts wird im Lichte des Komplementaritatsprinzips nicht beim IStGH und wohl auch nicht bei den Tatortstaaten, sondern bei verfolgungsbereiten Drittstaaten liegen. Das System konkurrierender Zustandigkeit zwischen IStGH und Verfolgungsstaaten nach Art. 17 f. IStGH-Statut wird in Art. 20 IStGH-Statut durch eine ne bis in idem-Regelung vervollstandigt203. Bekanntlich nehmen die USA eine unverandert ablehnende Haltung gegenilber 91 dem IStGH ein204. Im Kern haben die USA ihre Nein-Stimme von Rom mit der Moglichkeit begrundet, dass der Weltstrafgerichtshof unter Umstanden seine Zustandigkeit auch auf amerikanische Soldaten ausuben konne. Die USA halten dies fur unvereinbar mit ihrer ilbergeordneten Aufgabe als Zentralmacht internationaler Friedenssicherung und -durchsetzung. Diesen, in dem Selbstverstandnis als Weltfriedensmacht wurzelnden politischen Bedenken der USA, ist freilich entgegenzuhalten, dass die Furcht vor dem IStGH schon deshalb unbegriindet ist, weil das im Statut verankerte Komplementaritatsprinzip jedem Staat die Moglichkeit einraumt, die Strafverfolgung von Volkerrechtsverbrechen eigener Staatsangehoriger selbst in die Hand zu nehmen und damit ein Verfahren vor dem IStGH auszuschlieBen205. Deutschland hat die Entwicklung, die zum Abschluss des IStGH-Statuts fuhrte, 92 auf internationalem Parkett mit groBem Engagement gefordert206. Mit Erlass des zur Ratifikation erforderlichen IStGH-Statutsgesetzes207 sowie mit der Anderung des Art. 16 II GG208, wodurch gewahrleistet wird, dass auch deutsche Staatsangehorige an den IStGH tiberstellt werden konnen, hat der deutsche Gesetzgeber wesentliche Schritte zur Ermoglichung der Arbeitsaufnahme des Weltstrafgerichtshofes unternommen. Zeitgleich mit dem IStGH-Statut ist am 1. Juli 2002 schlieBlich 202 203
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205 206
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208
Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 29; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 200. Vgl. hierzu Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 29 und Thomas, Das Recht auf Einmaligkeit der Strafverfolgung — Vom nationalen zum internationalen ne bis in idem, 2002, S. 109. Die U S A haben inzwischen ihre vom damaligen Prasidenten Clinton geleistete Unterschrift zuruckgezogen; vgl. Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 65, 125. Krefi, N S t Z 2000, 617, 618. Vgl. zur Entwicklungsgeschichte des IStGH-Statuts Krefi, IStGH Vor III 2 6 Rn. 1 ff. und Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 59 ff., 220. BGB1. II 2000, 1393. Die Hinterlegung der Ratifikationsurkunde beim Generalsekretar der UN erfolgte am 1 l.Dezember 2000. BGB1. I 2000, 1633; vgl. hierzu Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 372; Zimmermann, JZ 2001, 209 ff.
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das Ausflihrungsgesetz (RSAG)209 in Kraft getreten, welches die Zusammenarbeit Deutschlands mit dem IStGH regelt. IV. Deutsches Volkerstrafgesetzbuch (VStGB) 93 Am 30. Juni 2002, einen Tag vor dem IStGH-Statut, ist das Volkerstrafgesetzbuch (VStGB) vom 26. Juni 2002 in Kraft getreten210. Mit dieser Kodifikation wird das materielle Strafrecht Deutschlands an die Bestimmungen des IStGHStatuts angepasst und damit zugleich ein ,,deutsches Volkerstrafrecht" begriindet. Das IStGH-Statut verpflichtet die Vertragsstaaten nicht zur Aufhahme von Volkerstraftatbestanden in ihr nationales Recht. Die Implementierung von VOlkerstraftaten in deutsches Strafrecht soil jedoch nach dem erklarten Willen des deutschen Gesetzgebers vor dem Hintergrund des Komplementaritatsprinzips (Rn. 90) sicherstellen, dass Deutschland stets in der Lage ist, die in die Zustandigkeit des IStGH fallenden Verbrechen selbst verfolgen zu konnen. Das spezifische Unrecht der Verbrechen gegen das Volkerrecht soil erfasst und Deckungslticken zwischen deutschem Strafrecht und Volkerstrafrecht vermindert werden211. Da das im deutschen Verfassungsrecht verankerte Gesetzlichkeitsprinzip (Art. 103 II GG) eine deutsche Strafverfolgung der volkergewohnheitsrechtlich anerkannten Tatbestande des IStGH-Statuts ausschlieBt, solange diese nicht in einem formlichen Gesetz geregelt sind212, stand der Gesetzgeber nur vor der Wahl, das bestehende StGB durch Einfugung neuer Straftatbestande zu erweitem oder eine einheitliche Kodifikation zu schaffen. Aus uberzeugenden Grilnden hat er sich fur die letztgenannte LOsung entschieden213. Zum einen kommt durch ein eigenstandiges Gesetzeswerk der besondere Stellenwert der Rechtsmaterie zum Ausdruck, zum anderen kann ihren Eigenarten besser Rechung getragen werden. Fur eine eigenstandige Kodifikation spricht nicht zuletzt auch die bessere Ubersichtlichkeit und praktische Handhabbarkeit des komplexen Rechtsstoffes. Das VStGB kodifiziert die volkergewohnheitsrechtlich geltenden Volkerstraftatbestande in enger Anlehnung an das IStGH-Statut, wobei § 220 a StGB a. F. (VOlkermord) mit marginalen Anderungen in das neue Gesetzeswerk ubernommen wurde.
209 210
211 212 213
BGB1. I 2002, 2144; vgl. hierzu Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 373; Maclean, ZRP 2002, 260 ff. BGB1. I 2002, 2254 (abgedruckt in Trondle/Fischer, Anhang 2); eingehend hierzu Satzger, NStZ 2002, 125; Werle/Jefiberger, JZ 2002, 725; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 215 ff.; Zimmermann, NJW 2002, 3068. Zu den Vorarbeiten am VStGB vgl. Krefi, Vom Nutzen eines deutschen Volkerstrafgesetzbuches, 2000, passim; Werle, JZ 2001, 885. Eine vollstandige Deckungsgleichheit wird mit dem VStGB nicht erreicht; vgl. Satzger, NStZ 2002, 125, 127 ff. Vgl. hierzu nur Satzger, N S t Z 2002, 125, 126. Vgl. den entsprechenden Vorschlag von Krefi, V o m Nutzen eines deutschen Volkerstrafgesetzbuches, 2000, passim; teilweise a. A . Dietmeier, in: Graul/Wolf (Hrsg.), Meurer-Gedachtnisschrift, 2002, S. 333 ff.
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1. Strafanwendungsrecht des VStGB Die wohl bedeutsamste Einzelfrage des VStGB betrifft seinen internationalen 94 Anwendungsbereich. Nach § 1 VStGB gilt dieses Gesetz fur alle in ihm bezeichneten Straftaten gegen das Volkerrecht, fur die in ihm bezeichneten Verbrechen auch dann, wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist. Damit ordnet das VStGB fur alle Verbrechenstatbestande die uneingeschrankte Geltung des Weltrechtsprinzips an (vgl. Rn. 51 f). Auf Volkerrechtsverbrechen ist damit deutsches Strafrecht stets anwendbar, gleichgultig, wo, von wem oder gegen wen die Taten begangen worden sind214. Die Rechtsprechung des BGH215, nach der die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts von dem Nachweis eines legitimierenden Anknilpfungspunktes abhange, der einen unmittelbaren Bezug der Strafverfolgung zum Inland herstellt (z. B. standiger Aufenthalt des Taters in Deutschland), ist insoweit gegenstandslos geworden216. § 1 VStGB wird durch die Regelung des § 153 f I-III StPO flankiert, die eine Einstellungsmoglichkeit fur deutsche Strafverfolgungsorgane vorsieht, wenn der Inlandsbezug fehlt oder wenn vorrangige Gerichtsbarkeiten im Spiel sind. Die Anordnung des uneingeschrankten Weltrechtsprinzips auf alle Verbrechen 95 des VStGB wirkt sich aber auch begrenzend auf die Zustandigkeit der deutschen Strafgewalt aus. Das Weltrechtsprinzip legitimiert die Anwendung des VStGB auf Auslandstaten ohne Inlandsbezug namlich nur insoweit, als es sich bei den dort defmierten Verbrechen zugleich um volkerrechtlich anerkannte Verbrechen handelt. Wiirde der deutsche Gesetzgeber nicht nur volkerrechtskonkretisierend, sondern volkerrechtsfortbildend tatig werden, so ware die Anwendung des Weltrechtsprinzips nicht mehr zu rechfertigen und ein sonstiger inlandischer Ankniipfungspunkt erforderlich, da ansonsten gegen das volkerrechtliche Nichteinmischungsgebot (Rn. 10 ff.) verstoBen wiirde217.
2. Allgemeiner Teil des VStGB Der Allgemeine Teil umfasst nur wenige Paragraphen (§§ 1-5 VStGB). § 2 96 VStGB erklart als ,,zentrale Umschaltnorm"218 die Bestimmungen des allgemeinen Strafrechts fur anwendbar, wenn das VStGB keine Sonderregelung trifft. Das VStGB bleibt also laut Grundentscheidung des § 2 VStGB in die Materie des allgemeinen Strafrechts eingebettet, indem grundsatzlich die Vorschriften des StGB 214
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Gil Gil, Z S t W 112 (2000), S. 3 8 6 f.; Satzger, N S t Z 2002, 125, 131; Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 230. B G H S t 45, 64, 66; vgl. hierzu Satzger, N S t Z 2002, 125, 131 und Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 230. Vgl. zur rechtlichen Argumentation gegen das Erfordernis eines inlandischen Ankniipfungspunktes bei internationalen Kernverbrechen Ambos, N S t Z 1999, 406; Krefi, N S t Z 2000, 617, 624 f.; Satzger, N S t Z 2002, 125, 131; Werle, JZ 1999, 1181, 1182 f.; WerlelJefiberger, JuS 2 0 0 1 , 141, 142; MiiKoStGB/'Ambos, § 6 Rn. 5; vgl. neuerdings auch B G H S t 46, 292, 307. Satzger, NStZ 2002, 125, 131 f. Werle, JZ 2001, 886; ders., Volkerstrafrecht, 2003, Rn. 229.
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Beziigen
anwendbar sind, soweit das VStGB nichts Abweichendes vorsieht. Die Sonderregelungen betreffen das Strafanwendungsrecht (§ 1 VStGB), das Handeln auf Befehl (§ 3 VStGB), die Verantwortlichkeit militarischer Befehlshaber und sonstiger Vorgesetzter (§ 4 VStGB) sowie die Verjahrung (§ 5 VStGB sieht die Unverjahrbarkeit der Verfolgung von nach diesem Gesetz begangenen Verbrechen vor). Fragen zu Vorsatz, Irrtum, Notwehr, Notstand, Taterschaft und Teilnahme sowie Unterlassen sind anhand der Bestimmungen des StGB zu beantworten.
3. Besonderer Teil des VStGB 97 In §§ 6-14 VStGB werden die einzelnen Volkerstraftaten in einem Besonderen Teil normiert. Dem IStGH-Statut entsprechend enthalt der Besondere Teil in § 6 VStGB den Tatbestand des Volkermords, der frtiher in § 220 a StGB verankert war. Zu beachten ist, dass sich der Begriff des Volkermordes zum Teil weit von dem Begriff des Mordes entfernt, den der deutsche Rechtsanwender aus § 211 StGB kennt219. Exemplarisch sei § 6 I VStGB (Volkermord) zitiert: ,,Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiose oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstoren, 1. ein Mitglied der Gruppe totet, 2. einem Mitglied der Gruppe schwere korperliche oder seelische Schaden, insbesondere der in § 226 StGB bezeichneten Art, zufligt, 3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre korperliche Zerstorung ganz oder teilweise herbeizufuhren, 4. MaBregeln verhangt, die Geburten innerhalb der Gruppe verhindern sollen, 5. ein Kind der Gruppe gewaltsam in eine andere Gruppe uberfuhrt, wird mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft." 98 Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden in § 7 VStGB normiert. Dabei
wird ein Katalog von Einzeltaten (z. B. Totung eines Menschen, Versklavung, Vertreibung, Folter, Vergewaltigung, Notigung zur Prostitution usw.) unter Strafe gestellt, wenn diese Taten im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevolkerung begangen werden220. In den §§ 8-12 VStGB sind Kriegs- und Biirgerkriegsverbrechen normiert, also Straftaten, die im Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt begangen werden221. Die §§ 13-14 VStGB enthalten Sondervorschriften ilber die strafrechtliche Verantwortlichkeit von militarischen Befehlshabern (Sonderdelikte) wegen Verletzung der Aufsichtspflicht bzw. Unterlassen der Meldung einer Straftat (auch durch einen zivilen Vorgesetzten)222. Ausgeklammert bleibt
219 220 221 222
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
hierzu hierzu hierzu hierzu
Werle, Werle, Werle, Werle,
Volkerstrafrecht, Volkerstrafrecht, Volkerstrafrecht, Volkerstrafrecht,
Rn. Rn. Rn. Rn.
608 ff. 754 ff. 1128 ff. 499 ff.
C. Volkerstrafrecht
71
(noch) das Aggressionsverbrechen223, um den laufenden internationalen Verhandlungen nicht vorzugreifen224. Das Inkrafttreten des IStGH-Statuts und des VStGB wird die Wechselwirkun- 99 gen zwischen deutscher und intemationaler bzw. auslandischer Strafrechtspflege erheblich verstarken. Die Anwendung des VStGB erfordert deshalb eine Offnung der deutschen Strafrechtspraxis und -wissenschaft zum Volkerstrafrecht und zur Rechtsvergleichung. Besonders spiirbar werden die Einfltlsse des Volkerstrafrechts bei der Auslegung der in die staatliche Rechtsordnung uberfuhrten Normen sein, da diese ihren materiellen Ursprung im Volkerrecht haben. Bei der Auslegung der im VStGB normierten Straftatbestande milssen sich die nationalen Rechtsanwender daher einer volkerstrafrechtsfreundlichen Interpretation befleifiigen. Sowohl die volkerrechtlichen ,,Mutternormen" des IStGH-Statuts als auch deren Interpretation durch internationale und ggf. auch auslandische Gerichte sind bei der Anwendung des VStGB zu beachten225.
4. Zusammenfassende Bewertung - Vorbildcharakter des VStGB Das VStGB darf mit Recht als ,,gro6er Wurf bezeichnet werden226. Die Kodifika- 100 tion versetzt die deutsche Strafrechtsordnung in die Lage, adaquat auf Volkerrechtsverbrechen zu reagieren. Zwar wird der rechtspolitische Idealzustand, die im IStGH-Statut normierten Volkerstraftaten moglichst vollstandig der deutschen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen, vom VStGB nicht vollstandig erreicht. Die verbleibenden Deckungsliicken werden aber nur in seltenen Ausnahmefallen zu einer Ubernahme von Verfahren durch den IStGH flihren und erscheinen daher hinnehmbar. Das VStGB ist - trotz eventueller Nachbesserungserfordernisse im Hinblick auf Art. 103 II GG - in vorbildlicher Weise um eine klare und systematische Ausgestaltung des deutschen Volkerstrafrechts bemtlht und mag insoweit anderen Staaten wertvolle Anregungen fur die Anpassung ihrer Rechtsordnung an das IStGH-Statut liefern. Moglicherweise kann der Vorbildcharakter des VStGB sogar das kilnftige Eu- 101 ropaische Strafrecht beeinflussen. In der Literatur ist mit gewichtigen Griinden der Vorschlag unterbreitet worden, zum strafrechtlichen Schutze der EG-Finanzinteressen die Schaffung eines EU-Finanzstrafgesetzbuches nach dem Vorbild des VStGB anzustreben227. Hier wie dort bietet die Schaffung einer gesonderten Kodifikation folgende Vorteile: Kompakte Zusammenfuhrung und Prazisierung des komplexen und teilweise unubersichtlichen Rechtsstoffes, groBere Rechtsklarheit, bessere praktische Handhabbarkeit, Vergleichbarkeit nationaler und internationaler Rechtsprechung bei gleichzeitiger Internationalisierung der Debatte, erhohter Symbolwert einer Kodifikation.
223 224 225 226 227
Vgl. hierzu Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 1136 ff. Krefi, IStGH Vor III 26 Rn. 46, 374. Werle, Volkerstrafrecht, Rn. 231 ff. Satzger, NStZ 2002, 125, 132. Schwarzburg/Hamdorf, NStZ 2002, 617, 623.
72
§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Bezugen
V. Literaturhinweise Ambos, 14 examensrelevante Fragen zum neuen internationalen Strafgerichtshof, JA 1998, 988 ders., Zur Rechtsgrundlage des Internationalen Strafgerichtshof, ZStW 111 (1999), 175 ders., Der Allgemeine Teil des Volkerstrafrechts, 2002, passim Eser/Kreicker, Nationale Strafverfolgung volkerrechtlicher Verbrechen, Bd. 1, 2003, passim Fastenrath, Der Internationale Strafgerichtshof, JuS 1999, 632 Hermsdorfer, Der zukiinftige Internationale Strafgerichtshof - eine neue Epoche des Volkerstrafrechts, JR 2001, 6 Krefi, Volkerstrafrecht in Deutschland, NStZ 2000, 617 ders., Vom Nutzen eines deutschen Volkerstrafgesetzbuches, 2000, passim ders., Vorbemerkungen zu dem Romischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, in: Grutzner/Potz (Hrsg.), Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, Internationaler Strafgerichtshof, 2003, Vor III 26 Rn. 1-364 Lagodny, Legitimation und Bedeutung des standigen Internationalen Strafgerichtshofes, ZStW 113 (2001), S. 800 Satzger, Das neue Volkerstrafgesetzbuch - eine kritische Wiirdigung, NStZ 2002, 125 Werle, Konturen eines deutschen Volkerstrafrechts, JZ 2001, 885 ders., Volkerstrafrecht, 2003, passim WerlelJefiberger, Das Volkerstrafgesetzbuch, JZ 2002, 725 Zimmermann, Auf dem Weg zu einem deutschen Volkerstrafgesetzbuch, ZRP 2002, 97 ders., Bestrafung volkerrechtlicher Verbrechen durch deutsche Gerichte nach In-KraftTreten des Volkerstrafgesetzbuches, NJW 2002, 3068
D. Zusammenfassung von § 2 102 In § 2 werden drei strafrechtliche Spezialgebiete mit grenzuberschreitenden Bezugen vorgestellt, die teilweise enge Beruhrungspunkte mit dem Europaischen Strafrechts aufweisen: Internationales Strafrecht, transnationales Strafrecht und Volkerstrafrecht. 103 Bei den in §§ 3-7, 9 StGB normierten Bestimmungen des internationalen Strafrechts handelt es sich um innerstaatliches Strafanwendungs-, Strafgewalts- bzw. Geltungsbereichsrecht. Die Regeln des internationalen Strafrechts geben Auskunft darilber, ob auf einen bestimmten Lebenssachverhalt, der sich im Ausland abspielt oder an dem auslandische Tater und/oder Opfer beteiligt sind, deutsche Strafnormen Anwendung finden. Das internationale Strafrecht ist innerstaatliches Recht, durch das die Staaten den Umfang und die Grenzen ihrer nationalen Strafgewalt einseitig selbst festlegen, ohne hierdurch einen etwa koexistierenden auslandischen Strafanspruch auszuschlieBen. Bei Sachverhalten mit Auslands- bzw. Auslanderbezug stellt sich zunachst die vorrangig zu beantwortende Frage, ob der einschlagige nationale Straftatbestand ilberhaupt den Schutz auslandischer Rechtsgtiter und Interessen umfasst oder ob er eine tatbestandsimmanente Beschrankung auf einen rein inlandischen Rechtsguterschutz aufweist. Falls die
D. Zusammenfassung von § 2
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Auslegung der Strafhorm ergibt, dass sich ihr Schutzbereich auch auf auslandische oder supranational Schutzgiiter erstreckt, ist anhand der Normen des internationalen Strafrechts zu priifen, ob eine Ausdehnung der nationalen Strafgewalt zulassig ist. In welchem Umfang ein Staat seine Strafgewalt in Anspruch nehmen und ausdehnen darf, wird durch das Volkerrecht bestimmt, das in alien Fallen mit Auslandsberuhrung die Geltendmachung eines legitimierenden Ankniipfungspunkts verlangt, der im Einzelfall einen unmittelbaren Bezug zur Strafverfolgung im Inland herstellt. Als volkerrechtlich legitimierende Ankniipfungspunkte (^genuine links") kommen insbesondere der Begehungsort einer Tat (Territorialitatsprinzip), die Staatsangehorigkeit des Taters oder des Opfers (aktives und passives Personalitatsprinzip), der Schutz bestimmter inlandischer Rechtsgtiter (Schutzprinzip) bzw. von Interessen universellen Charakters (Weltrechtsprinzip), das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege sowie das Kompetenzverteilungsprinzip in Betracht. Alle genannten Prinzipien finden im deutschen Strafanwendungrecht (§ 3-7, 9 StGB) - zumeist in kombinierter Form - ihren spezifischen Ausdruck. In der Praxis wirft insbesondere die Auslegung des durch den Ubiquitatsgrundsatz konkretisierten Territorialitatsprinzips (§§ 3, 9 StGB) Probleme auf, namentlich wenn es urn sog. ,,Distanzdelikte" (z. B. AuBerungsdelikte im Internet, grenziiberschreitende Umweltdelikte) geht. Transnationales Strafrecht ist eine Rechtsmaterie, die sich im weitesten Sin- 104 ne mit dem rechtlichen, institutionell-organisatorischen und verfahrenstechnischen Instrumentarium der (international-arbeitsteiligen) grenziiberschreitenden Zusamnienarbeit in Strafsachen sowie damit zusammenhangender Rechtsschutzprobleme befasst. Das transnationale Strafrecht zielt auf die Bewaltigung strafrechtsrelevanter Lebenssachverhalte ab, die nicht ausschlieBlich auf nationale materiell- und verfahrensrechtliche Problemlosungen gestlitzt werden konnen. Internationale Kooperation ist immer dann geboten, wenn sich die Aufklarung und Aburteilung einer Straftat sowie die Strafvollstreckung nicht innerhalb eines Staates erledigen lasst. Ein Bereich, in dem die transnationale Zusammenarbeit in Strafsachen schon eine lange Tradition besitzt, ist die internationale Rechtshilfe in Strafsachen. Hierunter versteht man jede Unterstiltzung, die vom ersuchten Staat fur ein auslandisches Strafverfahren gewahrt wird. Traditionelle Bereiche der Rechtshilfe sind der zwischenstaatliche Auslieferungsverkehr, die Unterstutzung bei der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen (Vollstreckungshilfe) und die sog. ,,kleine" oder sonstige Rechtshilfe, bei der es um alle denkbaren Unterstlitzungshandlungen geht, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht des ersuchten Staates zulassig sind. Pflege und Entwicklung der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen sind seit 105 jeher ein zentrales Anliegen des Europarates. Die von den Mitgliedstaaten ratifizierten Rechtshilfekonventionen des Europarates fungieren als ,,Mutterkonventionen" des europaischen Rechtshilfeverkehrs, auf denen zahlreiche bilaterale oder multilaterale Erganzungsvertrage sowie deliktsbezogene Ubereinkommen aufbauen. Innerhalb der EU erlangen neuartige Formen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit in Strafsachen wachsende Bedeutung, die sich von den Mechanismen der klassischen Rechtshilfe losen (,,Schengen-Kooperation"). Zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel im Auslieferungsverkehr zwischen den EU-Mitglied-
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§ 2 Strafrechtliche Spezialmaterien mit grenzuberschreitenden Beziigen
staaten ftihrt das neue Instrumentarium des Europaischen Haftbefehls. Dieser schafft das traditionell zweistufig ausgestaltete Auslieferungsverfahren (gerichtliches Zulassigkeits- und gouvernementales Bewilligungsverfahren) durch ein rein justizielles Ubergabeverfahren ab und lasst klassische Auslieferungsvorbehalte (beiderseitige Straf- und Verfolgbarkeit) entfallen. 106 Um echtes supranationales Strafrecht handelt es sich beim Volkerstrafrecht (,,International Criminal Law", ,,Droit penal international"). Nach einer pragmatischen Definition sind dem Volkerstrafrecht alle universell geltenden Normen zuzuordnen, die eine unmittelbare strafrechtliche Verantwortung von Individuen durch Volkerrecht konstituieren. Das Volkerstrafrecht schiltzt den ,,Frieden, die Sicherheit und das Wohl der Welt" als die hochsten Gilter der Volkergemeinschaft. Anerkannte Volkerrechtsverbrechen sind die Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Volkermord und das Aggressionsverbrechen (sog. ,,Kernverbrechen"; ,,international crimes"). Solange die Volkergemeinschaft nicht tiber eine eigene Strafgerichtsbarkeit verfugte, erfolgte die Durchsetzung des Volkerstrafrechts im wesentlichen durch die nationalen Organe der Staaten, die ihre Zustandigkeit zur Strafverfolgung durch Annahme eines entsprechenden innerstaatlichen Rechtsakts erklart haben. Eine Strafverfolgung durch internationale Organe fand bislang nur in historischen Ausnahmesituationen statt. Zu denken ist etwa an die Internationalen Kriegsverbrechertribunale von Niirnberg und Tokio (,,International Military Tribunals" — IMT) oder an die Einrichtung von Internationalen Ad-hoc-Strafgerichtshofen zur Verfolgung schwerer Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (1993) bzw. in Ruanda (1995). Diese internationalen Strafgerichte urteilen auf der Grundlage von Straftatbestanden, die in ihren jeweiligen Statuten geregelt und demgemaB dem Volkerrecht zugeordnet sind. Die Errichtung eines Internationalen Strafgerichtshofes (IStGH) mit Sitz in Den Haag, der am 11. Marz 2003 seine Arbeit aufgenommen hat, bedeutet einen Quantensprung in der Entwicklung einer Volkerstrafgerichtsbarkeit. Der IStGH ist als ,,Weltstrafgerichtshof" zustandig fur die Aburteilung von Verbrechen des Volkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggression, die seit dem 1. M i 2002 auf dem Gebiet eines Vertragsstaates oder durch Angehorige eines Vertragsstaates begangen worden sind. Das IStGH-Statut weist dem IStGH die Aburteilungskompetenz zu, sofern der Tatortstaat oder der Heimatstaat des Taters das Statut ratifiziert haben. Folglich unterfallen auch Staatsangehorige von Nichtvertragsstaaten unter das Zustandigkeitsregime des IStGH, wenn sie eine Volkerstraftat auf dem Gebiet eines Vertragsstaates begangen haben. Das allgemeine Zustandigkeitsregime wird durch die sog. ,,sicherheitsratsgestutzte Zustandigkeit" nach Art. 12, 13 IStGH-Statut uberlagert und erweitert (Rn. 89). 107
Das IStGH-Statut geht von einer zweifachen Durchsetzungsmoglichkeit des Volkerstrafrechts aus. Zum einen eroffnet es den Weg fur eine Aburteilung volkerstrafrechtlicher Verbrechen auf internationaler Ebene durch den IStGH. Zum anderen gestattet es die Durchsetzung des Volkerstrafrechts durch die Vertragsstaaten. Erreicht wird dies durch die Festschreibung des Grundsatzes der Komplementaritat, wonach die nationale Strafgerichtsbarkeit Vorrang vor der des IStGH genieBt. Der Gerichtshof darf seine Gerichtsbarkeit erst ausiiben, wenn ein
D. Zusammenfassung von § 2
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Vertragsstaat nicht fahig oder willens ist, die Strafverfolgung ernsthaft zu betreiben. Deutschland hat die Entwicklung, die zum Abschluss des IStGH-Statuts fuhrte, auf internationalem Parkett mit groBem Engagement gefordert und auf nationaler Ebene alle erforderlichen legislativen UnterstiltzungsmaBnahmen getroffen. Mit dem am 30. Juni 2002 in Kraft getretenen Volkerstrafgesetzbuch (VStGB) vom 26. Juni 2002 wurde das nationale Strafrecht an die Bestimmungen des IStGH-Statuts angepasst und damit zugleich ein ,,deutsches VQlkerstrafrecht" begriindet. Die Implementierung von Volkerstraftaten in deutsches Strafrecht versetzt Deutschland in die Lage, die in die Zustandigkeit des IStGH fallenden Verbrechen selbst verfolgen zu konnen.
Teil II Trager des Europaischen Strafrechts und ihre Handlungsformen
§ 3 Europarat
A. Strukturen und Ziele des Europarates Betrachtet man die Entwicklung des Europaischen Strafrechts im Spiegel internationaler Organisationen und Institutionen, so fallt der Blick zunachst auf den Europarat1 . Von ihm gehen schon seit Jahrzehnten die verschiedensten Initiativen in den Bereichen Strafrecht, Kriminalpolitik, Verfassungsrecht und Menschenrechtsschutz mit dem Ziel der Rechtsvereinheitlichung und der Forderung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit aus2.
I. Rechtsnatur des Europarates Der Europarat ist eine am 5. Mai 1949 gegrundete internationale Organisation ,,klassischen Zuschnitts" mit Sitz in StraBburg (Europa-Palais)3. Seine Aufgabe ist es, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern zum Schutze und zur Forderung der Ideale und Grundsatze, die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fbrdern (vgl. Art. 1 lit. a Europaratssatzung). Erfllllt werden soil diese Aufgabe durch Beratung von Fragen von gemeinsamen Interesse, durch den Abschluss von Abkommen, durch gemeinschaftliches Vorgehen sowohl auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet als auch in den Bereichen des Rechts und der Verwaltung sowie durch den Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten (vgl. Art. 1 lit. b Europaratssatzung). Derzeit gehoren dem Europarat 46 Mitgliedstaaten an, darunter auch alle 25 EU-Mitgliedstaaten.
Jung, JuS 2000, 417, 418 f.; ders., StV 1990, 509, 511; Vogler, JURA 1992, 586. Informationen liber den Europarat konnen auf der deutschsprachigen Seite im Internet abgerufen werden unter http://www.coe.int/de. Vgl. zur Einfuhrung Herdegen, Europarecht, Rn. 14 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 52 ff.; zur Vertiefung Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung, 1996, passim.
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§ 3 Europarat
3 Ubersicht: Die 46 Mitgliedstaaten des Europarates (Beitrittsdaten)4 Albanien(13. Juli 1995)
Andorra (10. Oktober 1994)
Armenien (25. Januar 2001)
Aserbeidschan (25. Januar 2001)
Belgien(5.Mai 1949)
Bosnien und Herzegowina (24. April 2002)
Bulgarien (7. Mai 1992)
Danemark (5. Mai 1949)
Deutschland (13. Juli 1950)
Estland(14. Mai 1993)
Finnland (5. Mai 1989)
Frankreich (5. Mai 1949)
Georgien (27. April 1999)
Griechenland (9. August 1949)
Irland(5. Mai 1949)
Island (9. Marz 1950)
Italien (5. Mai 1949)
Kroatien (6. November 1996)
Lettland(10. Februar 1995)
Liechtenstein (23. November 1978)
Litauen(14. Mai 1993)
Luxemburg (5. Mai 1949)
Malta (29. April 1965)
Ehem. Jugosl. Rep. Mazedonien (9. November 1995)
Moldawien (13. Juli 1995)
Monaco (5. Oktober 2004)
Niederlande (5. Mai 1949)
Norwegen (5. Mai 1949)
Osterreich (16. April 1956)
Polen (29. November 1991)
Portugal (22. September 1976)
Rumanien (7. Oktober 1993)
Russische Federation (28. Februar 1996)
San Marino (16. November 1988)
Schweden (5. Mai 1949)
Schweiz (6. Mai 1963)
Serbien und Montenegro (3. April 2003)
Slowakei (30. Juni 1993)
Slowenien (14. Mai 1993)
Spanien (24. November 1977)
Tschechische Republik (30. Juni 1993)
Turkei (13. April 1950)
Ukraine (9. November 1995)
Ungarn (6. November 1990) Zypern (24. Mai 1961)
Vereinigtes Konigreich (5. Mai 1949)
Beobachterstatus im Ministerkomitee: Kanada (29. Mai 1996) - Heiliger Stuhl (7. Marz 1970) - Japan (20. November 1996) - Mexiko (1. Dezember 1999) - Vereinigte Staaten von Amerika (10. Januar 1996) Beobachterstatus bei der Parlamentarischen Versammlung: Kanada (28. Mai 1997) - Israel (2. Dezember 1957) - Mexiko (4. November 1999) 4 Der Europarat ist die umfassendste Staatenvereinigung Europas. Ihr gemeinsames Band ist die Verpflichtung zur Rechtsstaatlichkeit. Alle Mitgliedstaaten bekennen sich zum Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie zur Anerkennung von Menschenrechten und Grundfreiheiten (vgl. Art. 3 S. 1 Europaratssatzung). Dieses Prinzip ist vorrangig inkorporiert in der Europaischen Konvention zum Schutz 4
Der jeweils aktuelle Stand kann im Internet abgerufen werden unter http://www.coe.int/de.
A. Strukturen und Ziele des Europarates
81
der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) v. 4. November 1950 und ihren Zusatzprotokollen5. Bei schwerwiegender Missachtung dieser Grundsatze kann das entscheidende Organ des Europarats, das Ministerkomitee, einem Mitgliedstaat das Recht auf Vertretung vorlaufig entziehen und ihn zum Austritt auffordern. Als scharfstes Mittel kann das Komitee den Ausschluss des Mitgliedstaates beschlieBen6.
II. Organe des Europarates Organe des Europarates sind das Ministerkomitee, die Parlamentarische Versammlung sowie der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas. Das Ministerkomitee ist das Entscheidungsorgan des Europarates. Es setzt sich zusammen aus den AuBenministern der Mitgliedstaaten bzw. ihren standigen Vertretern. Die Parlamentarische Versammlung ist das beratende Organ, das sich aus 313 Mitgliedern zusammensetzt, die von den nationalen Parlamenten benannt werden. Die Zahl der von den nationalen Parlamenten entsendeten Vertreter ist fur jeden Staat festgelegt (zwischen 2 und 18). Ebenfalls ein beratendes Organ ist der Kongress der Gemeinden und Regionen Europas, der die Interessen der Regionalund Kommunalbehorden vertritt. Die Aktivitaten des Europarates werden von einem Generalsekretar geleitet und koordiniert, der von der Parlamentarischen Versammlung gewahlt wird. Derzeit bilden rund 1300 Beamte aus den Mitgliedstaaten unter der Leitung des Generalsekretars den permanenten Mitarbeiterstab der Organisation. Der Europaische Gerichtshof fur Menschenrechte (EGMR) und das AntiFolter-Komitee sind keine Organe des Europarats, sondern Organe der sie tragenden Konventionen (EMRK bzw. Anti-Folter-Konvention).
III. Arbeitsprogramm des Europarates Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regime in Osteuropa erhielt der Europarat neue politische Impulse durch Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs. Im Jahre 1993 stellten sich die Staats- und Regierungschefs der damals 32 Mitgliedstaaten des Europarates in Wien den neuen Herausforderungen und ebneten den Weg fur die Erweiterung. 1997 verabschiedeten sie in Straflburg fur die damals 40 Mitgliedstaaten einen neuen Aktionsplan zu vier groBen The-
Die EMRK ist in Deutschland durch Gesetz vom 7. August 1952 (BGB1. II 1952, 685, 953) in Verbindung mit der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1953 (BGB1. II 1953, 14) iiber das Inkrafttreten ratifiziert worden und gilt seit dem 3. September 1953 als einfaches Bundesrecht. Wegen der Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien hat die Parlamentarische Versammlung - auf unsicherer Rechtsgrundlage - die Mitwirkungsrechte der russischen Abgeordneten suspendiert und das Menschenrechtskomitee aufgefordert, die Mitgliedschaftsrechte Russlands vorlaufig auszusetzen.
82
§ 3 Europarat
men: Demokratie und Menschenrechte, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Sicherheit der Burger und Erziehung zur Demokratie und kulturellen Vielfalt. Diese Themen bilden die Grundlage fur das Arbeitsprogramm des Europarates in diesem neuen Jahrtausend. Der Europarat organisiert regelmaBig Fachministerkonferenzen (fur Justiz, Bildung, Familienangelegenheiten, Gesundheit, Umwelt, kommunale Verwaltung, Migration, Gleichstellung von Mann und Frau, Arbeit, Massenmedien, Kultur, Sport, Jugend usw.), auf denen die aktuellen Probleme in diesen Bereichen analysiert und diskutiert werden. Amtssprachen des Europarates sind Englisch und Franzbsisch, doch werden auch Deutsch, Italienisch und Russisch von der Parlamentarischen Versammlung als Arbeitssprachen eingesetzt. Die Arbeit des Europarats findet Ausdruck in themenzentrierten Empfehlungen sowie in Konventionen und Abkommen, die den Mitgliedstaaten zu Beitritt und Ratifikation angeboten werden. Diese konnen den AnstoB geben und die Grundlage bilden fur die Anderung bzw. Harmonisierung des nationalen Rechts in den Mitgliedstaaten. Der Europarat verabschiedet auch Teilabkommen, die eine Art der Zusammenarbeit ,,mit variabler Geometrie" darstellen und jeweils interessierten Mitgliedstaaten die Moglichkeit geben, mit Zustimmung der anderen Mitglieder spezifische Arbeiten von allgemeinem Interesse durchzufiihren. Als volkerrechtlicher Zusammenschluss souveraner Staaten kann der Europarat selbst keine Rechtsvorschriften erlassen, die in den Einzelstaaten unmittelbare Geltung beanspruchen. Es bleibt stets der souveranen Entscheidung der Mitgliedstaaten uberlassen, ob sie einer Konvention des Europarats beitreten und diese durch Ratifikation in innerstaatliches Recht verwandeln.
B. Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Europarates I. European Commitee on Crime Problems 10 Bereits im Jahre 1957 hat das Ministerkomitee den europaischen Ausschuss fur Strafrechtsprobleme (ECCP = European Commitee on Crime Problems) mit dem Ziel gegriindet, die Arbeiten auf strafrechtlichem Gebiet zu intensivieren7. Dem ECCP kommt dabei die Aufgabe zu, die Arbeiten an Fragen des Straf- und Strafverfahrensrechts, der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ebenso wie der Strafvollstreckung, des Strafvollzugs, der Kriminologie und der Kriminalpolitik zu koordinieren. Innerhalb des ECCP bestehen Unterausschusse, deren Mitglieder aufgrund ihrer besonderen Fachkenntnisse mit der Untersuchung bestimmter Spezialprobleme betraut werden. Der ECCP betreibt strafrechtsrelevante Grundlagenforschung und erstellt Vorarbeiten fur volkerrechtliche Vereinbarungen. Zu denken ist etwa an rechtsvergleichende Studien liber ausgewahlte strafrechtliche Problemfelder (Opferschutz, Umweltschutz, Verbraucherschutz usw.). Bis zum Jahre 2000 hat das Ministerkomitee fur den strafrechtlichen Bereich iiber 90 Empfehlungen verabschiedet, darunter solche zu Fragen der Verletztenstellung, Vogler, JURA 1992, 586 ff.; ders., ZStW 79 (1969), S. 113 ff.
B. Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Europarates
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des Zeugenschutzes, der Strafzumessung, des Sanktionensystems und des Strafvollzugs8.
II. Strafrechtsrelevante Konventionen 1. Ubersicht Von den ilber 20 strafrechtsrelevanten Konventionen9, die der Europarat initiiert 11 und ausgearbeitet hat, werden folgende exemplarisch aufgefuhrt: - Europaische Menschenrechtskonvention v. 4. November 195010, - Europaisches Auslieferungsilbereinkommen v. 13. Dezember 1957" mit seinen Zusatzprotokollen v. 15. Oktober 197512 und v. 17. Marz 1978°, - Europaisches Ubereinkommen tiber die Rechtshilfe in Strafsachen v. 20. April 195914 mit seinem Zusatzprotokoll v. 17. Marz 197815, - Europaisches Ubereinkommen iiber die Ahndung von Zuwiderhandlungen im StraBenverkehr v. 30. November 196416, - Europaisches Ubereinkommen iiber die Ubertragung der Strafverfolgung v. 15. Mai 197217, - Europaisches Ubereinkommen zur Bekampfung des Terrorismus v. 27. Januar 197718 und Protokoll zur Anderung dieses Ubereinkommens v. 15. Mai 200319, - Europaisches Ubereinkommen iiber die Kontrolle des Erwerbs und Besitzes von Schusswaffen durch Einzelpersonen v. 28. Juni 197820, - Zusatzprotokoll v. 15. Marz 197821 zum Europaischen Ubereinkommen betreffend Auskunfte iiber auslandisches Recht v. 7. Juni 196822, - Europaisches Ubereinkommen iiber die Uberstellung verurteilter Personen v. 21. Marz 198323 mit seinem Zusatzprotokoll v. 18. Dezember 199724, 8 9
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Jung, JuS 2000, 417, 419. Die Konventionen konnen im (englischen oder franzosischen) Volltext unter Angabe des jeweiligen Zeichnungs- und Ratifikationsstandes auf der Homepage des Council of Europe abgerufen werden unter http://www.conventions.coe.int. ETS (= European Treaty Series) Nr. 5; BGB1. II 1952, 686, 953; 1954, 14; 1968, 1116, 1120; 1970, 1315; 1972, 105;1989, 546, 991; 1995 II, 578. ETSNr. 24; BGB1. II 1964, 1369; 1976, 1778; 1982, 2071; 1994, 299. ETS Nr. 86. ETSNr. 98; BGB1. II 1990, 118; 1991,874. ETS Nr. 30; BGB1. II 1964, 1369, 1386; 1976, 1799; 1982, 2071; 2000, 555. ETS Nr. 99; BGB1. II 1990, 124; 1991, 909; 2000, 555. ETS Nr. 52. ETSNr. 73. ETS Nr. 90; BGB1.1 1978, 321, 907; 1989, 857; 1998, 1136. ETSNr. 190. ETS Nr. 101; BGB1. II 1980, 953; 1986, 616. ETS Nr. 97; BGB1. II 1987, 58; 1987, 593. ETS Nr. 62; BGB1. II 1974, 937; 1975, 300.
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§ 3 Europarat
- Protokoll Nr. 6 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten uber die Abschaffung der Todesstrafe v. 28. April 198325, - Europaisches Ubereinkommen zur Verhutung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe v. 26. November 198726, - Europaisches Ubereinkommen liber Geldwasche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Ertragen aus Straftaten v. 8. November 199027, - Europaisches Ubereinkommen iiber den unerlaubten Verkehr mit Drogen auf hoher See zur Durchfuhrung des Art. 17 des Ubereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen v. 13. Januar 199528, - Europaisches Ubereinkommen uber den Schutz der Umwelt durch Strafrecht v. 4. November 199829, - Strafrechtliches Anti-Korruptionslibereinkommen v. 27. Januar 199930 mit seinem Zusatzprotokoll v. 15. Mai 200331, - Europaisches Ubereinkommen zur Datennetzkriminalitat vom 23. November 200132.
2. Praktische Bedeutung der Konventionen 12 Die nachfolgenden Beispiele mogen aufzeigen, wie sich Europaratskonventionen auf die grenziiberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen sowie auf Kriminalpolitik und Strafgesetzgebung auswirken: 13 (1) Die groBte praktische Bedeutung kommt den einschlagigen Europaratskonventionen im Bereich der Rechtshilfe (Auslieferung, Vollstreckungshilfe, sonstige Rechtshilfe) zu (§ 2 Rn. 65). Das Europaische Ubereinkommen v. 20. April 1959 iiber die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhUbk)33 und das Europaische Auslieferungsiibereinkommen v. 13. Dezember 1957 (EuAlUbk)34 konstituieren als sog. ,,Mutterkonventionen" des europaischen Rechtshilfeverkehrs einen rechtlichen Rahmen, auf dem zahlreiche bi- und multilaterale Ubereinkommen sowie EU-MaBnahmen der PJZS aufbauen (vgl. § 12 Rn. 4 ff). Die Vollstreckungshilfe wird bis heute maBgeblich von dem Uberstellungsiibereinkommen
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ETS Nr. 112; BGB1. II 1991, 1006; 1992, 98; vgl. auch das Uberstellungsausfuhrungsgesetz v. 26. September 1991 (BGB1. 1991 I, 1954). ETS Nr. 167. ETS Nr. 114; BGB1. II 1988, 663; 1989, 814. ETS Nr. 126; BGB1. II 1989, 946; 1990, 491; 1996, 1114. ETSNr. 141; BGB1. II 1998, 519; 2000, 1304; 2001, 339. E T S Nr. 156; BGB1. II 2000, 1313.
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ETSNr. 172.
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ETSNr. 173. ETSNr. 191.
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ETSNr. 185. ETS Nr. 30; BGB1. II 1964, 1369, 1386; 1976, 1799; 1982, 2071; 2000, 555. ETS Nr. 24; BGB1. II 1964, 1369; 1976, 1778; 1982, 2071; 1994, 299.
B. Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Europarates
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v. 21. Marz 198335 gepragt. Nach seinem Art. 2 II hat jede verurteilte Person das Recht, dem Urteils- oder Vollstreckungsstaat gegenilber den Wunsch zu auBern, nach MaBgabe dieses Ubereinkommens ilberstellt zu werden36. Die Vollstreckungshilfe stellt ein wesentliches Element einer effektiven grenzilberschreitenden Strafrechtspflege dar, zumal die Auslieferung eines in seinen Heimatstaat zuriickgekehrten verurteilten Straftaters an den Urteilsstaat vielfach an rechtlichen Hindernissen scheitert. Im Ubrigen verspricht eine Strafvollstreckung im Heimatstaat des Straftaters bessere Resozialisierungschancen (vgl. § 12 Rn. 12). (2) Die Bedeutung von Europaratskonventionen fur die europaische Kriminal- 14 politik und Gesetzgebung zeigt sich darin, dass sich die Gesetzgeber bei der Ausarbeitung nationaler oder europaischer Rechtsakte - z. B. in den Bereichen Geldwasche, illegaler Drogenhandel, Umweltkriminalitat, Korruption, Cyber Crime regelmaBig an den in einschlagigen Europaratskonventionen enthaltenen Regelungsmodellen orientieren. So beeinflusste z. B. das am 1. September 1993 in Kraft getretene Ubereinkommens des Europarates iiber das Waschen, das Aufspiiren, die Beschlagnahme und die Einziehung der Ertrage aus Straftaten v. 8. November 199037 bis in die jtlngste Zeit legislative MaBnahmen gegen Geldwasche auf nationaler und europaischer Ebene. Es zielt darauf ab, den Vortatenkatalog der nationalen Geldwaschetatbestande ilber den Bereich der Betaubungsmitteldelikte auf alle Straftaten auszudehnen. Dariiber hinaus enthalt das Ubereinkommen detaillierte Rechtshilferegelungen fur die Phasen Ermittlung, vorlaufige Sicherung und definitive Einziehung von Tatwerkzeugen sowie illegal erlangter Ertrage und Vermogensgegenstande. Die Vorgaben der Europaratskonvention sind in die EG-Geldwascherichtlinie v. 10. Juni 199138 eingeflossen. Insbesondere erklarten sich die im Rat vertretenen EG-Mitgliedstaaten ausdrtlcklich bereit, strafrechtliche Bestimmungen gegen Geldwasche zu schaffen (vgl. § 8 Rn. 13). Auch der am 6. Juli 2001 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates iiber Geldwasche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Ertragen aus Straftaten39 v. 26. Juni 2001 knupft an die strafrechtlichen Vorgaben des Geldwascheubereinkommens des Europarats an (§ 11 Rn. 45). (3) Die Arbeit mit multilateralen Ubereinkommen erfordert vielfach die Kennt- 15 nis des Straf- und Strafverfahrensrechts der Partnerstaaten (z. B. beiderseitige Strafbarkeit als Auslieferungsvoraussetzung). Daher kommt dem Austausch von Informationen Uber das auslandische Recht besondere Bedeutung zu. In dem Zusatzprotokoll v. 15. Marz 1978 zu dem Europaischen Ubereinkommen v. 7. Juni 1968 betreffend Auskiinfte iiber auslandisches Recht40 wird den Ver35
36
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ETS Nr. 112; BGB1. II 1991, 1006; 1992, 98; vgl. auch das Uberstellungsausfuhrungsgesetz v. 26. September 1991 (BGB1.1 1991, 1954). Vgl. hierzu die praxisorientierte Darstellung von Hackner u. a., Internationale Rechtshilfe, Rn. 143 ff. ETS Nr. 141. AB1EG 1991 Nr. L 166, S. 77. AB1EG 2001 Nr. L 182, S. 1. ETS Nr. 97; BGB1. II 1987, 58; 1987, 593.
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§ 3 Europarat
tragsparteien ein formlicher Anspruch auf die gegenseitige Erteilung von Rechtsauskiinften in Strafsachen, namentlich ilber ihr materielles Strafrecht, Strafverfahrensrecht und ihre Gerichtsverfassung gewahrt. Der BGH hat im Jahre 1997 von diesem Auskunftsanspruch Gebrauch gemacht, als er darilber zu entscheiden hatte, ob einem nach belgischem Recht abgeschlossenen verwaltungsrechtlichen Vergleich zwischen der belgischen Finanzbehorde und einem Abgabenhinterzieher (sog. ,,transactie") gem. Art. 54 SDU strafklageverbrauchende Wirkung auch in Deutschland zukommt (vgl. hierzu § 13 Rn. 27). Um diese Frage entscheiden zu konnen, begehrte er in einem Beschluss authentische Informationen ilber bestimmte - die ,,transactie" betreffenden - Rechtsfragen, die das belgische Justizministerium spater konventionsgetreu beantwortet hat41.
III. Europarat als Forum paneuropaischer Kooperation 16 Wahrend zu Beginn der Tatigkeit des Europarats noch die klassischen Instrumente der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit — Auslieferung und Rechtshilfe - im Vordergrund standen, verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Aktivitaten in den letzten Jahren zunehmend auf strafrechtliche Spezialmaterien wie z. B. Computerkriminalitat, Umweltschutz, Korruption und Geldwasche. Dabei geht es vor allem um Rechtsangleichung durch Entwicklung gemeinsamer Definitionen42. Die beachtliche Zahl von Konventionen des Europarates auf strafrechtlichem Gebiet darf freilich nicht dartiber hinwegtauschen, dass den Bemiihungen um die Vereinheitlichung bzw. Angleichung der Strafrechtssysteme bislang nur ein begrenzter Erfolg beschieden war. Praktische Bedeutung haben bisher neben der EMRK (Rn. 18 ff.) vor allem die Auslieferungs-, Rechtshilfe- und die Uberstellungskonventionen erlangt (§ 2 Rn. 67). Bis heute bestimmen diese Konventionen - namentlich das Europaische Auslieferungsubereinkommen von 1957 sowie das Europaische Ubereinkommen iiber die Rechtshilfe in Strafsachen von 1959 mit den daran ankniipfenden Zusatzprotokollen und den zahlreichen bilateralen Vertragen zwischen den Vertragsstaaten - die grenziiberschreitende Zusammenarbeit in Strafsachen in Europa. 17 Es hat sich jedoch gezeigt, dass dem Streben nach Rechtsvereinheitlichung selbst im Kreis der durch die EMRK verbundenen Staaten Grenzen gesetzt sind. Die meisten strafrechtsbeziiglichen Konventionen des Europarates sind mangels der erforderlichen Zahl von Ratifikationen in den Mitgliedstaaten nicht in Kraft getreten. Schrittmacher der europaischen Strafrechtsentwicklung ist derzeit nicht der Europarat, sondern die Europaische Union, deren Mitgliedstaaten im Rahmen der sog. 3. Saule (intergouvernementale Zusammenarbeit gem. Art. 29 ff. EUV) Ubereinkommen und Rahmenbeschltisse strafrechtlichen Inhalts beschlieBen konnen (vgl. hierzu § 5 Rn. 69 ff; § 11 Rn. 2 ff). Der zur Ratifikation in den Mitgliedstaten anstehende Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa sieht sogar ei41
42
Vgl. BGH wistra 1997, 268 = NStZ 1998, 149; BGH NStZ 1999, 250; Schomburg, StV 1999,244,246. Wilkitzki, ZStW 105 (1993), S. 821, 824 f.
C. Bedeutung der EMRK fur die europaische Strafrechtspflege
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ne Kompetenz der Europaischen Union vor, durch Europaische Gesetze supranationale Straftafbestande zum Schutze der EU-Finanzinteressen zu schaffen (Art. III415 IV EU-Verfassung; vgl. hierzu § 14 Rn. 46) und durch Europaische Rahmengesetze Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen festzulegen (vgl. Art. III-271 I, II EU-Verfassung). Nichtsdestotrotz wird der Europarat auch kilnftig eine bedeutende Rolle als Forum paneuropaischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Kriminalpolitik spielen. Die Berichte, Konferenzen und Kolloquien sind aus der Entwicklung der europaischen Kriminalpolitik nicht mehr hinwegzudenken. Gerade die postkommunistischen Staaten konnen bei der notwendigen Umgestaltung ihres Strafrechts von dem auf Europaratsebene gebilndelten Sachverstand Nutzen ziehen.
IV. Literaturhinweise HacknerlLagodnylSchomburglWolf, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen - Ein Leitfaden fur die Praxis, 2003, passim Herdegen, Europarecht, 5. Aufl., 2003, § 2 Jescheck, Moglichkeiten und Probleme eines Europaischen Strafrechts, Festschrift fur Jhong-Won Kim, 1991, S. 947 Jung, Konturen und Perspektiven des europaischen Strafrechts, JuS 2000, 417 Klebes, Die Rechtsstruktur des Europarats und insbesondere der Parlamentarischen Versammlung, 1996, passim Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, § 2 Vogler, Die strafrechtlichen Konventionen des Europarats, JURA 1992, 586 Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenziiberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, 2002, S. 67-71
C. Bedeutung der EMRK fur die europaische Strafrechtspflege Entsprechend ihrer Ausrichtung am Schutz der Menschenrechte und Grundfreihei- 18 ten erstrecken sich die einzelnen Garantien der EMRK auf alle Rechtsbereiche einschlieBlich und namentlich des Strafrechts. Wie die folgende Ubersicht zeigt, stehen die menschenrechtlichen Garantien in weiten Teilen in einem spezifisch strafrechtlichen oder zumindest strafrechtsrelevanten Kontext. 19 Ubersicht: Strafrechtsrelevante Garantien der EMRK und ihrer Zusatzprotokolle - Artikel 1 - Verpflichtung der Konventionsstaaten zur Achtung der Menschenrechte - Artikel 2 I - Recht auf Leben
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§ 3 Europarat
- Artikel 3 - Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung - Artikel 4 I-III — Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit - Artikel 5 I - Recht auf Freiheit und Sicherheit - Artikel 5 II - V — Rechte von Festgenommenen - Artikel 6 I - Recht auf ein faires Verfahren - Artikel 6 II - Unschuldsvermutung - Art. 6 III - Rechte von Angeklagten, insbesondere Recht auf Verteidigerbeistand und Konfrontation mit Belastungszeugen - Artikel 7 I - Keine Strafe ohne Gesetz - Artikel 8 I - Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens - Artikel 9 I - Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit - Artikel 10 I - Freiheit der MeinungsauBerung - Artikel 11 I - Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit - Artikel 13 - Recht auf wirksame Beschwerde - Artikel 14 - Verbot der Benachteiligung - Artikel 34 - Recht, Individualbeschwerde beim EuGM zu erheben - Artikel 1 des 6. Zusatzprotokolls - Abschaffung der Todesstrafe - Artikel 2 I des 7. Zusatzprotokolls - Rechtsmittel in Strafsachen - Artikel 3 des 7. Zusatzprotokolls - Recht auf Entschadigung bei Fehlurteilen - Artikel 4 I des 7. Zusatzprotokolls — Ne bis in idem 20 Von alien strafrechtsrelevanten Konventionen des Europarates hat die EMRK die nachhaltigste und pragendste Wirkung auf die Strafrechtspflege der Konventionsstaaten entfaltet. Als ,,gemeineuropaisches Grundgesetz" gewahrleistet sie einen bei jeder StrafVerfolgung zu wahrenden gemeineuropaischen Grundrechtsstandard. Mit der Individualbeschwerde (Art. 34 EMRK), die beim Europaischen Gerichtshof fur Menschenrechte (EGMR) zu erheben ist, stellt sie ein bedeutsames volkerrechtliches Instrument zur effektiven Durchsetzung dieser Garantien zur Verfiigung. Die reiche Spruchpraxis des EGMR formt die europaischen Grundfreiheiten nicht selten bis hin zu auBerst konkreten Gewahrleistungen. Dadurch werden die Strafrechtssysteme der Konventionsstaaten ,,von auBen her" harmonisiert und auf ubernational giiltige MaBstabe der Fairness und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Das von der EMRK und ihren Zusatzprotokollen etablierte System des Menschenrechtsschutzes wird deshalb zu Recht als eine der ,,Triebfedern" bzw. als ,,Katalysator" der Europaisierung des Strafrechts bezeichnet43. Die in ihr enthaltenen Verfahrensgarantien gehen zum Teil iiber die Gewahrleistungen des nationalen Rechts (Verfassungs- und Strafprozessrecht) hinaus, was vor allem Strafjuristen zu einer vertieften Beschaftigung mit der Konvention veranlassen sollte44. 43
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Esser, Europaisches Strafverfahrensrecht, S. 45; Jung, JuS 2000, 417, 418 ff.; ders., StV 1990, 509, 514 f.; Kiihne, StV 2001, 73, 75.; Tiedemann, Europaisierung, S. 134, 140. Weigend, StV 2000, 384 ff.
C. Bedeutung der EMRK fur die europaische Strafrechtspflege
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I. System des Menschenrechtsschutzes In erster Linie muss der Schutz der Menschenrechte durch das innerstaatliche 21 Recht der Konventionsstaaten gesichert werden. Alle Mitgliedstaaten des Europarates (Rn. 3) sind Vertragsstaaten der EMRK. Als solche sind sie volkervertragsrechtlich verpflichtet, die Einhaltung aller in der EMRK verbrieften Rechte zu gewahrleisten. Die meisten Konventionsstaaten haben die EMRK mit einem Vertragsgesetz in innerstaatliches Recht umgesetzt. In Deutschland wurde die EMRK durch das Gesetz tlber die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 7. August 1952 ratifiziert45 Die Bundesrepublik Deutschland ist daher an die EMRK und deren Auslegung durch den Europaischen Gerichtshof fur Menschenrechte (EGMR) liber den gem. Art. 59 II GG erfolgten innerstaatlichen Zustimmungsakt gebunden46 In einigen Staaten (z. B. Osterreich, Griechenland) gilt die EMRK mit Verfassungsrang. Praktisch alle Mitgliedsstaaten des Europarates haben die EMRK in ihr innerstaatliches Recht integriert47 Dies bedeutet, dass der einzelne Burger sich vor den nationalen Behorden und Gerichten auf die Bestimmungen der EMRK berufen kann und dass die staatlichen Organe die umfangreiche Rechtsprechung (das sogenannte ,,Case Law") des EGMR beachten mussen. Da die EMRK im innerstaatlichen Recht der Bundesrepublik Deutschland nicht 22 mit Verfassungsrang ausgestattet ist, kann eine Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar auf eine Konventionsverletzung gestiltzt werden48. Jedoch misst das BVerfG der Konvention groBe Bedeutung fur die Konkretisierung verfassungsrechtlicher Standards zu, was sich u. a. darin zeigt, dass die Judikatur des EGMR als Auslegungshilfe fur die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsatzen des GG herangezogen wird49. Auch das BVerwG und der BGH erkennen eine ,,Pflicht zur Beachtung einer gefestigten Auslegungspraxis" des EGMR an50. Sollte der Schutz durch nationale Gerichte versagen und ist der innerstaatliche 23 Rechtsweg ausgeschopft, kann jeder Betroffene Individualbeschwerde gem. Art. 34 ff. EMRK beim EGMR in StraBburg erheben. Ebenso konnen auch Staaten gegen andere Staaten Beschwerde erheben (Art. 33 EMRK)51, was in der Praxis allerdings sehr selten vorkommt. In den Mitgliedstaaten, in denen eine verfassungsgerichtliche Kontrolle von Gesetzen fehlt oder nur schwach ausgepragt ist (wie in Frankreich, wo der Verfassungsrat Gesetze nur vor ihrer Verkiln45
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BGB1. II 1952, 686, 953; 1954, 14; 1968, 1116, 1120; 1970, 1315; 1972, 105; 1989, 546,991; 1995,578. BVerfGE 82, 106, 115; Kiihl, Z S t W 100 (1989), 406 ff. Ehlers, JURA 2000, 372, 373; Ziegenhahn, Menschenrechte und grenziiberschreitende Zusammenarbeit, S. 472 ff. BVerfGE 64, 135, 157. BVerfGE 74, 358, 370 = NJW 1987, 2427 = NStZ 1987, 421. B V e r w G J Z 2000, 1050 m. A n m . v. Kadelbach; B G H S t 45, 321 ff; 46, 93, 97; Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339, 342 ff. Vgl. hierzu Ehlers, J U R A 2000, 372, 381 und Oppermann, Europarecht, Rn. 84.
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§ 3 Europarat
dung iiberpriifen darf), kommt dem Rechtsschutz durch den EGMR die Funktion einer Art ,,Ersatz-Verfassungsgerichtsbarkeit" zu.
1. Konventionsorgane 24 Ursprttnglich wurden zwei voneinander unabhangige Organe zur Uberwachung der Anwendung der EMRK gegrtindet: Die Europaische Kommission fiir Menschenrechte (1954) und der Europaische Gerichtshof fiir Menschenrechte (1959). Um die standig steigende Anzahl von Fallen effektiver bewaltigen und insbesondere die durchschnittliche Verfahrensdauer abkiirzen zu konnen, beschloss man 1993 die Errichtung eines neuen Europaischen Gerichtshofs fiir Menschenrechte (EGMR) als Nachfolger des zweigleisigen alten Systems. Durch das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK52 wurde das Rechtsschutzsystem der Konvention grundlegend umgestaltet53. Der neue standige Europaische Gerichtshof fiir Menschenrechte hat am 1. November 1998 seine Tatigkeit aufgenommen. Die Richter, die von der Beratenden Versammlung des Europarates gewahlt werden, sind vollkommen unabhangig. Ihre Anzahl entspricht derjenigen der Konventionsstaaten. Das neue System kennt drei verschiedene Spruchkorper: Ausschiisse mit drei Richtern zur Vorprufung von Individualbeschwerden, Kammern mit sieben Richtern, denen die Regelzustandigkeit fur substanzhaltige Individualbeschwerden zukommt und die GroBe Kammer mit siebzehn Richtern, welche fur die Entscheidung besonders wichtiger Rechtsfragen zustandig ist. 25 Neben dem EGMR besteht weiterhin das Ministerkomitee des Europarates als Konventionsorgan mit ,,politischem Einschlag". Das Ministerkomitee kann beim Gerichtshof die Erstattung eines Rechtsgutachtens zu Konventionsfragen beantragen und wacht ilber die Durchfuhrung endgilltiger Urteile des EGMR.
2. Verfahrensgang nach Einlegung einer Individualbeschwerde 26 Jede natiirliche Person, nicht-staatliche Organisation oder Personenvereinigung kann die angebliche Verletzung eines in der EMRK verbrieften Rechts durch einen Konventionsstaat mittels Individualbeschwerde beim EGMR riigen (Art. 34 EMRK). Das Verfahren vor dem Gerichtshof ist kostenfrei. Die Amtssprachen des Gerichtshofs sind Englisch und Franzosisch. Die Beschwerde und alle Schriftsatze konnen jedoch bis zur Zulassigkeitserklarung in der Sprache eines Konventionsstaates abgefasst sein. Etwas vereinfacht dargestellt, gestaltet sich der Verfahrensgang54 nach Einlegung einer Individualbeschwerde wie folgt:
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BGB1. II 1995, 578; 1998, 2582. Vgl. hierzu Esser, Europaisches Strafverfahrensrecht, S. 46; Kilhne, Strafprozessrecht, Rn. 36; Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 1999, 1165. Vgl. hierzu die praxisnahen Darstellungen von Ehlers, IURA 2000, 372, 381 ff.; Sommer, in: Brussow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, Band 1, 3. Aufl., 2004, § 17 Rn. 2 ff., 22 ff. sowie Meyer-Ladewig/Petzold, NJW 1999, 1165 f.
C. Bedeutung der EMRK fur die europaische Strafrechtspflege
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Nach Eingang der Beschwerde pruft ein Ausschuss des Gerichtshofs zunachst 27 deren Zulassigkeit (Art. 28 EMRK). Dies bedeutet, dass die Beschwerde bestimmte in der EMRK festgelegte Anforderungen erfullen muss55. Hierzu gehoren vor allem die vorherige Beschreitung und Ausschopfung des innerstaatlichen Rechtsweges56 sowie die Einhaltung der Sechs-Monats-Frist nach Erlass der endgiiltigen innerstaatlichen Entscheidung. In Fallen der Untersuchungshaft ist der Anforderung der Ausschopfung des innerstaatlichen Rechtsweges Geniige getan, wenn der BeschwerdefUhrer alle nach nationalem Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe gegen die Haftentscheidung ergriffen hat. Er muss also nicht etwa den rechtskraftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens der letzten Instanz abwarten57. Die Beschwerde darf nicht mit einer vom Gerichtshof bereits gepruften Beschwerde ilbereinstimmen oder bereits einer anderen internationalen Untersuchungs- oder Vergleichsinstanz vorgelegt worden sein, ohne dass nunmehr neue Tatsachen vorgetragen werden. Als unzulassig werden auch offensichtlich unbegriindete oder missbrauchliche Beschwerden verworfen. Ein einstimmiger Verwerfungsbeschluss ist endgultig (Art. 28 S. 2 EMRK). Wenn eine Beschwerde gemaB den Vorschriften der EMRK fur zulassig erklart 28 wurde, entscheidet in der Regel eine Kammer (Art. 29 EMRK). Diese strebt zunachst eine giltliche Einigung zwischen den Parteien (dem Beschwerdefuhrer und dem beklagten Staat) an. Eine einvernehmliche Losung kann zum Beispiel in der Zahlung einer Entschadigung durch den Staat oder einer Gesetzesanderung bei gleichzeitiger Rucknahme der Beschwerde bestehen. Gegen Urteile der Kammer ist eine Art ,,Berufung" zur GroBen Kammer moglich. Wird diese nicht innerhalb von drei Monaten eingelegt, wird das Urteil der Kammer rechtskraftig. Dann ist keine Berufung mehr mSglich. Die Urteile der GroBen Kammer werden mit ihrer Verkundung sofort rechtskraftig.
3. Wirkung rechtskraftiger Urteile des Gerichtshofs Rechtskraftige Urteile des Gerichtshofes sind volkerrechtlich verbindlich 29 (Art. 46 I EMRK). Sie stellen allerdings nur einen etwaigen VerstoB des beklagten Staates gegen die EMRK fest. Der Gerichtshof kann also nicht etwa ein nationales Gerichtsurteil kassieren58. Er ist keine ,,Superrevisionsinstanz". Wenn der EGMR eine Verletzung der Konvention festgestellt hat, beinhaltet das Urteil fur den betroffenen Staat die Verpflichtung, den festgestellten RechtsverstoB - soweit dieser fortdauert - unverziiglich abzustellen sowie in Zukunft vergleichbare VerstoBe gegen die EMRK zu unterlassen. AuBerdem kann der Gerichtshof dem in seinen Rechten verletzten Beschwerdefuhrer eine Entschadigung als Wiedergutmachung fur erlittene materielle und immaterielle Schaden zuerkennen, die der betroffene Staat zu zahlen hat (Art. 41 EMRK).
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Vgl. hierzu Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 36. Dies erfordert in Deutschland - falls zulassig - auch die Anrufung des BVerfG. KiihnelEsser, StV 2002, 383, 384 m. w. N . Vgl. nur Ehlers, JURA 2000, 372, 382 und Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 41 m. w. N.
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§ 3 Europarat
Die Bindungswirkung (materielle Rechtskraft) eines Urteils des EGMR bezieht sich nur auf die am konkreten Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligten Parteien (Beschwerdefuhrer und Konventionsstaat). Nationales Recht vermag weder von den Konventionsgarantien noch von Urteilen des EGMR unmittelbar verdrangt zu werden. Die Behorden und Gerichte nicht verfahrensbeteiligter Konventionsstaaten sind daher an die in einer Entscheidung des EGMR festgestellte Rechtslage nicht gebunden, solange der nationale Gesetzgeber durch Erlass oder Anderung entgegenstehender Vorschriften keine neue (konventionskonforme) Rechtslage hergestellt hat59. Davon unberiihrt bleibt freilich die Pflicht aller innerstaatlichen Stellen zu einer konventionskonformen Auslegung und Anwendung nationaler Rechtsvorschriften, sofern diese einen entsprechenden Interpretationsspielraum zulassen60. In derselben Sache diirfen die nationalen Entscheidungstrager des verurteilten Konventionsstaates von der rechtlichen Wurdigung der EMRK durch den Gerichtshof nicht abweichen. Fur deutsche Gerichte folgt diese volkerrechtliche Pflicht aus dem Rechtsgedanken des § 358 I StPO.
4. Innerstaatliche Umsetzung von Urteilen des Gerichtshofs 31 Fur die Uberwachung der innerstaatlichen Umsetzung von Urteilen des EGMR ist das Ministerkomitee des Europarates zustandig (Art. 46 II EMRK). Dieses hat z. B. dafur zu sorgen, dass der Beschwerdefuhrer die ihm vom Gerichtshof zuerkannte Entschadigung auch wirklich erhalt und dass weitere MaBnahmen zur Wiedergutmachung getroffen werden. Es kann sich dabei zum Beispiel um die Wiederaufnahme eines Gerichtsverfahrens (vgl. § 359 Nr. 6 StPO)61, die Aufhebung einer Beschlagnahme oder die Streichung einer Vorstrafe aus dem Strafregister handeln. Diese WiedergutmachungsmaBnahmen beziehen sich aber nur auf das konkrete, dem Urteil des Gerichtshofs zugrunde liegende Verfahren. Daruber hinaus stellt das Ministerkomitee sicher, dass die Staaten jene MaBnahmen treffen, die zur kiinftigen Vermeidung von Konventionsverletzungen notwendig sind. Dies kann eine Anderung der Gesetze, der Rechtsprechung (konventionskonforme Auslegung) oder der Verwaltungspraxis erfordern, aber z. B. auch den Bau modernerer Gefangnisse oder den Einsatz zusatzlichen Justizpersonals mit sich bringen. 32 Beispielsfall: In einem gegen die Niederlande gefuhrten Beschwerdeverfahren hatte der EGMR einen Fall zu beurteilen, in dem bestimmte Liicken der niederlandischen Strafgesetzgebung zutage getreten waren62. Ein Tater, der eine geistig behinderte Minderjahrige zwang, sich zu entkleiden und mit ihm sexuell zu verkehren, konnte nach den damals einschlagigen Bestimmungen des niederlandischen Strafrechts fur diese Tat nicht belangt werden. Der Vater des Tatopfers und dieses selbst erhoben Beschwerde bei der (damals zu59
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Vgl. hierzu LG Mainz NJW 1999, 1271; Eisele, JA 2000, 424, 428; Haass, NStZ 1999, 442 ff.; Masuch, NVwZ 2000, 1266, 1267 ff.; Weigend, StV 2000, 384, 387 f. Vgl. hierzu BGHSt 46, 93, 97 ff.; Gollwitzer, in: Lowe/Rosenberg, StPO und GVG, Band 6/2, 24. Aufl., 1996, MRK Einl. Rn. 43; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 41; Masuch, NVwZ 2000, 1266, 1268; Vogler, EuGRZ 1979, 640, 642. Vgl. hierzu Weigend, StV 2000, 384, 388. EGMR EuGRZ 1985,297.
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standigen) Kommission fur Menschenrechte. Der Gerichtshof stellte im Ergebnis fest, dass die Niederlande ihre Schutzpflicht aus Art. 8 EMRK (Schutz des Privatlebens) verletzt habe und sprach der Beschwerdefiihrerin die Zahlung einer Entschadigung zu. Aus der genannten Konventionsgarantie leitete der EGMR eine staatliche Pflicht ab, geistig behinderte Minderjahrige vor Angriffen gegen ihr Recht auf sexuelle Selbstbestimmung mit strafrechtlichen Mitteln zu schutzen. Zivilrechtliche Vorschriften allein begrtlndeten keinen ausreichenden Schutz. Die innerstaatliche Umsetzung dieser Entscheidung erfordert somit ein Tatigwerden des niederlandischen Gesetzgebers. Er muss fur eine Anpassung des nationalen Strafrechts an die vom EGMR konkretisierten Konventionsgarantien sorgen.
II. Anwendungsbereiche strafrechtsrelevanter Konventionsrechte Die folgende Darstellung soil einen kursorischen Uberblick ttber die Anwen- 33 dungsbereiche strafrechtsrelevanter Garantien der EMRK liefern63.
1. Autonome Auslegung der Konventionsrechte Fall 1: In einem im Jahre 1984 laufenden Verfahren verhangte das AG Heilbronn gegen ei- 34 nen turkischen Staatsangehorigen eine GeldbuBe in Hone von DM 60.- wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit. Nach seinem Einspruch gegen den BuBgeldbescheid vernahm das AG den Betroffenen sowie mehrere Zeugen unter Hinzuziehung eines Dolmetschers. Sodann nahm der Betroffene seinen Einspruch zurilck. Das Amtsgericht verurteilte den Betroffenen in seiner Nebenentscheidung zur Zahlung der Gerichtskosten. Die Gerichtskasse bilrdete daraufhin dem Betroffenen auch die Kosten fur die Zuziehung des Dolmetschers in Hohe von DM 63,90.- auf. Diese Kostenentscheidung wurde vom LG bestatigt. Hiergegen erhob der Betroffene Beschwerde bei der (damals zustandigen) Kommission fur Menschenrechte, mit der er die Verletzung seines Rechts auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers aus Art. 6 III lit. e EMRK rugte64. Mit Erfolg? Losungshinweise zu Fall 1: Die Beschwerde hatte Erfolg. Zwar bezieht sich die 35 Konventionsbestimmung des Art. 6 III lit. e EMRK nur auf ,,Strafverfahren". Der EGMR vermochte sich aber nicht der Auffassung der deutschen Bundesregierung als Vertreterin des beklagten Staates anzuschlieBen, welche argumentiert hatte, die Konvention finde schon deshalb keine Anwendung, weil die Kosten dem Betroffenen nicht in einem Straf-, sondern in einem BuBgeldverfahren auferlegt worden
Umfassendere Darstellungen der strafrechtsrelevanten Konventionsrechte mit eingehender Wtirdigung der Rechtsprechung des EGMR finden sich bei Esser, Europaisches Strafverfahrensrecht, passim; Kiihne, in: Kreuzer (Hrsg.), Europaischer Grundrechtsschutz, 1998, S. 55 ff.; Peters, Einfuhrung in die Europaische Menschenrechtskonvention, 2003, passim; Sommermann, Der Schutz der Menschenrechte im Rahmen des Europarates, 1990, passim und FroweinlPeukert, EMRK, 2. Aufl., 1996; vgl. zu bestimmten Themenausschnitten auch Bose, ZRP 2001, 402 ff.; Eisele, JA 2000, 424, 427 ff.; ders., JR 2004, 12 ff.; Frowein, NVwZ 2002, 29, 30 ff.; Kiihl, ZStW 100 (1988), S. 406 ff., 601 ff.; Kiihne, StV 2001, 73 ff.; ders., JZ 2003, 670 ff.; Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 402 ff. EGMR (,,Ozturk/Deutschland") EuGRZ 1985, 62.
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seien. Der EGHM sah dies - wie zuvor bereits die Kommission fur Menschenrechte - anders. Im Hinblick auf den repressiven Charakter des BuBgeldverfahrens und der Sanktionierungswirkung eines BuBgelds seien die nach deutschem Recht verhangten Ordnungswidrigkeiten als Straftaten im Sinne der EMRK zu werten. Dabei betonte der Gerichthof das Prinzip einer von der nationalen Begrifflichkeit unabhangigen, autonomen Auslegung der Konventionsrechte65. Die Entscheidung ist zwar - wie sich aus den abweichenden Voten einiger Richter ergibt nicht ganz unproblematisch. Da aber im Ergebnis festgestellt wurde, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen Art. 6 III lit. e EMRK verstoBen hat, musste sie das einschlagige innerstaatliche Recht (Gerichtskostengesetz) andern. In der Folgezeit wurden die im BuBgeldverfahren geltenden Kostenbestimmungen der Konventionsauslegung des Gerichtshofes entsprechend angepasst (vgl. § 57 GKG, § 464 StPO). 36 Das Recht auf unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers war bereits Gegenstand eines Urteils des EGMR aus dem Jahre 1978s6. Entgegen einer damals in der deutschen Justiz weit verbreiteten Praxis des Gerichtskostenrechts stellte der Gerichtshof fest, dass ein der Gerichtssprache nicht machtiger Angeklagter auch im Falle seiner Verurteilung nicht die Kosten zu tragen habe, die durch die Beiziehung eines Dolmetschers entstehen. Die besondere Bedeutung der Konventionsgarantie des Art. 6 III lit. e EMRK fur ein faires und rechtsstaatliches Verfahren hob auch der BGH in seinem Urteil v. 26. Oktober 2000 hervor67. Ein der Gerichtsprache nicht kundiger Angeklagter hat demnach unabhangig von seiner finanziellen Lage fur das gesamte Strafverfahren und damit auch fur das vorbereitende Gesprach mit einem Verteidiger einen Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers, auch wenn kein Fall einer notwendigen Verteidigung gegeben ist.
2. Konventionsgarantien als Auslieferungshindernis 37 Eine herausragende Rolle spielen die menschenrechtlichen Garantien im Bereich der grenzilberscheitenden Zusammenarbeit in Strafsachen68, insbesondere wenn es um Rechtshilfe und Auslieferung geht69. Der um Rechtshilfe (Auslieferung) ersuchte Staat befmdet sich dabei regelmaBig in einer gewissen ,,Konfliktsituation". Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass neben volkervertragsrechtlichen Kooperationsverpflichtungen sowohl volkerrechtlich als auch innerstaatlich (namentlich durch Verfassungsrecht) begrilndete Individualrechtspositionen des Verfolgten 65
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Zur autonomen Auslegung der Konventionsgarantien durch den E G M R vgl. Esser, Europaisches Strafverfahrensrecht, S. 51 ff., Jung, E u G R Z 1996, 370, 372 f. E G M R E u G R Z 1979, 34 = N J W 1979, 1091 mit Anm. Vogler, E u G R Z 1979, 640.
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BGHSt46, 178.
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Einen die praktische Arbeit erleichternden Zugang zu den Grundlagen der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen verschafft das Werk von Hackner u. a., Internationale Rechtshilfe. Z u den Grundfragen d e s Auslieferungsrechts vgl. die Einfuhrung von Weigend, J u S 2000, 105.
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(Auszuliefernden) zu beachten sind70. Einerseits wird der ersuchte Staat schon im eigenen politischen Interesse darauf bedacht sein, seinen bestehenden Rechtshilfeverpflichtungen nachzukommen, andererseits darf er dabei seine Bindungen an Grund- und Menschenrechte nicht missachten. Es ist gmndsatzlich anerkannt, dass Konventionsrechte einen Staat dazu verpflichten konnen, die Auslieferung einer strafrechtlich verfolgten oder rechtskraftig verurteilten Person zu unterlassen, selbst wenn der ersuchte Staat durch einen (bilateralen, regionalen oder multinationalen) Auslieferungsvertrag dem ersuchenden Staat zur Auslieferung verpflichtet ist71. Neben den traditionellen Schranken des internationalen Rechtshilferechts72 konnen die Konventionsgarantien als subjektive Rechte des Einzelnen ein Auslieferungshindernis konstituieren. a) Drohende Todesstrafe und unmenschliche Behandlung Fall 2: Der deutsche Staatsangehorige S, der im Verdacht stand, in Virginia (USA) die El- 38 tern seiner Freundin getotet zu haben, war nach GroBbritannien geflohen. Die USA stellten ein Auslieferungsgesuch, dem GroBbritannien aufgrund des bestehenden Auslieferungsvertrags auch stattgab. Gegen diese Entscheidung legte S Beschwerde bei der (damals zustandigen) Kommission fur Menschenrechte ein, welche den Gerichtshof zur endgiiltigen Entscheidung anrief. Im Falle einer Verurteilung in den USA drohte S die Todesstrafe. GroBbritannien hatte das 6. Zusatzprotokoll zur EMRK (Verbot der Todesstrafe) zu diesem Zeitpunkt (Ende der 1980er Jahre) noch nicht ratifiziert73. Frage 1: Hat das Vereinigte Konigreich durch seine Auslieferungsentscheidung gegen Art. 2 I, 3 I EMRK verstoBen? Frage 2: Wie stellt sich die Rechtslage in Deutschland dar, wenn dem Auszuliefernden im ersuchenden Staat die Todesstrafe droht? Losungshinweise zu Fall 2 (Frage 1): Der Auslieferung des S in die USA konnte 39
ein aus der EMRK abzuleitendes Auslieferungshindernis entgegenstehen74. Der Schutz des Lebens (Art. 2 I EMRK) und das Verbot von Folter, unmenschlicher Behandlung oder erniedrigender Strafe (Art. 3 I EMRK) gehoren aufgrund ihres engen Zusammenhangs mit der Menschenwiirde zu den fundamentalen Garantien der Konvention. Gerade die fur die internationale Rechtshilfe in Strafsachen so bedeutsamen Falle der Auslieferung bei drohender Verhangung bzw. Vollstreckung eines Todesurteils unterfallen jedoch nicht dem Schutzbereich des Art. 2 I EMRK. Derm nach Art. 2 I S. 2 EMRK ist die von einem Gericht verhangte Todesstrafe nicht konventionswidrig. Folglich kann auch die Auslieferung an einen
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Z u den auslieferungsrelevanten Konventionsrechten vgl. Esser, Europaisches Strafverfahrensrecht, S. 199 ff, 374 ff; zu den verfassungsrechtlichen Auslieferungsverboten Wolff, StV 2004, 154 ff. Vgl. hierzu Ziegenhahn, Menschenrechte und grenziiberschreitende Zusammenarbeit, S. 274 ff., 470 ff. Vgl. hierzu Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 190 ff. E G M R (,,Soering/Vereinigtes Konigreich") E u G R Z 1989, 314 = N J W 1990, 2183. Zur Anwendbarkeit der Konventionsrechte im Rechtshilfe- und Auslieferungsverkehr vgl. Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 274 ff, 405 ff.
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Staat, in welchem dem Auszuliefernden die Verhangung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, nicht gegen Art. 2 I EMRK verstoBen75. 40 Die von Art. 2 I EMRK noch uneingeschrankt als Ausnahme zum Recht auf Leben zugelassene Todesstrafe wurde erst durch Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK v. 28. April 1983 verboten. Die Formulierung des Verbots ,,Die Todesstrafe ist abgeschafft. Niemand darf zu dieser Strafe verurteilt oder hingerichtet werden" macht deutlich, dass hier nicht nur eine objektive Verpflichtung der Konventionsstaaten, sondern ein subjektives Recht der Strafverfolgten statuiert wird. Der EGMR hat inzwischen mehrfach entschieden, dass ein Konventionsstaat gegen Art. 1 des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK76 verstoBt, wenn ein Fluchtiger in einen Staat ausgewiesen wird, in dem er ernsthaft Gefahr lauft, zum Tode verurteilt oder hingerichtet zu werden77. Dies gilt auch fur Auslieferungen78. 41 In Fall 2 gelangte das 6. Zusatzprotokoll jedoch nicht zur Anwendung, da es von GroBbritannien seinerzeit noch nicht ratifiziert war. Fur den EGMR stellte sich daher die Frage, ob die Auslieferung in einen Staat, in welchem dem Auszuliefernden ein Todesurteil droht, gegen Art. 3 EMRK verstoBt. Da der Gerichtshof Art. 3 EMRK im Einklang mit Art. 2 I EMRK auslegen musste, welcher die Vollstreckung der von einem Gericht verhangten Todesstrafe ausdrilcklich zulasst, konnte er die Todesstrafe als solche nicht als ,,unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung" i. S. d. Art. 3 EMRK werten79. Der Gerichtshof priifte daher, ob nicht die einem Todeskandidaten in den USA drohenden Haftbedingungen eine Verletzung des Art. 3 EMRK begrunden konnen. Nach standiger Rechtsprechung wird die ,,unmenschliche Behandlung" definiert als eine Behandlung, die absichtlich schwere psychische und physische Leiden verursacht. Hierbei sind zum Beispiel die Art der Behandlung oder der Bestrafung und der Zusammenhang, in dem sie erfolgt, die Art und Weise ihrer Vollstreckung, ihre zeitliche Dauer, ihre physischen und geistigen Wirkungen sowie Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Betroffenen zu beriicksichtigen80. Auf der Grundlage dieser Definition und unter Abwagung aller konkreten Umstande des Einzelfalles entschied der EGMR, dass die Auslieferung des S an die USA im Hinblick auf das jahrelange Warten in der Todeszelle und das dadurch verursachte ,,Todeszellensyndrom" (Ungewissheit uber den Zeitpunkt der Hinrichtung) mit dem Verbot unmenschlicher Behandlung (Art. 3 EMRK) unvereinbar ist81. Der Gerichtshof betonte, dass die Verantwortlichkeit eines zur Auslieferung ersuchten Staates auch
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EGMR (,,Kirkwood/Vereinigtes Konigreich") Decisions&Reports 37, 158. V o n den 4 6 Europaratstaaten konnen derzeit 45 die Todesstrafe in Friedenszeiten w e der verhangen noch vollstrecken, da sie d a s 6. Zusatzprotokoll der E M R K ratifiziert haben. Einzige A u s n a h m e ist Russland, das noch kein Ratifikationsverfahren durchgefuhrt hat. EGMREuGRZ 1991, 203; EGMRNVwZ 1992, 869. Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 408 m. w. N. Vgl. das abweichende V o t u m des Richters de Meyer, E u G R Z 1989, 325. E G M R E u G R Z 1979, 149, 153; E G M R E u G R Z 1979, 162. E G M R (,,Soering/Vereinigtes Konigreich") E u G R Z 1989, 314 = N J W 1990, 2183.
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Beeintrachtigungen umfasse, die auBerhalb seines Hoheitsbereichs eintreten und die er durch schlichtes Nichtausliefern verhindern kann. Bahnbrechend war diese Entscheidung vor allem deshalb, weil sie die volker- 42 rechtliche Verantwortlichkeit der Konventionsstaaten fur die Wahrung der von der EMRK gewahrleisteten Menschenrechte auch auBerhalb ihres eigenen Hoheitsbereiches bzw. in Nicht-Konventionsstaaten begrilndete und somit die mittelbare territoriale Anwendbarkeit der Konvention maBgeblich erweitert hat. Dies hat fur den internationalen Rechtshilfeverkehr in Strafsachen zur Folge, dass den Konventionsstaaten eine Auslieferung an Staaten, in welchen dem Auszuliefernden die Anwendung von Folter oder unmenschlicher Behandlung droht, von Art. 3 EMRK untersagt wird. Bestehende (bilaterale) Rechtshilfe- und Auslieferungsvertrage zwischen Konventionsstaaten und sonstigen Staaten mttssen konventionskonform ausgelegt werden. Losungshinweise zu Fall 2 (Frage 2): Auch die Bundesrepublik Deutschland ist 43 als Konventionsstaat durch Art. 3 EMRK daran gehindert, in Fallkonstellationen wie dieser einem Auslieferungsersuchen stattzugeben. Da die deutsche Verfassung der Auslieferung von Verfolgten bei konkret drohender Todesstrafe entgegensteht (Art. 102, 1 I, 2 II 1 GG)82, ist diese durch § 8 IRG fur den vertragslosen Auslieferungsverkehr und durch entsprechende Erklarungen zu fast alien von Deutschland unterzeichneten Auslieferungsvertragen auch einfachrechtlich deklaratorisch ausgeschlossen worden83. b) Rechtschutzdefizit und ,,drakonische" Strafe Fall 3: Mit Verbalnote v. 18. Dezember 2000 ersuchten die USA die Republik Osterreich 44 um Auslieferung des amerikanischen und israelischen Staatsangehorigen W zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von 845 Jahren aus einem Urteil des Bezirksgerichts Orlando/Florida. Der Verurteilung des W lagen verschiedene im Rahmen von Schwindelfirmen begangene Betrugs- und Untreuehandlungen sowie Konkursstraftaten mit einem Gesamtschaden von mehreren Millionen US-Dollar zugrunde. W war wahrend einer Verhandlungspause, die der Beratung der Geschworenen vorausging, gefliichtet. So ergingen der Schuldspruch und die Festsetzung des Strafmafies in Abwesenheit des W. Die gegen das Urteil und das StrafmaB gerichtete Berufung des W wurde auf der Grundlage des Prinzips des Berechtigungsverlustes auf Antrag des Staatsanwaltes verworfen. Diesem steht nach amerikanischem Recht kein Rechtsmittel mehr gegen seine Verurteilung zu84. Frage 1: Besteht ein von Osterreich zu beachtendes Auslieferungshindernis? Frage 2: Wie ware der Fall zu beurteilen, wenn ein entsprechendes Auslieferungsgesuch an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet wurde? Losungshinweise zu Fall 3 (Frage 1): Zwischen der Republik Osterreich und den 45 USA besteht ein Auslieferungsvertrag, der in Art. 9 bestimmt, dass der ersuchte Staat die Auslieferung ablehnen kann, sofern der ersuchende Staat nicht solche InVgl. zu den verfassungsunmittelbaren Auslieferungsverboten BVerfGE 75, 1 = NJW 1987, 2155; BVerfGNJW 1994, 2883; Wolff, StV 2004, 154, 158 sowie OLG Koblenz StV 2002, 87 (Auslieferungsverbot bei drohender Folter). Hackner u. a., Internationale Rechtshilfe, Rn. 119. OLG Wien NStZ 2002, 669 m. Anm. v. Bose.
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formationen oder Zusicherungen abgibt, die der ersuchte Staat als ausreichend erachtet, um klarzustellen, dass die Person eine angemessene Moglichkeit hatte, ihre Verteidigungsrechte zu wahren, oder dass ihr nach der Ubergabe angemessene Rechtsmittel oder zusatzliche Verfahren offen stehen. 46 Dem Vertragswortlaut nach konnte man zu der Auffassung gelangen, W habe in den USA, namlich in dem Verfahren vor dem Bezirksgericht Orlando/Florida, bereits ausreichend Gelegenheit gehabt, seine Verteidigungsrechte zu wahren. Dass ihm nunmehr im Falle einer Auslieferung an die USA nach dem Prinzip des Berechtigungsverlustes keine weiteren Rechtsmittel mehr zur Verfugung stilnden, habe er sich selbst zuzuschreiben und zu verantworten, da er sich dem Verfahren vor dem Geschworenengericht durch Flucht ins Ausland entzogen habe. Fraglich ist, ob diese Auslegung den Anforderungen der EMRK genilgt, die im innerstaatlichen Recht Osterreichs Verfassungsrang genieBt85. 47 Ein Auslieferungshindernis kann nicht etwa aus Art. 13 EMRK abgeleitet werden, der das Recht auf wirksame Beschwerde festschreibt, da der Schutzbereich dieser Garantie nicht betroffen ist. Bei Art. 13 EMRK geht es darum, dem Einzelnen Rechtsschutzmoglichkeiten vor innerstaatlichen Rechtsschutzinstanzen (nicht notwendigerweise vor einem Gericht) zu sichern, um die mogliche Verletzung der in der Konvention festgelegen Rechte rilgen zu konnen86. Genau dieses Recht wird in dem ersuchten Staat (Osterreich) aber gewahrleistet. 48 Ein menschenrechtlich fundiertes Auslieferungshindernis konnte sich daraus ergeben, dass fur W im ersuchenden Staat (USA) keine Moglichkeit mehr besteht, gegen das Urteil des Bezirksgerichts Rechtsmittel einzulegen. Nach Auffassung des OLG Wien wttrde die Auslieferung des W ohne vorherige Zusicherung, dass seine Verurteilung von einem ubergeordneten Gericht ilberpruft wird, Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK verletzen. Dieser lautet: ,,Wer von einem Gericht wegen einer strafbaren Verhandlung verurteilt worden ist, hat das Recht, das Urteil von einem ubergeordneten Gericht nachprufen zu lassen." Der Senat bedient sich hierbei methodisch des Instruments der verfassungskonformen Auslegung des zwischen den USA und der Republik Osterreich geschlossenen Auslieferungsvertrages. Im Lichte der mit Verfassungsrang ausgestatteten Rechtschutzgarantie des 7. Zusatzprotokolls ist der in Art. 9 des bilateralen Auslieferungsvertrages geregelte Ablehnungsgrund des Fehlens angemessener Rechtsmittel gegeben. Dass sich W durch Flucht dem Strafverfahren in den USA entzogen und dadurch nach amerikanischem Recht seine Berechtigung zum Einlegen von Rechtsmitteln verwirkt hat, darf ihm in Osterreich nicht entgegengehalten werden. Zwar ist eine Auslieferung zur Vollstreckung eines Abwesenheitsurteils nicht schlechthin unzulassig, sofern der Verfolgte von dem Strafverfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich diesem Verfahren aber durch Flucht entzogen hat und er im Strafverfahren von einem ordnungsgemaB bestellten Verteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher
Vgl. zum Einfluss der EMRK auf das osterreichische Straf- und Strafverfahrensrecht Fuchs, ZStW 100 (1988), S. 444 ff. FroweinlPeukert, EMRK, 2. Aufl., 1996, Art. 13 Rn. 2 ff.
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Mindestanforderungen verteidigt werden konnte87. Jedoch darf - worauf der EGMR in seiner vom OLG Wien zitierten Entscheidung hinweist - der Verfolgte nicht durch Vorenthaltung seiner Verfahrensrechte dazu gezwungen werden, sich dem Strafverfahren zu stellen88. Der EGMR hat es deshalb als ,,offensichtlich unverhaltnisma'Big" angesehen, das Fernbleiben des Verfolgten mit einem weitgehenden Verbot der Verteidigung zu sanktionieren. Das vom OLG Wien unter direkter Heranziehung von Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK angenommene Auslieferungshindernis kann sich somit auf die Judikatur des EGMR stiltzen89. Losungshinweise zu Fall 3 (Frage 2): Der vom OLG Wien vorgezeichnete Weg, 49 ein Auslieferungshindernis unmittelbar aus Art. 2 des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK abzuleiten, ist fur die Bundesrepublik Deutschland derzeit nicht gangbar, da sie zu den wenigen Staaten gehort, die das 7. Zusatzprotokoll zwar gezeichnet, aber noch nicht ratifiziert haben. Freilich ist die Bundesrepublik - unabhangig von der innerstaatlichen Geltung der Konventionsrechte - volkerrechtlich zu deren Einhaltung verpflichtet. Nach gefestigter Rechtsauffassung in Rechtsprechung und Literatur sind die Konventionsgarantien der EMRK bei der Auslegung des Grundgesetzes zu berilcksichtigen90. Wenn es um die Prufung verfassungsrechtlicher Auslieferungshindernisse ging, vertrat das BVerfG bisher tendeziell eine restriktive Rechtsprechungslinie und hielt eine Auslieferung erst dann fur unzulassig, wenn die Behandlung des Verfolgten im ersuchenden Staat nicht dem volkerrechtlichen Mindeststandard entsprach oder Grundrechte verletzte, die zu den unabdingbaren Grundsatzen der verfassungsrechtlichen Ordnung gehoren91. Auf die Hintergrunde, die das BVerfG zu dieser ,,Vergroberung" des verfassungsrechtlichen PrufungsmaBstabes im Bereich der grenzilberschreitenden Zusammenarbeit veranlasst haben, kann an dieser Stelle nicht vertieft eingegangen werden92. Ein zentraler Grund dilrfte darin liegen, dass jeweils die Grundrechte des Verfolgten und das auf die arbeitsteilige internationale Strafrechtspflege anzuwendende (gegenlaufige) Gebot einer effektiven Strafverfolgung gegeneinander abzuwagen sind. Ein Auslieferungshindernis kann in Fall 3 jedenfalls nicht auf Art. 19 IV GG gestutzt werden, da diese Verfassungsbestimmung zwar gerichtlichen Rechtsschutz gegen Akte der offentlichen Gewalt, aber nach herrschendem Verfassungsverstandnis gerade keine Rechtmittel gegen gerichtliche Entscheidungen garantiert93. Nach deutschem Verfassungsrecht miisste jedoch im Hinblick auf die in den 50 USA gegen W verhangte Strafe von 845 Jahren ein Auslieferungshindernis ange-
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BVerfG NJW 1987, 830 mit Verweis auf EGMR EuGRZ 1985, 631; BGH JZ 2002, 464 m. Anm. v. Vogel. EGMR (,,Krombach/Frankreich") NJW 2001, 2387, 2391. Vgl. hierzu Bose, NStZ 2000, 670, 671. BVerfGE 74, 358, 370; Kiihl, ZStW 100 (1988), S. 406, 409 f. BVerfGE 59, 280, 283; 63, 332, 337; 75, 1, 19; BVerfG NJW 2001, 3111, 3113. Vgl. hierzu Bose, NStZ 2002, 670 f. BVerfGE 11, 263, 265; Bose, NStZ 2002, 669, 670.
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nommen werden94. Dies folgt aus dem in Art. 1 GG verankerten Gebot der Achtung der Menschenwtirde, dem das Verbot erniedrigender und unmenschlicher Bestrafung immanent ist. Die Menschenwilrde wird in ihrem unantastbaren Kern betroffen, wenn der Verurteilte ungeachtet der weiteren Entwicklung seiner Personlichkeit jegliche Hoffnung aufgeben muss, seine Freiheit jemals wieder zu erlangen95. 51 Des Weiteren wtirde die Auslieferung des W gegen Art. 3 EMRK verstoBen. Eine grob unverhaltnismaBige Strafe kann sich namlich je nach den Umstanden des Einzelfalles als ,,unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung" darstellen96. In Fall 3 ist W wegen diverser Vermogensdelikte verurteilt worden, fur die in den entsprechenden Straftatbestanden des deutschen StGB (vgl. §§ 263 III, 266 II StGB) Hochststrafen von zehn Jahren vorgesehen sind. Die Verhangung einer Freiheitsstrafe von 845 Jahren, die dem Verurteilten keine Hoffnung lasst, seine Freiheit jemals wieder zu erlangen, erscheint - gemessen an dem Tatvorwurf und der in Deutschland hierbei fur angemessen gehaltenen Hochststrafe - unertraglich hart und unangemessen97. 3. Strafprozessuale Verfahrensgarantien 52 Die Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK zahlen neben den in Art. 3 EMRK normierten Individualrechten zu den bedeutsamsten menschenrechtlichen Gewahrleistungen der Konvention98. Bei den in Art. 6 I - III EMRK formulierten Rechten handelt es sich um Mindestgarantien, die in jedem rechtsstaatlichen Strafverfahren zu beachten sind. Hierzu gehoren namentlich der Grundsatz des fairen Verfahrens (Art. 6 I EMRK), die Unschuldsvermutung (Art. 6 II EMRK) und bestimmte Verteidigungsrechte des Angeklagten (Art. 6 III lit. a bis e EMRK). Letztere stellen nicht abschlieBend aufgefuhrte Auspragungen des Rechts auf ein faires Verfahren dar, welches das Kernstuck samtlicher Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK bildet. a) Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten 53 Der EGMR stellte fest, dass Frankreich gegen das in Art. 6 I EMRK verankerte ,,fair-trial-Prinzip" verstoBen habe, weil ein franzosisches Gericht einem nichtverteidigten Beschuldigten im Rahmen des Strafverfahrens kein eigenes Akteneinsichtsrecht gewahrte". Die bis zur Anderung der StPO im Jahre 1999 geltende deutsche Gesetzeslage, die lediglich dem Verteidiger, nicht aber dem Angeklagten 94 95 96 97 98
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Bose, NStZ 2002, 670, 671 f. BVerfGE45, 187, 228 f., 245; 65, 261, 281; 72, 105, 116 f. EKMR DR 37, 209, 220/232 f.; Trechsel, EuGRZ 1987, 69, 73. Bose, NStZ 2002, 670, 672. Esser, Europaisches Strafverfahrensrecht, 2002, S. 51 ff., 400 ff.; Kiihl, ZStW 100 (1989), S. 406, 413 ff.; Sommer, in: Brussow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, Band 1,3. Aufl., 2004, § 17 Rn. 43 ff.; vgl. hierzu auch Simon, Die Beschuldigtenrechte nach Art. 6 III EMRK, 1998, passim. EGMR NStZ 1998, 429 m. zust. Anm. Deumeland.
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einen eigenen Anspruch auf Akteneinsicht zubilligte, war somit im Lichte der EMRK hochst problematisch. Mit dem neu geschaffenen § 147 VII StPO, der dem nichtverteidigten Beschuldigten das Recht zugesteht, Abschriften aus den Akten zu verlangen, reagierte der deutsche Gesetzgeber auf die Vorgaben der StraBburger Richter. In neueren Urteilen zum Akteneinsichtsrecht100 betont der EGMR, dass das ,,fair-trial-Prinzip" verletzt werde, wenn der Verteidigung der Zugang zu denjenigen Dokumenten verweigert werde, die wesentlich sind, um die RechtmaBigkeit der Untersuchungshaft ihres Mandanten angreifen zu konnen. Zwar sei die Notwendigkeit effektiver polizeilicher Ermittlungen, einschlieBlich der Geheimhaltung bestimmter Informationen, anzuerkennen. Dieser legitime Zweck konne jedoch nicht dazu fuhren, dass Rechte der Verteidigung substantiell beschnitten werden. Damit ist die Konventionswidrigkeit einer staatsanwaltlichen Praxis klargestellt, die allzu leichtfertig unter Hinweis auf eine Gefahrdung des Untersuchungszwecks (§ 147 II StPO) Akteneinsicht verweigert101. b) Einsatz von Lockspitzeln Nicht minder problematisch ist aus menschenrechtlicher Sicht die hochstrichterli- 54 che Rechtsprechung in Deutschland, die den Einsatz von und die Tatprovokation durch polizeiliche Lockspitzel zur Uberfilhrung von Straftatern - etwa im Bereich der Drogenbekampfung - lediglich als Strafmildemngsgrund beriicksichtigt102. Der EGMR entschied jtlngst in einem Verfahren gegen Portugal, dass unbescholtene und bislang unverdachtige Burger nicht durch staatliche Agenten in Straftaten hineingezogen werden diirfen103. Wenn der Gerichtshof in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass das offentliche Interesse nicht den Gebrauch von Beweismitteln rechtfertigen kann, die als Ergebnis polizeilicher Provokation gewonnen wurden, so liegt dem die Auffassung zugrunde, dass das Recht auf ein faires Verfahren einen so herausragenden Rang einnimmt, dass es zweckmaBigkeitsilberlegungen nicht geopfert werden darf04. Folglich miisste in einschlagigen Fallen im Hinblick auf den VerstoB gegen Art. 6 I EMRK regelmaBig von einer Verwirkung des staatlichen Strafanspruches ausgegangen werden105. c) Frage- und Konfrontationsrecht des Beschuldigten Art. 6 III lit. d EMRK garantiert dem Beschuldigten das Recht, Fragen an Belas- 55 tungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen sowie die Ladung und Vernehmung der Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen wie die der Belastungszeugen zu erwirken. Der EGMR erblickte einen VerstoB gegen diese Konventionsgarantie u. a. darin, dass ein osterreichisches Gericht die strafrechtliche Verurteilung des Beschwerdefuhrers im Wesentlichen auf die Verlesung polizeilicher Verneh100 101 102 103 104 105
Vgl. hierzu den Bericht von Ambos, NStZ 2003, 14 ff. m. w. N. Vgl. hierzu Schlothauer, StV 2001, 192 ff. BGHSt 32, 115, 121 ff.; 32, 345; 33, 283; 45, 321; BGH NStZ 1995, 506; vgl. hierzu Meyer-Gofiner, StPO, 47. Aufl., 2004, § 163 Rn. 34 a m. w. N. EGMR NStZ 1999, 47 = StV 1999, 127 m. Anm. v. SommerlKinzig, StV 1999, 288. Ambos, NStZ 2002, 628, 632; Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339, 344. Vgl. hierzu Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 288 m. w. N.; Hamm, StV 2001, 81, 83; Wolfslast, Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung, 1995, S. 216 ff.
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mungsprotokolle stUtzte, die im zuvor geftihrten Ermittlungsverfahren ohne Anwesenheit des Beschwerdefiihrers oder seines Verteidigers erstellt wurden106. In der Hauptverhandlung hatten sich die Hauptbelastungszeugen auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht berufen. Der Gerichtshof ftihrte aus, dass die Verlesung von Zeugenaussagen durch die Konvention zwar nicht generell verboten sei. Doch stelle es eine Konventionsverletzung dar, wenn dem Beschwerdefuhrer zu keinem Zeitpunkt im Verfahren Gelegenheit gegeben worden sei, die an seiner Verurteilung maBgeblich beteiligten Zeugen direkt oder iiber seinen Verteidiger zu befragen. 56 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs mtlssen grundsatzlich alle Beweise in Gegenwart des Angeklagten in Offentlicher Verhandlung in Blickrichtung auf eine kontradiktorische Argumentation erhoben werden. Die Verwendung von im Vorverfahren erlangten Beweismitteln ist aber nicht unvereinbar mit Art. 6 III lit. d EMRK, wenn der Angeklagte eine angemessene und geeignete Gelegenheit hatte, die Glaubwiirdigkeit der Zeugen durch eigene oder Verteidigerbefragung zu ilberpriifen. Diese Konventionsgarantie kann auch verletzt sein, wenn die Anonymitat eines Belastungszeugen in einem Umfang gewahrt wird, dass es weder dem Angeklagten noch dessen Verteidiger ermoglich wird, die Aussagemotivation dieses Zeugen selbst zu hinterfragen107. 57 Fall 4: Der Angeklagte A wurde vom Landgericht wegen Sexualdelikten zum Nachteil seiner Tochter zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fiinf Jahren verurteilt. Das Urteil stiitzt sich im Wesentlichen auf die Aussage des als Zeuge vernommenen Ermittlungsrichters, nachdem die Geschadigte in der Hauptverhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch gemacht hatte. Bei der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschadigten wurde dem noch nicht verteidigten Angeklagten wegen Gefahrdung des Untersuchungserfolgs kein Anwesenheitsrecht eingeraumt (§ 168 c III StPO). Auch wurde kein Verteidiger bestellt, so dass im Ergebnis weder eine unmittelbare Befragung durch den Angeklagten noch durch einen Verteidiger ermoglicht wurde108. Frage: Wie beurteilen Sie die unterlassene Verteidigerbestellung im Lichte des Art. 6 III lit. d EMRK?
58 Losungshinweise zu Fall 4: Der Angeklagte durfte gem. § 168 c III StPO wegen Gefahrdung des Untersuchungserfolgs von der ermittlungsrichterlichen Vernehmung der Geschadigten ausgeschlossen werden. Dieser Ausschluss stellt als solcher noch keine Verletzung des Art. 6 III lit. d EMRK dar, da bei bestimmten Konstellationen auf eine Konfrontation des Zeugen mit dem Angeklagten verzichtet werden darf, etwa aus Grilnden des Zeugenschutzes oder wenn zu befurchten ist, dass der Zeuge in Anwesenheit des Angeklagten nicht die Wahrheit sagen werde. Allerdings ware es ohne weiteres moglich gewesen, gem. § 141 III StPO einen Verteidiger zu bestellen und diesen zu dem ermittlungsrichterlichen Ver106
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EGMR (,,Unterpertinger/Osterreich") EuGRZ 1987, 147; vgl. weitere Beispiele mit Analyse und Schlussfolgerungen bei Beulke, in: RieB-FS, 2002, S. 3, 9 ff. und Kraufi, V-Leute im Strafprozess und die Europaische Menschenrechtskonvention, 1999, S. 62 ff., 82 ff. EGMR (,,Kostovski/Niederlande") StV 1990, 481. Fall nach BGHSt 46, 93.
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nehmungstermin zu laden. Auf diese Weise hatte wenigstens der Verteidiger Gelegenheit gehabt, unmittelbar Fragen an die Geschadigte zu richten. Die konventionskonforme Auslegung des § 141 III StPO gebietet, dass in Fallen der vorliegenden Art dem noch nicht verteidigten Beschuldigten vor der ermittlungsrichterlichen Vernehmung eines wichtigen Belastungszeugen ein Verteidiger bestellt wird. Das Ermessen der deutschen Strafverfolgungsbehorden bei der Frage der Verteidigerbestellung reduziert sich unter den gegebenen Umstanden im Lichte des Art. 6 III lit. d EMRK auf Null. Folglich verletzt die unterlassene Verteidigerbestellung das von der Konvention garantierte Recht des Angeklagten, Fragen an den Zeugen stellen zu lassen109. d) Uberlange Verfahrensdauer Beschwerden wegen uberlanger Dauer der nationalen Strafverfahren bilden den 59 GroBteil der ansteigenden Klageflut vor dem EGMR110. Mit Urteil v. 31. Mai 2001 stellte der Gerichtshof fest, dass die Bundesrepublik Deutschland wegen wesentlicher Uberschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer gegen ihre Konventionspflichten aus Art. 6 I EMRK verstoBen hat111. Der Zeitraum, der im Hinblick auf Art. 6 I EMRK berucksichtigt werden muss, beginnt nach Auffassung des Gerichtshofs, sobald eine Person formell angeschuldigt wird oder der gegen sie gerichtete Verdacht aufgrund behordlicher StrafVerfolgungsmaBnahmen ernsthafte Auswirkungen auf ihre Situation hat. Von der ersten Information des Beschwerdefuhrers, dass gegen ihn ein Strafverfahren wegen Umweltdelikts eingeleitet wurde, bis zur letztinstanzlichen Entscheidung waren mehr als neun Jahre vergangen. Eine Verfahrenseinstellung wegen Verletzung des Art. 6 I EMRK wurde von den deutschen Gerichten abgelehnt. Der BGH vertrat die Auffassung, dass der iiberlangen Verfahrensdauer auf der Strafzumessungsseite (Strafmilderungsgrund) ausreichend Rechnung getragen werden konne112. Demgegenuber rief der EGMR seine standige Rechtsprechung in Erinnerung, 60 wonach die Konventionsstaaten dazu verpflichtet seien, ihre Justizsysteme so zu organisieren, dass die Instanzgerichte in der Lage seien, ihre Verfahren in angemessener Zeit abzuschlieBen. Als besonders schwerwiegende Verzogerungen stufte der Gerichtshof die Dauer von 15 Monaten zwischen Abschluss der polizeilichen Ermittlungen und Anklageerhebung ein, aber auch den Umstand, dass es zwei Jahre und drei Monate bis zur Aufhebung des landgerichtlichen Urteils durch den BGH dauerte, weil das LG das Urteil nicht in der gesetzlich geforderten Frist weitergeleitet hatte. Neben der Feststellung einer Konventionsverletzung sprach der Gerichtshof dem Beschwerdefuhrer eine Entschadigung fur den erlittenen immateriellen Schaden in Hohe von DM 10 000.- sowie fur Gerichts- und Anwaltskosten in Hohe von DM 15 000.- zu.
Zu den revisionsrechtlichen Folgen vgl. BGHSt 46, 93, 103 ff. Ambos, NStZ 2002, 628, 629. EGMR (,,Metzger/Deutschland") StV 2001, 489 m. Anm. v. /. Roxin; vgl. auch EGMR (,,Eckle/Deutschland") EuGRZ 1983, 371 (Verfahrensdauer von 17 bzw. 10 Jahren) m. Anm. v. Kilhne. BGHNStZ 1997, 189.
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Die Entscheidung des EGMR legt die Schlussfolgerung nahe, dass nur eine Verfahrenseinstellung eine Verurteilung Deutschlands wegen Verletzung des Art. 6 I EMRK hatte verhindern konnen113. Die Diskussion ist insoweit noch nicht abgeschlossen114. Immerhin hat der BGH inzwischen grundsatzlich die Moglichkeit bejaht, in ,,ganz auBergewohnlichen Einzelfallen" wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzogerung ein Verfahrenshindernis anzunehmen, welches vom Tatrichter zu beachten und vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berucksichtigen sei115. Er halt jedoch daran fest, dass eine Verfahrenseinstellung nicht in Betracht komme, solange eine angemessene Berucksichtigung des VerstoBes im Rahmen einer Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwurdigung moglich sei.
4. Freiheitsrechte und strafprozessuale Untersuchungshaft 62 Art. 5 I EMRK garantiert das Recht der personlichen Freiheit. Er schiltzt die Burger vor willkurlicher Inhaftierung, indem er abschlieBend die Voraussetzungen aufzahlt, unter denen die nationalen Gesetze eine Freiheitsentziehung anordnen dilrfen. In Art. 5 II - IV EMRK sind spezifische Verfahrensgarantien des Inhaftierten festgeschrieben, wie z. B. seine Rechte, unverziiglich in einer ihm verstandlichen Sprache iiber die Griinde seiner Festnahme informiert sowie unverzuglich einem Richter zum Zwecke der Haftkontrolle vorgefuhrt zu werden116. Den Garantien des Art. 5 EMRK kommt eine zentrale Bedeutung fllr das strafprozessuale Institut der Untersuchungshaft zu, welches darauf abzielt, die Durchfuhrung eines Strafverfahrens zu sichern117. Die besondere Problematik der Untersuchungshaft liegt zum einen darin, dass auch fur einen Untersuchungsgefangenen bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld die Unschuldsvermutung gilt. Er ist lediglich einer Straftat verdachtig118. Zum anderen ist er in der Untersuchungshaft starkeren Einschrankungen (z. B. Kontaktsperren, Einzelhaft, Reglementierungen des Brief- und Fernmeldeverkehrs) ausgesetzt als im Regelstrafvollzug und muss im Gegensatz zu Strafgefangenen das zusatzliche Leid der Ungewissheit der ihn erwartenden Haftdauer ertragen. 63 Die EMRK tragt der besonderen Interessenlage des Untersuchungsgefangenen Rechnung, indem sie in Art. 5 III S. 2 EMRK einen Anspruch auf gerichtliche Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist oder auf Haftentlassung wahrend des Verfahrens normiert. Bestimmungen des nationalen Strafprozessrechts, die bei bestimmten Tatvorwiirfen die Moglichkeit einer Haftverschonung bzw. die Aussetzung der Untersuchungshaft gegen eine Sicherheit generell ausschlieBen, sind mit Art. 5 III S. 2 EMRK ebenso wenig vereinbar wie eine Regelung, die fur be113 114 115 116
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/. Roxin, StV 2001, 490, 492. Vgl. Ambos, NStZ 2002, 628, 630 ff. m. w. N. BGHSt46, 159, 171. Vgl. hierzu EGMR NJW 2001, 51. Vgl. hierzu den Bericht tiber die Rechtsprechung des EGMR von Kuhne/Esser, StV 2002, 383 ff. Die Verdachtsschwelle ist in Art. 5 I lit. c EMRK niedriger angesetzt als in § 112 I StPO.
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stimmte Taten oder im Hinblick auf eine zu erwartende Strafhohe zwingend die Anordnung von Untersuchungshaft vorschreibt119. Nach der Rechtsprechung des EGMR ist es in erster Linie Aufgabe der staatlichen Gerichte, sicherzustellen, dass die Untersuchungshaft eines Beschuldigten eine angemessene Dauer nicht iiberschreitet. Dabei miissen die Gerichte unter gebiihrender Beachtung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung alle Umstande prilfen, die fur und gegen das Bestehen eines zwingenden offentlichen Interesses an der Fortdauer der Untersuchungshaft sprechen. Nach einer Untersuchungshaftdauer von zwei Jahren ist das Recht des Beschuldigten auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist verletzt, wenn die Justizbehorden nicht besondere Sorgfalt beim Betreiben des Verfahrens angewendet haben120. Fall 5: Der in Frankreich als politischer Fluchtling anerkannte Beschwerdeflihrer, der tilrki- 64 sche Staatsangehorige E, wurde in Deutschland festgenommen, da er im Verdacht stand, Mitglied der terroristischen Vereinigung PKK zu sein und Urkundsdelikte begangen zu haben (§§ 129 a, 267 StGB). Die gegen ihn angeordnete und vollzogene Untersuchungshaft dauerte insgesamt funf Jahre und elf Monate. Sie wurde in sieben Haftpriifungsentscheidungen wiederholt mit der Schwere des Tatvorwurfes, der Hohe der dem E drohenden Strafe und mit Fluchtgefahr des E begrundet, der in Deutschland iiber keinen Wohnsitz und keine personlichen Bindungen verfugte. E wurde schlieBlich wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung (§ 129 a StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt121. Frage: Hat Deutschland gegen Art. 5 III S. 2 EMRK verstoBen? Losungshinweise Fall 5: Bereits aus Art. 6 I S. 1 EMRK lasst sich ein Beschleu- 65 nigungsverbot als allgemeine Verfahrensgarantie ableiten. Im Hinblick auf die besondere Interessenlage von Untersuchungsgefangenen statuiert Art. 5 III S. 2 EMRK jedoch ausdrilcklich einen Anspruch des Festgenommenen auf Aburteilung innerhalb einer angemessenen Frist. Das in Deutschland durchgefuhrte Verfahren gegen E ist somit an Art. 5 III S. 2 EMRK zu messen. In seinem Urteil v. 5. Juli 2001 bejahte der EGMR eine Konventionsverletzung 66 durch die Bundesrepublik Deutschland wegen iiberlanger Untersuchungshaft122. Zwar bestanden Tatverdacht und Fluchtgefahr (vgl. § 112 1 StPO) wahrend der gesamten Haftzeit fort, doch reichen diese Grunde nach Auffassung des Gerichtshofs nach einer Haftdauer von funf Jahren und elf Monaten nicht mehr aus, um letztlich eine Untersuchungshaftdauer zu rechtfertigen, die praktisch identisch mit der spater verhangten Freiheitsstrafe war. Der EGMR verlangt von den nationalen Behorden, dass sie Fortgang und Abschluss des Verfahrens besonders fordern, damit sich die gegenilber der normalen Strafhaft mit besonderen Belastungen verbundene Untersuchungshaft nicht unnotig lange hinzieht. Es reicht nach Auffassung des EGMR nicht aus, die Haftfortdauer durch fast gleichlautende Standardformulierungen anzuordnen. Das Urteil ist von erheblicher Bedeutung, weil es un119 120 121
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KuhnelEsser, StV 2002, 383, 388 m. w. N. EGMR (,,Kudla/Polen") NJW 2001, 2694. EGMR (,,Erdem/Deutschland") EuGRZ 2001, 391; vgl. hierzu Ambos, NStZ 2003, 14, 15. EGMR (,,Erdem/Deutschland") EuGRZ 2001, 391.
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verhohlen Kritik an der - leider verbreiteten - Praxis ubt, die Haftfortdauer gem. §§ 121, 122 StPO gleichsam automatisch und mit standardisierter Begrlindung anzuordnen. Es stellt klar, dass sich die Begriindungslast der Justizbehorden mit zunehmender Haftdauer vergroBert und jeder Haftfortdauerbeschluss neu begrilndet werdenmuss123.
5. Einfluss von Konventionsrechten aufdas materielle Strafrecht 67 Die Relevanz von Konventionsgarantien fur das materielle Strafrecht124 wird in Deutschland seit langem anhand der Frage diskutiert, ob sich Art. 2 II lit. a EMRK auf die Auslegung des Notwehrrechts (§ 32 StGB) auswirkt125. Art. 2 II lit. a EMRK (Recht auf Leben) lautet: ,,Die Totung wird nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt, um die Verteidigung eines Menschen gegenuber rechtswidriger Gewaltanwendung sicherzustellen." 68 Fall 6: Dieb D flieht mit den von ihm erbeuteten wertvollen Schmuckstilcken aus dem Juweliergeschaft des J. Die einzige erfolgversprechende Moglichkeit, den Schmuck zu retten, besteht fur J darin, den D durch einen gezielten Schuss in die Beine niederzustrecken. So geschieht es. D wird dabei so schwer getroffen, dass er - was J zur Rettung seiner Schmuckstiicke auch billigend in Kauf genommen hat - an den Folgen der erlittenen Schussverletzung stirbt. Frage: Wie ist die Rechtslage im Lichte des Art. 2 II lit. a EMRK zu beurteilen?
69 Losungshinweise zu Fall 6: J ist nicht wegen eines Totungsdelikts (§212 StGB) strafbar, wenn sein Handeln durch Notwehr (§ 32 StGB) gerechtfertigt ist. Der Schuss auf D war nach Lage der Dinge erforderlich, um einen gegenwartigen rechtswidrigen Angriff auf das Eigentum des J zu beenden. Die Hoherrangigkeit des durch die Verteidigungshandlung verletzten Rechtsgutes (Leben des D) gegenuber dem angegriffenen Rechtsgut (Eigentum des J) begriindet nach ganz h. M. keine Einschrankung des Notwehrrechts. Eine Notwehrbeschrankung wird nur in Fallen krasser Disproportionalitat zwischen Angriff und AbwehrmaBnahme bejaht126. 70 Von einigen Autoren wird nun aber die These vertreten, Art. 2 II lit. a EMRK, der die Totung von Menschen nur zur Verteidigung eines Menschen gegenuber rechtswidriger Gewaltanwendung gestattet, wirke unmittelbar unter den Staats-
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Vgl. hierzu auch KuhnelEsser, StV 2002, 383, 388 m. w. N. Zu dem im Vergleich zum Strafverfahrensrecht eher geringen Einfluss der EMRK auf das deutsche materielle Strafrecht vgl. Kiihl, ZStW 100 (1988), S. 601, 624 ff.; zur Relevanz der EMRK fur das Strafrecht Osterreichs und der Schweiz vgl. die Berichte von Fucks, ZStW 100 (1988), S. 444 ff. und Trechsel, ZStW 100 (1988), S. 667 ff. Vgl. zum Streitstand Hillenkump, 32 Probleme aus dem Strafrecht Allgemeiner Teil, 11. Aufl., 2003, S. 20 ff. und Kiihl, ZStW 100 (1988), S. 601, 624 ff. Vgl. MuKoStGB/&6, 2003, § 32 Rn. 192; Gropp, Strafrecht AT, 2. Aufl., 2001, § 6 Rn. 81 ff.; TrondlelFischer, § 32 Rn. 20; WesselslBeulke, AT, Rn. 343.
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bilrgern und beschranke daher ihr Notwehrrecht127 Nach dieser Auffassung ist die Totung eines Menschen zur Verteidigung von Sachgiltern schlechthin verboten. Die Bundesrepublik Deutschland sei demnach verpflichtet, dass in § 32 StGB geregelte Notwehrrecht durch eine engere Auslegung oder durch eine Gesetzesanderung den Vorgaben des Art. 2 II lit. a EMRK anzupassen. Eine andere Gruppe von Autoren teilt zwar im Ausgangspunkt die These, dass 71 Art. 2 II lit. a EMRK zumindest eine mittelbare Wirkung auch unter Privaten entfalte. Das in § 32 StGB normierte Notwehrrecht und seine sozialethisch orientierte Auslegung in der deutschen Rechtspraxis sttlnde aber in volligem Einklang mit den Vorgaben der Konvention. Diese verbiete nur absichtliche, nicht aber ungewollte oder bedingt vorsatzliche Totungshandlungen, die zur Abwendung von Angriffen auf das Eigentum vorgenommen werden128. Damit verliere das aufgeworfene Problem seine praktische Bedeutung, da eine mit direktem Vorsatz oder Absicht ausgefuhrte Totung kaum jemals erforderlich sein dilrfte, um einen Angriff auf Sachwerte abzuwehren. Die iiberzeugende h. L. steht auf dem Standpunkt, dass § 32 StGB durch die 72 EMRK nicht modifiziert werde, weil diese nicht die Rechtsbeziehungen der Burger untereinander betreffe, sondern nur Ubergriffe des Staates in die Rechtssphare des Einzelnen verhindern wolle129. Aus ihrer Sicht besteht daher keine aus Art. 2II lit. a EMRK abzuleitende Pflicht, durch eine Neuinterpretation des § 32 StGB oder eine Gesetzesanderung dafur sorgen, dass Totungshandlungen zur Abwehr von Angriffen auf Sachwerte dem Anwendungsbereich des Notwehrrechts entzogen werden. Der Staat sei fur den Schutz der Burger vor Drittbeeintrachtigungen nur zustandig, soweit es um Ubergriffe gehe, gegen die sich der Einzelne ohne Hilfe der Obrigkeit nicht problemlos selbst zu schiitzen vermag. Die im vorliegenden Zusammenhang einschlagige Gefahr, Opfer von NotwehrmaBnahmen zu werden, konne der Betroffene aber ebenso leicht vermeiden wie andere selbst gewahlte Risiken - indem er seinen eigenen rechtswidrigen Angriff unterlasse130.
Vertreten u.a. von Frister, GA 1985, 553, 564; FroweinlPeukert, EMRK, 2. Aufl., 1996, Art. 2 Rn. 11; Koriath, in: Ranieri (Hrsg.), Die Europaisierung der Rechtswissenschaft, 2002, S. 47, 52 ff.; Lagodny, in: Karl (Hrsg.), Internationaler Kommentar zur Europaischen Menschenrechtskonvention, 2002, Art. 2 Rn. 83 ff.; Lilhrmann, T6tungsunrecht durch Eigentumsverteidigung, 1999, S. 281 f.; Marxen, Die sozialethischen Grenzen der Notwehr, 1979, S. 60 f. Bitzilekis, Die neue Tendenz zur Einschrankung des Notwehrrechts, 1984, S. 135; Lange, JZ 1976, 546, 548; Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 6. Aufl., 2000, § 8 Rn. 61 ff.; Roxin, ZStW 93 (1981), S. 68, 99 f; ders., AT Teil I, § 15 Rn. 76 ff. Vgl. u. a. Eisele, JA 2000, 424, 428; MiiKoStGB/Erb, 2003, § 32 Rn. 16 ff; Trondle/Fischer, § 32 Rn. 21; Gropp, AT, § 6 Rn. 91; JeschecklWeigend, AT, § 32 V; Krey, JZ 1979, 702, 708; Schonke/Schmder/Lenckner/Perron, § 32 Rn. 62; Mitsch, JuS 2000, 850; WesselslBeulke, AT, Rn. 343 a. MuKoStGB/£W>, 2003, § 32 Rn. 18.
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Bereits die kursorische Darstellung des Meinungsstands macht deutlich, dass eine Einschrankung des Notwehrrechts im Lichte des Art. 2 II lit. a EMRK immerhin diskutabel ist. Nach derzeit herrschendem Rechtsverstandnis lasst die Konventionsgarantie die bestehende Auslegung und Ausgestaltung des § 32 StGB jedoch unberilhrt. Losungsvorschlag zu Fall 6: Da J in Notwehr handelte, hat er sich nicht gem. § 212 StGB strafbar gemacht. III. Keine unmittelbare Bindung der EG an die EMRK
74 Der EuGH hat bei der Entwicklung eines ungeschriebenen Grundrechtsstandards als Teil der allgemeinen Rechtgrundsafze des Gemeinschaftsrechts immer wieder auf die EMRK sowie die gemeinsamen Verfassungsuberlieferungen der Mitgliedstaaten zurilckgegriffen131. Inzwischen verweist Art. 6 II EUV ausdrucklich auf die EMRK: ,,Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europaischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewahrleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsuberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsatze des Gemeinschaftsrechts ergeben." 75 Eine unmittelbare Bindung der EG an die EMRK besteht nach derzeitiger Verfassungslage aber nicht. Zum einen steht der Beitritt zur EMRK nur Staaten offen (Art. 66 I EMRK). Zum anderen wiirde ein Beitritt die Gemeinschaften den Kontrollmechanismen der EMRK unterwerfen und hatte damit erhebliche Auswirkungen auf das gemeinschaftliche Rechtsschutzsystem. In seinem Gutachten v. 28. Marz 1996 hat der EuGH deshalb festgestellt, dass ein Beitritt der EG zur EMRK eine vorherige Anderung des EGV erfordert132. Nach gegenwartiger Rechtslage konnen Rechtsakte der EG nicht vor dem EGMR angegriffen werden. Denkbar ist aber, dass ein nationaler Ausfuhrungsakt (z. B. ein nach deutschem Recht ergangener Verwaltungsakt, aber auch ein richterlicher Beschluss), dessen Inhalt vom Gemeinschaftsrecht vorgegeben ist (z. B. von einer EG-Verordnung oder Richtlinie) wegen (angeblicher) Verletzung der EMRK im Wege einer Individualbeschwerde beim EGMR geriigt und damit zur Uberprufung gestellt wird. Lehrreiches Anschauungsmaterial fur die soeben skizzierte Rechtsschutzkonstellation bietet der Fall ,,Melchers"133: Ein deutsches Unternehmen erhob Individualbeschwerde gegen die Bundesrepublik Deutschland wegen Vollstreckung einer GeldbuBenzahlung, welche der EuGH im Anschluss an eine BuBgeldentscheidung der Europaischen Kommission bestatigt hatte und die in Deutschland fur vollstreckbar erklart worden war (vgl. Art. 244, 256 EGV). Dieser Individualbeschwerde waren ein Verfahren vor dem EuGH, anschlieBend eine Klage vor deutschen Gerichten gegen die Erteilung der Vollstreckungsklausel sowie eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG vorausgegangen. Im Ergebnis vermochte die (damals zustandige) Europaische Kommission fur Menschenrechte keine Konventi131 132 133
st. Rspr.; vgl. nur EuGHE 1979, 3727, 3745 ff. (Rz. 17 ff.); 2003, 3735, 3777 ff. (Rz. 72, 75 ff). EuGHE 1996, 1759, 1789 (Rz. 35) = EuZW 1996, 307, 309. Vgl. Giegerich, ZaoRV 50 (1990), S. 836.
D. Literaturhinweise
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onsverletzung erkennen. Die zunehmende Einbeziehung des Strafrechts in den europaischen Integrationsprozess bietet jedenfalls Grand genug, die Diskussion uber einen Beitritt der EG zur EMRK wieder aufzunehmen134. Hinweis: Nach Art. 1-9 II EU-Verfassung wird die neu zu griindende Europai- 76 sche Union (Art. I-1 I EU-Verfassung) der EMRK beitreten. Das kiinftige prozessuale Verhaitnis von EGMR und EuGH wird wesentlich von den Beitrittsbedingungen infolge der durch den Beitritt der EU zur EMRK notwendigen Korrekturen der EMRK abhangen135.
D. Literaturhinweise Ambos, Europarechtliche Vorgaben fur das (deutsche) Strafverfahren - Zur Rechtsprechung des EGMR von 2000-2002, NStZ 2002, 626 (Teil I), NStZ 2003, 14 (Teil II) Rose, Der Beitritt der EG zur EMRK aus der Sicht des Strafrechts, ZRP 2001, 402 ders., Anmerkung zu OLG Wien NStZ 2002, 669, NStZ 2002, 670 Ehlers, Die Europaische Menschenrechtskonvention, JURA 2000, 372 Eisele, Internationale Beztige des Strafrechts, JA 2000, 424 ders., Die Berucksichtigung der Beschuldigtenrechte der EMRK im deutschen Strafprozess aus dem Blickwinkel des Revisionsrechts, JR 2004, 12 Esser, Auf dem Weg zu einem europaischen Strafverfahrensrecht, 2000, passim Giegerich, Luxemburg, Karlsruhe, StraBburg - Dreistufiger Grundrechtsschutz in Europa?, ZaoRV 50 (1990), 836 Hamm, Der Einsatz heimlicher Ermittlungsmethoden und der Anspruch auf ein faires Verfahren, StV2001, 81 Jung, Die Europaische Menschenrechtskonvention und das deutsche Strafrecht, EuGRZ 1996, 370 Koriath, Einschrankung des deutschen Notwehrrechts (§ 32 StGB) durch Art. 2 II a EMRK?, in: Ranieri (Hrsg.), Die Europaisierung der Rechtswissenschaft, 2002, S. 47 Kiihl, Der Einfluss der Europaischen Menschenrechtskonvention auf das Strafrecht und Strafverfahrensrecht der Bundesrepublik Deutschland, ZStW 100 (1988), S. 406 (Teil 1), S. 601 (Teil 2) Kiihne, Grundrechtsschutz in einem grenzenlosen europaischen Strafrecht, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Europaischer Grundrechtsschutz, 1998, S. 55 ders., Die Rechtsprechung des EGMR als Motor fur eine Verbesserung des Schutzes von Beschuldigtenrechten in den nationalen Strafverfahrensrechten der Mitgliedstaaten, StV2001,73 ders., Die Entscheidung des EGMR in Sachen Ocalan, JZ 2003, 670 Kuhne/Esser, Die Rechtsprechung des Europaischen Gerichtshofs fur Menschenrechte (EGMR) zur Untersuchungshaft, StV 2002, 383 Peters, Einfuhrung in die Europaische Menschenrechtskonvention, 2003 Roxin /., Anmerkung zu EGMR StV 2001, 489, StV 2001, 490 134
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Bose, ZRP 2001, 402, 404. Zur Diskussion urn den EMRK-Beitritt vgl. den Uberblick bei Walter, in: Ehlers (Hrsg.), Europaische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2003, § 1 Rn. 28 f. Vgl. hierzu Ruffert, EuR 2004, 165, 174 m. w. N.
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Sommer, in: Brilssow/Gatzweiler/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, Band 1, 3. Aufl., 2004, § 17 (Strafprozessordnung und Europaische Menschenrechtskonvention Sommer/Kinzig, Anmerkung zu EGMRNStZ 1999, 47, StV 1999, 288 Sommermann, Der Schutz der Menschenrechte im Rahmen des Europarates, 1990, passim Tiedemann, Die Europaisierung des Strafrechts, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europaisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europaischen Union, 1997, S. 134 Weigend, Die Europaische Menschenrechtskonvention als deutsches Recht - Kollisionen und ihre Losung, StV 2000, 384 Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenziiberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, 2002, passim
E. Rechtsprechungshinweise EGMR EuGRZ 1985, 62 (autonome Auslegung der EMRK) . EGMR EuGRZ 1989, 314 = NJW 1990, 2183 (,,Todeszellensyndrom") EGMR NStZ 1998, 429 (Akteneinsichtsrecht des Beschuldigten) EGMR NStZ 1999, 47 (Einsatz polizeilicher Lockspitzel) EGMR NJW 2001, 2387 (Rechtsschutzgarantien des Auszuliefernden) EGMR StV 2001, 489 (uberlange Verfahrensdauer) EGMR EuGRZ 2001, 391 (uberlange Dauer der Untersuchungshaft) EGMR NJW 2001, 2694 (uberlange Dauer der Untersuchungshaft) EuGHE 1996, 1759 = EuZW 1996, 307 (Gutachten: Beitritt der EG zur EMRK) BVerfGE 74, 358 = NJW 1987, 2427 = NStZ 1987, 421 (Bedeutung der EMRK fur die Verfassungs- und Gesetzesauslegung) BGHSt 32, 345 (polizeiliche Tatprovokation als Strafmilderungsgrund) BGHSt 45, 321 (Strafzumessungslosung auch bei konventionswidrigem Lockspitzeleinsatz) BGHSt 46, 93 (Auslegung des § 141 III StPO im Lichte des Art. 6 III lit. d EMRK) BGHSt 46, 159 (Folgen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzogerungen) BGHSt 46, 178 (Anspruch auf unentgeltliche Zuziehung eines Dolmetschers) OLG Wien NStZ 2002, 669 (Rechtsschutzgarantien des Auszuliefernden)
F. Zusammenfassung von § 3 77 Im Mittelpunkt dieses Kapitels steht der Europarat, dessen Tatigkeit die Entwicklung des Strafrechts in Europa maBgeblich mitgepragt und beeinflusst hat. Von ihm gehen schon seit Jahrzehnten die verschiedensten Initiativen in den Bereichen Strafrecht, Kriminalpolitik, Verfassungsrecht und Menschenrechtsschutz mit dem Ziel der Rechtsvereinheitlichung und der Forderung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit aus. Der Europarat ist eine am 5. Mai 1949 gegrundete internationale (paneuropaische) Organisation ,,klassischen Zuschnirts" mit Sitz in StraBburg (Europa-Palais), die das Ziel verfolgt, eine engere Verbindung zwischen ihren Mitgliedstaaten zum Schutze und zur Forderung der Ideale und Grundsatze,
F. Zusammenfassung von § 3
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die ihr gemeinsames Erbe bilden, herzustellen und ihren wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu fdrdern. Ein Hauptanliegen des Europarates ist der Schutz und die Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Derzeit gehoren dem Europarat 46 Mitgliedstaaten an, darunter auch alle EU-Mitgliedstaaten. Alle Mitgliedstaaten bekennen sich zu dem Grundsatz der Vorherrschaft des Rechts sowie zu den Menschenrechten und Grundfreiheiten, die in dem bedeutsamsten Ubereinkommen des Europarates inkorporiert sind - der Europaischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) v. 4. November 1950. Bereits im Jahre 1957 hat das Ministerkomitee den europaischen Ausschuss fur Strafrechtsprobleme (ECCP) mit dem Ziel gegrilndet, die Arbeiten auf strafrechtlichem Gebiet zu intensivieren. Dem ECCP kommt dabei die Aufgabe zu, die Arbeiten an Fragen des Straf- und Strafverfahrensrechts, der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen ebenso wie der Strafvollstreckung, des Strafvollzugs, der Kriminologie und der Kriminalpolitik zu koordinieren. Zwar kann der Europarat als volkerrechtlicher Zusammenschluss souveraner Staaten selbst keine Rechtsvorschriften erlassen, die in den Einzelstaaten unmittelbare Geltung beanspruchen. Unter seinem Dach wurden aber ilber 20 strafrechtsrelevante Konventionen ausgearbeitet, denen die Mitgliedstaaten beitreten und die sie durch Ratifikation in innerstaatliches Recht transformieren konnen. Die meisten Konventionen des Europarates sind mangels der erforderlichen Zahl von Ratifikationen in den Mitgliedstaaten nicht in Kraft getreten. Schrittmacher der europaischen Strafrechtsentwicklung ist derzeit nicht der Europarat, sondern die Europaische Union. Nichtsdestotrotz wird der Europarat auch kunftig eine bedeutende Rolle als Forum paneuropaischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Kriminalpolitik spielen. Von alien strafrechtsrelevanten Konventionen des Europarates hat die EMRK die nachhaltigste Wirkung auf die Strafrechtspflege der Konventionsstaaten entfaltet. Als ,,gemeineuropaisches Grundgesetz" gewahrleistet sie einen bei jeder Strafverfolgung zu wahrenden gemeineuropaischen Grundrechtsstandard. Durch die reichhaltige Spruchpraxis des Europaischen Gerichtshofs fur Menschenrechte (EGMR) werden die europaischen Grundfreiheiten nicht selten zu auBerst konkreten Gewahrleistungen geformt und die Strafrechtssysteme der Konventionsstaaten ,,von auBen her" auf iibernational gultige MaBstabe der Fairness und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet. Das von der EMRK und ihren Zusatzprotokollen etablierte System des Menschenrechtsschutzes darf deshalb zu Recht als eine der ,,Triebfedern" der Europaisierung des Strafrechts bezeichnet werden. Die in der EMRK enthaltenen Verfahrensgarantien gehen zum Teil liber die Gewahrleistungen des nationalen Verfassungs- und Strafprozessrechts hinaus. Alle Mitgliedstaaten des Europarates sind Vertragsstaaten der EMRK und als solche volkervertragsrechtlich verpflichtet, die Einhaltung aller in der EMRK verbrieften Rechte zu gewahrleisten. In Deutschland wurde die EMRK durch das Gesetz iiber die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 7. August 1952 ratifiziert und gilt seitdem unmittelbar als einfaches Bundesrecht.
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§ 3 Europarat
Sollte der Schutz durch nationale Gerichte versagen und ist der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschopft, kann jeder Betroffene Individualbeschwerde gem. Art. 34 ff. EMRK beim EGMR - einem Organ der EMRK mit Sitz in StraBburg erheben. Rechtskraftige Urteile des Gerichtshofes sind volkerrechtlich verbindlich (Art. 46 I EMRK). Sie stellen allerdings nur einen etwaigen VerstoB des beklagten Staates gegen die EMRK fest. Der Gerichtshof kann also nicht etwa ein nationales Gerichtsurteil kassieren. Wenn der EGMR eine Verletzung der Konvention festgestellt hat, beinhaltet das Urteil fur den betroffenen Staat die Verpflichtung, den festgestellten RechtsverstoB - soweit dieser fortdauert - unverziiglich abzustellen sowie in Zukunft vergleichbare VerstoBe gegen die EMRK zu unterlassen. AuBerdem kann der Gerichtshof dem in seinen Rechten verletzten Beschwerdefuhrer eine Entschadigung als Wiedergutmachung ftlr erlittene materielle und immaterielle Schaden zuerkennen, die der betroffene Staat zu zahlen hat. 83 Der Gerichtshof befleiBigt sich einer von den nationalen Begrifflichkeiten unabhangigen, autonomen Auslegung der Konventionsrechte, was im Laufe der Jahre zur Herausbildung eines gemeineuropaischen Grundrechtsstandards gefuhrt hat. GroBe Bedeutung haben die Konventionsgarantien vor allem im internationalen Rechtshilfe- und Auslieferungsverkehr und in der Strafverfahrenspraxis erlangt. Im Bereich des materiellen Strafrechts ist der Einfluss der EMRK bisher eher gering geblieben. Dass aber auch hier ein europaisches Einflusspotential besteht, zeigt die Diskussion tlber eine Einschrankung des Notwehrrechts im Lichte des Art. 2 II lit. a EMRK. 84 Eine unmittelbare Bindung der EG an die EMRK besteht nach derzeitiger Verfassungslage nicht. Der EuGH hat aber bei der Entwicklung eines ungeschriebenen Grundrechtsstandards des Gemeinschaftsrechts immer wieder auf die EMRK sowie die gemeinsamen Verfassungsliberlieferungen der Mitgliedstaaten zuriickgegriffen. Inzwischen verweist Art. 6 II EUV ausdrucklich auf die EMRK.
§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
A. Europaische Gemeinschaft (EG) Fall 1: In einem Zeitungsartikel wird berichtet, die ,,EU-Kommission" habe gegen einen in 1 Deutschland ansassigen Chemiekonzern eine ,,Geldstrafe" von 99 Millionen Euro wegen ,,krimineller" Kartellrechtspraktiken verhangt. Frage 1: 1st die Kommission - wie der Zeitungsartikel suggeriert - als Organ der Europaischen Union tatig geworden? — Frage 2: Verfugt die EG tiber eine Kriminalstrafgewalt, d. h. iiber die Kompetenz, supranationales Kriminalstrafrecht (,,Gemeinschaftsstrafrecht") zu setzen und dieses mit eigenen Organen durchzusetzen?
Mit den drei Europaischen Gemeinschaften haben die Mitgliedstaaten in den Jan- 2 ren 1951 (Europaische Gemeinschaft fur Kohle und Stahl - EGKS) und 1957 (Europaische Atomgemeinschaft - EAG und Europaische Wirtschaftgemeinschaft EWG) internationale Organisationen geschaffen. Am 23. Juli 2002 ist der Montanunionsvertrag (EGKS) ausgelaufen, so dass derzeit noch zwei Europaische Gemeinschaften fortbestehen. Wenn in der offentlichen Diskussion und in den Medien teilweise alle Europaischen Gemeinschaften mit dem Begriff ,,Europaische Gemeinschaft" bezeichnet werden, so ist dies juristisch nicht prazise und seit der Umbenennung der EWG in EG auch missverstandlich. Richtigerweise ist der Terminus ,,Europaische Gemeinschaft" allein der EG im Sinne der fruheren EWG vorbehalten. Durch das Abkommen iiber gemeinsame Organe der Europaischen Gemeinschaften von 1957 und den sog. ,,Fusionsvertrag" von 1965 sind die Organe der Europaischen Gemeinschaften stufenweise verschmolzen worden. Werden die Organe der Gemeinschaften auf der Grundlage der ihnen von den Griindungsvertragen zugewiesenen Aufgaben und Kompetenzen tatig, so tun sie dies als Gemeinschaftsorgane und sollten deshalb auch als solche bezeichnet werden (z. B. Kommission der Europaischen Gemeinschaften) und nicht - wie dies teilweise geschieht - als Unionsorgane. Denn die Europaischen Gemeinschaften haben ihre Existenz als Rechtspersonlichkeiten durch die Schaffung der Europaischen Union (EU) nicht eingebuBt1. Losungshinweise zu Fall 1 (Frage 1): Die Kommission wird bei der Verfolgung 3 und Ahndung des KartellrechtsverstoBes auf der Grundlage der ihr von Art. 81-85 EGV zugewiesenen Kompetenzen tatig und erfullt damit eine der EG obliegende Satzger, Europaisierung, S. 18 ff.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
Aufgabe2. Es ist daher juristisch nicht korrekt, zumindest aber missverstandlich, wenn in dem Zeitungsartikel geschrieben wird, die ,,EU-Kommission" habe eine Geldstrafe verhangt. Zu beachten ist aber, dass der Rat der Gemeinschaften mittlerweile fast durchweg als ,,Rat der Europaischen Union" auftritt, und zwar auch dann, wenn er im Rahmen der Gemeinschaftsvertrage tatig wird3. Hierin liegt freilich eine juristisch unzutreffende, die Rechtsstellung des Rates als Gemeinschaftsorgan verdunkelnde Etikettierung. Die folgenden Ausfuhrungen beziehen sich auf die wichtigste Europaische Gemeinschaft - die EG - und ihre Bedeutung als Tragerin bzw. Akteurin des Europaischen Strafrechts. Dabei wird auch ihr Verhaltnis zur EU zu beleuchten sein (Rn. 106 ff.). I. Rechtsnatur der EG Bei der EG handelt es sich um eine auf der Grundlage eines volkerrechtlichen Vertrages (EGV) errichtete internationale Organisation mit eigener Rechtspersonlichkeit (Art. 281 EGV). Die EG ist Volkerrechtssubjekt und damit Tragerin eigener Rechte und Pflichten. Sie handelt durch eigene Organe (Rn. 6 ff), die einen von den Mitgliedstaaten unabhangigen Willen bilden. Ihre Volkerrechtssubjektivitat auBert sich namentlich in dem Abschluss volkerrechtlicher Vertrage mit Staaten oder anderen internationalen Organisationen. Im Hinblick darauf, dass die Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen Hoheitsrechte auf die EG ilbertragen haben (Substituierung von staatlicher Hoheitsgewalt durch Gemeinschaftsgewalt) und angesichts des hohen Grades verselbstandigter Willensbildung erscheint es korrekt, die EG nicht nur als internationale, sondern als supranationale (,,uberstaatliche") Organisation zu charakterisieren4. Als Einrichtung sui generis steht sie strukturell zwischen einem Staatenbund und einem Bundesstaat. Es darf bei alledem aber nicht tlbersehen werden, dass die EG weder ein Staat oder auch nur ein staatsahnliches Gebilde ist.
Vgl. zum EG-Kartellverfahren Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 16. Kap. Rn. 164 ff. Vgl. den Beschluss des Rates v. 8. November 1993 iiber seine Bezeichnung im Anschluss an das Inkrafttreten des Vertrages iiber die Europaische Union (AB1EG 1993 Nr. L 281, S. 18, berichtigt AB1EG 1993, Nr. L 285, S. 41); krit. HilflPache, in: GrabitzlHilf, EGV, EGL 8, Okt. 1995, Art. E EUV, Rn. 11. EuGHE 1991, 6079, 6102; BVerfGE 22, 293, 296; 51, 222, 233; 89, 155, 181; Deutscher, Kompetenzen, S. 19 f.; Oppermann, Europarecht, Rn. 467; Tsolka, Der allgemeine Teil des europaischen supranationalen Strafrechts i. w. S., 1995, S. 25.
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II. Organe der EG und ihre Funktionen Durch das Abkommen tiber gemeinsame Organe der Europaischen Gemeinschaften vom 25. Marz 1957 und den sog. ,,Fusionsvertrag" vom 8. April 1965 sind die Organe der drei Gemeinschaften stufenweise verschmolzen worden. Die Hauptorgane (Europaisches Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof) sind somit einheitliche Organe aller Europaischen Gemeinschaften, was zu einer engen institutionellen Verklammerung der Gemeinschaften geftihrt hat5.
1. Rat der Europaischen Gemeinschaften (Rat der Europaischen Union) a) Allgemeines Der Rat ist das politische Entscheidungs- und Rechtsetzungsorgan der Europaischen Gemeinschaften. Die Aufgaben des Rates, seine Organisation und Willensbildung sind in den Art. 202-210 EGV geregelt. Sitz des Rates ist Brussel, wo in der Regel auch die Ministertagungen stattfinden6. Jeder Mitgliedstaat entsendet einen Vertreter auf Ministerebene in den Rat, der befugt ist, fur seine Regierung verbindlich zu handeln. Die Teilnahme von Staatssekretaren an Beschlussfassungen des Rates entspricht standig geilbter Praxis und dilrfte inzwischen durch Gewohnheitsrecht gedeckt sein7. Formell gibt es zwar nur einen Rat, jedoch wechseln die Minister je nach dem Fachressort, in dessen Zustandigkeit die auf der Tagesordnung stehende Frage fallt (z. B. Landwirtschaft, Wirtschaft und Finanzen, Umwelt, Justiz, Inneres, Binnenmarkt, Verbraucherschutz). Die Prasidentschaft des Rates wird abwechselnd fur die Dauer von jeweils sechs Monaten von einem Mitgliedstaat ubernommen. Im institutionellen Gefuge der Gemeinschaftsorgane ist der Rat dasjenige mit der groBten Kompetenzfulle. Bei der Rechtsetzung (Erlass von Verordnungen oder Richtlinien) hat der Rat immer noch das grofite Gewicht, obwohl die Stellung des Europaischen Parlaments gegemiber dem Rat im Laufe der letzten Jahre immer starker aufgewertet worden ist. Der Rat vertritt die Mitgliedstaaten und ist das Hauptentscheidungsgremium der EG. Die im Rat tagenden Regierungsvertreter tragen die politische Verantwortung gegeniiber ihrem nationalen Parlament sowie den Btlrgern, die sie vertreten. Als Bindeglied zwischen der EG und den Mitgliedstaaten kommt dem Rat eine wichtige ,,Scharnierfunktion" zu. Seit 1993 ftlhrt der Rat die Bezeichnung ,,Rat der Europaischen Union", womit zum Ausdruck gebracht werden soil, dass er sowohl als Gemeinschaftsorgan als auch im Dienste der intergouveraementalen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten im Rahmen der zweiten und dritten Saule des EU-Vertrags tatig ist. Diese Art von
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Herdegen, Europarecht, Rn. 104; Oppermann, Europarecht, Rn. 237; Streinz, Europarecht, Rn. 227. Nur in den Monaten April, Juni und Oktober finden die Ministertagungen in Luxemburg statt. Herdegen, Europarecht, Rn. 115.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
,,Organleihe" andert aber nichts daran, dass der Rat nur im Rahmen der Europaischen Gemeinschaften eine Organstellung besitzt. 9 Der ,,Rat der Europaischen Union" darf nicht verwechselt werden mit dem in Art. 4 EUV genannten ,,Europaischen Rat", in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie der Prasident der Kommission zusammenkommen. Der ,,Europaische Rat" ist kein Organ der EU, sondern nur ein Forum fur die Abstimmung unter den Mitgliedstaaten unter Einbeziehung des Kommissionsprasidenten. 10 Hinweis: Der Vertrag tiber eine Verfassung fur Europa sieht in Art. 1-21 I S. 1 EU-Verfassung vor, dass der ,,Europaische Rat" ein Organ der neu zu schaffenden Europaischen Union (Art. 1-1 I EU-Verfassung) ist, welches der Union die fur ihre Entwicklung erforderlichen Impulse gibt sowie ihre allgemeinen und politischen Zielvorstellungen und Prioritaten festlegt8. Er wird nicht gesetzgeberisch tatig (Art. 1-21 I S. 2 EU-Verfassung). Art. 1-23 I EU-Verfassung benennt den ,,Ministerrat" als dasjenige Organ der Europaischen Union, welches gemeinsam mit dem Europaischen Parlament als europaischer Gesetzgeber fungiert und mit diesem gemeinsam die Haushaltsbefugnisse austtbt. Der Ministerrat erfullt ferner Aufgaben der Politikfestlegung und der Koordinierung nach MaBgabe der Verfassung. 11 Die Mitgliedstaaten haben in Briissel Standige Vertretungen bei der Europaischen Union eingerichtet. Einmal wochentlich treffen die Botschafter der Mitgliedstaaten oder ihre Vertreter im Ausschuss der Standigen Vertreter (,,Comite des representants permanents") zusammen. Dieser Ausschuss bereitet die Sitzungen des Rates vor, mit Ausnahme der Sitzungen der Landwirtschaftsminister, die vom Sonderausschuss Landwirtschaft vorbereitet werden. Der Rat wird bei seiner laufenden Arbeit von Arbeitsgruppen unterstiitzt, denen nationale Regierungsbeamte angehoren. Am haufigsten, namlich einmal monatlich, treten die fur ,,Allgemeine Angelegenheiten", ,,Wirtschaft und Finanzen" sowie ,,Landwirtschaft" zustandigen Minister im Rat zusammen, wahrend ein Treffen der anderen Ministerrate je nach Dringlichkeit der zu behandelnden Themen zwei bis vier Mai pro Jahr stattfindet. b) Aufgaben des Rates 12 Die wesentlichen Aufgaben des Rates9 sind folgende: -
Festlegung der Gemeinschaftspolitiken und Rechtsetzung, Koordinierung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten, Feststellung des Haushaltsplans (mit dem Europaischen Parlament), Mitwirkung beim Abschluss volkerrechtlicher Vertrage, Ernennung der Mitglieder des Rechnungshofes, des Wirtschafts- und Sozialausschusses sowie des Ausschusses der Regionen.
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Vgl. hierzu Einem, EuR 202, 210 ff. Vgl. hierzu Herdegen, Europarecht, Rn. 124; Oppermann, Europarecht, Rn. 280; Streinz, Europarecht, Rn. 248 ff.
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Aus der Perspektive des Europaischen Strafrechts ist die Rechtsetzungstatigkeit 13 des Rates von besonderem Interesse. Fiir die Beschlussfassung verlangt der EGV zumeist eine qualifizierte Mehrheit10. Im Hinblick auf die Erweiterung der EU, die am 1. Mai 2004 durch den Beitritt von zehn Staaten vollzogen wurde, sieht der Vertrag von Nizza (2001) eine Anderung der Stimmengewichtung vor. Der Beitrittsvertrag greift diese Vereinbarung auf, mit welcher den Wiinschen der bevolkerungsreicheren Mitgliedstaaten entgegen gekommen werden sollte. Er enthalt eine Bestimmung zur Regelung der Stimmengewichtung im Rat fur die 25 Mitgliedstaaten auf der Grundlage des Vertrags von Nizza, die am 1. November 2004 in Kraft tritt. Ein Beschluss des Rats gilt demnach als angenommen, wenn eine bestiinmte Stimmenzahl darauf entfallt, die die Befurwortung durch die Mehrheit der Ratsmitglieder zum Ausdruck bringt (Prinzip der ,,doppelten Mehrheit"). Die qualifizierte Mehrheit ist erreicht, wenn mindestens 232 von 321 Stimmen auf die Annahme eines Ratsbeschlusses entfallen. Die Stimmen der Mitgliedstaaten werden gem. Art. 205 II EGV i. d. F. v. Nizza wie folgt gewichtet: -
Deutschland, Frankreich, Italien und Vereinigtes Konigreich: je 29 Stimmen, Spanien und Polen: je 27 Stimmen, Niederlande: 13 Stimmen, Belgien, Griechenland, Tschechien, Ungarn und Portugal: je 12 Stimmen Osterreich und Schweden: je 10 Stimmen, Slowakei, Danemark, Irland, Finnland und Litauen: je 7 Stimmen, Lettland, Slowenien, Estland, Zypern und Luxemburg: je 4 Stimmen, Malta: 3 Stimmen.
Die Bestimmung der qualifizierten Mehrheit beinhaltet noch eine weitere Neue- 14 rung. In Art. 205 EGV wird ein neuer Absatz (sog. ,,Bevolkerungsklausel") hinzugefugt, wonach ein Mitglied des Rates beantragen kann, dass bei einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit uberprtift wird, ob diese qualifizierte Mehrheit zumindest 62 % der Gesamtbevolkerung der Union reprasentiert. Ist dies nicht der Fall, kommt der betreffende Beschluss nicht zustande. Diese Bestimmung kommt zu den anderen Voraussetzungen fur die Annahme eines Rechtsakts (qualifizierte Mehrheit der Stimmen und Mehrheit der Mitgliedstaaten) hinzu. Sie gewahrleistet, dass die Entscheidungen des Rats fur die Mehrheit der Bevolkerung der EU reprasentativ ist. Im Allgemeinen wird der Rat nur auf Vorschlag der Kommission rechtssetzend 15 tatig. In der Regel (z. B. auf den Gebieten Vollendung des Binnenmarkts, Umwelt oder Verbraucherschutz) wird das sekundare Gemeinschaftsrecht vom Rat und vom Parlament gemeinsam im Mitentscheidungsverfahren erlassen. c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Rates Aufgrund der Souveranitatsvorbehalte der Mitgliedstaaten hat der Rat bislang kein 16 ,,Strafgesetz" in Verordnungsform erlassen (zur Frage einer Anweisungskompetenz auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts vgl. § 8 Rn. 33). Auch wenn der Rat Herdegen, Europarecht, Rn. 120.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
in der Vergangenheit zahlreiche VorstoBe der Kommission, die auf eine Angleichung nationaler Strafbestimmungen durch Anweisung abzielten, blockiert hat, bedeutet dies keineswegs, dass die Mitgliedstaaten nicht bereit waren, zum Schutze von Gemeinschaftsinteressen auch ihr strafrechtliches Instrumentarium einzusetzen. So wurden eine Reihe von Verordnungen oder Richtlinien erlassen, die letztlich auf eine Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Sanktionenrechts einschlieBlich des Kriminalstrafrechts abzielen oder sich zumindest auf die Auslegung bestehender Straftatbestande auswirken. 17 Beispiele fur strafrechtsrelevante Rechtsetzungsakte bilden die: - Richtlinie des Rates 89/592/EWG zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschafte vom 13. November 1989 (,,Insider-Richtlinie")11, die in Deutschland zu einer neuen Strafnorm (§ 38 i. V. m. § 14 Wertpapierhandelsgesetz) fuhrten, nach der erstmals Borsentransaktionen unter Strafandrohung gestellt werden, bei denen Insiderinformationen Grundlage des Wertpapiergeschafts waren (§ 8 Rn. 32), - Richtlinie 91/308/EWG des Rates zur Verhinderung und Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche vom 10. Juni 199112, geandert durch die Richtlinie 2001/97/EG13 mit dem Ziel, den Schutzstandard bei der Bekampfung der Geldwasche zu erhohen (§8 Rn. 11, 15), - Verordnung Nr. 259/93 (EWG) des Rates zur Uberwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfallen in der, in die und aus der Europaischen Gemeinschaft vom 1. Februar 199314, die in Deutschland zur Einfugung des § 326 II StGB fiihrte (§ 8 Rn. 31), - Verordnung (EG) Nr. 1493/1999 des Rates iiber die gemeinsame Marktorganisation fur Wein vom 17. Mai 199915, welche die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen MaBnahmen zu treffen, urn VerstoBe gegen die Verordnung je nach ihrer Schwere zu ahnden (§ 8 Rn. 28), - Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europaischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsatze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europaischen Behorde fur Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheif6, nach der Praktiken des Betrugs oder der Tauschung, die Verfalschung von Lebensmitteln und alle sonstigen Praktiken, die den Verbraucher irrefuhren konnen, zu untersagen sind. Die Mitgliedstaaten werden verpflichtet, Vorschriften fur MaBnahmen und Sanktionen bei VerstoBen gegen das Lebensmittel- und Futtermittelrecht festzulegen, die wirksam, verhaltnismaBig und abschreckend sein miissen (§ 8 Rn. 29).
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ABlEG1989Nr. ABlEG1991Nr. ABlEG2001Nr. ABlEG1993Nr. ABlEG1995Nr. ABlEG2002Nr.
L 334, S. 30. L 166, S. 77. L 344, S. 76 ff. L 30, S. 1. L 179, S. 1. L31,S. 1.
A. Europaische Gemeinschaft (EG)
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2. Kommission der Europaischen Gemeinschaften (Kommission) a) Allgemeines Die Kommission ist das Exekutivorgan der Europaischen Gemeinschaften. Be- 18 stimmungen ilber die Aufgaben der Kommission, ihre Organisation und Willensbildung finden sich in Art. 211-219 EGV. Sitz der Kommission ist Briissel. Die neue Kommission besteht ab dem Zeitpunkt ihres Amtsantritts am 1. November 2004 aus einem Kollegium von 25 Mitgliedern (einschlieBlich des Kommissionsprasidenten) - je ein Kommissar aus jedem Mitgliedstaat. Der President, die beiden Vizeprasidenten und die tlbrigen Mitglieder der Kommission werden aufgrund ihrer allgemeinen Befahigung ausgewahlt und mtlssen die voile Gewahr ftir ihre Unabhangigkeit bieten. Bei den EG-Kommissaren handelt es sich um Personlichkeiten, die zuvor in ihrem Herkunftsland ein hohes politisches Amt - oft auf Ministerebene - ausgeubt haben. Die Neubesetzung der Kommission erfolgt alle ftlnf Jahre in den sechs Monaten nach der Wahl des Europaischen Parlaments. So hat das neue Parlament gentlgend Zeit, dem von den Mitgliedstaaten benannten neuen Prasidenten der Kommission sein Vertrauen auszusprechen, der dann in Abstimmung mit den Regierungen der Mitgliedstaaten sein kiinftiges Team zusammenstellt. AnschlieBend muss das Parlament auch der Zusammensetzung des gesamten Kollegiums seine Zustimmung erteilen. Die Kommission ist dasjenige Organ der Gemeinschaften, dessen Willensbil- 19 dung ganz von den Interessen der Mitgliedstaaten gelost ist. Neben dem Europaischen Gerichtshof verkorpert sie die reinste Auspragung eines supranationalen Organs im Gemeinschaftssystem. Sie ist dem Europaischen Parlament gegentiber politisch verantwortlich, das ihr das Misstrauen aussprechen und sie so zur Amtsniederlegung zwingen kann. Dem Kollegium der 25 Kommissionsmitglieder steht ein Verwaltungsapparat 20 zur Seite, der aus allgemeinen Diensten (Generalsekretariat, Juristischer Dienst, Statistisches Amt usw.) sowie aus Generaldirektionen (GD) besteht. An der Spitze einer Generaldirektion steht ein Generaldirektor, der dem zustandigen Kommissionsmitglied gegenuber verantwortlich ist. Die Kommission tritt gewohnlich einmal wochentlich in Brilssel und wahrend der Plenartagungen des Parlaments in StraBburg zusammen. Erforderliche Beschlilsse werden mit der einfachen Mehrheit der Kommissionsmitglieder gefasst und werden damit Bestandteil der Politik der Kommission. Bei der Ausiibung ihrer Befugnisse nimmt die Kommission umfassende Anhorungen vor, in denen sich parlamentarische Kreise, nationale Behorden und Berufs- und Gewerkschaftsverbande auBern konnen. Zu technischen Einzelheiten geplanter Rechtsvorschriften oder Vorschlage holt die Kommission die Stellungnahme von Sachverstandigen ein, die in von ihr eingesetzten Ausschtlssen oder Arbeitsgruppen arbeiten. Bei der Verabschiedung zahlreicher DurchfuhrungsmaBnahmen wird sie von Ausschilssen untersttitzt, denen Vertreter der Mitgliedstaaten angehoren. Daruber hinaus arbeitet die Kommission eng mit dem Wirtschafts- und Sozialausschuss als beratenden Organen zusammen.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
b) Aufgaben der Kommission 21 Die Europaische Kommission hat im Wesentlichen folgende Aufgaben17: - Erarbeitung von Vorschlagen fiir neue Rechtsakte, - Durchfuhrung der Gemeinschaftspolitiken, - Uberwachung der Einhaltung des Gemeinschaftsrechts (,,Hilterin der Vertrage"). - Aushandlung volkerrechtliche Vertrage. 22 Als Exekutivorgan der Europaischen Gemeinschaften fuhrt die Kommission MaBnahmen auf alien Gebieten des Gemeinschaftsrechts durch. Besonders wichtige Aufgaben sind ihr in den Bereichen Wettbewerb (Kontrolle von Absprachen und Fusionen, Verbot oder Kontrolle diskriminierender staatlicher Beihilfen), Landwirtschaft (Ausarbeitung des Agrarrechts) sowie Forschung und technologische Entwicklung (Forderung und Koordinierung durch ein Rahmenprogramm der Gemeinschaft) zugewiesen. Ferner fiihrt die Kommission unter der Kontrolle des Rechnungshofs den Haushaltsplan der Gemeinschaft aus. Beide Organe verfolgen dabei das Ziel, eine wirtschaftliche Haushaltsfuhrung zu gewahrleisten. Auf der Grundlage des Jahresberichts des Rechnungshofs stimmt das Europaische Parlament iiber die Entlastung der Kommission fur die Durchfuhrung des Haushaltsplans ab. 23 Die Kommission wacht als ,,Hiiterin der Vertrage" iiber die ordnungsgemaBe Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten. Wird aus ihrer Sicht gegen Gemeinschaftsrecht verstoBen, so ergreift sie die vom EGV vorgesehenen Maflnahmen. Beispielsweise geht sie gegen einen Mitgliedstaat vor, der eine Richtlinie nicht umgesetzt oder gegen Pflichten aus den Gemeinschaftsvertragen verstoBen hat. Wird der VerstoB auch im Verlauf des Prufungsverfahrens durch die Kommission nicht abgestellt, so muss diese den Gerichtshof anrufen, der letztlich fur die Auslegung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zustandig ist. So erhielt auch das Europaische Strafrecht durch ein von der Kommission gegen die Griechische Republik gefuhrtes Vertragsverletzungsverfahren wichtige Impulse. Deren Beamte waren gegen eine zum Nachteil des EG-Finanzhaushaltes begangene Abgabenhinterziehung nicht eingeschritten. Die Kommission sah hierin eine Verletzung der den Mitgliedstaaten gegeniiber der EG obliegenden Pflicht zu gemeinschaftstreuem Verhalten (Art. 10 EGV). Das Verfahren mundete in das berUhmte ,,Mais-Urteil" des EuGH18 (vgl. hierzu § 7 Rn. 27 ff). Von besonderer praktischer Bedeutung ist auch die Aufgabe der Kommission, die Einhaltung der in Art. 81-85 EGV verankerten Wettbewerbsregeln zu tiberwachen und diese ggf. auf der Grundlage der am 1. Mai 2004 in Kraft getretenen neuen Kartellverord-
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Herdegen, Europarecht, Rn. 136 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 291 ff. EuGHE 1989, 2965.
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ruing Nr. 1/200319 durch Einleitung eines Kartellverfahrens durchzusetzen. Dieses Verfahren kann in der Verhangung eines BuBgelds gegen Untemehmen mtlnden, die sich eines VerstoBes gegen Europaisches Kartellrecht schuldig gemacht haben20. Die Rechtsetzungsvorschlage der Kommission beziehen sich auf die in den 24 Vertragen festgelegten Aufgabengebiete, darunter insbesondere Verkehr, Industrie, Sozialpolitik, Landwirtschaft, Umwelt, Energie, Regionalentwicklung, Handelsbeziehungen und Entwicklungszusammenarbeit. Nach dem Subsidiaritatsprinzip ergreift die Kommission nur dann Initiativen, wenn MaBnahmen in dem betreffenden Bereich auf Gemeinschaftsebene wirksamer erscheinen als MaBnahmen auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene. AuBerdem zielen diese Vorschlage auf die Wahrung der Interessen der Gemeinschaften und ihrer Burger und nicht auf lander- oder bereichsspezifische Interessen ab. c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten der Kommission Im Mittelpunkt der strafrechtsrelevanten Aktivitaten der Kommission steht seit je- 25 her der Schutz der fmanziellen Interessen der EG - nach Art. 280 I EGV ein zentrales Feld der Gemeinschaftspolitik (vgl. hierzu § 14). Die Kommission sorgt nicht nur dafur, dass die vorhandenen Handlungsinstrumente zum strafrechtlichen Schutz von Gemeinschaftsinteressen (namentlich EG-Finanzinteressen) und zur Durchsetzung der Gemeinschaftspolitiken konsequent genutzt werden. Dariiber hinaus arbeitet sie in den letzten Jahren verstarkt daran, den strafrechtlichen Schutzstandard zugunsten der EG auszubauen. Diese Arbeit auBert sich in konkreten Vorschlagen der Kommission fur den Erlass von Rechtsakten, die zu einer effektiveren Bekampfung strafwurdiger VerstoBe gegen Gemeinschaftsrecht fiihren sollen. Beispiele hierfur bilden: -
(Erster) Vorschlag fur den Erlass einer Richtlinie zur Bekampfung der Geldwasche in den Mitgliedstaaten v. 23. Marz 199021 (§ 8 Rn. 9), - Vorschlag fur den Erlass einer Richtlinie liber den strafrechtlichen Schutz der fmanziellen Interessen der Gemeinschaft22 (§ 8 Rn. 56), - (Erster) Vorschlag fur den Erlass einer Verordnung ilber die Einfuhrung des Euro v. 18. Dezember 199623 (§ 8 Rn. 16),
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Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates v. 16. Dezember 2002 zur Durchfuhrung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrages niedergelegten Wettbewerbsregeln (AB1EG 2003 Nr. L 1, S. 1); vgl. hierzu Bartosch, EuZW 2001, 101; Bechtold, BB 2000, 2425; Fikentscher, WuW 2001, 446; Wesseling, ELR 26 (2001), 357; Weyer, ZHR 164 (2000), 611. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 16. Kap. Rn. 164 ff. Vorschlag fur eine Richtlinie des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche; AB1EG 1990 Nr. C 106, S. 6. KOM (2001) 272 endg. (AB1EG 2001 Nr. C 240 E, S. 125). Vgl. Vorschlag fur eine Verordnung (EG) des Rates ilber die Einfuhrung des Euro v. 7. Dezember 1996; AB1EG 1996 Nr. C 369, S. 10.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
- Vorschlag fur den Erlass einer Richtlinie des Rates zur Entschadigung fur Opfer von Straftaten24, - Vorschlag fur den Erlass einer Richtlinie iiber den strafrechtlichen Schutz der Umwelt 25 (§8Rn.21). 26 In jiingster Zeit hat die Kommission in einem Grunbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europaischen Staatsanwaltschaft26 eine neue kriminalpolitische Konzeption zur strafrechtlichen Bekampfung von Betriigereien zu Lasten des Gemeinschaftshaushaltes entwickelt (§ 14 Rn. 36). Seit jeher vertritt das EGExekutivorgan die Rechtsauffassung, dass der EGV auch strafrechtliche Anweisungskompetenzen beinhalte, welche die EG mit der Befugnis ausstatten wilrden, durch Sekundarrechtsdirektiven die inhaltliche Ausgestaltung mitgliedstaatlicher Strafnormen auf der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite festzulegen (§ 8 Rn. 7). Hierbei sto'Bt die Kommission jedoch regelmaBig auf den politischen Widerstand der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten, die gerade auf dem Gebiet des Strafrechts sehr auf die Wahrung ihrer nationalen Souveranitat bedacht sind. Von der kriminalpolitischen und juristischen Brisanz der strafrechtsrelevanten Kommissionsvorschlage zeugt ein laufender Rechtsstreit vor dem EuGH, in dem es um die Frage der Anweisungskompetenz zur Rechtsetzung im Bereich des Umweltstrafrechts geht: 27
Die Kommission hat am 13. Marz 2001 einen auf Art. 175 EGV gesriitzten Richtlinienvorschlag iiber den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vorgelegt27. Nach Auffassung der Kommission reichen die derzeitigen Sanktionen der Mitgliedstaaten nicht aus, um die vollstandige Einhaltung des umweltschutzbezogenen Gemeinschaftsrechts zu gewahrleisten. Nicht alle Mitgliedstaaten wiirden strafrechtliche Sanktionen gegen die schwerwiegendsten Verletzungen des Umweltrechts der Gemeinschaft vorsehen. Der Rat lehnte jedoch aufgrund bestehender Kompetenzvorbehalte der Mitgliedstaaten mit uberwa"ltigender Mehrheit die Annahme der von der Kommission vorgeschlagenen Richtlinie ab. Stattdessen aktivierte er nach langen Verhandlungen das Instrumentarium der dritten Saule der EU (intergouvernementale Zusammenarbeit nach Art. 29 ff. EUV)28. Am 27. Januar 2003 verabschiedete er einen Rahmenbeschluss iiber den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, der am 6. Februar 2003 in Kraft getreten ist29 (§ 11 Rn. 114). Der Rahmenbeschluss ist - insoweit vergleichbar mit einer Richtlinie (Art. 249 III EGV) - fur die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, iiberlasst jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und 24 25 26 27 28 29
K O M (2002) 562 endg. Vgl. K O M (2001) 139 endg.; AB1EG 2001 Nr. C 180 E, S. 238; vgl. hierzu ausfuhrlich Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, passim. K O M (2001) 715 endg., vgl. auch die Follow-up-Mitteilung der Kommission v. 19. Marz 2003 K O M (2003) 128 endg. Vgl. K O M (2001) 139 endg.; AB1EG 2001 Nr. C 180 E, S. 238. Vgl. hierzu den Bericht von Mohrenschlager, wistra 2003, S. V - V I . AB1EG 2003 Nr. L 29, S. 55.
A. Europaische Gemeinschaft (EG)
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der Mittel (Art. 34 II lit. b EUV). Die Kommission steht - unter Berufung auf Art. 175 EGV - auf dem Standpunkt, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Besitzstand bei Umweltkriminalitat nur durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden konne und musse. Dies gelte insbesondere fur die Definition der umweltbelastenden Tatigkeiten, die strafbar sein sollen und die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Insoweit bestehe also kein Raum fur die Annahme eines Rechtsaktes nach Art. 34 EUV. Die Kommission hat daher eine Klage auf Nichtigerklarung des Rahmenbeschlusses beim EuGH eingereicht30 (vgl. hierzu § 8 Rn. 25). d) Europaisches Amt fur Betrugsbekampfung (OLAF) Die strafrechtliche Bekampfung der Kriminalitat zum Nachteil der EG- 28 Finanzinteressen ist eine von den Mitgliedstaaten und der Gemeinschaft arbeitsteilig wahrzunehmende Aufgabe (vgl. Art. 280 I—III EGV). Bereits im Jahre 1988 hat die Kommission zu diesem Zweck auf der Grundlage von Art. 209 a EGV a. F. eine Task Force zur Bekampfung von BetrUgereien zu Lasten der Gemeinschaft eingerichtet, die Unite de Coordination de la Lutte Anti-Fraude (UCLAF), eine zentrale Koordinierungsstelle innerhalb der Kommission. Diese wurde am 1. Juni 1999 durch die Nachfolgeorganisation Office de la Lutte Anti-Fraude (OLAF)abgelost31. UCLAF harte die Aufgabe, die Aktivitaten der Gemeinschaft auf dem Gebiet 29 der Betrugsbekampfung zu koordinieren, die Kommission in diesem Bereich zu vertreten sowie eine eigene Betrugsbekampfungspolitik der Gemeinschaft zu entwickeln und durchzufuhren. Die operative Tatigkeit der UCLAF-Kontrolleure konzentrierte sich im Wesentlichen auf Ermittlungen aulterhalb der Kommission, vorrangig in mitgliedstaatlichen Wirtschaftsunternehmen. Wenn sich nach der Durchfuhrung von Kontrollen Anhaltspunkte fur das Vorliegen strafrechtlich relevanter Sachverhalte ergaben, konnten die Kontrolleure die mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsorgane auffordern, Ermittlungen durchzufuhren. Die Verfolgung von BetrUgereien mit grenzuberschreitender Dimension unterstiitzte UCLAF durch Koordinierung der Ermittlungen. Stets war UCLAF jedoch auf die Kooperationsbereitschaft der nationalen Ermittlungsbehorden angewiesen. Eigene strafprozessuale Ermittlungsbefugnisse erhielt UCLAF erst durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2185/96 des Rates vom 11. November 1996 betreffend die Kontrollen und Uberprufung vor Ort durch die Kommission zum Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen UnregelmaBigkeiten32. Hierzu gehorte das Recht, zum Zwecke der Beweissammlung Unterlagen zu kopieren (nicht zu beschlagnahmen) sowie in begrilndeten Verdachtsfallen Raumlichkeiten und Grundstilcke zu betreten. Dabei waren die
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Mohrenschlager, wistra 2003, S. VI. v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 196 ff.; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 198 ff.; Glefi, EuZW 1999, 618 ff.; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 95; KuhllSpitzer, EuR 2000, 671 ff.; Mager, ZEuS 2000, 177 ff.; Tschanett, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht, 29. Kap. Rn. 42. ABlEG1996Nr. L 292, S. 2.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
Kontrolleure an das Verfahrensrecht des jeweiligen Mitgliedstaates gebunden, auf dessen Hoheitsgebiet sie agierten. Die von UCLAF gesammelten Beweise durften in von diesen Staaten durchgefilhrten Strafverfahren verwertet werden. 30 Eine Rechtsgrundlage fur die Vomahme kommissionsinterner Ermittlungen wurde erst im Jahre 1998 geschaffen33. Einer wirksamen Durchfuhrung interner Untersuchungen stand jedoch die fehlende Unabhangigkeit von UCLAF, die selbst in die hierarchische Struktur der Kommission eingebunden war, entgegen34 - was einer der maBgeblichen Grunde fur die Ablosung von UCLAF durch OLAF war35. Mit der Schaffung dieser supranationalen Betrugsbekampfungsbehorde, deren Befugnisse neben der externen auch die gemeinschaftsinterne administrative Betrugsaufklarung umfasst, ist eine neue Ara in der gemeinschaftsrechtlichen Betrugsbekampfung angebrochen36. OLAF ist zum einen mit der Durchfuhrung von Verwaltungsuntersuchungen beauftragt, die der Bekampfung von Betrug, Korruption und sonstigen rechtswidrigen Handlungen zum Nachteil der fmanziellen Interessen der Gemeinschaften dienen. Zum anderen unterstiltzt und koordiniert OLAF die mitgliedstaatlichen MaBnahmen der Betrugsbekampfung. Zwar ist OLAF organisatorisch der Kommission zuzurechnen37. Anders als seine Vorgangerinstitution verfugt OLAF jedoch iiber weitreichende Befugnisse und Entscheidungsautonomie38: 31 OLAF ermittelt betrugsrelevante Sachverhalte in voller Unabhangigkeit, also ohne an Weisungen der Kommission gebunden zu sein (in Form eines sog. ,,gemeinschaftsunmittelbaren Vollzugs") und vermag durch die Weitergabe seiner Ermittlungsergebnisse StrafverfolgungsmaBnahmen auf mitgliedstaatlicher Ebene auszulosen39. Die mitgliedstaatlichen StrafVerfolgungsbehorden entscheiden nach pflichtgemaBer Uberpriifung des von OLAF tibermittelten Beweismaterials iiber eine Aufhahme strafrechtlicher Ermittlungen. Auch sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, der EG kontinuierlich Bericht zu erstatten uber finanzielle UnregelmaBigkeiten und Betriigereien, die Gegenstand einer ersten amtlichen oder gerichtlichen Feststellung gewesen sind. Um den OLAF-Kontrolleuren eine ordnungsgemaBe Auswertung der mitgeteilten Informationen zu ermoglichen, wurde in den einschlagigen Gemeinschaftsvorschriften im Einzelnen festgelegt, welche Informationen zu ubermitteln sind. Dazu gehort u. a. die Angabe der Vorschrift, gegen die verstoBen wurde, das Schadensvolumen, die beim Begehen der Unregelma-
33 34 35 36 37 38 39
Dannecker, Handbuch Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 199; Glefi, EuZW1999, 618, 619 m. w.N. Vgl. den Sonderbericht des Rechnungshofes Nr. 8/98; AB1EG 1998 Nr. C 230, S. 1 ff., 20 ff. Beschluss der Kommission v. 28. April 1999 zur Errichtung des Europaischen Amtes flir Betrugsbekampfung (OLAF); AB1EG 1999 Nr. L 136, S. 20. Glefi, E u Z W 1999, 618, 6 2 1 ; Haus, E u Z W 2000, 745 ff. Vgl. KuhllSpitzer, EuR 2000, 671, 673 ff. Vgl. v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 196, 199; Haus, EuZW 2000, 745, 747 ff. v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 200 ff.
A. Europaische Gemeinschaft (EG)
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Bigkeit angewandten Praktiken sowie Informationen iiber hieran beteiligte natiirliche oder juristische Personen40. Die Beflignisse von OLAF bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben richten sich 32 nach den im Wesentlichen auf Art. 280 IV EGV gesttitzten Verordnungen (EG) Nr. 1073/99 des Europaischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 199941 sowie der Verordnung (Euratom) Nr. 1074/99 des Rates vom 25. Mai 199942. Da OLAF vorrangig zur Verbesserung der gemeinschaftsinternen Kontrollmoglichkeiten geschaffen wurde, lassen die genannten Verordnungen die Vorgaben fllr die DurchfUhrung von externen Ermittlungen praktisch unangetastet. Es bleibt dabei, dass die von den Kontrolleuren gesammelten Beweismittel in nationalen Strafverfahren gerichtsverwertbar sind. Neu ist, dass die Untersuchungen von OLAF nicht mehr von der Kommission, sondern unter der Verantwortung eines weisungsunabhangigen Direktors durchgeftthrt werden43. Eine grundlegende Innovation stellt auch die Umsetzung des Art. 280 EGV in konkrete Aufgabenbeschreibungen fur OLAF dar. Bedeutsame Anderungen ergeben sich vor allem im Bereich der gemeinschaftsinternen Betrugsbekampfung44. So erhalten die OLAF-Kontolleure ohne Voranmeldung unverzilglich Zugang zu samtlichen Informationen und Raumlichkeiten der Gemeinschaftsorgane, Einrichtungen, Amter und Agenturen, um deren Rechnungsfuhrung ilberpriifen zu kbnnen. In seinem Urteil v. 26. Februar 2002 hat der EuGH festgestellt, dass OLAF auch bei den Mitgliedern des Europaischen Parlaments Durchsuchungen zu Kontrollzwecken vornehmen darf, soweit hierdurch die Immunitat der Parlamentarier nicht beeintrachtigt wird45. Die Kontrolle der Tatigkeit von OLAF obliegt einem auf Art. 11 VO (EG) 33 Nr. 1073/99 bzw. VO (Euratom) 1074/99 basierenden Uberwachungsausschuss, der sich aus funf Personlichkeiten zusammensetzt, die in ihren Landern die Voraussetzungen erfllllen, um hochrangige Aufgaben in Zusammenhang mit dem Tatigkeitsbereich des Amtes wahrzunehmen. Sie werden vom Parlament, dem Rat und der Kommission im gegenseitigen Einvernehmen fur eine Zeit von drei Jahren ernannt. Allein von diesen funf Personen hangt es ab, wie gut die ,,Kontrolle der Kontrolleure" funktioniert oder ob diese Kontrollkonzeption neu iiberdacht werden muss46. Bedenklich muss das weitgehende Fehlen ausformulierter Rechte der Personen stimmen, die von dem gemeinschaftsrechtlichen Betrugsvorermittlungsverfahren betroffen sind47. Hier sollte in absehbarer Zeit eine Nachbesserung erfolgen.
40 41 42 43 44 45 46 47
Vgl. hierzu das Arbeitsdokument von OLAF ,,Pflicht zur Mitteilung von UnregelmaBigkeiten: Praktische Modalitaten" (19 CoCoLaF 11/04/2002). AB1EG 1999 Nr. L 136, S. 1 ff. AB1EG 1999 Nr. L 136, S. 8 ff. Glefi, E u Z W 1999, 618, 619. Glefi, E u Z W 1999, 618, 619. EuGH Rs T-17/00 v. 26. Februar 2002 (,,Rothley/Parlament"). Glefi, E u Z W 1999, 618, 620 f. Glefi, E u Z W 1999, 618, 620 f.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
3. Europaisches Parlament a) Allgemeines 34 Das Europaische Parlament (EP) fungiert als demokratisches Reprasentativorgan, welches die Volker der Mitgliedstaaten vertritt (Art. 1 8 9 - 2 0 1 EGV). Die Ursprilnge des EP reichen in die 1950er Jahre zuriick, jedoch wurde es erst 1979 erstmals von alien Burgern der Mitgliedstaaten in allgemeiner Wahl gewahlt. Im Zuge einiger Reformen wurde der Aufgabenkreis des EP als Organ der demokratischen Kontrolle auf Gemeinschaftsebene sukzessive erweitert. Das EP tagt in alien drei ,,europaischen Hauptstadten" - StraBburg, Brussel und Luxemburg. Jedoch finden die Plenartagungen, zu denen alle Abgeordneten zusammenkommen, in StraBburg - dem Sitz des Parlaments - start. Die parlamentarischen Ausschiisse tagen in Brussel, wahrend das Generalsekretariat in Luxemburg angesiedelt ist. Dieser aufwandige ,,Wanderzirkus" ist weniger dem EP anzulasten als den beteiligten Mitgliedstaaten, die darum ringen, mb'glichst viel Prasenz der Gemeinschaftsorgane auf ihrem Staatsgebiet zu erhaschen. Das Parlament wird alle ftinf Jahre gewahlt und besteht seit seiner konstituierenden Sitzung im Juli 2004 aus 732 Abgeordneten, die sich zu landertibergreifenden Fraktionen zusammengeschlossen haben. Diese reprasentieren die in den Mitgliedstaaten der Union vertretenen groBen politischen Richtungen. b) Aufgaben des Europaischen Parlaments 35 Das EP hat im Wesentlichen die folgenden Aufgaben48: -
Ausiibung demokratischer Kontrolle iiber die Gemeinschaftsorgane, Ausiibung von (mit dem Rat geteilter) gesetzgebender Gewalt, Mitwirkung bei der Verabschiedung des Haushalts, Zustimmung bei bestimmten volkerrechtlichen Vertragen, Zustimmung zur Aumahme neuer Mitgliedstaaten, Zustimmung zur Benennung neuer Kommissionsmitglieder.
36 Das EP iibt durch sein Zustimmungsvotum eine demokratische Kontrolle Uber die Kommission, die Ernennung des Prasidenten und der Kommissionsmitglieder aus. Auch nach ihrem Amtsantritt ist die Kommission dem EP gegeniiber politisch verantwortlich, das ihr das Misstrauen aussprechen und sie so zum Rticktritt zwingen kann. Im Allgemeinen tlbt das EP seine Kontrolle durch die regelmaBige Prufung der Berichte aus, die ihm von der Kommission vorgelegt werden. Dariiber hinaus richten die Abgeordneten regelma'Big schriftliche oder miindliche Anfragen an die Kommission. Die Mitglieder der Kommission nehmen an den Plenartagungen des Parlaments und an den Sitzungen der parlamentarischen Ausschiisse teil, was einen standigen Dialog beider Organe ermoglicht. Die parlamentarische Kontrolle erstreckt sich auch auf den Rat. Die Abgeordneten richten regelmaBig schriftliche oder miindliche Anfragen an den Prasidenten des Rates, der an den Plenartagungen und an wichtigen Debatten teilnimmt. Herdegen, Europarecht, Rn. 146 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 309 ff.
A. Europaische Gemeinschaft (EG)
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Auf einigen Gebieten wie z. B. der gemeinsamen AuBen- und Sicherheitspoli- 37 tik, der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit sowie in Fragen von gemeinsamem Interesse - Asylpolitik, Einwanderung, Bekampfung von Drogensucht, intemationale Betrags- und Verbrechensbekampfung - hat sich eine enge Zusammenarbeit zwischen EP und Rat entwickelt. Zu diesen Fragen wird das EP regelmaBig vom Prasidenten des Rates informiert. SchlieBlich wird der President des EP zur Eroffhung jeder Tagung des Rates eingeladen, wo er die Standpunkte und Anliegen des Parlaments in Bezug auf aktuelle Probleme und Themen, die auf der Tagesordnung des Europaischen Rates stehen, zur Sprache bringen kann. Die Prufung der von Btlrgern eingereichten Petitionen und die Einsetzung nichtstandiger Untersuchungsausschusse bilden weitere Kontrollmoglichkeiten des EP. Das EP ist mit dem Rat an der Ausarbeitung und Annan me der Rechtsvor- 38 schriften beteiligt, die von der Kommission vorgeschlagen werden. Am haufigsten gelangt das Mitentscheidungsverfahren (Art. 251 EGV) zur Anwendung. In diesem Verfahren sind das EP und der Rat einander gleichgestellt. Sie erlassen gemeinsame Rechtsakte des Rates und des Parlaments. Konnen sich beide Organe nicht einigen, so wird ein Vermittlungsausschuss einberufen, der einen Kompromissvorschlag ausarbeitet. Billigt der Vermittlungsausschuss keine gemeinsamen Entwurf, so gilt der vorgeschlagene Rechtsakt als nicht erlassen (Art. 251 VI EGV). Das Mitentscheidungsverfahren kommt insbesondere in folgenden Bereichen zur Anwendung: Freiziigigkeit der Arbeitnehmer, Vollendung des Binnenmarkts, Forschung und technologische Entwicklung, Umwelt, Verbraucherschutz, Bildung, Kultur und Gesundheit. AuBerdem ist die Zustimmung des Parlaments unerla'sslich, wenn es um besonders wichtige politische oder institutionelle Fragen geht, wie z. B. um den Beitritt neuer Mitgliedstaaten, den Abschluss von Assoziierungsabkommen mit Drittstaaten oder von internationalen Ubereinkommen, das Verfahren der Wahlen zum EP, das Aufenthaltsrecht der Unionsbiirger sowie um die Aufgaben und Befugnisse der Europa'ischen Zentralbank (EZB). Mit der Einfuhrung des Mitentscheidungsverfahrens durch den Vertrag von 39 Maastricht (1992) und dessen Ausweitung durch den Vertag von Amsterdam (1997) wurde das Gewicht des EP im Rahmen des gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebungsverfahrens zweifellos gestarkt. Gleichwohl ist das EP nicht im gleichen Umfang wie die mitgliedstaatlichen Parlamente in der Lage, demokratische Legitimation zu vermitteln. Das Hauptrechtsetzungsorgan der EG ist nach wie vor der aus Vertretern der Mitgliedstaaten zusammengesetzte Rat, welcher der Exekutive zuzurechnen ist. Insbesondere fehlt dem EP das Initiativrecht und somit die wesentliche konstruktive Gestaltungsmoglichkeit auf dem Gebiet der Gesetzgebung. Im Mitentscheidungsverfahren kann das EP den Erlass eines Rechtsaktes zwar verhindern, aber nicht erzwingen. Soweit nicht das Mitentscheidungs-, sondern lediglich das Anhorungs-, Zusammenarbeits- oder Zustimmungsverfahren vorgesehen ist, verfugt das EP nicht einmal iiber diese ,,destruktive" Gestaltungsmacht. Dass somit der Rat in einigen Bereichen ohne das EP, das EP aber niemals ohne den Rat Recht setzen kann, bestatigt das nach wie vor bestehende Demokra-
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
tiedefizit auf Gemeinschaftsebene49. Damit stoBen auch etwaige Plane flir die Schaffung supranationaler Strafgesetze (,,Gemeinschaftsstrafrecht") auf gemeinschaftsverfassungsrechtliche Grenzen. Solange das EP nicht zu einem echten Legislativorgan ausgebaut ist, bestehen erhebliche Zweifel an der Existenz einer fur die supranational Strafgesetzgebung ausreichenden demokratischen Legitimation50. Die Klarung dieses Grundsatzproblems hangt freilich von der umstrittenen Vorfrage ab, wie man den Satz ,,nullum crimen sine lege parlamentaria" - nach h. M. ein allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts - materiell ausfflllt51. c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Europaischen Parlaments 40 Mangels Initiativrechts im Bereich der Gemeinschaftsrechtsetzung ist es dem EP nicht moglich, supranationale Strafgesetze in Verordnungsform in das gemeinschaftliche Rechtsetzungsverfahren einzubringen. Das EP hat sich aber immer wieder in Form von EntschlieBungen zu Fragen der Kriminalpolitik, insbesondere zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der EG geauBert. Dabei geht das EP - wie die Kommission - von einer strafrechtlichen Anweisungsbefugnis der EG aus. Exemplarisch ist hinzuweisen auf: - EntschlieBung des EP v. 7. Marz 1977 zum Verhaltnis zwischen Gemeinschaftsrecht und Strafrecht52, - EntschlieBung des EP v. 16. Marz 1984 zur Anwendung des Grundsatzes ,,Ne bis in idem" innerhalb der EG53, - EntschlieBung des EP v. 24. Oktober 1991 zum rechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaft54, - EntschlieBung des EP v. 24. Januar 1994 zur Bekampfung der Betrugereien im internationalen MaBstab55, - EntschlieBung des EP v. 11. Marz 1994 zur eigenstandigen Ermittlungs- und Untersuchungsbefugnis, ilber die die Union im Rahmen des rechtlichen Schutzes ihrer finanziellen Interessen verfugt56, - EntschlieBung des EP v. 6. April 1998 zur justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europaischen Union57, 49
50
51 52 53 54 55 56 57
Vgl. hierzu Deutscher, Kompetenzen, S. 317 ff.; Everling, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Europaisches Verfasungsrecht, S. 866; Klein, in: R e m m e r s - F S , 1994 S. 195; Satzger, Europaisierung, S. 122 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 281 ff. Vgl. hierzu auch AlbrechtlBraum, KritV 1998, 460, 4 7 1 ; Hilgendorf, in: F S 600 Jahre Wurzburger Juristenfakultat, 2002, S. 333, 3 4 1 ; Luderssen, G A 2 0 0 3 , 7 1 , 84; Vogel, G A 2002, 517, 525; Weigend, Z S t W 105 (1993), S. 774, 800; ders., StV 2 0 0 1 , 62, 67. Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 128 ff. m. w. N . AB1EG 1977 Nr. C 57, S. 55. AB1EG 1984 Nr. C 104, S. 133. AB1EG 1991 Nr. C 305, S. 106. AB1EG 1994 Nr. C 20, S. 185. AB1EG 1994 Nr. C 9 1 , S. 334. AB1EG 1998 Nr. C 104, S. 267.
A. Europaische Gemeinschaft (EG)
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- Entschlieflung des EP v. 17. Mai 2001 zu der Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europaische Parlament zur gegenseitigen Anerkennung von Endentscheidungen in Strafsachen58. 4. Europaischer Gerichtshof a) Allgemeines Der Europaische Gerichtshof (EuGH) fungiert als gemeinsames Rechtspre- 41 chungsorgan aller Gemeinschaften (vgl. hierzu Art. 220—245 EGV)59. Seine Aufgabe ist es, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Vertrage zu sichern. Von seiner Grundung im Jahre 1952 bis zum heutigen Tag ist der Gerichtshof mit mehr als 10.000 Rechtssachen befasst worden60. Um diese Prozessflut bewaltigen und gleichzeitig den Rechtsschutz fur die Burger verbessern zu konnen, wurde ihm durch Ratsbeschluss von 1988 das Gericht erster Instanz (EuG) beigeordnet. Dieses entscheidet in erster Instanz iiber bestimmte Rechtsstreitigkeiten, insbesondere iiber die Klagen von Einzelpersonen61 und in Wettbewerbssachen. Sitz des Gerichtshofes ist Luxemburg. Aufgrund eines Ratsbeschlusses aus dem Jahre 1999 und einer Anderung der Verfahrensordnung des Gerichts erster Instanz konnen bestimmte Falle ohne besondere Komplexitat auch einem Einzelrichter ilbertragen werden. Dem EuGH gehoren nach der Erweiterung im Jahre 2004 funfundzwanzig 42 Richter an (Art. 221 I EGV). Dem Gerichtshof stehen acht Generalanwalte zur Seite, deren Aufgabe es ist, in voller Unparteilichkeit und Unabhangigkeit 6ffentlich Schlussantrage zu den Rechtssachen, mit denen der Gerichtshof befasst ist, zu stellen und zu begrtinden (Art. 222 II EGV). Die Richter und Generalanwalte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten in gegenseitigem Einvernehmen auf sechs Jahre ernannt. Eine Wiederernennung ist zulassig. Alle drei Jahre fmdet eine teilweise Neubesetzung der Richteramter satt. Ernannt werden entweder hohe Richter oder sonst hervorragend befahigte Juristen, die jede Gewahr fur Unabhangigkeit bieten. Der Gerichtshof und das Gericht wahlen jeweils aus ihrer Mitte einen Prasidenten fur die Dauer von drei Jahren. b) Aufgaben des Gerichthofes Die zentralen Aufgaben des EuGH lassen sich wie folgt zusammenfassen: - Auslegung der Grundungsvertrage, - Fortbildung des Gemeinschaftsrechts, - Kontrolle der Gemeinschaftsrechtsakte auf ihre Vereinbarkeit mit hoherrangigem Gemeinschaftsrecht,
58 59 60 61
Vgl. KOM (2000) 495 endg. Herdegen, Europarecht, 148 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 327 ff. Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 3 Rn. 1. Z u denken ist insbesondere an die Amtshaftungsklagen gem. Art. 235 E G V ; vgl. hierzu Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 9 Rn. 1 ff.
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- Kontrolle des Verhaltens der Mitgliedstaaten am MaBstab des Gemeinschaftsrechts, - Prufung der Gultigkeit und Auslegung bestimmter Rechtsakte der dritten Saule (Art. 35 EUV). 44 Damit der Gerichtshof seinen Auftrag, die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Vertrage zu sichern, erfullen kann, wurde er mit bestimmten Rechtsprechungsbefugnissen ausgestattet, die sowohl eine Reihe von Klagearten als auch das Verfahren fur den Erlass von Vorabentscheidungen betreffen62. Die Entscheidungen des EuGH und des EuG werden in einer amtlichen Sammlung (Teil I: Entscheidungen des EuGH, Teil II: Entscheidungen des Gerichts erster Instanz) veroffentlicht. Im EGV/EUV sind die nachfolgend aufgefuhrten Klage- und Verfahrensarten vorgesehen: c) Klage- und Verfahrensarten aa) Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EGV; Art. 35 EUV) 45 Das in der Praxis wohl wichtigste Verfahren vor dem Gerichtshof ist in Art. 234 EGV geregelt (ausfuhrlich hierzu § 6)63. Danach entscheidet der EuGH im Wege der Vorabentscheidung ttber die Auslegung des EGV (Primarrecht), iiber die Gultigkeit und die Auslegung der Handlungen der Gemeinschaftsorgane (Sekundarrecht) sowie iiber die Auslegung der Satzungen der durch den Rat geschaffenen Einrichtungen, soweit dies in diesen Satzungen vorgesehen ist. Wird eine derartige Frage dem Gericht eines Mitgliedstaates gestellt und halt dieses Gericht eine Entscheidung daruber zum Erlass seines Urteils fur erforderlich, so kann es diese Frage dem Gerichtshof zur Entscheidung vorlegen (Art. 234 II EGV). Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden konnen, sind zur Anrufung des Gerichtshofs verpflichtet (Art. 234 III EGV). Die nationalen Gerichte miissen also prtifen, ob die Auslegung des Gemeinschaftsrechts fur die konkrete Urteilsfindung entscheidungsrelevant ist. Der Gerichtshof entscheidet unmittelbar nur tiber die Auslegung oder die Gultigkeit von Gemeinschaftsrecht. Daher ist die Frage nach der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Gemeinschaftsrecht kein tauglicher Vorlagegegenstand. Es ist allein Sache der nationalen Gerichte, aus der Vorabentscheidung des Gerichtshofs zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts die rechtlichen Schlussfolgerungen zur Gemeinschaftsrechtskonformitat des nationalen Rechts zu ziehen. 46 Friiher beschrankte sich die Entscheidungskompetenz des EuGH nur auf die Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Durch den Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 wurde die Vorabentscheidungszustandigkeit des Gerichtshofs erweitert. Nach Art. 35 1 EUV wird der EuGH in die Lage versetzt, uber die Gultigkeit und Auslegung von Rahmenbeschlussen, sonstigen Beschltissen und Ubereinkommen nach Titel VI des Unionsvertrages (polizeiliche und justizielle Zusam62 63
Vgl. hierzu den Uberblick von Burgi, Europaischer Rechtsschutz, § 5 Rn. 1-3. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 237 ff.; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 171 ff.; Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 1 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 658 ff.
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menarbeit) zu entscheiden. Dies gilt freilich nur fur diejenigen Staaten, die - wie die Bundesrepublik Deutschland — von der gem. Art. 35 II EUV eroffheten Moglichkeit des ,,opt-in" Gebrauch gemacht haben64. In der Bundesrepublik Deutschland ist das Zusammenwirken der nationalen Gerichte mit der supranationalen Gerichtsbarkeit mittlerweile durch das EuGHG65 ausdrtlcklich geregelt worden. Nach § 1 I EuGHG kann jedes Gericht eine Vorabentscheidung des EuGH herbeifuhren, wenn die Auslegung eines in Art. 35 EUV genannten Ubereinkommens im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Letztinstanzliche Gerichte sind hierzu gem. § 1 II EuGHG verpflichtet. bb) Vertragsverletzungsklagen (Art. 226 EGV) Diese Klageart ermoglicht es dem Gerichtshof zu priifen, ob die Mitgliedstaaten 47 ihren gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachgekommen sind66. Die Klage kann entweder von der Kommission - praktisch der Hauptanwendungsfall - oder von einem Mitgliedstaat erhoben werden. Jeder Mitgliedstaat muss sich dabei die VerstoBe seiner Organe zurechnen lassen, so dass sich die Klage immer gegen den Mitgliedstaat als solchen und nicht etwa gegen die nationale Behorde oder das Gericht richtet, dem eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts angelastet wird. Im Zusammenhang mit strafrechtlichen Fragen kommt ein Vertragsverletzungsverfahren vor allem in Betracht, wenn es ein Mitgliedstaat versaumt hat, die erforderlichen Sanktionsgesetze zum Schutze der Rechtsguter und Interessen der EG zu erlassen67. Anlass fur die Erhebung einer Vertragsverletzungsklage kann aber auch die gemeinschaftsrechtswidrige Auslegung oder Anwendung von innerstaatlichen Normen des Straf- und StrafVerfahrensrechts sein. Dem Hauptverfahren vor dem EuGH ist ein obligatorisches Vorverfahren vorgeschaltet, an dessen Ende eine begriindete Stellungnahme der Kommission steht, in welcher der Mitgliedstaat (nochmals) unter Fristsetzung zur Beseitigung der Gemeinschaftsrechtsverletzung aufgefordert wird. Kommt der Mitgliedstaat dieser Aufforderung nicht nach, ,,kann" die Kommission nach Art. 226 II EGV Klage erheben, wobei ihr Ermessensspielraum nach h. M. dergestalt beschrankt ist, dass von einer Klageerhebung nur bei Bagatellfallen oder aus Grilnden wichtiger Gemeinschaftsopportunitat abgesehen werden darf68. Am Ende des Hauptverfahrens steht ein Feststellungsurteil, mit welchem der EuGH ausspricht, ob die gerugte Verletzung von Gemeinschaftsrecht vorliegt oder nicht. Stellt der Gerichtshof die behauptete VerVgl. hierzu BGH NStZ 2002, 661 mit zust. Anm. v. Hecker, NStZ 2002, 663; OLG Koln NStZ 2001, 558, 560; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 252 ff.; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 59, 73, 81. Gesetz betreffend die Anrufiing des Gerichtshofes der Europaischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und der justitiellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 35 des EUVertrages v. 6. August 1998, in Kraft getreten am 1. Mai 1999 (BGB1.1 1998, 2035). Vgl. hierzu Burgi, Europaischer Rechtsschutz, § 6 Rn. 1 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 656 ff. Vgl. EuGHE 1989, 2965 ff. = EuZW 1990, 99 (,,Griechischer Mais") mit Anm. v. Bleckmann, WuR 1991, 285 und Tiedemann, EuZW 1990, 100. Burgi, Europaischer Rechtsschutz, 2003, § 6 Rn. 24.
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tragsverletzung fest, so ist der betroffene Staat nach Art. 228 I EGV verpflichtet, sie unverzilglich abzustellen. Ergreift der Staat die sich aus dem Urteil des EuGH ergebenden MaBnahmen nicht, so kann die Kommission erneut den Gerichtshof anrufen, welcher gem. Art. 228 II EGV sogar die Moglichkeit hat, ein Zwangsgeld gegen den saumigen Staat zu verhangen69. Diese Zahlungsverpflichtung ist jedoch nicht zwangsweise durchsetzbar, sondern muss von dem verurteilten Mitgliedstaat ,,freiwillig" erfullt werden. cc) Nichtigkeitsklagen (Art. 230 EGV) 48 Mit diesen Klagen konnen Mitgliedstaaten, Rat, Kommission und unter bestimmten Voraussetzungen auch das Europaische Parlament die Nichtigerklarung von Rechtsakten der Gemeinschaft oder von Teilen dieser Rechtsakte beantragen70. Natilrliche oder juristische Personen konnen die Nichtigerklarung von Rechtsakten fordern, die sie unmittelbar und individuell betreffen71. Der Gerichtshof kann auf diese Weise die Rechtmafiigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane ttberprufen. Ist die Klage begriindet, so wird die angefochtene Handlung fur nichtig erklart. dd) Untatigkeitsklagen (Art. 232 EGV) 49 In Erganzung zu den Nichtigkeitsklagen betreffen die Untatigkeitsklagen einen Unterfall der Vertragsverletzung durch die Gemeinschafsorgane72. Ein Fall der Untatigkeit liegt vor, wenn das Europaische Parlament, der Rat oder die Kommission unter Verletzung des Vertrages keinen Beschluss fassen. Dann konnen die Mitgliedstaaten, die anderen Gemeinschaftsorgane und unter bestimmten Umstanden auch natilrliche oder juristische Personen den Gerichtshof anrufen, um die UnrechtmaBigkeit dieses Nichthandelns feststellen zu lassen. Obwohl der Wortlaut des Art. 232 EGV auf das Fehlen eines bestimmten Rechtsaktes (Verordnung, Richtlinie und Entscheidung) hindeutet, werden nach h. M. auch unverbindliche Rechtshandlungen miteinbezogen73. d) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des EuGH 50 Der EuGH hat durch eine autonome (von den Begrifflichkeiten der nationalen Rechtsordnungen geloste) und dynamische - am ,,effet utile" (Wirksamkeitsprinzip) und an der ,,implied powers"-Doktrin ausgerichtete - Auslegung des EGV maBgeblichen Anteil an einer effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts. Zahlreiche Entscheidungen des EuGH betreffen das Verhaltnis zwischen Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Strafrecht. Der Gerichtshof hat dabei den Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts vor nationalem 69 70 71 72 73
Vgl. hierzu EuGH E u Z W 2000, 531. Vgl. hierzu Burgi, Europaischer Rechtsschutz, § 7 Rn. 1 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 740. Vgl. zum Rechtsschutz gegen EG-Verordnungen Rohl, JURA 2003, 830. Vgl. hierzu Burgi, Europaischer Rechtsschutz, § 8 Rn. 1 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 748. Burgi, Europaischer Rechtsschutz, § 8 Rn. 21; Schweitzer!Hummer, Recht der EU, Rn. 505; Schwarze, EU-Kommentar, Art. 232 EGV Rn. 10.
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Strafrecht (§ 9 Rn. 8) herausgearbeitet und ein Gebot zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationaler Strafbestimmungen bejaht (§ 10 Rn. 3 ff.). Aus Art. 10 EGV hat er das Assimilierungsprinzip geformt, das zu einer Indienststellung (Funktionalisierung) des nationalen Strafrechts zugunsten von Gemeinschaftsinteressen fiihrt (§ 7 Rn. 23 ff.). In einer Reihe von Urteilen betont der Gerichthof, dass die nationalen Strafgerichte zu einer das Gemeinschaftsrecht fordernden Ausgestaltung, Auslegung und Weiterentwicklung ihres nationalen Prozessrechts verpflichtet sind, um dessen Effektivitat innerstaatlich zu garantieren74. Im Bereich des Unionsrechts hat er — gesttltzt auf die neue Zustandigkeitsbestimmung des Art. 35 1 EUV - das transnational Doppelbestrafungsverbot des Art. 54 SDU konkretisiert (§ 13 Rn. 31 ff). Auf die Bedeutung und Funktion des Zusammenspiels zwischen EuGH und nationalen Gerichten im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens - ein zentraler Faktor der Europaisierung des Strafrechts wird an anderer Stelle noch ausfuhrlicher einzugehen sein (§ 6).
5. Europaischer Rechnungshof a) Allgemeines Der Rechnungshof (Art. 246-248 EGV) nimmt die Rechnungspriifung wahr. Er 51 wurde im Jahre 1975 im Zuge der Uberarbeitung der haushaltsrechtlichen Vertragsbestimmungen geschaffen und ist seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht (1. November 1993) ein vollwertiges Organ der EG75. In der Folge des Vertrages von Amsterdam wurden im Jahre 1999 die Kontroll- und Untersuchungsbefugnisse des Rechnungshofs ausgedehnt, um eine wirksamere Bekampfung von Betrugereien und UnregelmaBigkeiten zum Nachteil des Gemeinschaftshaushalts zu ermoglichen. Sitz des Rechnungshofs ist Luxemburg. Der Rechnungshof besteht aus 15 Mitgliedern, die vom Rat nach Anhorung des Europaischen Parlaments einstimmig auf sechs Jahre ernannt werden. Die Mitglieder wahlen aus ihrer Mitte den Prasidenten des Rechnungshofs fur drei Jahre. b) Aufgaben des Rechnungshofes Die Hauptaufgabe des Rechnungshofes besteht darin, die wirtschaftliche Ausftth- 52 rung des Haushaltsplans der Europaischen Union zu kontrollieren, also die RechtmaBigkeit und OrdnungsmaBigkeit der Einnahmen und Ausgaben zu priifen. Er gewahrleistet ferner die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsfuhrung und tragt damit zur Wirksamkeit und Transparenz des Gemeinschaftssystems bei. Eine seiner Hauptaufgaben innerhalb des institutionellen Systems besteht darin, die Haushaltsbehorden (EP und Rat) zu unterstutzen. Dies geschieht durch Vorlage eines jahrlichen Berichts, in dem er zum abgeschlossenen Haushaltsjahr Stellung nimmt. Dieser Bericht stellt eine entscheidende Grundlage fur den Beschluss des Parlaments iiber die der Kommission zu erteilende Entlastung fur ihre Haushaltsfuhrung dar. Des Weiteren legt er dem Rat und dem Parlament eine Erklarung uber die Zuverlassigkeit der Rechnungsfuhrung vor, mit der eine allgemeine Ge74 75
Vgl. nur EuGHE 1990, 2879; 2003, 3735. Streinz, Europarecht, Rn. 337 a.
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wahr flir die zweckentsprechende Verwendung des Geldes der europaischen Steuerzahler gegeben werden soil. Auch gibt der Rechnungshof Stellungnahmen ab, wenn finanzrelevante Regelungen erlassen werden sollen. Die Mitarbeiter des Rechnungshofs fuhren Prilfbesuche bei anderen Organen, in den EG-Mitgliedstaaten und in alien Drittstaaten durch, die Gemeinschaftszuschtisse erhalten. c) Strafrechtsrelevante Aktivitaten des Rechnungshofs 53 Die Priifer des Rechnungshofs kontrollieren die Belege der Rechnungsvorgange und konnen auch Prilfbesuche vor Ort bei den verwaltenden Stellen und den Begtlnstigten der Gemeinschaftshilfen durchfuhren. Im Allgemeinen dauern diese Prufbesuche in den Mitgliedstaaten ein bis zwei Wochen und werden gemeinsam mit den nationalen Rechnungsprilfungsorganen oder den zustandigen Behorden durchgefuhrt. Der Kontrollbericht muss samtliche Informationen beinhalten, die aus den Uberprilfungen hervorgegangen sind. Er muss insbesondere die in dem gepriiften nationalen oder lokalen System entdeckten Schwachstellen benennen, die festgestellten Fehler, UnregelmaBigkeiten und Betrugsdelikte aufzeigen und Vorschlage fur das weitere Vorgehen enthalten. Der Rechnungshof besitzt keine eigenen Exekutivbefugnisse. Entdecken die Priifer Hinweise auf Betrugsfalle bzw. decken sie tatsachliche Betriigereien oder UnregelmaBigkeiten auf, werden die zustandigen Gemeinschaftsorgane hiervon so rasch wie moglich in Kenntnis gesetzt, damit diese die geeigneten MaBnahmen ergreifen konnen. III. Rechtsquellen und Charakteristika der Gemeinschaftsrechtsordnung 1. Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung 54 Die Gemeinschaftsrechtsordnung beruht zwar auf einer volkervertragsrechtlichen Grundlage, hat sich aber zu einer autonomen Rechtsordnung entwickelt76. Entscheidend ist, dass die Mitgliedstaaten der EG Hoheitsrechte zugewiesen und den Gemeinschaftsorganen die Befugnis zu eigenstandiger Rechtsetzung ilbertragen haben. Die EG verftigt aber nicht iiber eine souverane Staatlichkeit mit unbegrenzter Rechtsetzungsgewalt. Vielmehr erfolgt die Kompetenzaufteilung zwischen EG und Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung (vgl. Art. 5 I, 7 I, 249 I EGV). Danach wird die EG nur innerhalb der Grenzen der ihr zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tatig. Das Einzelermachtigungsprinzip legt fest, dass die EG-Organe fur jeden Rechtsakt eine ausdrilckliche oder zumindest im Wege der Auslegung nachweisbare Ermachtigungsgrundlage im EGV benotigen. Das Primarrecht (Rn. 59 f.) bildet mithin Grundlage und Rahmen der EG-Rechtsetzungsgewalt, steckt aber zugleich auch deren Grenzen ab77. Nach Art. 5 EUV gilt dieses Prinzip fur alle drei Saulen der EU. 76 77
EuGHE 1964, 1251, 1269; Satzger, Europaisierung, S. 36 ff. EuGHE 1978, 1771, 1778; Herdegen, Europarecht, Rn. 189; Oppermann, Europarecht, Rn. 511, 513; Streinz, Europarecht, Rn. 436; Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 5Rn. 2.
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Hinweis: Der Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa halt fur die Abgren- 55 zung der Zustandigkeiten der neu zu grilndenden Europaischen Union (Art. 1-1 I EU-Verfassung) ausdriicklich an dem Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung fest (Art. 1-11 I, II EU-Verfassung)78. Die zentralen Sachgebietskompetenzen der EG sind in Art. 3 I lit. a - u EGV 56 zusammengefasst. Sie umfassen exemplarisch die Zustandigkeit fur die Bereiche Zollunion, Freiheit des innergemeinschaftlichen Warenverkehrs (Art. 3 I lit. a EGV), Binnenmarkt (Art. 3 I lit. c EGV), Landwirtschafts- und Fischereipolitik (Art. 3 I lit. e EGV), Schutz des Wettbewerbs (Art. 3 I lit. g EGV), gemeinsame Verkehrspolitik (Art. 3 I lit. f EGV), Umweltschutz (Art. 3 I lit. 1 EGV) sowie Gesundheits- und Verbraucherschutz (Art. 3 I lit. p und t EGV). Insgesamt steht den EG-Organen ein umfassendes, aus einzelnen Normen des EGV bestehendes Kompetenzmosaik zur Verfugung. Nicht selten ergeben sich Gesetzgebungskompetenzen aus weit gefassten Vorgaben zur Aufgabenerfullung bzw. zur Erreichung bestimmter Ziele (sog. finale Kompetenzzuweisungen). So konnen beispielsweise nach Art. 34 I 2 EGV alle zur Durchfuhrung der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlichen Mafinahmen ergriffen oder gem. Art. 711 lit. d EGV alle zweckdienlichen Vorschriften zur Durchfuhrung einer gemeinsamen Verkehrspolitik erlassen werden. Eine sog. ,,Kompetenz-Kompetenz", also die Befugnis, die eigene Kompetenz zu erweitern, besitzt die EG aber nicht79. Die umfassendsten und in der Praxis wichtigsten Einzelermachtigungen des 57 EGV sind in Art. 94, 95 EGV niedergelegt. Diese Bestimmungen statten die EG mit der Befugnis aus, beliebige Sachbereiche zu regeln, soweit dies fur die Errichtung und das Funktionieren des Binnemnarktes erforderlich ist. Auch das mitgliedstaatliche Strafrecht ist von der in diesen Artikeln verankerten Harmonisierungskompetenz nicht ausgenommen80. Zu beachten ist freilich, dass die Art. 94, 95 EGV lediglich eine Rechtsangleichungsbefugnis verleihen, die nicht mit einer Rechtsetzungskompetenz gleichgesetzt werden darf (Zur Frage, ob die EG iiber eine Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts verfugt vgl. Rn. 72 ff.). Das Gemeinschaftsrecht beinhaltet das Recht der Europaischen Gemeinschaf- 58 ten, deren Organe seit langem fusioniert sind und die deshalb einheitlich handeln. Es stellt die sog. ,,erste Saule" in der Tempelarchitektur der durch den Vertrag von Maastricht (1992) geschaffenen Europaischen Union dar (Rn. 103). Neben das Gemeinschaftsrecht — und damit von der ersten Saule strikt zu trennen - treten als zweite Saule die gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik (GASP) und als dritte Saule die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
Vgl. hierzu Wuermeling, EuR2004, 216, 224. BVerfGE 75, 223, 242; Deutscher, Kompetenzen, S. 204 f.; Streinz, Europarecht, Rn. 121; Vogel, in: Dannecker (Hrsg.), Die Bekampfung des Subventionsbetrugs im EGBereich, 1993, S. 170, 182. Dannecker, JURA 1998, 79, 81; Deutscher, Kompetenzen, S. 210 f.; Dieblich, Rechtsgiiter der EG, S. 276; Satzger, Europaisierung, S. 419 ff., jew. m. w. N.
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(PJZS). Die Rechtsquellen der Gemeinschaftsrechtsordnung unterteilt man in primares und sekundares Gemeinschaftsrecht81.
2. Primares Gemeinschaftsrecht 59 An der Spitze der gemeinschaftsrechtlichen Normenhierarchie steht das primare Gemeinschaftsrecht, das die Griindungsvertrage der Europaischen Gemeinschaften einschlieBlich Anlagen, Anhange sowie Protokolle und Rechtsquellen gleichen Ranges umfasst. Alle primarrechtlichen Rechtsakte stehen auf derselben hierarchischen Ebene. Ftir ihr Verhaltnis untereinander gilt der Vorrang der lex posterior und der lex specialis. Das geschriebene Primarrecht wird erganzt durch ungeschriebenes Gemeinschaftsrecht in Form allgemeiner Rechtsgrundsatze, deren Existenz von Art. 288 II EGV vorausgesetzt wird. Von herausragender Bedeutung ist die Ausformung allgemeiner Rechtsgrundsatze im Dienste eines gemeinschaftlichen Grundrechtsstandards durch die Rechtsprechung des EuGH82. Grundlage hierfur bildet der Rilckgriff auf die gemeinsamen Verfassungsiiberlieferungen der Mitgliedstaaten und die Gewahrleistungen der EMRK. Auch haben wichtige Grundsatze wie das allgemeine Willkurverbot83, VerhaltnismaBigkeitsprinzip84, Vertrauensschutzprinzip85, das Prinzip der Rechtssicherheit86 und das Verbot der Mehrfachverfolgung derselben Tat87 auf diese Weise Einzug in das Gemeinschaftsrecht gehalten. Die Judikatur des EuGH ist nunmehr in Art. 6 II EUV festgeschrieben und bekraftigt worden. 60
Das Primarrecht gilt in alien Mitgliedstaaten unmittelbar und genieBt gegeniiber dem nationalen Recht Anwendungsvorrang, d. h., in gemeinschaftsrechtlich geregelten Bereichen werden nationale Regelungen verdrangt (§ 9 Rn. 8). Dem nationalen Recht wird damit nicht etwa (wie verfassungswidrigen Gesetzen in Deutschland) die Wirksamkeit abgesprochen - es ist lediglich unanwendbar. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts hat also zur Folge, dass nationale Behorden und Gerichte bei der Rechtsanwendung unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht vollziehen und mit Gemeinschaftsrecht unvereinbares nationales (Straf)Recht unangewendet lassen milssen. Der Grundsatz des Anwendungsvorranges ist einer der zentralen Faktoren fur die Europaisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts.
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Herdegen, Europarecht, Rn. 160 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 473 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 24 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 2 ff. EuGHE 1969, 419; 1979, 3727; 1980, 2033; Herdegen, Europarecht, Rn. 169 ff; Oppermann, Europarecht, Rn. 489 ff; Streinz, Europarecht, Rn. 354 ff. EuGHE 1978, 1991. EuGHE 1979, 677. EuGHE 1978, 169. EuGHE 1983,2633. EuGHE 1966, 153, 178; 1984, 4177; Satzger, Europaisierung, S. 178, 686; Spannowsky, JZ 1994, 326, 334.
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3. Sekundares Gemeinschaftsrecht Das Sekundarrecht umfasst die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane, die aufgrund 61 und nach MaBgabe der Gemeinschaftsvertrage erlassen worden sind. Die von den Griindungsvertragen abgeleiteten Sekundarrechtsakte werden im Wege unterschiedlicher Verfahren, die in einzelnen Vertragsartikeln festgelegt sind, erlassen. Wenn in Art. 249 I EGV bestimmt wird, dass die Gemeinschaftsorgane ,,nach MaBgaben dieses Vertrages" tatig werden, so kommt darin das bereits erwahnte Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung zum Ausdruck (Rn. 54). In Art. 249 II-V EGV sind die nachfolgend erlauterten Rechtsakte aufgefuhrt. a) Verordnungen (Art. 249 II EGV) Verordnungen sind unmittelbar giiltig und in alien EU-Mitgliedstaaten rechtlich 62 verbindlich, ohne dass es nationaler UmsetzungsmaBnahmen bedilrfte. Damit ist die sog. ,,Durchgriffswirkung" der Verordnung und ihre unmittelbare Anwendbarkeit in den Mitgliedstaaten primarrechtlich festgeschrieben. Aufgrund ihrer abstrakt-generellen Regelungswirkung kommt dieser Form des Gemeinschaftsrechts Rechtssatzqualitat zu. Die Verordnung wird deshalb auch als ,,Europaisches Gesetz"88 bezeichnet. Nach h. M. besteht keine Befiignis der Gemeinschaft, kriminalstrafrechtliche Regelungen im Wege einer Verordnung zu erlassen (vgl. hierzu Rn. 72 ff.). Ein Teil der Literatur bejaht indes eine aus Art. 280 IV S. 1 EGV abgeleitete bereichsspezifische - auf den Schutz der EG-Finanzinteressen beschrankte - Strafrechtsetzungskompetenz der EG (Rn. 98). Hinweis: In dem Vertrag iiber eine Verfassung fiir Europa wird ein Ge- 63 setzgebungsakt der Europaischen Union, der allgemeine Geltung beansprucht, in alien seinen Teilen verbindlich ist und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gilt, als ,,Europaisches Gesetz" bezeichnet (Art. 1-33 I S. 2 EU-Verfassung). Das Europaische Gesetz tritt mithin an die Stelle der EG-Verordnung. Der Durchfuhrung der Gesetzgebungsakte und bestimmter Einzelvorschriften der EU-Verfassung dient die ,,Europaische Verordnung", die von Art. 1-33 I S. 4 EU-Verfassung als ,,Rechtsakt mit allgemeiner Geltung ohne Gesetzescharakter" definiert wird. Sie kann entweder in alien ihren Teilen verbindlich sein und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat gelten oder fur jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich sein, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel Uberlassen. Die Europaische Verordnung tritt somit an die Stelle der EG-Durchfuhrungsverordnungen (Exekutivakte der Kommission) sowie der Durchfuhrungsbeschlusse des Rates gem. Art. 34 II c EUV. b) Richtlinien (Art. 249 III EGV) Richtlinien binden die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die innerhalb einer be- 64 stimmten Frist zu erreichenden Ziele, uberlassen den innerstaatlichen Stellen jedoch die Wahl der Form und Mittel, mit denen diese Ziele erreicht werden sollen. Sie milssen entsprechend den einzelstaatlichen Verfahren in nationales Recht umgesetzt werden. Art. 249 III EGV geht somit von einem zweistufigen Verfahren aus. Durch den Erlass der Richtlinie wird zunachst ein direktes Pflichtenverhaltnis Herdegen, Europarecht, Rn. 176; Oppermann, Europarecht, Rn. 540.
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zwischen der Gemeinschaft und dem Mitgliedstaat als Richtlinienadressat hergestellt. In einem zweiten Schritt miissen die Mitgliedstaaten durch nationale MaBnahmen dafur sorgen, dass die inhaltlichen Zielvorgaben der Richtlinie effektiv umgesetzt werden89. Die Umsetzung der Richtlinienvorgabe kann in Form eines nationalen Legislativaktes (Gesetz, Rechtsverordnung), aber auch im Wege einer richtlinienkonformen Interpretation bestehender innerstaatlicher Rechtsvorschriften erfolgen, soweit dies Rechtsdogmatik und nationales Verfassungsrecht zulassen (§ 10 Rn. 13 ff). Auch schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist vermag die Richtlinie ab dem Zeitpunkt ihres Inkrafttretens (Art. 254 EGV) gewisse Rechtswirkungen zu entfalten. Nach der Rechtsprechung des EuGH dtlrfen die Mitgliedstaaten wahrend der laufenden Umsetzungsfrist keine nationalen Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgegebenen Ziels in Frage zu stellen90 (§ 10 Rn. 30 f). 65 Unter engen Voraussetzungen hat der EuGH eine ,,Durchgriffswirkung" auch bei Richtlinien anerkannt91. Danach kann eine den Burger begilnstigende Richtlinienbestimmung ausnahmsweise dann unmittelbar anwendbar sein, wenn sie trotz Fristablaufes nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde und von ihrem Inhalt her unbedingte und hinreichend bestimmte Vorgaben trifft, um im Einzelfall angewendet zu werden. Inhaltlich unbedingt ist die Richtlinie dann, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist. Hinreichend bestimmt ist die Richtlinie, wenn sie allgemein und unzweideutig bestimmte Vorgaben zum sachlichen Regelungsgehalt, zum geschutzten Personenkreis und zu den durch die Regelungen verpflichteten Einrichtungen trifft. Der EuGH begrilndet diese ausnahmsweise anzunehmende direkte Wirkung der Richtlinie mit dem Anliegen, den Normen des Gemeinschaftsrechts Geltung zu verschaffen (Gedanke des ,,effet utile"). AuBerdem soil verhindert werden, dass der Mitgliedstaat aus seiner Saumnis gegenuber dem von der Richtlinie Begunstigten Vorteile zieht. Eine unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien im Verhaltnis Privater untereinander, mithin eine Drittwirkung zu Lasten Privater, lehnt der EuGH aber ab92. 66
Hinweis: In dem Vertrag tiber eine Verfassung fur Europa wird ein Gesetzgebungsakt der Union, der fur jeden Mitgliedstaat, an den er gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel ilberlasst, als ,,Europaisches Rahmengesetz" bezeichnet (Art. 1-33 I S. 3 EU-Verfassung). Das Europaische Rahmengesetz tritt
89 90 91
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Herdegen, Europarecht, Rn. 177 ff.; Oppermann, 1999, Rn. 547 ff.; Scherzberg, JURA 1992, 572 ff. EuGHE1997, 7411(Rz. 50). EuGHE 1974, 1337, 1349; 1979, 1629, 1641; 1982, 53, 71; 1983, 2727, 2744; 1986, 3855, 3875; 1989, 1839, 1870; Bleckmann, Europarecht, Rn. 431 ff; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 14 ff; Gotz, NJW 1992, 1849, 1855; Herdegen, Europarecht, Rn. 183; Oppermann, Europarecht, Rn. 556; Scherzberg, JURA 1993, 225, 226; Schroder, Richtlinien, S. 9 ff. Die Rspr. des EuGH wird von BVerfGE 75, 223 ff. im Grundsatz als zulassige Rechtsfortbildung gebilligt. EuGHE 1986, 723; 1994, 3325.
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somit an die Stelle der EG-Richtlinie und des Rahmenbeschlusses (Art. 34 II b EUV). c) Entscheidungen (Art. 249 IV EGV) Entscheidungen sind als konkret-individuelle Regelungen - vergleichbar einem 67 deutschen Verwaltungsakt bzw. einer Allgemeinverfilgung - fur die Empfanger rechtlich verbindlich. Sie bediirfen daher keiner Umsetzung durch nationale Rechtsakte. Entscheidungen werden in der Regel von der Kommission erlassen und konnen an Mitgliedstaaten, Unternehmen oder Einzelpersonen gerichtet sein. Hinweis: An die Stelle der Entscheidung soil nach Art. 1-33 I S. 5 EU- 68 Verfassung der ,,Europaische Beschluss" treten, der als ein in alien seinen Teilen verbindlicher Rechtsakt ohne Gesetzescharakter definiert wird. 1st er an bestimmte Adressaten gerichtet, so ist er nur fur diese verbindlich. d) Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 249 V EGV) Empfehlungen und Stellungnahmen sind zwar gem. Art. 249 V EGV nicht ver- 69 bindlich. Sie entfalten aber eine mittelbare Rechtswirkung insofern, als sie bei der Auslegung von Gemeinschaftsrecht durch nationale Gerichte und Behorden zu beachten sind93. Hinweis: Empfehlungen und Stellungnahmen der Organe leben als Rechtsakte 70 der Union auch nach Inkrafttreten des Vertrages tiber eine Verfassung fur Europa fort. Die Regelung des Art. 249 V EGV wird von Art. 1-33 I S. 6 EUVerfassung iiberaommen. e) Sonstige Rechtsakte (,,ungekennzeichnete Rechtshandlungen") Als sog. ,,ungekennzeichnete Rechtshandlungen" oder ,,Akte sui generis" be- 71 zeichnet man solche Handlungsformen der Gemeinschaftsorgane, die auBerhalb des in Art. 249 EGV normierten Handlungskanons liegen94. Zu denken ist insbesondere an Beschliisse, EntschlielJungen, Aktionen oder Programme. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Organisations- und Gestaltungsakte, Absichtsoder Selbstverpflichtungserklarungen. Rechte und Pflichten fur auBerhalb der EGOrgane stehende Personen werden durch diese Akte nicht begrilndet. IV. Literaturhinweise von Bubnoff, Institutionelle Kriminalitatsbekampfung in der EU - Schritte auf dem Weg zu einem europaischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum, ZEuS 2002, 185 Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europaischen Union, 2. Aufl., 2003, §§ 5-8 Deutscher, Die Kompetenzen der Europaischen Gemeinschaften zur originaren Strafgesetzgebung, 2000, S. 7-33. Glefi, Das Europaische Amt fur Betrugsbekampfung (OLAF), EuZW 1999, 618 Haus, OLAF -Neues zur Betrugsbekampfung in der EU, EuZW 2000, 745 93 94
EuGHE 1989, 4407. Bleckmann, Europarecht, Rn. 470; Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, Rn. 577.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
Herdegen, Europarecht, 5. Aufl., 2003, §§ 4, 6, 8-9 Mager, Das Europaische Amt fur Betrugsbekampfung (OLAF) - Rechtsgrundlagen seiner Errichtung und Grenzen seiner Befugnisse, Zeus 2000, 177 Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999 §§ 4-6 Kuhl/Spitzer, Das Europaische Amt fur Betrugsbekampfung (OLAF), EuR 2000, 671 Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 15-56 Streinz, Europarecht, 6. Aufl., 2003, §§ 3-6
V. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1964, 1254 (Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung) EuGHE 1991, 6079 (Rechtsnatur der EG) BVerfGE 22, 293; 51, 222; 89, 155 (Rechtsnatur der EG) BVerfGE 37, 271 (Autonomie der Gemeinschaftsrechtsordnung) BVerfGE 89, 155 (Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung)
B. Kompetenzen der EG zur originaren Strafgesetzgebung 72 Die EG ubt in den ihr vom EGV zugewiesenen Zustandigkeitsbereichen erne eigene supranationale Hoheitsgewalt aus, die einen ,,Durchgriff' in den mitgliedstaatlichen Hoheitsbereich ermoglicht. Dies bedeutet, dass die Rechtsetzungsorgane der EG in den vergemeinschafteten Regelungsmaterien Gemeinschaftsrecht setzen konnen, welches Vorrang vor dem nationalen Recht besitzt und in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar ist (§ 9 Rn. 8). Im Folgenden soil der Frage nachgegangen werden, ob die EG auch eine Strafgesetzgebungskompetenz besitzt, die es ihr ermoglicht, originates Gemeinschaftsstrafrecht zu setzen. Selbst wenn man der EG die Kompetenz zur Setzung unmittelbar anwendbarer Strafhormen zuschreiben wtirde, konnte dennoch nicht von einer unifassenden Kriminalstrafgewalt der EG gesprochen werden. Derm die Kompetenz zur Rechtsetzung (Jurisdiction to describe") beinhaltet nicht automatisch auch die Vollzugskompetenz, also die Fahigkeit, gesetztes Recht mit eigenen Vollzugsorganen durchzusetzen (Jurisdiction to enforce"). Fur den Vollzug gemeinschaftsrechtlicher Normen sind nach geltender Kompetenzverteilung - auBer in den seltenen Fallen gemeinschaftsunmittelbaren Vollzugs - die Mitgliedstaaten zustandig. Somit waren auch fur die Verfolgung und Ahndung von Taten, die nach Gemeinschaftsstrafrecht mit Strafe bedroht sind, in jedem Fall die nationalen Strafverfolgungsorgane der Mitgliedstaaten zustandig95. Bislang findet sich im Gemeinschaftsrecht keine Verordnung, durch die unmit- 73 telbar anwendbares Kriminalstrafrecht in den Mitgliedstaaten geschaffen wird. Es existiert keine einzige genuin gemeinschaftsrechtliche Strafnorm, geschweige denn ein Kodex supranationaler Strafhormen. Es ware aber allzu voreilig, aus dieDeutscher, Kompetenzen, S. 81; Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401, 1403; Satzger, Europaisierung, S. 90 f. jew. m. w.N.
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sem Befund den Schluss zu ziehen, es bestilnde keine kriminalstrafrecht-liche Rechtsetzungskompetenz der EG. Denkbar ist ja immerhin, dass eine entsprechende Gemeinschaftskompetenz zwar besteht, von welcher der Rat jedoch bislang - etwa auf Grand politischer Vorbehalte der Mitgliedstaaten - keinen Gebrauch gemacht hat. In der Tat ist die Frage nach dem Bestehen einer Rechtsetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Kriminalsstrafrechts keine ,,rein akademische" Angelegenheit. Sie bedarf schon deshalb der Klarung, weil sie den rechtlichen Rahmen fur die Moglichkeiten zur Realisierung von ,,EuropaDelikten" absteckt96. Die Diskussion erfordert eine genaue Vorstellung iiber den Gegenstand einer etwaigen (kriminal)strafrechtlichen Rechtsetzungskompetenz.
I. Strafrecht als autonom zu bestimmender Begriff des Gemeinschaftsrechts Der Begriff des Strafrechts wird weder vom geschriebenen Gemeinschaftsrecht 74 noch von der europaischen Rechtsprechung definiert. Dies ist misslich. Denn die Untersuchung der Frage, ob eine Kompetenz der EG zur eigenstandigen Setzung strafrechtlicher Normen besteht und wie weit diese ggf. reicht, setzt Klarheit dariiber voraus, welche Regelungen uberhaupt dem Strafrecht zuzuordnen sind und welche nicht.
1. Untauglichkeit einer formalen Begriffsbestimmung Man konnte zunachst in Betracht ziehen, die Abgrenzung zwischen strafrechtli- 75 chen und nicht-strafrechtlichen Rechtsmaterien anhand formaler Kriterien vorzunehmen, etwa in dem Sinne, dass jede Sanktionsnorm des Gemeinschaftsrechts, die als Rechtsfolge eine Freiheitsstrafe, Geldstrafe oder GeldbuBe androht, dem Strafrecht zuzuordnen ware. Dieser dem deutschen Recht gelaufige Ansatz97 vermag im Bereich des Gemeinschaftsrechts jedoch nicht zu uberzeugen. Zum einen konnen und dilrfen nationale Terminologien nicht ohne weiteres auf gemeinschaftsrechtliche Rechtsbegriffe ubertragen werden. Gemeinschaftstermini sind grundsatzlich autonom zu bestimmen98. Zum anderen sind bereits die in den Mitgliedstaaten gebrauchlichen Begrifflichkeiten im Bereich des Sanktionenrechts so uneinheitlich, dass ihre unreflektierte Ubertragung auf das Gemeinschaftsrecht nicht praktikabel erscheint. So wird z. B. der in der deutschen Fassung des Art. 83 II lit. a EGV verwendete Terminus ,,Geldbufie" im deutschen Recht nicht dem Kriminalstrafrecht zugeordnet, wahrend in der englischen (,,fine"), niederlandischen (,,geldboete") und italienischen (,,ammenda") Fassung Begriffe verwendet Vgl. hierzu exempl. Satzger, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europaischen Union, 2002, S. 71 ff. und die von Dannecker erlauterten Vorschlage fur ein supranationales Lebensmittelstrafrecht, ebenda, S. 239 ff., 466 ff. Vgl. BVerfGE 27, 18, 30; Gohler, OWiG, 13. Aufl, 2002, Vor § 1 Rn. 6; krit. hierzu KKOWiG/Bohnert, EinleitungRn. 111. Oppermann, Europarecht, Rn. 682; Streinz, Europarecht, Rn. 500.
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werden, die innerstaatlich dem Kriminalstrafrecht entstammen und insoweit mit der deutschen ,,Geldstrafe" vergleichbar sind. Zu Recht weist Satzger darauf hin, dass eine an die angedrohten Sanktionen ankntipfende formale Abgrenzung im Ubrigen schon deshalb nicht gelingen kann, weil das Gemeinschaftsrecht - im Gegensatz zu einigen Mitgliedstaaten (darunter Deutschland) - ttber kein geschlossenes strafrechtliches System im Sinne eines numerus clausus der strafrechtlichen Sanktionen verfugt".
2. Begriffsbestimmung an hand materieller Kriterien 76 Ausschlaggebend fur die Qualifikation einer Regelung als ,,strafrechtlich" konnen daher im Rahmen einer autonomen gemeinschaftsrechtlichen Begriffsbestimmung nur materielle Kriterien sein. In der Kompetenzdiskussion hat sich die Unterscheidung zwischen Strafrecht im weiteren Sinne (sog. punitive Sanktionen), Kriminalstrafrecht und nichtstrafrechtlichen Sanktionen durchgesetzt100. Eine auf Gemeinschaftsebene getroffene Regelung bzw. MaBnahme ist demnach dem Strafrecht im weiteren Sinne zuzuordnen, wenn mit ihr ein repressiver, auf Sanktionierung eines missbilligten Verhaltens gerichteter Zweck verfolgt wird. Normen, die einen RechtsverstoB mit Freiheitsentziehung bedrohen, sind regelmaBig dem Strafrecht zuzuordnen. Regelungen, welche die Verhangung finanzieller Sanktionen vorsehen, wird man jedenfalls dann als strafrechtliche Maflnahmen werten milssen, wenn sie erheblich in die wirtschaftliche Bewegungsfreiheit des Zahlungspflichtigen eingreifen und die Grenzen der Wiedergutmachung eines Schadens deutlich tiberschreiten. Die Zweckrichtung der Sanktion stellt das vorrangige Abgrenzungskriterium dar. Im Regelfall sind daher nichtstrafrechtlicher Natur solche Sanktionsregelungen, die ausschlieBlich preventive (der Gefahrenabwehr dienende) oder restitutive (auf Schadensausgleich gerichtete) Zwecke verfolgen. Der punitive Charakter solcher Regelungen und damit deren Zuordnung zum Strafrecht im weiteren Sinne kann sich aber auch aus der tatsachlichen Wirkung der Sanktion ergeben. Diesem gegenilber dem Funktionskriterium nachrangigen Abgrenzungskriterium kommt alleinentscheidende Bedeutung zu, wenn sich ein repressiver Zweck der in Rede stehenden GemeinschaftsmaBnahme nicht oder zumindest nicht eindeutig feststellen lasst. Jedenfalls bei besonders schwerwiegenden RechtsgutseinbuBen fur den Betroffenen erscheint es gerechtfertigt, eine (an sich nicht repressive Zwecke verfolgende) Sanktionsregelung aufgrund ihrer tatsachlichen Wirkung als punitive MaBnahme (Strafrecht im weiteren Sinne) einzustufen. Dies kommt aber nur bei Anordnung von Freiheitsentziehungen und gravierenden Beschrankungen der wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit in Betracht101.
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Satzger, Europaisierung, S. 65. V g l . hierzu u n d z u m Nachfolgenden Deutscher, Kompetenzen, S. 165 ff. 174 ff.; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 66 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 58 ff., 6 4 ff., 72 ff. Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 43; Satzger, Europaisierung, S. 72.
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3. Abgrenzung zwischen Kriminalstrafrecht und Strafrecht im weiteren Sinne Auch der Begriff Kriminalstrafrecht ist im Rahmen der Diskussion Uber eine 77 EG-Strafrechtsetzungskorripetenz als ein autonom zu bestimmender Terminus des Gemeinschaftsrechts zu begreifen und zu handhaben. Anders als beim Strafrecht im weiteren Sinne ist jedem Mitgliedstaat eine eigene Kategorie des Kriminalstrafrechts bekannt. Kein gangbarer Weg ware es aber, dass jeder Mitgliedstaat seine nationale Begrifflichkeit und damit sein Begriffsverstandnis zugrunde legt. Dies hatte angesichts divergierender Begriffsinhalte zur Folge, dass die Reichweite einer etwaigen EG-Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet des Strafrechts nicht einheitlich bestimmt werden konnte. Wie Satzger Uberzeugend dargelegt hat, miissen die mitgliedstaatlichen Defmitionen im Wege einer wertenden Rechtsvergleichung zu einem einheitlichen Gemeinschaftsbegriff verschmolzen werden102. Ungeachtet der bestehenden Divergenzen weisen die Strafrechtssysteme der Mitgliedstaaten einige Gemeinsamkeiten auf, die als Ansatzpunkte fur die Herausarbeitung eines gemeinschaftlichen Begriffs des Kriminalstrafrechts herangezogen werden konnen. Es lasst sich ein ganzes Btlndel materieller Kriterien aufstellen, die es ermoglichen, zumindest den Kern des gemeinschaftsrechtlich zu verstehenden Kriminalstrafrechts zu bestimmen und fur die Kompetenzdiskussion fruchtbar zu machen103: - Kriminalstrafen bilden den Kernbestand punitiver Sanktionen (Strafrecht im weiteren Sinne) und teilen daher notwendigerweise deren repressive Zwecksetzung, - Kriminalstrafrecht liegt regelmaBig vor, wenn die Rechtsfolge des Sanktionstatbestandes auf die Verhangung einer Freiheitsstrafe oder die Auferlegung einer fmanziellen EinbuBe gerichtet ist, die in eine Ersatzfreiheitsstrafe umwandelbar ist, - Kriminalstrafrechtliche Sanktionen bringen immer ein sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck, - Die Verhangung einer Kriminalstrafe wird zumeist durch den Eintrag in ein Strafregister dokumentiert, - Kriminalstrafen werden durch ein Gericht in einem dafiir vorgesehenen Verfahren verhangt. In Rechtsbehelfsverfahren zugunsten des Betroffenen gilt das Verbot der reformatio in peius (Verschlechterungsverbot), - Kriminalstrafen unterliegen der Geltung des Gesetzlichkeits- und des Schuldprinzips.
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Satzger, Europaisierung, S. 74 ff. Satzger, Europaisierung, S. 79.
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4. Zuordnung einzelner Sanktionstypen des Gemeinschaftsrechts 78 Anhand der oben aufgestellten materiellen Kriterien lasst sich eine Zuordnung der im Gemeinschaftsrecht bekannten Sanktionstypen zu den gemeinschaftsrechtlich autonom definierten Materien des Kriminalstrafrechts, des Strafrechts im weiteren Sinne oder des sonstigen (nichtstrafrechtlichen) Sanktionenrechts vornehmen104. a) GeldbuGen 79 Bei den im europaischen Kartellrecht (Art. 83 II lit. a EGV) vorgesehen GeldbuBen handelt es sich aufgrund ihres eindeutig repressiven Charakters unzweifelhaft um punitive Sanktionen, die dem Strafrecht im weiteren Sinne zuzuordnen sind. Gegen ihre Einordnung als kriminalstrafrechtliche Sanktionen sprechen aber gleich mehrere Griinde: Die GeldbuBe wird nicht durch ein Gericht, sondern durch die Kommission in ihrer Funktion als Exekutivorgan verhangt. Das zur Uberprufung zustandige Europaische Gericht erster Instanz (EuG) entscheidet hier in einem Verwaltungsverfahren, so dass der Grundsatz der reformatio in peius nicht gilt105. Durch die Verhangung der GeldbuBe wird kein sozialethisches Unwerturteil zum Ausdruck gebracht. Schliefllich spricht gegen die Annahme einer kriminalstrafrechtlichen Rechtsnatur der GeldbuBe, dass das Gemeinschaftsrecht bei Nichteinbringlichkeit keine Ersatzfreiheitsstrafe vorsieht und dass keine Eintragung in ein Strafregister erfolgt106. Die vorstehenden Ausfiihrungen gelten entsprechend fur GeldbuBen, welche die EZB nach Art. 110 III EGV gegen Unternehmen festsetzen sowie fur GeldbuBen, die der EuGH gem. Art. 24 der Satzung des EuGH107 gegen ausbleibende Zeugen verhangen kann. b) Zwangsgeld und Strafgeld 80 Das Zwangsgeld, das sowohl in Art. 87 II lit. a EGV als auch in Art. 110 III EGV neben dem BuBgeld als mogliche Sanktion aufgezahlt wird, zielt nicht darauf ab, einen in der Vergangenheit liegenden RechtsverstoB zu ahnden. Vielmehr soil eine gegenwartige oder kiinftige Rechtsverletzung verhindert werden. Im Hinblick auf seine ausschliefilich preventive Zwecksetzung stellt das Zwangsgeld keine Sanktion mit strafrechtlichem Charakter dar108. Das Zwangsgeld kann allerdings im Einzelfall als ,,versteckte Strafsanktion" dem Strafrecht im weiteren Sinne zugeordnet werden, wenn seine Hohe - gemessen an dem zugrunde liegenden Verstofi - unverhaltnismaBig erscheint und auf eine faktisch repressive Zwecksetzung schlieBen lasst109.
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Deutscher, Kompetenzen, S. 92 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 80 ff. jew. m. w. N. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 16. Kap. Rn. 192, 213 m. w. N. Deutscher, Kompetenzen, S. 139 ff., 174 ff; Satzger, Europaisierung, S. 83 f. jew. m. w. N. Satzung des EuGH (EG) v. 17.4.1957 (BGB1. II, 1166); aktuelle Fassung in Sartorius II Nr. 245. Satzger, Europaisierung, S. 61, 80 f. m. w. N. Satzger, Europaisierung, S. 81.
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Ebenso wie das Zwangsgeld stellt auch das durch Satzung der EZB eingeflihrte 81 sog. ,,Strafgeld" keine punitive Sanktion dar, da es funktional lediglich darauf abzielt, einen aktuellen RechtsverstoB abzustellen110. c) Sanktionen im Agrar- und Fischereirecht Eine ganze Palette ,,neuartiger" Sanktionen stellt das Gemeinschaftsrecht im Be- 82 reich des Agrar- und Fischereirechts zur Verfugung. Bei unberechtigter Inanspruchnahme von Gemeinschaftssubventionen kommen daher Subventionskurzungen, Abztige sowie Subventionssperren, Strafzuschlage und Kautionsverfall in Betracht111. Fur diese MaBnahmen hat sich die Bezeichnung Europaisches Verwaltungssanktionenrecht durchgesetzt112. Obwohl einiges fur ihre Einordnung als ,,verdeckte Strafsanktionen" (Strafrecht im weiteren Sinne) spricht (vgl. Rn. 76), ist die Rechtsnatur dieser Regelungen und MaBnahmen nach wie vor auBerst umstritten. In einer alteren Entscheidung erblickte der EuGH in der gemeinschaftsrechtlichen MaBnahme des Kautionsverfalls113 keine strafrechtliche, sondern eine verwaltungsrechtliche Sanktion114. Auch die in einer Verordnung vorgesehene Subventionssperre stufte der Gerichtshof in einem Aufsehen erregenden Urteil v. 27. Oktober 1992 nicht als Strafsanktion ein115. Leider teilte der EuGH nicht mit, was er unter ,,Strafsanktion" versteht (vgl. hierzu Rn. 85). Falls er damit meinte, dass es sich bei den streitgegenstandlichen GemeinschaftsmaBnahmen nicht um kriminalstrafrechtliche Sanktionen handelt, stiinde die vom EuGH verwendete Terminologie (,,verwaltungsrechtliche" Sanktion) ihrer Charakterisierung als punitive, d. h. dem Strafrecht im weiteren Sinne zuzuordnende Sanktionen nicht entgegen116. II. Diskussion einer etwaigen Strafgesetzgebungsbefugnis der EG Eine Rechtsetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts 83 kann nur angenommen werden, wenn sich die Existenz einer primiirrechtlichen Kompetenzgrundlage nachweisen lasst, die den Rechtsetzungsorganen der Gemeinschaft die Befugnis verleiht, supranationale Straftatbestande zu schaffen. Denn nach dem bereits erwahnten Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung 110 111
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Satzger, Europaisierung, S. 61 f. Deutscher, Kompetenzen, S. 94 ff.; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 70 f.; Satzger, Europaisierung, S. 62 f, 84 ff. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 85; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 47 ff. Vgl. hierzu Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, S. 43 ff.; Deutscher, Kompetenzen, S. 108 ff; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 47 ff; Tiedemann, NJW 1983, 2728 ff. jew. m. w. N. EuGHE 1970, 1125 ff. =NJW 1971, 343 ff; ebenso Deutscher, Kompetenzen, S. 108 ff. EuGHE 1992, 5383 (,,Deutschland/Kommission"); a. A. Deutscher, Kompetenzen, S. 102 ff. Zutr. Satzger, Europaisierung, S. 87.
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(Rn. 54) erfordert das Tatigwerden der Gemeinschaft und ihrer Organe stets eine ausdrilckliche Ermachtigungsgrundlage - sowohl den Regelungsgegenstand als auch die Handlungsform betreffend - im Primarrecht (Rn. 59 f.). Supranational Rechtsetzung auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts bedeutet, dass die EG selbst Straftatbestande erlasst, die unmittelbar, d. h. ohne nationalen Umsetzungsakt, in jedem Mitgliedstaat anwendbar sind und die Strafbarkeit Einzelner begrunden. Die einzig passende Form fur diese Rechtsetzung ist die Verordnung (Rn. 62). Keine geeignete Handlungsform fur die Setzung supranationalen Strafrechts stellt die Richtlinie (Rn. 64) dar. Derm sie entfaltet keine direkte Wirkung in den Mitgliedstaaten und vermag daher niemals ,,aus sich heraus" - also unabhangig von zu ihrer Durchfuhrung erlassenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften - eine strafrechtliche Verantwortlichkeit Einzelner zu begrunden117 (vgl. hierzu auch § 10 Rn. 42). Ob und ggf. inwieweit die Gemeinschaftsorgane befugt sind, den Mitgliedstaaten mittels Richtlinien bestimmte Vorgaben zur Setzung und Ausgestaltung nationaler Strafrechtsnormen zu machen, ist somit keine Frage der Rechtsetzungskompetenz, sondern unter dem Aspekt einer etwaigen Anweisungskompetenz der EG zu diskutieren (§ 8 Rn. 33 ff.). 1. Judikatur des EuGH und deutscher Gerichte 84 In friiheren Entscheidungen, in denen sich der EuGH eher beilaufig mit der Frage einer Sanktionskompetenz der EG befasste, wies er stets den Mitgliedstaaten die grundsatzliche Zustandigkeit fur die Schaffung von Strafsanktionen zu118. Des Weiteren findet sich in einigen Urteilen die folgende - rnehr oder weniger gleichlautende - Formulierung: ,,Enthalt das Gemeinschaftsrecht keine Vorschrift (Gemeinschaftsregelung), die fur den Fall ihrer Verletzung durch den Einzelnen bestimmte Sanktionen vorsieht, so sind die Mitgliedstaaten befugt, die Sanktionen zu wahlen, die ihnen sachgerecht erscheinen."119 Der erste Teil dieser Formulierung lasst Spekulationen dahingehend zu, der EuGH gehe grundsatzlich doch von einer - in ihrem Umfang allerdings nicht naher bestimmten - Sanktionskompetenz der Gemeinschaften aus120. Neue Impulse erhielt die wissenschaftliche Diskussion der Kompetenzfrage vor allem durch das Urteil des EuGH v. 27. Oktober 1992121: 85 Gegenstand dieses Urteils war eine von der Bundesrepublik Deutschland erhobene Nichtigkeitsklage gem. Art. 230 EGV gegen Verordnungen auf dem Gebiet des Agrargemeinschaftsrechts. In diesen Rechtsakten ist u. a. vorgesehen, dass ei117
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EuGHE 1987, 3969, 3971 (,,Kolpinghuis Nijmegen"); 1996, 6609 ff. (,,Telecom Italia"); Heise, Europaisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, 1999, S. 160; Kohne, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 65 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 538 ff.; kritisch hierzu Schroder, DVB1 2002, 157 ff. EuGHE 1977, 1495 (,,Sagulo"); 1981, 2595 (,,Casati"); 1989, 195 (,,Cowan"). EuGHE 1977, 139 (,,Amsterdam Bulb"); 1990, 2911 (,,Hansen"). So z. B. vertreten von Appel, Lebensmittelstrafrecht in der EU, S. 300; Bose, Strafen und Sanktionen im Europaischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 56; Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der EG, 1994, S. 300 ff. EuGHE 1992, 5383 ff. (,,Deutschland/Kommission").
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nem in UnregelmaBigkeiten verstrickten Landwirt, der zu Unrecht Beihilfen erlangt hat, nicht nur die Rtickerstattung dieser Betrage nebst Zinsen, sondern auch die Zahlung eines Zuschlags aufzuerlegen ist. Des Weiteren wird vorgeschrieben, dass bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die nationalen Behorden den betroffenen Wirtschaftsteilnehmer fur die Dauer eines Jahres von der Subventionsgewahrung ausschliefien miissen. Gegen diese Regelungen wandte sich die klagende Bundesrepublik u. a. mit dem Argument fehlender Rechtsetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Strafrechts. Die Klagebegriindung konzentrierte sich argumentativ nur auf den Leistungsausschluss und nicht auf den eigentlich problematischen ,,Strafzuschlag"122, was in der Literatur auf Kritik stieB123. Nach Auffassung der Kla'gerin handelt es sich bei der in der streitgegenstandlichen Verordnung vorgesehenen Subventionssperre um eine Sanktion mit Strafcharakter. Zur Einfuhrung eines Leistungsausschlusses, der zugleich ein strafrechtliches Unwerturteil iiber den Wirtschaftsteilnehmer beinhalte, seien die Gemeinschaftsorgane nicht befugt. Der EuGH vermochte sich dieser Argumentation im Ergebnis aber nicht anzuschlieBen. Er fuhrte aus, dass die EG gem. Art. 34 II, 37 II EGV dazu ermachtigt sei, alle Sanktionen einzufuhren, die fur die wirksame Anwendung der Regelungen auf dem Gebiet der gemeinsamen Agrarpolitik erforderlich seien. Zugleich erklarte der EuGH, dass iiber die Zustandigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Strafrechts nicht zu entscheiden sei, da der Leistungsausschluss keine Strafsanktion darstelle124. Da der Gerichtshof den in der angegriffenen Verordnung angeordneten Leis- 86 tungsausschluss mangels repressiven Charakters lediglich als eine preventive Zwecke verfolgende Regelung einstufte, die sicherstellen soil, dass unzuverlassige Subventionsbewerber nicht in den Genuss von Leistungen gelangen, sah er keinen Anlass, auf die Frage einzugehen, was er unter einer ,,Strafsanktion" versteht. Seinem Urteil lasst sich nicht eindeutig entnehmen, ob er damit allein das Kriminalstrafrecht oder auch das Strafrecht im weiteren Sinne (Rn. 76) gemeint hat. Dass sich sowohl Befurworter als auch Gegner einer Strafrechtsetzungskompetenz der EG zur Abstiltzung ihrer Thesen auf den EuGH berufen, ist angesichts des weiten Interpretationsspielraumes, den das Urteil zulasst, nicht weiter erstaunlich125. Vertreten wird zum einen, in dem Urteil sei uberhaupt keine Aussage uber die Befugnis zum Erlass punitiver und kriminalstrafrechtliche Sanktionen getroffen worden126. Dem steht die These gegenuber, der EuGH habe mit seiner Entscheidung das Bestehen einer Gemeinschaftskompetenz fur den Bereich des Kriminalstrafrechts jedenfalls nicht ausgeschlossen127, zumindest aber fur den Bereich der
122 Ygj hierzu Schulz, in: Rengeling (Hrsg.), Europaisierung des Rechts, 1996, S. 183, 199. 123 Satzger, Europaisierung, 2001, S. 86; Schroder, Richtlinien, S. 109; Tiedemann, NJW 1993, 49. 124 EuGHE 1992, 5383 (Rz. 24 f). 125 Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 96 f. m. w. N. 126 Tiedemann, NJW 1993, 49; ahnlich Stoffers, JA 1994, 133. 127 Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 35; Pache, EuR 1993, 173, 179 f.; noch weitergehend Appel, Lebensmittelstrafrecht in derEU, S. 183.
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nicht-kriminalstrafrechtlichen (punitiven) Sanktionen auf dem Agrarsektor bejaht128. In spater ergangenen Urteilen hat der EuGH seine fruhere Rechtsprechungsformel wieder aufgegriffen, in welcher von der grundsatzlichen Zustandigkeit der Mitgliedstaaten fur das Strafrecht gesprochen wird129. Dies spricht dafur, den Standpunkt des EuGH dahingehend zusammenzufassen, dass er jedenfalls das Kriminalstrafrecht auBerhalb der Rechtsetzungskompetenz der EG sieht130. 87 Auch die deutschen Strafgerichte haben bereits mehrfach - jedoch ohne eingehende Begrundung - die Auffassung vertreten, dass die Zustandigkeit fur die Strafgesetzgebung allein bei den Mitgliedstaaten liege131. In dem 1973 vor dem BGH verhandelten ,,Siiddeutschen Getreidefall"132 hatte die Verteidigung vorgebracht, aus dem Fehlen einer gemeinschaftsrechtlichen Sanktionsnorm in einer vergemeinschafteten Regelungsmaterie folge die Unanwendbarkeit nationaler Strafnormen. Ausgangspunkt dieser Argumentation war die These, dass die EG in einem gemeinschaftsrechtlich besetzten Bereich auch die Kompetenz zur Einfuhrung strafrechtlicher Sanktionen innehaben miisse. Die Mitgliedstaaten diirften den Verzicht der EG auf Erlass einer solchen Sanktionsregelung nicht durch Schaffung nationaler Strafbestimmungen unterlaufen. Das Revisionsvorbringen ware nach dem Prinzip des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts durchaus schlussig, wenn eine EG-Strafrechtsetzungskompetenz bestunde. Der BGH trat dem Verteidigungsvorbringen der Revision jedoch entgegen und stellte schlicht fest, dass dem Gemeinschaftsgesetzgeber nicht die Befugnis zum Erlass von Sanktionen strafrechtlicher Natur ubertragen worden sei. Die Ahndung von VerstOBen gegen Gemeinschaftsrecht bleibe daher Sache der Mitgliedstaaten.
2. Literaturansichten 88 In der Literatur wird eine EG-Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts ganz iiberwiegend abgelehnt133. Die zentrale Begrundung hierfur 128
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Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, S. 51; Pache, EuR 1993, 173, 178; Vogel, in: Dannecker (Hrsg.), Die Bekampfung des Subventionsbetrugs im EG-Bereich, 1993, S. 171. EuGHE 1995, 4125 (,,Nutral Spa./Kommission"); 1995, 4663 (,,Banchero"); 1998, 7637 (,,StrafVerfahren gegen Bickel und Franz"); 1998, 3711, 3731 f. (,,Lemmens"). Zutr. Satzger, Europaisierung, S. 97. BGHSt 25, 190, 193 f.; 27, 181, 182; 41, 127, 131 f.; BayObLGSt 1992, 121, 122; KG VRS 54 (1978), 231, 232 f; OLG Koblenz NStZ 1989, 188, 189; OLG Stuttgart NJW 1990,657,658. BGHSt 25, 190; vgl. hierzu Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339, 346 f. Vgl. hierzu MiiKoStGB/^/wfeay, Vor §§ 3-7 Rn. 9; Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, S. 40; ders., JURA 1998, 79, 80; ders., BGH-Festgabe, S. 339, 346; ders., Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 64; Deutscher, Kompetenzen, S. 309 ff.; Eisele, JA 2000, 896 ff.; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 62 ff., 104 ff.; Jung, JuS 2000, 417, 419; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 54; Kudlich, JA 1999, 525; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 4 ff.; Musil, NStZ 2000, 68, 69; Otto, JURA 2000, 98; Satzger, Europaisierung, S. 92 ff, 143 f.; Schmalenberg, Europaisches Um-
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lautet, dass sich eine solche Befugnis nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung (Rn. 54) unmittelbar aus dem Primarrecht ergeben miisste. Im EGV seien aber nur Kompetenzen zur Schaffung punitiver Sanktionsnormen (Strafrecht im weiteren Sinne) vorgesehen. Auch der durch den Amsterdamer Vertrag neu eingefugte Art. 280 IV S. 1 EGV andere an dieser Rechtslage nichts134. Die Mitgliedstaaten sahen das Kriminalstrafrecht nach wie vor als eine ausschliefilich ihrer nationalen Souveranitat unterfallende Rechtsmaterie an. Zu keinem Zeitpunkt hatten sie eine so bedeutsame Befugnis wie die Androhung und Verhangung echter Kriminalstrafen der EG tibertragen. Die h. M. sieht ihre Rechtsauffassung im Ubrigen durch die Regelungen des EUV bestatigt, in welchem das Kriminalstrafrecht eben gerade nicht als eine dem Gemeinschaftsrecht, sondern der intergouvernementalen Zusammenarbeit zugewiesene Materie angesehen wird (vgl. Art. 29 ff. EUV). Dies bestatige den Willen der Mitgliedsstaaten, der EG keinerlei Kompetenzen zur Setzung von Strafriormen einzuraumen135. SchlieBlich wird das auf Gemeinschaftsebene bestehende Demokratiedefizit als weiterer Einwand gegen die Annahme einer entsprechenden Rechtsetzungsbefugnis angefuhrt (vgl. Rn. 39). Das zur Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene hauptsachlich berufene Organ - der Rat - sei nicht unmittelbar demokratisch legitimiert und das Europaische Parlament sei - als einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes Organ - nicht wie die nationalen Parlamente in der Lage, die fur eine Gesetzgebung auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts erforderliche demokratische Legitimation zu vermitteln136. Fur einige Autoren bildet der Grundsatz ,,nulla poena sine lege parlamentaria" beim derzeitigen Stand der Gemeinschaftsverfassung ein uniiberwindbares Hindernis fur eine gemeinschaftliche Strafgesetzgebung, weil ein Organ normgebend tatig wilrde, das nach ilblichem Verstandnis der Exekutive angehore137. Eine literarische Minderheitsmeinung bejaht im Grundsatz eine Kompetenz der 89 EG zur Schaffung supranationaler Strafnormen (echtes Gemeinschafsstrafrecht)138. Sie sttitzt sich hierbei zum einen auf den Wortlaut der primarrechtlichen Ermachtigungsgrundlagen, denen sich - soweit es um die Durchsetzung bestimmter Gemeinschaftsziele gehe - keine Begrenzung auf nicht-strafrechtliche oder
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weltstrafrecht, S. 18; Schroder, Richtlinien, S. 105 ff., 161; Tiedemann NJW 1993, 23; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774, 779; Zuleeg, NJW 1992, 761, 762 jew. m. w. N. Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 271, 323 f. Vgl. nur Dannecker, JURA 1998, 79, 80. Vgl. hierzu AlbrechtlBraum, KritV 1998, 460, 471; Deutscher, Kompetenzen, S. 335 ff.; Eisele, JA 2000, 896, 897; Hilgendorf, in: FS 600 Jahre Wurzburger Juristenfakultat, 2002, S. 333, 341; Luderssen, GA 2003, 71 (84); Sieber, ZStW 103 (1991), 957, 970; Streinz, in: Dannecker (Hrsg.), Lebensmittelstrafrecht und Verwaltungssanktionen in der EU, 1994, S. 219, 220 ff.; Vogel, GA 2002, 517, 525; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774, 800; ders., StV 2001, 63, 67. Haouache, Borsenaufsicht durch Strafrecht, 1995, S. 152; Vogel, JZ 1995, 331, 339. Appel, Lebensmittelstrafrecht in der EU, S. 183; Bose, Strafen und Sanktionen, S. 56, 61 ff., 94; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 136 ff.; Pache, Der Schutz der finanziellen Interessen der EG, 1994, S. 341; ders., EuR 1993, 173, 178 f.
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punitive Sanktionen entnehmen lasse. Unter Berufung auf die Lehre von den ,,im plied powers"139, wonach die geschriebenen Kompetenznormen immer auch die Befugnis zur Setzung notwendigerweise mitzuregelnder Tatbestande beinhalten, wird argumentiert, mit jeder Kompetenznorm sei die uneingeschrankte normative Zustandigkeit auf die Gemeinschaft ilbergegangen. Dies impliziere auch die Befugnis, (kriminal)strafrechtliche Sanktionsnormen zu schaffen. Die Minderheitsmeinung beruft sich dabei auch auf Aussagen des EuGH, in denen davon gesprochen wird, dass VerstoSe gegen Gemeinschaftsrecht von den Mitgliedstaaten unter Strafe zu stellen sind, ,,soweit das Gemeinschaftsrecht selbst keine Sanktionen vorsieht" (Rn. 84 ff.). Die von der h. M. vorgetragenen Bedenken gegen eine EG-Strafgesetzgebung im Hinblick auf deren unzureichende demokratische Legitimation werden von der Minderheitsmeinung zwar als rechtspolitische Kritik ernst genommen, in rechtlicher Hinsicht jedoch nicht fur durchgreifend erachtet140. Ein grundsatzlicher Ausschluss des Kriminalstrafrechts aus der EGRechtsetzungskompetenz ko'nne somit nicht festgestellt werden. Allerdings sollen Strafvorschriften im Gemeinschaftsrecht auch nach Auffassung der Minderheitsmeinung die Ausnahme bleiben. Denn die Zustandigkeit der EG zum Erlass von Strafrechtsnormen werde durch die sachlichen Voraussetzungen der Ermachtigungsgrundlagen sowie durch die im Gemeinschaftsrecht festgelegten Prinzipien der Subsidiaritat und der VerhaltnismaBigkeit (Art. 5 EGV) beschrankt141.
3. Vertiefende Diskussion zentraler Gesichtspunkte a) Kompetenzproblem und Legitimationsfrage 90 Der entscheidende Punkt in der Kompetenzdiskussion ist nicht, ob eine etwaige EG-Strafgesetzgebung beim derzeitigen Stand der Gemeinschaftsverfassung in hinreichender Weise demokratisch legitimiert ware, sondern die Frage, ob die Mitgliedstaaten der EG die Befugnis zur Setzung kriminalstrafrechtlicher Normen ubertragen haben. Wie Schroder uberzeugend aufgezeigt hat, vermag es schon aus systematischen Grunden nicht zu tlberzeugen, das Kompetenzproblem allein anhand des Legitimationskriteriums losen zu wollen142. Dies kann in dem folgenden Gedankenexperiment demonstriert werden: Unterstellt, das Europaische Parlament (EP) erhielte aufgrund einer Anderung des EGV weitreichende Legislativbefugnisse, die denen der nationalen Parlamente entsprechen. Wollte man das Kompetenzthema rein demokratietheoretisch diskutieren und an dem Grundsatz ,,nulla poena sine lege parlamentaria" ausrichten, mtisste das Kompetenzproblem nunVgl. hierzu Bleckmann, Europarecht, Rn. 797 ff.; Deutscher, Kompetenzen, S. 206 f.; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S, 94; Oppermann, Europarecht, Rn. 527. Diese Doktrin entspricht weitgehend der im deutschen Staatsrecht anerkannten ,,Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs". Vgl. Appel, Lebensmittelstrafrecht in der EU, S. 185; Bose, Strafen und Sanktionen, S. 91. Appel, Lebensmittelstrafrecht in der EU, S. 192; Bose, Strafen und Sanktionen, S. 94 f; im Ergebnis ebenso Satzger, Europaisierung, S. 121 ff. Schroder, Richtlinien, S. 132 ff.
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mehr erledigt sein. Dies ist aber nicht der Fall. Denn auch wenn das EP zu einem echten Legislativorgan ausgebaut worden ist, bleibt nach wie vor die Frage zu beantworten, ob die Mitgliedstaaten die Rechtsetzungszustandigkeit auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts auf den Gemeinschaftsgesetzgeber ilbertragen haben. Wenn eine Analyse des Primarrechts ergibt, dass dies nicht geschehen ist, dann springt die Rechtsetzungskompetenz auch nicht etwa als Folge des Ausbaus des EP zu einem echten Legislativorgan auf dieses ilber. Damit kommt der im Lichte des Prinzips der begrenzten Einzelermachtigung zu diskutierenden Frage einer etwaigen Kompetenziibertragung die ausschlaggebende Bedeutung fur die Losung der Kompetenzfrage zu. b) Wortlaut potentieller Ermachtigungsnormen und systematische Aspekte Der Wortlaut potentieller Ermachtigungsnormen des Primarrechts (z. B. Art. 34 II, 91 37 II, 71 I lit. c, d, 280 IV S. 1, 308 EGV) steht der Annahme einer bereichsspezifischen Befugnis der EG, kriminalstrafrechtliche Normen zu setzen, nicht entgegen143. So erscheint es nach der sprachlichen Fassung etwa des Art. 71 I lit. c EGV nicht ausgeschlossen, dass der Rat zwecks ,,Verbesserung der Verkehrssicherheit" auch MaBnahmen kriminalstrafrechtlicher Art ergreift. Die bloBe Wortlautauslegung erlaubt aber kein abschlieBendes Urteil daruber, ob die von den Ermachtigungsnormen jeweils funktional umschriebenen Gemeinschaftsbefugnisse ohne weiteres auch die Setzung kriminalstrafrechtlicher Normen einschliefien. Gegen eine Einbeziehung des Kriminalstrafrechts in die EG-Rechtsetzungskompetenz sprechen folgende systematische Uberlegungen: Wenn es zutreffen sollte, dass der EG - unter Heranziehung der Lehre von den 92 ,,implied powers" (Rn. 89) - mit der Zuweisung einer bestimmten Sachkompetenz immer zugleich auch eine — lediglich durch das Subsidiaritatsprinzip und den VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz beschrankte - Befugnis zur Setzung supranationaler Sanktionsnormen ubertragen wurde, dann ergibt die in Art. 83 II lit. a EGV verankerte BuBgeldkompetenz auf dem Gebiet des europaischen Kartellrechts keinen rechten Sinn. Es fragt sich, warum der EGV eine im Vergleich mit dem Kriminalstrafrecht weniger gewichtige BuBgeldkompetenz ausdrucklich regelt, wenn derartige Rechtsetzungsbefugnisse ohnehin aus der Sachkompetenz folgen sollen. Sinn ergibt die in Art. 83 II lit. a EGV getroffene Kompetenzzuweisung allerdings vor dem Hintergrund bestehender Kompetenzvorbehalte auf dem Gebiet des Strafrechts144. Weitere Argumente, die gegen eine Ubertragung kriminalstrafrechtlicher 93 Rechtsetzungsbefugnisse auf die EG sprechen, ergeben sich aus einer wertenden Betrachtung derjenigen Teilbereiche des Primarrechts, in denen von Anfang an nicht auf kriminalstrafrechtliche Regelungen verzichtet werden konnte. Das primare Gemeinschaftsrecht enthalt in Art. 30 der Satzung des Gerichtshofs der Europaischen Gemeinschaft fur Eidesverletzungen von Zeugen und Sachverstandi-
Vgl. hierzu Bb'se, Strafen und Sanktionen, S 61 ff.; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 107 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 99 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 118 ff. Schroder, Richtlinien, S. 120.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
gen eine Verweisung auf die Straftatbestande der Mitgliedstaaten 145 . Danach be-
handelt ,,jeder Mitgliedstaat die Eidesverletzungen eines Zeugen oder Sachverstdndigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zustdndigen Gerichten begangene Straftat. Auf Anzeige des Gerichtshofs verfolgt er den Tdter vor seinen zustdndigen Gerichten ". Die Verweisung des Primarrechts auf das nationale Strafrecht ist Ausdruck des sog. Assimilierungsprinzips (vgl. hierzu § 7 Rn. 8 ff.). Mit Hilfe dieser Verweisungstechnik wird der fur notwendig erachtete Schutz eines bestimmten Gemeinschaftsinteresses gewahrleistet, ohne die Rechtsetzungs- und Verfolgungszustandigkeit der Mitgliedstaaten anzutasten. Eine vergleichbare Ausdehnungsbestimmung findet sich in Art. 194 I S. 2, 3 EAGV, in der bestimmt wird, dass die Mitgliedstaaten eine Verletzung von Geheimhaltungsverpflichtung (Art. 194 I S. 1 EAGV) als einen VerstoB gegen ihre Geheimhaltungsvorschriften behandeln und verfolgen146. Die Tatsache, dass die genannten primarrechtlichen Bestimmungen nicht etwa den Organen der Gemeinschaft, sondern allein den Mitgliedstaaten die Aufgabe zuweisen, die Gemeinschaftsinteressen mit dem fur notwendig erachteten Strafrechtsschutz zu versehen, spricht eindeutig gegen eine Ubertragung kriminalstrafrechtlicher Rechtsetzungskompetenzen auf die Gemeinschaften147. c) Kriminalstrafrecht als Gegenstand der dritten Saule der EU 94 Durch den Vertrag von Maastricht (1992) wurde die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Strafsachen nicht in den Rahmen des EGV einbezogen, sondern als ,,Angelegenheit von gemeinsamem Interesse" der sog. dritten Saule der EU zugewiesen (§ 5 Rn. 56). Es wurde also gerade keine EG-Rechtsetzungskompetenz auf dem Gebiet der Kriminalitatsbekampfung begriindet, sondern vielmehr das Modell einer intergouvernementalen Kooperation gewahlt. Die Fortentwicklung des Unionsrechts durch den Vertrag von Amsterdam aus dem Jahre 1997 hat hieran nichts Grundlegendes geandert, sondern bestatigt im Gegenteil sogar die Sonderrolle des Strafrechts im Hinblick auf die Zustandigkeitsverteilung148. So wird die Bekampfung der in Art. 29 S. 2 EUV aufgefuhrten Kriminalitatsfelder gerade nicht als Gemeinschaftsangelegenheit, sondern ausdrucklich als eine den Mitgliedstaaten obliegende Aufgabe begriffen. 95 Dass keine Vergemeinschaftung des Strafrechts erfolgt ist, bestatigt auch Art. 42 EUV, der es dem Rat gestattet, durch einstimmigen Beschluss MaBnahmen aus dem Anwendungsbereich des Art. 29 EUV dem Titel IV des EGV zu unterstellen149. Das gemeinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten schlieBt die schrittweise Annahme von MaBnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften uber 145
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Vgl. Art. 30 des Protokolls uber die Satzung des Gerichtshofs der EWG v. 17. April 1957; BGB1. II S. 1166 (aktuelle Fassung in Sartorius II Nr. 245). Vgl. hierzu BGHSt 17, 121 ff. Zutr. Schroder, Richtlinien, S. 120 ff. Deutscher, Kompetenzen, S. 345 ff; Satzger, Europaisierung, S. 141 ff; Schroder, Richtlinien, S. 152 ff. Eisele, JA 2000, 896, 898; HailbronnerlThiery, EUR 1998, 583, 613; Harings, EUR 1998 (Beiheft 2), 81, 83, 88; Kaiafa-Gbandi, KritV 1999, 162, 164.
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die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierte Kriminalitat, Terrorismus und illegaler Drogenhandel ein (Art. 31 lit. e EUV). Art. 34 II lit. b EUV stellt dem Rat zur Verwirklichung dieser Ziele ein neuartiges Instrument - den Rahmenbeschluss - zur Verfugung. Wenn diese Bestimmung jedoch zugleich klarstellt, dass es sich hierbei nicht um eine unmittelbar wirksame Rechtsetzung handelt, so kommt auch hierin der fortwahrende Souveranitatsvorbehalt der Mitgliedstaaten zum Ausdruck. Hinweis: Auch in dem Vertrag tiber eine Verfassung fur Europa werden der 96 mit eigener Rechtspersonlichkeit auszustattenden neuen Europaischen Union (Art. 1-7 EU-Verfassung) grundsatzlich keine Kompetenzen zur Setzung supranationaler Straftatbestande verliehen. Vielmehr ist gem. Art. III-271 I, II EUVerfassung lediglich eine Befugnis zur Rechtsangleichung durch ,,Europaische Rahmengesetze" (Art. 1-33 I S. 3 EU-Verfassung) vorgesehen. Hinzuweisen ist aber auf Art. III-415 IV EU-Verfassung, der auch den Erlass supranationaler Straftatbestande - bezogen auf den Bereich der EU-Betrugsbekampfung - durch ,,Europaische Gesetze" (Art. 1-33 I S.2 EU-Verfassung) zulasst (vgl. hierzu § 14 Rn. 46). d) Bedeutung des Art. 280 IV EGV Streitig diskutiert wird die Frage, ob sich zumindest aus der durch den Amsterda- 97 mer Vertrag eingefugten Bestimmung des Art. 280 IV S. 1 EGV eine kriminalstrafrechtliche Rechtsetzungsbefugnis der EG ableiten lasst150. Der genannte Artikel sieht vor, dass der Rat zur Gewahrleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten „ die erforderlichen Mafinahmen zur Verhutung und Bekdmpfung von Betriigereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten", beschlieBt. Ein Teil der Literatur steht auf dem Standpunkt, Art. 280 IV S. 1 EGV scheide als taugliche Ermachtigungsgrundlage fur die Schaffung echten Gemeinschaftsstrafrechts bzw. auch nur fur eine Harmonisierung kriminalstrafrechtlicher Tatbestande schlechthin aus151. Zur Begrilndung wird maBgeblich auf die sich aus EGV und EUV ergebende Kompetenzverteilung auf dem Gebiet der Kriminalstrafgesetzgebung im Allgemeinen und auf die Vorbehaltsklausel des Art. 280 IV S. 2 EGV im Besonderen hingewiesen, in der es heifit: „ Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt unberuhrt." Demgegentiber begreift eine diametral entgegengesetzte Literaturansicht — 98 darunter auch Autoren, die eine generelle EG-Rechtsetzungsbefugnis auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts als derzeit nicht existent erachten - Art. 280 IV S. 1 EGV als Kompetenzgrundlage fur eine bereichsspezifische - auf den Schutz der 150 151
Vgl. hierzu ausflihrlich Fromm, Finanzinteressen der EG, passim. Griese, EuR 1998, 476; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und StrafVerfahren, S. 64; Musil, NStZ 2000, 68 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 138ff;ders., StV 1999, 132; ders., ZRP 2001, 549 ff.; SchwarzburglHamdorf, NStZ 2002, 617, 620; Schroder, Richtlinien, S. 154 ff. Auch die deutsche Bundesregierung sieht in Art. 280 IV S. 1 EGV lediglich eine Kompetenzgrundlage zur Angleichung praventiver Vorschriften unter Ausschluss des Strafrechts (vgl. BT-Drs. 13/9339, S. 159).
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finanziellen Interessen der EG beschrankte - Strafrechtsetzungsbefugnis der Gemeinschaft152. Der Rat werde durch Art. 280 IV S. 1 EGV ermachtigt, im Mitentscheidungsverfahren gem. Art. 251 EGV die nationalen Strafbestimmungen durch supranationale Strafvorschriften zu erganzen, soweit diese erforderlich seien, um ein bestimmtes strafrechtliches Schutzniveau in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Wenn der Rat beispielsweise einen Strafrechtsschutz gegen leichtfertige Subventionserschleichung zum Nachteil des EG-Finanzhaushaltes fur notwendig erachte, so konne er eine entsprechende strafrechtliche Regelung im Verordnungswege treffen. Die Vorbehaltsklausel des Art. 280 IV S. 2 EGV schlieBe die Schaffung supranationaler Straftatbestande nicht aus. Ihr komme vielmehr die Funktion zu, den Anwendungsvorrang des nationalen Straftatbestandes fur den Fall festzuschreiben, dass dieser die im Gemeinschaftsstrafrecht beschriebene Verhaltensweise bereits erfasst. Das Gemeinschaftsstrafrecht steht nach dieser Lesart in einem komplementaren (erganzenden) und subsidiaren (nachrangigen) Verhaltnis zum nationalen Strafrecht. Nach diesem Auslegungsverstandnis soil die durch Art. 280 IV S. 1 EGV eroffnete bereichsspezifische Strafrechtsetzungskompetenz auch die Befugnis zur Schaffung supranationaler Regelungen des Allgemeinen Teils umfassen. 99 Den Befurwortern einer aus Art. 280 IV S. 1 EGV abzuleitenden EGStrafrechtsetzungskompetenz kann nicht gefolgt werden. Die Einfuhrung einer auch nur bereichsspezifischen - Strafrechtsetzungsbefugnis der EG stellt eine grundlegende Durchbrechung der Kompetenzverteilung dar, wie sie sich aus der systematischen Interpretation von EGV und EUV ergibt (vgl. hierzu Rn. 94 ff.). Gerade aus der Sicht derjenigen Mitgliedstaaten, in denen Strafgesetze einem strikten Parlamentsvorbehalt unterliegen, ware der Erlass supranationaler Strafvorschriften durch Verordnungen, die keiner Umsetzung in das nationale Recht bedtirften, hochst problematisch. Die erstmalige Ubertragung kriminalstrafrechtlicher Rechtsetzungsbefugnisse auf die EG ohne vorherige politische Diskussion in den Mitgliedstaaten ist daher undenkbar. Es fehlt jeder Anhaltspunkt dafur, dass die Mitgliedstaaten im Zuge der durch ,,Amsterdam" bewirkten Fortentwicklung des Unionsrechts oder zu einem anderen Zeitpunkt ihren politischen Willen zum Ausdruck gebracht haben, einen Souveranitatsverzicht zu leisten und kriminalstrafrechtliche Kompetenzen auf die EG zu iibertragen153. Eine solche Befugniserweiterung wilrde zudem in Widerspruch zu den Bestimmungen des EUV tiber die intergouvernementale Zusammenarbeit in Strafsachen stehen. Die strafrechtliche Betrugsbekampfung wird in Art. 29 S. 2 EUV ausdrilcklich als eine den Mitgliedstaaten obliegende Aufgabe verstanden. Eine bereichsspezifische Befugnis der EG, zum Schutze ihrer finanziellen Interessen kriminalstrafrechtliche Regelungen im Verordnungswege zu erlassen, besteht nach alledem nicht. 100 Andererseits erscheint eine Auslegung des Art. 280 IV S. 1 EGV, die der Gemeinschaft nur die Befugnis zur Schaffung bzw. Angleichung praventiver Rechts152
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BerglKarpenstein, EWS 1998, 81; Hedtmann, EuR 2002, 122, 133 f.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 11, 212; Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401, 1406 ff.; Wolffgang/Ulrich, EuR 1998, 616, 644; Zieschang, ZStW 113 (2001), 255, 259 ff. Vgl. hierzu Griese, EuR 1998, 476.
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vorschriften (etwa verwaltungsrechtliche Regelungen zur Betrugsvorbeugung und -aufdeckung) unter vollstandigem Ausschluss des Strafrechts zugestehen will, zu eng. Es darf nicht tlbersehen werden, dass sich die in Art. 280 I-III EGV (ex-Art. 209 a EGV) enthaltenen und getroffenen Bestimmungen letztlich auf die Judikatur des EuGH im Fall ,,Griechischer Mais"154 zuruckfuhren lassen155 (§ 7 Rn. 27). Diese Regelungen konkretisieren mithin die aus dem Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EGV) resultierenden Pflichten der Mitgliedstaaten zur Bekampfung von Betriigereien zum Nachteil des EG-Haushaltes unter Einschluss des Strafrechts. Aus diesem Zusammenhang ergibt sich, dass das strafrechtliche Instrumentarium nicht von vornherein aus dem MaBnahmenkatalog des Art. 280 IV S. 1 EGV ausgeschlossen werden darf56. Art. 280 IV S. 1 EGV ist deshalb als eine Befugnisnorm zu interpretieren, die neben der Vornahme praventiv-verwaltungsrechtlicher auch das Ergreifen repressiv-strafrechtlicher Mafinahmen legitimiert, freilich mit der Einschrankung, dass die grundsa'tzliche Kompetenzverteilung auf dem Gebiet des Strafrechts unberiihrt bleibt. Auf der Basis dieses Vorverstandnisses stellt Art. 280 IV S. 1 EGV eine iiber die allgemeinen Harmonisierungsbefugnisse des EGV hinausgehende spezielle Kompetenzgrundlage fur eine Angleichung des mitgliedstaatlichen Strafrechts dar, soweit dies zur Erreichung des spezifischen Schutzzwecks (Bekampfung von Betriigereien zum Nachteil der EG) erforderlich ist157 (vgl. § 8 Rn. 59).
4. Ergebnis - Keine Strafgesetzgebungsbefugnis der EG Mit der h. M. ist festzustellen, dass die EG iiber keine supranationale Kriminal- 101 strafgewalt verfugt. Mangels der nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung erforderlichen Kompetenzzuweisung im Primarrecht besitzt die EG weder die Befugnis zur Setzung noch zur Durchsetzung kriminalstrafrechtlicher Normen. Auch die Einfugung des Art. 280 IV S. 1 EGV durch den Vertrag von Amsterdam andert an diesem Befund nichts. Die EG ist aber befugt, punitive Sanktionsregelungen (Strafrecht im weiteren Sinne) zu schaffen, soweit bestehende Ermachtigungsgrundlagen des EGV diese Moglichkeit ausdriicklich oder implizit (,,implied powers"-Lehre; vgl. Rn. 89) vorsehen. Losungshinweise zu Fall 1 (Frage 2): Der Zeitungsartikel suggeriert durch die 102 Verwendung der Worte ,,Geldstrafe" wegen ,,krimineller Praktiken", es liege ein Fall der Ausiibung von Kriminalstrafgewalt durch die EG vor. Dies trifft indes wie oben gezeigt - nicht zu. Beim gegenwartigen Stand der europaischen Rechtsentwicklung besteht keine Befugnis der EG, supranationale Strafgesetze zu schaf154 155 156 157
EuGHE 1989, 2965 ff. Vgl. hierzu Schroder, Richtlinien, S. 137. Insoweit ist den Ausftihrungen von Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401, 1409 zu folgen. Ebenso Deutscher, Kompetenzen, S. 345; Eisele, JZ 2001, 1157, 1160; Hecker, JA 2002, 723, 726 f.; Wasmeien'Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 61 ff.; wohl auch Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 72; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 335.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
fen, die unabhangig vom Willen der Mitgliedstaaten im gesamten Rechtsraum der EG zur Anwendung gelangen. In bestimmten, der EG vom Primarrecht zugewiesenen Aufgabenbereichen verfugt diese jedoch iiber die Zustandigkeit zum Erlass und zur Durchsetzung punitiver Sanktionsregelungen nichtkriminalstrafrechtlicher Art. Zu denken ist insbesondere an die auf Art. 83 II lit. a EGV griindende Kompetenz der EG, in einer Verordnung158 die Verhangung von UnternehmensgeldbuBen wegen schuldhaften VerstoBes gegen Europaisches Kartellrecht vorzusehen und die hierfur vorgesehenen Sanktionen durch die Kommission als Exekutivorgan durchzusetzen159. Bei diesen Zahlungsauflagen handelt es sich aber - auch wenn es dabei teilweise um gigantische Summen geht - nicht urn Kriminalstrafen, sondern um GeldbuBen, die dem Strafrecht im weiteren Sinne (Rn. 76) oder nach deutscher Terminologie - dem Ordnungswidrigkeitenrecht zuzuordnen sind. Diese Zuordnung hat zur Folge, dass auf das EG-Kartellverfahren die besonderen rechtsstaatlichen Garantien des materiellen Strafrechts und des Strafverfahrensrechts Anwendung finden.
III. Literaturhinweise Bose, Strafen und Sanktionen im Europaischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 55-94 Dannecker, Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, JURA 1998, 79 ders., Das Europaische Strafrecht in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.): 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, Bd. IV, 2000, S. 339 Deutscher, Die Kompetenzen der Europaischen Gemeinschaften zur originaren Strafgesetzgebung, 2000, passim Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG — Die Frage der Einfuhrung einer supranationalen Strafrechtskompetenz durch Artikel 280 IV EGV, 2004, passim Heitzer, Punitive Sanktionen im Europaischen Gemeinschaftsrecht, 1996, passim Jung, Konturen und Perspektiven des europaischen Strafrechts, JuS 2000, 417 Musil, Umfang und Grenzen europaischer Rechtsetzungsbefugnisse im Bereich des Strafrechts nach dem Vertrag von Amsterdam, NStZ 2000, 68 Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 90-145 Schroder, Europaische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 103-161 Tiedemann, Europaisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, NJW 1993, 23
is? vgl. Verordnung (EG) Nr. 1/2003 (AB1EG 2003 Nr. L 1, S. 1). 159 Vgl. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 74 ff. und 16. Kap. Rn. 166 ff.
C. Europaische Union (EU)
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IV. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1992, 5383; 1995, 4125; 1995, 4663; 1998, 3731; 1998, 7637 (zur Sanktionskompetenz der EG) BGHSt 25, 190; 27, 181; 41, 127 (Zustandigkeit der Mitgliedstaaten im Bereich der Kriminalstrafgesetzgebung)
C. Europaische Union (EU) I. Rechtsnatur der EU Die Rechtsnatur der durch den Vertrag von Maastricht (1992) geschaffenen Eu- 103 ropaischen Union (EU) ist nicht einfach zu erfassen. Der EUV hat die EU an keiner Stelle mit eigenen Kompetenzen nach innen oder auBen ausgestattet. Im Gegensatz zu der EG ist die EU keine internationale Organisation mit eigener Rechtspersonlichkeit. Erst Recht kann daher nicht von einem europaischen Bundesstaat etwa im Sinne von ,,Vereinigte Staaten von Europa" gesprochen werden160. Die EU verfugt nicht tiber Organe, die einen von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten unterscheidbaren eigenstandigen Willen bilden konnen. Der in Art. 4 EUV genannte ,,Europaische Rat", in dem die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie der Prasident der Kommission zusammenkommen, bildet kein ,,Organ" der EU im engeren Sinne, sondern nur ein Forum fur die Abstimmung unter den Mitgliedstaaten unter Einbeziehung des Kommissionsprasidenten. Der ,,Europaische Rat" darf nicht mit dem ,,Rat der EG bzw. EU" - einem Gemeinschaftsorgan (Rn. 7) - verwechselt werden. Nach heute h. L. bildet die EU kein von den Mitgliedstaaten unabhangiges Rechtssubjekt, sondern vielmehr ein Forum zur Btlndelung der Willensbildung und Willensbetatigung der Mitgliedstaaten und ein Dach fur die rechtsfahigen Europaischen Gemeinschaften161. Das BVerfG beschreibt die EU mit dem neuartigen Begriff des ,,Staatenver- 104 bunds", um die Eigenheiten des Unionssystems begrifflich fassen zu konnen, welches der EU eine Stellung zuweist, die zwischen einem losen Staatenbund und einem Bundesstaat anzusiedeln ist: „ ...Der Vertrag (gemeint: EUV) begriindet einen europaischen Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identitdt achtet; er betrifft die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht eine Zugehorigkeit zu einem europaischen Staat. Die Bundesrepublik Deutschland ist ...auch nach dem Inkrafttreten des Unionsvertrages Mitglied in einem Staatenverbund, dessen Gemeinschaftsgewalt
Vgl. BVerfGE 89, 155, 189 unter Hinweis auf eine Rede des damaligen Bundeskanzlers Kohl am 6. Mai 1993; Commichau, JA 1994, 600, 607; Deutscher, Kompetenzen, S. 30 f. m. w. N. Herdegen, Europarecht, Rn. 83; PechsteinlKoenig, Die Europaische Union, 3. Aufl., 2000, Rn. 92 f.; Streinz, ZfRV 1995, 1, 4; eingehend zum aktuellen Forschungsstand Schroeder, in: Bogdandy (Hrsg.), Europaisches Verfassungsrecht, S. 377 ff.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
sich von den Mitgliedstaaten ableitet und im deutschen Hoheitsbereich nur kraft des deutschen Rechtsanwendungsbefehls verbindlich wirken kann.... "162 105 Als Tragerin einer supranationalen (Straf-)Gesetzgebungsgewalt kommt die EU somit nicht in Betracht. Es ist aber fur die Zukunft nicht ausgeschlossen, dass die EU in eigene Rechte und Pflichten hineinwachst und so zu einer internationalen Organisation mit eigener Rechtspersonlichkeit wird. So sieht der zur Ratifikation in den Mitgliedstaaten vorgelegte Vertrag iiber eine Verfassung fiir Europa in Art. 1-7 EU-Verfassung vor, der Europaischen Union Rechtspersonlichkeit zu verleihen. Die neugeschaffene Europaische Union soil gem. Art. IV-438 I EUVerfassung die Rechtsnachfolge der Europaischen Gemeinschaften und der bisherigen EU antreten. II. Verhaltnis der EG zur EU - Tempelarchitektur der EU 106 Aus den Ausfuhrungen zur Rechtsnatur der EU folgt, dass sich durch die Errichtung der EU an der Einstufung der EG als supranational Organisation nichts geandert hat. Die EG ist nicht etwa in der neugegrundeten EU aufgegangen mit der Folge, dass Gemeinschafts- und Unionsrecht zu einer einheitlichen Rechtsordnung verschmolzen waren163. Am iiberzeugendsten lasst sich die Struktur der EU mit einem der Tempelarchitektur entlehntem Bild164 veranschaulichen165. Das Gemeinschaftsrecht stellt demnach die erste Saule der EU dar. Daneben treten als zweite Saule die Gemeinsame Auflen- und Sicherheitspolitik (GASP; vgl. Art. 11— 28 EUV) sowie als dritte Saule die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS; vgl. Art. 2 9 ^ 2 EUV). Der EUV stellt sich somit als ein im Wesentlichen volkerrechtlich gepragter Dachvertrag oder Rahmenvertrag dar, der die Europaischen Gemeinschaften, die GASP und die PJZS verklammert. 107 Die fur die Entwicklung des Strafrechts in Europa bedeutsame dritte Saule ist mithin als intergouvernementale Zusammenarbeit, d. h. als Kooperation souveraner Staaten konzipiert. Die Instrumentarien des Gemeinschaftsrechts fmden hier keine Anwendung. Insbesondere konnen im Bereich der PJZS keine Richtlinien oder Verordnungen erlassen werden. Die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten erfolgt vielmehr nach den in Art. 34 EUV enumerativ und abschlieBend aufgefuhrten, durch den Vertrag von Amsterdam erweiterten Handlungsformen. Fachlich zustandig ist in der dritten Saule der Rat der Innen- und Justizminister. Er kann anders als das Gemeinschaftsorgan Rat (Rn. 7) - nicht nach dem Mehrheitsprinzip 162 163
164 165
BVerfGE 89, 155, 181, 188, 192 ff.; vgl. hierzu Streinz, Europarecht, Rn. 121 a. So die ,,Einheits- oder Verschmelzungsthese", vertreten von v. BogdandylNettesheim, NJW 1995, 2324 ff.; dies., EuR 1996, 3 ff.; dagegen zutr. Deutscher, Kompetenzen, S. 30 und Satzger, Europaisierung, S. 19 jew. m. w. N. Vgl. die anschauliche Illustration bei Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 48.1 Di Fabio, DOV 1997, 89, 90; Herdegen, Europarecht, Rn. 64; Nelles, ZStW 109 (1997), S. 727 f; Satzger, Europaisierung, S. 19; Sinn, Europaische Gemeinschaften, S. 296 ff; WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 1.
C. Europaische Union (EU)
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entscheiden, sondern muss seine EntschlieBungen einstimmig treffen. Immerhin bewirken die Regelungen des EUV eine institutionelle Verklammerung mit den Gemeinschaftsorganen, obwohl die PJZS keine Gemeinschaftsangelegenheit darstellt. Diese Verklammerung SuBert sich darin, dass gem. Art. 34 II S. 2 EUV ein Initiativrecht der Kommission besteht. Die Kommission kann also z. B. Vorschlage fur die Annahme von Rahmenbeschltissen unterbreiten. Des Weiteren sieht Art. 39 I EUV ein Anhorungsrecht des EP vor. Durch den EUV wird somit das Procedere der intergouveraementalen Zusammenarbeit fur die Mitgliedstaaten verbindlich festgelegt. Nach Art. 47 EUV lasst der EUV das primare Gemeinschaftsrecht unberuhrt. 108 Damit soil eine Flucht aus dem Gemeinschaftsrecht in die zwischenstaatliche Zusammenarbeit ausgeschlossen werden166. Man kann daher auch von einem Primat des Gemeinschaftsrechts vor dem Unionsrecht bzw. der PJZS sprechen. Es wurde also eine Verletzung des Art. 47 EUV darstellen, wenn die EU einen Rechtsakt auf einem Gebiet erlassen wurde, der in die Rechtsetzungskompetenz der EG fallt. Die Rechtsprechungsgewalt des EuGH blieb nach Errichtung der EU durch den 109 Vertrag von Maastricht (1992) zunachst auf das Gemeinschaftsrecht (erste Saule) beschrankt. Eine bedeutende Weiterentwicklung der dritten Saule brachte der Vertrag von Amsterdam (1997) durch Einfugung des neuen Art. 35 I EUV. Nach dieser Bestimmung wird der EuGH in die Lage versetzt, iiber die Giiltigkeit und Auslegung von Rahmenbeschlussen, sonstigen Beschliissen und Ubereinkommen nach Titel VI des Unionsvertrages (PJZS) zu entscheiden (Rn. 46). AbschlieBend kann festgehalten werden, dass die EU aufgrund ihrer Rechts- 110 natur als Integrationsverbund derzeit zwar nicht selbst als Akteurin des Europaischen Strafrechts fungiert. Wohl aber finden - um im Bild der Tempelarchitektur zu bleiben — unter ihrem Dach, und zwar im Rahmen der ersten und dritten Saule, bedeutsame Rechtsentwicklungen statt, die das Strafrecht der Mitgliedstaaten in erheblichem MaBe beeinflussen. Mit den Vertragen von Schengen, Maastricht, Amsterdam und Nizza (und der ktinftigen EU-Verfassung) ist ein integriertes europaisches System der Strafrechtspflege im Entstehen begriffen, das im Wesentlichen von den Elementen Kooperation, Koordination, Harmonisierung und sektorieller Zentralisierung der Strafrechtspflege gepragt wird167.
III. Literaturhinweise Commichau, Grundgesetz und Europaische Union, JA 1994, 600 Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 2. Kap. Rn. 4-15 Herdegen, Europarecht, 5. Aufl., 2003, § 6
WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 Rn. 50, Art. 29 Rn. 52. Vogel, ZStW 116 (2004), S. 400, 402 ff.
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§ 4 Europaische Gemeinschaft und Europaische Union
Nelles, Europaisierung des Strafverfahrens - Strafprozessrecht fur Europa?, ZStW 109 (1997), S. 727 PechsteinlKoenig, Die Europaische Union, 3. Aufl., 2000, Kap. 2 (Architektur der EU) Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 18-23 Schroeder, Verfassungsrechtliche Beziehungen zwischen Europaischer Union und Europaischen Gemeinschaften, in: v. Bogdany (Hrsg.), Europaisches Verfassungsrecht, 2003, S. 373 Streinz, Die Europaische Union nach dem Vertrag von Maastricht, ZfRV 1995, 1 Vogel, Licht und Schatten im Alternativ-Entwurf Europaische Strafverfolgung, ZStW 116 (2004), S. 400
IV. Rechtsprechungshinweise BVerfGE 89, 155 (Rechtsnatur der Europaischen Union)
D. Zusammenfassung von § 4 111 In § 4 werden die Rolle der EG als Tragerin (Akteurin) des Europaischen Strafrechts, ihre strafrechtsrelevanten Rechtsetzungsbefugnisse und ihr Verhaltnis zur Europaischen Union beleuchtet. Bei der EG handelt es sich um eine auf der Grundlage eines volkerrechtlichen Vertrages (EGV) errichtete internationale Organisation mit eigener Rechtspersonlichkeit (Art. 281 EGV). Sie handelt durch eigene Organe — namentlich Europaisches Parlament, Rat, Kommission, Gerichtshof und Rechnungshof, die einen von den Mitgliedstaaten unabhangigen Willen bilden. 112 Die Gemeinschaftsrechtsordnung stellt eine autonome Rechtsordnung dar. fiber eine souverane Staatlichkeit mit unbegrenzter Rechtsetzungsgewalt verfugt die EG aber nicht. Vielmehr erfolgt die Kompetenzaufteilung zwischen EG und Mitgliedstaaten nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung (Art. 5 I, 7 I, 249 I EGV). Danach wird die EG nur innerhalb der Grenzen der ihr zugewiesenen Befugnisse und gesetzten Ziele tatig. Das Einzelermachtigungsprinzip legt fest, dass die EG-Organe fur jeden Rechtsakt eine ausdriickliche oder zumindest im Wege der Auslegung nachweisbare Ermachtigungsgrundlage im EGV benotigen. 113 Das Gemeinschaftsrecht stellt die sog. erste Saule in der Tempelarchitektur der durch den Vertrag von Maastricht geschaffenen Europaischen Union dar. Neben das Gemeinschaftsrecht - und damit von der ersten Saule strikt zu trennen - treten als zweite Saule die gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik (GASP) und als dritte Saule die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS). Die Rechtsquellen der Gemeinschaftsrechtsordnung unterteilt man in primares und sekundares Gemeinschaftsrecht. Das Primarrecht gilt in alien Mitgliedstaaten unmittelbar und genieBt gegeniiber dem nationalen Recht Anwendungsvorrang, d. h., in gemeinschaftsrechtlich geregelten Bereichen werden
D. Zusammenfassung von § 4
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konfligierende nationale Regelungen (einschlieBlich Strafbestimmungen) verdrangt. Nach zutreffender h. M. verfugt die EG iiber keine Kriminalstrafgewalt. 114 Mangels der nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung erforderlichen Kompetenzzuweisung im Primarrecht besitzt sie weder die Befugnis zur Setzung noch zur Durchsetzung kriminalstrafrechtlicher Normen. Auch die Einfugung des Art. 280 IV S. 1 EGV durch den Vertrag von Amsterdam andert an diesem Befund nichts. Die EG ist aber befugt, punitive Sanktionsregelungen (Strafrecht im weiteren Sinne) zu schaffen, soweit bestehende Ermachtigungsgrundlagen des EGV diese Moglichkeit ausdrucklich oder implizit (,,implied powers"-Lehre) vorsehen. Zu denken ist insbesondere an die auf Art. 83 II lit. a EGV griindende Kompetenz der EG, in einer Verordnung die Verhangung von UnternehmensgeldbuBen wegen schuldhaften VerstoBes gegen Europaisches Kartellrecht vorzusehen und die hierfur vorgesehenen Sanktionen durch die Kommission als Exekutivorgan durchzusetzen. Von der (fehlenden) Rechtsetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrarrechts ist ihre Befugnis zu unterscheiden, durch Sekundarrechtsakte auf das mitgliedstaatliche Strafrecht harmonisierend einzuwirken (strafrechtliche Anweisungskompetenz). Im Gegensatz zur EG ist die Europaische Union (EU) keine internationale Or- 115 ganisation mit eigener Rechtspersonlichkeit. Die EU verfugt nicht iiber Organe, die einen von der Gesamtheit der Mitgliedstaaten unterscheidbaren eigenstandigen Willen bilden konnen. Die EU kann — einer Begriffsschopfung des BVerfG folgend - als ,,Staatenverbund" charakterisiert werden, der sie als ein zwischen einem losen Staatenbund und einem Bundesstaat anzusiedelndes Gebilde beschreibt. Die EU ist keine selbstandige Akteurin des Europaischen Strafrechts, sondern vielmehr ein Forum zur Biindelung der Willensbildung und Willensbetatigung der Mitgliedstaaten. Unter ihrem Dach, und zwar im Rahmen der ersten und dritten Saule (Gemeinschaftsrecht und PJZS), finden aber bedeutsame Rechtsentwicklungen start, welche die europaische Strafrechtsentwicklung in erheblichem MaBe beeinflussen.
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk globaler, europaischer oder bilateraler Kooperation in Strafsachen
A. EU-Mitgliedstaaten als Trager des Europaischen Strafrechts Als Trager des Europaischen Strafrechts und Akteure einer international-ar- 1 beitsteilig operierenden Strafverfolgung und Strafrechtspflege treten die Mitgliedstaaten der EU (die alle auch Mitgliedstaaten des Europarates sind) in Erscheinung, wenn es darum geht, - die Vorgaben der EMRK, des Gemeinschaftsrechts oder von MaBnahmen der dritten Saule der EU bei der nationalen Strafgesetzgebung umzusetzen bzw. bei der Anwendung nationalen Straf- und Strafprozessrechts (durch innerstaatliche Behorden und Gerichte) zu berucksichtigen, - im Rahmen der ersten Saule der EU als Mitglieder des Rates der EG zusammenzuwirken (etwa bei der Priifung von Kommissionsvorschlagen und beim Erlass von Sekundarrechtsakten), - im Rahmen der dritten Saule unter dem Dach der EU intergouvernemental zusammenzuarbeiten (etwa bei der Ausarbeitung strafrechtsrelevanter Ubereinkommen oder der Annahme von Rahmenbeschlussen), - bei der Verfolgung grenziiberschreitender Straftaten namentlich in den Bereichen polizeiliche Fahndung, Ermittlung sowie im Rechtshilfeverkehr zu kooperieren, - die durch das Schengener Informationssystem (SIS) ermoglichte ,,europaische Fahndungsunion" zu verwirklichen, - eine europaische Kriminalpolitik und den jeweiligen nationalen Beitrag hierzu zu formulieren (Beispiel: Terrorismusbekampfung). Hierbei werden diverse Formen informeller und institutionalisierter Zusammenarbeit praktiziert, die eine Abstimmung der Politiken der Mitgliedstaaten ermoglichen und z. B. in gemeinsamen Erklarungen oder im Abschluss multilateraler oder bilateraler Ubereinkommen (auch mit Drittstaaten) zum Ausdruck gelangen konnen.
164
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen I. Einfiihrung Die EU-Mitgliedstaaten sind in ein komplexes Netzwerk weltweiter, europaischer und zwischenstaatlicher Kooperationssysteme eingebunden, welche sich die international Zusammenarbeit in Strafsachen zu einem Teil ihrer Aufgabengebiete gemacht haben. Diese Kooperationsformen konnen auf rein informeller politischer Zusammenarbeit der beteiligten Staaten beruhen, auf volkerrechtlich nicht verpflichtenden Zusammenschlilssen nationaler BehOrden, aber auch auf volkerrechtlichen Abkommen, die zur Grilndung internationaler Organisationen gefuhrt haben. Zu den Institutionen, die im Bereich der internationalen Kriminalitatsbekampfung und Strafrechtspfiege global tatig werden, gehoren die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol), die Vereinten Nationen (UN), die Organisation fur Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) und die Gipfeltreffen der G7/G8-Staaten. Auf europaischer Ebene ist die Strafrechtsentwicklung maBgeblich durch die Aktivitaten des Europarates gepragt worden. Daneben spielen auch die Nordische Passunion und die Organisation fur Sicherheit und Zusammenarbeit (KSZE) eine gewisse Rolle1. Die intensivste Form internationaler Zusammenarbeit in Strafsachen findet derzeit unter dem Dach der Europaischen Union im Rahmen der dritten Saule (PJZS) start, zumal der Schengen-Besitzstand durch den Amsterdamer Vertrag in diese Kooperationsform des EUV uberfuhrt wurde (Rn. 71). Zum Netzwerk justizieller und polizeilicher Zusammenarbeit in Strafsachen gehoren aber nicht zuletzt auch bilaterale Kooperationsformen zwischen EU-Mitgliedstaaten und Drittstaaten.
II. Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) Ein erster Schritt auf dem Weg zu einer internationalen Kooperation im Bereich der Kriminalitatsbekampfung war die Griindung der Internationalen Kriminalpolizeilichen Kommission (IKPK) im Jahre 1923, die nach Ende des zweiten Weltkrieges weiter fortentwickelt und im Jahre 1956 in Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol) mit Sitz in Paris (seit 1989 in Lyon) umbenannt wurde2. Interpol hat sich zum wichtigsten Instrument fur die weltweite polizeiliche Zusammenarbeit entwickelt. Die Mitgliedschaft bei Interpol ist allein nationalen Polizeibehorden vorbehalten, was diese Einrichtung maBgeblich von anderen
Vgl. hierzu Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 108 ff. Vgl. zur Entstehungsgeschichte von Interpol Busch, Grenzenlose Polizei? Neue Grenzen und polizeiliche Zusammenarbeit in Europa, 1994, S. 268 ff.; Camphausen, Internationale Verbrechensbekampfung: Interpol und Europol, Lehr- und Studienbriefe Kriminalistik Nr. 21, 1997, 14 ff. und Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 168.
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen
165
Formen institutionalisierter Kooperation unterscheidet3. Im Zentrum der Arbeit von Interpol stehen die nationalen Verbindungsburos (in Deutschland das BKA), die in ttber 80 % der Falle unmittelbar - also nicht etwa auf dem umstandlichen Weg iiber Botschaften und AuBenministerien - untereinander Informationen und Daten austauschen4. Die grofite Bedeutung von Interpol liegt nach wie vor im Bereich der internationalen Fahndung5. Gesuchte Personen konnen zur Festnahme, Aufenthaltsermittlung oder verdeckten Beobachtung ausgeschrieben werden. Fiir die nationalen Verbindungsburos besteht freilich keine Pflicht zur Beteiligung an Interpol-FahndungsmaBnahmen. Die Erledigung von Gesuchen und die Durchfuhrung operativer MaBnahmen obliegen den jeweils zustandigen nationalen Polizeibehorden, die sich dabei ausschlieBlich an den flir sie geltenden innerstaatlichen Rechtsvorschriften orientieren. Interpol ist lediglich ein Instrument, dessen sich die Mitglieder nach eigenem Ermessen bedienen konnen. Der Souveranitatsanspruch der Staaten bleibt im Rahmen der Interpol-Zusammenarbeit vollig unberilhrt. Zwischen den EU-Mitgliedstaaten wird die polizeiliche Zusammenarbeit nicht mehr liber Interpol, sondern iiber das Schengener Informationssystem (SIS) koordiniert (vgl. Rn. 50 ff.). Eine Interpol-Fahdnung kommt fur die EUMitgliedstaaten also nur noch in Betracht, wenn Drittstaaten zu beteiligen sind. Trotz des Vorranges des SIS ist Interpol flir die EU-Mitgliedstaaten weiterhin von Bedeutung, da es sich um die einzige weltumspannende Kooperationsform im Bereich der internationalen polizeilichen Zusammenarbeit handelt.
III. Vereinte Nationen (UN) Wahrend es sich bei Interpol um eine Zusammenarbeit nationaler Polizeibehorden handelt, stellen die Vereinten Nationen (UN) als Zusammenschluss von Staaten ebenso wie der Europarat - eine klassische internationale Organisation dar6. Eine der fundamentalen Aufgaben der UN war und ist es, jedenfalls den Mindeststandard der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu defmieren und durchzusetzen7. Zur Achtung und Verwirklichung dieses Mindeststandards sind alle UN-Mitgliedstaaten verpflichtet. Die UN haben durch ihre Organe - vor allem Generalversammlung, Sicherheitsrat und Internationaler Gerichtshof - und durch die mit
Eine namentliche Aufstellung aller beteiligten Staaten (derzeit 181) findet sich auf der Homepage der Organisation unter http://www.interpol.int. •Swrm, Kriminalistik 1997, 99, 100. Vgl. zur Interpol-Fahndung Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 173 f. und Wehner, in: Achermann/Bieber/Epiney/Wehner (Hrsg.), Schengen und die Folgen: Der Abbau der Grenzkontrollen in Europa, 1995, S. 129, 152 f. Standiger Sitz der UN ist New York. Ihr Grtindungsstatut ist die mittlerweile mehrfach geanderte Charter of the United Nations (UN-Charta). Vgl. hierzu die ausfuhrliche Darstellung von Gading, Der Schutz grundlegender Menschenrechte durch militarische MaBnahmen des Sicherheitsrates - das Ende staatlicher Souveranitat, 1996, passim.
166
§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
ihnen verbundenen Sonderorganisationen mehrfach die Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten fur den Strafprozess und den Strafvollzug hervorgehoben. Programmatischer Ausgangspunkt hierfur war die (nicht unmittelbar rechtsverbindliche) Allgemeine Erklarung der Menschenrechte v. 10. Dezember 1948, die bereits neben allgemeinen Verfahrensgrundrechten insbesondere die Garantie des fairen VerfahrenS, die Unschuldsvermutung sowie das Prinzip ,,nulla poena sine lege" postulierte. Diese Garantien wurden neben anderen klassischen Justizgrundrechten in dem Internationalen Pakt iiber Biirgerliche und Politische Rechte (IPBPR) v. 19. Dezember 1966 kodifiziert. Inzwischen haben iiber 130 Staaten diesen Pakt ratifiziert8. Da der IPBPR jedoch kein individuelles Beschwerdeverfahren, sondern lediglich eine eingeschrankte Moglichkeit der Staatenbeschwerde vorsieht, hat er niemals eine solche Bedeutung wie die EMRK erlangt9. Neben dem IPBPR kann das Ubereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe v. 10. Dezember 1984 (UN-Anti-Folter-Konvention) zu den herausragenden strafrechtsrelevanten UN-Konventionen gezahlt werden10. Seit ihrer Griindung im Jahre 1945 haben die UN eine breite Palette an internationalen Standards, Richtlinien, Resolutionen und Modellvertragen entwickelt, um eine an rechtsstaatlichen Grundsatzen orientierte Strafverfolgungspraxis in den Mitgliedstaaten voranzutreiben11. Der breit gefacherte Katalog strafrechtsrelevanter Bereiche, derer sich die UN angenommen haben, umfasst neben dem Volkerstrafrecht12 (§ 2 Rn. 84 ff.) und der Rechtshilfe in Strafsachen (§ 2 Rn. 65) Themen wie Behandlung von Gefangenen, Anwendung von Gewalt und Schusswaffengebrauch durch StrafverfolgungsbehQrden, Opferschutz, Unabhangigkeit der Justiz sowie die Rolle von Anwalten und Staatsanwalten. Das erwilnschte Verhalten von Strafverfolgungsbehorden bzw. von offentlichen Amtsinhabern und Beamten wurde in internationalen Verhaltenscodices zusammengefasst. Zu erwahnen ist in diesem Zusammenhang auch die UN-Erklarung gegen Korruption und Bestechung. Zur Verwirklichung ihrer Hauptziele, den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren, betatigen sich die UN seit vielen Jahren auch auf dem Feld der Kriminalitatspravention und der Bekampfung bestimmter Formen der Kriminalitat, insbesondere des unerlaubten Verkehrs mit Betaubungsmitteln, der Korruption, Bestechung, Geldwasche und Umweltdelinquenz. Aufgrund fehlender Rechtsetzungs- und Exekutivbefugnisse handelt es sich bei den Resolutionen der Generalversammlung freilich nur um politische Willensbekenntnisse der Mitgliedstaaten. Demgegentiber konnen die von den UN ausgearbeiteten Ubereinkommen 8 9 10 11 12
Vgl. SchomburglLagodny, IRhSt, Vor Anhang 1 Rn. 1 ff. In Deutschland gilt der IPBPR seit 15. November 1973 als unmittelbar geltendes Bundesrecht (BGB1.111973,1533). In Deutschland gilt die UN-Anti-Folter-Konvention seit 31. Oktober 1990 als unmittelbar geltendes Bundesrecht (BGB1. II 1990, 246; 1993, 715; 1996, 282). Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 53 ff. Werle, Volkerstrafrecht, 2003, Rn. 44 ff.; WesselslBeulke, AT, Rn. 76; Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 125 ff.
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen
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durch innerstaatliche Ratifikation eine volkerrechtliche Verbindlichkeit fur die Vertragsstaaten entfalten. Exemplarisch sei auf die nachfolgend behandelten Konventionen verwiesen.
1. Bekampfung der Geldwasche und Betaubungsmittelkriminalitat Von den deliktsspezifischen Konventionen der UN ist insbesondere das Uberein- 8 kommen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen v. 20. Dezember 1988 (UN-SuchtstoffObK)13 hervorzuheben, da es zu den innovativsten volkerrechtlichen Regelungen im Bereich der grenziiberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen zahlt14. Dieses Ubereinkommen verfolgt in erster Linie das Ziel, das ,,Reinwaschen" von Erlosen aus illegalen Drogengeschaften (Geldwasche) zu kriminalisieren und die internationale Zusammenarbeit bei der Bekampfung des Drogenhandels zu fordern15. Neben der Verpflichtung, entsprechende Strafnormen zu schaffen, enthalt das Ubereinkommen insbesondere Auslieferungs- und Rechtshilfeverpflichtungen. Diese dienen dem Zweck, grenzilberschreitende Ermittlungen und die Auslieferung von Beschuldigten in Geldwaschefa'llen zu erleichtern sowie Eingriffe in das Vermogen international tatiger Straftater iiber die Grenzen hinweg zu ermoglichen. Nicht zuletzt regelt die Konvention auch moderne Formen polizeilicher Kooperation wie den Austausch von Verbindungsbeamten oder kontrollierte Drogenlieferungen mit dem Ziel, Schmuggler und deren Hintermanner zu ermitteln.
2. Bekampfung grenzuberschreitender Verbringung gefahrlicher Abfalle Das Basler Ubereinkommen iiber die Kontrolle der grenztiberschreitenden 9 Verbringung gefahrlicher Abfalle und ihrer Entsorgung v. 22. Marz 1989 (BU)16 zielt darauf ab, den seit den 1980er Jahren in zunehmenden Umfang auftretenden Millltourismus international zu bekampfen. Ziel des BU ist es, sicherzustellen, dass Sonderabfalle grundsatzlich in dem Staat entsorgt werden, in dem sie erzeugt wurden. Nach Art. 4 BU haben die Vertragsparteien jeglichen unerlaubten Verkehr mit Abfa'llen als Straftat einzustufen und zu ahnden. Die EG trat diesem Ubereinkommen bei und setzte ihre hieraus resultierenden Verpflichtungen durch Erlass der Verordnung (EG) Nr. 259/93 des Rates v. 1. Februar 1993 zur Uberwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfallen in der, in die und aus der Europaischen Gemeinschaft (EGAbfVerbVO)17 um. Art. 26 V EGAbfVerbVO verpflichtet die Mitgliedstaaten, die ,,illegale Abfallverbringung zu unterbinden und durch geeignete rechtliche MaBnahmen zu ahnden" (vgl. § 8 Rn. 31). 13
14 15
16 17
UN-Doc. E/CONF/82/15; BGB1. 1993 II, 1137; abgedruckt und kommentiert in SchomburglLagodny, IRhSt, S. 1129 ff. Ziegenhahn, Menschenrechte und grenziiberschreitende Zusammenarbeit, S. 123 ff. Vgl. Denkschrift BR-Drs. 506/92, S. 44; vgl. hierzu auch Ambos, ZStW 114 (2002), 236 ff. BGB1.11994, 771; II 1994, 2703. AB1EG 1993 Nr. L 30, S. 1.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
3. Bekampfung der transnationalen Kriminalitat 10 Spezifische Regelungen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit fur alle Bereiche der grenziiberschreitenden Kriminalitat enthalt das tjbereinkommen der Vereinten Nationen iiber die Bekampfung der transnationalen Kriminalitat v. 15. Dezember 2000 (UN-TranskrimUbK)18. Hierzu gehoren Bestimmungen tlber Auslieferung, Rechtshilfe und Vollstreckungsilbernahme sowie iiber spezielle Ermittlungsmethoden wie kontrollierte Lieferungen, elektronische Uberwachung und verdeckte Ermittlungen. Im Bereich der polizeilichen Kooperation stehen die Sammlung und der Austausch von Informationen im Vordergrund.
IV. Organisation fur wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) 11 Die Organisation fur Europaische Wirtschaftliche Zusammenarbeit (OEEC) wurde im Jahre 1948 gegrundet und mutierte im Jahre 1961 zur Organisation fur wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (Organisation for Economic Cooperation and Developement = OECD). Wahrend die OECD zu Beginn ihrer Tatigkeit eine rein westeuropaische Vereinigung der Industriestaaten gewesen ist, hat sie sich nach dem Beitritt Australiens, Japans, Kanadas und der USA sowie anderer auBereuropaischer Mitgliedstaaten zu einem Forum der wirtschaftlichen Zusammenarbeit der 29 wichtigsten Industrie lander der Welt entwickelt19. Als internationale Organisation, die sich die Forderung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen ihren Mitgliedstaaten zum Ziel gesetzt hat, beschaftigt sich die OECD auch mit kriminalpolitischen Problemen des internationalen Geschaftsverkehrs20. Zur Durchsetzung ihrer Ziele im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts bedient sich die OECD wie die UN ilberwiegend des sog. ,,soft law". Damit sind Instrumente wie Modellkonventionen, Empfehlungen und Verhaltenscodices gemeint, die nicht auf eine Rechtsharmonisierung im Sinne eines ,,Gleichklangs" der Normen abzielen, sondern auf eine funktionale Annaherung der Strafrechtssysteme (Assimilierung)21. Diese Methode hat den Vorteil, dass sie die Durchsetzung gewisser strafrechtlicher Standards in grundverschiedenen Rechtsystemen wie dem angelsachsischen, kontinental-europaischen und asiatischen ermoglicht, ohne dass tradierte Prinzipien und Regelungstechniken aufgegeben werden miissen. 12
Zu den strafrechtsrelevanten Aktivitaten der OECD gehorte z. B. die Ausarbeitung detaillierter Empfehlungen tiber die Strafbarkeit bestimmter Computerdelikte im Jahre 198522. In den letzten Jahren haben sich als strafrechtliche Hauptbetatigungsfelder der OECD die Bekampfung von Bestechung und Korruption im internationalen Geschaftsverkehr sowie der Geldwasche herauskristallisiert. 18 19 20
21 22
UN-Doc. A/55/383; vgl. hierzu Plachta, ZStW 110 (1998), S. 819 ff. Herdegen, Europarecht, Rn. 10; Oppermann, Europarecht, Rn. 122 ff. Vgl. hierzu Ziegenhahn, Menschenrechte und grenziiberschreitende Zusammenarbeit, S. 60 ff. Vgl. hierzu Pieth, ZStW 109 (1997), 756, 770 f. Vgl. hierzu Sieber, JZ 1996, 429 ff, 494 ff.
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen
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1. Bekampfung von Korruption und Bestechung Der Rat der OECD verabschiedete am 27. Mai 1994 eine Empfehlung zur Ergrei- 13 rang wirksamer MaBnahmen zur Bekampfung der Bestechung auslandischer Amtstrager im Zusammenhang mit dem internationalen Geschaftsverkehr. Ein Jahr spSter gab er eine tlberarbeitete Empfehlung ab und forderte die unverztlgliche Erarbeitung eines internationalen Ubereinkommens. Vom 18. bis 21. November 1997 tagte in Paris eine diplomatische Konferenz, in der sich die Teilnehmer einvernehmlich auf den Text eines entsprechenden OECD-Ubereinkommens mit zugehorigen Erlauterungen verstandigten. Am 27. Dezember 1997 unterzeichneten die Mitgliedstaaten der OECD sowie Argentinien, Brasilien, Bulgarien, Chile und die Slowakische Republik die OECD-Konvention zur Bekampfung der Korruption. Dieses Ubereinkommen ist inzwischen von fast alien beigetretenen Staaten ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt worden. Um die dem offenen und freien Wettbewerb unterworfenen Markte vor den ne- 14 gativen Auswirkungen der Korruption zu schiitzen, verpflichtet das Ubereinkommen die Vertragsstaaten zur Kriminalisierung der Bestechung auslandischer Amtstrager im internationalen Geschaftsverkehr durch Einfuhrung entsprechender Straftatbestande. AuBerdem versprechen sich die beteiligten Staaten, einander umfassend Rechtshilfe zu leisten. Hierbei soil das klassische Rechtshilfeerfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit als gegeben angesehen werden. Auch sollen die Konventionsstaaten gewahrleisten, dass Rechtshilfeersuchen nicht unter Hinweis auf das Bankgeheimnis abgelehnt werden dtlrfen. Die Vertragsstaaten verpflichten sich des Weiteren, auch eigene Staatsangehb'rige auszuliefern oder eine entsprechende Strafverfolgung im eigenen Hoheitsgebiet sicherzustellen. In Deutschland erfolgte die Umsetzung der OECD-Konvention durch das Ge- 15 setz zu dem Ubereinkommen v. 17. Dezember 1997 iiber die Bekampfung der Bestechung auslandischer Amtstrager im internationalen Geschaftsverkehr (IntBestG) v. 10. September 1998, welches am 15. Februar 1999 in Kraft trat23. Gesetzestechnisch hat der deutsche Gesetzgeber die Strafbarkeit der Bestechung auslandischer Amtstrager dadurch erreicht, dass er in Art. 2 § 1 IntBestG auslandische mit inlandischen Amtstragera gleichgestellt und in diesen Fallen die Anwendung der §§ 334, 335, 336, 338 II StGB vorgesehen hat (nicht erfasst werden also Vorteilsgewahrungen nach § 333 StGB)24. Strafbar ist gem. Art. 2 § 2 IntBestG unter den dort genannten Voraussetzungen auch die Bestechung auslandischer Abgeordneter. Insoweit gent der Strafrechtsschutz weiter als bezuglich nationaler Abgeordneter (§ 108 e StGB)25. Erganzt werden die oben genannten Strafbestimmungen durch das EU-Bestechungsgesetz (EUBestG) v. 10. September 199826, das zu einer Ausdehnung des Anwendungsbereichs der §§ 334, 335, 336, 338
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BGB1. II 1998, 2327; 1999, 87; vgl. zum IntBestG Korte, wistra 1999, 8 1 ; Krause/Vogel, RIW 1999, 488 ff.; Taschke, StV 2001, 78 ff.; Zieschang N J W 1999, 105, 106 ff. Pelz, StraFo 2000, 300, 302 ff. LacknerlKuhl, § 108 e Rn. 9;. Taschke, StV 2001, 78, 80. BGB1. II 1998, 2340.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
StGB auf Richter und Amtstrager der anderen EU-Mitgliedstaaten sowie auf Richter des EuGH und Gemeinschaftsbeamte flihrt27. Mit diesem Gesetz erfullte der deutsche Gesetzgeber seine Verpflichtungen aus dem im Rahmen der ZBJI (Rn. 56) verabschiedeten Ersten Zusatzprotokoll zum Ubereinkommen Uber den Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften zur Bekampfung der Korruption28 und dem Ubereinkommen uber die Bekampfung der Bestechung, an der Beamte der EU oder der Mitgliedstaaten beteiligt sind29.
2. Bekampfung der Geldwasche 16 Die Aktivitaten der OECD im Kampf gegen Geldwasche werden vor allem von der bei der OECD angesiedelten FATF (Financial Action Task Force on Money Laundering) koordiniert und vorangetrieben30. Bei der FATF handelt es sich um ein ursprunglich von den Staats- und Regierungschefs der G7-Staaten und dem Vorsitzenden der EU-Kommission im Juni 1989 eingesetztes zwischenstaatliches Gremium, dessen zentrale Aufgabe darin besteht, die intemationale Zusammenarbeit bei der Bekampfung der Geldwasche zu entwickeln und zu fordern. Die FATF setzt sich aus den Mitgliedstaaten der wichtigsten Finanzzentren Europas, Nordamerikas und Asiens sowie zwei internationalen Organisationen zusammen. Nach ihrer Griindung im Jahre 1989 entwarf sie 40 Empfehlungen zur Geldwaschebekampfung, die im Wesentlichen in die EG-Geldwascherichtlinie von 199131 (vgl. hierzu § 8 Rn. 9) eingeflossen sind. Die jahrlichen Berichte der FATF, in welchen die Defizite im Kampf gegen die Geldwasche nicht nur in den Mitgliedstaaten, sondern gerade auch in den nicht kooperierenden Staaten aufgezeigt werden, sind durchaus geeignet, politischen Druck auf die Staaten auszuuben. So hat z. B. Osterreich im Februar 2000 - wie von der FATF gefordert - die bis dahin nach innerstaatlichem Recht mogliche Einrichtung anonymer Konten abgeschafft. 17
Die OECD-Konvention zur Bekampfung der Korruption und die Aktivitaten gegen Geldwaschekriminalitat bilden anschauliche Beispiele dafiir, wie durch Ubereinkommen, die im Rahmen internationaler Kooperation geschlossen wurden, aber auch durch bloBe Empfehlungen (,,soft law") bestimmte strafrechtliche Standards und MaBnahmen in den Konventionsstaaten durchgesetzt werden konnen. Freilich funktioniert dieser ,,weiche" Durchsetzungsmechanismus nur, Gdnfile, NStZ 1999, 543 ff.; Pelz, StraFo 2000, 300, 301 f.; Zieschang, NJW 1999, 105 f. AB1EG 1996 Nr.C 313, S. 1. AB1EG 1997 Nr. C 195, S. 1; vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 46, 50. Vgl. hierzu Gentzik, Europaisierung des Geldwaschestrafrechts, S. 37 f.; HoyerlKlos, Regelungen zur Bekampfung der Geldwasche und ihre Anwendung in der Praxis: Geldwaschegesetz, Gesetz zur Verbesserung der Bekampfung der Organisierten Kriminalitat, Internationale Regelungen, 2. Aufl., 1998, S. 38; Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzilberschreitende Zusammenarbeit, S. 61 f. Richtlinie 91/308/EWG v. 10. Juni 1991 zur Verhinderung und Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (AB1EG Nr. L 166, S. 77).
B. StrafrechtsrelevanteKooperationsformen
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wenn die Konventionsstaaten zur Umsetzung der empfohlenen Zielvorgaben in nationales Recht bereit sind (vgl. zu der Geldwaschebekampfung im Rahmen der EU § 11 Rn. 44 ff.).
V. Gipfelkonferenz der G7/G8-Staaten Seit 1975 treffen sich die Staats- und Regierungschefs von sieben Industriestaaten 18 mit dem weltwirtschaftlich groBten Gewicht (G7-Staaten: Deutschland, Frankreich, GroBbritannien, Italien, Japan, Kanada und USA) zu einer jahrlichen Gipfelkonferenz, um sich tiber wirtschaftliche und politische Fragen auszutauschen. Die seit 1998 (nach dem Beitritt Russlands) in G8-Staaten umgetaufte Institution bildet eine Plattform filr eine informelle politische Zusammenarbeit der beteiligten Staaten ohne feste Strukturen oder eigene Organe. Zu den von den G7/G8-Staaten behandelten Themen gehoren auch kriminalpolitische Fragen, insbesondere die Bekampfung des Terrorismus, der Organisierten Kriminalitat und der Geldwasche. SchlieBlich befassen sich die beteiligten Staaten im Rahmen einer Forschungsgruppe auf Ministerebene auch mit der Bekampfung von Missbrauchen in internationalen Computernetzen32. Die auf den Gipfelkonferenzen gefassten Beschlusse und Empfehlungen entfalten keine rechtliche Bindungswirkung, sind jedoch von nicht zu unterschatzender politischer Bedeutung.
VI. Zusammenarbeit im Europarat Im Europa des Europarates (§ 3) arbeiten inzwischen 46 Staaten - darunter alle 19 EU-Mitgliedstaaten - zusammen, die sich zur Wahrung und Beachtung der in der EMRK niedergelegten Grundfreiheiten verpflichtet haben. Der Tatigkeit der StraBburger Konventionsorgane (Europaische Kommission fur Menschenrechte und Europaischer Gerichtshof fur Menschenrechte)33 ist es zu verdanken, dass sich innerhalb der letzten Jahrzehnte ein gemeineuropaischer Grundrechtsstandard herausbilden konnte, der die nationalen Strafrechtsordnungen der Konventionsstaaten erheblich beeinflusst (vgl. § 3 Rn. 18 ff.). Der Europarat setzt bei seiner Arbeit im Bereich der Kriminalitatsbekampfung zum einen auf die Instrumente des ,,soft law" (Modellgesetze, Stellungnahmen, Empfehlungen, Verhaltenscodices), aber auch auf die harmonisierende Wirkung volkerrechtlicher Ubereinkommen (vgl. hierzu bereits § 3 Rn. 11 ff). Exemplarisch ist auf die MaBnahmen des Europarates zur Bekampfung von Geldwasche, Drogenkriminalitat, Korruption und Cyber Crime hinzuweisen, durch welche entsprechende Aktivitaten der OECD, UN bzw. G8-Staaten erganzt werden.
32 33
Vgl. hierzu Sieber, J Z 1997, 369, 372. Seit dem 1. November 1998 ist die EKMR und der nur bei Bedarf tagende EGMR durch einen standig tagenden EGMR ersetzt worden.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
1. Bekampfung der Geldwasche und Betaubungsmittelkriminalitat 20 Am 8. November 1990 wurde das Ubereinkommen ttber Geldwasche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Ertragen aus Straftaten beschlossen34, das am 1. September 1993 in Kraft getreten ist. Mittlerweile ist es von den meisten Mitgliedstaaten ratifiziert worden35. Das Ubereinkommen zielt - insoweit iiber das UN-SuchtstoffUbK v. 20. Dezember 1988 (Rn. 8) hinausgehend darauf ab, den Vortatenkatalog der nationalen Geldwaschetatbestande iiber den Bereich der Betaubungsmitteldelikte auf alle Straftaten auszudehnen. Dartiber hinaus enthalt das Ubereinkommen detaillierte Rechtshilferegelungen filr die Phasen Ermittlung, vorlaufige Sicherung und definitive Einziehung von Tatwerkzeugen sowie illegal erlangter Ertrage und Vermogensgegenstande (vgl. zu der Geldwaschebekampfung im Rahmen der EU § 11 Rn. 44 ff.). 21 Durch das Europaische Ubereinkommen iiber den unerlaubten Verkehr mit Drogen auf hoher See zur Durchfiihrung des Art. 17 des Ubereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen v. 13. Januar 199536 sollen insbesondere die rechtshilferechtlichen Instrumentarien des Art. 17 UN-SuchtstoffUbK prazisiert und verstarkt werden, indem Regelungen zur Ausiibung der Strafgewalt und zum Einsatz von ZwangsmaBnahmen getroffen werden.
2. Bekampfung der Korruption 22 Am 27. Januar 1999 wurde eine Strafrechtskonvention zur Korruption37 verabschiedet, die fur diejenigen Staaten, welche die Konvention ratifiziert haben, zum 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist38. Das Ubereinkommen bezieht sich umfassend auf Bestechung und Bestechlichkeit im offentlichen und privaten Sektor sowohl im nationalen als auch im internationalen Bereich. Des Weiteren finden sich in dem Ubereinkommen umfangreiche Regelungen zu Rechtshilfe, Auslieferung, Spontankontakten und direktem Informationsaustausch zwischen den nationalen Strafverfolgungsbehorden. Zugleich wurde eine Vereinbarung iiber die Einsetzung der Gruppe der Staaten gegen Korruption (GRECO) getroffen, um die nationalen Aktivitaten durch intensivere Zusammenarbeit zu starken.
3. Bekampfung der Cyber-Kriminalitat 23 Ein weiteres Beispiel filr die Zusammenarbeit der Europaratsstaaten im Bereich der Bekampfung transnationaler Kriminalitat ist das Europaische Ubereinkom34 35 36 37 38
ETSNr. 141. In Deutschland gilt es seit dem 1. Januar 1999 (BGB1. II 1998, 519; 2000, 1304; 2001, 339). E T S Nr. 156; BGB1. 2000 II, 1313. ETS Nr. 173 mit seinem Zusatzprotokoll v. 15. Mai 2003 (ETS Nr. 191). Deutschland hat das Ubereinkommen zwar unterzeichnet, aber bislang noch nicht ratifiziert.
B. Strafrechtsrelevante Kooperationsformen
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men zur Datennetzkriminalitat v. 23. November 200139, welches erstmals hochspezifische und umfangreiche Anpassungen des materiellen und prozessualen innerstaatlichen Strafrechts vorsieht, um die verschiedensten Formen von ,,Cyber Crime" zu bekampfen (vgl. hierzu auch den - im Rahmen der PJZS der EUMitgliedstaaten vorgelegten - Vorschlag der Kommission fur einen Rahmenbeschluss betreffend Angriffe auf Informationssysteme § 11 Rn. 151 ff.). Diese Konvention, die durch die Bundesrepublik Deutschland am 23. November 2001 unterzeichnet, aber noch nicht ratifiziert worden ist, sieht u. a. die Moglichkeit vor, Internetdienste zu verpflichten, samtlichen Datenverkehr iiber drei Monate zu speichern. Das Eindringen in Computersysteme (,,Hacking") wird als strafwurdige Handlung angesehen40.
4. Bedeutung der Zusammenarbeit im Europarat Dass dem Streben nach Rechtsvereinheitlichung auf dem Feld des Strafrechts je- 24 doch Grenzen gesetzt sind, zeigt sich daran, dass die meisten strafrechtsrelevanten Ubereinkommen des Europarates mangels der erforderlichen Zahl von Ratifikationen nicht in Kraft getreten sind. Der eigentliche ,,Schrittmacher" der europaischen Strafrechtsentwicklung ist derzeit nicht der Europarat, sondern die EU. Bereits an anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass der Europarat dennoch eine bedeutende Rolle als Forum paneuropaischer Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Strafrechtspflege und der Kriminalpolitik spielt (§ 3 Rn. 16). Neben der politischen Erfahrung, die der Europarat durch die Ausarbeitung und den Abschluss zahlreicher Konventionen auf dem Gebiet der Kriminalitatsbekampfung und der internationalen Strafrechtspflege erlangt hat, pradestinieren ihn vor allem seine im Verhaltnis zur EU groBere Zahl an Mitgliedern und die dadurch bedingte kriminalgeographische Abdeckung als geeignete Institution fur eine Abstimmung der nationalen Kriminalpolitiken bzw. Angleichung des Straf-, Strafverfahrens- und Rechtshilferechts. Die Tatigkeit des Europarates ist aus dem Prozess der Internationalisierung des Strafrechts schon deshalb nicht hinweg zu denken, weil er auch die Nicht-EU-Staaten in die internationale Zusammenarbeit einbindet. Letzteres ist von zentraler Bedeutung, weil sich Ost-, Mittel- und Westeuropa mittlerweile zu einem zusammenhangenden kriminalgeographischen Aktionsraum entwickelthaben41.
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ETSNr. 185. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 1. Kap. Rn. 75. Vgl. Kohl, in: Krevert/Kohl (Hrsg.), Europaisches Zentrum fur Kriminalpravention Europaische Beitrage zu Kriminalitat und Pravention 1998, S. 30; Zachert, in: Sieber (Hrsg.), Europaische Einigung, S. 6 1 , 76.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
C. Intergouvernementale Zusammenarbeit in der Europaischen Union 25 Im Europa der Europaischen Union (§ 4 Rn. 103) findet die grenziiberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit der seit 1. Mai 2004 auf die Zahl 25 angewachsenen Mitgliedstaaten im Rahmen der dritten Saule (PJZS) statt42. Die intergouvernementale Kooperation der Mitgliedstaaten im Bereich der inneren Sicherheit hat sich zwar stetig, aber im Hinblick auf die nationalen Souveranitatsvorbehalte nur langsam entwickelt und ausgeweitet. Erst nach und nach hat sich bei den Mitgliedstaaten die politische Einsicht durchgesetzt, dass im Hinblick auf die Verwirklichung des freien Binnenmarktes eine Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Justiz und der Innenpolitik ihrem gemeinsamen Interesse entspricht. Im Folgenden werden die entscheidenden Entwicklungsphasen einer seit Mitte der 1970er Jahre immer enger werdenden intergouvernementalen Kooperation der EG/EU-Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Kriminalitatsbekampfung nachgezeichnet.
I. Informelle Zusammenarbeit 1. TREVI-Arbeitsgruppen 26 Das Aufkommen des politisch motivierten Terrorismus in den 1970er Jahren und die hierdurch entstandene neue Bedrohungslage war der aufiere Anlass fur die EGMitgliedstaaten, zu einer engeren transnationalen Zusammenarbeit im Bereich der Strafverfolgung zu gelangen. Im Hinblick darauf, dass die EG zu diesem Zeitpunkt noch keine Kompetenz fur innen- und rechtspolitische Angelegenheiten hatte, bediente man sich zunachst einer rein informellen (nicht institutionalisierten) Kooperationsform. Der Europaische Rat von Rom (die Versammlung der Regierungschefs der EG-Mitgliedstaaten) reagierte im Jahre 1975 auf die damaligen Terroranschlage durch die Einfuhrung einer regelmaBigen informellen Zusammenarbeit der nationalen Behorden in Konsultations- und Arbeitgruppen. Diese sollten Informationen und Erfahrungen auf dem Gebiet der Terrorismusbekampfung austauschen und gemeinsame polizeiliche Strategien erarbeiten. Die informelle Zusammenarbeit in den hieraus erwachsenen, regelmaBig tagenden TREVIKonsultationsgruppen43 reichte aber schon bald iiber das von TREVI I behandelte Thema Terrorismusbekampfung hinaus44. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 216 ff.; Dieckmann, NStZ 2001, 617 ff.; GlefilLuke, JURA 1998, 70, 75 ff; Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 70 ff, 96 ff; Wasmeiery'Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 29 ff, 69 ff. Der Ursprung des Kurzels ist unklar: Wahrend manche Autoren TREVI als Kttrzel fur die Begriffe ,,Terrorisme, Radicalisme et Violence Internationale" sehen, fuhren andere ihn auf den Namen des ersten Tagungsortes der Arbeitsgruppe bei der ,,Fontana di Trevi" in Rom zuriick; vgl. GlefilLuke, JURA 1998, 70, 71, dort Fn. 25; Mokros, in:
C. Intergouvernementale Zusammenarbeit in der Europaischen Union
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Mit der Bildung der Arbeitgruppe TREVIII reagierten die Mitgliedstaaten auf 27 die Ereignisse im Briisseler Heysel-Stadion am 29. Mai 1985, bei denen 39 Menschen getotet und mehr als 400 Personen verletzt wurden. Diese Arbeitsgruppe hatte die Aufgabe, Informationen liber schwerwiegende Storungen der offentlichen Ordnung insbesondere im Zusammenhang mit Fufiballrowdytum auszutauschen. Das Arbeitsfeld von TREVI II wurde spater erweitert auf die Bereiche Polizeiausriistung, polizeiliche Kommunikation sowie Fragen der Polizei- und Kximinaltechnik. Der Arbeitsschwerpunkt der im Jahre 1985 gegrundeten Arbeitsgruppe TREVI III lag bei der Bekampfung der internationalen organisierten Kriminalitat, insbesondere des illegalen Rauschgifthandels. Die Ad-hoc-Arbeitsgruppe Europol befasste sich im Anschluss an den EG-Gipfel in Luxemburg (1991) mit der Bildung einer eurokriminalpolizeilichen Zentralstelle. In der Adhoc-Arbeitsgruppe TREVI" 92 wurden AusgleichsmaBnahmen fur den aus der Umsetzung des Schengener Ubereinkommens (Rn. 30) resultierenden Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen und den damit einhergehenden Sicherheitsverlusten beraten. Da die TREVI-Zusammenarbeit keine rechtliche Grundlage im Gemeinschafts- 28 recht hatte, war sie nicht in den institutionellen Rahmen der EG eingegliedert. Eine gewisse Anbindung an die Organisationsstruktur der EG ergab sich nur daraus, dass der Vorsitz in den Arbeitsgruppen durch den Mitgliedstaat ausgeubt wurde, der turnusgemaB den Vorsitz im Rat fiihrte. Im Rahmen von TREVI wurden keine rechtlich verbindlichen Vereinbarungen erarbeitet, sondern Ministerempfehlungen, deren Umsetzung von dem politischen Willen der einzelnen Mitgliedstaaten abhangig war. Durch die in den TREVI-Arbeitsgruppen praktizierte Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kriminalitatsbekampfung wurde jedoch der Grundstein fur die spater infolge der Vertrage von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) institutionalisierte Kooperation der Mitgliedstaaten im Rahmen der dritten Saule des EUV gelegt. 2. CELAD In den 1980er Jahren wurde die Drogenbekampfung in vielen Mitgliedstaaten zum 29 beherrschenden Thema der kriminalpolitischen Agenda. Im Jahre 1989 setzte der Europaische Rat CELAD (Comite Europeen de la Lutte Antidrogue) ein — ein Ausschuss nationaler Vertreter mit der Aufgabe, MaBnahmen der Mitgliedstaaten und der EG zur Bekampfung der Drogensucht und der Drogenkriminalitat zu koordinieren45. Ein wesentliches Ergebnis der Ausschussarbeit war die Erstellung eines Europaischen Drogenbekampfungsplans, der u. a. die Einrichtung einer Europaischen Drogenbeobachtungsstelle vorsah. Eine solche errichtete der Europaische Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 183; WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 11, doit Fn. 20 jew. m. w. N. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 218 f.; Sinn, Europaische Gemeinschaften, S. 300; Nelles, ZStW 109 (1997), S. 727, 734. WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUVRn. 18.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
Rat im Jahre 1993 in Lissabon46. Dort werden seither Informationen iiber die Drogen- und Drogensuchtproblematik, jedoch keine personenbezogenen Daten gesammelt. Die Datensammlung der Beobachtungsstelle dient als empirisch fundierte Grundlage fur repressive und preventive MaBnahmen der Mitgliedstaaten. CELAD besteht bis heute als eine in der ,,Grauzone" zwischen intergouvernementaler und gemeinschaftsrechtlicher Zusammenarbeit anzusiedelnde Kooperationsform47.
II. Zusammenarbeit im Rahmen der Schengener Abkommen 1. Schengen I und Schengen II (SDU) 30 Das ,,Europa der zwei Geschwindigkeiten" auBerte sich in der Zusammenarbeit einer Gruppe von zunachst ftlnf EG-Staaten, die eine weitergehende politische Integration Europas anstrebten. Ausgehend von einem Beschluss des Europaischen Rates aus dem Jahre 1984 forcierte die Gemeinschaft das Projekt ,,Europa der Burger", das spiirbare Auswirkungen auf das Alltagsleben der Burger entfalten sollte. Hierzu gehorte auch und vor allem die Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen. Am 14. Juni 1985 unterzeichneten die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxemburg und die Niederlande das Abkommen von Schengen (Luxemburg) ilber den schrittweisen Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen zwischen den Vertragsparteien (Schengen I)48. Die durch den Wegfall der Binnengrenzkontrollen befurchtete EinbuBe an innerer Sicherheit sollte ein weiterer volkerrechtlicher Vertrag, das Schengener Durchfiihrungsiibereinkommen (Schengen II - SDU) v. 19. Juni 199049 ausgleichen. 31 Das SDU trat am 1. September 1993 in Kraft50. Die praktische Anwendung seiner Einzelbestimmungen und der von Schengen I beschlossene Wegfall der PersoVO (EWG) 302/93; ABLEG 1993 Nr. L 36, S. 1. GlefilLiike, JURA 1998, 70, 72; Sinn, Europaische Gemeinschaften, S. 341; Weidenfeld, in: Rupprecht/Hellenthal (Hrsg.), Innere Sicherheit im europaischen Binnenmarkt, 1992, S. 7, 15. Ubereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der BeneluxWirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Franzosischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen v. 14. Juni 1985 (GMB1. 1986, 79 ff.). Ubereinkommen zur Durchfuhrung des Ubereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Franzosischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen v. 19. Juni 1990 (SDU); BGB1. II 1993, 1013 ff. Vgl. hierzu die Bekanntmachung iiber das Inkrafttreten des Ubereinkommens zur Durchfuhrung des Ubereinkommens von Schengen v. 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Franzosischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14. Juni 1985 (BGB1. II 1994, S. 631 ff).
C. Intergouvernementale Zusammenarbeit in der Europaischen Union
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nenkontrollen an den Binnengrenzen erfolgte jedoch erst nach Schaffung der erforderlichen technischen (z. B. Einrichtung von Datenbanken und der daflir erforderlichen Datenschutzbehorden) und rechtlichen (sog. ,,Inkraftsetzung") Voraussetzungen am 26. Marz 1995, zunachst zwischen den funf Partnern des Schengener Abkommens sowie Spanien und Portugal. Seit 1995 traten Italien, Griechenland, Osterreich, Danemark, Finnland und Schweden dem SDU bei. Norwegen und Island wenden das Schengen-Regelwerk seit dem 25. Marz 2001 vollumfanglich an. GroBbritannien und Irland sind keine Parteien des Schengener Abkommens. Sie konnen den ,,Schengen-Acquis" (Rn. 71) mit Billigung des EU-Rates ganz oder teilweise ubernehmen und sich an seiner Weiterentwicklung beteiligen. Danemark entscheidet von Fall zu Fall, ob es sich an der Weiterentwicklung des Schengen-Besitzstandes auf volkerrechtlicher Grundlage anschlieBt und das ohne seine Beteiligung zustande gekommene Gemeinschaftsrecht als nationales Recht anwenden will. Die am 1. Mai 2004 der EU beigetretenen zehn Staaten haben mit ihrem Beitritt den Schengen-Besitzstand weitgehend ubernommen51. Das SDU regelt in 142 Artikeln die grundlegenden operativen Bestimmungen 32 des Schengen-Systems. Neben MaBnahmen zur Abschaffung der Grenzkontrollen und zum freien Personenverkehr ftlhrte es eine Reihe von MaBnahmen zum Ausgleich moglicher Sicherheitsdefizite ein. Hierzu gehoren namentlich die Vereinbarung einheitlicher Kontrollstandards an den AuBengrenzen, die Anwendung gemeinsamer Grundsatze fur die Einreise und den Aufenthalt von Drittauslandern, die Definition einer einheitlichen Visumpolitik und -praxis, die Regelung der Zustandigkeit fur die Behandlung von Asylgesuchen sowie die Annahme gemeinsamer Grundsatze fur die grenziiberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit52. SchlieBlich ermoglicht das Schengener Informationssystem (SIS) das technische Kernstiick der grenzilberschreitenden Zusammenarbeit - alien Teilnehmerstaaten den Zugriff auf ein zentrales, fur die Polizeizusammenarbeit auBerst niltzliches Informationssystem (Rn. 50 ff.).
2. Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit auf der Basis des SDU a) Uberblick Der im SDU normierte Katalog fur eine engere polizeiliche und justizielle Zu- 33 sammenarbeit, die der vorbeugenden Bekampfung und der Aufklarung von strafbaren Handlungen dient, umfasst folgende MaBnahmen: -
Polizeilicher Informationsaustausch (Art. 39 SDU), Grenziiberschreitende Observation (Art. 40 SDU), Grenziiberschreitende Nacheile (Art. 41 SDU), Gleichstellung der Beamten (Art. 42 SDU), Vgl. die in Anhang I der Beitrittsakte aufgefuhrten Bestimmungen des SchengenBesitzstandes, die ab dem Beitritt fur die neuen Mitgliedstaaten bindend und in ihnen anzuwenden sind (AB1EU 2003 Nr. L 236, S. 50). Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 103; WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 23.
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Direkte Kommunikation (Art. 44 SDU), Preventive Spontaninformationen (Art. 46 SDU), Entsendung von Verbindungsbeamten (Art. 47 SDU), Leistung von Rechtshilfe iiber das Europaische Rechtshilfeiibereinkommen hinaus (Art. 48-49 SDU), Direkte Ubersendung von gerichtlichen Urkunden (Art. 52 SDU), Unmittelbare Ubermittlung von Rechtshilfeersuchen von Justizbehorde zu Justizbehorde (Art. 53 SDU), Staatenilbergreifender Informationsaustausch (Art. 57 SDU), Erleichterung der Auslieferung (Art. 59-66 SDU), Ubertragung der Vollstreckung von Strafurteilen (Art. 67-69 SDU), Bildung gemeinsamer Arbeitsgruppen zur Bekampfung der Betaubungsmittelkriminalitat (Art. 70 SDU), Kontrollierte Lieferung bei dem unerlaubten Handel mit Betaubungsmitteln im Einzelfall auf der Grundlage der Vorwegbewilligung der betroffenen Vertragsparteien (Art. 73 SDU).
b) Polizeilicher Informationsaustausch (Art. 39 SDU) 34 Der formlose polizeiliche Informationsaustausch (Art. 39 I SDU) dient sowohl der vorbeugenden Bekampfung von Straftaten (praventivpolizeilicher Bereich) als auch der Aufklarung von Straftaten (Strafverfolgung)53. Ein ,,polizeilicher Rechtshilfeverkehr" gem. Art. 39 I SDU ist aber ausgeschlossen, wenn ein Ersuchen oder dessen Erledigung nach nationalem Recht den Justizbehorden vorbehalten ist und die Erledigung des Ersuchens die Ergreifiing von Zwangsmafinahmen (z. B. Festnahme, Durchsuchung, Beschlagnahme und Telefonilberwachung) erfordert. Nach deutschem Recht kommen demnach z. B. folgende Hilfeleistungsmafinahmen in Betracht: erkennungsdienstliche Behandlung (§ 81 b StPO), Datenabgleich (§ 98 c StPO), Identitatsfeststellung (§ 163 b StPO), kurzfristige Observationen, Klarung der Aussagebereitschaft von Zeugen, polizeiliche Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten (§ 163 a StPO), Auskunfte aus Offentlich zuganglichen Unterlagen und Melderegistern sowie Halterfeststellungen54. Art. 39 II SDU normiert eine Beweisverwertungsschranke. Danach konnen schriftliche Informationen, die von der ersuchten Vertragspartei nach Art. 39 I SDU ubermittelt werden, nur mit Zustimmung der zustandigen Justizbehorde der ersuchten Vertragspartei von der ersuchenden Vertragspartei als Beweismittel in einem Strafverfahren benutzt werden. 35 Beispiel: Die franzosische Justiz darf ein polizeiliches Protokoll tiber eine Beschuldigtenvernehmung, das im Rahmen eines Informationsaustausches gem. Art. 39 I SDU von der deutschen Polizei an die franzosischen Kollegen ubersandt wurde, nur dann als Beweismittel in einem gegen den Vernommenen gefuhrten Strafverfahren verwerten, wenn die zustandige deutsche Justizbehorde zustimmt55. 53 54 55
Vgl. hierzu Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 114 ff. Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 116. Vgl. hierzu BGHSt 34, 334, 342 ff.
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Grundsatzlich wird der polizeiliche Rechtshilfeverkehr uber die ,,beauftragte zent- 36 rale Stelle" abgewickelt, in der Bundesrepublik Deutschland also uber das BKA. Ein unmittelbarer Informationsaustausch zwischen den beteiligten Polizeibehorden ist nur in Eilfallen zulassig (Art. 39 III 2 SDU). Nach Art. 39 V SDO bleiben jedoch weitergehende bilaterale Abkommen zwischen den Vertragsparteien, die eine gemeinsame Grenze haben, unberiihrt. Hierzu geho'ren z. B. Vertrage, die die Bundesrepublik Deutschland mit Belgien, Frankreich und Osterreich abgeschlossen hat und die einen unmittelbaren Geschaftsweg zwischen bestimmten Polizeibehorden zulassen56. c) Grenzuberschreitende Observation (Art. 40 SDU) Das SDU ermoglicht erstmals auch die Durchfiihrung grenzuberschreitender poli- 37 zeilicher Mafinahmen, bei denen Hoheitsgewalt eines Vertragsstaates auf dem Territorium eines benachbarten Vertragsstaates ausgeiibt wird. Nach Art. 40 I SDU sind Beamte einer Vertragspartei, die im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens in ihrem Land eine Person wegen des Verdachts der Beteiligung an einer auslieferungsfahigen Straftat observieren, befugt, die Observation auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Vertragsstaates fortzusetzen, wenn dieser der grenztiberschreitenden Observation auf der Grundlage eines zuvor gestellten Rechtshilfeersuchens zugestimmt hat. Unter Observation versteht man gemeinhin eine langer andauernde heimliche Beobachtung von Personen durch Polizeibehorden, wobei ein Kontakt zwischen der observierten Person und dem observierenden Beamten grundsatzlich nicht beabsichtigt ist57. Vor Inkrafttreten des SDU durften deutsche Beamte grundsatzlich nur auf deutschem Hoheitsgebiet tatig werden. Die ,,klassische" Rechtshilfe sah demgemaB lediglich vor, dass die Observation an der Grenze an die Beamten des ersuchten Staates iibergeben wird. In Art. 40 I SDU wird ein neues Konzept der transnationalen Strafverfolgung deutlich, namlich die Befugnis fur Beamte eines Schengenstaates, unter Mitnahme von Hoheitsgewalt auf dem Territorium des benachbarten Staates tatig zu werden. Nach Art. 40 I S. 3 SDU ist jedoch die Observation auf Verlangen der ersuchten Vertragspartei an die Beamten der Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet die Observation stattfindet, zu ubergeben. Die grenzuberschreitende Observation ist gem. Art. 40 I SDU an folgende 38 Voraussetzungen gebunden, welche kumulativ vorliegen mussen58: - ein eingeleitetes Ermittlungsverfahren im Ausgangsstaat, - wegen einer auslieferungsfahigen Straftat (richtet sich nach der Gesamtheit der auslieferungsrechtlichen Vereinbarungen zwischen den beteiligten Staaten), - gegen eine bereits observierte Person (,,Zielperson") in dem (um grenzuberschreitende Observation) ersuchenden Staat sowie
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Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 119, 54, 59, 66. Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 126. SchomburglLagodny, IRhSt, Art. 40 SDU Rn. 8 ff.
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- die Zustimmung des ersuchten Staates (,,Zielstaates") auf der Grundlage eines zuvor gestellten Rechtshilfeersuchens. 39 Ausnahmsweise kann bei besonderer Dringlichkeit auch ohne vorherige Zustimmung eine grenziiberschreitende Observation erfolgen. Dann gelten aber besondere Voraussetzungen und Bestimmungen, die in Art. 40 II SDU niedergelegt sind: - Voraussetzungen des Art. 40 I SDU (vgl. Rn. 38), - eine besondere Dringlichkeit, die es nicht erlaubt, im Wege eines Rechtshilfeersuchens die vorherige Zustimmung des Zielstaates einzuholen, - die observierte Person steht im Verdacht der Beteiligung an einer in Art. 40 VII SDU (Straftatenkatalog) aufgefuhrten Straftat, - der Grenziibertritt ist noch wahrend der Observation unverzilglich der in Art. 40 V SDU bezeichneten Behorde mitzuteilen, - ein Rechtshilfeersuchen nach Art. 40 I SDU ist unverzilglich nachzureichen, wobei die Grunde, die einen Grenziibertritt ohne vorherige Zustimmung rechtfertigen, mitzuteilen sind, - die Observation ist einzustellen, sobald die Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet die Observation stattfmdet, dies verlangt oder wenn die Zustimmung nicht fiinf Stunden nach Grenzlibertritt vorliegt. 40 Die Praktikabilitat der in Art. 40 II SDU fur Eilfalle getroffenen Regelung kann durchaus bezweifelt werden59. Es steht zu befurchten, dass das angstliche Klammern an Souveranitatsgedanken wahrscheinlich wieder zu neuen Grauzonen fuhren wird. Unbefriedigend ist auch, dass die mit der Observation des Tatverdachtigen einhergehende Observation von Kontaktpersonen ungeregelt geblieben ist60. 41 In Art. 40 III lit. a-h SDU sind weitere allgemeine Zulassigkeitsvoraussetzungen fur eine grenziiberschreitende Observation nach Art. 40 I bzw. II SDU normiert61. Nach der Grenzilberschreitung sind die observierenden Beamten an das Recht des Staates gebunden, auf dessen Hoheitsgebiet sie operieren. Sie diirfen ihre Dienstwaffe mit sich fuhren, es sei denn, die ersuchte Vertragspartei hat dem ausdriicklich widersprochen. Der Schusswaffengebrauch ist mit Ausnahme des Falles der Notwehr nicht zulassig62. Die observierenden Beamten sind nicht befugt, Wohnungen und offentlich nicht zugangliche GrundstUcke zu betreten. Auch diirfen sie die zu observierende Person nicht anhalten oder festnehmen.
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Vgl. Schomburg/Lagodny, IRhSt, Art. 40 SDU Rn. 13. Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 127 halt die grenziiberscheitende Observation von Kontaktpersonen daher flir unzulassig. Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 131 f. Vgl. zur Problematik des Schusswaffengebrauchs durch Polizeibeamte an der deutschbelgisch-niederlandischen Grenze BrammertzlBourdonxlHartwig, Die Polizei 1996, S. 33.
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d) Grenzuberschreitende Nacheile (Art. 41 SDU) Grenzuberschreitende Nacheile bedeutet Fortsetzung der polizeilichen Verfolgung 42 von fltichtigen Personen auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates63. Diese neue Form polizeilicher Aktivitat uber die Grenzen des eigenen Staatsgebietes hinaus ist gem. Art. 41 I SDU zulassig, wenn eine Person auf frischer Tat betroffen wurde oder aus Untersuchungs- oder Strafhaft geflohen ist und die BehOrden des Staates, auf dessen Hoheitsgebiet nachgeeilt wird, nicht rechtzeitig informiert werden und deshalb die Verfolgung nicht selbst an der Grenze aufnehmen konnen. Die Befugnis, die Verfolgung im Wege einer grenzuberschreitende Nacheile 43 auf dem Staatsgebiet einer anderen Schengen-Vertragspartei fortzusetzen, hangt gem. Art. 41 I SDU von folgenden Voraussetzungen ab: - Verfolgung einer Person, die auf frischer Tat bei der Begehung oder der Teilnahme an einer Straftat nach Art. 41 IV SDU (Option: Katalogtat oder auslieferungsfahige Tat) betroffen wird oder die aus Untersuchungs- oder Strafhaft geflohen ist, - Eilbedurftigkeit (besondere Dringlichkeit der Angelegenheit) - insofern wird auf die Ausschopfung der Kommunikationsmittel des Art. 44 SDU verwiesen - Kontaktaufnahme der nacheilenden Beamten mit der zustandigen Behorde des Gebietsstaates spatestens bei Grenzubertritt, - Einhaltung der in einer Erklarung gem. Art. 41 IX SDU festgelegten Erklarung zu den konkreten raumlichen, zeitlichen und sachlichen Nacheilemodalitaten. Die Bundesrepublik Deutschland hat durch Erklarungen gem. Art. 41 IX SDU den 44 Beamten Belgiens, Frankreichs, Luxemburgs, der Niederlande und Osterreichs das Recht der Nacheile ohne raumliche und zeitliche Begrenzung, fur alle auslieferungsfa'higen Straftaten und unter Einraumung eines Festhalterechts gewahrt. Demgegentlber sind die Nacheilemodalitaten, an welche die deutschen Beamten gebunden sind, in den Nachbarstaaten Deutschlands jeweils unterschiedlich geregelt64. Schomburg weist zu Recht auf das dringliche Erfordernis einer Harmonisierung 45 der Nacheilemodalitaten hin mit dem Ziel, ein unbeschranktes Nacheile- und Festhalterecht im Nachbarterritorium zu erreichen65. Hochstrichterlich ungeklart ist, welche Konsequenzen es fur die Gerichtsverwertbarkeit von Beweismitteln hat, die unter Verletzung der Observations- oder Nacheilebestimmungen erlangt wurden. Man denke z. B. an den Fall, dass ein Tatverdachtiger in Luxemburg von nacheilenden deutschen Beamten an einem Ort festgehalten wurde, der elf Kilometer im Landesinneren liegt (nach einer Erklarung Luxemburgs gem. Art. 41 IX SDU gilt eine Zehn-Kilometer-Begrenzung)66. Fraglich ist auch, ob die nacheilen63 64
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Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 133. Vgl. hierzu die Erklarungen der Vertragsstaaten im Anhang z u m S D U bei SchomburglLagodny, IRhSt. SchomburglLagodny, IRhSt, Art. 41 Rn. 6. Filr die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes wegen Verletzung der souveranen Rechte des Gebietsstaates Bose, ZStW 114 (2002), S. 148, 177.
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den Beamten in solchen Fallen unter dem besonderen Schutz des Widerstands gegen die Staatsgewalt stehen (vgl. Art. 42 SDU). e) Gleichstellung der Beamten (Art. 42 SDU) und Schadensersatz (Art. 43 SDU) 46 Wahrend eines Einschreitens nach Mafigabe der Art. 40 und 41 SDU werden die Beamten, die im Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei eine Aufgabe erflillen, den Beamten dieser Vertragspartei in Bezug auf die Straftaten gleichgestellt, denen diese Beamten zum Opfer fallen oder die sie begehen wiirden (Art. 42 SDU). 47 Fallbeispiel: Ein aus franzosischer Strafhaft entflohener Haftling H leistet mit Gewalt Widerstand gegen seine Festnahme durch franzosische Beamte, die ihm ttber die Grenze hinweg nach Deutschland nachgeeilt sind. Da die franzosischen Beamten gem. Art. 42 SDU den deutschen Amtstragern gleichgestellt werden, muss sich H gem. § 113 StGB strafrechtlich verantworten. Die Gleichstellungsklausel bewirkt aber auch, dass sich die strafrechtliche Haftung der franzosischen Beamten nach den fur deutsche Amtstrager geltenden Bestimmungen richtet (z. B. §§ 331, 332, 340, 343, 344, 345 StGB). Vollig ungeklart ist die Rechtslage, wenn Beamte eine grenzuberschreitende Observation oder Nacheile unter (bewusster oder unbewusster) Uberschreitung raumlicher oder zeitlicher Grenzen durchflihren und sich hierbei strafrechtlich relevante Ereignisse abspielen67. 48 Art. 43 I SDU bestimmt, dass die Vertragspartei fiir einen Schaden, den ihre Beamten im Rahmen einer nach Art. 40 und 41 SDU vorgenommenen Diensthandlung auf dem Hoheitsgebiet einer anderen Vertragspartei verursacht haben, nach MaBgabe ihres nationalen Rechts der anderen Vertragspartei haftet. Nach Art. 43 II SDU verpflichtet sich die Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet der in Absatz 1 genannte Schaden verursacht wird, diesen Schaden so zu ersetzen, wie sie ihn ersetzen miisste, wenn ihre eigenen Beamten ihn verursacht hatten. 49 Fallbeispiel: Eine Zivilstreife der franzosischen Polizei entdeckt kurz vor dem Grenziibergang StraBburg/Kehl den aus franzosischer Untersuchungshaft entflohenen H. Die franzosischen Polizeibeamten eilen H tiber die Rheinbrilcke hinweg nach bis zu einem auf deutschem Territorium gelegenen Rastplatz. Dort zwingen sie ihn, mit erhobenen Handen auszusteigen, legen ihm Handfesseln an und durchsuchen seinen Wagen. Bei der Durchsuchungsaktion wird durch grobe Unachtsamkeit eines Beamten der PKW des H beschadigt. Nach Art. 43 II SDU muss die Bundesrepublik den materiellen Schaden so ersetzen, wie sie es miisste, wenn deutsche Beamte ihn verursacht hatten. H kann also einen Schadensersatzanspruch (aus Amtshaftung gem. § 839 BGB i. V. m. Art. 34 GG) gegen die Bundesrepublik Deutschland geltend machen und erforderlichenfalls auch vor einem deutschen Gericht einklagen. GemaB Art. 43 III SDU besteht eine Erstattungspflicht zwischen den betroffenen Staaten. Falls Deutschland dem H Schadensersatz leistet, ist Frankreich der Bundesrepublik gegenilber zur Erstattung verpflichtet.
Vgl. hierzu SchomburglLagodny, IRhSt, Art. 42 Rn. 2.
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f) Das Schengener Informationssystem - SIS (Art. 92-119 SDU) Neben der grenziiberschreitenden polizeilichen Zusammenarbeit stellt das in den Art. 92-119 SDU geregelte Schengener Informationssystem (SIS) die zweite wesentliche Neuerung der transnationalen Kriminalitatsbekampfung in Europa dar. Das im Marz 1995 eroffhete und mittlerweile in ganz Westeuropa (mit Ausnahme der Schweiz) einschlieBlich der am 1. Mai 2004 der EU beigetretenen Staaten etablierte SIS ist ein staatenubergreifendes, computergestiitztes polizeiliches Fahndungssystem, das in den Vertragsstaaten des SDU (,,Fahndungsunion") den Online-Zugriff auf polizeiliche Fahndungsdaten (davon 85 % Sachfahndungsdaten) ermoglicht68. Durch das SIS werden Ausschreibungen, die der Suche nach Personen oder Sachen dienen, zum Abraf im automatisierten Verfahren bereitgehalten. Im Gegensatz zur Interpol-Fahndung (Rn. 3) sind die Teilnehmer des SIS verpflichtet, dem Fahndungsersuchen eines Vertragsstaates zu entsprechen. Durch die Integration des Schengen-Besitzstandes in den Rechtsrahmen der EU (Rn. 71) wurde aus dem SIS ein Europaisches Informationssystem (EIS). Dadurch wird auch den Nicht-Schengen-Vertragsparteien Grofibritannien und Irland eine Teilnahme am SDU und somit auch am SIS ermoglicht. Fur die Schweiz, die als einziges Land in Westeuropa nicht iiber einen Zugriff zum EIS verfugt, sind bilaterale Zusammenarbeitsvertrage mit den Nachbarstaaten - so auch mit Deutschland - in Vorbereitung. Damit ist ein einheitlicher europaischer Fahndungsraum mit einheitlichen fur alle Polizeien zuganglichen Fahndungsdaten in unmittelbare Nahe geriickt. Das SIS gliedert sich in einen Zentralrechner in StraGburg (CSIS = Central Schengen Information System) und in nationale Systeme der Anwenderstaaten (N.SIS = National Schengen Information System)69. Von den N.SIS werden die Daten an das CSIS ubermittelt, das durch Steuerung der Abfrage- und Eingabedialoge und Betreiben einer Referenzdatenbank fur die Synchronitat der Daten sorgt und von dort die Daten an alle N.SIS verteilt, so dass nahezu ohne zeitliche Verzogerung nach Dateneingabe im N.SIS die Daten gleichzeitig alien Vertragsstaaten zur Verfugung stehen. Jeder am SIS teilnehmende Staat hat die Verpflichtung, eine Stelle zu bestimmen, die fur den nationalen Teil des SIS zustandig ist. Diese Stellen werden SIRENE (Supplementary Information Request at the National Entry) genannt. Die deutsche SIRENE befindet sich beim Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden. Im SIS werden folgende Fahndungskategorien unterschieden:
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Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 224; GlefilLuke, JURA 1998, 70, 74 f.; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 77; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 143 ff. Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 18; Hackner u. a, Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 59; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 143; Sinn, Europaische Gemeinschaften, S. 301 ff.
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- Fahndung nach Personen zur Festnahme zwecks Auslieferung (Art. 95 SDU), - Fahndungen nach Drittauslandern, die zur Einreiseverweigerung bzw. Ausweisung/Abschiebung bei Antreffen im Schengen-Raum ausgeschrieben sind (Art. 96 SDU), - Fahndungen zur Aufenthaltsermittlung (Vermisste) und zur Ingewahrsamnahme zwecks Gefahrenabwehr (z. B. Suizidgefahr) gemaB Art. 97 SDU, - Fahndungen zur Aufenthaltsermittlung fur die Justiz (z. B. Angeklagte, Zeugen) gemaB Art. 98 SDU, - Fahndungen zur verdeckten Registrierung oder gezielten Kontrolle (Art. 99 SDU), - Fahndungen nach gestohlenen, unterschlagenen oder sonst abhanden gekommenen Sachen gemaB Art. 100 SDU, allerdings gilt dies nur fur Kraftfahrzeuge iiber 50 cm3, Anhanger und Wohnwagen mit einem Leergewicht von mehr als 750 kg, Schusswaffen, Blankodokumente, ausgefullte Identitatspapiere sowie Banknoten. 54 Das SDU gewahrt einen schengenweiten Rechtsschutz vor dem Gericht einer Wahl des Betroffenen, wenn es um vom SIS beriihrte Datenschutzrechte des Betroffenen geht70. 55 Fallbeispiel: F befurchtet, im SIS gem. Art. 9 9 S D U zur ,,verdeckten Registrierung" (gemeint ist damit ,,zur polizeilichen Beobachtung") 7 1 ausgeschrieben zu sein. Diese V o r schrift erlaubt unter gewissen Voraussetzungen die Aufnahme v o n Personen- u n d Fahrzeugdaten zu Z w e c k e n der Strafverfolgung und Gefahrenabwehr. F mochte zunachst in Erfahrung bringen, ob das zutrifft, u m dann ggf. die RechtmaBigkeit dieser Ausschreibung ilberpriifen lassen. F steht gem. Art. 109 I S D U grundsatzlich ein Auskunftsanspruch zu, dessen Inhalt sich nach d e m nationalen Recht d e s Vertragsstaates richtet, in dessen H o heitsgebiet das Auskunftsrecht beansprucht wird 7 2 . Nach Art. 110 S D U hat jeder das Recht, auf seine Person bezogenen unrichtige Daten berichtigen oder unrechtmafiig erhobene Daten loschen zu lassen. Falls zu seiner Person Daten im SIS gespeichert sind, hat F gem. Art. 114 II S D U einen Anspruch darauf, dass die gem. Art. 1 1 4 1 S D U eingerichteten nationalen Kontrollinstanzen die Rechtmafiigkeit der Datenspeicherung sowie deren Nutzung ilberpriifen. Erforderlichenfalls kann F von seiner in Art. 111 S D U niedergelegten Rechtsschutzgarantie Gebrauch machen. Art. I l l S D U gewahrt j e d e m das Recht, im Hoheitsgebiet jeder Vertragspartei eine Klage wegen einer seine Person betreffenden Ausschreibung insbesondere auf Berichtigung, Loschung, Auskunftserteilung oder Schadenersatz vor dem nach nationalem Recht zustandigen Gericht oder der zustandigen Behorde zu erheben.
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GlefilLuke, J U R A 2000, 400, 404; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 164. Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 155. Zu den Einschrankungen gem. Art. 109 II SDU vgl. GlefilLuke, JURA 2000, 400, 404, dort Fn. 47.
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III. Die dritte Saule der EU 1. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) Erst mit dem Abschluss des am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag 56 von Maastricht wurden in der seither bestehenden dritten Saule der EU gemeinsame Strukturen fur eine staatentibergreifende Zusammenarbeit in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse geschaffen, ohne dass jedoch die Schengener Vertrage in das institutionelle System der EU integriert worden waren. Durch die Uberfuhrung der Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) in den Rahmen des EUV wurde das Procedere fur eine Zusammenarbeit aller EUMitgliedstaaten sowie die Art der moglichen MaBnahmen abschlieBend festgelegt73. Die Eingliederung der ZBJI in den EUV rechtfertigte sich vorrangig aus der zunehmend grenzuberschreitenden Dimension vieler innen- und justizpolitischer Problemfelder. Zu den in Art. K. 1 EUV (in der Fassung des Maastrichter Vertrages) aufgefuhrten neun Politikbereichen, die von den Mitgliedstaaten als ,,Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse" angesehen wurden, gehorte nunmehr die justizielle Zusammenarbeit in Straf- und Zivilsachen, die Kooperation im Zollwesen sowie die polizeiliche Zusammenarbeit zur Verhiltung und Bekampfung schwerer Formen der internationalen Kriminalitat wie Terrorismus und Drogenhandel. Als Ziel der ZBJI wurde ausdriicklich auch der Aufbau eines unionsweiten Systems zum Austausch von Informationen im Rahmen eines Europaischen Polizeiamtes (Europol) genannt. Der Maastrichter Vertrag hat aber im Wesentlichen nur den Status quo der bis zu diesem Zeitpunkt volker- und europarechtlich nicht geregelten, jedoch in Gestalt einer Vielzahl von Arbeitsgruppen praktizierten intergouvernementalen Zusammenarbeit auf eine volkervertragsrechtliche Grundlage gestellt und damit von einer informellen in eine institutionalisierte Kooperationsform uberfuhrt74. Die TREVI-Arbeitsgruppen (Rn. 26 f.) sind nach Inkrafttreten des EUV formell im ,,Rat fur Inneres und Justiz" aufgegangen. Zur Koordinierung des mitgliedstaatlichen Vorgehens im Bereich der ZBJI 57 stellte der EUV folgende Instrumentarien zur Verfugung: - Unterrichtung und Konsultation der Mitgliedstaaten untereinander, - Gemeinsame Standpunkte, die im wesentlichen darauf abzielen, innerstaatliche Rechtsvorschriften oder Verwaltungspraktiken an gemeinsamen MaBstaben auszurichten, - Gemeinsame MaBnahmen, die das gemeinsame Vorgehen der zustandigen mitgliedstaatlichen Behorden betreffen, - Ubereinkommen, die der Rat den Mitgliedstaaten zur Annahme empfehlen kann. Die Ubereinkommen haben sich im Hinblick auf das Ratifikationserforderais als 58 schwerfalliges Instrument erwiesen. Von den auf der Basis des Maastrichter Ver73 74
Vgl. hierzu Fischer, EuZW 1994, 747 ff. Vgl. hierzu Glefi, EuR 1998, 748, 749; Nelles, ZStW 109 (1997), S. 727, 734.
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trages getroffenen Konventionen sind bisher lediglich das Europol-Ubereinkommen (Rn. 61) und - nach siebenjahriger Ratifikationsphase in den Mitgliedstaaten - am 17. Oktober 2002 das Ubereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (PIF)75 nebst erstem Zusatzprotokoll76 betreffend Bestechung und Bestechlichkeit sowie einem weiteren Protokoll77, das die Zustandigkeit des EuGH fur die Auslegung der PIF-Konvention festlegt (§ 14 Rn. 23 ff.), in Kraft getreten78.
2. European Drug Unit (EDU) 59 Der Europaische Rat von Luxemburg hatte schon im Jahre 1991 beschlossen, einen Bericht tiber Moglichkeiten zur Einrichtung eines Europaischen Polizeiamtes zu erstellen. Daraufhin wurde aus der Arbeitsgruppe TREVI III (Schwerpunkt Bekampfung der Drogenkriminalitat) die ,,Ad-hoc-Gruppe-Europol" gebildet, welche die Eckpunkte fur die Errichtung eines solchen Amtes erarbeitete. Schon bald war abzusehen, dass dieses Projekt unter dem Dach der EU kurzfristig nicht zu realisieren sein, sondern eine langere Vorlaufzeit benotigen wilrde. Im Hinblick auf den von alien Mitgliedstaaten bejahten dringenden Handlungsbedarf zur Bekampfung der organisierten Drogenkriminalitat und der damit verbundenen Geldwasche beschlossen sie im Jahre 1993, zunachst eine vorlaufige Stelle einzurichten, die fur eine Ubergangszeit die fur Europol vorgesehene Aufgaben wahrnehmen sollte. Die Minister schlossen zu diesem Zweck am 2. Juni 1993 eine Vereinbarung, die am 10. Ma'rz 1995 als Gemeinsame MaBnahme im Rahmen der EU angenommen wurde79. Auf dieser Grundlage hat die European Drug Unit (EDU) am 20. Ma'rz 1995 in Den Haag ihre Arbeit aufgenommen80. 60 Zentrale Aufgabe der in der EDU zusammenwirkenden nationalen Verbindungsbeamten war es, die nationalen Ermittlungsbehorden durch den Austausch und die Analyse von Informationen (Lageberichte, Verbrechensanalysen) zu unterstutzen. Der Zusta'ndigkeitsbereich der EDU war nicht auf die Beka'mpfung der Drogenkriminalitat beschrankt. Nach einem Beschluss des Europaischen Rates aus dem Jahre 1994 wurde die Zustandigkeit auf die Bekampfung von illegalem Handel mit radioaktiven Materialien, Schleuserkriminalitat, Verschiebung von KfZ sowie der mit diesen Kriminalitatsfeldern zusammenhangenden Geldwasche ausgedehnt. Spa'ter wurden auch die Bekampfung des Menschenhandels81 sowie von 75 76 77 78
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AB1EG 1995 Nr. C 316, S. 49 (PIF=Protection des interets financiers). ABlEG1996Nr. C313, S. 2. AB1EG 1997 N r . C 191, S. 1. Eine Liste aller unter der Geltung des Maastrichter Vertrages verabschiedeten Ubereinkommen und Gemeinsamen MaBnahmen im Bereich der ZBJI findet sich bei WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 72. ABlEG1995Nr. L 62, S. 1. Vgl. hierzu GlefllLuke, JURA 1998, 70, 76; Glefi, NStZ 2001, 623; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 200 f. AB1EG 1996 Nr. L 342, S. 4.
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Straftaten im Zusammenhang mit terroristischen Handlungen82 und Geldfalschung83 in den Kompetenzkatalog aufgenommen. Von Anfang an war vorgesehen, dass die EDU in dem geplanten Europaischen Polizeiamt aufgehen sollte, sobald die Mitgliedstaaten ein solches einrichten.
3. Europol a) Organisatorische Strukturen und Kontrolle von Europol Durch das Europol-Ubereinkommen (EuropolU) v. 26. Juli 1995 wurde schlieB- 61 lich ein Europaisches Polizeiamt (,,Europol")84 als international Organisation mit Sitz in Den Haag errichtet. Nach Abschluss des mit Verzogerungen behafteten Ratifikationsverfahrens in alien Mitgliedstaaten hat Europol - als erste im Rahmen der dritten Saule geschaffene Institution - am 1. Juli 1999 seine Arbeit aufgenommen85. Gem. Art. 26 I des EuropolU ist Europol eine mit eigener Rechtspersonlichkeit ausgestattete Einrichtung der EU. Bei der Organisation waren im Jahr 2003 insgesamt rund 330 eigene Bedienstete sowie 60 von den nationalen Behorden abgeordnete Verbindungsbeamte tatig. Letztere nehmen die Interessen des Mitgliedstaates, der sie entsendet, im Einklang mit dem nationalen Recht dieses Mitgliedstaates und unter Einhaltung der fur den Betrieb von Europol geltenden Bestimmungen wahr. Ein Immunitatenprotokoll (IP)86 stellt die Mitglieder der Organe und das Personal von Europol von jeglicher Gerichtsbarkeit hinsichtlich der von ihnen in Ausilbung ihres Amtes vorgenommenen mundlichen und schriftlichen AuBerungen sowie Handlungen weitgehend frei (Art. 41 EuropolU iVm. Art. 8 I lit. a IP)87. Geleitet wird Europol von einem Direktor, der fur die laufende Verwaltung 62 zustandig ist und die Aufsicht uber die Europol-Bediensteten fuhrt. Grundsatzfragen werden von einem Verwaltungsrat, der sich aus einem Vertreter pro Mitgliedstaat zusammensetzt, entschieden. Europol besitzt einen eigenen Finanzkon82 83 84
ABlEG1999Nr. C 26, S. 22. ABlEG1999Nr. C 149, S. 16. Ubereinkommen aufgrund von Art. K.3 des Vertrages iiber die Europaische Union uber die Einrichtung eines Europaischen Polizeiamtes (Europol-Konvention); AB1EG 1995 Nr. C 316, S. 1, 2 ff. (BGB1. II 1997, S. 2154; Sartorius II Nr. 300); in Kraft getreten am 1. Oktober 1998. Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 190 ff.; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 229 ff; Glefi, NStZ 2001, 623 ff; dies., EuR 1998, 748 ff; Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 34; Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 98; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 209 ff; Tschanett, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 29. Kap. Rn. 43. AB1EG 1997 Nr. C 221, S. 1, 2 ff. (BGB1. II 1998, 975; Sartorius II Nr. 302). Vgl. hierzu Bose, EU-Kommentar, Art. 30 EUV Rn. 30 ff; Glefi, EuR 1998, 748, 751 ff; HolscheidtlSchotten, NJW 1999, 2851 ff; Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 53 f; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 232 ff; Petri, Europol, 2001, S. 28 ff; Streinz/Satzger, Art. 30 EUV Rn. 23 ff; ausfuhrlich Vofi, Europol - Polizei ohne Grenzen? - Strafrechtliche Immunitatenregelungen und Kontrolle von Europol, 2003, passim.
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trolleur, der die Bindung und die Zahlung der Ausgaben sowie die Feststellung und die Einziehung der Einnahmen ilberpriift. Jeder Mitgliedstaat benennt eine nationale Kontrollinstanz, die sicherstellen soil, dass die Ubermittlung der Daten von den Mitgliedstaaten an Europol und die datenverarbeitende Tatigkeit der abgeordneten nationalen Verbindungsbeamten rechtmaBig ist. Eine gemeinsame Kontrollinstanz, die sich aus Vertretern der nationalen Kontrollinstanzen zusammensetzt und ausdriicklich aus den Weisungsstrukturen der mitgliedstaatlichen Verwaltungsapparate herausgelost ist, uberpruft die Datenverarbeitung durch die Europol-Bediensteten (Rn. 67). Zu diesem Zweck hat sie u. a. das Recht, von Europol Auskunfte zu verlangen, Einsicht in alle Unterlagen und Akten sowie Zugriff auf alle dort gespeicherten Daten zu nehmen. Die gemeinsame Kontrollinstanz kann, wie auch die nationale Kontrollinstanz, auf Antrag einer Privatperson tatig werden88. 63 Der Europaische Rat hat sich - als zentrales Entscheidungsorgan der dritten Saule - wichtige Kontrollmoglichkeiten insoweit vorbehalten, als er iiber den Haushalt von Europol beschliefit, den Direktor mit einer Zweidrittelmehrheit ernennen und entlassen kann sowie das Procedere bei Streitigkeiten iiber die Aufhebung von Immunitaten festlegt. Die parlamentarische Kontrolle von Europol ist vergleichsweise schwach ausgepragt89. Der Europaische Rat muss das EP zu wichtigen Aspekten der Arbeit von Europol anhoren und dessen Auffassung hinreichend berucksichtigen. Jahrlich wird dem EP ein Sonderbericht ttber die Tatigkeit von Europol ubermittelt. Die justiziclle Kontrolle von Europol beschrankt sich auf die Auslegung oder Anwendung des EuropolU durch den EuGH im Wege der Vorabentscheidung nach MaBgabe des Art. 35 EUV90. Eine unmittelbare justizielle Uberprafung der Tatigkeit von Europol kann weder durch die europaische noch durch die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit erfolgen. Die aus rechtsstaatlicher Sicht hochst defizitare gerichtliche Kontrollmoglichkeit91 gibt dringend Anlass, iiber Losungsmodelle nachzudenken, wie in Zukunft die Einbindung von Europol in ein System justizieller Verantwortlichkeit gewahrleistet werden soil92. b) Aufgaben von Europol 64 Europol soil die Leistungsfahigkeit und die Zusammenarbeit der fur die Verhtitung und Bekampfung des Terrorismus, des illegalen Drogenhandels und sonstiger schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalitat zustandigen BehSrden Zur exekutivischen Kontrolle der Tatigkeit von Europol vgl. Glefi, EuR 1998, 748, 754 ff.; Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 41 f. Baldus, ZRP, 1999, 263 ff.; Glefi, EuR 1998, 748, 760 f.; Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 47 ff. Glefi, EuR 1998, 748, 761 ff; Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 52; Listen, in: Lisken/Denninger, Kap. K Rn. 229 ff. Vgl. hierzu die Kritik von v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 194 f.; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 100; Ostendorf, NJW 1997, 3418, 3420; Perron, ZStW 112 (2000), S. 202, 209 und Wolter, Kohlmann-FS, 2003, S. 693, 706 ff. Vgl. hierzu Glefi, NStZ 2001, 623, 625 ff; dies., ZStW 114 (2002), S. 636, 641 ff; GlefilGrotelHeine (Hrsg.), Justizielle Einbindung und Kontrolle von Europol, 2001, passim; Petri, Europol, 2001, S. 199 ff.
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der Mitgliedstaaten verbessern, sofern Anhaltspunkte fur eine kriminelle Organisationsstruktur vorliegen und von den genannten Kriminalitatsbereichen zwei oder mehr Mitgliedstaaten in einer Weise betroffen sind, die ein gemeinsames Vorgehen erfordert (Art. 2 EuropolU). Der Schwerpunkt seiner Tatigkeit liegt in der Sammlung und Analyse von Erkenntnissen (,,Intelligence-Arbeit") betreffend grenzuberschreitende Kriminalitat und in der Erteilung von Auskiinften an die Behorden der Mitgliedstaaten. Mit Hilfe von Europol sollen Spezialkenntnisse der nationalen Ermittlungsbehorden vertieft, Beratungen angeboten, strategische Erkenntnisse iibermittelt und Gesamtberichte tiber den Stand der Arbeit verfasst werden. Zur Erfullung seiner Aufgaben unterhalt Europol ein automatisiertes Informationssystem, in welches die Daten unmittelbar von den mitgliedstaatlichen Stellen eingegeben werden (Art. 7 EuropolU). Das Europol-Informationssystem geht iiber das SIS hinaus. Wahrend das SIS eine reine Fahndungsdatei ist (Rn. 50 ff.), enthalt das Europol-Informationssystem Daten zur Ermoglichung polizeilicher Recherche93. Neben nicht personenbezogenen Daten konnen in dem Informationssystem auch personenbezogene Daten (gem. Art. 8 EuropolU Informationen iiber Personen, die einer Straftat im Zustandigkeitsbereich von Europol verdachtig sind, wegen einer solchen Tat verurteilt sind oder bei denen die Gefahr der Begehung einer solchen Straftat besteht) gespeichert werden. Europol hat fur jede automatisierte Datei mit personenbezogenen Daten die Zustimmung des Verwaltungsrates zu der Errichtungsanordnung einzuholen. Unmittelbaren Zugriff auf die dort gespeicherten Daten haben nur die nationalen Stellen, die Verbindungsbeamten, der Direktor und die stellvertretenden Direktoren sowie die dazu ordnungsgemaB ermachtigten Europol-Bediensteten (Art. 9 EuropolU). Personenbezogene Daten, die aus dem Informationssystem abgerufen werden, durfen von den zustandigen Behorden der Mitgliedstaaten nur dazu iibermittelt oder genutzt werden, die in den Zustandigkeitsbereich von Europol fallenden Kriminalitatsbereiche zu verhuten und zu bekampfen. Der Europol-Zustandigkeitskatalog (Art. 2 EuropolU) umfasst namentlich 65 folgende Kriminalitatsbereiche94: -
Verhtitung und Bekampfung des Terrorismus, Bekampfung des illegalen Drogenhandels, Bekampfung des Menschenhandels, Bekampfung von Schleuserorganisationen, Bekampfung des illegalen Handels mit spaltbarem Material, Bekampfung des illegalen Kraftfahrzeughandels, Bekampfung der Falschung des Euro, Bekampfung der Geldwasche im Zusammenhang mit der internationalen organisierten Kriminalitat, Vgl. hierzu Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 20; Manske, Kriminalistik 2001, 105; Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 222 ff.; Petri, Europol, 2001, S. 52 ff.; Sinn, Europaische Gemeinschaften, S. 331 ff. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 231 m. w. N. und Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 210 ff.
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- Bekampfung bestimmter schwerwiegender Formen der internationalen Kriminalitat (z. B. Straftaten gegen das Leben und die korperliche Unversehrtheit, gegen das Vermogen und gegen die Umwelt). 66 Europol besitzt derzeit (noch) keine Exekutiv- oder Ermittlungsbefugnisse, vermag jedoch durch den Zusammenfluss von Daten Synergieeffekte zu erzielen, durch welche die nationale Ermitthingstatigkeit nachhaltig unterstiitzt werden kann. Faktisch ist Europol bereits seit langerem und haufig an operativen Einsatzen nationaler Polizei- und Zolldienststellen beteiligt, ohne dabei selbst eigenverantwortlich aktiv zu werden95. Als Beispiele aus der Praxis sind (nach dem Europol-Jahresreport 2000) zu nennen: die Koordinierung kontrollierter Lieferungen (polizeilich uberwachte Drogengeschafte) quer durch Europa, die unterstutzende Einbindung in Taskforces der Ostseeanrainerstaaten gegen grenzliberschreitende Schwarzgeldbewegungen und KfZ-Verschiebungen, die Aufdeckung und Unterstiitzung bei der Zerschlagung eines kriminellen Schleusernetzes von Afrika nach Schweden (Operation Tiger 1999) bzw. eines zwischen Litauen, Polen und Danemark agierenden Menschenhandlerrings (Operation Lagos 2000). Die Rolle von Europol soil gemaB der in Art. 30 II lit. a -d EUV normierten Zielvorgaben innerhalb von funf Jahren nach Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam erweitert und intensiviert werden96. Hierzu gehort u. a. die Teilnahme von Europolvertretern an operativen Aktionen im Rahmen gemeinsamer Teams. Langerfristig ist als weiterer Schritt in Betracht zu ziehen, dass Europol umfassendere, selbstandige Ermittlungsbefugnisse eingeraumt werden97. In dem Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa ist vorgesehen, dass Europol kiinftig ,,operative MaBnahmen" ergreifen darf, allerdings nur in Verbindung und in Absprache mit den Behorden der Mitgliedstaaten oder im Rahmen gemeinsamer Ermittlungsgruppen (Art. III-276 II b EU-Verfassung). c) Datenschutz 67 Da das Schwergewicht der Tatigkeit von Europol in der ,,Intelligence-Arbeit", d. h. in der Sammlung, Speicherung, Ubermittlung und analytisch-systematischen Auswertung von Daten liegt, kommt dem Datenschutz besondere Bedeutung zu. Art. 15 1 EuropolU geht grundsatzlich von einer zweigeteilten - nationalen und europaischen — Datenschutzkonzeption aus. Auf die von einem Mitgliedstaat eingegeben Daten findet nationales Datenschutzrecht Anwendung (z. B. das BDSG98). Auf die von Europol eingegebenen, verarbeiteten oder ubermittelten Daten sind zum einen die speziellen datenschutzrechtlichen Bestimmungen des EuropolU, z. B. Art. 8 II, 10 EuropolU, zum anderen die Regelungen des Europaratsubereinkommens iiber den Schutz des Menschen bei der automatischen Verar-
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v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 193; Storbeck, DRiZ 2000, 481, 485 f. Vgl. hierzu Heine, FS f. Trechsel, 2002, S. 237, 240 ff.; Jour-Schroder, eben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 55 ff. Perron, ZStW 112 (2000), S. 202, 208. Bundesdatenschutzgesetz v. 22. Mai 2001; BGB1.1 2001, 904.
in: v. d. Gro-
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beitung personenbezogener Daten v. 28. Januar 1981" anzuwenden (Art. 14 III EuropolU). Uber Beschwerden Einzelner gegen nicht stattgegebene Antrage auf Auskunft, Berichtigung und Loschung von Daten entscheidet die gemeinsame Kontrollinstanz (Rn. 62) als Rechtsaufsichtsbehorde (Art. 24 VII S. 5 EuropolU). Eine gerichtliche Uberpriifung ihrer Entscheidung ist ausgeschlossen. Ob dieser eingeschrankte Rechtsschutz gegen Europol mit den Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts noch in Einklang steht, erscheint zweifelhaft100.
4. Europaisches Justizielles Netz (EJN) Ein wichtiger Schritt zur Erleichterung der justiziellen Zusammenarbeit im Rah- 68 men der ZBJI war die Einrichtung eines Europaischen Justiziellen Netzes (EJN) auf der Grundlage einer Gemeinsamen MaBnahme des Europaischen Rates v. 29. Juni 1998, die am 7. August 1998 in Kraft getreten ist101. Das EJN soil als aktiver Vermittler fur die Herstellung moglichst zweckdienlicher Direktkontakte bei der justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in Fallen schwerer Kriminalitat fungieren. Dariiber hinaus sollen Informationen uber die ortlich zustandigen Justizbehorden vorgehalten werden, um die Vorbereitung von Kooperationsersuchen moglichst effizient zu gestalten102. Zu diesem Zweck richtet das EJN ein Telekommunikationsnetz ein, welches eine unkomplizierte Kommunikation und den Informationsaustausch der nationalen Kontaktstellen ermoglicht. Bei den mitgliedstaatlichen Kontaktstellen sind Verbindungsrichter bzw. Verbindungsstaatsanwalte als Vertreter der nationalen Strafverfolgungsbehorden mit besonderen Sprachkenntnissen tatig. In Deutschland sind diese Kontaktstellen bei den Generalstaatsanwaltschaften und beim Generalbundesanwalt angesiedelt. Aufgrund des Informationsaustausches haben die Kontaktstellen standig Zugang zu folgenden Informationen: - vollstandige Angaben uber alle mitgliedstaatlichen Kontaktstellen und deren Zustandigkeit, - Liste der Justizbehorden und Verzeichnis der ortlichen Behorden jedes Mitgliedstaates, - kurz gefasste Informationen ilber das Gerichtswesen und die Verfahrenspraxis in den Mitgliedstaaten, - Texte der einschlagigen Rechtsinstrumente.
ETS Nr. 108; BGB1. II 1985, 538 (in Deutschland in Kraft getreten am 1. Oktober 1985; BGB1. II 1985, 1134). Ca\lies/Ruffert/Brechmann, Art. 30 EUV Rn. 21; a. A. Frowein/Krisch, JZ 1998, 589. Gemeinsame MaBnahme (98/428/JI) v. 29. Juni 1998 zur Einrichtung eines Europaischen Justiziellen Netzes; AB1EG 1998 Nr. L 191, S. 4. Vgl. zur praktischen Bedeutung des EJN Nehm, DRiZ 2000, 355, 358 f. und Tschanett, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 29. Kap., Rn. 44.
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5. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 69 Mit dem am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam wurden die Grundlagen fur das neue Unionsziel der Schaffung eines ,,Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" festgelegt (vgl. Art. 29 EUV)103. Mehrere Bereiche der bis dahin in der dritten Saule der EU verankerten zwischenstaatlichen Zusammenarbeit, wie die Sicherung der Binnen- und AuBengrenzen, Visumund Asylpolitik, Einwanderung und justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen wurden ,,vergemeinschaftet" und in die erste Saule der EU-Kooperation uberfuhrt. Die ZBJI wurde durch den Vertrag von Amsterdam umstrukturiert und nunmehr als Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) in die neuen Art. 2 9 ^ 2 EUV eingeftigt. Die PJZS prazisiert und erweitert die seit Maastricht praktizierte polizeiliche und justizielle Kooperation der Mitgliedstaaten und hebt diese auf eine hohere Integrationsstufe. Der Ausbau der Zusammenarbeit bei der Kriminalitatsbekampfung durch polizeiliche und strafVerfahrensrechtliche MaBnahmen (vgl. § 12 Rn. 4 ff.) wird erganzt durch Schaffung gemeinsamer materiellrechtlicher Mindeststandards (vgl. § 11 Rn. 2 ff.)104. 70 Als vordringliche Bereiche der PJZS, in denen die EU ein ,,gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten" (Art. 29 EUV) entwickeln will, werden zum einen der strafrechtliche Schutz der finanziellen Interessen der EG und zum anderen die Verhiitung und Bekampfung transnationaler Kriminalitat wie Terrorismus, Menschenhandel, Straftaten gegenuber Kindern, illegaler Drogen- und Waffenhandel, Korruption, Geldwasche und sonstige Erscheinungsformen schwerer organisierter und nichtorganisierter Kriminalitat angesehen105. Allerdings milssen die Mitgliedstaaten beachten, dass der EUV vom Primat des Gemeinschaftsrechts vor der PJZS ausgeht. Aufgrund des Vorbehalts in Art. 29, 47 EUV sind Rechtsakte des Rates (z. B. die Annahme eines Rahmenbeschlusses), die in die Harmonisierungskompetenz der EG eingreifen, untersagt106. Dadurch soil verhindert werden, dass der in der ersten Saule erreichte Integrations stand und die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch eine etwaige Ruckverlagerung von Gemeinschaftskompetenzen in die intergouvernemental gepragte PJZS ausgehohlt wird. 71 Eine wesentliche Errungenschaft des Amsterdamer Vertrages ist die Einbeziehung des ,,Schengen-Acquis" (Besitzstandes)107 in den Rahmen der EuroVgl. zur Bedeutung der Einzelelemente des neuen Unionsziels Bose, EU-Kommentar, Art. 29 Rn. 3 ff.; WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 30 m. w. N.; vgl. aber auch die kritischen Thesen zu Art. 29-35 EUV von Wolter, in Kohlmann-FS, S. 693, 701 ff. Vgl. hierzu WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 18 ff. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 226; WasmeierlJourSchroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 32 ff. WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 49 ff.; Art. 29 Rn 52 f. Der Schengen-Besitzstand wird konstituiert durch die Schengener Abkommen v. 14. Juni 1985 (Schengen I) und v. 19. Juni 1990 (SDU), die spateren Beitrittsprotokol-
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paischen Union108. Somit findet seit dem 1. Mai 1999 die Zusammenarbeit zwischen den Schengener Vertragsparteien im institutionellen und juristischen Rahmen der dritten Saule des EUV statt109. Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten erfolgt nach den folgenden, in Art. 34 EUV enumerativ aufgeftlhrten, gegenliber der frilheren ZBJI erweiterten Handlungsformen des Rates: - gegenseitige Unterrichtung und Konsultation im Rat (Art. 34 I EUV), - einstimmige Annahme gemeinsamer Standpunkte, durch die das Vorgehen der EU in einer gegebenen Frage bestimmt wird (Art. 34 II lit. a EUV), - einstimmige Annahme von Rahmenbeschliissen zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten. Diese sind fur die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich, ilberlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel (da sie nicht unmittelbar wirksam sind, bedtlrfen sie der Umsetzung in nationales Recht), - einstimmige Annahme von Beschliissen fur jeden anderen Zweck, der mit den Zielen dieses Titels (PJZS) in Einklang steht, mit Ausnahme von MaBnahmen zur Rechtsangleichung. Die Beschliisse sind verbindlich und nicht unmittelbar wirksam. Der Rat nimmt mit qualifizierter Mehrheit (vgl. Art. 34 III EUV i.V.m. Art. 205 II EGV) MaBnahmen an, die zur Durchfuhrung dieser Beschliisse auf Unionsebene erforderlich sind (Art. 34 II lit. c EUV), - einstimmige Erstellung von Ubereinkommen, die der Rat den Mitgliedstaaten zur Annahme gemaB ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften empfiehlt. Sofern in den Ubereinkommen nichts anderes vorgesehen ist, treten sie, sobald sie von mindestens der Halfte der Mitgliedstaaten angenommen wurden, fur diese Mitgliedstaaten in Kraft. MaBnahmen zur Durchfuhrung der Ubereinkommen werden im Rat mit der Mehrheit von zwei Dritteln der Vertragsparteien angenommen (Art. 34 II lit. d EUV). Nach Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages hat der Rat auf der Basis der in 72 Art. 34 EUV vorgesehenen Instrumentarien eine Vielzahl strafrechtsrelevanter MaBnahmen erlassen, darunter Rechtsakte zur Bekampfung von Terrorismus, Geldfalschung, Geldwasche, Menschenhandel, Schleuserkriminalitat, Kinderpronographie und Umweltkriminalitat sowie ilber den Europaischen Haftbefehl und die Bildung gemeinsamer Ermittlungsgruppen (vgl. hierzu § 11 und § 12)110.
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le und -ubereinkommen weiterer EG-Mitgliedstaten hierzu, die Beschlusse und Erklarungen des aufgrund des SDU eingesetzten Exekutivausschusse sowie die Rechtsakte zur Durchfuhrung des Ubereinkommens. Vgl. hierzu das Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europaischen Union (AB1EG 1997 Nr. C 340, S. 93). WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 35 ff. Eine Liste aller unter der Geltung des Amsterdamer Vertrages verabschiedeten Rechtsakte im Bereich der PJZS findet sich bei WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 29 bis 42 EUV Rn. 74.
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6. Eurojust a) Organisatorische Strukturen von Eurojust 73 Zur Verstarkung der Bekampfung schwerer organisierter Kriminalitat haben die Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Sondergipfel in Tampere (Finnland) im Oktober 1999 die Einrichtung einer zentralen, standigen Auskunfts-, Dokumentations- und Clearingstelle (Eurojust) als justizielles Pendant zu Europol beschlossen. Mit Beschluss des Rates vom 14. Dezember 2000 wurde zunachst eine vorlaufige Stelle zur justiziellen Zusammenarbeit eingerichtet (Pro-Eurojust), die am 1. Marz 2001 ihre Arbeit in Brilssel aufgenommen hat111. Die Einrichtung von Eurojust wurde im Vertrag von Nizza fbrmlich verankert (Art. 29 II, 31 lit. a, II EUV)112. 74 Seit dem 28. Februar 2002 wird die grenzilberschreitende justizielle Kooperation durch die mit Ratsbeschluss vom gleichen Tage errichtete Koordinierungsstelle Eurojust113 mit Sitz in Den Haag verstarkt, deren Aufgabe vor allem darin besteht, juristische Informationen zwischen den Strafverfolgungsbehorden der Mitgliedstaaten auszutauschen sowie transnationale Ermittlungsverfahren zu koordinieren und zu untersttitzen114. Eurojust ist eine mit eigener Rechtspersonlichkeit ausgestattete Einrichtung der EU (Art. 1 Eurojust-Ratsbeschluss). Jeder Mitgliedstaat entsendet einen nationalen Richter, Staatsanwalt oder Polizeibeamten an die Dienststelle von Eurojust. Der dienstrechtliche Status der Eurojust-Mitglieder richtet sich nach dem nationalen Recht ihres Entsendestaates, der zugleich die Dauer ihres Mandats sowie Art und Tragweite ihrer justiziellen Befugnisse festlegt. Die internen Zustandigkeiten und Arbeitsablaufe von Eurojust werden in einer vom Kollegium (Gesamtheit der nationalen Mitglieder) einstimmig angenommenen Geschaftsordnung konkretisiert, die vom Rat gebilligt werden muss. b) Aufgaben von Eurojust 75 Eurojust soil - gesttitzt auf Europol-Analysen und in enger Zusammenarbeit mit dem EJN - eine zweckdienliche und effektive Zusammenarbeit der nationalen Strafverfolgungsbehorden ermoglichen, die strafrechtlichen Ermittlungen in Fallen transnationaler Kriminalitat erleichtern und die Erledigung von Rechtshilfeersuchen vereinfachen. Der Zustandigkeitsbereich von Eurojust erstreckt sich nach Art. 4 I Eurojust-Ratsbeschluss auf alle Kriminalitatsformen, die nach Art. 2 des Vgl. hierzu Schomburg, DRiZ 2000, 341, 343 f.; Schulte-NoverlMahnken, StV 2001, 541 f. ABlEG2001Nr. C 80, S. 1 Beschluss 2002/187/JI des Rates v. 28. Februar 2002 iiber die Errichtung von Eurojust zur Verstarkung der Bekampfung der schweren Kriminalitat (AB1EG 2002 Nr. L 63, S. 1 ff.). In Deutschland wurde der Beschluss umgesetzt durch das Eurojust-Gesetz i. d. F. d. Bek. v. 12. Mai 2003 (BGB1.1 2004, 902). Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 204 ff.; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 235; Dieckmann, NStZ 2001, 617, 620; Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 30 EUV Rn. 21; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 100.3; Schomburg, NJW 2002, 1629 ff., Tschanett, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 29. Kap. Rn. 46 f.
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EuropolU v. 26. Juli 1995 zum jeweiligen Zeitpunkt in die Zustandigkeit von Europol fallen. Ferner umfasst der Zustandigkeitskatalog: Computerkriminalitat, Betrug und Korraption, alle Straftaten, die die fmanziellen Interessen der EG beriihren, das Waschen von Ertragen aus Straftaten, Umweltkriminalitat, Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung sowie Straftaten, die im Zusammenhang mit den aufgefuhrten Kriminalitatsformen und Straftaten begangen worden sind. Auf Antrag einer zustandigen Behorde eines Mitgliedstaats kann Eurojust auch bei anderen als den oben genannten Arten von Straftaten erganzend Unterstutzung leisten (Art. 4 II Eurojust-Ratsbeschluss). Der Errichtungsakt (Art. 3 Eurojust-Ratsbeschluss) sieht vor, dass Eurojust im 76 Rahmen von staateniibergreifenden Ermittlungen bzw. StrafverfolgungsmaBnahmen im Bereich der schweren und organisierten Kriminalitat folgende Aufgaben wahrnehmen soil: - Forderung der Koordinierung der in den Mitgliedstaaten laufenden Ermittlungen und StrafverfolgungsmaBnahmen zwischen den zustandigen nationalen Behorden, - Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den zustandigen nationalen Behorden der Mitgliedstaaten, insbesondere durch die Erleichterung der internationalen Rechtshilfe und die Erledigung von Auslieferungsersuchen, - Gewahrleistung jedweder anderen Unterstutzung der zustandigen Behorden der Mitgliedstaaten mit dem Ziel, die Wirksamkeit ihrer Ermittlungen und StrafverfolgungsmaBnahmen zu erhohen, - auf Antrag einer zustandigen Behorde eines Mitgliedstaates auch Ermittlungen und StrafverfolgungsmaBnahmen zu unterstiitzen, die allein diesen Mitgliedstaat und einen Drittstaat betreffen, sofern mit diesem Drittstaat bereits eine Vereinbarung ilber eine Zusammenarbeit geschlossen worden ist oder im Einzelfall ein wesentliches Interesse an der Unterstutzung besteht. Eurojust erledigt seine Aufgaben durch eines oder mehrere seiner nationalen Mit- 77 glieder oder als Kollegium115. Von welcher Handlungsform jeweils Gebrauch zu machen ist, regeln mehrere Artikel des Errichtungsaktes (Art. 5 I lit. a i.V.m. Art. 6 bzw. Art. 5 I lit. b i. V. m. Art. 7 Eurojust-Ratsbeschluss). Die Mitglieder sind befugt, mit den zustandigen Behorden ihres Entsendestaates in direkten Kontakt zu treten. Eurojust kann z. B. bei den zustandigen Behorden eines Mitgliedstaates anregen, zur Aufklarung eines strafrechtlich relevanten Sachverhaltes bestimmte Ermittlungen zu fuhren, die Strafverfolgung aufzunehmen bzw. der Ubernahme der erforderlichen Ermittlungen oder Strafverfolgung durch einen anderen Mitgliedstaat zuzustimmen. Die Einrichtung unterstiitzt die Koordination mitgliedstaatlicher ErmittlungsmaBnahmen, hilft bei der Bildung gemeinsamer Ermittlungsteams nach MaBgabe der einschlagigen Kooperationsubereinkiinfte, iibermittelt Rechtshilfeersuchen und sorgt fur den Austausch aller Informationen, die fur eine optimale Aufgabenerfullung zweckdienlich erscheinen. Die nationalen Mitglieder sorgen fur die wechselseitige Unterrichtung der zustandigen Behorden der Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 208 ff.
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Mitgliedstaaten iiber die Ermittlungen und StrafverfolgungsmaBnahmen, von denen Eurojust Kenntnis hat und die die Mitgliedstaaten betreffen. 78 Mittelfristig sollte sich Eurojust vor allem auch zu einer justiziellen Kontrollstelle fur Datensammlungen durch Europol und andere europaische Einrichtungen entwickeln116. Zum Teil wird Eurojust als mogliche Keimzelle fur eine zukunftige Europaische Staatsanwaltschaft betrachtet117, die freilich nur im Wege einer Vertragsanderung geschaffen werden konnte. Der Vertrag uber eine Verfassung fur Euro pa enthalt in Art. III-274 I EU-Verfassung eine Rechtsgrundlage, die dem Ministerrat die Befugnis verleiht, durch einstimmigen Beschluss nach Zustimmung des EP ,,ausgehend von Eurojust" eine Europaische Staatsanwaltschaft einzusetzen. Diese soil aber lediglich fiir die ,,Bekampfung von Straftaten zum Nachteil der Interessen der Union" zustandig sein118.
D. Bilaterale Zusammenarbeit mit Drittstaaten am Beispiel des deutsch-schweizerischen Polizeivertrags 79 Zu dem europaischen Netzwerk, in das die EU-Mitgliedstaaten im Bereich der grenziiberschreitenden Strafverfolgung eingebunden ist, gehoren nicht zuletzt bilaterale Kooperationsformen mit Nicht-EU-Staaten (Drittstaaten)119. Exemplarisch hierfur steht der im Folgenden naher zu betrachtende deutsch-schweizerische Polizeivertrag120, der am 1. Marz 2002 in Kraft getreten ist.
I. Motive und Ziele des Polizeivertrages 80 Schon aufgrund ihrer gemeinsamen Grenzen haben beide Nachbarstaaten ein ubereinstimmendes Interesse daran, dass die polizeiliche und justizielle Zusammen116
Vgl. hierzu Schomburg, Kriminalistik 2000, 13, 18 f. und Wolter, Kohlmann-FS, S. 693, 710 ff. 117 So die deutsche Bundesregierung; vgl. BT-Drs. 14/4991, S. 32, 43. 118 Krit. hierzu Wuermeling, EuR 216, 226 f. Im ursprilnglich vorgelegten Verfassungsentwurf war noch eine weitergehende Zustandigkeit der Europaischen Staatsanwaltschaft (ES) fur ,,schwere Kriminalitat mit grenziiberschreitender Dimension" vorgesehen (Art. III-175 I EU-Verfassung a. F.). Die EU-Verfassung schlieBt jedoch gem. Art. III-274 IV eine kilnftige Ausdehnung des Zustandigkeitsbereiches der ES nicht aus. 119 Vgl. hierzu Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 74 ff.; Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. I l l ff. 120 Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft uber die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit v. 27. April 1999 (BGB1. II 2001, 946). Der Polizeivertrag wird erganzt durch zwei bilaterale Vertrage v. 8. Juli 1999 betreffend Rechtshilfe und Auslieferung. Mit Osterreich und dem Fiirstentum Liechtenstein hat die Schweiz im Wesentlichen gleiche bilaterale Abkommen geschlossen.
D. Zusammenarbeit am Beispiel des deutsch-schweizerischen Polizeivertrags
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arbeit einschliefllich der Rechtsverhaltnisse bei Amtshandlungen im Nachbarstaat sowie der polizeiliche Informations- und Datenaustausch auf eine klare rechtliche Grandlage gestellt werden. Im Verhaltnis zu den Schengen-Staaten ist die Schweiz ein Drittstaat, demgegeniiber einerseits die (Aufien)-Grenzkontrollen verscharft werden milssen, der aber andererseits in die ,,schengeninterne" grenziiberschreitende Kooperation nicht mit einbezogen ist. Da die Teilnahme an den Schengener Vertragen grundsatzlich den EU-Mitgliedstaaten vorbehalten ist, kann die deutsch-schweizerische Kooperation auf dem Gebiet der Strafverfolgung nur auf einer bilateralen volkerrechtlichen Grundlage erfolgen. Das SDU diente dem deutsch-schweizerischen Polizeivertrag dabei als Modell und Richtschnur. Entsprechend den gegenseitigen Bedurfnissen wurden aber auch besondere - vom SDU abweichende - Vereinbarungen getroffen121. In der Praambel des Vertrags wird zunachst ein Bezug hergestellt zu den im 81 Memorandum of Understanding (MoU) v. 11. Dezember 1997 auf der Grundlage des bestehenden Rechts vereinbarten Zielen und Mafinahmen der Zusammenarbeit in den Grenzgebieten. Als politische Absichtserklarung hat das MoU freilich keine selbststandige rechtliche Bedeutung. Der zweite Absatz der Praambel legt das Schwergewicht auf die kontinuierliche Fortentwicklung der Zusammenarbeit. Mit der Hervorhebung des polizeilichen Informationsaustausches wird dessen besondere Bedeutung zusatzlich unterstrichen.
II. Wesentlicher Inhalt des Polizeivertrages 1. Uberblick In Kapitel I wird unter dem Titel ,,Abstimmung in grundsatzlichen Sicherheits- 82 fragen" eine ilber den Einzelfallbereich hinausgehende strategische Komponente eingefugt. Kapitel II regelt die allgemeine Zusammenarbeit der Polizeibehorden unter Einschluss des Austausches von Daten und sonstigen Informationen, der Zustellung von gerichtlichen und anderen behordlichen Schriftstilcken sowie der Aus- und Fortbildung. Besondere Formen der Zusammenarbeit werden in Kapitel III des Polizeivertrags eingehend normiert, namentlich Observation, verdeckte Ermittlung und kontrollierte Lieferung, welche sowohl ausschlieBlich auf dem Gebiet eines Vertragsstaates als auch grenzilberschreitend durchgeftlhrt werden konnen, sowie die Nacheile, die definitionsgemaB nur grenzuberschreitend moglich ist. Der Vertrag versteht unter: - Observation: eine langer andauernde heimliche Beobachtung von Personen durch Polizeibehorden, wobei ein Kontakt zwischen der observierten Person und dem observierenden Beamten grundsatzlich nicht beabsichtigt ist, - verdeckter Ermittlung: der Einsatz von Beamten mit einer ihnen verliehenen veranderten Identitat im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens, 121
Vgl. hierzu Cremer, ZaoRV 2000, 103 ff. und Mokros, in: Lisken/Denninger, Kap. O Rn. 79 ff.
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- kontrollierter Lieferung: die heimliche polizeiliche Uberwachung des Transports einer bestimmten (illegalen) Ware mit dem Ziel, an die Empfanger dieser Lieferung oder sonstige Hintermanner zu gelangen, - Nacheile: die Fortsetzung der polizeilichen Verfolgung von Personen auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates. 83 Die bisherige grenzuberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit im Rahmen von Interpol (Rn. 3) umfasste nur den Austausch kriminalpolizeilicher Nachrichten. Das Fehlen operativer Kooperationsformen wurde aber von den Vertragsparteien oft als Mangel empfunden, da grenzilberschreitend begangene Delikte heute ohne solche Instrumente nicht mehr wirksam bekampft werden konnen. Mit den in Kapitel III enthaltenen Bestimmungen ist es gelungen, diese Defizite zu beheben. Die in dem Ubereinkommen vorgesehenen operativen Kooperationsformen weichen teilweise von den Regelungen des SDU ab. Dies erschien den Vertragsparteien geboten, um die neuen Instrumente moglichst optimal an die bilateralen Verhaltnisse anzupassen. So wurde beispielsweise angesichts der Kleinraumigkeit der Schweiz mit haufig wechselnden Kantonsgrenzen sowie im Interesse einer praktikablen und effizienten Verbrechensbekampfung in der Regel auf die raumlichen, zeitlichen und ortlichen Beschrankungen des SDU verzichtet. Insoweit geht der schweizerisch-deutsche Polizeivertrag also iiber die im SDU enthaltenen Regelungen grenzilberschreitender Kooperation hinaus. 84 Der Polizeivertrag geht davon aus, dass grundsatzlich eigene Beamte die Amtshandlungen in ihrem Hoheitsgebiet vornehmen sollen. Die Ubergabe der Observation oder die Ubernahme einer Nacheile an der Grenze soil demnach der Regelfall bleiben. Die Regelungen der Observation zur Strafverfolgung oder Strafvollstreckung (Art. 14) und zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (Art. 15), der Nacheile (Art. 16), der verdeckten Ermittlung zur Aufklarung von Straftaten (Art. 17) und zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (Art. 18) sowie der kontrollierten Lieferung (Art. 19) erlauben den zustandigen Polizei- und Zollbehorden jedoch, unter gewissen Voraussetzungen und in der Regel mit vorheriger Zustimmung der anderen Vertragspartei, auf deren Hoheitsgebiet tatig zu werden. 85 Als besondere Formen der Zusammenarbeit gelten ferner gemischte Streifen, gemischt besetzte Kontroll-, Observations- und Ermittlungsgruppen, Analyse- und sonstige Arbeitsgruppen (gemeinsame Einsatzformen) sowie grenzuberschreitende Fahndungsaktionen (Art. 20), der Austausch von Beamten ohne und mit Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse (Art. 21 und 22), die Zusammenarbeit in gemeinsamen Zentren (Art. 23), die Hilfeleistung bei GroBereignissen, Katastrophen und schweren Unglucksfallen (Art. 24) sowie der Einsatz von Luft- und Wasserfahrzeugen (Art. 25).
2. Observation (Art. 14,15) 86 Art. 14 regelt die grenzuberschreitende Fortsetzung einer Observation im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens oder mit dem Ziel der Sicherstellung der
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Strafvollstreckung. Als Vorbild diente Art. 40 SDU, welcher allerdings keine Observation zur Sicherstellung der Strafvollstreckung vorsieht. AuBerdem lasst das SDU eine grenzilberschreitende Observation ohne vorherige Zustimmung nur bei Vorliegen einer auslieferungsfahigen und in der abschlieBenden Liste von Art. 40 VII SDU enthaltenen Straftat zu. Da sich diese Liste nach den Erfahrungen der Schengener Staaten als wenig praktikabel erwiesen hat, wurde im vorliegenden Vertrag darauf verzichtet. Mit der Beschrankung auf auslieferungsfahige Straftaten wird eine grenzilberschreitende Observation bei Bagatelldelikten ausgeschlossen. Beispiel: Im Sinne des Polizeivertrages wird ein Ermittlungsverfahren nicht nur dadurch 87 gefordert, dass ein mutmaBlicher Straftater grenziiberschreitend observiert wird. Auch andere Personen kommen als Observationssubjekte in Betracht, wenn ihre Beobachtung der Aufklarung einer Straftat dient. Zu denken ist etwa an den Fall, dass ein Erpressungsopfer auf seinem Weg von Stuttgart nach St. Gallen (CH) bis zu dem Ort grenzuberschreitend observiert wird, wo nach der Forderung des Erpressers die Geldubergabe stattfinden soil122. Die Observation im Vorfeld einer Straftat ist im Rahmen der Schengener Ko- 88 operation nicht vorgesehen. Demgegeniiber gelangten die Vertragsparteien Deutschland und Schweiz zu der gemeinsamen Uberzeugung, dass in einem umfassenden Konzept der Sicherheitspartnerschaft im Interesse einer moglichst effizienten Kriminalitatsbekampfung auf die Moglichkeit der Observation im Vorfeld einer Straftat nicht verzichtet werden konne. Da eine solche praventivpolizeiliche Observation (Art. 15) im Vergleich zu Art. 14 friiher einsetzt, stellt der Vertrag weitere Zulassigkeitsvoraussetzungen auf: So kommen nur Straftaten von erheblicher Bedeutung in Betracht. Zu denken ist z. B. an Falle von Terrorismus, organisiertem Verbrechen, Entfiihrungen und anderen schwer wiegenden Delikten. Die Observation zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung ist ferner nur zulassig, soweit es das jeweilige innerstaatliche Recht zulasst. Kann ein Ersuchen nicht rechtzeitig gestellt werden oder sind die zustandigen Behorden des ersuchten Staats nicht in der Lage, die Observation rechtzeitig zu ilbernehmen, so erlaubt der Vertrag die grenzuberschreitende Fortsetzung der Observation. Die observierenden Beamten haben umgehend, in der Regel bereits vor Grenzubertritt, Kontakt mit der zustandigen Behorde des anderen Vertragsstaats aufzunehmen. Auch hier ist ein begriindetes Ersuchen nachzureichen, von dem die nationalen Zentralstellen zwingend eine Kopie erhalten mtissen. Wie in Art. 14 kann der ersuchte Staat jederzeit den Abbruch der Observation verlangen. Diese ist in jedem Fall einzustellen, wenn die Zustimmung nicht innerhalb von fiinf Stunden nach Grenzubertritt erfolgt. Auch hier sind Grenztibertritte auBerhalb zugelassener Grenziibergange und festgelegter Verkehrsstunden erlaubt. Die Observation zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung ist grundsatzlich auf die Grenzgebiete beschrankt. Nach Art. 14 III sind die observierenden Beamten an die Bestimmungen des 89 Rechts des Vertragsstaates gebunden, auf dessen Hoheitsgebiet sie auftreten. Es
Cremer, ZaoRV 2000, 103, 108.
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gelten fur sie auBerdem dieselben verkehrsrechtlichen Bestimmungen wie fur die Beamten dieses Vertragsstaates. Art. 14 Ziff. 9 gewahrt observierenden Beamten, die unter der Leitung des um Mitwirkung ersuchten Vertragsstaats tatig sind, ein Festhalterecht, wenn die observierte Person auf frischer Tat bei der Begehung von oder der Teilnahme an eirier im ersuchten Vertragsstaat auslieferungsfahigen Straftat betroffen oder wegen einer solchen Tat verfolgt wird. Diese Bestimmung geht ilber die Schengener Regelung hinaus (Verbot der Festnahme oder des Anhaltens in Art. 40 III lit. f SDU).
3. Nacheile (Art. 16) 90 Die Nacheile, welche definitionsgemaB grenzilberschreitend erfolgt, ist in Art. 16 geregelt. Nach Art. 16 I soil die Nacheile zum einen moglich sein, wenn jemand bei der Begehung oder Teilnahme an einer auslieferungsfahigen Straftat in flagranti erwischt wird, zum anderen, wenn eine Person aus der Haft (Untersuchungs- oder Strafhaft), der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, der Sicherungsverwahrung oder aus amtlichem Gewahrsam geflohen ist. Die Auslieferungsfahigkeit richtet sich auch hier nach dem Recht des ersuchten Staates. Die nacheilenden Beamten haben unverzuglich, in der Regel noch vor dem Grenzubertritt, die zustandige ortliche Behorde zu unterrichten. In der Praxis bedeutet dies, dass spatestens bei Grenzubertritt eine entsprechende Meldung zu erfolgen hat. Die Behorden des ersuchten Staates konnen die Verfolgung iibernehmen. Ist die Einholung einer Zustimmung auf Grand besonderer Dringlichkeit nicht moglich oder konnen die auslandischen Behorden die Verfolgung nicht rechtzeitig ubernehmen, darf die Nacheile auch ohne vorherige Zustimmung erfolgen. Der Vertragsstaat, auf dessen Gebiet die Verfolgung stattfindet, kann jederzeit die Einstellung verlangen. Er ist auf Ersuchen der nacheilenden Beamten jedoch gehalten, die verfolgte Person zwecks Identitatsfeststellung oder Festnahme zu ergreifen. Diese MaBnahme hat im Rahmen des nationalen Rechts zu erfolgen. 91
Nach Art. 16 II haben die nacheilenden Beamten ein Festhalterecht, sofern die ortlichen Behorden nicht rechtzeitig herangezogen werden konnen. Art. 16 III sieht vor, dass die Nacheile ohne raumliche und zeitliche Begrenzung ausgeilbt werden darf. Die Grenze darf auch auBerhalb zugelassener Grenziibergange und festgesetzter Verkehrsstunden uberschritten werden. Die nacheilenden Beamten haben sich vor der Riickkehr in ihren Herkunftsstaat bei den 6'rtlich zustandigen Behorden zu melden und sind verpflichtet, sich bis zur Klarung des Sachverhaltes vor Ort bereitzuhalten. Dies gilt auch, wenn die verfolgte Person nicht festgenommen werden konnte. Eine schriftliche Berichterstattung nach der Ruckkehr genilgt hier also nicht. 92 Art. 16 VII gestattet - iiber Art. 41 SDU hinausgehend - die Nacheile, wenn sich eine Person einer Grenzkontrolle oder einer polizeilichen Kontrolle zum Zwecke der Bekampfung der grenzilberschreitenden Kriminalitat oder der Fahndung nach Straftatern innerhalb eines Gebietes von 30 Kilometern entlang der Grenze entzieht (sog. Schleierfahndung). Es wird hier eine aus konkretem Anlass
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eingeleitete Fahndungs- oder Kontrollaktion vorausgesetzt, in deren Verlauf sich eine Person durch ihr Verhalten verdachtig macht. Beispiele: Deutsche oder Schweizer Polizeibeamte dtlrfen einem Tater, der sich nach einem 93 in ihrem Hoheitsgebiet verilbten Bankuberfall auf der Flucht in den Nachbarstaat befmdet, grenzuberschreitend nacheilen. Das gleiche gilt fur entflohene Strafgefangene oder in einer psychiatrischen Klinik Untergebrachte. Ferner ist die grenzuberschreitende Nacheile zur Verfolgung von Personen zulassig, die sich einer Grenzkontrolle durch Flucht entzogen haben123.
4. Verdeckte Ermittlungen (Art. 17, 18) In Art. 17 wird eine vor allem im Bereich des organisierten Verbrechens imrner 94 mehr an Bedeutung gewinnende polizeitaktische MaBnahme — verdeckte Ermittlungen zur Aufklarung von Straftaten - geregelt. Eine verdeckte Ermittlung liegt vor, wenn ein Beamter des ersuchenden Staates, dem eine veranderte Identitat verliehen worden ist, im ersuchten Staat tatig wird, um Informationen zu sammeln oder Kontakte zu bestimmten Personen herzustellen124. Auf Wunsch der Schweizer Delegation wurde hier ein strikter Vorbehalt des nationalen Rechts aufgenommen. Weil es sich um einen besonders sensiblen Bereich handelt, wurden zudem verschiedene Zulassigkeitsvoraussetzungen und Schranken eingebaut. So handelt es sich bei Art. 17 I nur um eine Kann-Bestimmung, die dem ersuchten Staat die Moglichkeit belasst, ein Ersuchen abzulehnen. Ferner wird das Vorliegen zureichender tatsachliche Anhaltspunkte dafur vorausgesetzt, dass eine rechtshilfefahige Straftat vorliegt, fur die nach dem jeweiligen innerstaatlichen Recht der Einsatz verdeckter Ermittler zugelassen ist. Des Weiteren muss die Aufklarung des Sachverhalts ohne die geplanten ErmittlungsmaBnahmen aussichtslos sein oder wesentlich erschwert werden. Art. 17 II verlangt weiter, dass Ermittlungen sich auf einzelne Einsatze be- 95 schranken, die zeitlich begrenzt sind. Der verdeckte Ermittler des auslandischen Staates untersteht der Leitung eines Beamten des ersuchten Staates, dessen Tatigkeit vom ersuchten Staat jederzeit beendigt werden kann. Die Handlungen des verdeckten Ermittlers sind dem einsatzfiihrenden Staat zuzurechnen. Nach Art. 17 III werden die Voraussetzungen und Bedingungen der Einsatze 96 und die Verwendung der Ermittlungsergebnisse vom ersuchten Staat nach seinem innerstaatlichen Recht festgelegt. Art. 17 IV verpflichtet den ersuchten Vertragsstaat zur Leistung notwendiger technischer und personeller Unterstutzung. Bei besonderer Dringlichkeit braucht nach Art. 17 V keine vorherige Zustimmung beantragt zu werden. Bedingung dafur ist allerdings, dass die rechtlichen Voraussetzungen fur den Einsatz verdeckter Ermittler im anderen Vertragsstaat vorliegen und andernfalls die Gefahr droht, dass die veranderte Identitat aufgedeckt wird. Das Tatigwerden des verdeckten Ermittlers hat sich in diesen Fallen auf das zur Aufrechterhaltung der Legende unumganglich notwendige MaB zu beschranken. 123 124
Cremer, ZaoRV 2000, 103, 107. Cremer, ZaoRV 2000, 103, 109 f.
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Auch hier ist der Einsatz der zustandigen Behorde unverziiglich mitzuteilen und ein nachtragliches, begriindetes Gesuch einzureichen (Art. 17 VI). Zudem ist die verdeckte Ermittlung gemass diesem Absatz auf das vertraglich definierte Grenzgebiet beschrankt. Art. 17 VII sieht eine Pflicht zur Unterrichtung des Einsatzstaates vor. Diese hat unverzuglich nach Abschluss des Einsatzes schriftlich zu erfolgen. Nach Art. 17 VIII konnen die Vertragsstaaten einander verdeckte Ermittler zur Verfugung stellen. Damit wird vor allem der Austausch von Beamten mit besonderem Fachwissen bezweckt. 97 Den Einsatz verdeckter Ermittlungen zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung regelt Art. 18. Wie die Observation zur Verhinderung von Straftaten von erheblicher Bedeutung (Art. 15) ist auch diese praventivpolizeiliche Variante der verdeckten Ermittlung an einschrankende Voraussetzungen geknupft. Nur auslieferungsfahige Straftaten von erheblicher Bedeutung rechtfertigen eine solche MaBnahme. AuBerdem ist eine verdeckte Ermittlung nur zulassig, wenn sie das jeweilige nationale Recht zum Zwecke der Prevention zulasst.
5. Kontrollierte Lieferungen (Art. 19) 98 Die Bestimmung des Art. 19 liber kontrollierte Lieferungen orientiert sich an Art. 73 SDU. Eine volkerrechtliche Verpflichtung, MaBnahmen zu treffen, welche die kontrollierte Lieferung auf internationaler Ebene ermoglichen, ist bereits in Art. 11 UN-SuchtstoffObK (Rn. 8) enthalten. Beide Bestimmungen regeln die kontrollierte Lieferung jedoch nur auf dem Gebiet der Betaubungsmitteldelikte. Im deutsch-schweizerischen Polizeivertrag wurde eine weiter gehende Regelung getroffen, da es insbesondere in den in Art. 19 I aufgezahlten Bereichen mit schwerwiegenden Straftaten (z. B. Waffen- und Sprengstoffdelikte, Falschgelddelikte, Diebstahl und Hehlerei, Geldwasche) oftmals nicht moglich ist, auf andere Weise an Hinterleute und Organisatoren oder - bei dem in der Praxis haufigsten Fall des Drogenschmuggels - an die GroBabnehmer heranzukommen. 99 Art. 19 I verlangt zwingend die Zustimmung des ersuchten Staates zu einer kontrollierten Lieferung. Diese wird nur dann gestattet, wenn nach Ansicht des ersuchenden Staates die Ermittlung von Hinterleuten und anderen Tatbeteiligten oder die Aufdeckung von Verteilerwegen ohne diese Operation aussichtslos erscheint oder wesentlich erschwert wiirde. Die Lieferung kann zur Kontrolle abgefangen und dabei die (illegale) Ware in ihrem ursprilnglichen Zustand belassen, entfernt oder durch eine Attrappe ersetzt werden. Die Zustimmung muss abgelehnt oder beschrankt werden, wenn von der Ware ein nicht vertretbares Risiko fur die am Transport beteiligten Personen oder fur die Allgemeinheit ausgeht. Gedacht wurde dabei insbesondere an Massenvernichtungswaffen oder Bestandteile fur deren Herstellung sowie an Sondermull oder radioaktive Stoffe. 100 Art. 19 II normiert eingehend die Kontrollaufgaben des ersuchten Staates. Er muss sicherstellen, dass keine Unterbrechung der Kontrolle der Lieferung entsteht und dass jederzeit die Moglichkeit des Zugriffs auf den Tater oder die Ware gegeben ist. Beamte des ersuchenden Staates konnen auch im ersuchten Staat an der Begleitung der kontrollierten Lieferung beteiligt werden. In diesem Fall sind sie
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an das innerstaatliche Recht des ersuchten Staates und an die Weisungen von dessen Behorden gebunden. Beispielsfall: Den deutschen Ermittlungsbehorden ist bekannt, dass in einem aus dem 101 Landkreis Konstanz stammenden PKW, der sich auf der Fahrt in die Schweiz befmdet, Drogen versteckt sind, die in Zurich abgesetzt werden sollen. Auf ein entsprechendes Ersuchen der deutschen Seite stimmen die Schweizer Stellen der MaBnahme einer kontrollierten Lieferung zu. Das bedeutet, dass der Drogenkurier mit der ,,heifien Ware" nicht bereits an dem schweizerischen Grenzubergang bei Ramsen (CH) gestoppt, sondern ,,durchgewunken" wird. Der Kurier wird jedoch - je nach Absprache zwischen den Polizeibehorden — von deutschen, schweizerischen oder gemischten Ermittlungsteams liickenlos, d. h. in einer Weise iiberwacht, dass im weiteren Verlauf jederzeit auf den Tater oder die Ware zugegriffen werden kann125.
6. Datenschutz (Art. 26-28) Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit von Polizeibehorden geht in der Regel 102 auch mit dem Bearbeiten von Daten verdachtiger oder angeschuldigter Personen einher. So werden zum Beispiel Personendaten direkt ausgetauscht, an andere Stellen weitergegeben, bei grenzuberschreitender Nacheile oder Observation beschafft und in Informationssystemen gespeichert. Kapitel IV regelt in drei umfangreichen Artikeln den Datenschutz einschlieBlich der Datenbearbeitung auf dem Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates. In den Art. 26-28 wurden Regelungen getroffen, die die Zielsetzungen der polizeilichen Zusammenarbeit und diejenige des Personlichkeitsschutzes miteinander in Einklang bringen sollen. Hierzu gehort vor allem der in Art. 26 festgeschriebene Zweckbindungs- 103 grundsatz. Personendaten, die auf Grund des Polizeivertrages an eine Stelle ilbermittelt wurden, dilrfen nur zu dem Zweck, der im Vertrag festgelegt ist, und zu den Bedingungen, die die ubermittelnde Stelle im Einzelfall stellt, verwendet werden. In Art. 27 werden einheitliche Bedingungen im Zusammenhang mit der Bearbeitung von Personendaten aufgestellt. Der Regelungskatalog umfasst: - die Pflicht zur Einhaltung der datenschutzrechtliche Grundsatze der Richtigkeit und damit zusammenhangend - die Pflicht zu Berichtigung bzw. Vernichtung falscher Daten, - die Pflicht zur Wahrung der Grundsatze der Erforderlichkeit und der Verhaltnismafiigkeit der Dateniibermittlung, - die Gewahrung des Auskunftsrechts, - die Pflicht zur Einhaltung von im geltenden nationalen Recht vorgesehenen Loschungsfristen durch den empfangenden Vertragspartner,
Cremer, ZaoRV 2000, 103, 111 f.
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- die Pflicht, die Ubermittlung und den Empfang der Daten aktenkundig zu machen sowie Datenubermittlungen im automatisierten Verfahren zu Zwecken der Uberpriifung der Einhaltung der maBgeblichen Datenschutzbestimmungen zu protokollieren, - die Pflicht, MaBnahmen zur Datensicherheit zu treffen.
7. Rechtsverhaltnisse bei Amtshandlungen im anderen Vertragsstaat 104 Die Rechtsverhaltnisse bei Vornahme von Amtshandlungen im anderen Vertragsstaat werden in Kapitel V fur den gesamten Polizeivertrag festgeschrieben. Hier finden sich Bestimmungen ilber Einreise und Aufenthalt (Art. 29), das Tragen von Uniformen und das Mitfuhren von Dienstwaffen (Art. 30), Fursorge und Dienstverhaltnisse (Art. 31), die zivilrechtliche Haftung (Art. 32) sowie die Rechtsstellung der Beamten im Bereich des Strafrechts (Art. 33). Das Tragen von Uniformen sowie das Mitfuhren von Dienstwaffen und sonstigen Zwangsmitteln (z. B. Handschellen, Schlagstocke) wird nach Art. 30 1 generell erlaubt, kann im Einzelfall jedoch eingeschrankt oder ganz untersagt werden. Der Gebrauch der Schusswaffe ist gem. Art. 30 III nur in den Fallen der Notwehr und Nothilfe erlaubt. 105 Art. 31 II legt fest, dass die Beamten des anderen Vertragsstaates jeweils den dienstrechtlichen und haftungsrechtlichen Vorschriften ihres Heimatstaates unterstellt bleiben. Die Beamten unterstehen gem. Art. 33 in aktiver und passiver Hinsicht den strafrechtlichen Bestimmungen des Staates, auf dessen Hoheitsgebiet sie tatig werden (entspricht Art. 42 SDU). 106 Werden Dritte durch Beamte des einen Vertragsstaates auf dem Hoheitsgebiet des anderen Vertragsstaates geschadigt, so haftet gem. Art. 32 III der Staat, auf dessen Hoheitsgebiet der Schaden eingetreten ist (entspricht Art. 43 II SDU). Art. 32 IV regelt die Regressanspruche unter den Vertragsstaaten. Der entsendende Staat ist verpflichtet, den Gesamtbetrag des geleisteten Schadenersatzes zu erstatten (entspricht Art. 43 I SDU).
8. Sonstige Regelungen 107 Kapitel VI ist den Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften des StraBenverkehrs gewidmet. Es geht dabei im Wesentlichen um den Begriff dieser Zuwiderhandlungen, Mitteilungen aus dem Fahrzeugregister und Nachermittlungen, den Inhalt der zugestellten Schriftsttlcke (Art. 36), die Voraussetzungen eines Vollstreckungshilfeersuchens, Ablehnungsgriinde, Mitteilungspflichten, Umfang und Beendigung der Vollstreckung (Art. 38), Unmittelbarkeit der Vollstreckung, Zwangsmittel (Art. 39), die Kosten (Art. 40) sowie die zustandigen Behorden (Art. 41). Die Durchfilhrungs- und Schlussbestimmungen in Kapitel VII betreffen einen Vorbehalt der Hoheitsrechte, der Sicherheit oder anderer wesentlicher Interessen.
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III. Wiirdigung des Polizeivertrages Der Polizeivertrag baut auf folgende Konstruktionsprinzipien126:
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- Der grenziiberschreitende Polizeieinsatz erfordert - auBer bei besonderer Dringlichkeit - die Zustimmung des Gebietsstaates im konkreten Einzelfall. Die Zustimmung kann unter Auflagen erteilt werden oder Modalitaten des Einsatzes festlegen. - Die Beamten haben moglichst vor oder bei Grenziibertritt dem Gebietsstaat mitzuteilen, dass sie sein Hoheitsgebiet betreten. Auf Verlangen des Gebietsstaates ist der Einsatz einzustellen oder an Beamte des Gebietsstaates zu iibergeben. - Die Beamten sind an das Recht des Gebietsstaates gebunden. Man kann im Hinblick auf das Zustimmungserfordernis des ersuchten Staates von 109 einem rechtshilfeahnlichen Charakter des Polizeivertrages sprechen. Eine erhebliche Erleichterung gegeniiber der klassischen Rechtshilfe liegt freilich darin, dass der Kooperationsvorgang von der diplomatischen auf die behordliche Ebene verlagert ist (,,kurzgeschlossener" Rechtshilfeverkehr). Uber die klassische Rechtshilfe geht der Polizeivertrag auch insoweit hinaus, als er den grenzuberschreitend tatigen Beamten - in den vertraglich abgesteckten Grenzen - die ,,Mitnahme" und Ausilbung hoheitlicher Befugnisse im Nachbarstaat gestattet127. Der deutsch-schweizerische Polizeivertrag belegt eindrucksvoll, dass auch die 110 grenziiberschreitende polizeiliche Kooperation zwischen einem EU-Staat und einem Drittstaat sehr intensiv sein kann. Er bietet eine ausgezeichnete Grundlage fur eine schnelle, direkte und unbiirokratische Kooperation im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet und damit fur eine effektive grenzubergreifende Sicherheitspartnerschaft beider Lander. Insbesondere eroffnet er die Moglichkeit, Straftater ilber die Grenze hinweg zu verfolgen und Fahndungsdaten auszutauschen. Der ,,Umweg", iiber das BKA schweizerische Dienststellen um Fahndungen oder Informationen zu ersuchen, entfallt kilnftig weitgehend. Teilweise geht das bilaterale Abkommen sogar ilber den Kooperationsstandard des SDU hinaus. So konnen z. B. gemeinsame Einheiten der Polizeien (,,gemischte Streifen") fur Fahndungskontrollen, Observationen oder Ermittlungen eingesetzt werden, in denen unter bestimmten Voraussetzungen die jeweils auslandischen Krafte auch hoheitliche Aufgaben auf dem Gebiet des anderen Vertragsstaates wahrnehmen. Auf raumliche, zeitliche und ortliche Beschrankungen, wie sie zwischen einigen EUMitgliedstaaten bestehen, wurde verzichtet. Wahrend nach Art. 40 I SDU grenzuberschreitende Observationen nur im Rahmen eines konkreten Ermittlungsverfahrens und nur gegen Verdachtige moglich sind, sind sie nach dem deutschschweizerischen Polizeivertrag auch zur vorbeugenden Bekampfung von Straftaten mit erheblicher Bedeutung, d. h. ohne konkreten Tatverdacht, erlaubt. Das Instrument der ,,kontrollierten Lieferungen" ist nicht wie in Art. 73 SDU auf Betau126 127
Cremer, ZaoRV 2000, 103, 113 ff. Cremer, ZaoRV 2000, 103, 127, 136 ff.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
bungsmittel beschrankt. Mit dem Ubereinkommen werden grenzilberschreitende verdeckte Ermittlungen erstmals in einem internationalen Abkommen verrechtlicht. Fur den Einsatz von Polizeibeamten unter einer ihnen verliehenen veranderten Identitat bedarf es danach nur ,,zureichender tatsachlicher Anhaltspunkte". Die vorbildliche, von beiden Seiten angestrebte ,,strategische Sicherheitskooperation" umfasst unter anderem die gemeinsame Analyse der Sicherheitslage und die gegenseitige Unterrichtung tlber aktuelle Schwerpunkte der Kriminalitatsbekampfung. Das deutsch-schweizerische Polizeiabkommen kann nach alledem als Modell fur eine Erweiterung und Vertiefung der polizeilichen Kooperation zwischen den EU-Mitgliedstaaten herangezogen werden128.
E. Rechtsschutz gegen grenzuberschreitende Strafverfolgung 111 Die Ausfuhrungen in diesem Kapitel haben gezeigt, dass die grenzuberschreitende Strafverfolgung in Europa inzwischen deutlich iiber die ,,klassische" intergouvernementale Zusammenarbeit hinausgeht, wie sie beispielsweise in den Konventionen des Europarates zum Ausdruck gelangt. Der Aufbau eines unionsweiten Systems zur Erleichterung der Rechtshilfe, zum Austausch ermittlungsrelevanter Informationen und zur Erstellung von Analysen im Rahmen eines Europaischen Polizeiamtes (Europol), die Einrichtung der juristischen Clearing- und Koordinierungsstelle Eurojust, die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der dritten Saule des EUV, welche seit Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages am l.Mai 1999 den Schengen-Besitzstand (mit seinem Kemstuck SIS) einschlieBt, aber auch bilaterale Ubereinkommen (deutsch-schweizerischer Polizeivertrag) fuhrten zu einer bedeutenden Erweiterung und Vertiefung der europaischen Integration auf dem Feld der transnationalen Kriminalitatsbekampfung und Strafrechtspflege. Untrennbar mit der international-arbeitsteilige Strafverfolgung in Europa ist jedoch das Problem des Rechtsschutzes fur die von solchen StrafverfolgungsmaBnahmen betroffenen Personen verbunden129. Als problematisch erweist sich in diesem Zusammenhang vor allem, dass die nationalen Rechtsordnungen grundsatzlich nur Rechtschutz gegeniiber Handlungen eigener Hoheitstrager gewahren, wie die nachfolgenden Fallbeispiele verdeutlichen: 112 Fall 1: A betreibt ein Geschaft im stidbadischen Kehl, wohnt aber auf der anderen Rheinseite in StraGburg (F). Eine Streife der franzosischen Gendarmerie beobachtet eines Morgens, wie A an einer grenznah im Elsass gelegenen Tankstelle Benzin in seinen PKW fullt und ohne zu bezahlen wegfahrt. Die Gendarmerie verfolgt A iiber die Staatsgrenze hinweg bis zu seinem Geschaft in Kehl. Dort zwingen ihn die franzosischen Polizeibeamten, mit er-
128
129
Cremer, ZaoRV 2000, 103, 127, 146. Zu den Grundproblemen und Perspektiven der kunftigen Zusammenarbeit der Schweiz mit Europol vgl. Heine, Trechsel-FS, 2002, S. 237. Vgl. hierzu GlefilLuke, JURA 2000, 400 ff.
E. Rechtsschutz gegen grenziiberschreitende Strafverfolgung
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hobenen Handen auszusteigen und eine Durchsuchung seines PKW zu dulden. SchlieBlich gelingt es A, den Sachverhalt aufzuklaren: Zwischen A und dem Pachter der franzosischen Tankstelle bestand eine Absprache, die es ihm erlaubte, so zu verfahren wie geschehen. A will nicht glauben, dass auslandische Polizeibeamte ihn in Deutschland festhalten und durchsuchen dilrfen. Er fragt, ob ein deutsches Gericht die Unzulassigkeit der getroffenen MaBnahmen feststellen kann, um eine Wiederholungsgefahr abzuwenden. Abwandlung: Wie ware der Fall im deutsch-schweizerischen Verhaltnis zu beurteilen? Losungshinweise zu Fall 1: Bei der von der franzosischen Gendarmerie ergriffe- 113 nen MaBnahme handelt es sich um eine grenziiberschreitende Nacheile, da es darum ging, die polizeiliche Verfolgung einer - zumindest dem ersten Anschein nach - auf frischer Tat betroffenen Person auf dem Hoheitsgebiet eines anderen Staates fortzusetzen. Die Zulassigkeitsvoraussetzungen der grenztlberschreitenden Nacheile sind in Art. 41 SDU (Rn. 42 f.) geregelt.
Das SDU sieht jedoch keine besondere Rechtsschutzmoglichkeit fur von ei- 114 ner grenzilberschreitenden Nacheile oder Observation betroffenen Person vor. Zwar sind die nacheilenden Beamten an das Recht der Vertragspartei gebunden, auf deren Hoheitsgebiet sie auftreten (Art. 41 V lit. a SDU). Daraus folgt jedoch nicht zwangslaufig, dass sie der Gerichtsbarkeit dieses Staates unterworfen sind. Es existiert auch kein Rechtsweg zum EuGH. Zwar wurde das SDU als Be- 115 standteil des Schengen-Besitzstandes durch ein Protokoll zu dem am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Amsterdamer Vertrag in den Unionsvertrag integriert (Rn. 71). Dem EuGH werden in Art. 35 I EUV jedoch nur begrenzte Kontrollkompetenzen zugewiesen. Die Handlungen einzelner Polizeibeamter, die im Rahmen grenziiberschreitender Observation oder Nacheile vorgenommen werden, unterliegen nicht der Jurisdiktion des EuGH. Auch findet sich keine gesetzliche Bestimmung im deutschen Recht, die eine 116 Uberpriifung der von den franzosischen Gendarmen vorgenommenen Handlungen vor einem deutschen Gericht zulassen. Die deutsche Verfassung (Art. 19 IV GG) garantiert A die Erbffnung eines Rechtsweges zu einem deutschen Gericht, wenn er geltend machen kann, durch die deutsche offentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden zu sein. Zu prtifen ist also, ob die franzosischen Gendarmen gegeniiber A deutsche Hoheitsgewalt ausgeubt haben. Fremde Hoheitstrager sind grundsatzlich nicht in der Lage, deutsche Hoheitsgewalt auszuilben. Man konnte jedoch iiberlegen, ob das SDU den nacheilenden Beamten moglicherweise die Kompetenz ubertragt, auf dem Hoheitsgebiet eines benachbarten Schengenstaates dessen Hoheitsgewalt auszuiiben. Eine ausdriickliche Regelung in diesem Sinne enthalt das SDU jedoch nicht. Im Hinblick auf die volkervertragsrechtliche Natur des SDU sind fur seine Interpretation die in Art. 31, 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)130 kodifizierten Auslegungsmaximen heranzuziehen. Danach ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Ubereinstimmung mit seiner gewohnlichen, seinen Bestimmungen im Zusammenhang zukommenden Be130
Wiener Ubereinkommen v. 23. Mai 1969 iiber das Recht der Vertrage (BGB1. II 1985, 927); abgedruckt bei Schomburg/Lagodny, IRhSt, Anhang 12. Die im WVK enthaltenen Auslegungskriterien werden als kodifiziertes Volkergewohnheitsrecht angesehen; vgl. hierzu BGH NStZ 1998, 149, 151; Dorr, DOV 1993, 696, 702 m. w. N.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
deutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen. Die teleologische Auslegung des SDU ergibt, dass die grenziiberschreitend tatig werdenden Beamten keine Hoheitsgewalt des Zielstaates wahrnehmen, sondern vielmehr im Zielstaat Hoheitsgewalt ihres Entsendestaates ausiiben131. Die Vertragsparteien haben die Moglichkeit grenzuberschreitender polizeilicher Zusammenarbeit geschaffen, um den mit dem Wegfall der Kontrollen an den Binnengrenzen befurchteten Sicherheitsverlust auszugleichen. Es sollte verhindert werden, dass Personen, die von den nationalen Behorden einer Vertragspartei verdachtigt werden, eine Straftat begangen zu haben, sich durch eine ungehinderte Flucht ilber die offene Grenze den gegen sie gerichteten ErmittlungsmaBnahmen entziehen konnen. Durch das SDU soil der ,,nationale Souveranitatspanzer" aufgebrochen werden und die Ausilbung originarer Hoheitsgewalt des Entsendestaates auch auf dem Hoheitsgebiet des angrenzenden Vertragsstaates ermoglicht werden. Demzufolge haben die franzosischen Beamten franzosische Hoheitsgewalt ausgeilbt, als sie A in Kehl anhielten und seine Wagen durchsuchten. 117 Von einer volkerrechtlichen Organleihe kann nicht ausgegangen werden. Eine solche liegt vor, wenn ein Staat einzelne Organe einem anderen Staat unter Ausgliederung aus der eigenen Hoheitsgewalt zur Verfugung stellt. Eine volkerrechtliche Organleihe basiert stets auf einer vertraglichen Regelung. Voraussetzung ist, dass die ,,entliehenen" Organe auf Weisung, im Namen und unter Kontrolle des ,,Entleiherstaates" tatig werden. Das SDU sieht jedoch gerade keine Weisungsbefugnis des Staates, auf dessen Hoheitsgebiet die nacheilenden Beamten des Entsendestaates tatig werden, gegenilber diesen Beamten vor132. 118 Im Ergebnis ist somit festzuhalten, dass die franzosische Gendarmerie in Fall 1 keine deutsche, sondern franzosische Staatsgewalt auf deutschem Gebiet austtbte. Da somit kein Akt der deutschen offentliche Gewalt vorlag, greift die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 IV GG nicht ein. Folglich kann A vor keinem deutschen Gericht die Unzulassigkeit der polizeilichen MaBname feststellen lassen. 119 Ob A in Frankreich den Rechtsweg mit dem Ziel beschreiten kann, die Unzulassigkeit der gegen ihn ergriffenen Zwangsmafinahmen feststellen zu lassen, ist eine nach franzosischem Recht zu beantwortende Frage. Als Vertragspartei der EMRK (Art. 13 i. V. m. Art. 2 des 4. Zusatzprotokolls), des IPBPR (Art. 2 III a i. V. m. Art. 12 I) ist Frankreich volkerrechtlich verpflichtet, A eine Beschwerdemoglichkeit zu gewahren. Eine Pflicht zur Justizgewahrleistung besteht aber nicht, da Art. 6 EMRK bzw. Art. 14 IPBPR gerichtlichen Rechtsschutz fur das Strafverfahren erst ab dem Zeitpunkt garantieren, ab welchem eine Person unter ,,Anklage" steht (konventionsautonome Definition des Begriffes beachten). Unter Anklage steht eine Person erst dann, wenn ihr von einer Behorde offiziell mitgeteilt wird, dass gegen sie eine Anschuldigung vorliegt. Die MaBnahmen der franzosischen Gendarmerie gegen A stellen lediglich Ermittlungen im Vorfeld einer etwaigen Anklage dar. Somit greifen die Justizgewahrleistungsrechte der EMRK und des IPBPR nicht ein. 131 132
GlefilLuke, JURA 2000, 400, 403. GlefilLuke, JURA 2000, 400, 403.
F. Literaturhinweise
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Losungshinweise zu Fall 1 (Abwandlung): Im deutsch-schweizerischen Ver- 120 haltnis greifen die Regelungen des deutsch-schweizerischen Polizeivertrages ilber grenzuberschreitende Observation und Nacheile ein, die den nacheilenden Beamten die Befugnis verleihen, fremde Hoheitsgewalt auf dem Territorium des Nachbarstaates auszuiiben. Ein Rechtsschutz gegen MaBnahmen Schweizer Polizeibeamter durch deutsche Gerichte ist daher ausgeschlossen133. A ist daher auf die nach schweizerischem Recht bestehenden Rechtsschutzmoglichkeiten zu verweisen. Fall 2: Der deutsche Autofahrer B wird im bayerisch-osterreichischen Grenzgebiet von ei- 121 ner Streifenbesatzung der deutschen Autobahnpolizei, die in einem Zivilfahrzeug unterwegs ist, dabei beobachtet, wie er bei einem verbotenen Uberholmanover einen anderen Wagen seitlich rammt und sodann - ohne anzuhalten - seine Fahrt mit hoher Geschwindigkeit fortsetzt. Die Zivilstreife verfolgt den Btiberdie Staatsgrenze hinweg bis zu einem in Osterreich gelegenen Parkplatz. Die Beamten zwingen B unter Anwendung des ,,Polizeigriffes", in ihren Wagen einzusteigen, um mit ihnen zu einer auf der deutschen Seite gelegenen Polizeidienststelle zu fahren. Ein Mitglied der Streifenbesatzung uberfuhrt den Wagen des B nach Deutschland. Ist die RechtmaBigkeit dieser MaBnahmen von einem deutschen Gericht uberpriifbar? Losungshinweise zu Fall 2: Nach Art. 19 IV GG hat B einen verfassungsrecht- 122 lich verbiirgten Anspruch auf die Eroffnung eines Rechtsweges zu einem deutschen Gericht, wenn er geltend machen kann, durch die deutsche offentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden zu sein. Die im Rahmen der grenziiberschreitenden Nacheile (Art. 41 SDU) gegen B ergriffenen MaBnahmen sind zwar nicht auf deutschem Hoheitsgebiet vollzogen worden. Jedoch ergibt sich aus dem SDU, dass die deutschen Beamten auf dem Territorium einer SchengenVertragspartei (hier: Osterreich) deutsche Hoheitsgewalt ausgeubt haben, als sie dem in Deutschland auf frischer Tat (vgl. §§ 315 c I Nr. 2 b, 142 I Nr. 1, Nr. 2 StGB) betroffenen B tiber die Grenze nacheilten. B kann daher mit der Behauptung, die Beamten hatten ihn in seinen Rechten verletzt, ein deutsches Gericht anrufen, um die RechtmaBigkeit der getroffenen MaBnahmen ilberprilfen zu lassen134.
F. Literaturhinweise Baldus, Europol und Demokratieprinzip, ZRP 1999, 263 v. Bubnoff, Institutionelle Kriminalitatsbekampfung in der EU - Schritte auf dem Weg zu einem europaischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum, ZEuS 2002, 185 Cremer, Der grenzuberschreitende Einsatz von Polizeibeamten nach dem deutschschweizerischen Polizeivertrag: ein Vorbild fur die Kooperation der Mitgliedstaaten der Europaischen Union auf dem Gebiet der Verbrechensbekampfung?, ZaoRV 2000, 117 133 134
Cremer, ZaoRV 2000, 103, 136 ff. Vgl. zu einem Parallelfall GlefilLuke, JURA 2000, 400, 403 f.
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 2. Kap. Rn. 216-236 Dieckmann, Europaische Kooperation im Bereich der Strafrechtspflege - Bestandsaufnahme und Ausblick, NStZ 2001, 617 Gdnfile, Das Antikorruptionsstrafrecht - Balsam aus der Tube der symbolischen Gesetzgebung?, NStZ 1999, 543 Glefi, Rechtsschutz gegen grenziiberschreitende Strafverfolgung in Europa, JURA 2000, 400 dies., Europol, NStZ 2001, 623 dies., Brauchen neue Vollzugsraume neue Kontrollformen? - Zur Ent-Rechtlichung europaischer Strafverfolgung, ZStW 114 (2002), S. 636 GlefilGrotelHeine (Hrsg.), Justizielle Einbindung und Kontrolle von Europol, 2001, passim Glefi/Liike, Strafverfolgung ilber die Grenzen hinweg - Formen der Zusammenarbeit europaischer Lander zur Kriminalitatsbekampfung -, JURA 1998, 70 Heine, Europol und Europaisierung des Rechts - Grundprobleme und Perspektiven, auch fur die Schweiz, Trechsel-FS, 2002, S. 237 HolscheidtlSchotten, Immunitat fur Europol-Bedienstete - Normalfall oder Siindenfall?, NJW 1999,2851 Kuhne, Strafprozessrecht, 6. Aufl., 2003, Rn. 70-100.3 Manske, Das ,,Europol-Informationssystem" (Europol-IS), Kriminalistik 2001, 105 Mokros, in: Lisken/Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, 3. Aufl., 2001, Kap. O (Polizeiliche Zusammenarbeit in Europa) Nelles, Europaisierung des Strafverfahrens - Strafprozessrecht fur Europa?, ZStW 109 (1997), S. 727 Perron, Auf dem Weg zu einem europaischen Ermittlungsverfahren, ZStW 112 (2000), S. 202 Petri, Europol - Grenziiberschreitende polizeiliche Tatigkeit in Europa, 2001, passim Pieth, Internationale Harmonisierung von Strafrecht als Antwort auf transnationale Wirtschaftskriminalitat, ZStW 109 (1997), S. 756 Schomburg, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, NJW 2002, 1629 Taschke, Die Bekampfung der Korruption in Europa auf Grundlage der OECD-Konvention, StV2001,78 Vofi, Europol - Polizei ohne Grenzen? - Strafrechtliche Immunitatenregelungen und Kontrolle von Europol, 2003, passim Wolter, Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Europaischen Union, in Kohlmann-FS, 2003, S. 693 Ziegenhahn, Der Schutz der Menschenrechte bei der grenzuberschreitenden Zusammenarbeit in Strafsachen, 2002, S. 48-118 Zieschang, Das EU-Bestechungsgesetz und das Gesetz zur Bekampfung internationaler Bestechung, NJW 1999, 105
G. Zusammenfassung von § 5 123 Die EU-Mitgliedstaaten sind in ein komplexes Netzwerk weltweiter, europaischer und zwischenstaatlicher Kooperationsformen eingebunden, welche sich die internationale Zusammenarbeit in Strafsachen zu einem Teil ihrer
G. Zusammenfassung von § 5
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Aufgabengebiete gemacht haben. Zu den Institutionen, die im Bereich der internationalen Kriminalitatsbekampfung und Strafrechtspflege global tatig werden, gehoren die Internationale Kriminalpolizeiliche Organisation (Interpol), die Vereinten Nationen (UN), die Organisation fiir Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) und die Gipfeltreffen der G7/G8-Staaten. Zur Durchsetzung ihrer Ziele im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts bedient sich die OECD wie die UN iiberwiegend des sog. ,,soft law". Damit sind Instrumente wie Modellkonventionen, Empfehlungen und Verhaltenscodices gemeint, die nicht auf eine Rechtsharmonisierung im Sinne eines ,,Gleichklangs" der Normen abzielen, sondern auf eine funktionale Annaherung der Strafrechtssysteme (Assimilierung). Auf europaischer Ebene ist die Strafrechtsentwicklung maBgeblich durch die Aktivitaten des Europarates gepragt worden. Der Europarat setzt bei seiner Arbeit im Bereich der Kriminalitatsbekampfung zum einen auf die Instrumente des ,,soft law", aber auch auf die harmonisierende Wirkung volkerrechtlicher Ubereinkommen. In diesem Zusammenhang ist auf die MaBnahmen des Europarates zur Bekampfung von Geldwasche, Drogenkriminalitat, Korruption und Cyber-Kriminalitat hinzuweisen, durch welche entsprechende Aktivitaten der OECD, UN bzw. G8-Staaten erganzt werden. Die europaische Strafrechtsentwicklung wird heute maBgeblich von der inter- 124 national-arbeitsteiligen polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten unter dem Dach der EU gepragt. Ausgelost durch den aufkeimenden Terrorismus hatte sich seit Mitte der 1970er-Jahre im Rahmen der TREVIArbeitsgruppen ein informeller Erfahrungsaustausch entwickelt, der schon bald auf weitere Bereiche der Kriminalitatsbekampfung ausgedehnt wurde. Durch den Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1992 wurde die grenzuberschreitende Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) als sog. dritte Saule der EU in den institutionellen Rahmen des EUV integriert. Da nicht alle EU-Staaten bereit waren, die Grenzkontrollen abzuschaffen, ver- 125 einbarten Frankreich, Deutschland und die Benelux-Staaten auBerhalb des institutionellen Rahmens des EUV im Jahre 1985 im Vertrag von Schengen (Schengenl) und im Jahre 1990 im Schengener Durchfuhrungsiibereinkommen (Schengen II-SDU-) die Aufhebung der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen. Um einen Ausgleich fur die mit dem Wegfall der Binnengrenzen einhergehenden Sicherheitslilcken zu schaffen, errichteten die Vertragsstaaten ein umfassendes System der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit. Dieses umfasste namentlich die Vereinbarung einheitlicher Kontrollstandards an den AuBengrenzen, die Anwendung gemeinsamer Grundsatze fur die Einreise und den Aufenthalt von Drittauslandern, die Definition einer einheitlichen Visumpolitik und praxis sowie die Annahme gemeinsamer Grundsatze fur die grenzuberschreitende polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Das Schengener Informationssystem (SIS) stellt das technische Kernstuck dieser breiten Zusammenarbeit dar. Es ermoglicht alien Teilnehmerstaaten den Zugriff auf ein zentrales Informationssystem (zur Verhaftung ausgeschriebene Personen, Personen mit Aufenthaltsverbot, vermisste Personen, abhanden gekommene Gegenstande). Eine der markantesten Errungenschaften der dritten Saule stellt das am 1. Oktober 1998 in Kraft
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§ 5 EU-Mitgliedstaaten im Netzwerk der Kooperation in Strafsachen
getretene Ubereinkommen zur Einrichtung eines europaischen Polizeiamtes (Europol) dar, dessen Aufbau bereits im Maastrichter Vertrag als Angelegenheit von gemeinsamem Interesse bezeichnet wurde und dessen Tatigkeit im Amsterdamer Vertrag ausdrucklich geregelt wird. Am 1. Juli 1999 nahm Europol als intemationale Organisation mit Sitz in Den Haag seine Arbeit auf. Mit dem am 1. Mai 1999 in Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam wurden die Grundlagen fur einen ,,Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" geschaffen (Art. 29 EUV). Mehrere Bereiche der Zusammenarbeit wurden teilweise ,,vergemeinschaftet" und in die erste Saule der EU-Kooperation iiberfuhrt. Ein weiteres markantes Element ist die Integration des Schengen-Besitzstandes in den EUV mit der Folge, dass die Zusammenarbeit der Schengener Vertragsparteien nunmehr im institutionellen und juristischen Rahmen der EU abgewickelt wird. Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten (PJZS) erfolgt nach den in Art. 34 EUV enumerativ aufgefuhrten, gegeniiber der fruheren ZBJI erweiterten Handlungsformen des Rates, von denen das neue Instrument des (einstimmig anzunehmenden) Rahmenbeschlusses hervorzuheben ist. Seit dem 28. Februar 2002 wird die grenziiberschreitende justizielle Kooperation durch die mit Ratsbeschluss vom gleichen Tage errichtete Koordinierungsstelle Eurojust mit Sitz in Den Haag verstarkt, deren Aufgabe vor allem darin besteht, juristische Informationen zwischen den Strafverfolgungsbehorden der Mitgliedstaaten auszutauschen sowie transnationale Ermittlungsverfahren zu koordinieren und zu unterstiitzen. Am Beispiel des deutsch-schweizerischen Polizeivertrages wurde gezeigt, dass die grenzuberschreitende polizeiliche und justizielle Kooperation auch zwischen EU-Staaten und Drittstaaten sehr intensiv sein kann. Das bilaterale Ubereinkommen geht teilweise sogar tlber den Kooperationsstandard des SDU hinaus. Die international-arbeitsteilige Strafverfolgung in Europa wirft das Problem des Rechtsschutzes fur die von grenzuberschreitenden StrafverfolgungsmaBnahmen betroffenen Personen auf, da in den einschlagigen multi- oder bilateralen Kooperationskonventionen - mit Ausnahme des Datenschutzbereiches - keine besonderen Rechtsschutzmoglichkeiten vorgesehen sind und die nationalen Rechtsordnungen grundsatzlich nur Rechtschutz gegenuber Handlungen eigener Hoheitstrager gewahren.
§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
A. Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das Strafverfahren Die Judikatur des EuGH ist fur die Entwicklung des Europaischen Strafrechts von unschatzbarem Wert. Strafrechtliche Relevanz kann grundsatzlich jeder Entscheidung des Gerichtshofes zukommen, unabhangig davon, in welcher Verfahrensart (vgl. hierzu § 4 Rn. 45 ff.) sie getroffen wurde. Das Zusammenwirken von supranationaler und nationaler Gerichtsbarkeit lasst sich daher als institutioneller Faktor der Europaisierung des Strafrechts begreifen, der den materiell- und prozessrechtlichen Europaisierungsfaktoren (Teil III) nicht selten erst zur praktischen Durchsetzung und Wirksamkeit verhilft. Am intensivsten gestaltet sich die Kooperation zwischen den justiziellen Akteuren des Europaischen Strafrechts - EuGH und mitgliedstaatliche Strafgerichte - im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 234 EGV), denn dieses ist als Inzidentverfahren Teil des nationalen Strafverfahrens. Hinweis: Der zur Ratifikation in den Mitgliedstaaten anstehende Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa weist in Art. III-369 EU-Verfassung dem EuGH die Zustandigkeit fur Vorabentscheidungen ttber die Auslegung der Verfassung und ilber die Gultigkeit und die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europaischen Union zu. Das in diesem Kapitel behandelte Zusammenwirken der nationalen Strafgerichte mit dem EuGH wird somit auch unter dem Dach der kilnftigen Europaischen Verfassung fortgesetzt.
I. Funktion und Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens 1. Sicherung des Auslegungs- und Verwerfungsmonopols des EuGH Dem in Art. 234 EGV institutionalisierten Vorabentscheidungsverfahren kommt von alien supranationalen Verfahrensarten die groBte praktische Bedeutung zu1. Die Notwendigkeit dieses Verfahrens ergibt sich aus dem im GemeinschaftsVgl. hierzu Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 14; Lenz, in: Kreuzer/Scheuing/Sieber (Hrsg.), Die Europaisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europaischen Union, 1997, S. 162
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§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
rechtssystem angelegten Nebeneinander zwischen mitgliedstaatlicher und supranationaler Gerichtsbarkeit. Einerseits haben die nationalen Gerichte in vielfaltiger Weise primares und sekundares Gemeinschaftsrecht anzuwenden, andererseits fehlt dem EuGH die Befugnis, innerstaatliche Gerichtsentscheidungen auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zu iiberprilfen. Da es infolge divergierender Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zu Rechtsunsicherheiten, Wettbewerbsverzerrungen, Diskriminierungen und letztlich zu einer Beeintrachtigung des supranationalen Geltungsanspruchs des Gemeinschaftsrechts kommen konnte, weist Art. 220 EGV aus guten Griinden dem EuGH das Monopol zur letztverbindlichen Auslegung des gesamten Gemeinschaftsrechts und zur Uberpriifung der Gilltigkeit von Sekundarrechtsakten zu. Dieses Auslegungs- und Verwerfungsmonopol des EuGH wird durch das in Art. 234 EGV verankerte Kooperationsmodell gesichert. Das Vorabentscheidungsverfahren stellt das prozessuale Bindeglied zwischen der supranationalen Gerichtsbarkeit des EuGH und den nationalen Gerichten dar2.
2. Individualschutzfunktion Daneben tritt bei dem Vorabentscheidungsverfahren zunehmend auch die Individualschutzfunktion in den Vordergrund3. Die Burger sind auf den innerstaatlich gewahrten Rechtsschutz angewiesen, wenn es um die Durchsetzung ihrer aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten subjektiv-offentlichen Rechte geht. Das Vorabentscheidungsverfahren bietet ihnen somit die einzige Moglichkeit, sich gegen gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten ihres Mitgliedstaates zu wehren. Zu beachten ist jedoch, dass das von Art. 234 EGV vorgeschriebene Procedere nicht als selbstandiger kontradiktorischer Prozess, sondern als objektives Zwischenverfahren konzipiert ist, das als eine Art Kooperationsverfahren im Rahmen eines vor dem nationalen Gericht gefuhrten Ausgangsprozesses durchgefuhrt wird. Sein Ablauf weist gewisse Parallelen zum Verfahren der konkreten Normenkontrolle gem. Art. 100 I GG auf. Art. 234 EGV gewahrt den Prozessbeteiligten daher keinen Anspruch auf Einholung einer Vorabentscheidung. Der Einzelne - ob als Partei im Zivil- bzw. Verwaltungsprozess oder als Angeklagter im Strafverfahren - kann dementsprechend vor dem nationalen Gericht ein Vorlageverfahren immer nur anregen oder beantragen, aber nicht erzwingen. Uber die vorlaufige Aussetzung des nationalen Verfahrens zum Zwecke der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH entscheidet allein und von Amts wegen das nationale Gericht4.
Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 238; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 171; Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 5 f; Satzger, Europaisierung, S. 658. Esser, StV 2004, 221, 222; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 171 f, 175 f; Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 8. Standige Rspr. seit EuGHE 1962, 965; Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 20.
A. Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das Strafverfahren
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Zwar stellt die Missachtung der Vorlagepflicht (Rn. 7) einen GemeinschaftsrechtsverstoB dar und kann daher zu einem Vertragsverletzungsverfahren gegen den Mitgliedstaat fllhren, dessen Gericht den VerstoB zu verantworten hat. Das Vertragsverletzungsverfahren kann jedoch nicht von einem einzelnen Burger betrieben werden (§ 4 Rn. 45). Nach deutschem Recht kommt die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG in Betracht, da der EuGH ,,gesetzlicher Richter" i. S. d. Art. 101 I 2 GG ist5. Die Verletzung der Vorlagepflicht gem. Art. 234 III EGV verletzt den Einzelnen aber nur unter engen Voraussetzungen in seinem verfassungsrechtlich verburgten Anspruch auf den ,,gesetzlichen Richter". Denn das BVerfG verlangt fur eine Verletzung des Art. 10112 GG ein willkiirliches Verhalten des Gerichts, also eine Rechtsanwendung, die bei verstandiger Wiirdigung ,,nicht mehr verstandlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist"6. Somit durfte ein etwaiger VerstoB gegen Art. 234 III EGV durch ein deutsches Gericht nur in seltenen Fallen zu einer Verletzung des Art. 101 I 2 GG filhren, z. B. bei grundsatzlicher Verkennung der Vorlagepflicht oder bei bewusstem Abweichen von der zutreffend erkannten Vorlagepflicht mangels Vorlagebereitschaft des zustandigen Richters7.
II. Vorlagebefugnis und Vorlagepflicht Bestehen im Rahmen eines Straf- oder BuBgeldverfahrens Zweifel an der Vereinbarkeit entscheidungserheblicher innerstaatlicher Vorschriften des materiellen Rechts bzw. des Verfahrensrechts mit Gemeinschaftsrecht oder an der Gtlltigkeit eines entscheidungsrelevanten Sekundarrechtsaktes, so besteht nach Art. 234 II EGV die Moglichkeit fur das nationale Gericht, die entsprechende Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen (fakultative Vorabentscheidung). Das BVerfG betont eine Pflicht der Strafgerichte, in jedem Stadium des Verfahrens mit besonderer Sorgfalt zu priifen, ob eine Vorlage an den EuGH veranlasst ist8. Will ein deutsches Gericht eine Vorabentscheidung herbeifuhren, so setzt es das Strafverfahren durch Beschluss aus, welcher nach h. M. unanfechtbar ist9. Aussetzung und Vorlage ergehen in einem einheitlichen Beschluss, der - ahnlich wie ein Vorlagebeschluss nach Art. 100 GG - einer Begrilndung bedarf. Insbesondere muss schlussig dargelegt werden, weshalb die in Betracht gezogene Auslegung des Gemeinschaftsrechts im konkreten Fall entscheidungserheblich ist10. Art. 234 III EGV sieht eine Pflicht zur Vorlage (obligatorische Vorabentscheidung) vor, wenn die Entscheidungen des erkennenden Gerichts nicht mehr 5 6
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10
BVerfGE 75, 223, 245; BVerfG NVwZ 2001, 1267, 1268. BVerfGE 29, 198, 207; 31, 145, 169; 82, 159, 192 ff.; vgl. hierzu auch Allkemper, EWS 1994, 255 ff. Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 67. BVerfG NJW 1989, 2464. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 251; ders., Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 56; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 197 ff. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 181.
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§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
mit Rechtmitteln angefochten werden konnen. Letztinstanzliches Strafgericht ist nicht etwa nur das formell an der Spitze der nationalen Gerichtshierarchie stehende Gericht, sondern jedes Gericht, dessen Entscheidung im konkreten Fall nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann11. Verfassungsbeschwerde und Wiederaufhahmeklage werden nicht als Rechtsmittel i. S. d. Art. 234 III EGV angesehen. Folglich ist ein deutsches Amtsgericht, gegen dessen Entscheidung in einer BuBgeldsache z. B. wegen Unterschreitung der in § 79 I Nr. 1 OWiG festgelegten Wertgrenze des angedrohten BuBgelds (weniger als € 250.-) keine Rechtsbeschwerde eingelegt werden kann, nach Art. 234 III EGV zur Vorlage an den EuGH verpflichtet, wenn es fur die zu treffende Sachentscheidung auf die Auslegung oder Giiltigkeit von Gemeinschaftsrecht ankommt. Eine Ausnahme von der Vorlageverpflichtung letztinstanzlicher Gerichte erkennt der EuGH an, wenn die Rechtsfrage bereits geklart ist oder aber die richtige Antwort auf die Frage derart offenkundig ist, dass ,,keinerlei Raum fur einen verniinftigen Zweifel bleibt" (sog. ,,acte-clair-Doktrin")12. Es erscheint aber zweifelhaft, ob die erhohten Anforderungen an die Rechtssicherheit im Strafrecht eine Berufung auf diese Doktrin zulassen13. Filr nicht letztinstanzliche Gerichte besteht grundsatzlich nur eine Vorlagebefugnis, die sich jedoch nach der Rechtsprechung des EuGH zu einer Vorlagepflicht verdichtet, wenn diese Gerichte eine Sekundarrechtsnorm fur ungiiltig halten und deshalb nicht anwenden wollen14. Die Staatsanwaltschaften konnen nach der Judikatur des Gerichtshofs nicht den Gerichten gleich gestellt werden und sind daher generell nicht vorlageberechtigt15. Ebenfalls nicht vorlageberechtigt sind die fur den Erlass von Buflgeldbescheiden zustandigen Verwaltungsbehorden16.
III. Fallgruppen von Vorlagen im Strafprozess Die wohl wichtigste Fallgruppe von Vorlagefragen im Strafprozess betrifft das materielle Strafrecht. Die vielfa'ltigen unmittelbaren und mittelbaren Einfiusse des Gemeinschaftsrechts auf nationale Straf- und BuBgeldbestimmungen werfen nicht selten Auslegungs- und Giiltigkeitsfragen beim Strafrichter auf, die einer Klarung durch den EuGH bedilrfen. So kann sich etwa bei der Verhandlung eines Anklagevorwurfes, der auf die Verletzung eines Blankettstrafgesetzes gestiitzt ist, welches auf eine EG-Verordnung verweist (§ 7 Rn. 79, 85 ff.), die Frage nach deren Giiltigkeit bzw. Auslegung stellen. Die Auslegung von Primar- oder Sekundarrecht wird auch relevant, wenn zu beurteilen ist, ob ein deutsches Strafgesetz etwa 11
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Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 173; Satzger, Europaisierung, S. 662; Streinz, Europarecht, Rn. 562. EuGHE 1982, 3415. Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 663. EuGHE 1987, 4199; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 245. EuGHE 1996, 6609; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 242; ders., Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 37 f, 48; Satzger, Europaisierung, S. 660. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 243.
A. Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das Strafverfahren
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aufgrund einer Kollision mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht unanwendbar (§ 9 Rn. 10) bzw. gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren ist17. Die zweite Gruppe von Vorlagen im Strafprozess, mit der nationale Gerichte eine fur sie verbindliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts begehren, betrifft das nationale Strafprozessrecht18. Denkbar ist hier ein moglicher Konflikt innerstaatlicher Verfahrensnormen mit den primarrechtlichen Grundfreiheiten, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art. 12 EGV), aber auch mit (ausnahmsweise) unmittelbar anwendbarem Richtlinienrecht19. Bei der Formulierung der Vorlagefrage(n) haben die nationalen Gerichte zu beachten, dass dem EuGH nicht die Kompetenz zusteht, ilber die Gultigkeit und Interpretation innerstaatlicher Rechtsnormen oder ilber deren Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zu entscheiden. Der EuGH befindet stets nur tiber die Giiltigkeit und Auslegung von Gemeinschaftsrecht. Vorzulegen sind dem EuGH nur abstrakt gestellte Rechtsfragen. Diese konnen z. B. wie folgt lauten: (1) ,,Ist Art. 7 Absatz 1 der Richtlinie 89/397/EWG des Rates v. 14. Juni 1989 iiber die amtliche Lebensmitteluberwachung dahingehend auszulegen, dass daraus fur den Hersteller eines Erzeugnisses ein unmittelbar anwendbares Recht auf Einholung eines Gegengutachtens folgt, wenn staatliche Behorden von dem Erzeugnis des Herstellers im Einzelhandel eine Probe zu Analysezwecken entnehmen und diese Probe unter lebensmittelrechtlichen Aspekten beanstandet wird?"20 (2) ,,Stellt die grenztiberschreitende Versendung von Werbematerial fur eine Lotterie, die in einem Mitgliedstaat rechtmaBig veranstaltet wird, eine Dienstleistung i. S. d. Art. 49 EGV dar?"21 (3) ,,Stellt es eine Beschrankung der in den Artikeln 43 und 47 des Vertrags von Rom verankerten Niederlassungsfreiheit dar, wenn von einer Person, die das Recht zur Ausiibung des Tierarztberufs in einem Mitgliedstaat der Europaischen Gemeinschaft durch die Verleihung der in Artikel 3 der Richtlinie 78/1026/EWG genannten Diplome erlangt und spater die Staatsangehorigkeit eines anderen Mitgliedstaates erworben hat, verlangt wird, dass sie entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats einer nationalen berufsstandischen Kammer beitritt, um ihren Beruf ausuben zu konnen, obwohl die Frist von zwei Jahren fur den Erlass der zur Durchfuhrung der Richtlinien 78/1026/EWG und 78/1027/EWG erforderlichen MaBnahmen abgelaufen ist?"22 Moglicher Gegenstand der Vorlage ist somit allein die im Ersuchen des Gerichts abstrakt zu formulierende Frage nach der Gultigkeit oder Auslegung von Gemeinschaftsrecht. In der Praxis verfahrt der EuGH jedoch relativ groBzii-
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Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 176 f.; Satzger, Europaisierung, S. 662. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 177. Vgl. hierzu EuGHE 2003, 3735 mit ausfuhrlicher Besprechung von Esser, StV 2004, 221 ff. Vgl. hierzu den Vorlagebeschluss des A G Schleswig in EuGHE 2003, 3735. Vgl. hierzu den Vorlagebeschluss des High Court of Justice in EuGHE 1994, 1039. Vgl. hierzu den Vorlagebeschluss der Cour d'appel Colmar in EuGHE1983, 2727.
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gig und formuliert ggf. unzulassige Fragestellungen um23. Es ist allein Sache der mitgliedstaatlichen Gerichte, aus dem im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gefallten Urteil des EuGH die Konsequenzen fur die Interpretation und Anwendung des nationalen Rechts zu ziehen.
IV. Wirkungen der Vorabentscheidung 14 Die Wirkungen der Vorabentscheidung sind im EGV nicht geregelt. Sinn und Zweck dieses Verfahrens, die Einheitlichkeit in der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu sichern, erfordern aber zumindest die Bindung des vorlegenden nationalen Gerichts und aller mit der Sache befassten Instanzgerichte des Ausgangsverfahrens an die Entscheidung des EuGH24. Darilber hinaus entfaltet das Urteil eine faktische Prajudizwirkung, indem jedes mit der gleichen Frage befasste Gericht eines Mitgliedstaates der Vorabentscheidung Folge leisten oder - falls es hiervon abweichen will - erneut vorlegen muss. Hat der Gerichtshof einen Sekundarrechtsakt fur ungilltig erklart, so stellt dies fur jedes mitgliedstaatliche Gericht einen ausreichenden Grund dar, diesen ebenfalls als ungultig anzusehen (faktische erga-omnes-Wirkung)25. Eine entsprechende Vorabentscheidung kommt daher in ihrer Wirkung einer Nichtigerklarung nach Art. 231 EGV nahe.
B. Vorabentscheidungsverfahren und strafprozessuale Maximen 15 Wenn die Voraussetzungen zur Einholung einer fakultativen oder obligatorischen Vorabentscheidung vorliegen, spielt das Verfahrensstadium, in dem sich das innerstaatliche Strafverfahren beflndet, keine Rolle. Vorabentscheidungsverfahren kommen daher im Ermittlungs-, Zwischen- und Hauptverfahren in Betracht26. Die primarrechtlich gebotene Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das Strafverfahren kann jedoch in alien Verfahrensstadien in ein losungsbediirftiges Spannungsverhaltnis zu strafprozessualen Maximen geraten.
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Streinz, Europarecht, Rn. 559. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 174; Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 87; Satzger, Europaisierung, S. 664. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 175; Middeke, Europaischer Rechtsschutz, § 10 Rn. 89; Satzger, Europaisierung, S. 664. EuGHE 1991, 3277; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstafrecht, 2. Kap. Rn. 247 ff; ders., Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 42, 48; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 178, 184 ff; Satzger, Europaisierung, S. 661.
B. Vorabentscheidungsverfahren und strafprozessuale Maximen
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I. Vorabentscheidung im Haupt- und Zwischenverfahren 1. Zulassigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens Im strafprozessualen Hauptverfahren (§§ 213-295 StPO) und insbesondere im 16 Rahmen seines Kernstticks - der Hauptverhandlung - ist die Einholung einer Vorabentscheidung durch das erkennende Gericht jederzeit moglich, da das Hauptverfahren keine prozessualen Besonderheiten gegeniiber anderen nationalen Prozessarten aufweist. Dass eine Vorlage auch im Zwischenverfahren (§§ 199-211 StPO) moglich sein muss, wird durch eine Entscheidung des BVerfG bestatigt, wonach die Strafgerichte in jedeni Stadium des Strafverfahrens mit besonderer Sorgfalt zu prilfen haben, ob bei der Auslegung einer entscheidungserheblichen Frage des Gemeinschaftsrechts Zweifel bestehen und die Vorlage an den EuGH erforderlich ist27. Da dem EuGH nur abstrakt formulierte Rechtsfragen iiber die Giiltigkeit oder Auslegung von Gemeinschaftsrecht vorgelegt werden dtirfen, ist es nicht erforderlich, dass der zum Gegenstand einer Anklage gemachte Sachverhalt bereits abschlieBend geklart ist28. Aus Grunden der Prozessokonomie erscheint es freilich sachgerecht, das nationale Verfahren zunachst so weit zu fordern, dass eine hinreichend konkretisierte Vorlagefrage formuliert und deren Entscheidungsrelevanz aufgezeigt werden kann. Rein innerstaatliche Rechtsfragen sollten vor Stellung eines Vorabentscheidungsersuchens geklart werden29.
2. Vorlageermessen und Ermittlungsgrundsatz Das den nicht letztinstanzlichen Gerichten von Art. 234 II EGV eingeraumte freie 17 Vorlageermessen kann jedoch in Konflikt mit dem strafprozessualen Ermittlungsgrundsatz treten, der in den §§ 155 II, 160 II, 244 II StPO seinen gesetzlichen Niederschlag findet. Danach haben die Strafverfolgungsorgane den Sachverhalt von Amts wegen vollstandig zu erforschen und aufzuklaren. Das hieraus abzuleitende Aufklarungsgebot der Strafgerichte erstreckt sich auch auf die Frage, ob das Verhalten des Angeklagten iiberhaupt mit Strafe bedroht ist, was zweifelhaft sein kann, wenn seine Strafbarkeit im konkreten Fall von der Gtiltigkeit oder einer bestimmten Auslegung des Gemeinschaftsrechts abhangt. Aber auch die Art und Hbhe einer im konkreten Fall in Betracht kommenden strafrechtlichen Sanktion kann vom Gemeinschaftsrecht beeinflusst sein, so dass sich in dieser Hinsicht ebenfalls ein gerichtlicher Aufklarungsbedarf ergibt. Das Spannungsverhaltnis zwischen der innerstaatlichen Prozessmaxime und dem gemeinschaftsrechtlichen Vorlageermessen lasst sich wegen des Vorranges des Gemeinschaftsrechts (§ 9) nicht einfach dadurch losen, dass man von einer Uberlagerung des Vorlageermessens durch den Aufklarungsgrundsatz ausgeht mit der Folge, dass die in Art. 234 II EGV eingeraumte Vorlagebefugnis in eine Vorlagepflicht umgedeutet wird30. 27 28 29 30
BVerfG NJW 1989, 2464. EuGHE 1981, 735; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 178. EuGHE 1992, 4871, 4933 f. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 183.
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§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
Nationales Recht kann Gemeinschaftsrecht nicht verdrangen. Eine fur die nationalen Gerichte verbindliche Begrenzung ihres Vorlageermessens ist gemeinschaftsrechtlich nicht zulassig31. Daher kann nur an die Gerichte appelliert werden, sich bei der Ausiibung des ihnen eingeraumten Vorlageermessens von dem Ermittlungsgrundsatz leiten zu lassen. Die Klarung entscheidungsrelevanter Rechtsfragen, die sich aus dem Gemeinschaftsrechtsbezug des Verfahrengegenstandes ergeben, sollte schon aus prozessQkonomischen Grilnden (Beschleunigungsgebot) moglichst fruhzeitig erfolgen und nicht erst dem gem. Art. 234 III EGV zur Vorlage verpflichteten letztinstanzlichen Gericht ilberlassen werden32.
II. Vorabentscheidung im Ermittlungsverfahren 1. Zulassigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens 18 Das Ermittlungsverfahren (§§ 160-170 StPO) wird von der Staatsanwaltschaft geleitetet, die als weisungsgebundene Behorde kein Gericht i. S. d. Art. 234 EGV und daher nicht zur Einholung einer Vorabentscheidung berechtigt ist (Rn. 8). Die Moglichkeit der Vorlage besteht jedoch fur Gerichte, die im Ermittlungsverfahren Entscheidungen zu treffen und dabei gemeinschaftsrechtliche Vorgaben zu beachten haben. Es handelt sich bei diesen Entscheidungen - z. B. betreffend Durchsuchung (§§102 ff. StPO), Beschlagnahme (§§ 94 ff. StPO, Fernmeldeuberwachung (§ 100 a StPO) und Untersuchungshaft (§§ 112 ff. StPO) - stets nur urn die Genehmigung oder Verlangerung von Grundrechtseingriffen, die nach deutschem Recht dem Richtervorbehalt unterliegen. Dass diese richterlichen Beschliisse nicht in einem kontradiktorischen Verfahren ergehen, steht der Einholung einer Vorabentscheidung nicht entgegen, da nach der Judikatur des EuGH jedes Gericht unabhangig von der Verfahrensart zur Vorlage berechtigt ist33.
2. Konflikt zwischen Vorlage und Funktion des Ermittlungsverfahrens 19 Das Spannungsverhaltnis zwischen Vorlageverfahren und innerstaatlichen Prozessmaximen tritt im Ermittlungsverfahren noch deutlicher zutage als in den anderen Verfahrensabschnitten. Aufgrund der besonderen Eilbedurftigkeit ermittlungsrichterlicher Entscheidungen gerat die gemeinschaftsrechtliche Vorlagebefugnis bzw. Vorlagepflicht zwangslaufig in Konflikt mit dem aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Beschleunigungsgebot. Ermittlungsrichterlich anzuordnende MaBnahmen dulden in der Regel keinen Aufschub. Man denke nur an Eine Begrenzung des Vorlageermessens wird indes angenommen von Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 248; ders., Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 43. Dannecker, Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 44; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 197. EuGHE 1972, 119, 136; 1986, 795, 806; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 250; ders., Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 39, 48; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 184.
B. Vorabentscheidungsverfahren und strafprozessuale Maximen
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Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme wichtigen Beweismaterials, Telefoniiberwachung oder Inhaftierung eines dringend Tatverdachtigen wegen Fluchtgefahr. Wenn diese MaBnahmen ihre spezifische Funktion erfullen sollen, konnen sie nicht einfach solange aufgeschoben werden, bis der EuGH ilber die ihm vorgelegte(n) Rechtsfrage(n) entschieden hat. Die Problemlage ist unter dem Gesichtpunkt der Eilbedtlrftigkeit vergleichbar mit der Situation anderer innerstaatlicher Verfahrensarten im Bereich des vorlaufigen Rechtsschutzes, zumal auch das BVerfG die Einschaltung des Richters im Ermittlungsverfahren, konkret bei einer Durchsuchungsanordnung, als ,,summarisches und eilbediirftiges, dem Hauptverfahren vorgeschaltetes Eilverfahren"34 eingestuft hat. Teilweise wird der Standpunkt vertreten, die Aussetzung von Eilverfahren sei 20 aufgrund ihrer Wesensart schlechthin unzulassig35 Inzwischen hat sich jedoch nicht zuletzt unter dem Eindruck der Rechtsprechung des EuGH36 - die Auffassung durchgesetzt, dass weder die Dringlichkeit noch der vorlaufige Charakter eines Verfahrens die Befugnis der nationalen Gerichte zur Anrufung des EuGH in Frage stellen konne, wenn die Giiltigkeit oder Auslegung des Gemeinschaftsrechts entscheidungserheblich sei37. Diesem Grundsatz ist auch fur das strafprozessuale Ermittlungsverfahren beizupflichten. Eine generelle Ablehnung der ermittlungsrichterlichen Vorlagebefugnis hatte zur Folge, dass zentrale Rechtsbereiche, die wie z. B. das Haftrecht38 - im Hauptverfahren keine Rolle mehr spielen, vollstandig aus dem Vorabentscheidungsverfahren ausgegliedert wilrden und damit nie auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht uberpriift werden konnten. Eine derartig weitreichende Beschrankung der Vorlagebefugnis sttlnde nicht in Einklang mit den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens, dessen Integration in das nationale Strafverfahren nach Art. 234 EGV primarrechtlich geboten ist. Von dieser Beurteilung geht offensichtlich auch der im Ratifikationsverfahren befindliche Vertrag iiber eine Verfassung fiir Europa aus, der in Art. III-369 S. 4 bestimmt: ,,Wird eine derartige Frage in einem schwebenden Verfahren, das eine inhaftierte Person betrifft, bei einem einzelstaatlichen Gericht gestellt, so entscheidet der Gerichtshof innerhalb kurzester Zeit." Da nun einerseits die richterliche Vorlagebefugnis im Ermittlungsverfahren 21 nicht ausgeschlossen werden darf und andererseits ein Abwarten der Entscheidung des EuGH aufgrund der besonderen Eilbediirftigkeit der in diesem Verfahrensstadium zu treffenden MaBnahmen regelmaBig nicht moglich ist, muss ein Kompromiss gefunden werden, der sowohl den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts
Vgl. hierzu BVerfG Beschl. v. 14. September 1992 - 2 BvR 1214/92 - (unveroffentlicht); Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 186 (Fn. 175). Redekerlvon Oertzen, VwGO, 13. Aufl., 2000, § 123 Rn. 18; OLG Frankfurt NJW 1985, 2901, 2903. EuGHE 1977, 957, 972; 1982, 3723, 3734. Fragstein, Die Einwirkungen des EG-Rechts auf den vorlaufigen Rechtsschutz nach deutschem Verwaltungsrecht, 1997, S. 141; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 186. Zur Bedeutung des Gemeinschaftsrechts fur das Haftrecht vgl. Bleckmann, StV 1995, 552.
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§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
als auch den Verfahrenszielen des Ermittlungsverfahrens Rechnung tragt. Zustimmung verdient in diesem Zusammenhang der in jeder Hinsicht sachgerechte Losungsvorschlag von Jokisch, woriach das nationale Gericht bei der Entscheidungsfindung zunachst seiner eigenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts folgen und ggf. die beantragte ZwangsmaBnahme anordnen bzw. bestatigen darf, ohne die Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH abzuwarten39. Falls eine nachtragliche Berilcksichtigung der Entscheidung des EuGH im Rahmen des Ermittlungsverfahrens nicht mehr moglich ist, muss das nachfolgende Hauptverfahren solange ausgesetzt werden, bis der EuGH iiber die Vorlagefrage(n) entschieden hat. Sollte sich aus der abzuwartenden Entscheidung des Gerichtshofs ergeben, dass die ermittlungsrichterliche MaBnahme gegen Gemeinschaftsrecht verstoBt, so muss das fur die Durchfuhrung der Hauptverhandlung zustandige Gericht prilfen, welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind. Zu denken ist insbesondere an die Annahme eines Beweisverwertungsverbotes, wenn das Verfahren zur Erlangung des Beweisstilcks nicht gemeinschaftsrechtskonform erfolgte40. Kann eine im Ermittlungsverfahren getroffene ZwangsmaBnahme, die sich im Nachhinein wegen VerstoBes gegen Gemeinschaftsrecht als unzulassig erweist, nicht mehr rtickgangig gemacht werden, kommt immerhin die Gewahrung einer finanziellen Entschadigung fur StrafverfolgungsmaBnahmen nach §§ 2, 4 StrEG41 oder nach den Regeln der Staatshaftung in Betracht. Auch kann der Betroffene sein Rehabilitationsinteresse durchsetzen, indem er gem. § 304 StPO nachtraglich die Rechtswidrigkeit des abgeschlossenen Grundrechtseingriffs - auch wenn dieser richterlich angeordnet wurde - gerichtlich feststellen lasst bzw. in analoger Anwendung des § 98 II2 StPO die Art und Weise der Durchfuhrung rligt42. Das dafur erforderliche besondere Rechtsschutzinteresse folgt in diesen Fallen unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht.
III. Auswirkung vorlagebedingter Verfahrensverzogerungen 22 Die Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens betragt im Durchschnitt 12-17 Monate 43 . Ein Konflikt mit der im Strafprozessrecht bedeutsamen Beschleunigungsmaxime ist damit vorprogrammiert. Gleichwohl darf wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts die Vorlagebefiignis bzw. Vorlagepflicht des nationalen
Vgl. hierzu und zum Folgenden Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 188 ff.; zust. Dannecker, Europaischer Rechtsschutz, § 38 Rn. 54. Vgl. hierzu EuGHE 2003, 3735 mit ausfuhrlicher Besprechung von Esser, StV 2004, 221; vgl. auch die grundsatzlichen Ausfuhrungen von Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 247 f. Gesetz iiber die Entschadigung fur Strafverfolgungsmafinahmen v. 8. Marz 1971 (BGB1.1, 157). BVerfGE 96, 27, 41; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 326 f. m. w. N.; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 189. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 195; Satzger, Europaisierung, S. 666 geht sogar von einer Durchschnittsdauer von 21,4 Monaten aus.
D. Rechtsprechungshinweise
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Gerichts nicht durch innerstaatliches Verfahrensrecht ausgeschlossen werden44. Da das Vorabentscheidungsverfahren als Inzidentverfahren Teil des nationalen Strafverfahrens ist, muss das innerstaatliche Gericht aus einer etwaigen Verletzung des Beschleunigungsgrundsatzes - also in Fallen uberlanger Verfahrensdauer - die hieraus folgenden Konsequenzen ziehen. Dies umso mehr, als der Beschuldigte Verfahrensverzogerungen, die sich aus der Durchfuhrung eines Vorabentscheidungsverfahrens ergeben, nicht zu vertreten hat45. Auf die menschenrechtliche Dimension der ilberlangen Verfahrensdauer, die sich als VerstoB gegen Art. 6 I EMRK darstellt, wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen (§ 3 Rn. 59 ff.). Der BGH halt zwar im Grundsatz daran fest, dass eine Verfahrenseinstellung nicht in Betracht komme, solange eine angemessene Berucksichtigung des VerstoBes im Rahmen einer Sachentscheidung bei umfassender Gesamtwtirdigung moglich sei (sog. ,,Strafzumessungsl6sung")46. Immerhin erkennt er aber neben einer bloBen Strafmilderung auch die MOglichkeit an, in ,,ganz auBergewohnlichen Einzelfallen" wegen rechtsstaatswidriger Verfahrensverzogerung ein Verfahrenshindernis anzunehmen, welches vom Tatrichter zu beachten und vom Revisionsgericht von Amts wegen zu berilcksichtigen sei47.
C. Literaturhinweise Dannecker, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europaischen Union, 2. Aufl., 2003, § 38 Rn. 34-81 ders., in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 2. Kap. Rn. 238-251 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, S. 171-208 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europaischen Union, 2. Aufl., 2003, § 10 Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 658-669
D. Rechtsprechungshinweise EuGHE EuGHE EuGHE EuGHE BVerfG 44
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1982, 3415 (,,acte-clair-Doktrin") 1987, 4199 (Vorlagepflicht nicht letztinstanzlicher Gerichte) 1991, 3277 (Zulassigkeit einer Vorlage in alien Verfahrensstadien) 1996, 6609 (Keine Vorlageberechtigung der Staatsanwaltschaft) NJW 1989, 2464 (Vorlage von Fragen an den EuGH im Strafverfahren)
Jokisch, Gemeinschaftsrecht u n d Strafverfahren, S. 196; Satzger, Europaisierung, S. 667. B G H wistra 1998, 344. B G H S t 35, 137, 141; B G H StV 1999, 206; B G H wistra 1998, 344; B G H S t V 2002, 598; vgl. hierzu Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 26; Satzger, J A 1999, 367 ff. B G H S t 46, 159, 171.
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§ 6 Zusammenarbeit zwischen EuGH und nationaler Strafgerichtsbarkeit
BVerfGE 75, 223 (EuGH als ,,gesetzlicher Richter" i. S. d. Art. 101 I 2 GG) BGH wistra 1998, 344 (Strafmilderung vorlagebedingter Verfahrensverzogerungen)
E. Zusammenfassung von § 6 23 Gegenstand dieses Kapitels ist die im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV angelegte Kooperation zwischen den justiziellen Akteuren des Europaischen Strafrechts, dem EuGH und den mitgliedstaatlichen Strafgerichten. Das Vorabentscheidungsverfahren stellt das prozessuale Bindeglied zwischen der supranationalen und nationalen Gerichtsbarkeit dar und sichert das Monopol des EuGH, iiber die Auslegung und Gultigkeit von Gemeinschaftsrecht letztverbindlich zu entscheiden. Daneben ist auch die Individualschutzfunktion des Vorabentscheidungsverfahrens von Bedeutung, wenn es um die Durchsetzung von aus dem Gemeinschaftsrecht abgeleiteten subjektiv-offentlichen Rechten geht. Der Einzelne kann jedoch ein Vorlageverfahren immer nur anregen oder beantragen, niemals aber erzwingen. tfber die vorlaufige Aussetzung des nationalen Verfahrens zum Zwecke der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH entscheidet allein und von Amts wegen das nationale Gericht. 24 Die Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH ist nach Art. 234 II EGV in jedem Stadium des Strafverfahrens moglich. Letztinstanzliche Gerichte sind nach Art. 234 III EGV zur Vorlage verpflichtet. Moglicher Gegenstand der Vorlage ist allein die im Ersuchen des Gerichts abstrakt zu formulierende Frage nach der Gultigkeit oder Auslegung von Gemeinschaftsrecht. Es ist allein Sache der mitgliedstaatlichen Gerichte, aus der nach einer Vorlage ergangenen Entscheidung die Konsequenzen fur die Interpretation und Anwendung des nationalen Rechts zu ziehen. Aus der Funktion des Vorlageverfahrens, die Einheitlichkeit in der Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu sichern, folgt die Bindung des vorlegenden nationalen Gerichts und aller mit der Sache befassten Instanzgerichte des Ausgangsverfahrens an die Entscheidung des EuGH. Dariiber hinaus entfaltet die Vorabentscheidung eine faktische Prajudizwirkung, indem jedes mit der gleichen Frage befasste Gericht eines Mitgliedstaates der Vorabentscheidung Folge leisten oder — falls es hiervon abweichen will - erneut vorlegen muss. 25 Die primarrechtlich gebotene Integration des Vorabentscheidungsverfahrens in das nationale Strafverfahren kann in alien Verfahrensstadien - besonders im Ermittlungsverfahren im Hinblick auf die besondere Eilbedurftigkeit strafprozessualer ZwangsmaBnahmen - in Konflikt mit strafprozessualen Maximen und Verfahrenszielen geraten. Da ein vollstandiger Ausschluss der richterlichen Vorlagebefugnis im Ermittlungsverfahren nicht zulassig ist, muss das Zusammenwirken zwischen nationalem Gericht und EuGH in einer Weise gestaltet werden, die sowohl den Erfordernissen des Gemeinschaftsrechts als auch den Verfahrenszielen des Ermittlungsverfahrens Rechnung tragt. Als sachgerechte Kompromisslosung bietet es sich an, dem nationalen Ermittlungsrichter zuzugestehen, dass er trotz Einholung einer Vorabentscheidung zunachst seiner eigenen Auslegung des Gemeinschaftsrechts folgen und ggf. die beantragte ZwangsmaG-
E. Zusammenfassung von § 6
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nahme anordnen bzw. bestatigen darf, ohne die Beantwortung der Vorlagefrage durch den EuGH abzuwarten. Im nachfolgenden Hauptverfahren muss dann aber das Verfahren ausgesetzt und die Antwort des EuGH abgewartet werden. Falls im Lichte der Vorabentscheidung festgestellt wird, dass eine im Ermittlungsverfahren angeordnete MaBnahme gegen Gemeinschaftsrecht verstoBt, muss das fur die Durchflihrung der Hauptverhandlung zustandige Gericht prufen, welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind. In Betracht kommen die Annahme eines Beweisverwertungsverbots, die Gewahrang einer Entschadigung oder die Feststellung der Rechtswidrigkeit des ermittlungsrichterlichen Handelns. Wegen der relativ langen Dauer, die fur die Durchfuhrung eines Vorabentscheidungsverfahrens im Durchschnitt zu veranschlagen ist, sind Konflikte mit der im Strafprozessrecht bedeutsamen Beschleunigungsmaxime vorprogrammiert. Die nationalen Strafgerichte haben in Fallen ilberlanger Verfahrensdauer, auch wenn diese auf die pflichtgemaBe Einschaltung des EuGH nach Art. 234 EGV zuruckzufuhren ist, zu prufen, ob eine Einstellung des Verfahrens oder zumindest eine Strafmilderung in Betracht kommt.
Teil III Die strafrechtsrelevanten Europaisierungsfaktoren
§ 7 Assimilierungsprinzip
A. Mitgliedstaatliches Strafrecht im Dienste des Gemeinschaftsrechts Die EG besitzt keine originaren Rechtssetzungsbefugnisse auf dem Gebiet des 1 Kriminalstrafrechts (vgl. § 4 Rn. 101). Sie ist daher nicht in der Lage, etwa durch den Erlass ,,europaischer Strafgesetze" in Form von Verordnungen selbst fur den strafrechtlichen Schutz ihrer Rechtsgtiter und Interessen zu sorgen. An dieser Rechtslage hat sich nach herrschender und zutreffender Auffassung auch durch die Einfiigung des neuen Art. 280 IV EGV nichts geandert (vgl. § 4 Rn. 97 ff.; § 8 Rn. 59). Folglich ist die EG darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten durch die Ausgestaltung und Anwendung ihres Kriminalstrafrechts dafiir Sorge tragen, strafwilrdige und strafbedilrftige Angriffe auf Gemeinschaftsinteressen wirksam zu bekampfen1. Die Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Schutzguter in den Anwendungsbereich nationaler Straftatbestande (sog. ,,Assimilierung"2) ist indes keine Selbstverstandlichkeit und nicht ohne weiteres gewahrleistet. Denn eine solche Strafgesetzgebung deckt sich nicht notwendigerweise mit nationalen Interessen3. Es kann z. B. gerade zur erklarten Politik eines Staates gehoren, sich durch eine liberale, auf weitreichende und einschneidende Strafbestimmungen verzichtende Gesetzgebung im Bereich des Wirtschafts- und Umweltstrafrechts als besonders wirtschaftsfreundlicher Standort zu empfehlen. Die Gemeinschaft ist jedoch im Hinblick auf die Indienststellung des nationa- 2 len Strafrechts zum Schutze ihrer Rechtsgtiter und Interessen nicht nur auf den guten Willen der Mitgliedstaaten angewiesen. Vielmehr lasst sich eine Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten gegeniiber der Gemeinschaft bereits aus dem allgemeinen Loyalitatsgebot des Art. 10 EGV (Grundsatz der Gemeinschaftstreue) ableiten, welches lautet: ,,Die Mitgliedstaaten treffen alle geeigneten MaBnahmen allgemeiner oder besonderer Art 3 zur Erfullung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Zu diesem ,,Dilemma" der EG vgl. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 1 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 328 ff. Vgl. zum Assimilierungsprinzip die in deutscher Ubersetzung vorliegende Erlauterung der Arbeitsgruppe des Corpus-Juris-Entwurfs, in: Delmas/Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU, 1998, S. 14 ff. Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 21 ff.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfullung ihrer Aufgabe. Sie unterlassen alle MaGnahmen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrags gefahrden konnten."
Eine spezielle Auspragung des Loyalitatsgebots ist in Art. 280 II EGV (exArt. 209 a II EGV) normiert, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, zur Bekampfung von Betrugereien, die sich gegen die fmanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, bestimmte MaBnahmen zu ergreifen (vgl. hierzu Rn. 33). Hinweis: Das allgemeine Loyalitatsgebot des Art. 10 EGV lebt in Art. 1-5 II S. 2, 3 der kiinftigen europaischen Verfassung fort. Auf den Schutz der EUFinanzinteressen gerichtete Handlungsgebote sind in Art. III-415 EU-Verfassung vorgesehen (vgl. hierzu § 14 Rn. 45). Folglich wird die Indienststellung mitgliedstaatlichen Strafrechts zum Schutze von EU-Interessen auch in Zukunft eine herausragende Rolle als strafrechtlicher Europaisierungsfaktor spielen. Zu einer ,,automatischen" Anwendbarkeit nationaler Strafbestimmungen auf gemeinschaftsrechtswidriges Verhalten ftihrt das Loyalitatsgebot freilich nicht, da dies gegen den auch im Gemeinschaftsrecht geltenden Grundsatz ,,nulla poena sine lege" verstoBen wurde. Es bleibt vielmehr Aufgabe und Pflicht der Mitgliedstaaten - sei es durch Legislativakte oder durch gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung (vgl. § 10) - ihrer Schutzverpflichtung pro communitate in gehoriger Weise nachzukommen. Notfalls konnen sie hierzu durch ein von der Kommission anzustrengendes Vertragsverletzungsverfahren gezwungen werden4. Ungeachtet der fehlenden Strafrechtssetzungskompetenz der EG existieren einige wenige primar- und sekundarrechtliche Spezialregelungen, die den Schutzbereich der nationalen Strafrechtsordnungen unmittelbar ausdehnen. Diese Verweisungsnormen zielen darauf ab, bestimmte EG-Rechtsguter mit entsprechenden nationalen Schutzgutern gleichzustellen und ihnen auf diesem Weg einen vergleichbaren strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen (,,Assimilierungsprinzip")5.
B. Assimilierung durch supranationale Verweisungen 8 Durch supranationale Assimilierungsbestimmungen entstehen neue, abgeleitete Strafrechtsnormen, die nach h. M. genuines Gemeinschaftsstrafrecht (supranationales Kriminalstrafrecht der Europaischen Gemeinschaften) konstituieren6 und Tiedemann, NJW 1993, 23, 25. Vgl. hierzu Bose, Strafen und Sanktionen, S. 107 ff.; Dannecker, JURA 1998, 79, 80; Tiedemann, Roxin-FS, 2001, 1401, 1405; Satzger, Europaisierung, S. 188 ff. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 107 ff; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 120; ders., BGH-Festgabe, S. 339, 349 ff; Deutscher, Kompetenzen, S. 384 ff; Johannes, EuR 1968, 69, 81; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 87; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25; krit. im Hinblick auf die fehlende Strafrechtssetzungskompetenz der EG MuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 11 und Satzger, Europaisierung, S. 196 ff., der hier lediglich strafrechtliche Anweisungen des Gemein-
B. Assimilierung durch supranational Verweisungen
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insoweit eine Ausnahme von dem Grundsatz der fehlenden Strafrechtssetzungsgewalt der Gemeinschaft darstellen. Denn die in alien Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Verweisungsnormen bilden zusammen mit dem nationalen Tatbestand, auf den sie verweisen, einen supranationalen Gesamttatbestand.
I. Primarrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestande Die bestehenden primarrechtlichen Verweisungen auf nationales Strafrecht betref- 9 fen zum einen den Bereich der europaischen Rechtspflege, zum anderen die Wahrung von Geheimhaltungspflichten durch Bedienstete der EAG:
1. Aussagedelikte Fall 1: Der vom EuGH nach Luxemburg geladene Zeuge Z, ein Staatsbiirger der USA mit 10 standigem Wohnsitz in Deutschland, sagt in einer Verhandlung vor dem EuGH vorsatzlich falsch aus und bekraftigt nach ordnungsgemaBer Belehrung seine Falschaussage durch Ableistung eines Eides. Kann Z in Deutschland wegen Meineids (§ 154 StGB) strafrechtlich verfolgt und von einem deutschen Gericht abgeurteilt werden? Wenngleich die Vernehmung von Zeugen und Sachverstandigen vor dem EuGH 11 in der Praxis keine groBe Rolle spielt, besteht auch fiir die supranationale Gerichtsbarkeit ein Bediirfhis, Falschaussagen durch die preventive Wirkung einer Strafandrohung zu verhindern und auf diese Weise die Funktionsfahigkeit der Rechtspflege auf Gemeinschaftsebene sicherzustellen7. Das Gemeinschaftsrecht tragt diesem berechtigtem Schutzbedurfnis — jedenfalls soweit es um die Strafandrohung fur Meineide geht - durch die auf primarrechtlicher Ebene angesiedelte Assimilierungsbestimmung des Art. 30 der Satzung des EuGH8 Rechnung. Die Funktionsweise dieser Verweisungsnorm lasst sich anhand der Losung von Fall 1 demonstrieren. Losungshinweise zu Fall 1: Z konnte gem. § 154 StGB strafbar sein. Es stellt 12 sich die Frage, ob auch der EuGH ein ,,Gericht" oder eine ,,zur Abnahme von Eiden zustandige Stelle" i. S. dieser Vorschrift ist mit der Folge, dass auch die supranationale Rechtspflege in den Schutzbereich der Norm einbezogen ist. Geschutztes Rechtsgut der §§153 ff. StGB ist nach tradierter Dogmatik allein die innerstaatliche Rechtspflege, die durch falsche Aussagen gefahrdet wird9. Dieser Befund wird bestatigt durch § 5 Nr. 10 StGB, der die deutsche Rechtspflege vor Falschaussagen schiltzen will, die zwar vor einem auslandischen oder zwischen-
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schaftsrechts und daraus resultierende Ponalisierungspflichten der Mitgliedstaaten annehmen will. Satzger, Europaisierung, S. 189. Satzung des EuGH (EG) v. 17. April 1957 (BGB1. II 1957, 1166); aktuelle Fassung in Sartorius II Nr. 245. BGHGrSSt 8, 301, 309; BGHSt 45, 16, 25; Lackner/Kuhl, Vor § 153 Rn. 2; Trond\dFischer, Vor § 153 Rn. 1.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
staatlichen Gericht begangen werden, aber im Zusammenhang mit einem deutschen Verfahren, insbesondere Rechtshilfeverfahren stehen10. Die vor einem auslandischen Gericht begangene eidliche oder uneidliche Falschaussage ist somit nicht gem. §§153 ff. StGB strafbar. Das deutsche Straf- und Strafanwendungsrecht wird jedoch durch die primarrechtliche Assimilierungsbestimmung des Art. 30 des Protokolls uber die Satzung des EuGH gemeinschaftsrechtlich uberlagert11. Art. 30 des Protokolls iiber die Satzung des EuGH bestimmt: ,,Jeder Mitgliedstaat behandelt die Eidesverletzung eines Zeugen oder Sachverstandigen wie eine vor seinen eigenen in Zivilsachen zustandigen Gerichten begangene Straftat. Auf Anzeige des Gerichtshofs verfolgt er den Tater vor seinen zustandigen Gerichten." 13 Durch diese Assimilierungsbestimmung soil die Funktionsfahigkeit der supranationalen Gerichtsbarkeit strafrechtlich geschiitzt werden. Mit dem Inkrafttreten der Zustimmungsgesetze zu den Griindungsvertragen sind die gemeinschaftsrechtlichen Verweisungsnormen innerstaatliches Recht geworden12. Unabhangig davon, ob nun - wie von der h. M. vertreten - ein supranationaler Gesamttatbestand oder ,,nur" ein europaisierter nationaler Straftatbestand als Folge der Verweisungstechnik zur Entstehung gelangt, miissen jedenfalls die (unmittelbar anwendbare) gemeinschaftsrechtliche Verweisungsnorm und der einschlagige nationale Straftatbestand zusammengelesen werden. Die deutsche Strafnorm des § 154 I StGB (Meineid) ist daher im Lichte des Art. 30 des Protokolls uber die Satzung des EuGH wie folgt zu lesen: ,,Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zustandigen Stelle oder vor dem Gerichtshof der Europaischen Gemeinschaft falsch schwort, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft." 14 Bejaht man mit der h. M. die unmittelbare Anwendung der nationalen Strafrechtsnorm auf den von der europaischen Verweisungsnorm angeordneten Fall ein Effekt des ,,self-executing" des Gemeinschaftsrechts -, so kommt es auf die Aussagen des nationalen Strafanwendungsrechts (,,Internationales Strafrecht"; vgl. § 2 Rn. 2 ff.) nicht mehr an. Allein das Primarrecht bestimmt, unter welchen Voraussetzungen der europastrafrechtliche Gesamttatbestand zur Anwendung gelangt. Die aus der gemeinschaftsrechtlichen Uberlagerung resultierende Unanwendbarkeit des nationalen Strafanwendungsrechts hat zur Folge, dass Z - ein USAmerikaner, der vor dem EuGH einen Meineid leistet - kraft der Bestimmung des Art. 30 der Satzung des EuGH in jedem EG-Mitgliedstaat nach den dort bestehenden Vorschriften strafrechtlich verfolgt werden kann, ohne dass weitere Voraussetzungen - wie etwa die des § 5 Nr. 10 StGB oder § 7 II Nr. 2 StGB - erfullt
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MvKo-StGB/Ambos, § 5 Rn. 30; Satzger, Europaisierung, S. 192 ff. Vgl. hierzu MiiKo-StGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 16; Satzger, Europaisierung, S. 387 ff. BGHSt 17, 121, 122 (zu Art. 194 EAGV); vgl. hierzu Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339, 349 ff. m. w. N.
B. Assimilierung durch supranationale Verweisungen
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sein miissen13. Z kann daher von einem deutschen Gericht wegen Meineides abgeurteilt werden. Weitere Hinweise: Art. 30 des Protokolls tlber die Satzung des EuGH ilber- 15 lasst es dem mitgliedstaatlichen Recht, die Reichweite des strafrechtlichen Schutzes der Rechtspflege gegen Eidesverletzungen festzulegen. So ist - anders als in Deutschland (§ 163 StGB) - nicht in alien Mitgliedstaaten der fahrlassig begangene Meineid mit Strafe bedroht. Da die Verweisung des Art. 30 auf die nationalen Strafbestimmungen ilber Eidesverletzungen beschrankt ist, lasst sich die Strafbarkeit uneidlicher Falschaussagen, die vor dem EuGH begangen werden, nur im Wege einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des § 153 StGB begrunden (vgl. hierzu § 10 Rn. 69).
2. Verletzung von Geheimhaltungspflichten Der zweite Anwendungsfall der Assimilierung mirtels primarrechtlicher Verwei- 16 sungsnorm ist im Bereich der Europaischen Atomgemeinschaft (EAG oder Euratom) angesiedelt 14 . Fur das Funktionieren der EAG ist es unerlasslich, dass deren Bedienstete und Mitglieder zur Geheimhaltung ihres Wissens iiber interne Vorgange sowie aller Informationen, Kenntnisse, Unterlagen oder sonstiger Gegenstande, die im Zusammenhang mit der Tatigkeit der EAG stehen, verpflichtet sind. Entsprechende Geheimhaltungspflichten sind in Art. 194 I 1 EAGV normiert und werden in dem nachfolgend zitierten Art. 194 I 2 EAGV auch strafrechtlich abgesichert: ,,Jeder Mitgliedstaat behandelt eine Verletzung dieser Verpflichtung als einen VerstoB gegen seine Geheimhaltungsvorschriften; er wendet dabei hinsichtlich des sachlichen Rechts und der Zustandigkeit seine Rechtsvorschriften uber die Verletzung der Staatssicherheit oder die Preisgabe von Berufsgeheimnissen an. Er verfolgt jeden seiner Gerichtsbarkeit unterstehenden Urheber einer derartigen Verletzung auf Antrag eines beteiligten Mitgliedstaates oder der Kommission." Durch Art. 194 I 2 EAG wird der strafrechtliche Schutz von Staats- und Berufsge- 17 heimnissen (vgl. §§ 93 ff, 203, 353 b StGB) unter Erweiterung des Taterkreises (Bedienstete der europaischen Atomuberwachungsbehorde) auf Geheimnisse der Europaischen Atomgemeinschaft erstreckt 15 . In der Praxis haben die auf das mitgliedstaatliche Strafrecht verweisenden EG-Bestimmungen bisher freilich keine groBe Rolle gespielt.
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Vgl. zu diesen Konsequenzen Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 167 und Satzger, Europaisierung, S. 195 m. w. N,, der sich aber auf S. 198 ff. gegen eine unmittelbare Anwendbarkeit der Verweisungsnormen ausspricht. Satzger stiitzt die Ausdehnung der deutschen Strafgewalt auf im Ausland zu Lasten der supranationalen Gerichtsbarkeit begangene Meineide auf § 6 Nr. 9 StGB (S. 389 f). Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 190 f Vgl. hierzu BGHSt 17, 121; Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339, 350; Johannes, EuR 1968, 69 ff, 81; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
II. Sekundarrechtliche Verweisung auf nationale Straftatbestande 18 Eine Assimilierung nationaler Strafrechtsnormen zum Schutze von EG-Interessen kann sich auch aus unmittelbar anwendbarem Sekundarrecht (Verordnungen) ergeben16. So werden z. B. nach Art. 10 IV VO (EG) Nr. 1681/9417 bestimmte Angaben, die im Zusammenhang mit der Errichtung eines Informationssystems im Bezug auf UnregelmaBigkeiten bei der Finanzierung der Strukturpolitiken iibermittelt werden, dem strafrechtlichen Schutz unterstellt, der Berufsgeheimnissen nach den mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften zukommt (vgl. z. B. §§ 203, 204, 353 b StGB). Aufgrund der von den Mitgliedstaaten erhobenen Bedenken, im Wege von Assimilierungsverordnungen unmittelbar geltende Gemeinschaftsstraftatbestande zu schaffen, obgleich den Gemeinschaften keine Strafrechtssetzungskompetenz zusteht, hat die EG in den letzten Jahren vom Erlass solcher Verordnungen abgesehen. Nach zutreffender Auffassung sind die wenigen, noch bestehenden Assimilierungsverordnungen im Lichte der bestehenden Kompetenzverteilung dahingehend auszulegen, dass sie lediglich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten begrunden, den Gemeinschaftsinteressen den gleichen strafrechtlich Schutz angedeihen zu lassen wie den entsprechenden nationalen Interessen18.
C. Assimilierung als Auspragung der Schutzverpflichtung aus Art. 10 EGV I.
Befugnis der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstolien gegen Gemeinschaftsrecht (,,Amsterdam Bulb")
19 Auf das ,,Dilemma" der EG, mangels eigener Strafrechtssetzungskompetenz nicht selbst fur den kriminalstrafrechtlichen Schutz ihrer Interessen sorgen zu konnen, wurde bereits hingewiesen. Die EG ist auf die Bereitschaft der Mitgliedstaaten angewiesen, ihr nationales Strafrecht zum Schutze gemeinschaftsrechtlicher Interessen zu funktionalisieren. Dass die Mitgliedstaaten jedenfalls berechtigt sind, ihr nationales Kriminalstrafrecht in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen, um gemeinschaftsrechtliche Ver- und Gebote strafrechtlich zu bewehren, steht nach heute herrschender und zutreffender Auffassung auBer Frage19. Dem insoweit rich-
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Vgl. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 122; Groblinghoff Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 57 f.; Satzger, Europaisierung, S. 206 ff.; Tiedemann, NJW 1993, 23, 25. AB1EG 1994 Nr. L 178, S. 43, 46. Satzger, Europaisierung, S. 208 f. Vgl. EuGHE 1977, 137 ff.; 1977, 1495; 1994, 2479; 1996, 4345; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 9 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 210 ff., 331 ff.; a. A. Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, Rn. 933.
C. Assimilierung als Auspragung der Schutzverpflichtung aus Art. 10 EGV
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tungsweisenden Urteil des EuGH im Fall ,,Amsterdam Bulb" 20 lag folgender Sachverhalt zugrande: Fall 2: Die Niederlande haben eine nationale Ausfuhrungsverordnung erlassen, in welcher 20 Ubertretungen gegen die in verschiedenen EG-Verordnungen normierten Bestimmungen iiber die gemeinsame Marktorganisation fur lebende Pflanzen und Waren des Blumenhandels mit Strafe bedroht werden. Im Vorabentscheidungsverfahren vor dem EuGH stellte sich die zentrale Frage, ob die Mitgliedstaaten auch ohne besondere Ermachtigung durch eine EG-Verordnung berechtigt sind, Strafnormen zu erlassen, um die Anwendung von Gemeinschafts- bzw. nationalem Ausftlhrungsrecht zu sichern. Die Klagerin des Ausgangsverfahrens, die Fa. Amsterdam Bulb, bestritt dies. Sie stellte sich auf den Standpunkt, mit der Strafbewehrung wilrde der Regelungsgehalt der EG-Verordnung in unzulassiger Weise erweitert und - entgegen dem Harmonisierungsziel der Verordnung - eine Ungleichheit der Rechtsanwendung in den Mitgliedstaaten gefordert21. Losungshinweise zu Fall 2: Generalanwalt Capotorti fuhrte demgegentlber aus, 21 dass die nationale Strafandrohung die Tragweite einer EG-Verordnung nicht andere 22 . Etwas anderes konne nur gelten, wenn der materiellrechtliche Inhalt der Verordnung durch nationales Recht abgeandert und damit verfalscht wtlrde. Die Gefahr, dass Gemeinschaftsregelungen in den Mitgliedstaaten unterschiedlich streng angewandt wiirden, weil einige Mitgliedstaaten Strafnormen einfuhrten, andere nicht, sei hinzunehmen, da Art. 10 EGV (ex-Art. 5 EGV) es den Mitgliedstaaten ilberlasse, diejenigen Maflnahmen zu ergreifen, die sie fur sinnvoll erachteten, um die Anwendung des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen. Der EuGH schloss sich dieser Argumentation an: ,,Art. 5 EGV (Art. 10 EGV n. F.), der den Mitgliedstaaten aufgibt, alle geeigneten Mafinahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfullung der Verpflichtungen zu treffen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben, uberlasst dem einzelnen Staat auch die Wahl der sachgerechten Mafinahmen einschliefilich der Wahl der - auch strafrechtlichen — Sanktionen. Dem vorlegenden Gericht ist daher zu antworten, dass die Mitgliedstaaten dann, wenn die Gemeinschaftsregelung keine Vorschrift enthdlt, die fur den Fall ihrer Verletzung durch den einzelnen bestimmte Sanktionen vorsieht, befugt sind, die Sanktionen zu wahlen, die ihnen sachgerecht erscheinen." 23 Der Leitgedanke der EuGH-Rechtsprechung lasst sich - wie auch ein neueres 22 Urteil des EuGH24 bestatigt - dahingehend zusammenfassen, dass die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Strafbewehrung gemeinschaftsrechtlicher Ver- und Gebote nur dann begrenzt ist, wenn die gemeinschaftsrechtliche Regelung abschlieBen-
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EuGHE 1977, 137. In die gleiche Richtung argumentiert Oehler, Internationales Strafrecht, 2. Aufl., 1983, Rn. 933. Generalanwalt Capotorti, EuGHE 1977, 137, 152, 155. EuGHE 1977, 137, 150. EuGHE 1999, 4883 ff.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
den Charakter hat25. Ob dies der Fall ist, muss jeweils durch Auslegung des einschlagigen Gemeinschaftsrechtsaktes ermittelt werden. RegelmaBig wird - im Lichte des Prinzips der Gemeinschaftstreue - davon auszugehen sein, dass den Mitgliedstaaten die Befugnis zum Erlass von Strafbestimmungen selbst dann zusteht, wenn bereits der Gemeinschaftsrechtsakt punitive Sanktionen (§ 4 Rn. 76) vorsieht. So steht beispielsweise eine EG-Verordnung, die das Erschleichen von Subventionen mit einer Subventionssperre sanktioniert, dem Erlass und der Anwendung nationaler Sanktionsnormen nicht entgegen, die dieses Verhalten mit Kriminalstrafe bedrohen. Die Befugnis der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von VerstoBen gegen Gemeinschaftsrecht besteht im Ubrigen auch insoweit, als es um die Strafbewehrung von Ver- und Geboten geht, die aus Richtlinien abzuleiten sind26.
II. Pflicht der Mitgliedstaaten zur Sanktionierung von Verstolien gegen Gemeinschaftsrecht 1. Mindestanforderungen an Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts (,,von Colson und Kamann") 23 Wahrend in dem Urteil ,,Amsterdam Bulb" noch die mitgliedstaatliche Befugnis zur Sanktionierung von GemeinschaftsrechtsverstoBen im Vordergrund stand und die Wahlfreiheit der Mitgliedstaaten in Bezug auf Erlass und Ausgestaltung nationaler Sanktionsbestimmungen im Dienste des Gemeinschaftsrechts betont wurde, kam es in der Folgezeit zu einer bedeutsamen Relativierung dieser Rechtsprechung. Der EuGH stellte klar, dass die Mitgliedstaaten nicht nur befugt sind, Gemeinschaftsinteressen strafrechtlich abzusichem. Sie sind hierzu auch verpflichtet und miissen dabei bestimmte gemeinschaftsrechtliche Mindestanforderungen einhalten. Am Ausgangspunkt dieser Judikatur steht das Urteil in der Rechtssache ,,von Colson und Kamann"27, in dem es allerdings nur um Sanktionen zivilrechtlicher Natur ging: 24 Fall 3: Der EuGH musste sich im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens mit der Frage befassen, ob das deutsche Recht mit den Vorgaben der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Mannern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschaftigung zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf Arbeitsbedingungen28 in Einklang stand. Die Klagerinnen des Ausgangsverfahrens waren wegen ihres Geschlechts bei der Besetzung von Sozialarbeiterstellen von einem offentlichen Arbeitgeber richtlinienwidrig nicht berllcksichtigt worden. Sie klagten deshalb vor dem zustandigen Arbeitsgericht auf Einstellung, hilfsweise Schadensersatz.
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Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 21; Satzger, Europaisierung, S. 212. EuGHE 1977, 1495; Satzger, Europaisierung, S. 332. EuGHE 1984, 1891; bestatigt durch EuGHE 1984, 1921; 1990, 3941; 1993, 4367; 1997,2195.
ABlEG1976Nr. L 39, S. 40.
C. Assimilierung als Auspragung der Schutzverpflichtung aus Art. 10 EGV
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Nach der damaligen Fassung des § 611 a II BGB konnte im Fall von Diskriminierung bei der Einstellung nur der Vertrauensschaden, also nur die Fahrt- und Bewerbungskosten der Klagerinnen, ersetzt werden.
Losungshinweise zu Fall 3: Dem Vorbringen der Bundesregierung, dass die Be- 25 stimmung und Ausgestaltung von Sanktionen im freien Ermessen der Mitgliedstaaten stehe, vermochte sich der EuGH nicht uneingeschrankt anzuschlieBen. Wie im Fall ,,Amsterdam Bulb" bestatigte der EuGH zwar im Grundsatz ein legislatives Wahl- und Ausgestaltungsermessen der Mitgliedstaaten, wenn es um den Erlass von Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts geht. Jedoch stellte er — freilich recht weite - Kriterien auf, denen diese Sanktionsnormen geniigen milssen. Zwar uberlasse es die hier in Rede stehende Richtlinie den Mitgliedstaaten, unter den gegebenen Moglichkeiten die Sanktion fur einen VerstoB gegen das Diskriminierungsverbot auszuwahlen, die zur Verwirklichung der Ziele der Richtlinie geeignet sind. Entscheide sich ein Mitgliedstaat jedoch dafur, als Sanktion filr einen VerstoB gegen dieses Verbot eine Entschadigung zu gewahren, so mtlsse diese jedenfalls, damit ihre Wirksamkeit und ihre abschreckende Wirkung gewahrleistet sind, in einem angemessenen Verhaltnis stehen und somit liber einen rein symbolischen Schadensersatz hinausgehen. §611 a II BGB genilge diesen Mindestanforderungen nicht. Der EuGH folgte damit den Stellungnahmen von Kommission und Generalanwaltin Rozes. Die Judikatur des EuGH ist dahingehend zu interpretieren, dass der Freiraum 26 der Mitgliedstaaten bei der Wahl und Ausgestaltung der Sanktionsnormen zwar groB, aber keineswegs unbegrenzt ist. Zwar steht den Mitgliedstaaten ein breiter Beurteilungsspielraum zu, mit welchen rechtlichen MaBnahmen ein bestimmtes gemeinschaftsrechtliches Interesse - hier: der Schutz der Bewerber vor Diskriminierung - durchzusetzen ist. Sanktionsnormen, welche die Einhaltung gemeinschaftsrechtlicher Ge- und Verbote sicherstellen sollen, milssen aber jedenfalls — unabhangig davon, ob sie zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlicher Natur sind eine hinreichende Abschreckungswirkung entfalten29. 2. Gleichstellungserfordernis und Mindesttrias (,,Griechischer Mais") a) Der Fall ,,Griechischer Mais" - ein Jeading case" des Europaischen Strafrechts In einer richtungsweisenden Entscheidung im Fall ,,Griechischer Mais"30, einem 27 ,,leading case" des Europaischen Strafrechts, leitete der EuGH aus dem in Art. 10 EGV verankerten Loyalitatsprinzip weitere wichtige und pragende Grundsatze iiber die Verpflichtung der Mitgliedstaaten ab, ihr nationales Strafrecht in den Dienst der effektiven Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Interessen zu stellen. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: 29
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Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 11; Satzger, Europaisierung, S. 334. E u G H E 1989, 2965 = E u Z W 1990, 9 9 mit Anm. v. Bleckmann, W u R 1991, 285 und Tiedemann, EuZW 1990, 100.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
28 Fall 4: Die Kommission gelangte Ende 1986 zu der Uberzeugung, dass zwei Schiffsladungen Mais, die im Mai 1986 durch die Fa ITCO liber die griechischen Hafen Saloniki und Kevala nach Belgien ausgefuhrt und von den griechischen Behorden offiziell als ,,griechischer Mais" bezeichnet wurden, in Wirklichkeit aus dem Drittstaat Jugoslawien eingefuhrt worden waren. Aufgrund der offiziellen Angaben der griechischen Behorden, welche die Echtheit und Richtigkeit der amtlichen Urkunden bestatigten, wurden von den belgischen Behorden keine Agrarabschopfungen auf den ,,Nicht-EG-Mais" erhoben und der Mais in den freien Verkehr iiberfuhrt. Nach Erkenntnissen der Kommission war diese Abgabenhinterziehung unter Mitwirkung von griechischen Beamten begangen und spater von mehreren hohen Beamten durch falsche Urkunden und Erklarungen zu verschleiern versucht worden. Nach Aufdeckung der Tatumstande durch die Kommission ersuchte diese die griechische Regierung ohne Erfolg, die Agrarabschopfungen fur die Einfuhrung von jugoslawischem Mais mit Verzugszinsen zu zahlen, die unterschlagenen Summen bei den betreffenden Tatern einzuziehen sowie Straf- und Disziplinarverfahren gegen alle Beteiligten einzuleiten. Die griechische Republik reichte in der ihr eingeraumten Frist keinen Schriftsatz ein. Daraufhin leitete die Kommission im Jahre 1987 ein Vertragsverletzungsverfahren ein. 29 Losungshinweise zu Fall 4: Der EuGH stellte mit Urteil v. 21. September 1989 fest, dass die Griechische Republik gegen den in Art. 5 EGV (Art. 10 EGV n. F.) verankerten Grundsatz der Gemeinschaftstreue verstoBen hat, weil sie keine straf- oder disziplinarrechtlichen Verfahren gegen die Personen eingeleitet hat, die an der Durchfuhrung und Verschleierung der Abschopfungshinterziehung beteiligt waren31. Die Mitgliedstaaten haben nach Ansicht des EuGH VerstoBe gegen das Gemeinschaftsrecht nach ahnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht (Gleichstellungserfordernis). Zwar verbleibe den Mitgliedstaaten die Wahl der Sanktionen. Die nationalen Stellen miissten aber bei VerstoBen gegen das Gemeinschaftsrecht mit derselben Sorgfalt vorgehen, die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Vorschriften walten lieBen. Darilber hinaus miissten die angedrohten Sanktionen jedenfalls wirksam, verhaltnismafiig und abschreckend (,,Mindesttrias") sein. Diesen Anforderungen habe die Griechische Republik nicht Genlige getan, da die Verantwortlichen von den griechischen Behorden weder straf- noch disziplinarrechtlich verfolgt worden seien, obwohl dem keine Hindernisse entgegengestanden hatten.
b) Bedeutung des ,,Mais-Urteils" 30 Das ,,Mais-Urteil" des EuGH stellt eine bedeutende Weiterentwicklung der Rechtsprechung zum strafrechtlichen Schutz von Gemeinschaftsinteressen dar. In der Rechtssache ,,Amsterdam Bulb" hatte der Gerichtshof den Mitgliedstaaten noch ein uneingeschranktes Ermessen bei der Wahl der sachgerechten MaBnahmen zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts eingeraumt32. Auch das in der Sache ,,von Colson und Kamann" aufgestellte Erfordernis der abschreckenden Wirkung von Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts uberlieB es dem freien Auswahlermessen der nationalen Gesetzgeber, ob sie sich hierbei zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlicher Instrumente bedienen. Demgegenuber wandelt sich die 31 32
EuGHE 1989, 2965 ff. = EuZW 1990, 99. EuGHE 1977, 137, 150.
C. Assimilierung als Auspragung der Schutzverpflichtung aus Art. 10 EGV
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in der vorangegangenen Rechtsprechung betonte Befugnis der Mitgliedstaaten, Sanktionen fllr Gemeinschaftsrechtsverletzungen vorzusehen, mit dem ,,MaisUrteil" in eine Verpflichtung zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch Ahndung von VerstoBen hiergegen, wobei der verbleibende Ausgestaltungsspielraum fur legislative MaBnahmen durch die aufgestellten Mindestanforderungen (justiziable Kriterien) deutlich eingegrenzt wird33. Der EuGH leitet aus dem in Art. 10 EGV verankerten Grundsatz der Gemeinschaftstreue (Loyalitatsprinzip) eine Garantenstellung der Mitgliedstaaten ab, aus der sich die Pflicht ergibt, ihr nationales Strafrecht zur Durchsetzung der Ziele der Gemeinschaft und zum Schutze gemeinschaftsrechtlicher Interessen zu funktionalisieren34. Innovativ ist zum einen die Forderung, dass VerstoBe gegen Gemeinschafts- 31 recht nach ahnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden milssen wie nach Art und Schwere vergleichbare VerstoBe gegen nationales Recht. Dieses Gleichstellungsgebot ist Ausdruck des Assimilierungsprinzips, derm es zielt darauf ab, den strafrechtlichen Schutz, den die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen fur nationale Schutzgiiter vorsehen, auf vergleichbare EGSchutzgilter zu erstrecken35. Neu ist des Weiteren die Ausweitung der Erfordernisse Wirksamkeit, VerhaltnismaCigkeit und abschreckenden Wirkung auf jede Sanktionsnorm, die VerstoBe gegen Gemeinschaftsrecht ahnden soil. Dies bedeutet zum einen, dass sich bestehende strafrechtliche Normen an diesen Beurteilungskriterien messen lassen milssen. Zum anderen konnen sich die vom EuGH konkretisierten gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben im Einzelfall zu einer Pflicht zum Tatigwerden der nationalen Strafgesetzgeber, also zu einem Ponalisierungsgebot, verdichten36. Der Sache nach handelt es sich bei dem Gleichstellungserfordernis und bei der Mindesttrias um besondere Auspragungen des Diskriminierungsverbots bzw. des Effizienzgebots37. Die Einschatzungsfreiheit der Mitgliedstaaten, ob uberhaupt eine strafrechtliche Regelung in den Dienst des Gemeinschaftsrechts gestellt werden soil und wie diese ggf. inhaltlich auszugestalten ist, wird damit eingeschrankt. Das liber das Gleichbehandlungserfordernis funktionalisierte Assimilierungs- 32 prinzip ermoglicht es den Mitgliedstaaten, neu zu schaffende Tatbestande zum Schutze des Gemeinschaftsrechts harmonisch in ihre jeweilige nationale Strafrechtsordnung einzufugen bzw. bestehende Tatbestande im Einklang mit ihrer nationalen Dogmatik gemeinschaftsrechtskonform zu interpretieren. Die Strafrechtssysteme werden auf diese Weise - ganz im Sinne des strafrechtsspezifischen Schonungsgebotes - vor Fremdkorpera bzw. Systembriichen bewahrt38. Freilich bewirkt das Assimilierungsprinzip noch keine wirkliche Harmonisierung, sondern 33 34 35 36
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Satzger, Europaisierung, S. 337. Bleckmann, W u R 1991, 285. Tiedemann, NJW 1993, 23, 25; ders., in: Roxin-FS, S. 1401,1405. Bleckmann, WuR 1991, 285; Groblinghoff Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 14; Satzger, Europaisierung, S. 336; Tiedemann, EuZW 1990, 100; Zuleeg, JZ 1992, 761, 767. Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 31; Satzger, Europaisierung, S. 342. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 36.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
lediglich eine Europaisierung der mitgliedstaatlichen Strafrechtsordnungen. Denn die Assimilierung kann lediglich dazu beizutragen, das strafrechtliche Schutzgefalle zwischen nationalen und vergleichbaren gemeinschaftsrechtlichen Interessen abzubauen, nicht aber einen gemeinschaftsweit einheitlichen Strafrechtsschutz hervorbringen39. Immerhin entfaltet die das Gleichstellungsgebot erganzende Forderung nach wirksamen, angemessenen und abschreckenden Sanktionen aber einen gewissen Druck auf die Mitgliedstaaten, einen bestimmten strafrechtlichen Mindeststandard zum Schutze gemeinschaftsrechtlicher Interessen zu etablieren. Damit ist aus Sicht der Gemeinschaft bereits ein wesentlicher Schritt in die gewunschte Richtung getan. Eine weitergehende Harmonisierung des materiellen Strafrechts ist nur im Rahmen sekundarrechtlicher Anweisungen (§ 8) oder durch den Erlass von Rahmenbeschlussen (§11) erreichbar.
3. Gegenstand der strafrechtlichen Schutzverpflichtung 33 Die Judikatur des EuGH im Fall ,,Griechischer Mais" spiegelt sich in den durch den Vertrag von Maastricht eingeftihrten (deklaratorischen) Regelungen des Art. 209 a EGV (heute: Art. 280 EGV) tiber die Bekampfung von Betrugereien und sonstigen gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichteten rechtswidrigen Handlungen wieder40. Das Effizienzgebot gelangt in Art. 280 I, III, IV EGV, das Gleichstellungsgebot in Art. 280 II EGV zum Ausdruck. Samtliche Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung zu Art. 10 EGV lassen sich fur den Bereich der Betrugsbekampfung nunmehr auf Art. 280 EGV ilbertragen, was namentlich bei der Frage einer etwaigen, aus Art. 280 IV S. 1 EGV abzuleitenden strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG Bedeutung erlangt (§ 8 Rn. 59). Die ,,MaisJudikatur" wirkte denn auch als Impuls fiir eine globale Betrugsbekampfungsstrategie der Kommission, welche zu zahlreichen Gesetzgebungsinitiativen auf dem Gebiet des Straf- und Verwaltungsrechts fuhrte (§ 14 Rn. 4 f.). 34 Die Bedeutung des ,,Mais-Urteils" liegt nicht zuletzt in der darin zum Ausdruck gelangenden Anerkennung der strafrechtlichen Schutzbedurftigkeit und Schutzwiirdigkeit gemeinschaftsrechtlicher Interessen, dem die Mitgliedstaaten Rechnung tragen milssen. Nach herrschender und zutreffender Ansicht beschrankt sich die Aufgabe und Pflicht der Mitgliedstaaten, ihr nationales Strafrecht in den Dienst der Gemeinschaftsinteressen zu stellen, nicht auf den Schutz der EG-Finanzinteressen41. Die aus Art. 10 EGV abzuleitende Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten erstreckt sich vielmehr auf alle Rechtsguter und rechtlich geschutzten Interessen der Gemeinschaft, welche fur die Existenz und Funktionsfahigkeit der Gemeinschaft und fiir die Durchsetzung ihrer Politiken von Bedeutung sind. Als Schutzgilter der EG kommen neben dem Finanzhaushalt 39 40
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Tiedemann, Europaisierung, S. 144. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 151; Satzger, Europaisierung, S. 339. Vgl. exempl. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 416; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 38 ff.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 33; Tiedemann, NJW 1993, 23, 27; Satzger, Europaisierung, S. 347 ff.
C. Assimilierung als Auspragung der Schutzverpflichtung aus Art. 10 EGV
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der EG vor allem die Unbestechlichkeit ihrer Beamten, die Wahrung von Dienstgeheimnissen, die europaische Rechtspflege, die Realisierung der Grundfreiheiten, aber auch die Durchsetzung der Gemeinschaftspolitiken etwa auf den Gebieten der Marktorganisation, des Wettbewerbs, des Verbraucherschutzes und des Umweltschutzes in Betracht. Man kann insoweit von supranationalen europaischen Schutzgiitern sprechen 42 . In dem Fall ,,Franzosische Landwirte" 43 bestatigte der EuGH diese weit ge- 35 zogene strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten. Dem gegen die Franzosische Republik gefuhrten Vertragsverletzungsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde: Fall 5: Seit dem Jahre 1985 kam es in Frankreich immer wieder zu gewalttatigen Protestak- 36 tionen franzosischer Landwirte gegen die Einfuhr landwirtschaftlicher Erzeugnisse aus anderen EG-Mitgliedstaaten. So wurden z. B. Lastwagenfahrer, die solche Giiter transportierten, am Weiterfahren gehindert, bedroht oder sogar tatlich angegriffen. Teilweise wurde ihre Ladungen zerstort oder beschadigt. Auch wurden Drohungen ausgesprochen gegen franzosische Supermarktketten, die in ihrem Sortiment Obst und Gemtise aus anderen Mitgliedstaaten anboten. Wegen dieser Aktionen gingen zahlreiche Beschwerden bei der Kommission ein, mit denen die Untatigkeit der franzosischen Behorden bzw. deren unzulangliches Vorgehen geriigt wurden. Von Seiten der Kommission wurden die franzosischen Polizeiund Justizorgane mehrfach aufgefordert, die erforderlichen praventiven und repressiven MaBnahmen zu ergreifen, um gegen Gewaltakte und Vandalismus vorzugehen. Da diese Aktionen aber trotz entsprechender Zusagen der franzosischen Regierung, alle erforderlichen MaBnahmen zu ergreifen, fortdauerten, erhob die Kommission im Jahre 1995 Klage gegen die Franzosische Republik. Die franzosische Regierung machte geltend, dass alle polizeilichen und justiziellen Moglichkeiten ausgeschopft worden seien. Es sei nicht moglich, jegliches Risiko von Gewaltanwendungen auszuschlieBen. Es miisse den Polizeikraften im Einzelfall uberlassen bleiben, darilber zu entscheiden, ob ein polizeiliches Eingreifen erforderlich sei oder nicht. Die franzosische Regierung wies ferner darauf hin, dass der Unmut der franzosischen Bauern vor allem auf den Umstand zuriickzufiihren sei, dass verstarkt spanische Erzeugnisse zu Dumpingpreisen auf dem franzosischem Markt angeboten wurden. Losungshinweise zu Fall 5: Der EuGH stellte durch Urteil v. 9. Dezember 1997 37 fest, dass die Franzosische Republik gegen die ihr obliegenden gemeinschaftsrechtlichen Pflichten verstofien habe. Es seien nicht alle erforderlichen und angemessenen MaBnahmen ergriffen worden, um sicherzustellen, dass der fxeie Warenverkehr nicht durch Handlungen Privater im Rahmen von Agrarblockaden behindert wird. In seiner Urteilsbegriindung fiihrte der EuGH aus, dass Art. 28 EGV (Garantie des freien Warenverkehrs) den Mitgliedstaaten nicht nur die Vornahme eigener (hoheitlicher) Handlungen (etwa durch einen Akt der Gesetzgebung oder der Verwaltung) verbietet, die zu einem Handelshemmnis fuhren konnen, sondern sie in Verbindung mit Art. 10 EGV auch dazu verpflichtet, alle erforderlichen und geeigneten MaBnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung dieser Grundfreiheit sicherzustellen. Zwar raumt der EuGH den Mitgliedstaaten ein wei42 43
Satzger, Europaisierung, S. 348. EuGHE 1997, 6959.
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tes Ermessen bei der Entscheidung dariiber ein, welche MaBnahmen sie zu diesem Zweck zu ergreifen haben. Es sei jedoch Sache des Gerichthofes, unter Beriicksichtigung dieses Ermessens zu priifen, ob ein Mitgliedstaat die zur Sicherstellung des ungehinderten grenzilberschreitenden Warenverkehrs geeigneten und erforderlichen MaBnahmen ergriffen habe. Im Ausgangsfall gelangte der EuGH zu der Ansicht, dass die MaBnahmen der franzosischen Behorden angesichts der Haufigkeit und Schwere der von der Kommission aufgefuhrten Vorfalle offenkundig nicht ausreichten, um den freien innergemeinschaftlichen Handelsverkehr mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen in ihrem Gebiet dadurch zu gewahrleisten, dass sie die Urheber der fraglichen Zuwiderhandlungen wirksam an deren Begehung und Wiederholung hinderten und sie davon abschreckten. Der Gerichtshof zog damit die Konsequenzen zum einen aus dem Befund, dass die von franzosischen Landwirten ausgehenden gewalttatigen Aktionen sich schon seit mehr als zehn Jahren fortsetzten und zum anderen aus der Feststellung, dass die franzosische Polizei in einer Vielzahl von Fallen nicht zur Stelle war oder gegen gewaltsame Protestaktionen nicht eingeschritten ist. Obwohl einige Aktivisten den Justizbehorden namentlich bekannt waren, fand keine Strafverfolgung statt. 38
Der EuGH bejaht im Fall ,,Franzosische Landwirte" eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Rahmenbedingungen zu schaffen und zu garantieren, die es den Marktbilrgern ermoglichen, ihre gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten auszuilben. Die gehorige Wahrnehmung dieser Verpflichtung umfasst ggf. auch das Gebot, mit polizeilichen und strafrechtlichen Mitteln gegen Private einzuschreiten, die andere Marktburger an der Ausiibung ihrer Grundfreiheiten hindern. In einer neueren Entscheidung v. 12. Juni 2003, in der es um die Frage ging, ob die Republik Osterreich gegen die Grundfreiheit des freien Warenverkehrs verstoBen habe, weil sie eine 30-stilndige Brennerblockade durch Umweltaktivisten nicht untersagt und damit Spediteure an der Uberquerung der Alpen gehindert habe, bestatigte der EuGH diesen Grundsatz44. Er bekraftigte die aus Art. 10 EGV abzuleitende Pflicht der Mitgliedstaaten, durch alle erforderlichen und geeigneten MaBnahmen fur die Beachtung und Durchsetzung der Grundfreiheiten in ihrem Hoheitsgebiet zu sorgen und fuhrte aus, dass das Nichteinschreiten gegen Private eine staatliche MaBnahme gleicher Wirkung wie eine mengenmaBige Ein- und Ausfuhrbeschrankung (Art. 28 EGV) darstellen kann. Im Ergebnis wurde jedoch eine Vertragsverletzung der Republik Osterreich verneint, weil der Eingriff in die Warenverkehrsfreiheit durch zwingende Grttnde des Allgemeininteresses - hier: die von Osterreich zu beachtenden Grundrechte der Demonstranten - gerechtfertigt war.
EuGH NJW 2003, 3185 = EuZW 2003, 592.
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III. Gemeinschaftsrechtlicher Rahmen fur Strafgesetze im Dienste des Gemeinschaftsrechts 1. Gemeinschaftsrechtlich festgelegte Untergrenze Das zum Schutze von Gemeinschaftsinteressen funktionalisierte Strafrecht der 39 Mitgliedstaaten ist in einen gemeinschaftsrechtlichen Rahmen eingebunden. Solange sich die mitgliedstaatliche Strafgesetzgebung und Judikatur innerhalb dieses Rahmens bewegt, ist sie hinsichtlich der Setzung, inhaltlichen Ausgestaltung und Anwendung strafrechtlicher Normen frei und nur den innerstaatlichen Vorgaben des Verfassungsrechts und der Strafrechtsdogmatik unterworfen. Die Untergrenze des gemeinschaftsrechtlichen Rahmensystems ergibt sich aus den in der ,,Mais-Rechtsprechung" entwickelten Mindestvorgaben (Gleichstellungserfordernis und Mindestrias), welche fur die mitgliedstaatlichen Strafgesetzgeber bei der Einfiihrung und Ausgestaltung von Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts sowie fur die nationalen Gerichte bei der Auslegung einschlagiger Tatbestande verbindlich sind und nicht unterschritten werden diirfen. Das Unterschreiten der Untergrenze stellt eine Vertragsverletzung in Form eines VerstoBes gegen das gemeinschaftsrechtliche Loyalitatsgebot - genauer: gegen das Handlungsgebot des Art. 10 I EGV - dar.
2. Prazisierung der Untergrenze der Sanktionierungspflicht CVandevenne") Zu einer weiteren Klarung der Reichweite der gesetzgeberischen Ermessensbin- 40 dung im Sinne einer gemeinschaftsrechtlich vorgegebenen Untergrenze der Sanktionierungspflicht tragt das Urteil des EuGH in der Rechtssache ,,Strafverfahren gegen Paul Vandevenne u. a."45 bei, dem folgender Sachverhalt zugrunde liegt: Fall 6: Der LKW-Fahrer Vandevenne wurde iiberfuhrt, die in einer EG-Verordnung vorge- 41 schriebenen Lenk- und Ruhezeiten nicht eingehalten zu haben. Nach belgischem Recht konnten nur der Fahrer und im Betrieb verantwortliche Personen strafrechtlich haften, nicht jedoch das Unternehmen, in dessen Auftrag der dort angestellte LKW-Fahrer fahrt. Denn die belgische Rechtsordnung kennt (wie die deutsche) keine strafrechtliche Verantwortlichkeit juristischer Personen. In der einschlagigen EG-Verordnung war bestimmt, dass ,,die Unternehmen" fur die Einhaltung der vorgeschriebenen Lenk- und Ruhezeiten zu sorgen haben. Das belgische Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob sich aus der betreffenden Verordnung eine Verpflichtung zur Einfiihrung der Strafbarkeit juris-tischer Personen oder zu einer (verschuldensunabhangigen) objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit ergebe. Losungshinweise zu Fall 6: Die Einhaltung der in einer EG-Verordnung festge- 42 legten Lenk- und Ruhezeiten stellt ein gemeinschaftsrechtliches Interesse dar, zu dessen Durchsetzung und Schutz die Mitgliedstaaten verpflichtet sind. Aus der Verordnung selbst (diese iiberlasst es den Mitgliedstaaten, die notwendigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften zur Durchfuhrung der Verordnung zu erlas45
EuGHE 1991, 4371.
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sen) und aus dem Loyalitatsgebot des Art. 10 EGV ergibt sich die grundsatzliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Zuwiderhandlungen gegen das sekundarrechtlich begrundete Gebot mit Sanktionsnormen zu begegnen, soweit dies zur effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts geboten ist. Der EuGH verweist in diesem Zusammenhang auf seine standige Rechtsprechung, wonach den Mitgliedstaaten ein Ermessen hinsichtlich der Wahl der Sanktionen zusteht. Zugleich zitiert er sinngemaB die Passagen des ,,Mais-Urteils" zum Gleichstellungserfordernis und zur Mindesttrias, die dieses Ermessen einschranken. Eine Pflicht der Mitgliedstaaten, die Strafbarkeit juristischer Personen oder eine objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit einzufuhren, folge hieraus aber nicht. 43 Der EuGH prazisiert in der Entscheidung ,,Vandevenne" die Mindestanforderungen an mitgliedstaatliche Sanktionen zum Schutze gemeinschaftlicher Interessen, die er aus dem Loyalitatsprinzip entwickelt hat. Diesen werde ausreichend Rechnung getragen, wenn Zuwiderhandlungen gegen Gemeinschaftsrecht durch die Anwendung von Bestimmungen des nationalen Rechts bestraft werden konnen, die mit den Grandprinzipien des nationalen Strafrechts in Einklang stehen, sofern die sich daraus ergebenden Sanktionen nur wirksam, verhaltnismaBig und abschreckend sind. Damit stellt der EuGH - ganz im Sinne des strafrechtsspezifischen Schonungsgebotes46 - in begriiBenswerter Deutlichkeit klar, dass die Gemeinschaft Rucksicht zu nehmen hat auf die identitatspragenden Eigenheiten und Besonderheiten der nationalen Strafrechtsordnungen, wie sie in den gewachsenen Rechtsstrukturen zum Ausdruck gelangen.
3. Gemeinschaftsrechtlich festgelegte Obergrenze 44 Die Obergrenze des gemeinschaftsrechtlichen Rahmensystems wird durch die allgemeinen Rechtsgrundsatze des Gemeinschaftsrechts und durch die Grundfreiheiten abgesteckt47. Nationales Strafrecht muss namentlich mit dem gemeinschaftsrechtlichen VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz und dem Gleichbehandlungsgebot (Diskriminierungsverbot) vereinbar sein und darf die Marktbilrger nicht an der Inanspruchnahme einer primarrechtlichen Garantie hindern. 45 Beispiele: (1) Im Fall ,,Casati" 48 ruhrte der EuGH aus, dass der VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz administrativen und strafrechtlichen MaBnahmen entgegenstehe, die iiber den Rahmen des unbedingt Erforderlichen hinausgehen. Insbesondere diirften an eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts keine Sanktionen gekniipft sein, die so auBer Verhaltnis zur Schwere der Tat stehen, dass sie sich als Behinderung einer Marktfreiheit erweisen.
Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 166 ff., 338. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 130 ff.; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 16 f; Satzger, Europaisierung, S. 295 ff., 360, 373 f. EuGHE 1981, 2595 ff.; vgl. auch EuGHE 1976, 1921 ff. (,,Donckerwolcke").
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(2) In der Rechtssache ,,Drexl"49 hatte der EuGH iiber die Vereinbarkeit einer 46 italienischen Sanktionsnorm mit dem gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot zu entscheiden. Die einschlagige Bestimmung sah fur VerstoBe gegen Vorschriften iiber die Mehrwertsteuer bei der Einfuhr von Waren erheblich empfindlichere Strafen vor als dies fur vergleichbare Verstofle im Inlandsverkehr der Fall war. Der EuGH stufte diese strafrechtliche Ungleichbehandlung vergleichbarer VerstoBe als diskriminierende MaBnahme ein, die zu einer Beeintrachtigung des freien Warenverkehrs flihre. (3) Um die Vereinbarkeit einer Vorschrift des franzosischen Strafverfahrens- 47 rechts mit dem Diskriminierungsverbot ging es in der Rechtssache ,,Cowan"50. Ein britischer Tourist war bei einem Aufenthalt in Paris tatlich angegriffen und schwer verletzt worden. Das franzosische Strafverfahrensrecht gewahrte fur solche Falle einen Entschadigungsansprach des Opfers gegen den Staat, jedoch nur unter der Voraussetzung, dass das Opfer franzosischer Staatsangehoriger, Inhaber einer Fremdenkarte oder Angehoriger eines Staates ist, der mit Frankreich ein Gegenseitigkeitsabkommen fur die Anwendung der einschlagigen Vorschrift geschlossen hat. Diese Voraussetzungen lagen in dem konkreten Fall nicht vor. Der EuGH erblickte in der franzosischen Regelung eine gemeinschaftsrechtswidrige Ungleichbehandlung: „ Derartige Regelungen durfen weder zu einer Diskriminierung von Personen fiihren, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschranken. "51 (4) Die strafbarkeitsbegrenzende Funktion des Gemeinschaftsrechts wird 48 auch in dem Fall ,,Skanavi"52 deutlich. In Deutschland wurde eine griechische Staatsbilrgerin wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis ( § 2 1 1 Nr. 1 StVG) strafrechtlich verfolgt, weil sie auf deutschen StraBen ein Fahrzeug gefuhrt habe, ohne im Besitz eines deutschen Filhrerscheins zu sein. Die Angeklagte hatte es versaumt, ihren in Griechenland ausgestellten Fuhrerschein in der vom innerstaatlichen Recht vorgesehenen Frist in einen deutschen umzutauschen53. Der EuGH entschied, dass die Umtauschpflicht lediglich verwaltungstechnischen Erfordernissen entspreche und keine konstitutive Wirkung bezilglich der Berechtigung zum Ftlhren eines Kraftfahrzeugs entfalte. Die gemeinschaftsweite Anerkennung der in einem Mitgliedstaat rechtmaBig erworbenen Fahrerlaubnis folge bereits aus den Vorschriften iiber die Freizilgigkeit. Der Inhaber einer in Griechenland erteilten Fahrerlaubnis, der lediglich seiner Umtauschpflicht nicht nachgekommen und daher nicht im Besitz eines deutschen Fiihrerscheins ist, darf mithin in Deutschland - im Lichte des gemeinschaftsrechtlichen VerhaltnismaBigkeitsprinzips - nicht 49 50 51 52 53
EuGHE 1988, 1213 ff. EuGHE 1989, 195 ff. EuGHE 1989, 195, 222; vgl. auch EuGHE 1999, 11, 29; 1988, 1213, 1235; 1981, 2595, 2618; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 19 ff., 27 ff. EuGHE 1996, 929 ff. Seit dem 1. Juli 1996 entfallt die Umtauschpflicht, da durch RL 91/439 des Rates v. 29. Juli 1991 iiber den Fuhrerschein der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung von in einem Mitgliedstaat rechtmaBig ausgestellten Fiihrerscheinen gilt.
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wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis strafrechtlich verfolgt werden. Die sanktionsrechtliche Gleichstellung der bloBen Verletzung der Fuhrerscheinumtauschpflicht mit dem unberechtigten Fuhren eines Kfz steht nicht in Einklang mit Gemeinschaftsrecht. Demgegeniiber liegt nach Auffassung des EuGH kein Verstofi gegen Gemeinschaftsrecht vor, wenn infolge fehlenden Fuhrerscheinumtausches die Strafverfolgung eines Drittstaatsangehorigen wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis in Rede steht. Da in einem solchen Fall der Anwendungsbereich der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten nicht eroffhet sei, entfalte die Ausstellung des nationalen Fuhrerscheins konstitutive Wirkung54. 49 (5) Nationale Sanktionsnormen sind infolge des Anwendungsvorranges des Gemeinschaftsrechts (vgl. § 9 Rn. 8 ff.) unanwendbar, wenn sie mit einer primarrechtlich gewahrten Grundfreiheit kollidieren. Da der EuGH mittlerweile alle Grundfreiheiten nicht nur als Diskriminierungs-, sondern auch als Beschrankungsverbote auffasst, ist eine Behinderung der Marktfreiheiten durch mitgliedstaatliche Sanktionsregelungen nur noch in den vom Primarrecht gezogenen Grenzen zulassig55. In der Rechtssache ,,Gebhard"56 bringt der EuGH die immanenten Schranken der Grundfreiheiten auf den Punkt, indem er ausfuhrt, dass nationale Sanktionsregelungen, welche die Ausilbung einer Marktfreiheit behindern, nur dann nicht gegen den EGV verstoBen, wenn sie aus zwingenden Griinden des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und das Diskriminierungsverbot sowie das VerhaltnismaBigkeitsprinzip beachtet wird. 50 Die gemeinschaftsrechtliche Obergrenze bildet mithin eine Schranke, die von nationalen Strafhormen nicht uberschritten werden darf. Jede gemeinschaftsrechtswidrige Setzung, Aufrechterhaltung oder Anwendung nationalen Strafrechts stellt eine Vertragsverletzung in Form eines VerstoBes gegen das gemeinschaftsrechtliche Loyalitatsgebot - in diesem Fall gegen das Unterlassungsgebot des Art. lOIIEGV-dar.
4. Prazisierung der Obergrenze strafrechtlicher Sanktionen CHansen") 51 Zu einer weiteren Klarung der vom Gemeinschaftsrecht abgesteckten Obergrenze flir mitgliedstaatliche Sanktionsbestimmungen tragt das Urteil des EuGH in der Rechtssache ,,Hansen"57 bei: 52 Fall 7: Die danische Fa. Hansen wurde von nationalen Behorden mit einer GeldbuBe belegt, weil einer ihrer Fahrer die durch eine EG-Verordnung festgelegte tagliche Lenkzeit uberschritten hatte. Dem Arbeitgeber fiel nach den getroffenen Feststellungen weder Vorsatz noch Fahrlassigkeit zur Last. Jedoch haftet er nach den einschlagigen danischen Sanktionsbestimmungen verschuldensunabhangig. Die Fa. Hansen machte zum einen geltend, die nationale Regelung wurde die EG-Verordnung erweitern (also inhaltlich abandern). 54 55
56 57
EuGHE 1998, 6781; vgl. hierzu Glefi, NZV 1999,410,413. Vgl. hierzu die beriihmte ,,Cassis-Rechtsprechung" zur Warenverkehrsfreiheit seit EuGHE 1979, 649; lehrreich hierzu Schutz, Jura 1998, 631. E u G H E 1995, 4165 ff. EuGHE 1990,2911.
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Zum anderen wiirden durch die danischen Sanktionsbestimmungen in Danemark angesiedelte Unternehmen in hoherem Mafie der Gefahr einer Bestrafung ausgesetzt als in anderen Mitgliedstaaten angesiedelte Konkurrenten, da nur Danemark eine objektive Strafhaftung eingefiihrt habe. Dies fuhre zu einer Verzerrung des freien Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes, was den Zielen der einschlagigen Verordnung zuwiderlaufe. Das zustandige Gericht legte dem EuGH die Frage vor, ob die im danischen Recht vorgesehene objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit gegen Gemeinschaftsrecht verstoflt. Losungshinweise zu Fall 7: Mit ihrem Vorbringen, die danischen Sanktionsbe- 53 stimmungen wiirden den Inhalt der EG-Lenkzeitenverordnung in unzulassiger Weise erweitern, vermochte die Firma Hansen beim EuGH nicht durchzudringen. Bereits in der Sache ,,Amsterdam Bulb" (Rn. 19 ff.) hatte der Gerichtshof entschieden, dass den nationalen Gesetzgebern die Befugnis zusteht, Sanktionsbestimmungen zu erlassen, um die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu sichern. Auch die weiteren Argumente der Firma Hansen, mit denen der EuGH davon iiberzeugt werden sollte, dass die danischen Bestimmungen zu streng seien und damit gleichsam eine gemeinschaftsrechtliche Hochstgrenze fur Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrecht uberschritten worden sei, teilte der Senat nicht. Die Einfuhrung einer verschuldensunabhangigen Strafbarkeit stelle nicht ohne weiteres eine gemeinschaftsrechtswidrige Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen dar. Da der EuGH schon keine Wettbewerbsverzerrung annahm, aufierte er sich auch nicht zu der Frage, ob und in welchem Zusammenhang eine Wettbewerbsverfalschung durch divergierende nationale Sanktionsnormen iiberhaupt eine begrenzende Wirkung fur die mitgliedstaatliche Rechtsetzung entfalten konnte. Der EuGH griff jedoch das VerhaltnismaBigkeitskriterium als Obergrenze 54 auf, indem er ausfilhrte: ,,Aufierdem liegt die Verkehrssicherheit, die ...eines der Ziele der Verordnung ist, im Interesse der Allgemeinheit, das die Festsetzung einer objektiven strafrechtlichen Verantwortlichkeit rechtfertigen kann. Eine solche Sanktion, die der in Art. 5 EGV (Art. 10 EGV n. F.) verankerten Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit entspricht, ist deshalb gegeniiber dem angestrebten Ziel nicht unverhaltnismdfiig. "58 Damit folgte der Gerichtshof im Ergebnis dem Schlussantrag von Generalanwalt van Gerven, welcher — noch deutlicher als der EuGH dargelegt hatte, dass der Grundsatz ,,nulla poena sine culpa" (keine Strafe ohne Schuld) im Gemeinschaftsrecht keine absolute Geltung beanspruchen, sondern unter Beachtung des VerhaltnismaBigkeitsprinzips eingeschrankt werden konne (hier: Durchsetzung wichtiger Interessen des Allgemeinwohls und keine Androhung auBergewohnlich hoher Strafen).
EuGHE 1990, 2911 (Rz. 19).
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5. Inhaltsbestimmung der gemeinschaftsrechtlichen Rahmenbegriffe a) Konkretisierungsspielraum der Mitgliedstaaten 55 Die Zusammenschau der Rechtssachen ,,Vandevenne" (Rn. 40 ff.) zur Untergrenze der aus dem Loyalitatsgebot abgeleiteten strafrechtlichen Schutzverpflichtung und ,,Hansen" (Rn. 51 ff.) zur Obergrenze fur innerstaatliche Sanktionsbestimmungen zum Schutze des Gemeinschaftsrechts macht Folgendes deutlich: Einerseits sind die Mitgliedstaaten nicht zur Einfuhrung einer Strafbarkeit juristischer Personen oder zur Schaffung einer verschuldensunabhangigen (objektiven) strafrechtlichen Verantwortlichkeit verpflichtet. Andererseits steht es ihnen frei, auf nationaler Ebene gerade diese strafrechtlichen MaBnahmen zu ergreifen. Der gemeinschaftsrechtliche Rahmen, in den das mitgliedstaatliche Strafrecht eingebunden ist, belasst den Mitgliedstaaten also einen relativ breiten Spielraum fur die inhaltliche Ausgestaltung von Sanktionsnormen im Dienste des Gemeinschaftsrechts. 56 Bei den das gemeinschaftsrechtliche Rahmensystem nach unten und oben eingrenzenden Schrankenbestimmungen handelt es sich um Termini des Gemeinschaftsrechts, die der autonomen Interpretation des EuGH unterliegen59. Die Zustandigkeit der supranationalen Gerichtsbarkeit stellt sicher, dass es nicht zu einer vollig uneinheitlichen Handhabung der Mindesterfordernisse und Obergrenzenkriterien in den Mitgliedstaaten kommt - eine Gefahr, die vorprogrammiert ware, wenn jeder Mitgliedstaat nach eigenem Belieben den Rahmen fur seine legislative Tatigkeit zum Schutze des Gemeinschaftsrechts festlegen konnte. Andererseits betont der EuGH - ganz im Sinne des strafrechtsspezifischen Schonungsprinzips —, dass den Mitgliedstaaten grundsatzlich die Wahl der Sanktionen zusteht50. Den mitgliedstaatlichen Strafgesetzgebern und Gerichten verbleibt mithin bei der Auslegung und Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Rahmenkriterien ein gewisser Konkretisierungsspielraum, dessen gemeinschaftsrechtskonforme Austibung jedoch einer Vertretbarkeitskontrolle durch den EuGH unterliegt. 57 Im Vorabentscheidungsverfahren (vgl. § 6) judiziert der Gerichtshof ohnehin nur ilber die Auslegung von Gemeinschaftsrecht, nicht aber iiber den konkreten Sachverhalt des Ausgangsverfahrens oder die Anwendbarkeit einer nationalen Sanktionsnorm. Seine Aufgabe beschrankt sich vielmehr darauf, dem fur die Entscheidung des Ausgangsfalles zustandigen Gericht erlauternde Hinweise hinsichtlich der Vorgaben des Gemeinschaftsrechts zu geben, um diesem eine Beurteilung zu ermoglichen, ob die einschlagige Sanktionsnorm gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen gentlgt. Im Vertragsverletzungsverfahren ist der EuGH dazu berufen, festzustellen, ob eine konkrete mitgliedstaatliche Regelung mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Aber auch in diesem Verfahren respektiert der EuGH aufgrund des von ihm in der Sache anerkannten strafrechtsspezifischen Schonungsgebotes
59 60
Satzger, Europaisierung, S. 361 ff., 373 ff. EuGHE 1989, 2965 (Rz. 24); 1990, 2911 (Rz. 17); 1991, 4371 (Rz. 11); 1994, 2435 (Rz. 55); 1995, 3573 (Rz. 20); 1997, 1111 (Rz. 35).
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den Einschatzungs- und Konkretisierungsspielraum der Mitgliedstaaten und beschrankt sich demgemaB auf eine Vertretbarkeitskontrolle61. b) Gleichstellungserfordernis Die Mitgliedstaaten sind aufgrund des Loyalitatsgebotes (Art. 10 EGV) verpflich- 58 tet, VerstoBe gegen das Gemeinschaftsrecht (Angriffe auf Gemeinschaftsinteressen) durch ihr innerstaatliches Recht nach ahnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu ahnden wie nach Art und Schwere gleichartige VerstoBe gegen nationale Schutzgttter (Rn. 29). Das Gleichbehandlungserfordernis erstreckt sich auf die Setzung und Anwendung sowohl des materiellen Sanktionenrechts (Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht) als auch des zu seiner Durchsetzung bestimmten Prozessrechts (Straf- und Buflgeldverfahrensrecht). In verfahrensrechtlicher Hinsicht mtissen die mitgliedstaatlichen Stellen gegeniiber VerstoBen gegen Gemeinschaftsrecht mit derselben Sorgfalt vorgehen, die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Rechtsvorschriften walten lassen. Das Gleichstellungsgebot gelangt nur zur Anwendung, wenn es sich bei dem 59 festgestellten VerstoB gegen Gemeinschaftsrecht um einen solchen handelt, der nach Art und Schwere einem VerstoB gegen nationales Recht gleicht. Ob ein ,,gleichartiger" Verstofi vorliegt, ist anhand eines von dem nationalen Gesetzgeber oder Rechtsanwender (Gerichte und sonstige Behorden) vorzunehmenden Wertungsaktes zu beurteilen, welcher seinerseits lediglich einer Vertretbarkeitskontrolle durch den EuGH unterliegt (Rn. 56 f.). ,,Gleicher Art" sind VerstoBe dann, wenn sie identische oder zumindest ver- 60 gleichbare Interessen berilhren62. Dies ist der Fall, wenn eine Norm des Gemeinschaftsrechts verletzt wird, die dasselbe oder ein funktionell gleichwertiges Rechtsgut wie eine nationale Strafnorm schiltzt. Zu denken ist etwa an einen VerstoB gegen das gemeinschaftsrechtliche Luftreinhalterecht, durch den das gleiche Rechtsgut (Reinheit der Luft in ihrer Funktion als natilrliche Lebensgrundlage des Menschen) angegriffen wird, das auch der deutschen Strafbestimmung des § 325 StGB zugrunde liegt63. Als weitere Beispiele fur VerstoBe, die sich aus der Perspektive des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Strafrechts gegen vergleichbare Interessen richten, sind zu nennen: Angriffe auf den Finanzhaushalt der EG (z. B. in Form des Subventionsbetruges oder der Abgabenhinterziehung) sowie auf die Lauterkeit der Amtsfuhrung von EG-Beamten. Der Finanzhaushalt eines Mitgliedstaates und die Lauterkeit der Amtsfuhrung des nationalen offentlichen Dienstes stellen funktional vergleichbare Interessen dar, die vom innerstaatlichen Strafrecht geschutzt werden. Hieraus folgt in Anwendung des Gleichstellungsgebotes, dass die Mitgliedstaaten den genannten Gemeinschaftsinteressen den gleichen materiellrechtlichen und prozessualen Schutz angedeihen lassen mtissen wie den funktionsidentischen nationalen Interessen. Fur den Schutz des EG-Finanz-
61 62
63
Satzger, Europaisierung, S. 375. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 23; Satzger, Europaisierung, S. 365. Vgl. hierzu Hecker, ZStW 115 (2003), 800, 895 ff.
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haushalts wird das Gleichstellungserfordernis durch Art. 280 II EGV deklaratorisch festgeschrieben. 61 Von ,,gleicher Schwere" sind VerstoBe gegen Gemeinschaftsrecht, wenn der darin liegende Angriff auf das einschlagige Gemeinschaftsinteresse eine Intensitat aufweist, die vom nationalen Recht - unterstellt, es lage ein Angriff auf ein vergleichbares nationales Rechtsgut vor - als strafbare (oder mit sonstigen repressiven Sanktionen belegbare) Handlung erfasst wird64. Der nationale Gesetzgeber hat bei der Ausgestaltung des Rechtsguterschutzes einen breiten Ausgestaltungsspielraum. Er kann Kriminalstrafrecht oder sonstiges Sanktionenrecht (BuBgeldrecht, Verwaltungssanktionen) einsetzten. Die Schutzintensitat wird des Weiteren dadurch bestimmt, ob z. B. nur die Schadigung (Erfolgsdelikte) oder bereits die Gefahrdung des Rechtsgutes strafbar ist (konkrete und abstrakte Gefahrdungsdelikte). Weitere Faktoren der Schutzintensitat bilden etwaige Qualifikationen, Strafzumessungsregeln (besonders schwere Falle) sowie Schuldkomponenten (Vorsatz, Fahrlassigkeit, objektive strafrechtliche Verantwortlichkeit). SchlieBlich hangt der strafrechtliche Schutzstandard auch davon ab, ob und inwieweit bereits der Versuch oder bestimmte Vorbereitungshandlungen mit Strafe bedroht sind. 62 Das Gleichstellungserfordernis ware z. B. verletzt, wenn das nationale Recht einen VerstoB gegen Gemeinschaftsrecht lediglich im Falle der Schadigung des Gemeinschaftsinteresses (oder bei vorsatzlichem Handeln) mit Strafe bedroht, wahrend das gleichartige nationale Schutzgut bereits vor einer bloBen Gefahrdung (oder vor fahrlassigem Handeln) strafrechtlich geschutzt wird. Gemeinschaftsrechtswidrig ware es auch, den Versuch der Bestechung nationaler Amtstrager im innerstaatlichen Recht unter Strafe zu stellen, bezilglich der Bestechung von EGBeamten eine Strafandrohung aber nur fur die vollendete Tat vorzusehen. Das Gleichstellungsgebot legt die Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten auf die Gewahrleistung eines innerstaatlich gleichen Schutzstandards fur Gemeinschaftsinteressen und funktional vergleichbare nationale Schutzguter fest. c) Wirksamkeits- und Abschreckungserfordernis 63 Das aus dem Gleichbehandlungserfordernis abzuleitende Assimilierungsgebot, also die Pflicht der Mitgliedstaaten, Gemeinschaftsinteressen im Wesentlichen den gleichen strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen wie vergleichbaren nationalen Rechtsgutern, liefe gleichsam ,,ins Leere", wenn sich fur ein schutzwurdiges Gemeinschaftsinteresse kein nationales Aquivalent ausmachen oder in der innerstaatlichen Rechtsordnung kein vergleichbar schwerer Angriff feststellen lieBe. Denkbar ist schlieBlich auch, dass ein Mitgliedstaat ein bestimmtes Rechtsgut strafrechtlich nicht oder nur unzureichend schiitzt. In diesen Fallen ubernimmt die Mindesttrias als Substitut fur das unanwendbare Gleichbehandlungsgebot die Funktion der gemeinschaftsrechtlichen Untergrenze der strafrechtlichen Sanktionierungsverpflichtung und stellt sicher, dass das Gemeinschaftsinteresse in dem
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Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 24; Satzger, Europaisierung, S. 366.
C. Assimilierung als Auspragung der Schutzverpflichtung aus Art. 10 EGV
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betreffenden Mitgliedstaat nicht (weitgehend) schutzlos gestellt ist65. Die Bedeutung der Mindesttrias erschopft sich aber nicht in dieser Auffangflinktion. Unabhangig davon, ob ein dem Gemeinschaftsinteresse vergleichbares nationales Schutzgut existiert und ob sich ein gleichartiger VerstoB gegen nationales Recht ermitteln lasst, sind die vom EuGH aufgestellten Mindesterfordernisse einer wirksamen, verhaltnismaBigen und abschreckenden Sanktion von den Mitgliedstaaten zu gewahrleisten. Erst recht mussen sich die zu Assimilierungszwecken geschaffenen oder heranziehbaren Sanktionsnormen an dem gemeinschaftsrechtlichen MaBstab der Wirksamkeit, VerhaltnismaBigkeit und Abschreckungstauglichkeit messen lassen. Auch wenn der EuGH im Zusammenhang mit der Mindesttrias stets von ,,Sank- 64 tionen" spricht, so bedeutet dies nicht etwa, dass nur die Rechtsfolgen wirksam, verhaltnismaBig und abschreckend sein mussen. Unter ,,Sanktion" ist die gesamte Strafhorm, bestehend aus Tatbestand und Rechtsfolge zu verstehen66. So bezeichnet der EuGH etwa im Fall ,,Hansen" (Rn. 51 ff.) das System der objektiven (verschuldensunabhangigen) strafrechtlichen Verantwortlichkeit als Sanktion. Die Bedeutung des Wirksamkeitskriteriums erschlieBt sich durch einen Blick 65 auf die Funktion der Sanktionen im Dienste des Gemeinschaftsrechts. Diese sollen die Geltungskraft und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts gewahrleisten. Wirksam ist eine Sanktion also nur dann, wenn sie tatsachlich dazu beitragt, das Gemeinschaftsinteresse zu schiitzen bzw. die Ziele der gemeinschaftsrechtlichen Regelung zu verwirklichen. Sie muss daher geeignet sein, die Allgemeinheit von VerstoBen abzuhalten (negative Generalpravention) und den Tater von weiteren VerstoBen abzuschrecken (negative Spezialpravention)67. Zugleich muss sie dazu beitragen konnen, das Vertrauen der Allgemeinheit in die Geltungskraft des Gemeinschaftsrechts bzw. des nationalen Ausfuhrungsrechts zu bekraftigen (positive Generalpravention). An dieser Stelle wird deutlich, dass sich das Wirksamkeitskriterium mit dem Erfordernis der Abschreckung inhaltlich ilberschneidet. Das Wirksamkeits- und das Abschreckungskriterium konnen daher als ein zusammengehorendes Gebot behandelt werden68. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine Sanktionsnorm wirksam und abschre- 66 ckend ist, bedarf es einer umfassenden Wiirdigung ihrer Praventionswirkung, die sich nicht nur aus der Reichweite ihres Tatbestandes bzw. aus der abstrakten Hohe der angedrohten Strafe, sondern auch aus Faktoren der ,,gelebten Rechtsordnung", wie Haufigkeit und Intensitat von Kontrollen, gangige Verfolgungspraxis, Art und Weise des Vollzugs usw., ergibt. Den nationalen Gesetzgebern ist ein breiter, dem strafrechtsspezifischen Schonungsgebot Rechnung tragender Beurteilungs- und Groblinghojf, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 24 f.; Satzger, Europaisierung, S. 363. Groblinghojf, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 25. Groblinghoff Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 25; Satzger, Europaisierung, S. 368. So der Vorschlag von Satzger, Europaisierung, S. 368; a. A. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 26, der das Abschreckungskriterium als Ausdruck der negativen Generalpravention deutet.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
Konkretisierungsspielraum zu belassen. Verletzt ist das als gemeinschaftsrechtliche Untergrenze der mitgliedstaatlichen Sanktionierungspflicht dienende Wirksamkeits- und Abschreckungskriterium jedoch, wenn das nationale Recht fur einen mit hoher krimineller Energie gefuhrten Angriff auf Gemeinschaftsinteressen oder fur eine Tat, die zu einer gravierenden Schadigung eines supranationalen Rechtsgutes gefuhrt hat, lediglich eine Bagatellsanktion androht69. Zu denken ist etwa an das Extrembeispiel, dass das mitgliedstaatliche Recht fur den Fall eines organisierten Subventionsbetruges groBen AusmaBes lediglich die Verhangung eines Bufigelds oder einer Verwaltungssanktion vorsieht. Offensichtlich ineffektive MaBnahmen oder lediglich ,,symbolische" Strafen genilgen dem Gebot wirksamer und abschreckender Sanktionen nicht70. 67 Die Mitgliedstaaten mlissen dem Wirksamkeitserfordernis nicht zuletzt durch eine effektive Ausgestaltung ihres Strafanwendungsrechts (,,Internationales Strafrecht"; § 2 Rn. 2 ff.) in Form eines europaischen Territorialitatsprinzips Rechnung tragen71. Es muss sichergestellt werden, dass die vom Territorium eines Mitgliedstaates aus begangenen Angriffe auf Gemeinschaftsinteressen von den Strafgerichten jedes Mitgliedstaates nach dessen innerstaatlichem Recht abgeurteilt werden konnen (zu dem daraus resultierenden Problem konkurrierender nationaler Strafanspruche vgl. § 13). Einen Schritt in diese Richtung stellt im deutschen Recht die Einfugung der §§ 6 Nr. 8, 370 VII AO dar, die den Anwendungsbereich der Tatbestande des Subventionsbetrugs (§ 264 StGB) und der Steuerhinterziehung (§ 370 AO) auf Taten erstrecken, die auBerhalb der Bundesrepublik Deutschland begangen werden. d) VerhaltnismaUigkeit (Angemessenheit) der Sanktion 68 Der gemeinschaftsrechtliche Grundsatz der VerhaltnismaBigkeit stellt eine Obergrenze fiir mitgliedstaatliche Sanktionen dar (Rn. 44 ff). Wenn der EuGH in den Fallen ,,von Colson und Kamann" (Rn. 23 ff.), ,,Griechischer Mais" (Rn. 27 ff.) und ,,Vandevenne" (Rn. 40 ff.) von dem Erfordernis verhaltnismafiigcr Sanktionen spricht, die bei VerstoBen gegen Gemeinschaftsinteressen anzudrohen sind, so versteht er die VerhaltnismaBigkeit als Mindesterfordernis (Untergrenze der Sanktionierungspflicht). Die Mitgliedstaaten diirfen also keine MaBnahmen treffen, die dem Grad und der Schwere des Angriffs auf das Gemeinschaftsinteresse nicht angemessen Rechnung tragen. Das VerhaltnismaBigkeitserfordernis bzw. konkreter formuliert - das Gebot der Androhung angemessener Sanktionen fordert den Mitgliedstaaten ab, diejenigen (sanktionenrechtlichen) MaBnahmen zu treffen, die der Intensitat und Schwere des RechtsverstoBes entsprechen. Art (Strafnorm, BuBgeldnorm, zivilrechtliche Schadensausgleichsnorm) und inhaltliche Ausgestaltung der nationalen Sanktion (Tatbestand und Rechtsfolge) mttssen dem Gewicht und der Intensitat des VerstoBes gegen ein Gemeinschaftsinteresse 69
70 71
Wenn der betreffende Staat einem vergleichbaren nationalen Rechtsgut einen intensiveren strafrechtlichen Schutz angedeihen lasst, liegt zugleich eine Verletzung des Gleichbehandlungsgebots vor. Satzger, Europaisierung, S. 369 ff. Satzger, Europaisierung, S. 370.
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
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angemessen Rechnung tragen. Der den Mitgliedstaaten diesbeziiglich eingeraumte Beurteilungsspielraum ist nicht gemeinschaftsrechtskonform wahrgenommen, wenn der nationale Gesetzgeber die Bedeutung des zu schtitzenden Gemeinschaftsinteresses oder das Gewicht eines VerstoBes gegen Gemeinschaftsrecht offensichtlich verkennt (Vertretbarkeitskontrolle durch den EuGH). Der Fall einer — die Untergrenze der mitgliedstaatlichen Sanktionierungspflicht 69 unterschreitenden - unangemessen Sanktion ist z. B. gegeben, wenn ein Mitgliedstaat die Beeintrachtigung eines grundlegenden Gemeinschaftsinteresses (EGFinanzhaushalt, Lauterkeit der Amtsfuhrung von EG-Beamten, Umweltschutz, Verbraucherschutz, Lebensmittelsicherheit usw.) wie eine bloBe Verletzung von Ordnungsvorschriften ahndet. Dabei muss sich der Mitgliedstaat auch daran messen lassen, wie er vergleichbare VerstoBe gegen nationale Schutzgtlter sanktioniert. Unangemessen ist der Strafrechtsschutz bereits dann, wenn er fur einen gleichartigen und gleichschweren VerstoB gegen ein Gemeinschaftsinteresse systemfremd und ohne sachlichen Grand nach unten abweicht72. Das Erfordernis der Angemessenheit der Sanktion erlangt als Element der Min- 70 desttrias eine eigenstandige Funktion als Untergrenze der mitgliedstaatlichen Sanktionierungsverpflichtung, wenn das Gleichstellungsgebot mangels Existenz einer schutzzweckidentischen Sanktionsnorm ins Leere lauft.
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht I. Schutzbereichsausdehnung durch Gleichstellungsvorschriften Dem aus der Loyalitatspfiicht (Art. 10 EGV) und - bezogen auf den Schutz der 71 EG-Finanzinteressen - aus Art. 280 II EGV abzuleitenden Assimilierungserfordernis kann prinzipiell auf zwei Wegen Rechnung getragen werden: zum einen durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationaler Strafrechtsnormen, soweit dies das innerstaatliche Verfassungsrecht und die nationale Strafrechtsdogmatik zulassen (vgl. hierzu § 10), zum anderen durch die Schaffung von Strafgesetzen, die zu einer Ausdehnung des nationalen Strafrechtsschutzes auf Gemeinschaftsinteressen fuhren. Eine in der deutschen Gesetzgebungspraxis iibliche Technik, mittels derer eine Ausdehnung des Schutzbereichs von Strafnormen auf supranationale Schutzgilter erzielt wird, ist die Einfugung sog. ,,Gleichstellungsklauseln" in die einschlagigen Strafbestimmungen oder in spezialgesetzlichen Regelungen. So sorgt etwa die Gleichstellungsvorschrift des § 108 d StGB dafur, dass die den Schutz der Unverfalschtheit von Wahlen bezweckenden Strafbestimmungen der §§ 107-108 c StGB auch auf die Wahl der Abgeordneten des EP Anwendung finden. Des Weiteren ist die Bestechung von Abgeordneten des EP in § 108 e StGB in gleichem MaBe unter Strafe gestellt wie die Bestechung von Mitgliedern nationaler Volksvertretungen. Weitere Beispiele fur die IndienstSatzger, Europaisierung, S. 373.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
stellung deutscher Strafbestimmungen zum Schutze supranationaler Gemeinschaftsinteressen fmden sich im deutschen Subventions- und Korruptionsstrafrecht.
1. Gleichstellungsbestimmung des § 264 VII Nr. 2 StGB 72 Fall 8: Der deutsche Untemehmer U bietet dem EG-Beamten B die Zahlung von € 25 000.an, um mit dessen Hilfe ungerechtfertigt in den Genuss einer EG-Subvention zu gelangen. B nimmt das Geld an und sorgt durch die Weitergabe eines unrichtigen Prufungsergebnisses an seinen flir die Vergabe der Subvention allein zustandigen Dienststellenleiter dafur, dass diesem die unzutreffenden (fur U vorteilhaften) Angaben des U nicht auffallen. Strafbarkeit von U und B? 73 Das deutsche Strafrecht schiltzt den Finanzhaushalt der EG in § 264 StGB vor Angriffen in Form des vorsatzlich oder leichtfertig begangenen Subventionsbetruges. Nach § 264 VII Nr. 2 StGB unterfallt dem Tatbestandsmerkmal ,,Subvention" auch ,,eine Leistung aus offentlichen Mitteln nach dem Recht der Europaischen Gemeinschaften, die wenigstens zum Teil ohne marktmafiige Gegenleistung gewahrt wird". 74 Erste Losungshinweise zu Fall 8: U ist wegen Subventionsbetruges in einem besonders schweren Fall gem. § 264 I Nr. 1, II S. 2 Nr. 3, VII Nr. 2 StGB strafbar, weil er gegentiber dem Subventionsgeber unrichtige, fur inn vorteilhafte Angaben tiber subventionserhebliche Tatsachen gemacht und dabei die Mithilfe eines Amtstragers ausgenutzt hat, der seine Stellung missbraucht. Ob es letztlich zu einer Auszahlung der Subvention an U kommt, ist unerheblich, da die Erfiillung des § 264 I Nr. 1 StGB nicht vom Vorliegen eines Vermogensschadens abhangt. B hat sich durch die Weiterleitung eines unrichtigen Priifungsergebnisses an den fur die Vergabe der Subvention zustandigen Dienststellenleiter wegen Subventionsbetruges in einem besonders schweren Fall gem. § 264 I Nr. 1, II S. 2 Nr. 2, VII Nr. 2 StGB strafbar gemacht, da er seine Stellung als Amtstrager missbraucht hat73. Die Gleichstellung des Gemeinschaftsbeamten B mit deutschen Amtstragern folgt aus Art. 2 § 1 II Nr. 1 EUBestG (Rn. 76; § 5 Rn. 15). Dass B keinen unmittelbaren Nutzen aus der ungerechtfertigten Subventionsgewahrung zieht und ziehen will, hindert die Annahme von Mittaterschaft nicht, denn § 264 I Nr. 1 StGB setzt objektiv keine Vorteilserlangung und subjektiv keine Bereicherungsabsicht voraus. Die Ausdehnung des Schutzbereichs des § 264 I Nr. 1 StGB auf EG-Subventionen folgt aus der Gleichstellungsklausel des § 264 VII Nr. 2 StGB. Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts ergibt sich aus § 6 Nr. 8 StGB (vgl. hierzu § 2 Rn. 52). 75
Weitere Hinweise: Gabe es die Legaldefinition in § 264 VII Nr. 2 StGB nicht, lieBe sich eine Ausdehnung des Schutzbereich auf EG-Subventionen bereits mit Hilfe einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des § 264 StGB im Lichte des Art. 280 II EGV begrtinden. Die Einbeziehung von Gemeinschaftsbeamten als taugliche Tater eines Subventionsbetruges gem. § 264 I Nr. 1, II S. 2 Nr. 2
Vgl. hierzu Trondle/Fischer, § 264 Rn. 47.
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
255
StGB konnte hingegen nicht durch eine entsprechende Neuinterpretation des § 11 I Nr. 2 StGB erzielt werden, da die eindeutige Wortlautgrenze der Norm (,,Amtstrager: wer nach deutschem Recht...") nicht ilberschritten werden darf74. Insoweit bildet die Gleichstellungsvorschrift des Art. 2 § 1 II Nr. 1 EUBestG eine unersetzbare rechtliche Briicke filr die Anwendbarkeit des § 264 StGB auf tatbestandsmaBige Handlungen von Gemeinschaftsbeamten.
2. Gleichstellungsbestimmung des EUBestG Das Assimilierungsprinzip gelangt auch im deutschen Korruptionsstrafrecht zur 76 Anwendung. Zur Eindammung der grenzilberschreitenden Korruption hat der Gesetzgeber aufierhalb des StGB eine Ausdehnung der nationalen Strafvorschriften iiber Bestechlichkeit und Bestechung (§§ 332, 334-336, 338 StGB) durch die Gleichstellung von deutschen, mitgliedstaatlichen und EU-Amtstragern (einschliefllich Richtern) vorgenommen (vgl. Art. 2 § 1 I Nr. 1, 2 EUBestG)75. Des Weiteren bewirkt Art. 2 § 1 II Nr. 1,2 EUBestG eine Gleichstellung von Gemeinschaftsbeamten und Kommissionsmitgliedern mit deutschen Amtstragern im Hinblick auf die Begehung von Taten gem. §§ 263 II S. 2 Nr. 4, 264 II S. 2 Nr. 2, 3 StGB sowie § 370 III S. 2 Nr. 2, 3 AO. Mit dem Erlass des EUBestG hat der deutsche Gesetzgeber seine unionsrechtliche Verpflichtung (ZBJI) aus dem Ersten Zusatzprotokoll zum Ubereinkommen liber den Schutz der fmanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften zur Bekampfung der Korruption76 und dem Ubereinkommen liber die Bekampfung der Bestechung, an der Beamte der EU oder der Mitgliedstaaten beteiligt sind77, erftillt (§ 5 Rn. 15). Nach der zuvor geltenden Rechtslage war die Bestechung eines Beamten der Gemeinschaft bzw. eines Beamten eines anderen Mitgliedstaates nicht nach §§331 ff. StGB strafbar, weil die Definition des Amtstragerbegriffs in § 111 Nr. 2 StGB nur auf die nach deutschem Recht begriindete Amtstragereigenschaft abstellt. AbschlieBende Losungshinweise zu Fall 8: U hat sich wegen der Zahlung von € 77 25 000.- an den Gemeinschaftsbeamten B mit dem Ziel, diesen zur Vornahme einer Diensthandlung zu veranlassen, durch welche B seine Dienstpflichten verletzen wiirde, der Bestechung gem. § 334 I StGB i. V. m. Art. 2 § 1 Nr. 2 b EUBestG schuldig gemacht. Das EUBestG sorgt fur eine Ausdehnung des Schutzbereichs des deutschen Korruptionsstrafrechts auf Bestechungshandlungen, die gegenliber einem Gemeinschaftsbeamten i. S. d. Art. 1 des Protokolls v. 27. September 1996 zum Ubereinkommen liber den Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften begangen werden. Falls U die Tat im Ausland begangen 74
Vgl. hierzu Bose, Strafen und Sanktionen, S. 434; Heise, Gemeinschaftsrecht und
75
EU-Bestechungsgesetz v. 10. September 1998 (BGB1. II 1998, 2340); abgedruckt bei Trondle/Fischer; Anhang 21. ABlEG1996Nr. C313, S. 1. AB1EG 1997 Nr. C 195, S. 1; vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 46, 50.
Strafrecht, S. 204 f. 76 77
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§ 7 Assimilierungsprinzip
hat, findet gem. Art. 2 § 2 Nr. 1 a StGB deutsches Strafrecht Anwendung (aktives Personalitatsprinzip; vgl. § 2 Rn. 46). B hat sich durch die Annahme eines Vorteils als Gegenleistung fiir die Vomahme einer pflichtwidrigen Diensthandlung wegen Bestechlichkeit gem. § 332 I StGB i. V. m. Art. 2 § 1 Nr. 2 b EUBestG strafbar gemacht. Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts auf Auslandstaten von Gemeinschaftsbeamten folgt aus Art. 2 § 2 Nr. 1 a EUBestG, falls er Deutscher ist und nach MaBgabe des Art. 2 § 2 Nr. 1 b) bb) EUBestG, falls er Auslander ist. 78 Weitere Hinweise: Die Bekampfung der Korruption auf internationaler Ebene ist auch ein Anliegen der OECD (§ 5 Rn. 15). Mit dem Gesetz zu dem Ubereinkommen vom 17. Dezember 1997 iiber die Bekampfung der Bestechung auslandischer Amtstrager im internationalen Geschaftsverkehr (IntBestG) v. 10. September 1998, welches am 15. Februar 1999 in Kraft trat, wurde eine einschlagige OECD-Konvention in deutsches Recht umgesetzt. Gesetzestechnisch hat der deutsche Gesetzgeber auch hier das Assimilierungsprinzip funktionalisiert, indem er in Art. 2 § 1 IntBestG auslandische mit inlandischen Amtstragern gleichgestellt und in diesen Fallen die Anwendung der §§ 334, 335, 336, 338 II StGB vorgesehen hat. Das IntBestG beschrankt sich jedoch auf die Strafbarkeit der aktiven Bestechung von auslandischen Amtstragern und Richtern und findet auf Auslandstaten nur Anwendung, wenn der Tater Deutscher ist (Art. 2 § 3 IntBestG).
II. Verweisung auf Gemeinschaftsrecht durch Blankettstrafgesetze 1. Gemeinschaftsrechtsakzessorisches Blankettstrafrecht 79 Eine weitere Moglichkeit, um der aus Art. 10 EGV abzuleitenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Gewahrleistung einer gleichartigen und gleichwertigen Straf- und Bufigeldbewehrung von unmittelbar geltenden Rechtsakten der EG nachzukommen, besteht in der Setzung gemeinschaftsrechtsakzessorischer Blankettgesetze78. Diese vor allem im Nebenstraf- und Ordnungswidrigkeitenrecht vielfach genutzte Gesetzgebungstechnik ermQglicht eine Sanktionierung vorsatzlich oder fahrlassig begangener Zuwiderhandlungen gegen unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht. Der Blanketttatbestand beschrankt sich auf eine Beschreibung der wesentlichen Strafbarkeits- bzw. Ahndungsvoraussetzungen (benennt z. B. Art und Weise der Zuwiderhandlung) und ordnet eine bestimmte Rechtsfolge (Sanktion) an. Im Ubrigen verweist er auf eine blankettausfullende EG-Verordnung. Der vollstandige Straftatbestand ergibt sich somit erst durch ein Zusammenlesen des Strafblanketts und der aufierstrafrechtlichen Ausfullungsnonn. Durch die Verkniipfung der tatbestandsmafiigen Handlung mit der in Bezug genommenen EG-Verordnung entsteht ein gemeinschaftsrechtsakzessorischer Tatbestand.
78
Vgl. hierzu Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 54 ff., 198 ff., 265 ff.; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 151 ff.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 23 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 210 ff.
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
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Soweit nationale Blankettstrafgesetze ausschlieBlich auf Zuwiderhandlungen 80 gegen nationales Recht (Gesetze, Rechtsverordnungen) verweisen, handelt es sich um sog. ,,Binnenverweisungen". Demgegentlber besteht die tatbestandsma'Bige Handlung bei den hier interessierenden gemeinschaftsrechtsakzessorischen Blankettgesetzen in einem VerstoB gegen unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht. Folglich haben wir es hier im Hinblick auf den supranationalen Ursprung des Verweisungsobjekts mit sog. ,,Aufienverweisungen" zu tun. In der Literatur werden die gemeinschaftsrechtsakzessorischen Straf- und BuBgeldblankette plastisch als ,,januskopfige" Normen beschrieben, weil eine Tatbestandsseite in das Gemeinschaftsrecht hineinreicht, wahrend die andere ausschlieBlich vom nationalen Recht gepragt ist79. Ftlr den deutschen Normanwender bedeutet dies, dass er das von dem Blankett in Bezug genommene Verweisungsobjekt anhand gemeinschaftsrechtlicher Auslegungsgrundsatze unter besonderer Berucksichtigung einschlagiger EuGH-Rechtsprechung zu interpretieren hat. Neben der Unterscheidung der Blankettgesetze nach dem Normgeber des Ver- 81 weisungsobjekts la'sst sich noch eine weitere Differenzierung treffen, die vor allem fur die Diskussion ihrer Verfassungskonformitat eine wichtige Rolle spielt: sog. ,,statische Verweisungen" nehmen Bezug auf Normen in einer bestimmten Fassung und damit auf bereits bestehende Rechtsvorschriften. Sie folgen etwa dem Muster: ,,Mit...wird bestraft/Ordnungswidrig handelt, wer gegen die Verordnung (EG) Nr. x verstoBt, indem er vorsatzlich oder fahrlassig entgegen Artikel y folgende Zuwiderhandlung begeht...". Demgegeniiber handelt es sich um sog. ,,dynamische Verweisungen", wenn der 82 Blanketttatbestand auf eine EG-Verordnung in der jeweils gultigen Fassung verweist und sich damit flexibel an etwaige Anderungen des Verweisungsobjekts anpasst80. Von einer sog. ,,verdeckten dynamischen Verweisung" spricht man, wenn das statisch in Bezug genommene Verweisungsobjekt seinerseits einen dynamischen Verweis auf weitere Normen in ihrer jeweils gultigen Fassung enthalt. Gemeinschaftsrechtsakzessorische Blankettstrafgesetze mussen sich in alien ih- 83 ren Bestandteilen am MaBstab des deutschen Verfassungsrechts messen lassen. Dies gilt auch fur die von dem Strafblankett in Bezug genommene EGVerordnungsvorschrift in ihrer Funktion als blankettausfullendes Verweisungsobjekt81. Denn durch die Inkorporation der Verordnungsvorschrift in ein innerstaatliches Blankettstrafgesetz wird sie formal zu deutschem Bundesrecht. Sollte sich eine blankettausfullende EG-Verordnung z. B. als mit dem Bestimmtheitsgrundsatz (Art. 103 II GG) unvereinbar erweisen, zoge dieser Befund lediglich die Verfassungswidrigkeit und Nichtigkeit des Blankettgesetzes nach sich. Davon unberlihrt bliebe im Hinblick auf den Vorrang des Gemeinschaftsrechts die EG79 80 81
Satzger, Europaisierung, S. 233 m. w. N. Vgl. hierzu Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 11; Satzger, Europaisierung, S. 216 f. Krey, EWR 1981, 109, 152, 190 ff.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 61 ff., 75 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 237; a. A. Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 199.
258
§ 7 Assimilierungsprinzip
Verordnung in ihrem originaren Anwendungsbereich als Bestandteil des materiellen Gemeinschaftsrechts. 84 Gemeinschaftsrechtsakzessorische Blankettstrafgesetze sind mit Art. 103 II, 104 IGG nur vereinbar, wenn der nationale Gesetzgeber (Demokratieprinzip) die wesentlichen Voraussetzungen der Straf- bzw. Ahndbarkeit hinreichend genau festgelegt hat (Bestimmtheitsgrundsatz) und dem EG-Verordnungsgeber nur die nahere Spezifizierung des Tatbestandes iiberlassen bleibt (Parlamentsvorbehalt)82. Um eine ,,apokryphe Delegation" von Gesetzgebungsbefugnissen zu vermeiden und eine ausdruckliche Aufhahme des Verweisungsobjekts in den gesetzgeberischen Regelungswillen zu gewahrleisten, fordern einige Oberlandesgerichte eine statische Verweisung, welche die EG-Verordnung nach Artikel, Absatz, Unterabsatz und Buchstabe zitieren muss83. 2. Grundtypen gemeinschaftsrechtsakzessorischer Blankettstrafgesetze 85 Im deutschen Recht lassen sich zumindest drei typische Gesetzeskonstruktionen (Modelle) unterscheiden, die auf eine Sanktionierung von Zuwiderhandlungen gegen unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht durch nationales Straf- und BuBgeldrecht abzielen84. a) Zuwiderhandlungen gegen bestimmte Ver- Oder Gebote einer EG-Verordnung 86 Modell 1: Das deutsche Straf- bzw. BuBgeldblankett bedroht Zuwiderhandlungen gegen einen unmittelbar geltenden Rechtsakt der EG mit Strafe. 87 Ein Beispiel hierfur findet sich in § 95 I Nr. 11 AMG85, der folgendes bestimmt: ,,Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EWG) Nr. 2377/90 einen Stoffeinem dort genanten Tier verabreicht." 88 Dieselbe Tatbestandskonstruktion liegt der BuBgeldnorm des § 14 I Nr. 3 AbfVerbrG86 zugrunde: ,,Ordnungswidrig handelt, wer entgegen Art. 5 Abs. 3 der EG-Abfallverbringungsverordnung eine Sendung nicht mit einer Kopie des Begleitscheins versieht." 82
83 84 85
86
Diese Anforderungen entsprechen denjenigen, die auch fur Blankettverweisungen auf nationale Verweisungsobjekte gelten; vgl. BVerfGE 32, 346, 363; 75, 329, 342; 78, 374, 382 f.; BVerfG NJW 1992, 2624; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 198 ff, 266. OLG Stuttgart NJW 1990, 657 f; ebenso Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 266. Vgl. hierzu Scttzger, Europaisierung, S. 235 f. Arzneimittelgesetz i. d. F. d. Bekanntmachung v. 11. Dezember 1998 (BGB1. I 1998, 3586). Gesetz iiber die Uberwachung und Kontrolle der grenziiberschreitenden Verbringung von Abfallen v. 30. September 1994 (BGB1.1 1994, 2771).
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
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Auch der Straftatbestand des § 39 I Nr. 2 Sortenschutzgesetz87 folgt dem glei- 89 chen Muster: ,,Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen Art. 13 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 S. 1, auch in Verbindung mit Abs. 4 S. 1 oder Abs. 5, der Verordnung (EG) Nr. 2100/94 des Rates vom 27. Juli 1994 fiber den gemeinschaftlichen Sortenschutz (AB1. EG Nr. L 227 S. 1) Material einer nach gemeinschaftlichem Sortenschutzrecht geschutzten Sorte vermehrt, zum Zwecke der Vermehrung aufbereitet, zum Verkauf anbietet, in den Verkehr bringt, einfuhrt, ausfuhrt oder aufbewahrt." Blankettbestimmungen dieser Kategorie sind im Hinblick auf Art. 103 II, 104 I 90 GG verfassungsrechtlich unbedenklich, da sie die in Bezug genommene EGVerordnung jeweils durch eine statische Verweisung genau bezeichnen und die Art des VerstoBes hinreichend deutlich beschreiben88. Unter dem Gesichtpunkt des Demokratieprinzips macht es keinen Unterschied, ob die Ausfullung des Strafbzw. BuBgeldblanketts durch nationales oder unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht erfolgt, da der nationale Gesetzgeber die Grundentscheidung getroffen hat, welche Verhaltensweisen (hier: die im Blankettgesetz beschriebene Zuwiderhandlung gegen ein bestimmtes Ge- oder Verbot einer genau bezeichneten EGVerordnungen) straf- bzw. buBgeldrechtlich relevant sein sollen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht problematischer sind Blankettbestimmungen, 91 die sich einer extensionalen Verweisungstechnik bedienen. Lehrreiches Anschauungsmaterial fur die verfassungsrechtliche Diskussion bieten vor allem die gemeinschaftsrechtsbezuglichen Straf- und BuBgeldblankette des Naturschutzstrafrechts. Das im BNatSchG geregelte Naturschutzstrafrecht wurde letztmals durch das am 4. April 2002 in Kraft getretene Gesetz zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege geandert89. Die BuBgeldnorm des § 30 BNatSchG a. F. und die Strafhorm des § 30 a BNatSchG a. F. wurden - ohne wesentliche inhaltliche Anderungen — in die neuen §§ 65, 66 BNatSch eingestellt. § 65 III Nr. 1 BNatSchG bestimmt: ,,Ordnungswidrig handelt, wer gegen die die Verordnung (EG) Nr. 338/97 verstoBt, indem er vorsatzlich oder fahrlassig entgegen Art. 4 Abs. 1 S. 1 oder Abs. 2 S. 1 oder Art. 5 Abs. 1 oder Abs. 4 S. 1 ein Exemplar einer dort genannten Art einfuhrt, ausfuhrt oder wiederausfuhrt." Nach § 66 II BNatSchG wird mit Freiheitsstrafe bis zu fiinf Jahren oder Geldstrafe 92 bestraft, wer u. a. eine in § 65 III Nr. 1 BNatSchG bezeichnete vorsatzliche Handlung begeht, die sich auf ,,Tiere oder Pflanzen einer streng geschutzten Art" bezieht. ,,Streng geschutzt" sind gem. § 10 II Nr. 11 BNatSchG besonders geschtitzte Arten, die im Anhang A der Verordnung (EG) Nr. 338/97 und in Anhang IV der
87 88 89
Sortenschutzgesetz i. d. F. v. 19. Dezember 1997 (BGB1.1 1997, 3164). Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 270 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 276 ff. Bundesnaturschutzgesetz v. 25. Marz 2002 (BGB1. I 2002, 1193); vgl. hierzu Gellermann, NVwZ 2002, 1025; Louis, NuR 2002, 385; Stick, UPR 2002, 161.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
Richtlinie 92/43/EWG des Rates v. 21. Mai 1992 (Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie)90 aufgefuhrt sind. 93 Die §§65 III Nr. 1, 66 II BNatSchG dienen der Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vermarktungsverbote. Sie kniipfen jeweils an die Verletzung der VO (EG) Nr. 338/97 des Rates v. 9. Dezember 1996 ttber den Schutz von Exemplaren wildlebender Tier- und Pflanzenarten durch Uberwachung des Handels (EGArtenschutzverordnung)91 an. Der Geltungsbereich dieser Verordnung ergibt sich aus Art. 3, welcher auf vier Anhange (A bis D) verweist. In Anhang A sind z. B. rund 1 000 vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten aufgelistet, in Anhang B ca. 24 000 Tier- und Pflanzenarten. Aus Anhang A ergibt sich ebenso wie aus der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie die fur die Anwendung des § 66 II BNatSchG bedeutsame Qualification von Tieren und Pflanzen als ,,besonders geschiitzte Arten". Die EG-Artenschutzverordnung wird erganzt durch die Durchfuhrungsverordnung EG Nr. 1808/01 der Kommission v. 30. August 200192. Diese enthalt u. a. Konkretisierungen der EG-Artenschutzverordnung sowie Ausnahmen vom Vermarktungsverbot. Falls etwa ein Tourist ermitteln will, ob er sich gem. §§65 III Nr. 1, 66 II BNatSchG strafbar macht, wenn er ein bestimmtes ,,Souvenir" nach Deutschland einfuhrt (das moglicherweise zu den ,,streng geschiitzten Arten" zahlt), so muss er eine lange Kette von Verweisungen im deutschen und europaischen Recht (Verordnungen oder Richtlinien) nebst Anhangen sowie Ausnahmebestimmungen nachvollziehen. Es darf bezweifelt werden, ob ein juristisch nicht geschulter Normadressat hierzu tlberhaupt in der Lage ist. Das Artenschutzund Naturschutzstrafrecht wendet sich schliefilich nicht nur an mit besonderem Fachwissen ausgestattete Experten. 94
Der BGH schloss sich jedoch den in der Literatur93 gegen die strukturgleichen Vorlauferbestimmungen (§§ 30 a, 30 I Nr. 3 BNatSchG a. F. i. V. m. VO (EWG) Nr. 3626/82) erhobenen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht an94. Die Verweisung auf eine EG-Verordnung diene ausschlieBlich der weiteren Prazisierung des bereits bestimmten Straftatbestandes. Allein das Bestehen einer langen Verweisungskette, die eine Mehrzahl von Einzelvorschriften zusammenfasst, fuhre noch nicht zur Unbestimmtheit der Norm95. Im Ubrigen sei diese Regelungstechnik im Nebenstrafrecht ublich und diene der ltickenlosen Erfassung komplexer Materien. Dem Demokratieprinzip (Parlamentsvorbehalt) werde dadurch Rechnung getragen, dass der deutsche Gesetzgeber die wesentlichen Voraussetzungen der Strafbarkeit in einem formlichen Gesetz selbst festgelegt und dem europaischen Verordnungsgeber lediglich gewisse Spezifizierungen iiberlassen habe96. 90 91 92 93 94 95 96
AB1EG Nr. L 206, S. 7. A B l E G N r . L 6 1 , S . 1. ABlEGNr. L 250, S. 1. Vgl. nur Weber, Naturschutz mit den Mitteln des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, 1991, S. 86 ff. BGHSt 42, 219; ebenso OLG Stuttgart NStZ-RR 1999, 161; krit. Hammer, DVB1 1997 401, 404. Ebenso Stegmann, Artenschutz-Strafrecht, S. 112 ff. Ebenso Stegmann, Artenschutz-Strafrecht, S. 119 ff.
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
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b) Strafbarkeitslucken durch Austausch des Verweisungsobjekts Blankettgesetze, die in ihrem objektiven Tatbestand auf eine bestimmte EG- 95 Verordnung verweisen, laufen stets Gefahr, im Falle einer Anderung des Verweisungsobjekts im wahrsten Sinne des Wortes ,,ins Leere" zu laufen97. Strafbarkeitsund Ahndungslilcken drohen immer dann, wenn es dem deutschen Strafgesetzgeber nicht gelingt, die betroffenen Straf- bzw. BuBgeldblankette rechtzeitig an den geanderten EG-Rechtsakt anzupassen. Beispielsfall: In einem vom BayObLG98 zu entscheidenden Fall war dem Angeklagten 96 vorgeworfen worden, mittels eines Werbeschreibens den Tatbestand der irrefuhrenden Werbung gem. § 67 I Nr. 2 WeinG a. F. i. V. m. einer EG-Verordnung erftillt zu haben. Diese EG-Verordnung - sie war an die Stelle einer fruheren EG-Verordnung getreten - gait bereits zum Tatzeitpunkt. Obwohl feststand, dass der Angeklagte durch sein Verhalten sowohl gegen die alte als auch gegen die aktuelle EG-Verordnung verstoBen hatte, sah sich das BayObLG mit Recht an einer Verurteilung des Angeklagten gehindert. Die Anpassung des innerstaatlichen Rechts an die neue EG-Verordnung war namlich erst nach der Begehung der Tat in Kraft getreten. Eine Verurteilung des Angeklagten auf der Grundlage des Tatzeitrechts musste also ausscheiden, weil die alte EG-Verordnung von § 61 I Nr. 2 WeinG a. F. zwar noch in Bezug genommen wurde, aber zum Tatzeitpunkt nicht mehr gait. Der VerstoB gegen die zum Tatzeitpunkt bereits geltende neue EG-Verordnung konnte nicht bestraft werden, weil er zum Zeitpunkt der Tatbegehung noch nicht durch ein nationales Strafgesetz mit Strafe bedroht war. Dem Umstand, dass die neue EG-Verordnung eine Bestimmung enthielt, wonach Verweisungen auf die alte EG-Verordnung - also auch die Verweisungen des deutschen Weinstrafrechts - als Verweisungen auf die neue EGVerordnung anzusehen seien, maB das BayObLG richtigerweise keine Bedeutung fur das deutsche Strafrecht bei. Da die Gemeinschaft liber keine Rechtsetzungskompetenz im Bereich des Kriminalstrafrechts verfiigt (vgl. hierzu § 4 Rn. 101), vermag die in der neuen EG-Verordnung enthaltene Ubergangsbestimmung keine verbindliche Anordnung iiber die Anwendbarkeit einer deutschen Strafbestimmung zu treffen. Das Problem der Entstehung von Strafbarkeits- und Ahndungslucken verscharft 97 sich vor dem Hintergrund des Lex-mitior-Grundsatzes des § 2 III StGB, welcher folgendes besagt: ,,Wird das Gesetz, dass bei Beendigung der Tat gilt, vor der Entscheidung geandert, so ist das mildeste Gesetz anzuwenden."
Die Entscheidungen BVerfGE 81, 132; BGHSt 27, 181; OLG Koblenz NStZ 1989, 188; OLG Koln NJW 1988, 657; OLG Stuttgart NJW 1990, 657; OLG Stuttgart NStZRR 1999, 379; LG Bad Keuznach ZLR 2001, 899 vermitteln einen reprasentativen Uberblick iiber die verschiedenen Problemlagen; vgl. hierzu Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 159 ff; Satzger, Europaisierung, S. 270 ff.; Schroder, ZLR 2004, 265, 267 ff. BayObLGSt 1992, 121.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
98 Eine entsprechende Regelung enthalt § 4 III OWiG. Die mildeste aller Rechtslagen ist die Straflosigkeit". War die Handlung des Taters auch nur an einem Tag zwischen Tatbegehung und Urteilszeitpunkt straflos, so wirkt diese Straflosigkeit aufgrund des § 2 III StGB zuriick. Selbst wenn die Mitgliedstaaten Kenntnis von einer bevorstehenden Anderung strafrechtsrelevanter EG-Rechtsakte haben, ist es ihnen nicht immer moglich, mit dem relativ zeitaufwendigen parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren rechtzeitig zu reagieren. Es ist also denkbar, dass ein sowohl zum Tatzeitpunkt als auch zum Urteilszeitpunkt mit Strafe bedrohter VerstoB gegen Gemeinschaftsrecht nur deshalb straflos bleiben muss, weil es zwischenzeitlich infolge einer nicht rechtzeitig vorgenommenen Anpassung des nationalen Strafgesetzes an das geanderte Verweisungsobjekt (EG-Verordnung) eine Ahndungsliicke gab. Vor diesem Hintergrund erklart sich das Bestreben des deutschen Gesetzgebers, Regelungsmodelle anzuwenden, die es ermoglichen sollen, ohne Durchfuhrung eines aufwendigen Gesetzgebungsverfahrens auf Anderungen der EG-Rechtslage zu reagieren und Sanktionierungsltlcken zu vermeiden (vgl. hierzu die nachfolgend beschriebenen Modelle 2 und 3). c) Strafbewehrung von Gemeinschaftsrecht durch Festlegungen des deutschen Verordnungsgebers 99 Modell 2: Der deutsche Verordnungsgeber wird gesetzlich ermachtigt, durch Ruckverweisung die Normen des Gemeinschaftsrechts naher zu bezeichnen, deren Verletzung in einer vorgeformten Blankettnorm mit BuBgeld oder Strafe bedroht sind. 100 Blankettgesetze dieser Kategorie verweisen im Gegensatz zur erstgenannten nicht selbst auf die zu bewehrende EG-Verordnung, sondern iiberlassen dem nationalen Verordnungsgeber die Festlegung, welches gemeinschaftsrechtliche Ge- oder Verbot buBgeld- oder strafbewehrt sein soil. Dabei bedient sich der Gesetzgeber sog. ,,Riickverweisungsklauseln". Der Gesetzgeber verfolgt mit dieser Gesetzgebungstechnik - wie oben ausgefiihrt - das Ziel, einem zeitaufwendigen formellen Gesetzgebungsverfahren zu entgehen, welches um der Vermeidung von Strafbarkeitslucken willen durchgefuhrt werden mtisste, wenn sich das Verweisungsobjekt (EG-Verordnung) als zentraler Bestandteil des Blankettgesetzes andert. Exemplarisch fur Modell 2 stehen Straf- und BuBgeldblankette wie §§ 48 I Nr. 3, 4, 49 Nr. 6, 7, 50 II Nr. 12 WeinG100 jeweils i. V. m. § 51 WeinG; §§ 56 bis 59 LMBG101 jeweils i. V. m. § 60 LMBG; §§ 26 I Nr. 11, 27 I Nr. 3 ChemG102 sowie § 144 II, VI MarkenG103. 101 Anschauungsmaterial fur die verfassungsrechtliche Diskussion soil im Folgenden das Strafblankett des § 49 Nr. 6 WeinG liefern. Die Bestimmung lautet: 99
100 101
102 103
BGH NStZ 1992, 535, 536; Schonke/Schroder-Eser, § 2 Rn. 29; LK-Gribbohm, § 2 Rn. 24. Weingesetz i. d. F. d. Bekanntmachung v. 16. M a i 2001 (BGB1.1 2 0 0 1 , 985). Lebensmittel- und Bedarfsgegenstandegesetz i. d. F. d. Bekanntmachung v. 9. September 1997 (BGB1.1 1997, 2296). Chemikaliengesetz i. d. F . v. 20. Juni 2002 (BGB1.1 2002, 3082). Markengesetz i. d. F. v. 19. Juli 1996 (BGB1.1 1996, 1014).
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
263
,,Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer entgegen einer unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europaischen Gemeinschaft ein Erzeugnis mit irreftlhrenden Bezeichnungen, Hinweisen, sonstigen Angaben oder Aufmachungen in den Verkehr bringt, einfuhrt, ausfuhrt oder zum Gegenstand der Werbung macht, soweit eine Rechtsvorschrift nach § 51 fur einen bestimmten Tatbestand auf diese Strafvorschrift verweist." Erganzt wird die Strafbestimmung durch § 51 Nr. 1 WeinG:
102
,,Das Bundesministerium fur Verbraucherschutz, Ernahrung und Landwirtschaft wird ermachtigt, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates, soweit dies zur Durchsetzung der Rechtsakte der Europaischen Gemeinschaften erforderlich ist, die Tatbestande zu bezeichnen, die als Straftat nach § 48 I Nr. 3 oder 4 oder § 49 Nr. 6 oder 7 zu ahnden sind."
Von dieser Ermachtigung hat der Verordnungsgeber in der Verordnung zur 103 Durchsetzung des gemeinschaftlichen Weinrechts (DurchsVO)104 Gebrauch gemacht. In § 3 DurchsVO werden bestimmte vorsatzlich begangene VerstoBe gegen dort bezeichnete EG-Verordnungen dem Straftatbestand des § 49 I Nr. 6 WeinG unterstellt. Uber § 49 Nr. 6 WeinG (und gleich strukturierte Straf- und Buflgeldblankette) 104 dtlrfte aus mehreren Griinden das Verdikt der Verfassungswidrigkeit zu fallen sein105. Die Strafbestimmung uberlasst die zentrale Grundentscheidung, das ,,Ob" der Strafbarkeit, dem Verordnungsgeber und unterlauft damit den von Art. 103 II, 104 I GG geforderten Parlamentsvorbehalt. Zwar beschreibt § 49 Nr. 6 WeinG bestimmte Tathandlungen (,,Inverkehrbringen", ,,Einfuhren" usw.) und benennt die tauglichen Tatobjekte (,,Erzeugnis mit irrefuhrenden Bezeichnungen" usw.). Strafbares Unrecht stellen die genannten Verhaltensweisen jedoch nur dar, wenn sie gegen Gemeinschaftsrecht verstoBen. § 49 Nr. 6 WeinG gibt die einschlagigen EG-Verordnungen aber nicht selbst an, sondern begnilgt sich insoweit lediglich mit einer pauschalen Verweisung auf alle unmittelbar geltenden Vorschriften in Rechtsakten der EG. Erst der Verordnungsgeber und nicht - wie vom Grundgesetz gefordert - das Parlament, legt durch die genaue Bezeichnung der EG-Verordnung die wesentliche Strafbarkeitsbedingung fest, welche GemeinschaftsrechtsverstoBe ilberhaupt tatbestandsrelevant sind. Etwas zugespitzt formuliert lassen sich derartige Verweisungen in ihrem sachlichen Gehalt auf folgende Tatbestandsfassung reduzieren, welche die glatte Aushebelung des Parlamentsvorbehalts deutlich werden lasst106: ,,Strafbar bzw. ahndbar ist, wer gegen eine Vorschrift in unmittelbar geltenden Rechtsakten der EG verstbBt, die nach Ansicht eines Verordnungsgebers straf- bzw. buBgeldbewehrt sein soil." Strafblankette dieser Art geraten regelmaBig auch in Konflikt mit Art. 80 I S. 2 105 GG, da sich erst aus der nationalen Rechtsverordnung, nicht aber schon aus dem 104 105
106
DurchsVO i. d. F. d. Bekanntmachung v. 7. August 2001 (BGB1.1 2001, 2159). Vgl. hierzu Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 265 ff.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S.148 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 281 f. Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 149.
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§ 7 Assimilierungsprinzip
Blankettgesetz vorhersehen lasst, welchen Inhalt die bewehrten Ge- und Verbote haben werden107. SchlieBlich verstoBen sie, soweit sie dynamische Verweisungen auf das jeweils geltende Gemeinschaftsrecht enthalten, aus dem der Verordnungsgeber die zu bewehrenden EG-Rechtsakte erst noch auswahlen und festlegen soil, gegen das von Art. 103 II GG geforderte Gebot der Normenklarheit (Bestimmtheitsgebot)108. Art. 103 II GG verlangt, dass die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe schon aufgrund des Gesetzes und nicht erst aufgrund der hierauf gestiltzten Rechtsverordnung vorhersehbar sind. 106 Der Konflikt mit dem Parlamentsvorbehalt und dem Bestimmtheitsgebot tritt noch deutlicher zutage bei denjenigen Straf- und BuBgeldblanketten, die - wie §§ 48 I Nr. 4, 49 Nr. 7 WeinG; §§ 56 bis 59 LMBG - die Bewehrung des jeweils geltenden Gemeinschaftsrechts von der Entscheidung des nationalen Verordnungsgebers daruber abhangig machen, ob die zu bewehrende EG-Verordnung inhaltlich einer Regelung (nationale Rechtsverordnung) entspricht, zu deren Erlass das nationale Gesetz ermachtigt (sog. ,,Entsprechungsklausel"). So bestimmt z. B. § 56 I Nr. 1 a LMBG: ,,Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einer unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europaischen Gemeinschaft zuwiderhandelt, die inhaltlich einer Regelung, zu der die in § 51 I Nr. 2, 4 oder 6 genannten Vorschriften ermachtigen, entspricht, soweit eine Rechtsverordnung nach § 60 fur einen bestimmten Tatbestand auf diese Vorschrift verweist." 107 Zu den in § 51 I Nr. 2 LMBG genannten Ermachtigungsnormen gehort § 9 I Nr. 5 LMBG. Diese ermachtigt den deutschen Verordnungsgeber zum Erlass einer Regelung (Rechtsverordnung), die fur bestimmte Stoffe Warnhinweise, sonstige warnende Aufmachungen sowie Sicherheitsvorkehrungen vorschreibt. Damit wird dem Verordnungsgeber bereits auf nationaler Ebene ein umfassender Spielraum zur Bewehrung tiberlassen, der sich jedoch auf gesetzlich vorgegebene Spezifizierungen beschrankt und daher den Anforderungen des Bestimmtheitsgebots noch geniigt. Durch die in § 60 LMBG erteilte Ermachtigung an den Verordnungsgeber, diejenigen Vorschriften des Gemeinschaftsrechts auszuwahlen und zu bezeichnen, die einer nach § 9 I Nr. 5 LMBG erlassenen Rechtsverordnung inhaltlich entsprechen, wird die verfassungsrechtliche Grenze jedoch ilberschritten. Nicht der Gesetzgeber trifft hier die konstitutive Entscheidung tlber die Voraussetzungen der Strafbarkeit, sondern der Verordnungsgeber, dem sowohl die Auswahl bezilglich der Bezeichnung von Verhaltensweisen als auch deren normative Bewertung ilberlassen ist. Aus Sicht des Normadressaten stellen Strafblankette dieser Art ein schier undurchdringliches ,,Verweisungsgestrilpp" dar, die dem Bestimmtheitsgebot nicht mehr gerecht werden109. 107 108 109
Satzger, Europaisierung, S. 282; Volkmann, ZRP 1995, 220 ff; Ziekow, JZ 1999, 963, 968. Satzger, Europaisierung, S. 282; Trondls/Fischer, § 1 Rn. 5. Die Annahme von Verfassungswidrigkeit der §§ 56-59 LMBG entspricht der h. L.; vgl. nur DanneckerlGortz-Leible, Entsanktionierung der Straf- und BuBgeldvorschriften des Lebensmittelrechts, 1996, S. 88 ff; Enderle, Blankettstrafgesetze, S. 265 ff.;
D. Auspragungen des Assimilierungsprinzips im deutschen Strafrecht
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Modell 3: Der deutsche Verordnungsgeber wird gesetzlich ermachtigt, innerhalb 108 eines bestimmten Rahmens zur Absicherung und Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Ge- oder Verbote BuBgeld- oder Strafvorschriften zu erlassen. Exemplarisch flir dieses Regelungsmodell steht das BuBgeldblankett des § 1 III Nr. 2 HandelsklassenG110: ,,Soweit es zur Durchfuhrung von Verordnungen des Rates oder der Kommission der Europaischen Gemeinschaften tiber Qualitatsnormen, Verkaufsnormen oder ahnliche Vorschriften, die einer Regelung nach diesem Gesetz entsprechen, erforderlich ist, kann der Bundesminister im Einvernehmen mit den Bundesministern flir Jugend, Familie und Gesundheit und fur Wirtschaft mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung das Zuwiderhandeln gegen bestimmte in den Verordnungen des Rates oder der Kommission enthaltene Gebote oder Verbote mit GeldbuBe bis zu 10.000 EURO bedrohen." Den Anforderungen der Art. 103 II, 104 I GG kann diese Tatbestandsfassung e- 109 benso wenig gerecht werden wie dies die Modell 2 zuzuordnenden Blankettbestimmungen tun. § 1 III Nr. 2 HandelsklassenG enthalt eine Pauschalermachtigung des nationalen Verordnungsgebers, in dem von der Vorschrift relativ grob umrissenen Rahmen Ge- und Verbote des Gemeinschaftsrechts zu sanktionieren. Es bleibt dem Verordnungsgeber erstens ilberlassen, zu entscheiden, welche EGRechtsakte iiber Qualitatsnormen, Verkaufsnormen oder ,,ahnliche Vorschriften" einer Regelung nach diesem Gesetz entsprechen und zweitens, aus den fur einschlagig eingestuften EG-Rechtsakten diejenigen auszuwahlen, die buBgeldbewehrt sein sollen. Im Ubrigen dtirfte § 1 III Nr. 2 HandelsklassenG auch gegen den Bestimmtheitsgrundsatz verstoBen, da er die Voraussetzungen der Ahndbarkeit im Hinblick auf die dynamische Verweisung auf jeweils geltendes Gemeinschaftsrecht nicht bereits aus sich heraus hinreichend deutlich erkennen lasst111.
3. Zusammenfassende Wurdigung Die Bestandsaufhahme der in der deutschen Blankettgesetzgebung anzutreffenden 110 Regelungsmodelle fuhrt zu dem erniichternden Ergebnis, dass eine Vielzahl von Straf- und BuBgeldblanketten, die der Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Geund Verbote dienen, mit den Vorgaben der Art. 103 II, 104 I GG nicht in Einklang stehen. Verfassungsrechtlich unbedenklich sind nur statische Verweisungen auf bestimmte EG-Rechtsakte im formlichen Strafgesetz (Modell 1). Diese laufen jedoch - wie gezeigt — stets Gefahr, infolge einer Anderung des Verweisungsobjekts ins Leere zu laufen. Sanktionslilcken tun sich auf, wenn das nationale Strafgesetz nicht rechtzeitig an den geanderten EG-Rechtsakt angepasst wird. Aus verfassungsrechtlichen Grilnden bietet die Einschaltung des Verordnungsgebers als ,,Anpassungsinstanz" (Modelle 2 und 3) keinen gangbaren Ausweg aus der ProblemKiihne, ZLR 2001, 379, 387 ff.; Scttzger, Europaisierung, S. 283 f.; Mu110 111
KoStGB/Schmitz, § 1 Rn. 51; a. A. Schroder, ZLR 2004, 265, 270 ff.; ZipfellRathke, Lebensmittelrecht Bd. 2, Loseblatt, Vor § 56 LMBG Rn. 2 ff. Handelsklassengesetz v. 5. Dezember 1968 (BGB1.1 1968, 1303). Satzger, Europaisierung, S. 284 f.
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lage. Der rechtstechnisch einfachste Weg, eine zuverlassige und lilckenlose Strafbewehrung des Gemeinschaftsrechts zu erzielen, besttinde darin, der Gemeinschaft selbst die Sanktionsgewalt fur VerstoBe gegen EG-Rechtsakte zu iibertragen. Diese Moglichkeit scheitert bislang an dem fehlenden Willen der Mitgliedstaaten, der EG durch eine Anderung des EGV strafrechtliche Legislativbefugnisse einzuraumen. Solange allein die Mitgliedstaaten fur den strafrechtlichen Schutz von Gemeinschaftsinteressen zustandig sind, muss die Suche nach rechtsstaatlich vertretbaren Losungen, die eine rasche Anpassung des Blankettstrafrechts an geanderte EG-Verordnungen ermoglichen, weitergehen.
E. Literaturhinweise Bleckmann, Anmerkung zum Fall ,,Griechischer Mais", WUR 1991, 285 Bose, Strafen und Sanktionen im Europaischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 409-424 Dannecker, Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, JURA 1998, 79 ders., in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 2. Kap. Rn. 120-122, 151-160 Enderle, Blankettstrafgesetze, 2000, S. 54-58, 198-200, 265-271 Groblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europaischen Gemeinschaften, 1996, S. 9-37 Moll, Europaisches Strafrecht durch nationale Blankettstrafgesetzgebung?, 1998, passim Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 188-290, 210-290, 328-392 Tiedemann, Anmerkung zum Fall ,,Griechischer Mais", EuZW 1990, 100 ders., Europaisches Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, NJW 1993, 23 ders., EG und EU als Rechtsquellen des Strafrechts, FS f. Roxin, 2001, S. 1401
F. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1977, 137 (,,Amsterdam Bulb" - Befugnis zur Sanktionierung von EG-Rechtsverstofien) EuGHE 1984, 1891 (,,von Colson und Kamann " - Diskriminierungsverbot) EuGHE 1989, 2965 ff. = EuZW 1990, 99 (,,Griechischer Mais" - Gleichstellungsgebot und Mindesttrias) EuGHE 1990, 2911 („ Hansen " - verschuldensunabhangige Strafbarkeit) EuGHE 1991, 4371 (,,Strafverfahren gegen Paul Vandevenne u. a." - keine Pflicht zur Einfuhrung einer strafrechtlichen Verbandshaftung) EuGHE 1997, 6959 (,,Franzosische Landwirte" - strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten) EuGH NJW 2003, 3185 = EuZW 2003, 592 (,,Brennerblockade" - strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten) BGHSt 17, 121 (Bedeutung der Verweisungsnorm des Art. 194 EAGV) BGHSt 42, 219 (Verfassungskonformitat von Blankettbestimmungen des BNatSchG) BayObLGSt 1992, 121 (Strafbarkeitsliicken infolge Austausches des Verweisungsobjekts)
G. Zusammenfassung von § 7
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G. Zusammenfassung von § 7 Die EG ist mangels eigener Rechtssetzungsbefugnisse auf dem Gebiet des Krimi- 112 nalstrafrechts nicht in der Lage, durch originare europaische Strafgesetze selbst fur den strafrechtlichen Schutz ihrer Rechtsgiiter zu sorgen. Sie ist daher darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten durch die Ausgestaltung und Anwendung ihres Strafrechts dafur Sorge tragen, strafwurdige und strafbedttrftige VerstoBe gegen Gemeinschaftsrecht wirksam zu bekampfen. Die Indienststellung (Instrumentalisierung) nationaler Straf- und BuBgeldnormen zum Schutze von Gemeinschaftsinteressen bzw. zur Durchsetzung gemeinschaftsrechtlicher Ge- und Verbote bezeichnet man als Assimilierung. Durch einige wenige Assimilierungsbestimmungen des primaren Gemeinschaftsrechts entstehen neue, abgeleitete Strafrechtsnormen, die nach h. M. genuines Gemeinschaftsstrafrecht konstituieren und insoweit eine Ausnahme von dem Grundsatz der fehlenden Strafrechtssetzungsgewalt der Gemeinschaft darstellen. Ein Beispiel hierfur ist die deutsche Strafnorm des § 154 I StGB, deren Tatbestand im Lichte des Art. 30 des Protokolls liber die Satzung des EuGH wie folgt zu lesen ist: ,,Wer vor Gericht oder vor einer anderen zur Abnahme von Eiden zustandigen Stelle oder vor dem Gerichtshof der Europaischen Gemeinschaft falsch schwort, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr bestraft." Von ungleich grofierer praktischer Bedeutung sind freilich Assimilierungsgebote, die der EuGH aus dem in Art. 10 EGV verankerten Grundsatz der Gemeinschaftstreue ableitet. In dem berilhmten ,,Mais-Urteil", dem ein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Griechische Republik zugrunde lag, postulierte der EuGH die Pflicht der Mitgliedstaaten, VerstoBe gegen das Gemeinschaftsrecht nach ahnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht (Gleichstellungserfordernis). Zwar verbleibe den Mitgliedstaaten die Wahl der Sanktionen. Die nationalen Stellen milssten aber bei VerstoBen gegen das Gemeinschaftsrecht mit derselben Sorgfalt vorgehen, die sie bei der Anwendung der entsprechenden nationalen Vorschriften walten lieBen. Dariiber hinaus miissten die angedrohten Sanktionen jedenfalls wirksam, verhaltnismafiig und abschreckend (sog. ,,Mindesttrias") sein. Als strafrechtlich zu schUtzende Gemeinschaftsinteressen kommen neben dem Finanzhaushalt der EG (vgl. Art. 280 I-IV EGV) vor allem die Unbestechlichkeit ihrer Beamten, die Wahrung von Dienstgeheimnissen, die europaische Rechtspflege und die Realisierung der Grundfreiheiten, aber auch die Durchsetzung der Gemeinschaftspolitiken etwa auf den Gebieten der Marktorganisation, des Wettbewerbs, des Verbraucherschutzes und des Umweltschutzes in Betracht. Das vom EuGH auf der Grundlage von Art. 10 EGV ausgeformte gemein- 113 schaftsrechtliche Rahmensystem fur mitgliedstaatliches Strafrecht im Dienste des Gemeinschaftsrechts legt zum einen Untergrenzen fur Sanktionierungspflichten fest, die nicht unterschritten werden dilrfen. Mitgliedstaatliches Strafrecht darf zum anderen aber auch bestimmte Obergrenzen, die sich aus den Grundfreiheiten und allgemeinen Rechtsgrundsatzen des Gemeinschaftsrechts ergeben, nicht iiberschreiten. Der gemeinschaftsrechtliche Rahmen, in den das mitgliedstaatliche
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Strafrecht eingebunden ist, belasst den Mitgliedstaaten jedoch einen relativ breiten Spielraum fur die inhaltliche Ausgestaltung dieser Sanktionsnormen. Einerseits sind die Mitgliedstaaten nicht zur Einfuhrung einer Strafbarkeit juristischer Personen oder zur Schaffung einer verschuldensunabhangigen (objektiven) strafrechtlichen Verantwortlichkeit verpflichtet. Andererseits steht es ihnen frei, auf nationaler Ebene genau diese strafrechtlichen MaBnahmen zu ergreifen. 114 Dem aus der Loyalitatspflicht (Art. 10 EGV) und - bezogen auf den Schutz der EG-Finanzinteressen - aus Art. 280 II EGV abzuleitenden Assimilierungserfordernis kann zum einen durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nationaler Strafrechtsnormen Rechnung getragen werden, soweit dies das innerstaatliche Verfassungsrecht und die nationale Strafrechtsdogmatik zulassen. Eine in der deutschen Gesetzgebungspraxis ubliche Methode, die zu einer Ausdehnung des Schutzbereiches deutscher Strafgesetze fuhrt, ist zum anderen der Erlass von Gleichstellungsbestimmungen (vgl. § 264 VII S. 2 Nr. 2 StGB; Art. 2 § 1 EUBestG) sowie von gemeinschaftsrechtsakzessorischen Straf- und BuBgeldblanketten. Diese Blanketttatbestande zeichnen sich dadurch aus, dass sie die vorsatzliche oder fahrlassige Zuwiderhandlung gegen eine blankettausfullende EG-Verordnung, auf die sie verweisen, mit Strafe oder BuBgeld bedrohen. Verfassungsrechtlich unbedenklich sind jedoch nur statische Verweisungen auf bestimmte EG-Rechtsakte im formlichen Strafgesetz. Diese laufen jedoch stets Gefahr, infolge einer Anderung des Verweisungsobjekts ins Leere zu laufen mit der Folge, dass Ahndungsliicken entstehen. Die in der deutschen Gesetzgebung weit verbreitete Regelungspraxis, die Bezeichnung des Verweisungsobjekts dem Verordnungsgeber zu uberlassen, steht mit den verfassungsrechtlichen Vorgaben der Art. 80 I S. 2, 103 II, 104 IGG nicht in Einklang.
§ 8 Strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG
A. Strafrechtsrelevante Sekundarrechtspraxis Fall 1: Die Kommission legte am 23. Marz 1990 einen ersten Vorschlag fiir den Erlass einer Richtlinie zur Bekampfung der Geldwasche in den Mitgliedstaaten1 vor. In den Erwagungsgrilnden sollte nach dem Willen der Kommission ausgeflihrt werden, dass die Geldwasche vor allem mit strafrechtlichen Mitteln und im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit zwischen den Justiz- und Vollstreckungsbehorden zu bekampfen sei. Art. 2 des Richtlinienvorschlags enthielt die Anweisung: ,,Die Mitgliedstaaten sorgen dafiir, dass das Waschen von Erlosen aus schweren Straftaten nach ihren nationalen Rechtsvorschriften als strafbare Handlung gilt." Die schlieBlich vom Rat am 10. Juni 1991 erlassene Geldwascherichtlinie2 schreibt aber lediglich vor: Art. 2: ,,Die Mitgliedstaaten sorgen dafiir, dass Geldwasche im Sinne dieser Richtlinie untersagt wird." Art. 14: ,,Jeder Mitgliedstaat trifft geeignete Mafinahmen, urn die vollstandige Anwendung aller Bcstiinmungen dieser Richtlinie sicherzustellen, und legt insbesondere fest, wie VerstoBe gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zu ahnden sind." Frage 1: Vor welchem rechtspolitischen Hintergrund ist die Ablehnung des Kommissionsvorschlags v. 23. Marz 1990 zu sehen? - Frage 2: Bestehen gegen die in Art. 14 der Geldwascherichtlinie v. 10. Juni 1991 enthaltene Anweisung kompetenzrechtliche Bedenken? Frage 3: Ermachtigt der EGV zum Erlass einer spezifisch kriminalstrafrechtlichen Richtlinienregelung, wie sie in Art. 2 des ersten Kommissionsvorschlags vorgesehen war?
Vorschlag fur eine Richtlinie des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (AB1EG 1990 Nr. C 106, S. 6). Richtlinie 91/308/EWG des Rates v. 10. Juni 1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (AB1EG 1991 Nr. L 166, S. 77).
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§ 8 Strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG
I. Anweisungskompetenz der EG und mitgliedstaatliche Handlungspflicht In den letzten Jahren hat die Kommission zahlreiche Anlaufe untemommen, den Mitgliedstaaten im Wege von Sekundarrechtsvorgaben (EG-Verordnungen und Richtlinien) die Verpflichtung aufzuerlegen, nationale Strafbestimmungen zum Schutze bestimmter Gemeinschaftsinteressen zu erlassen3. Anweisungen dieser Art wirken sich auf einen Gesetzgebungsbereich aus, der - wie gezeigt (§ 4 Rn. 101) - in den ausschlieBlichen Zustandigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallt. Damit stellt sich aus rechtlicher Sicht die vielfach diskutierte Grundsatzfrage, ob der EG eine Anweisungskompetenz auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts iiberhaupt zusteht und wie weit diese ggf. reicht. Zentrale Voraussetzung fur die Begrundung einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz und einer damit korrelierenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten ist - ausgehend von dem Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung (§ 4 Rn. 54) - der Nachweis einer entsprechenden Rechtsgrundlage im Primarrecht. Dabei ist die Anweisungskompetenz streng von der Rechtsetzungskompetenz zu unterscheiden, welche der Gemeinschaft im Bereich des Kriminalstrafrechts gerade nicht eingeraumt wurde. Die genannten Kompetenzarten unterscheiden sich im Hinblick auf ihren jeweiligen Regelungsgegenstand und ihr Regelungsziel. Eine Anweisung erzeugt keine unmittelbar geltenden Strafrechtsnormen, sondern beinhaltet lediglich eine an die Mitgliedstaaten adressierte gesetzgeberische Handlungspflicht. Den nationalen Gesetzgebern wird im Ziel verbindlich vorgeschrieben, nationales Strafrecht zu schaffen. Das typische Instrument der Anweisung ist die Richtlinie (§ 4 Rn. 64). Die Anweisung, Strafgesetze zu schaffen, kann aber auch in einer (unmittelbar in alien Mitgliedstaaten geltenden) Verordnung (§ 4 Rn. 62) enthalten sein, wenn diese vorschreibt, dass der VerstoB gegen ein Verordnungsgebot oder -verbot mit strafrechtlichen Mitteln zu sanktionieren ist4. Eine solche Verordnung beinhaltet dann hinsichtlich der Sanktionierungsverpflichtung materiell eine richtlinienahnliche Anweisung an die mitgliedstaatlichen Gesetzgeber, so dass insoweit - ausnahmsweise - eine Umsetzung der Verordnung durch einen nationalen Legislativakt erforderlich und zulassig ist. Unmittelbar anwendbares Strafrecht vermag allein der nationale Gesetzgeber zu schaffen. Die Strafbarkeit des Einzelnen folgt also stets aus dem nationalen Recht, nicht etwa aus einer Richtlinie oder Verordnung. Wenn eine Anweisung so detaillierte Vorgaben ilber Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolgen enthalt, dass dem nationalen Gesetzgeber praktisch iiberhaupt kein eigener inhaltlicher Ausgestaltungsspielraum mehr verbleibt, nahert sie sich bedenklich stark einem (kompetenzrechtlich unzulassigen) Rechtsetzungsakt an.
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Vgl. hierzu Dannecker, JZ 1996, 869, 873 f.; ders., JURA 1998, 79, 81; Hecker, JA 2002, 723, 726 f.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 48 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 393 ff. Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 77 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 394.
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Beispiel: Der Rat erlasst eine Richtlinienbestimmung des Inhalts ,,Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass vorsatzliche und fahrlassige Zuwiderhandlungen gegen die in Art. 1 der Verordnung (EG) xy genannten Ge- und Verbote mit einer Freiheitsstrafe bis zu funf Jahren oder Geldstrafe bestraft werden." - Eine derart konkrete Anweisung wurde den nationalen Gesetzgebern keinerlei Umsetzungsspielraum mehr belassen. Sie kame im Ergebnis fast einem supranationalen Strafgesetz in Form einer unmittelbar in alien Mitgliedstaaten anwendbaren EG-Verordnung gleich, welche bestimmt: ,,Wer vorsatzlich oder fahrlassig den in Art. 1 der Verordnung (EG) xy genannten Ge- oder Verboten zuwiderhandelt, wird mit einer Freiheitsstrafe bis zu funf Jahren oder Geldstrafe bestraft." Anweisungen dieser Art stellen eine unzulassige Umgehung der fehlenden Strafrechtsetzungskompetenz der EG dar.
Dieser Beflind gibt Anlass, die kompetenzrechtlich zulassige Reichweite der Anweisungsbefugnis (,,Anweisungsdichte") zu bestimmen. An der begrifflichen und rechtlichen Unterscheidung zwischen Anweisungs- und Rechtsetzungskompetenz ist aber festzuhalten.
II. Kontroverse Standpunkte von Kommission und Mitgliedstaaten Wahrend die Kommission und das Europaische Parlament (EP)5 schon mehrfach zu erkennen gegeben haben, dass sie die Gemeinschaft fur ermachtigt halten, durch den Erlass von Sekundarrechtsakten auf die mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme Einfluss zu nehmen, stehen die nationalen Regierungen einer solchen Anweisungskompetenz der EG grundsatzlich ablehnend gegenuber. Die deutsche Bundesregierung lehnt eine Anweisungsbefugnis der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts seit jeher entschieden ab und pocht auf das Recht der Mitgliedstaaten, iiber die Setzung und Ausgestaltung strafrechtlicher Normen souveran, d. h. nach eigenem Ermessen zu bestimmen6. Der Bundesrat vertritt die gleiche Auffassung7. Dies bedeutet nicht, dass die Mitgliedstaaten nicht bereit waren, Strafvorschriften zum Schutze von Gemeinschaftsinteressen zu erlassen. Jedoch resultieren solche Rechtsetzungsakte aus ihrer Sicht nicht aus einer sekundarrechtlich begrilndeten Umsetzungsverpflichtung, sondern bleiben Ausdruck einer souveran getroffenen einzelstaatlichen Entscheidung. Der Widerstand der Mitgliedstaaten gegen Versuche der Kommission, spezifisch kriminalstrafrechtliche Anweisungen in Richtlinien oder Verordnungen festzuschreiben, lasst sich exemplarisch an den folgenden drei Beispielen aus der Sekundarrechtspraxis aufzeigen8.
Vgl. exempl. die in AB1EG 1977, Nr. C 57, S. 55 f., 1974, Nr. C 93, S. 24 und 1994 Nr. C 20, S. 185 abgedruckten EntschlieBungen des EP. Vgl. zum Meinungsstand Satzger, Europaisierung, S. 400 ff; vgl. auch die Stellungnahme der Bundesregierung in BT-Drs. 14/4991, S. 9. Vgl. BR-Drs. 98/92, S. 11; BR-Drs. 657/01, S. 1. Vgl. zu gescheiterten Vorhaben der Kommission Dieblich, Schutz der Rechtsguter der EG, S. 262 ff. und Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 35 ff.
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1. Kommissionsvorschlag fiireine Geldwascherichtlinie 9 Die Richtlinie 91/308/EWG des Rates der Europaischen Gemeinschaften v. 10. Juni 1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (,,Geldwascherichtlinie")9 wird haufig als praktischer Anwendungsfall fur Gemeinschaftsinitiativen genannt, die in Form einer Richtlinienanweisung zu einer strafrechtlichen Regelung auf nationaler Ebene gefuhrt haben10. Mit dem Terminus ,,Geldwasche" werden gemeinhin Vorgange bezeichnet, die darauf abzielen, die illegale Existenz, Quelle oder Verwendung von Geld oder geldwerten Giitern zu verbergen bzw. so zu bemanteln, dass sie aus einer legalen Herkunft herzuriihren scheinen. Dies geschieht regelmaBig in der Weise, dass durch kriminelle Aktivitaten erlangte Vermogenswerte in den legalen Finanzkreislauf eingeschleust werden. Es liegt auf der Hand, dass die liberalisierten Wirtschafts- und Finanzstrukturen des zusammenwachsenden Europas kriminellen Wirtschaftsteilnehmern vielfaltige Moglichkeiten eroffnen, ,,schmutzige" (d. h. aus illegalen Handlungen oder Geschaften wie z. B. Betaubungsmittelhandel herriihrende) Vermogenswerte in den legalen Wirtschaftskreislauf des Binnenmarktes einzuschleusen, zu verwerten oder zu erneuten illegalen Aktivitaten zu nutzen. Das Phanomen ,,Geldwasche" tritt daher in hohem MaBe grenzilberschreitend auf1. Als Reaktion auf die wachsende Aktivitat krimineller Organisationen entstanden zahlreiche internationale Ubereinkunfte sowie nationale Regelungen zur Bekampfung der Geldwasche. Wichtigstes Instrument zur Bekampfung der Geldwasche auf Gemeinschaftsebene ist die oben genannte Geldwascherichtlinie. Die Richtlinie zielt auf eine einheitliche Ausgestaltung der auf nationaler Ebene zu ergreifenden GeldwaschebekampfungsmaBnahmen sowie auf eine europaweit koordinierte Bekampfung der Geldwasche ab. 10 Losungshinweise zu Fall 1 (Frage 1): Gegen den von der Kommission am 23. Marz 1990 vorgelegten ersten Vorschlag fur den Erlass einer Richtlinie zur Bekampfung der Geldwasche in den Mitgliedstaaten12, der die Mitgliedstaaten in Art. 2 anwies, dafur zu sorgen, dass das Waschen von Erlosen aus schweren Straftaten nach ihren nationalen Rechtsvorschriften als strafbare Handlung gilt, auBerte der Wirtschafts- und Sozialausschuss des Rates in seiner Stellungnahme v. 19. September 1990 nicht nur Bedenken gegen die von der Kommission angefuhrte Kompetenzgrundlage. Dariiber hinaus bemerkte er, ,,...dass die Ausweitung der Befugnisse der Gemeinschaft auf das Strafrecht juristische Ein-
ABlEG1991Nr. L 166, S. 77. Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236, 242 ff.; Braum, StV 2003, 576, 577; Dannecker, JURA 1998, 79, 83; ders., Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 96; Hecker, JA 2002, 723, 726; Vogel, ZStW 109 (1997), S. 335 ff. Zu den Gefahrdungspotentialen der Geldwasche vgl. Gentzik, Europaisierung des Geldwaschestrafrechts, S. 30 ff. Vorschlag fur eine Richtlinie des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (AB1EG 1990 Nr. C 106, S. 6).
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wande aufwirft, die einer Klarstellung bediirfen13." Dennoch hielt die Kommission in dem geanderten Richtlinienvorschlag v. 30. November 1990 an dem ursprunglichen Wortlaut des Art. 2 fest14. Auch das EP verlangte in seiner Stellungnahme v. 22. November 1990 lediglich die Streichung des Adjektivs ,,schweren" vor dem Wort ,,Straftaten"15, was zugleich den grundsatzlichen Rechtsstandpunkt des EP in der Frage einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG sichtbar werden lasst. Die in den Vorschlagen der Kommission und der befurwortenden Stellung- 11 nahme des EP zum Ausdruck gelangende Forderung, die Mitgliedstaaten durch eine ausdruckliche Richtlinienanweisung zur Setzung strafrechtlicher Normen zu verpflichten, scheiterte letztlich jedoch an den Souveranitatsvorbehalten der Mitgliedstaaten. Zu den Ratsmitgliedern, die eine Annahme des Kommissionsvorschlags verhinderten, gehorte insbesondere auch der deutsche Vertreter16. Bereits zuvor hatte der deutsche Bundesrat dem Kommissionsvorschlag in einer Stellungnahme entgegengehalten, die Gemeinschaft verfuge iiber keine Kompetenz, die Mitgliedstaaten zum Erlass von Strafvorschriften zu verpflichten17. In der schlieBlich vom Rat am 10. Juni 1991 erlassenen Geldwascherichtlinie18 wird den Mitgliedstaaten lediglich die recht vage formulierte Verpflichtung auferlegt, dafur zu sorgen, dass Geldwasche im Sinne dieser Richtlinie untersagt wird (Art. 2). Wenn den Mitgliedstaaten in Art. 14 vorgegeben wird, ,,geeignete MaBnahmen" zu treffen, um die vollstandige Anwendung aller Bestimmungen dieser Richtlinie sicherzustellen und insbesondere festzulegen, wie VerstoBe gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften ,,zu ahnden" sind, so bringt dies alienfalls eine politische Empfehlung zum Ausdruck, die den Mitgliedstaaten nahe legt, kriminalstrafrechtliche MaBnahmen zur Bekampfung der Geldwasche zu ergreifen. Eine notfalls im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens vor dem EuGH 12 (Art. 226 EGV; vgl. hierzu § 4 Rn. 47) durchsetzbare Verpflichtung zur Schaffung bestimmter Straftatbestande wird damit jedoch gerade nicht begriindet. Zwar waren sich die im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen dariiber ei- 13 nig, dass Geldwasche trotz der allgemein gehaltenen Formulierung der Richtlinie mit strafrechtlichen Mitteln bekampft werden sollte19. Ihre diesbezilgliche Ubereinstimmung darf aber nicht dahingehend interpretiert werden, dass sie eine entsprechende Verpflichtung kraft Sekundarrechtsanweisung akzeptiert hatten20. Vielmehr ergab sich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Einfuhrung eines 13 14
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AB1EG 1990 Nr. C 332, S. 86, 87 f. Anderung des Vorschlags fur eine Richtlinie des Rates zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (AB1EG 1990 Nr. C 319, S. 9). ABlEG1990Nr. C 324, S. 257, 259. Fulbier, wistra 1996, 49, Fn. 5. BR-Drs. 288/90, Beschluss, S. 1 f. Richtlinie 91/308/EWG des Rates v. 10. Juni 1991 zur Verhinderung der Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (AB1EG 1991 Nr. L 166, S. 77). Vgl. den Wortlaut ihrer Erklarung in AB1EG 1991 Nr. L 166, S. 77, 83. Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 45 f.
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Kriminalstraftatbestandes bereits aus Art. 3 Nr. 1 und 4 lit. a des Wiener Ubereinkommens der Vereinten Nationen gegen den unerlaubten Verkehr mit Suchtstoffen und psychotropen Stoffen21 v. 20. Dezember 1988 (§ 5 Rn. 13) sowie aus Art. 6 Nr. 1 des Ubereinkommens des Europarates iiber das Waschen, das Aufspiiren, die Beschlagnahme und die Einziehung der Ertrage aus Straftaten v. 8. November 199022 (§ 5 Rn. 20). Die Richtlinie verweist auf beide Ubereinkommen. Der spater in Deutschland durch das Gesetz zur Bekampfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalitat v. 15. Juli 1992 in das StGB eingefiigte neue Straftatbestand der Geldwasche (§ 261 StGB) beruht somit zwar auch, aber eben nicht ausschliefilich auf der Geldwascherichtlinie23. Daher ist es zwar einerseits richtig, darauf hinzuweisen, dass § 261 StGB auf eine Gemeinschaftsinitiative zuriickzufuhren ist. Es ware aber andererseits verfehlt, § 261 StGB als Beispiel fur originar gemeinschaftsrechtsgezeugtes Strafrecht anzufuhren. 14 Losungshinweise zum Fall 1 (Frage 2): Bei der in Art. 14 Geldwaschericht-linie v. 10 Juni 1991 enthaltenen Anweisung handelt es sich um eine deklaratorische Bestimmung, die lediglich eine bereits aus Art. 10 EGV (Loyalitatsgebot) abzuleitende Sanktionierungsverpflichtung konkretisiert. Die Richtlinienbestimmung ist daher kompetenzrechtlich unbedenklich. 15 Durch die am 28. Dezember 2001 in Kraft getretene Richtlinie 2001/97/EG24 ist die Geldwascherichtlinie 91/308/EWG v. 10. Juni 1991 mit dem Ziel geandert worden, einen weiterhin hohen Schutzstandard bei der Bekampfung der Geldwasche zu etablieren25. Mit der Neufassung soil der Finanzsektor so weit wie moglich in den Anwendungsbereich der Richtlinie einbezogen werden. Dariiber hinaus wird der Tatbestand der Geldwasche auf das Erlangen von Erlosen aus einem breiteren, iiber Drogenstraftaten deutlich hinausgehenden Spektrum strafbarer Vortaten ausgedehnt (vgl. Art. 1 lit. e der Richtlinie 2001/97/EG). Zudem werden auch Notare, Rechtsanwalte26, Abschlussprufer, externe Buchprilfer, Steuerberater und Immobilienmakler, Spielkasinobetreiber sowie Handler hochwertiger Gttter und 21 22 23
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Vgl. das deutsche Ratifikationsgesetz v. 22. Juli 1993; BGB1. II 1993, 1136. ETS (= European Treaty Service) Nr. 141; BGB1. II 1998, 519; 2000, 1304; 2001, 339. Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236 ff.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 43 ff.; MuKoSiGBINeuheuser, 2003, § 261 Rn. 22; Satzger, Europaisierung, S. 398; Vogel, ZStW 109 (1997), S. 335,337. ABlEG2001Nr. L 344, S. 76 ff. Vgl. hierzu Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236, 238; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 98 und WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 45; krit. Braum, StV 2003, 576, 577. Zur Diskussion iiber eine etwa erforderliche teleologische Reduktion des § 261 StGB in Fallen einer Annahme von Strafverteidigerhonoraren, die aus einer Katalogtat des Mandanten herriihren vgl. Trondle/F;.sc/;er, § 261 Rn. 32 ff. m. w. N. Der BGH ist diesen Vorschlagen nicht gefolgt (BGHSt 47, 68). Das BVerfG hat jedoch am 30. Marz 2004 entschieden, dass § 261 II Nr. 1 StGB nur dann mit der Verfassung vereinbar ist, wenn der Strafverteidiger bei Annahme des Honorars sichere Kenntnis von dessen illegaler Herkunft aus einer Katalogtat habe (BVerfG StV 2004, 254).
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Versteigerer grundsatzlich in den Adressatenkreis der von der Richtlinie statuierten Pflichten einbezogen, wobei den Mitgliedstaaten jedoch ein relativ breiter Umsetzungsspielraum verbleibt (vgl. zu den gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzgrundlagen der Geldwascherichtlinie Rn. 52 ff.). Erganzt wird die strafrechtliche Bekampfung der Geldwasche durch den auf Art. 31 lit. a, c und e EUV gestutzten Rahmenbeschluss des Rates v. 26. Juni 2001 iiber Geldwasche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Ertragen aus Straftaten27, der die Mitgliedstaaten verpflichtet, eine Wertersatzstrafe sowie filr schwere Straftaten Mindesthochststrafen von vier Jahren Freiheitsstrafe einzuftihren (§11 Rn. 45).
2. Kommissionsvorschlag fur eine Verordnung iiber die Einfuhrung des Euro Die Kommission legte am 18. Dezember 1996 einen Vorschlag fur den Erlass 16 einer Verordnung iiber die Einfiihrung des Euro28 vor, der in Art. 12 die Anweisung enthalt: ,,Die teilnehmenden Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Nachahmungen und Falschungen von Banknoten und Milnzen angemessen bestraft werden." In den Erwagungsgriinden der Verordnung sollte festgehalten werden, dass Bank- 17 noten und Miinzen eines ,,angemessenen Schutzes vor Falschungen" bedurfen. Vor diesem Hintergrund sollte nach dem Willen der Kommission eine ausdriickliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Schaffung entsprechender Strafbestimmungen statuiert werden. Mit diesem Vorschlag vermochte sich die Kommission indes nicht durchzusetzen. Die am 3. Mai 1998 erlassene Verordnung des Rates iiber die Einfiihrung des Euro29 entspricht dem Vorschlag der Kommission zwar insoweit, als in den Erwagungsgrilnden auf die Notwendigkeit eines ,,angemessenen Schutzes vor Falschungen" hingewiesen wird. Als Sanktionsregelung enthalt die Verordnung in Art. 12 jedoch keine ausdruckliche strafrechtliche Anweisung, sondern begniigt sich mit der ,,weichen" Formulierung: ,,Die teilnehmenden Mitgliedstaaten stellen sicher, dass es angemessene Sanktionen fur Nachahmungen und Falschungen von Euro-Banknoten und Euro-Milnzen gibt." Die Verordnung uberlasst es mithin den Mitgliedstaaten, wie sie den strafrechtli- 18 chen Schutz des Euro sicherstellen. Den Erlass spezifisch kriminalstrafrechtlicher MaBnahmen legt die Verordnung zwar nahe, schreibt sie aber nicht explizit vor. Letzteres ware kompetenzrechtlich unbedenklich gewesen, da sich eine strafrecht27 28 29
ABlEG2001Nr. L 182, S. 1. Vgl. Vorschlag fur eine Verordnung (EG) des Rates tiber die Einfuhrung des Euro v. 7. Dezember 1996 (AB1EG 1996 Nr. C 369, S. 10). Verordnung (EG) Nr. 974/98 des Rates v. 3. Mai 1998ttberdie Einfuhrung des Euro; AB1EG 1998 Nr. L 139, S. 1; vgl. hierzu Mb, JuS 1999, 10 ff.
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liche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten bereits aus dem allgemeinen Loyalitatsgebot des Art. 10 EGV ergibt30. Die in Art. 12 des Verordnungsvorschlages vorgesehene Sanktionierungsanweisung hat somit rein deklaratorischen Charakter. Dass selbst eine rein deklaratorische Sanktionsverpflichtung keinen Eingang in die spater erlassene Verordnung fand, besta'tigt abermals die Entschlossenheit der Mitgliedstaaten, ihre Souveranitat auf dem Gebiet der Strafgesetzgebung zu verteidigen. 19 Am 29. Mai 2000 hat der Rat aufierhalb des Gemeinschaftsrechts, namlich auf der Grundlage des Art. 31 lit. e EUV, einen Rahmenbeschluss iiber die Verstarkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfalschung im Hinblick auf die Einfuhrung des Euro verabschiedet, der am 30. Mai 2000 in Kraft getreten ist31. Durch diesen im Rahmen der dritten Saule erlassenen Rechtsakt werden alle EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, Falschungshandlungen einschlieBlich des (grenziiberschreitenden) Inverkehrbringens strafrechtlich zu erfassen (§ 11 Rn. 13). 20 In Deutschland sind die Falschgelddelikte (§§ 146 ff. StGB) unmittelbar auf das Eurobargeld anwendbar, welches hier seit 1. Januar 2002 gesetzliches Zahlungsmittel ist32. Einer Gesetzesanderung bedurfte es hierfur nicht, da die bestehenden Strafgesetze einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung (Schutz der neubegrilndeten Geldgewalt der Gemeinschaft) zuganglich sind33.
3. Kommissionsvorschlag fur eine Richtlinie zum Umweltstrafrecht 21 Am 13. Marz 2001 legte die Kommission einen auf Art. 175 EGV gestutzten Richtlinienvorschlag iiber den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vor34. Nach Auffassung der Kommission reichen die derzeitigen Sanktionen der Mitgliedstaaten nicht aus, um die vollstandige Einhaltung des umweltschutzbezogenen Gemeinschaftsrechts zu gewahrleisten. Nicht alle Mitgliedstaaten wiirden strafrechtliche Sanktionen gegen die schwerwiegendsten Verletzungen des Umweltrechts der Gemeinschaft vorsehen. Nach wie vor komme es hier oft zu ernsten VerstoBen gegen das Gemeinschaftsrecht, die nicht mit hinreichend wirksamen und abschreckenden Sanktionen geahndet wiirden. Art. 3 des Richtlinienvorschlages sieht eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, sicherzustellen, dass die folgenden Ta'tigkeiten Straftaten darstellen, wenn sie vorsatzlich oder grob fahrlassig begangen werden und die in einem Anhang aufgefuhrten Umweltschutzvorschriften der Gemeinschaft und/oder Vorschriften der Mitgliedstaaten zur Umsetzung solcher Vorschriften der Gemeinschaft verletzen:
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Borries/Repplinger-Hach, N J W 1996, 3111, 3116; C. Schroder, N J W 1998, 3179 f. AB1EG 2000 N r . L 140, S. 1. TrondlelFischer, § 146 Rn. 2; Vogel, ZRP 2002, 7, 9. Satzger, Europaisierung, S. 585. Vgl. K O M (2001) 139 endg.; AB1EG 2001 Nr. C 180 E, S. 238; vgl. hierzu ausfuhrlich Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, passim.
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1. Ableitung von Kohlenwasserstoffen, AltQlen oder Klarschlamm in Gewasser; 22 2. Ablagerung, Ableitung oder Beseitigung einer Menge von Stoffen in die Atmosphare, in den Boden oder in Gewasser und Behandlung, Beseitigung, Lagerung und Beforderung sowie Aus- oder Einfuhr gefahrlicher Abfallstoffe; 3. Beseitigung von Abfallen auf dem oder im Boden oder in Gewassern einschlieBlich des Betriebes einer Abfalldeponie; 4. Besitz, Entnahme, Beschadigung oder Totung von sowie Handel mit geschtltzten wildlebenden Tier- oder Pflanzenarten oder Teilen davon; 5. erhebliche Schadigung geschiitzter Lebensraume; 6. Handel mit Stoffen, die zum Abbau der Ozonschicht ftthren; 7. Betrieb einer Anlage, in der eine gefahrliche Tatigkeit ausgeilbt wird oder in der gefahrliche Stoffe oder Zubereitungen gelagert oder verwendet werden. Nach Art. 4 des Richtlinienvorschlages haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, 23 dass bei Straftaten gema'B Art. 3 sowie Beihilfe und Anstiftung zu diesen Straftaten wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen verhangt werden k6nnen. Genauere Vorgaben zur Ausgestaltung des Allgemeinen und des Besonderen Teils des Umweltstrafrechts sowie zur Rechtsfolgenseite enthalt der Richtlinienvorschlag nicht. Hinsichtlich natilrlicher Personen sollen die Mitgliedstaaten strafrechtliche Sanktionen vorsehen, einschlieBlich des Freiheitsentzuges in schwerwiegenden Fallen. Juristische Personen sollen in angemessenen Fallen mit dem Ausschluss von offentlichen Zuwendungen oder Hilfen, vorilbergehenden oder standigen Verboten von Handelstatigkeiten oder mit richterlicher Aufsicht beziehungsweise einer richterlich angeordneten Auflosung bedroht werden. Der Richtlinienvorschlag sieht keine Regelungen im Bereich der Ermittlungsverfahren, der Strafverfolgung und des Strafverfahrens vor. Es wird den Justizbehorden der Mitgliedstaaten uberlassen, zu entscheiden, ob die Straftaten nach Art. 3 in jedem Fall zu verfolgen sind, oder ob sie Moglichkeiten zum Absehen von Strafe in Fallen von geringer Bedeutung vorsehen, in denen die Auswirkungen auf die Umwelt vernachlassigt werden konnen. Der Rat lehnte aufgrund bestehender Kompetenzvorbehalte der Mitgliedstaa- 24 ten mit iiberwaltigender Mehrheit die Annahme der von der Kommission vorgeschlagenen Richtlinie ab. Stattdessen wurde von den Mitgliedstaaten nach langen Verhandlungen das Instrumentarium der PJZS (§ 5 Rn. 69 ff.) aktiviert35. Am 27. Januar 2003 verabschiedete der Rat der Europaischen Union einen Rahmenbeschluss Uber den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht (§ 11 Rn. 114). Die Kommission steht jedoch auf dem Standpunkt, dass ein gemeinschafts- 25 rechtlicher Besitzstand bei Umweltkriminalitat nur durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden konne und musse. Dies gelte insbesondere fur die Definition der umweltbelastenden Tatigkeiten, die strafbar sein sollen und die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Insoweit bestehe also kein Raum fur die Annahme eines Rechtsaktes nach Art. 34 EUV. Die Kommission hat daher eine Klage auf Nichtigerklarang des Rahmenbeschlusses beim EuGH eingereicht. Damit hat der EuGH Gelegenheit, erstmalig uber die Vgl. hierzu den Bericht von Mohrenschlager, wistra 2003, S. V-VI.
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Frage der Existenz einer kriminalstrafrechtlichen Anweisungskompetenz zu entscheiden. Eine aus Art. 29, 47 EUV abzuleitende Befugnis der Mitgliedstaaten, MaBnahmen im Rahmen der dritten Saule zu treffen, kommt nur in Betracht, wenn hierdurch nicht unzulassig eine Gemeinschaftskompetenz - hier in Form einer strafrechtlichen Anweisungsbefiignis - beschnitten wird36. In seinem vielbeachteten Urteil v. 27. Oktober 1992 (§ 4 Rn. 84 ff.) hat sich der EuGH zu dieser Grundsatzfrage nicht erklart, da er die damals angegriffene MaBnahme des Leistungssauschlusses gerade nicht als Strafsanktion einstufte37.
III. EG-Anweisungen mit Strafrechtsbezug - bisherige Praxis 1. Ausgangslage 26 Die Bestrebungen der Kommission, die Mitgliedstaaten auf die Ergreifung spezifisch kriminalstrafrechtlicher MaBnahmen zum Schutz gemeinschaftsrechtlicher Interessen festzulegen, waren bislang - wie oben gezeigt - angesichts der mitgliedstaatlichen Souveranitatsvorbehalte nicht von Erfolg gekront. Kompetenzrechtlich unbedenklich sind sekundarrechtliche Anweisungen, soweit sie lediglich eine bereits aus dem Loyalitatsgebot des Art. 10 EGV abzuleitende Sanktionierungspflicht deklaratorisch wiedergeben bzw. konkretisieren38. Charakteristisch fur die Sekundarrechtspraxis ist daher der Erlass von Richtlinien und Verordnungen, die lediglich eine allgemein formulierte Forderung nach abschreckenden, wirksamen und verhaltnismaBigen Sanktionen enthalten, ohne deren Art und inhaltliche Ausgestaltung im Einzelnen festzulegen. Insbesondere wird in entsprechenden Rechtsakten die zuriickhaltende Formulierung verwandt, die Mitgliedstaaten hatten ,,geeignete" oder ,,erforderliche" MaBnahmen zum Schutz bestimmter Interessen zu treffen. Typisch ist z. B. die Anweisung in der bereits erwahnte Geldwascherichtlinie v. 10. Juni 1991, die den Mitgliedstaaten in Art. 14 aufgibt, ,,geeignete MaBnahmen zu treffen, um die vollstandige Anwendung aller Bestimmungen dieser Richtlinie sicherzustellen und insbesondere festzulegen, wie VerstoBe gegen die aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zu ahnden sind" oder Art. 5 der Richtlinie 79/409/EWG des Rates zur Erhaltung der wildlebenden Vogelarten39, der die Mitgliedstaaten anweist, ,,die erforderlichen MaBnahmen zur Schaffung einer allgemeinen Regelung zum Schutz aller unter Art. 1 fallenden Vogelarten" zu treffen. Sekundarrechtsakte dieser Auspragung iiberlassen es den nationalen Gesetzgebern, nach eigenem pflichtgemaBem Ermessen (Art. 10 EGV) zu beurteilen, ob es zum Schutz eines bestimmten Gemeinschaftsinteresses der Schaffung einer Strafhorm iiberhaupt bedarf, wie diese auf Tatbestands- und Rechtsfolgenseite ggf. zu gestalten und in das 36
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Vgl. hierzu Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 9 2 f. m . w. N . und WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Vorbem. zu den Art. 2 9 bis 4 2 E U V Rn. 49 ff., Art. 29 E U V Rn. 52 f. EuGHE 1992, 5383, 5431 (Rz. 24 f.). Satzger, Europaisierung, S. 395, 459. AB1EG 1979 Nr.L 103, S. 1.
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vorhandene Strafrechtssystem zu integrieren ist. Von der MOglichkeit, den Mitgliedstaaten eine Sanktionierungspflicht aufzugeben, hat die EG mehrfach Gebrauch gemacht40. Die folgenden Beispiele stammen aus den Bereichen des Lebensmittel-, Umwelt- und Wirtschaftsrechts. 2. Beispiele sekundarrechtlicher Anweisungen zu Sanktionsmalinahmen a) Verordnung liber Vermarktungsnormen fur bestimmte Lebensmittel Das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes fur landwirtschaftliche Erzeugnisse 27 (Art. 32 EGV) erfordert die Schaffung einer gemeinsamen Agrarpolitik, die insbesondere eine gemeinsame Organisation der Agrarmarkte umfassen muss. Die Beschreibung, Klassifizierung und auBere Aufmachung (Etikettierung) kann erhebliche Auswirkungen auf die Vermarktung von Lebensmittel haben und berlihrt somit die Interessen der Wettbewerber (Erzeuger, Handler) sowie Verbraucherschutzbelange (Tauschungsschutz). Die EG hat im Interesse eines moglichst reibungslosen Funktionierens des Binnenmarktes, aber auch im Interesse der Erzeuger, Handler und Verbraucher eine Fulle von Vermarktungsnormen fur bestimmte Lebensmittel erlassen, die fur einen vereinheitlichten Vermarktungsstandard - etwa die Vermarktungskategorie oder die auBere Aufmachung (Etikettierung) des Erzeugnisses betreffend — in der Gemeinschaft sorgen. Sie bediente sich dabei des Instruments der unmittelbar in alien Mitgliedstaaten anwendbaren Verordnung. Einige dieser Verordnungen enthalten ausdrilckliche Anweisungen an die Mitgliedstaaten, geeignete Bestimmungen zu erlassen, damit Zuwiderhandlungen gegen die festgelegten Vermarktungsnormen geahndet werden konnen. Exemplarisch zu nennen ist etwa die Verordnung (EWG) Nr. 1906/90 des Rates iiber Vermarktungsnormen fur Geflugelfleisch v. 26. Juni 199041. Diese legt einheitliche, d. h. gemeinschaftsweit geltende Normen fur die Vermarktung bestimmter Kategorien von Geflugelfleisch und deren auBere Aufmachung fest. Hierzu gehort z. B. die Einstufung von Geflugelfleisch je nach Aussehen und Beschaffenheit in ,,Handelsklasse A" und ,,Handelsklasse B" bzw. die Vermarktung in einem der folgenden ,,Angebotszustande": ,,frisch", ,,gefroren" und ,,tiefgefroren". Auch muss die Etikettierung von Geflugelfleisch bestimmten, im Detail vorgegebenen Anforderungen geniigen. Innerhalb der Gemeinschaft darf Geflugelfleisch gewerblich nur vermarktet werden, wenn es den Vorschriften dieser Verordnung entspricht. Nach Art. 10 der Verordnung treffen die Mitgliedstaaten ,,die erforderlichen Mafinahmen, um VerstoBe gegen diese Verordnung zu ahnden". Vergleichbare Ahndungsanweisungen befmden sich z. B. in der Art. 21 der Verordnung (EWG) Nr. 1907/90 des Rates iiber bestimmte Vermarktungsnormen fur Eier v. 26. Juni 199042. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht 2. Kap. Rn. 92 ff.; Dieblich, Schutz der Rechtsgilter der EG, S. 269 f.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 48 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 396 ff. ABlEG1990Nr. L 173, S. 1. AB1EG 1990 Nr. L 173, S. 5.
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Aus neuerer Zeit stammt die Verordnung (EG) Nr. 1493/1999 des Rates iiber die gemeinsame Marktorganisation fur Wein v. 17. Mai 199943. Sie enthalt in Art. 47 ff. detaillierte Vorgaben fur die Beschreibung, Bezeichnung und Aufmachung von Wein. Art. 48 normiert ein entsprechendes Irrefuhrungsverbot. Nach Art. 49 II der Verordnung trifft der Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Erzeugnis befindet, ,,die erforderlichen Ma Brian men, urn die VerstoBe je nach ihrer Schwere zu ahnden". Im 51. Erwagungsgrund der Verordnung wird ausgefiihrt, dass insbesondere die Bezeichnungsregeln Bestimmungen zur Verhiltung betrugerischer Praktiken und Sanktionen fur den Fall vorsehen mttssen, dass die Etikettierung, die Verwendung der Sprachen, und die Verwendung von Marken nicht den Regeln entspricht. Verordnungswidrig wurde sich demnach ein Mitgliedstaat verhalten, der es nicht ermoglicht, dass auf nationaler Ebene etwa gegen das betriigerische Pantschen von Wein oder die vorsatzliche Irrefuhrung der Verbraucher iiber die Qualitat des Weines strafrechtlich vorgegangen werden kann. Innerhalb des von der Verordnung gezogenen Rahmens verbleibt den Mitgliedstaaten jedoch ein gewisser Gestaltungsspielraum. So bleibt es ihnen tiberlassen, dartlber zu befinden, welche VerstoBe sie fur strafwurdig halten und bei welchen Zuwiderhandlungen es ausreicht, mit der Verhangung eines BuBgeldes oder einer Verwaltungssanktion zu reagieren.
b) ,,Basisverordnung" im Bereich des Lebensmittelrechts 29 Mit der am 21. Februar 2002 in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europaischen Parlaments und des Rates v. 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsatze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europaischen Behorde fur Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit44 wurde nach langwierigen Vorarbeiten das ehrgeizige Projekt eines Europaischen Lebensmittelrahmenrechts realisiert. Das vielfach auch als ,,Basisverordnung" bezeichnete Regelwerk beschreibt die Zielsetzungen und den Anwendungsbereich des europaischen ,,Dachgesetzes" zum Lebensmittelrecht. Zentrale Begriffe des Lebensmittelrechts, u. a. der des ,,Lebensmittels" (Art. 2) und des ,,Inverkehrbringens" (Art. 3 Nr. 8), werden legal definiert. Kapitel II (Art. 4-21) normiert die allgemeinen Grundsatze des Lebensmittelrechts und legt einen fur alle Lebensmittel geltenden rechtlichen Gesamtrahmen fest. Hierzu gehoren auch detaillierte Vorgaben zur Lebensmittelsicherheit (Art. 14) und zum Schutz der Verbraucherinteressen (Art. 8, 16). Im vorliegenden Zusammenhang ist zum einen Art. 8 der Verordnung interessant, der den Mitgliedstaaten eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zum Schutz der Verbraucherinteressen auferlegt. Namentlich miissen verhindert werden ,,...a) Praktiken des Betrugs oder der Tauschung, b) die Verfalschung von Lebensmitteln und c) alle sonstigen Praktiken, die den Verbraucher irrefiihren konnen". Des Weiteren weist Art. 17 II S. 3 der Verordnung die Mitgliedstaaten an, Vorschriften fur ,,MaBnahmen und Sanktionen bei Verstofien gegen
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ABlEG1999Nr. L 179, S. 1. A B l E G 2 0 0 2 N r . L 3 1 , S. 1.
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das Lebensmittel- und Futtermittelrecht" festzulegen, die ,,wirksam, verhaltnisma'Big und abschreckend" sein mussen. Die Basisverordnung verlangt zwar nicht explizit eine spezifisch kriminalstraf- 30 rechtliche Sanktionierung von LebensmittelrechtsverstoBen. Sie erhebt den Schutz der Verbraucher jedoch zu einem Gemeinschaftsinteresse. Folglich sind die Mitgliedstaaten im Lichte des Loyalitatsgebots (Art. 10 EGV) verpflichtet, fur Praktiken im Sinne der in Art. 8 beschriebenen Art, aber auch fur sonstige Lebensmittelrechtsverstb'Be Sanktionen vorzusehen, die erstens denen fur vergleichbare VerstoBe gegen nationales Recht entsprechen (Gleichstellungserfordernis) sowie zweitens jedenfalls wirksam, verhaltnismaBig und abschreckend sein mussen (Mindesttrias)45. Dies schlieBt kriminalstrafrechtliche MaBnahmen gegen besonders gefahrliche oder schwerwiegende LebensmittelrechtsverstoBe ein. Das deutsche Recht geniigt dieser Forderung, da es neben den kernstrafrechtlichen Strafbestimmungen (z. B. §§ 212, 222, 223, 229, 314, 263 StGB) ein spezielles lebensmittelstraf- und buBgeldrechtliches Instrumentarium zum Schutz der Verbraucher bereit halt (vgl. §§ 51 ff. LMBG). c) EG-Abfallverbringungsverordnung Der seit den 1980er Jahren in zunehmenden Umfang auftretende Mulltourismus 31 und die Gefahren, die mit dem Verbringen von gefahrlichen Abfallen in Lander verbunden sind, die mangels entsprechender Anlagen keine angemessene Entsorgung gewahrleisten kb'nnen, haben zu verstarkten Aktivitaten der EG auf dem Gebiet des grenziiberschreitenden Abfallverkehrs gefuhrt. Ein wichtiger Schritt war das auf der Ebene der UN geschlossene Basler Ubereinkommen iiber die Kontrolle der grenziiberschreitenden Verbringung gefahrlicher Abfalle und ihrer Entsorgung v. 22. Marz 1989 (BU)46, das im Marz 1996 bereits von 94 Staaten darunter Deutschland - ratifiziert wurde (§ 5 Rn. 9). Ziel des BU ist vor allem, Sonderabfalle in demjenigen Staat zu entsorgen, in dem sie erzeugt wurden. Nach Art. 4 BU haben die Vertragsparteien jeglichen unerlaubten Verkehr mit Abfallen als Straftat einzustufen und zu ahnden. Da auch die EG das BU unterzeichnete, war sie volkerrechtlich verpflichtet, die unmittelbare Geltung der Regelungen des BU in den Mitgliedstaaten sicherzustellen. Dieser Verpflichtung kam die EG durch die Verordnung (EG) Nr. 259/93 des Rates v. 1. Februar 1993 zur Uberwachung und Kontrolle der Verbringung von Abfallen in der, in die und aus der Europaischen Gemeinschaft (EGAbfVerbVO)47 nach. Nach Art. 26 V EGAbfVerbVO sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die ,,illegale Abfallverbringung zu unterbinden und durch geeignete rechtliche MaBnahmen zu ahnden". Der deutsche Gesetzgeber ist seiner Umsetzungsverpflichtung durch Schaffung des § 326 II StGB im Rahmen des 2. UKG nachgekommen. Nach dieser Vorschrift macht sich strafbar, wer Abfalle im Sinne des Abs. 1 entgegen einem Verbot oder ohne die erforderliche Genehmigung in den, aus dem oder durch den Geltungsbereich dieses Gesetzes verbringt. Art. 26 V EGAbfVerbVO bildet somit 45 46 47
Vgl. hierzu auch Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 106. BGB1.11994, 771; I I 1 9 9 4 II, 2703. ABlEG1993Nr. L 30, S. 1.
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ein anschauliches Beispiel dafiir, wie die EG auf eine Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts hinwirkt, obwohl die genannte Verordnung gerade keine explizit kriminalstrafrechtliche Anweisung enthalt48. d) Insider-Richtlinie 32 Ein weiteres Beispiel flir die strafrechtsrelevante Sekundarrechtspraxis bildet die Richtlinie des Rates 89/592/EWG zur Koordinierung der Vorschriften betreffend Insider-Geschafte v. 13. November 1989 (,,Insider-Richtlinie")49, welche die Mitgliedstaaten anweist, dem unerlaubten Insiderhandel mit geeigneten Sanktionen zu begegnen. Das Phanomen des Insiderhandels betrifft das Ausnutzen von Kenntnissen bei Wertpapiergeschaften, die nicht allgemein bekannt sind und sich nach ihrer Veroffentlichung auf den Kurs des betreffenden Wertpapiers erheblich auswirken. Hierbei kann es sich um die fur die Entwicklung eines Unternehmens positiv oder negativ beeinflussende vertrauliche Informationen handeln. Die Richtlinie enthalt insbesondere eine Aufzahlung der in Betracht kommenden Wertpapiere (Art. 1) sowie eine Bestimmung des tauglichen Taterkreises. Kern der Regelung ist das Verbot fur Primar- und Sekundarinsider, die Information an Dritte weiterzugeben oder Dritten auf ihrer Grundlage den Erwerb oder die VerauBerung zu empfehlen (Art. 3). Art. 13 der Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten im Einzelnen festlegen, ,,wie VerstoBe gegen aufgrund dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften zu ahnden sind". Die Richtlinie konkretisiert somit - kompetenzrechtlich unbedenklich - die iiber Art. 10 EGV ohnehin zu erreichende Mindesfharmonisierung. Im deutschen Schrifttum wurde streitig darilber diskutiert, ob fur die Umsetzung der Richtlinienvorgaben ein Strafgesetz erforderlich sei50. Der deutsche Gesetzgeber kam seiner Umsetzungsverpflichtung durch Schaffung einer neuen Strafnorm in § 38 i. V. m. § 14 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG) nach, die erstmals Borsentransaktionen unter Strafandrohung stellt, bei denen Insiderinformationen Grundlage des Wertpapiergeschafts waren. Er hat sich also - autonom und pflichtgemaB i. S. d. Art. 10 EGV - fur den Einsatz des Kriminalstrafrechts entschieden51.
B. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 33 Die bisherige Sekundarrechtspraxis geht - soweit strafrechtsrelevante Anweisungen erteilt werden - liber eine blofle Konkretisierung der bereits aus dem Loyalitatsgebot des Art. 10 EGV abzuleitenden Vorgaben (Gleichstellungsgebot und Mindesttrias) nicht hinaus. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass die Harmoni48
Vgl. hierzu Dannecker, J U R A 1998, 79, 82; ders., Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 101 und ausfiihrlich Breuer, Im- und Export von Abfallen, S. 53 ff.
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ABlEG1989Nr. L 334, S. 30.
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Vgl. hierzu Dannecker, Vgl. hierzu Dannecker,
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Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 9 4 m. w. N . Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 95.
B. Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 283 sierungsbefugnis der EG im Bereich des Strafrechts ilber die primarrechtliche Vorgabe des Art. 10 EGV hinausreicht.
I. Meinungsstand in der Literatur Vereinzelt wird der EG eine strafrechtliche Anweisungsbefugnis vor allem unter 34 Hinweis auf die (als solche nach h. M. unbestrittene) nationale Souveranitat im Bereich der Kriminalstrafgesetzgebung schlechthin abgesprochen52. Es wird die Gefahr beschworen, dass der demokratisch legitimierte nationale Gesetzgeber die auf europaischer Ebene getroffenen strafrechtlichen Zielbestimmungen nur noch exekutiere. Daran ist richtig, dass die fehlende Rechtsetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts nicht umgangen werden darf, indem solche HarmonisierungsmaBnahmen zugelassen werden, die im Ergebnis denselben Effekt wie die Setzung von Kriminalstrafrecht hatten53. Durch die Annahme einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG wird die Rechtsetzungskompetenz der Mitgliedstaaten aber jedenfalls dann nicht in Frage gestellt, wenn sie nicht so weit gefasst wird, dass die Mitgliedstaaten eine ,,von Brussel" in Tatbestand und Rechtsfolge detailliert ausformulierte Strafbestimmung ohne eigene gesetzgeberische Gestaltungsrechte umsetzen mttssen54. Nach ganz uberwiegend vertretener Auffassung im Schrifttum, die Zustimmung verdient, ist eine strafrechtliche Anweisungsbefugnis der EG im Grundsatz anzuerkennen. Meinungsunterschiede bestehen nicht in der Frage des ,,Ob" einer strafrechtlichen Anweisungsbefugnis, sondern im Hinblick auf ihre Reichweite55.
II. Begrundungsansatze fiir eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG In der Literatur wurden bisher im Wesentlichen drei Ansatze zur Begrilndung ei- 35 ner strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG entwickelt:
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Braum, KritV 1998, 460, 471 f.; Moll, Blankettstrafgesetzgebung S. 207 ff., 215 ff., 224; Oehler, in Krekeler/Tiedemann/Ulsenheimer/Weinmann (Hrsg.), Handworterbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts mit Ordnungswidrigkeiten- und Verfahrensrecht, 1990, Stichwort ,,EG-Strafrecht", S. 3; ders., Jescheck-FS, S. 1399, 1408; Ruter, ZStW 105 (1993), S. 30, 42. Satzger, Europaisierung, S. 406. Satzger, Europaisierung, S. 452; Schroder, Richtlinien, S. 184 ff.; Tiedemann, N J W 1993, 23, 26; Weigend, Z S t W 105 (1993), S. 774, 799. Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 53 ff. und Satzger, Europaisierung, S. 403 ff.
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1. Anweisungskompetenzen aus Art. 10 EGV 36 Ein Teil der Literatur sieht in dem allgemeinen Solidaritatsgebot des Art. 10 EGV eine maBgebliche Kompetenzgrundlage fur den Erlass strafrechtsrelevanter Sekundarrechtsanweisungen56. Da Art. 10 EGV der EG aber keine Befugnis zum Erlass verbindlicher Strafrechtsanweisungen ubertragt57, sondern lediglich dazu ermachtigt, in einem Sekundarrechtsakt deklaratorisch auf die aus dem Gleichstellungserfordernis und dem Effektivitatsgebot (Mindesttrias) folgenden Sanktionierungspflichten hinzuweisen, nahert sich dieser Ansatz im Wesentlichen dem status quo der derzeitigen Sekundarrechtspraxis an. Die Bedeutung strafrechtsrelevanter Anweisungen erschopft sich von diesem Standpunkt aus weitgehend darin, die primarrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten auf bestimmte Geund Verbote zu beziehen und damit zu konkretisieren, was der Rechtsklarheit diene. Diese Konkretisierung soil zugleich die Aufgabe der Kommission erleichtern, auf eine korrekte Umsetzung des Sekundarrechts in nationales Recht zu achten, da sie den Mitgliedstaaten gegenuber auf eine genau umrissene Verpflichtung und nicht nur auf den recht allgemein gehaltenen Art. 10 EGV verweisen konne58. 37 Wenn Art. 10 EGV die einzig taugliche Befugnisnorm fur strafrechtsbezugliche Anweisungen der EG ware, so ergabe sich hieraus eine entsprechend begrenzte Relevanz des Sekundarrechts fur die Strafrechtsharmonisierung. Der ilberwiegende Teil der Literatur vertritt indes die uberzeugende Auffassung, dass die Gemeinschaftsorgane durchaus befugt seien, auf dem Gebiet des Strafrechts eine Rechtsangleichung in Gang zu setzen, die iiber die durch Art. 10 EGV ohnehin zu erreichende Mindestharmonisierung hinausgeht.
2. Spezielle und allgemeine Harmonisierungsbefugnisse des EGV 38 Eine strafrechtliche Anweisungskompetenz kann sich nach h. L. aus speziellen und allgemeinen Ermachtigungsgrundlagen des EGV ergeben, die eine Befugnis zur Harmonisierung bestimmter Regelungsbereiche verleihen59. Die Ziele der Gemeinschaft, dazu gehort z. B. die Angleichung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften, soweit dies fur das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlich ist (Art. 94 EGV), sind in Art. 3 EGV im Einzelnen festgeschrieben. Zur Verwirklichung dieser Ziele stellt der EGV eine Ftille spezieller Harmonisierungsermachtigungen bereit, die eine bereichsspezifische Rechtsangleichung er56
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Bose, Strafen und Sanktionen, S. 414; Bruns, Der strafrechtliche Schutz der europaischen Marktordnungen fur die Landwirtschaft, 1980, S. 92; Dieblich, Schutz der Rechtsguter der EG, S. 288; Tiedemann, NJW 1993, 23, 26. So aber Winkler, Die Rechtsnatur der GeldbuBe im Wettbewerbsrecht der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1971, S. 11 f.; dagegen zutr. Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 54 ff. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 414. Vgl. hierzu exempl. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 61 ff.; Dieblich, Rechtsguter der EG, S. 276 ff; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 91 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 407 ff; Vogel, in: Dannecker (Hrsg.), Die Bekampfung des Subventionsbetrugs im EG-Bereich, 1993, S. 170, 172; ders., JZ 1995, 331, 335.
B. Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 285 moglichen (hierzu Rn. 42 ff.). Zu denken ist etwa an die Errichtung einer gemeinsamen Organisation der Agrarmarkte, zu deren Durchfuhrung der Rat alle ,,erforderlichen MaBnahmen" ergreifen kann (Art. 34 II EGV), an die gemeinsame Verkehrspolitik, die u. a. ,,Mal3nahmen zur Verbesserung der Verkehrsicherheit" einschlieBt (Art. 71 I lit. c EGV) oder an die gemeinsame Umweltpolitik, die ein ,,Tatigwerden" der Gemeinschaft erfordert (Art. 175 I EGV). Eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG konnte sich auch aus dem durch den Amsterdamer Vertrag eingefugten Bestimmung des Art. 280 IV S. 1 EGV ergeben, wonach der Rat die erforderlichen MaBnahmen ,,zur Verhlitung und Bekampfung von Betriigereien" zum Nachteil der EG-Finanzinteressen ergreift (Rn. 56 ff.). Daneben enthalt der EGV allgemeine Kompetenzgrundlagen, die nicht auf bestimmte sachliche Materien begrenzt sind (Rn. 48 f.), sondern die Errichtung und das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes sowie des Binnenmarktes zum Gegenstand haben (Art. 94, 95 EGV). Fur das Verhaltnis dieser Kompetenzgrundlagen zueinander gilt grundsatzlich, 39 dass die Spezialermachtigungen den allgemeinen Befugnisnormen vorgehen. Soweit eine HarmonisierungsmaBnahme nicht auf erstere gestiltzt werden kann, ist die allgemeine Befugnisnorm des Art. 95 EGV zu prtlfen, welche wiederum gegenilber Art. 94 EGV vorrangig zur Anwendung gelangt. Hochst subsidiar ist Art. 308 EGV anwendbar, namlich nur dann, wenn ein Tatigwerden der Gemeinschaft erforderlich erscheint, um im Rahmen des Gemeinsamen Marktes eines ihrer Ziele zu verwirklichen, jedoch die hierfur erforderlichen Befugnisse im EGV nicht vorgesehen sind60. Der Wortlaut der primarrechtlichen Harmonisierungsgrundlagen schlieBt ihre 40 Heranziehung zur Begriindung strafrechtlicher Anweisungskompetenzen nicht aus61. Wie insbesondere von Hugger iiberzeugend nachgewiesen wurde, lasst sich im Gemeinschaftsrecht auch kein ungeschriebener Rechtsgrundsatz (,,Ausschlussklausel") ableiten, nach dem Strafen und Sanktionen dem Anwendungsbereich der primarrechtlichen Harmonisierungskompetenzen von vomherein entzogen waren62. Auch wenn allein die Mitgliedstaaten zur Setzung von Kriminalstrafrecht befugt sind, so bedingt doch die final und dynamisch konzipierte sowie auf Effektivitat angelegte Kompetenzverteilung zwischen EG und Mitgliedstaaten, dass kein Bereich des nationalen Rechts von vomherein dem Anwendungsbereich der Harmonisierungsbefugnisse des EGV entzogen sein kann. Dies muss dann auch fur den Bereich des Strafrechts gelten. Das Strafrecht befmdet sich somit nicht in einer gemeinschaftsrechtlichen Tabuzone.
Zur beschrankten Relevanz des Art. 308 EGV als strafrechtliche Harmonisierungsbefugnis vgl. Satzger, Europaisierung, S. 437 ff. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 78; Satzger, Europaisierung, S. 470. Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 54; 62 ff; im Ergebnis ebenso Bose, Strafen und Sanktionen, S. 81, 94 und Satzger, Europaisierung, S. 470.
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3. Annex-Kompetenzen 41 Ein dritter Ansatz zieht zur Begriindung strafrechtlicher Anweisungskompetenzen eine aus den Spezialermachtigungen des EGV abzuleitende Annexkompetenz in Betracht. Unter Berufung auf die Lehre von den ,,i nip lied powers"63, wonach die geschriebenen Kompetenznormen immer auch die Befugnis zur Setzung notwendigerweise mitzuregelnder Tatbestande beinhalten, wird argumentiert, mit jeder Kompetenznorm sei die uneingeschrankte normative Zustandigkeit auf die Gemeinschaft ubergegangen (vgl. zu diesem Ansatz im Zusammenhang mit der Diskussion einer strafrechtlichen Rechtsetzungskompetenz der EG § 4 Rn. 89). Dieser Zustandigkeitstibergang schliefie auch die Befugnis der EG ein, (kriminal)strafrechtliche Anweisungen zu erteilen, soweit dies zur Erreichung des jeweiligen Harmonisierungsziels erforderlich sei64. Bei genauerer Betrachtung reicht der Ansatz, strafrechtliche Rechtsangleichungsbefugnisse aus ,,implied powers" abzuleiten, jedoch nicht weiter als der oben referierte Ansatz, geschriebene Kompetenznormen heranzuziehen. Denn bei den Annexkompetenzen handelt es sich um bloBe Hilfsbefugnisse, die nur zur wirksamen Ausiibung bereits ausdriicklich zugewiesener Befugnisse dienen. Folglich vermogen sie keine strafrechtlichen Sekundarrechtsanweisungen zu legitimieren, die nicht bereits in speziellen Ermachtigungsgrundlagen des EGV angelegt sind65. Zu folgen ist daher im Ergebnis dem Begrundungansatz der h. L., wonach sich strafrechtliche Anweisungsbefugnisse aus den vom EGV normierten speziellen und allgemeinen Kompetenzgrundlagen ergeben konnen.
III. Potentielle Ermachtigungsgrundlagen fur strafrechtliche Anweisungen 42 Im Folgenden soil der Blick auf einige exemplarisch ausgewahlte Befugnisnormen des EGV gerichtet werden, die als potentielle Ermachtigungsgrundlagen fur den Erlass strafrechtlicher Anweisungen in Betracht kommen. Von der nach h. L. anzuerkennenden Harmonisierungsbefugnis sind vor allem das Lebensmittelstrafrecht66, aber auch das Wirtschafts- und Steuerstrafrecht betroffen67. Im Anschluss
Vgl. hierzu Bleckmann, Europarecht, Rn. 797 ff.; Deutscher, Kompetenzen, S. 206 f.; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 94; Oppermann, Europarecht, Rn. 527. Diese Doktrin entspricht weitgehend der im deutschen Staatsrecht anerkannten ,,Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs". Johannes, EuR 1968, 63, 107 f; ihm folgend Bleckmann, Stree/Wessels-FS, S. 107, 111; Bruns, Der strafrechtliche Schutz der europaischen Marktordnungen ftlr die Landwirtschaft, 1980, S. 92; Jescheck, Maurach-FS, 1972, S. 579, 594; Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, S. 29; Winkler, Die Rechtsnatur der GeldbuBe im Wettbewerbsrecht der Europaischen Wirtschaftsgemeinschaft, 1971, S. 11 f. Vgl. hierzu Dieblich, Schutz der Rechtsguter der EG, S. 274 f.; Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 56 ff. Dannecker, WiVerw 1996, 190 ff.; Hecker, Produktwerbung, S. 65 ff.
B. Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 287 daran sind die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen aufzuzeigen, die jeder Harmonisierung im Bereich der Strafen und Sanktionen gesetzt sind. Diese Schranken stecken zugleich die Reichweite der strafrechtlichen Anweisungskompetenz ab. 1. Spezialermachtigungen im Bereich der gemeinsamen Politiken a) Gemeinsame Agrarpolitik (Art. 32-38 EGV) Im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik, deren Ziele in Art. 33 EGV beschrie- 43 ben werden, sind nach Art. 34 I EGV gemeinsame Marktorganisationen zu errichten. Nach Art. 34 II EGV schliefit die gemeinsame Marktorganisation alle zur Durchfuhrimg des Art. 33 EGV ,,erforderlichen" MaBnahmen ein. Wie die Erfahrung der vergangenen Jahre lehrt, ist der Agrarsektor fur Betrugereien und UnregelmaBigkeiten besonders anfallig68. Diese Vorfalle konterkarieren die MaBnahmen der EG zur Stabilisierung der Agrarmarkte, zur Stutzung der Lebenshaltung der Landwirte, zur Preispolitik und zum Verbraucherschutz. Daher dient die Bekampfung dieser Betrugereien und UnregelmaBigkeiten auch der Verfolgung der in Art. 33 EGV genannten Ziele69. Vor diesem Hintergrund ist die Kompetenznorm des Art. 34 II EGV dahingehend auszulegen, dass sie der EG grundsatzlich auch die Befugnis verleiht, die Mitgliedstaaten anzuweisen, VerstoBe gegen GemeinschaftsmaBnahmen, welche die effektive Durchfuhrung der gemeinsamen Marktorganisation behindern, mit strafrechtlichen Sanktionen zu ahnden. Fur die Erforderlichkeit einer richtliniengesteuerten Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Strafrechts spricht auch, dass divergierende mitgliedstaatliche MaBnahmen zu Wettbewerbsverzerrungen fllhren, welche die in Art. 33 EGV genannten Ziele gefahrden70. b) Gemeinsame Verkehrspolitik (Art. 70-80 EGV) Art. 711 lit. c EGV verleiht der EG im Rahmen der gemeinsamen Verkehrspolitik 44 die Befugnis, ,,MaBnahmen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit" zu erlassen. Das Ziel der Verbesserung der Verkehrsicherheit steht somit nicht nur im Zusammenhang mit der Realisierung wirtschaftpolitischer (binnenmarktbezogener) Ziele, sondern stellt ein eigenstandiges Gemeinschaftsinteresse dar. Die Befugnisnorm des Art. 71 I lit. c EGV ermachtigt daher nicht nur zum Erlass von Richtlinien tiber die technische Uberwachung von Kraftfahrzeugen71 oder zur 67
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Dannecker, Wirtschafts- u n d Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 65 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 413. Vgl. hierzu die Mitteilungen der Kommission in dem am 11. Dezember 2001 vorgelegten Griinbuch KOM (2000) 715, endg. Abschnitte 4 und 5 sowie das Zahlenmaterial in deren Jahresbericht 2001 zum Schutz der finanziellen Interessen der EG und zur Betrugsbekampfung KOM (2002) 348 endg., S. 105 ff. (beide Dokumente sind im Internet abrufbar unter http://europa.eu.int/comm.htm). Bose, Strafen und Sanktionen, S. 6 3 ; Satzger, Europaisierung, S. 4 7 1 . Bose, Strafen und Sanktionen, S. 64. Vgl. Richtlinie des Rates Nr. 77/143/EWG v. 29. Dezember 1976; AB1EG 1976 Nr. L 47, S. 47.
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Gurtanlegepflicht72. Vielmehr erstreckt sich die Zustandigkeit der EG auch auf MaBnahmen zur Regelung des Verhaltens der Verkehrsteilnehmer. Damit ist die Moglichkeit, weite Teile des StraBenverkehrsrechts und der damit zusammen hangenden Straf- und Bufigeldbestimmungen zu harmonisieren, prinzipiell eroffhet73. Zu denken ware etwa an eine einheitliche Ausgestaltung der Trunkenheitsdelikte. Freilich sind auch hier die sich aus dem Subsidiaritats- und VerhaltnismaBigkeitsprinzip (Art. 5 II, III EGV) abzuleitenden Schranken der strafrechtlichen Anweisungskompetenz zu beachten (Rn. 63 ff). c) Umweltschutz (Art. 174-176 EGV) 45 Der Umweltschutz wird heute maBgeblich durch die Umweltpolitik der EG gepragt. Zum Schutz und zur Erhaltung der Umwelt wurden in den zuruckliegenden 30 Jahren einige hundert Rechtsakte erlassen. Bereits seit Anfang der 1970er Jahre setzte die Gemeinschaft europaisches Umweltrecht auf der Grundlage einer dynamischen Handhabung des Vertrages, insbesondere einer extensiven Interpretation der in Art. 94 EGV (ex-Art. 100 EGV) und Art. 308 EGV (ex-Art. 235 EGV) enthaltenen Harmonisierungskompetenzen74. Eine bedeutsame Aufwertung erfuhr der gemeinschaftliche Umweltschutz mit dem Inkrafttreten der EEA im Jahre 1987 durch die Einfugung eines besonderen Umweltkapitels in den EGV (ex-Art. 130 lit. r-t EGV; jetzt Art. 174-176 EGV), welches spater durch die Vertrage von Maastricht und Amsterdam weiterentwickelt wurde75. Fortan stellte der Umweltschutz nicht mehr ein bloBes Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes, sondern ein eigenstandiges Vertragsziel dar76. 46 Die Umweltpolitik der Gemeinschaft dient nach der Zielsetzung des Art. 174 I EGV der Erhaltung und dem Schutz der Umwelt sowie einer Verbesserung ihrer Qualitat, dem Schutz der menschlichen Gesundheit, der umsichtigen und rationellen Verwendung der naturlichen Ressourcen und der Forderung von MaBnahmen auf internationaler Ebene zur Bewaltigung regionaler oder globaler Umweltprobleme. Sie hat sich an einem ,,hohen Schutzniveau" zu orientieren (Art. 174 II EGV). Schwerpunkte der bisherigen Harmonisierungsaktivitaten bildeten die Bereiche Gewasserschutz, Luftreinhaltung, Larmbekampfung und Abfallrecht. Damit ist bereits vorgezeichnet, welche Bestimmungen des mitgliedstaatlichen StrafVgl. Richtlinie des Rates Nr. 91/671/EWG v. 16. Dezember 1991; AB1EG 1991 Nr. L 373, S. 26. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 66; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 93; Satzger, Europaisierung, S. 413 f. Vgl. BreierlVygen, in Lenz/Borchardt (Hrsg.), EG-Vertrag, 3. Aufl., 2003, Vorbem. Art. 174-176 Rn. 1; Hailbronner, EuGRZ 1989, 101, 103; Nicklas, Implementationsprobleme des EG-Umweltrechts unter besonderer Berucksichtigung der Luftreinhalterichtlinien, 1997, S. 23 ff.; Scheuing, EuR 1989, 153 ff. Art. 2 EGV schreibt mit der Amsterdamer Vertragsanderung ein hohes MaB an Umweltschutz und an Verbesserung der Qualitat der Umwelt als Aufgabe der Gemeinschaft ausdrilcklich fest. Vgl. zum Umweltschutz auf europaischer Ebene Epiney, Umweltrecht in der Europaischen Union, 1997, S. 10 ff; Frenz, Europaisches Umweltrecht, 1997, §§ 1-2; Zuleeg, NJW1993, 3 Iff.
B. Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 289 rechts von einer Harmonisierung erfasst sein konnten. Zu denken ist in diesem Zusammenhang vor allem auch an die Losung der bei grenziiberschreitenden Umweltverstofien auftretenden Rechtsprobleme77. Eine Vereinheitlichung des mitgliedstaatlichen Umweltstrafrechts erscheint im Interesse eines besseren und effektiveren Umweltschutzes dringend geboten78. Art. 175 I EGV stellt hierfur eine taugliche Kompetenzgrundlage zur Verfllgung, die es der EG gestattet, die Mitgliedstaaten zur Ergreifung strafrechtlicher Mafinahmen gegen gravierende UmweltrechtsverstoBe zu verpflichten und damit zu einem wirksamen Schutz der Umwelt beizutragen79. Erganzend kann auf Art. 95 EGV (Rn. 49) rekurriert werden, da divergierende umweltstrafrechtliche Standards in den Mitgliedstaaten zu Wettbewerbsverzerrungen ftlhren konnen80. Von einer entsprechenden Anweisungsbefugnis geht auch die Kommission in 47 ihrem am 13. Marz 2001 vorgelegten Richtlinienvorschlag iiber den strafrechtlichen Schutz der Umwelt81 aus (hierzu bereits Rn. 21). Der Erlass der vorgeschlagenen Richtlinie scheiterte bislang an den Kompetenzvorbehalten der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten. Diese nahmen stattdessen am 27. Januar einen Rahmenbeschluss ilber den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht an (§ 11 Rn. 114), wogegen die Kommission beim EuGH Klage erhob. Es bleibt zu hoffen, dass der EuGH diese Klage zum Anlass nimmt, zur grundsatzlichen Klarung der Anweisungsproblematik beizutragen. Sollte der EuGH feststellen, dass durch die in der dritten Saule getroffene MaBnahme in unzulassiger Weise eine strafrechtliche Anweisungsbefugnis der EG im Bereich des Umweltstrafrechts beschnitten wird, musste er den Rahmenbeschluss fur nichtig erklaren82.
2. Allgemeine Harmonisierungsbefugnisse (Art. 94, 95 EGV) Anders als die Spezialermachtigungen sind die Harmonisierungsbefugnisse der 48 Art. 94, 95 EGV nicht auf bestimmte Sachbereiche begrenzt, sondern funktional (zielgerichtet) konzipiert. Harmonisierungsmafinahmen konnen auf Art. 94 EGV nur gestutzt werden, wenn sie sich auf Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten beziehen, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes auswirken. Der EuGH charakterisiert den ,,Gemeinsamen Markt" durch ,,die Beseitigung aller Hemmnisse im innergemeinschaftlichen Handel mit dem Ziel der Verschmelzung der nationalen Markte zu einem einheitlichen Markt, dessen Bedingungen denjenigen eines wirklichen Bin-
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Vgl. hierzu Hecker, Z S t W 115 (2003), S. 880, 901 ff. Dannecker, JZ 1996, 869, 879; ders., Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 268. Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, S. 34. Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 424; Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, S. 32. Vgl. KOM (2001) 139 endg.; AB1EG 2001 Nr. C 180 E, S. 238; vgl. hierzu ausfiihrlich Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, passim. Vgl. hierzu Hugger, Strafrechtliche Anweisungen, S. 92 f. m. w. N.
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nenmarktes moglichst nahe kommen83." Die h. M. steht daher zu Recht auf dem Standpunkt, dass zumindest keine wesentlichen Unterschiede zwischen Gemeinsamem Markt (Art. 2 EGV) und Binnenmarkt, der in Art. 14 II EGV als Raum ohne Binnengrenzen defmiert wird, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemaB den Bestimmungen des Vertrages gewahrleistet ist, bestehen84. 49 Nach Art. 95 EGV erlasst der Rat gemaB dem Verfahren des Art. 251 EGV die MaBnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, welche die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Die der Verwirklichung des Binnenmarktziels dienende Kompetenzgrundlage des Art. 95 EGV wird im Verhaltnis zu Art. 94 EGV als speziellere und damit vorrangige Ermachtigungsgrundlage zur Rechtsangleichung angesehen. Der Binnenmarkt beschrankt sich nicht auf die ausdriicklich in Art. 14 EGV genannten Elemente, sondern erstreckt sich im Rahmen der Grundfreiheiten auf ein System unverfalschten Wettbewerbs. Im Anwendungsbereich des Art. 95 EGV liegen somit grundsatzlich alle Vorschriften - einschlieBlich Strafbestimmungen -, die den freien Wettbewerb im Binnenmarkt beeintrachtigen konnen und deren Harmonisierung der Herstellung gleicher Wettbewerbsbedingungen dient86. 50 Unterschiede zwischen den nationalen Strafrechtsordnungen - zu denken ist insbesondere an das Betrugs- und Wettbewerbs-, Steuer-, Lebensmittel- und Umweltstrafrecht - konnen im Einzelfall sogar geeignet sein, unmittelbare Auswirkungen auf den Gemeinsamen Markt zu entfalten86. Werden gleichartige Wettbewerbshandlungen in einem Mitgliedstaat mit Kriminalstrafe bedroht, in einem anderen als bloBes Ordnungsunrecht eingestuft und im dritten als nicht sanktionierbare Tatigkeit gewertet, so entsteht hierdurch ein Strafrechtsgefa'lle, das territorial unterschiedliche Zugangsbedingungen fur die Marktteilnehmer schafft. Hieraus konnen sich dysfunktionale Folgen fur die internationale Wettbewerbssituation ergeben, die das von der Gemeinschaft angestrebte Ziel der Herstellung eines einheitlichen Binnenmarktes konterkarieren87. Gerade am Beispiel der uneinheitlichen strafrechtlichen Beurteilung bestimmter Formen der Produktvermarktung lasst sich dieser unerwunschte Nebeneffekt deutlich aufzeigen: 51 Wenn das Inverkehrbringen eines Erzeugnisses oder eine bestimmte Werbung hierfur in dem Mitgliedstaat A einem Straftatbestand unterfallt, der den verantwortlichen Anbieter 83 84 85
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EuGHE 1982, 1409 (Rz. 33). Herdegen, Europarecht, Rn. 274 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 431. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 69; Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum EGV und EUV, 2. Aufl., 2002, Art. 94 EGV Rn. 14; Satzger, Europaisierung, S. 431. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 71; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 99 ff.; Hecker, Produktwerbung, S. 424. Vgl. hierzu Appel, Lebensmittelstrafrecht in der EU, S. 165; Dannecker, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn 267; Dieblich, Schutz der Rechtsguter der EG, S. 279 ff.; Sieber, JZ 1997, 369, 374; Spannowsky, JZ 1994, 326 ff; Tiedemann, NJW 1990, 2226, 2231; Zuleeg, JZ 1992, 761, 766.
B. Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG
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mit Freiheits- oder Geldstrafestrafe bedroht, wahrend die gleiche Produktvermarktung in dem Hoheitsgebiet von Mitgliedstaat B keine strafbare Handlung darstellt, dann kann bereits die Existenz bzw. das Fehlen einschlagiger Strafnormen die Standortwahl des Anbieters beeinflussen. Falls dieser sich entschlieBt, den raumlichen Ausgangspunkt seiner unternehmerischen Aktivitaten in den Mitgliedstaat B zu verlagern, erlangt er einen klaren Wettbewerbsvorteil gegenuber seinen Konkurrenten im Land A. Er kann nun sein Produkt ohne Strafbarkeitsrisiko von Mitgliedstaat B aus gemeinschaftsweit vermarkten. Wettbewerbsverzerrungen, die aus der Divergenz der mitgliedstaatlichen Strafrechtssysteme resultieren, kann letztlich nur durch eine Angleichung der einschlagigen Straftatbestande begegnet werden. Die an obigem Beispiel verdeutlichte Auswirkung divergierender Strafrechtssysteme auf den Gemeinsamen Markt, macht deutlich, dass strafrechtsrelevante HarmonisierungsmaBnahmen, welche das Ziel verfolgen, wettbewerbsverfalschende Einfliisse abzubauen, auch die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts (Art. 14 EGV) zum Gegenstand haben. Die Art. 94, 95 EGV sind als hierfur prinzipiell taugliche Befugnisnormen einzustufen. Jedoch dtirfte die praktische Bedeutung des Art. 94 EGV wegen des Vorranges von Art. 95 EGV sehr gering sein88. Losungshinweise zum Fall 1 (Frage 3): Die Frage, ob der EGV den Erlass einer 52 strafrechtlichen Anweisung zulasst, wie sie in Art. 2 des Kommissionsvorschlags fur eine Geldwascherichtlinie v. 23. Marz 1990 vorgesehen war (Rn. 1), ist im
Lichte der einschlagigen Befugnisnormen des EGV zu beantworten. Gestiitzt ist die Geldwascherichtlinie auf zwei Kompetenznormen, deren Bezug zum Geldwaschestrafrecht nicht ohne weiteres zu erkennen ist, namlich zum einen auf Art. 47 II EGV (ex-Art. 57 II EGV), der die Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten ilber die Aufnahme und Ausilbung selbstSndiger Tatigkeiten zum Gegenstand hat, und zum anderen auf Art. 95 EGV (ex-Art. 100 a EGV), wonach der Rat die MaBnahmen zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten zu erlassen hat, welche die Errichtung und das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben. Die herangezogenen Kompetenznormen eroffhen der EG einen weiten Harmo- 53 nisierungsspielraum. Nach Art. 47 II EGV diirfen MaBnahmen getroffen werden, die speziell die Ausilbung des Finanzgewerbes betreffen, wahrend Art. 95 EGV eine Grundlage fur alle Maflnahmen bildet, die zum Schutz des Binnenmarktes erforderlich sind. Der von den genannten Kompetenzgrundlagen jeweils umfasste Regelungsbereich wird ganz offensichtlich von Geldwaschehandlungen betroffen, wenn man sich die Gefahrdungspotentiale der Geldwasche vergegenwartigt89. Durch Einschleusung ,,schmutziger" Gelder in den Finanzkreislauf konnten 54 kriminelle Vereinigungen wirtschaftliche Einflussmacht und Kontrolle Uber Finanzinstitute und deren Geschaftspolitik gewinnen. Eine Koordinierung der Geldwaschebekampfung erscheint daher zum Schutz des Finanzgewerbes notwendig. Auch sind ungleiche Wettbewerbsbedingungen zu befurchten, wenn die Mitgliedstaaten den Finanzinstituten national divergierende Uberwachungs- und Kontrollaufgaben vorschreiben. Denn die Finanzinstitute in Staaten mit hohem Schutzstandard mtlssten dann erhebliche Mehrkosten tragen, was zu Wettbewerbsverzerrungen filhren und somit zu Gefahrdung des Binnenmarktzieles fiihren Bose, Strafen und Sanktionen, S. 74; Satzger, Europaisierung, S. 431. Vgl. Gentzik, Europaisierung des Geldwaschestrafrechts, S. 47.
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kann. Die Geldwascherichtlinie ist somit als eine dem Schutz der legalen Wirtschaft und des Binnenmarkts dienende MaBnahme zu verstehen90. 55 Fraglich ist aber, ob Art. 47 II, 95 EGV auch eine spezifisch strafrechtliche Anweisung nach dem Modell des Art. 2 des Kommissionsvorschlags fur eine Geldwascherichtlinie zulassen. Hierfur spricht vor allem der Effektivitatsgedanke. Eine wirkungsvolle Bekampfung des grenzuberschreitenden Phanomens Geldwasche erfordert nicht nur eine gemeinschaftsweite Koordinierung der Geldwaschebekampfung, sondern auch gemeinsame strafrechtliche Mindeststandards. Um die von Art. 47 II, 95 EGV vorgegebenen und von der Geldwascherichtlinie konkretisierten Ziele zu erreichen, bedarf es MaBnahmen auf Gemeinschaftsebene. Divergierende einzelstaatliche Regelungen zur Geldwaschebekampfung sind nicht nur weniger geeignet, diese Ziele zu erreichen. Sie begrunden sogar die Gefahr von Wettbewerbsverzerrungen und konterkarieren damit geradezu das Binnenmarktziel. Die aus dem Subsidiaritats- und VerhaltnismaBigkeitsprinzip (Art. 5 II, III EGV) abzuleitenden Kompetenzausilbungsschranken (Rn. 63 ff.) stehen deshalb nicht der Befugnis der EG entgegen, die Mitgliedstaaten im Wege einer Richtlinie anzuweisen, effektive MaBnahmen gegen Geldwasche unter Einschluss kriminalstrafrechtlicher Mittel zu ergreifen91. Eine Richtlinienanweisung nach dem Modell des Art. 2 des Kommissionsvorschlags erscheint kompetenzrechtlich auch deshalb unbedenklich, weil sie den Mitgliedstaaten einen eigenstandigen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung belasst. Die hier in Rede stehende Anweisung stellt also keine unzulassige Umgehung der fehlenden EG-Rechtsetzungskompetenz im Bereich des Kriminalstrafrechts dar.
3. Schutz der EG-Finanzinteressen (Art. 280IV EGV) 56 Fall 2: Die Kommission nimmt - gestutzt auf Art. 280 IV EGV - eine strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG in Anspruch, wie der von ihr vorgelegte Vorschlag fiir eine Richtlinie des Europaischen Parlaments und des Rates iiber den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft v. 23. Mai 2001 92 zum Ausdruck bringt93. Rechtspolitischer Hintergrund dieses Richtlinienvorschlags ist die aus Sicht der Kommission allzu zogerliche Ratifikation des im Rahmen der dritten Saule geschlossenen Ubereinkommens liber den Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften v. 26. Juli 1995 nebst den beiden Zusatzprotokollen. Die Kommission sieht in Art. 280 IV EGV eine angemessene Rechtsgrundlage fur die Annaherung des materiellen Strafrechts in Bezug auf die Definition von Betrug, Korruption und Geldwasche zum Nachteil der Gemeinschaft sowie die strafrechtliche Verantwortlichkeit und die Strafen94. Nach dem Willen der Kommission sollen in der Richtlinie definitorische Vorgaben zu bestimmten, von 90 91
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Dannecker, JZ 1996, 869, 874. Gentzik, Europaisierung des Geldwaschestrafrechts, S. 50; Vogel, ZStW 109 (1997), S. 335, 343, 349. KOM (2001) 272 end.; AB1EG 2001 Nr. C 240 E, S. 125; vgl. auch BR-Drs. 657/01, S. 1. Vgl. nunmehr die ilberarbeitete Fassung des Richtlinienvorschlags v. 16. Oktober 2002; KOM (2002), 577 endg. BR-Drs. 657/01, S. 6.
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den Mitgliedstaaten zu erlassenden Straftatbestanden gemacht werden. Ferner sollen die Mitgliedstaaten dazu verpflichtet werden, dass die den Vorgaben entsprechenden Handlungen (Straftaten) durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden konnen, die zumindest in schweren Betrugsfallen auch Freiheitsstrafen umfassen (vgl. Art. 10 des Richtlinienvorschlags). Die im Kommissionsvorschlag vorgesehenen Anweisungen gehen also deutlich tiber eine bloBe Konkretisierung der bereits aus Art. 10 EGV abzuleitenden Sanktionierungsgebote zum Schutz der fmanziellen Interessen hinaus. 1st der Richtlinienvorschlag von Art. 280 IV EGV gedeckt?
Losungshinweise zu Fall 2: Der durch den Amsterdamer Vertrag neu eingefugte 57 Art. 280 IV S. 1 EGV wurde bereits bei der Frage nach der Begriindimg einer etwaigen Rechtsetzungsbefugnis der EG einer naheren Betrachtung unterzogen (§ 4 Rn. 97 ff.). Er bestimmt, dass der Rat zur Gewahrleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten „ die erforderlichen Mafinahmen zur Verhutung und Bekampfung von Betrugereien, die sich gegen die fmanziellen Interessen der Gemeinschaft richten", beschlieBt. Ein Teil der Literatur steht auf dem Standpunkt, Art. 280 IV S. 1 EGV scheide als taugliche Ermachtigungsgrundlage nicht nur fur die Schaffimg originaren Gemeinschaftsstrafrechts, sondern auch fur strafrechtliche Sekundarrechtsanweisungen schlechthin aus95. Angesichts der Kompetenzverteilung auf dem Gebiet der Kriminalstrafgesetzgebung sei das Strafrecht aus dem Anwendungsbereich des Art. 280 IV S. 1 EGV generell ausgenommen, so dass diese Vorschrift auch nicht als Befugnisnorm fur eine Harmonisierung kriminalstrafrechtlicher Tatbestande zur Verfugung stehe. Bestatigt sieht sich diese Ansicht durch die Vorbehaltsklausel des Art. 280 IV S. 2 EGV, in der es heiflt: ,,Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten und ihre Strafrechtspflege bleibt unberuhrt. " Demgegenilber will eine entgegengesetzte Literaturansicht Art. 280 IV S. 1 58 EGV sogar als Kompetenzgrundlage fur eine bereichsspezifische - auf den Schutz der fmanziellen Interessen der EG beschrankte - Strafrechtsetzungsbefugnis der Gemeinschaft begreifen96. Erst Recht wilrden diese Autoren eine fur die Souveranitat der Mitgliedstaaten weniger einschneidende Rechtsangleichungskompetenz im Grundsatz bejahen97. Dass den Befurwortern einer aus Art. 280 IV S. 1 EGV abzuleitenden Straf- 59 rechtsetzungskompetenz nicht gefolgt werden kann, wurde bereits an anderer StelGriese, EuR 1998, 476; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 64; Musil, NStZ 2000, 68 f.; Satzger, Europaisierung, S. 437; ders., StV 1999, 132; ders., ZRP 2001, 549 ff.; SchwarzburglHamdorf, NStZ 2002, 617, 620; Schroder, Richtlinien, S. 154 ff. Auch die deutsche Bundesregierung und der Bundesrat sehen in Art. 280 IV 1 EGV lediglich eine Kompetenzgrundlage zur Angleichung praventiver Vorschriften unter Ausschluss des Strafrechts (vgl. BT-Drs. 13/9339, S. 159; BT-Drs. 14/4991, S. 9 und BR-Drs. 657/01, S. 1). Vgl. BerglKarpenstein, EWS 1998, 81; Hedtmann, EuR 2002, 122, 133 f; Moll, Blankettstrafgesetzgebung, S. 11, 212; Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401, 1406 ff; Wolffgang/Ulrich, EuR 1998, 644; Zieschang, ZStW 113 (2001), S. 255, 259 ff. So explizit Tiedemann, FS fur Roxin, 2001, S. 1401, 1412, der eine strafrechtliche Rechtsangleichung durch Richtlinien fur zulassig halt.
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le dargelegt (§ 4 Rn. 99). Nicht zu uberzeugen vermag andererseits eine Verengung des Anwendungsbereichs des Art. 280 IV S. 1 EGV auf rein preventive MaBnahmen der Betrugsbekampfung unter vollstandigem Ausschluss des Strafrechts. Zum einen spricht schon der Wortlaut der Norm (,,Bekampfung von Betrtigereien" im Gegensatz zu ,,Verhutung") gegen ihre Reduzierung auf PraventivmaBnahmen. Noch starker fallt der systematische Zusammenhang des Art. 280 IV S. 1 EGV mit den in Art. 280 I—III EGV getroffenen Regelungen ins Gewicht. Diese stellen nichts anderes als eine deklaratorische Auspragung der EuGHJudikatur im Fall ,,Griechischer Mais"9a (§ 7 Rn. 27) dar. Folglich liegt es nahe, auch Art. 280 IV S. 1 EGV im Lichte des vom EuGH konkretisierten Loyalitatsprinzips (Art. 10 EGV) zu interpretieren, aus dem sich eine Pflicht der Mitgliedstaaten zur Bekampfung von Betriigereien zum Nachteil des EG-Haushaltes unter Einschluss des Strafrechts ableiten lasst. Diese systematisch und teleologisch argumentierenden Interpretationsansatze fuhren zu der Erkenntnis, dass das strafrechtliche Instrumentarium nicht von vornherein aus dem MaBnahmenkatalog des Art. 280 IV S. 1 EGV ausgeschlossen werden darf". Art. 280 IV S. 1 EGV ist deshalb als eine Befugnisnorm zu interpretieren, die der EG eine strafrechtliche Anweisungskompetenz einraumt. Auf der Basis dieses Vorverstandnisses stellt Art. 280 IV S. 1 EGV eine iiber die allgemeinen Harmonisierungsbefugnisse des EGV hinausgehende spezielle Kompetenzgrundlage fur eine Angleichung des mitgliedstaatlichen Strafrechts dar, soweit dies zur Erreichung des spezifischen Schutzzwecks (Bekampfung von Betrugereien zum Nachteil der EG) erforderlich ist100. Dies schlieBt neben definitorischen Vorgaben Uber die Ausgestaltung bestimmter Straftatbestande und allgemeine Haftungsstrukturen (z. B. Haftung juristischer Personen) auch Anweisungen uber festzulegende Mindestsanktionen ein101. Art. 280 IV S. 2 EGV steht dieser Auslegung nicht entgegen, da nach seinem Wortlaut nur die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten, nicht hingegen die Rechtsetzung unberuhrt bleibt102. 60
Hinweis: Der zur Ratifikation in den Mitgliedstaaten anstehende Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa enthalt in Art. III-415 IV einen Kompetenztitel, der die EU-Rechtssetzungsorgane in die Lage versetzt, durch Europaische Rahmengesetze die mitgliedstaatlichen Strafbestimmungen zur Bekampfung des EU-Betrugs anzugleichen oder sogar - in Form Europaischer Gesetze - supranational Strafbestimmungen zu schaffen (vgl. hierzu § 14 Rn. 46). Die im Zusammenhang mit der Auslegung des § 280 IV EGV gestellte Frage nach der Existenz einer be-
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E u G H E 1989, 2965 ff. Zutr. Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401, 1409. Ebenso Deutscher, Kompetenzen, S. 345; Eisele, JZ 2001, 1157, 1160; Hecker, JA 2002, 723, 726 f.; Wasmeien'Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 61 ff.; wohl auch Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 72; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 335. Ebenso Eisele, JZ 2001, 1157, 1162. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 72; Zieschang, ZStW 113 (2001), S. 255, 256.
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reichsspezifischen Rechtsangleichungsbefiignis wird sich somit unter der Geltung der kilnftigen EU-Verfassung erledigt haben. Losungsvorschlag zu Fall 2: Auf die gestellte Frage ist nach hier vertretener An- 61 sicht zu antworten, dass der Erlass einer Richtlinie tlber den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft, wie ihn der Kommissionsvorschlag v. 23. Mai 2001 vorsieht, von Art. 280 IV S. 1 EGV prinzipiell gedeckt ist103. Allerdings miisste vor dem Erlass dieser Richtlinie - wie in alien Fallen der Ausiibung einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz - sorgfaltig geprilft werden, ob die vorgesehen Anweisungen zur Zielerreichung erforderlich sind, also insbesondere das Subsidiaritatsprinzip beachten und den VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz wahren. Damit sind zugleich die Grenzen der strafrechtlichen Anweisungskompetenz angesprochen.
4. Grenzen der strafrechtlichen Anweisungskompetenz Das Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung (§ 4 Rn. 54) steht dem Erlass 62 strafrechtsrelevanter Sekundarrechtsakte nicht entgegen, wenn man - wie hier der h. L. folgend anerkennt, dass der EGV spezielle und allgemeine Ermachtigungsgrundlagen enthalt, aus denen sich grundsatzlich (auch) eine strafrechtliche Anweisungsbefugnis der EG ableiten lasst. Die Grenzen, die einer gemeinschaftsrechtlichen Strafrechtsharmonisierung gesetzt sind, konnen sich wegen des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts nicht aus dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten ergeben, sondern miissen im Gemeinschaftsrecht selbst verankert sein. Begrenzt wird die Kompetenzausilbungsbefugnis der EG namentlich durch zwei elementare Rechtsgrundsatze des Gemeinschaftsrechts: Subsidiaritatsprinzip (Art. 2 II EUV, 5 II EGV) und VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz (Art. 5 III EGV). a) Subsidiaritatsprinzip Eine Kompetenzausiibungsschranke104 ergibt sich zunachst aus dem in Art. 2 II 63 EUV und Art. 5 II EGV verankerten Subsidiaritatsprinzip, wonach die EG in den Bereichen, die nicht in ihre ausschliefiliche Zustandigkeit fallen, nur tatig werden darf, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen MaBnahmen auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend und daher wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden konnen. Das Subsidiaritatsprinzip soil einer ausufernden Inanspruchnahme der gemeinschaftsrechtlichen Regelungsgewalt entgegenwirken. Es handelt sich dabei nicht um einen bloBen Programmsatz, sondern um eine rechtlich verbindliche Kompetenzausilbungsregel105. Welche Materien in die ausschlieBliche Zustandigkeit der Vgl. hierzu WasmeierIJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 63. Herdegen, Europarecht, Rn. 101; Streinz, Europarecht, Rn. 145 a; Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 5 EGV Rn. 26. Zur Frage der (zu bejahenden) Justiziabilitat des Subsidiaritatsprinzips (Uberprufbarkeit durch den EuGH) vgl. Satzger, Europaisierung, S. 439 ff. m. w. N.
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EG fallen und damit dem Subsidiaritatsprinzip entzogen sind, ist mangels einschlagiger Rechtsprechung in weiten Teilen ungeklart. Nach h. M. gehoren zur ausschlieBlichen Zustandigkeit lediglich die Bereiche gemeinsame Handelspolitik, Erhaltung der Fischbestande, internes Organisations- und Verfahrensrecht, Festlegung der Zolltarife und materielles Zollrecht sowie gemeinsame Wahrungspolitik106. Im Regelfall besteht also lediglich eine konkurrierende Zustandigkeit der EG mit der Folge, dass HarmonisierungsmaBnahmen nur unter Wahrung des Subsidiaritatsprinzips zulassig sind. In den oben dargestellten strafrechtsrelevanten Harmonisierungsbereichen sind die Schranken des Art. 5 II EGV zu beachten. 64 Die Bedeutung des Subsidiaritatsprinzips liegt vor allem darin, dass es den an der Rechtsetzung auf Gemeinschaftsebene beteiligten Organen eine besondere Rechtfertigungs- und Begriindungslast auferlegt, die vor dem Ergreifen von MaBnahmen zu priifen sind107. Dem Vertrag von Amsterdam ist ein rechtlich verbindliches Protokoll iiber die Anwendung der Grundsatze der Subsidiaritat und der VerhaltnismaBigkeit108 beigefugt, in dem die aus Art. 5 II EGV abzuleitenden Kriterien dieser Subsidiaritatsprufung konkretisiert werden. Mit dem Subsidiaritatsprinzip konform sind im Ergebnis nur MaBnahmen, die das Erforderlichkeits- und das Effizienzkriterium erfullen109. Die Erforderlichkeit ist zu bejahen, wenn ein Gemeinschaftsziel (z. B. Verwirklichung des Binnenmarktes, Umweltschutz, Schutz der EG-Finanzinteressen) nur durch das Tatigwerden der Gemeinschaft erreicht werden kann. Kann dieses Ziel bereits durch MaBnahmen der Mitgliedstaaten in ausreichender Weise verwirklicht werden, so steht dieser Befund der Erforderlichkeit einer GemeinschaftsmaBnahme entgegen. Bei der Prognose, ob die Mitgliedstaaten in der Lage sind, das Gemeinschaftsziel bereits durch MaBnahmen auf nationaler Ebene in ausreichender Weise zu erreichen, sind deren wirtschaftliche und organisatorische Leistungsfahigkeit sowie rechtlichen Handlungsmoglichkeiten einer Gesamtbewertung zu unterziehen. Die Erforderlichkeit von GemeinschaftsmaBnahmen wird am ehesten in grenziiberschreitenden Bereichen der gemeinsamen Politiken (z. B. Umwelt, Verbraucherschutz, Wettbewerb) zu bejahen sein, in denen die Verwirklichung der Gemeinschaftsziele gerade die Uberwindung divergierender nationaler MaBnahmen erfordert (gleiche rechtliche Schutzstandards und Wettbewerbsbedingungen). Erst recht ist ein Tatigwerden der Gemeinschaft erforderlich, wenn uberwiegend wahrscheinlich ist, dass zumindest ein Mitgliedstaat ,,von sich aus" keine hinreichenden Tatigkeiten zur Erreichung des Gemeinschaftsziels entfalten wird110. Nachdem die Erforderlichkeit einer GemeinschaftsmaBnahme bejaht wurde, bleibt fur das Effizienzkriterium (,,Mehrwert-Test") nur noch ein geringer Anwendungsspielraum. Nur wenn die EG ebenso wenig wie die Mitgliedstaaten in der Lage ist, ausreichende MaBnahmen zur
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Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 444; Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 5 EGVRn. 8 jew. m. w. N. Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 441, 445. Abgedruckt in Sartorius II, Nr. 151, Protokoll Nr. 30. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 138 f.; Satzger, Europaisierung, S. 446 f. Satzger, Europaisierung, S. 447.
B. Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 297 Zielerreichung zu treffen, steht dies der Ausiibung einer Gemeinschaftskompetenz entgegen111. Nach dem oben Gesagten dlirfte das Subsidiaritatsprinzip einer Ausiibung 65 strafrechtlicher Harmonisierungsbefugnisse auf den Gebieten der Gemeinsamen Politiken in weiten Teilen entgegenstehen, da die Mitgliedstaaten regelmaBig in der Lage sein durften, hinreichende strafrechtliche MaBnahmen zu ergreifen, um die Realisierung der gemeinsamen Politiken zu gewahrleisten. Dies gilt etwa fur den Bereich der Verkehrssicherheit (Art. 71 I lit. c EGV), da entsprechende Zuwiderhandlungen von Verkehrsteilnehmern — man denke an Trunkenheitsfahrten oder sonstige VerstoBe gegen StraBenverkehrsbestimmungen - bereits auf mitgliedstaatlicher Ebene wirkungsvoll bekampft werden konnen, ohne dass es hierzu einer Angleichung der nationalen Sanktionsnormen bedarf. Wird das Gemeinschaftsziel bereits durch mitgliedstaatliche MaBnahmen verwirklicht, ist kein Raum mehr fur die Austibung der Gemeinschaftskompetenz. Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob das Subsidiaritatsprinzip der Harmonisierung des Umweltstrafrechts entgegensteht112. Der Befund, dass die Regelungen des Umweltstrafrechts in den Mitgliedstaaten unterschiedlich ausgestaltet sind, legitimiert als solcher im Rahmen des Art. 175 EGV noch kein Tatigwerden der EG. Nach hier vertretener Auffassung ist die Erforderlichkeit einer Angleichung umweltstrafrechtlicher Haftungsprinzipien und die Schaffung eines umweltstrafrechtlichen Mindeststandards aber zu bejahen, weil nur so das Phanomen der grenziiberschreitenden Umweltkriminalitat wirksam bekampft und das Gemeinschaftsziel eines effektiven Umweltschutzes realisiert werden kann113. Das Subsidiaritatsprinzip steht auch strafrechtlichen Anweisungen nach Art. 280 IV S. 1 EGV, die auf den Schutz der EG-Finanzinteressen abzielen, nicht entgegen, da sich gerade die Uneinheitlichkeit des mitgliedstaatlichen Strafrechtsschutzes als Hindemis fur eine wirksame Bekampfung von Betrugereien und UnregelmaBigkeiten erweist. Auch den im Anwendungsfeld der allgemeinen Harmonisierungsbefugnisse (Art. 94, 95 EGV) liegenden GemeinschaftsmaBnahmen zur Realisierung des Binnenmarktes steht das Subsidiaritatsprinzip regelmaBig nicht entgegen, da hier das staatenubergreifende Element die Erforderlichkeit gemeinschaftlichen Handelns indiziert114. b) VerhaltnismaGigkeitsgrundsatz Flankiert wird der Subsidiaritatsgrundsatz durch den Grundsatz der Verhaltnisma- 66 Bigkeit, der durch Art. 5 III EGV auf das Verhaltnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten ausgedehnt wird. Die Mitgliedstaaten werden im Kontext dieser Norm wie belastete Einzelne betrachtet, denen gegeniiber eine MaBnahme nur dann als rechtmaflig erscheint, wenn sie zur Erreichung des mit ihr angestrebten
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Satzger, Europaisierung, S. 447 f. So die Auffassung von Satzger, Europaisierung, S. 448. Vgl. hierzu Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 901 ff.; Dannecker, JZ 1996, 869, 879; ders., Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 268. Satzger, Europaisierung, S. 449.
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§ 8 Strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG
Gemeinschaftsziels geeignet, erforderlich und angemessen ist115. Als denkbare Belastungen fur die Mitgliedstaaten konnen sich z. B. die in der MaBnahme vorgesehene Regelungsdichte, ihre finanziellen Auswirkungen, die von ihr erzwungene Abkehr von eingespielten Verfahren oder die systemwidrige Durchbrechung bewahrter nationaler Rechtsstrukturen erweisen. 67 Beispiel fiir eine unverhaltnismafiige Anweisung: Wiirde den Mitgliedstaaten von einer Richtlinie vorgeschrieben, den (in der Richtlinie naher definierten) Kapitalanlagebetrug mit einer erhohten Mindeststrafe zu bedrohen, so fiihrte dies zu erheblichen Friktionen mit bestehenden nationalen Strafbestimmungen, die den Kapitalanlagebetrug als Vorfeldtatbestand gegeniiber dem ,,klassischen" Betrug ausgestaltet haben. So entstilnde bei einer Umsetzung dieser Vorgabe in deutsches Recht ein systemimmanenter Wertungswiderspruch, weil § 264 a StGB als gegenuber § 263 StGB subsidiarer Tatbestand eine hohere Mindeststrafe aufweisen wttrde als fur eine Tat nach § 263 StGB vorgesehen ist. Die gleichzeitige Anhebung des Mindeststrafrahmens beim Betrugstatbestand wiirde zwar den Wertungswiderspruch zwischen § 263 StGB und § 264 a StGB beseitigen, jedoch neue Friktionen mit § 242 StGB hervorrufen, welcher bislang denselben Strafrahmen aufweist wie § 263 StGB116. 68 Wenn mehrere geeignete GemeinschaftsmaBnahmen fiir die Zielerreichung zur Auswahl stehen, muss die fur die Mitgliedstaaten am wenigsten belastende gewahlt werden. Ferner miissen die auferlegten Belastungen in einem angemessenen Verhaltnis zu den angestrebten Zielen stehen. Art. 5 III EGV betrifft im Gegensatz zu Art. 5 II EGV nicht das ,,Ob", sondern das ,,Wie" der Ausiibung einer gemeinschaftlichen Kompetenzaustibung und gilt auch fur MaBnahmen, die in den ausschlieBlichen Zustandigkeitsbereich der EG fallen. In den Fallen, in denen nicht bereits das Subsidiaritatsprinzip der Ausubung einer strafrechtlichen Harmonisierungskompetenz der EG entgegensteht, bewirkt der VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz, dass die GemeinschaftsmaBnahme nicht iiber das zur Zielerreichung notwendige Interventionsminimum hinausgeht. c) Reichweite der strafrechtlichen Anweisungsbefugnis der EG 69 In der Zusammenschau der nach Art. 6 III EUV zu achtenden nationalen Identitat der Mitgliedstaaten sowie der in Art. 5 II, III EGV verankerten Kompetenzausubungsschranken (Subsidiaritat und VerhaltnismaBigkeit) lasst sich ein strafrechtsspezifisches Schonungsgebot postulieren, das der Harmonisierungstatigkeit der EG auf dem Gebiet des Strafrechts Grenzen setzt117. Die Grenzen, die der Ausubung einer strafrechtlichen Anweisungsbefugnis der EG gesetzt sind, lassen sich in folgenden Leitsatzen zusammenfassen:
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Lienbacher, EU-Kommentar, Art. 5 EGV Rn. 34 ff.; Zuleeg, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 5 EGV Rn. 37 ff. Vgl. hierzu Eisele, JZ2001, 1157, 1163. Eisele, JZ 2001, 1157, 1160, 1163; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 140 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 166 ff.
B. Grundlagen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG 299 (1) Die EG darf keine unmittelbar anwendbaren Strafhormen - auch nicht im Gewande einer HarmonisierungsmaBnahme - erlassen. (2) Eine Sekundarrechtsdirektive darf die von den Mitgliedstaaten zu erlassende(n) Sanktionsnorm(en) weder auf der Tatbestands- noch auf der Rechtsfolgenseite detailliert vorgeben, sondern muss sich darauf beschranken, den Mitgliedstaaten ein Leitbild fur den zu erreichenden Ahnungseffekt vorzugeben. Es ist also unzulassig, in einer Richtlinie oder Verordnung den Erlass konkret ausformulierter Straftatbestande - wie sie sich z. B. im deutschen StGB finden - vorzuschreiben. (3) Die Sekundarrechtsanweisung muss den Mitgliedstaaten so viel Umsetzungsspielraum belassen, dass es diesen moglich ist, die zu schaffende(n) Sanktionsnorm(en) unter Wahrung der Koharenz ihres Sanktionensystems in die nationale Rechtsordnung zu integrieren. Den Mitgliedstaaten muss deshalb insbesondere eine Auswahlmoglichkeit zwischen mehreren annahernd gleichwertigen UmsetzungsmaBnahmen eingeraumt werden. Als gesetzgeberische Methode, die es den Gemeinschaftsorganen ermoglicht, die Effekte der Sanktionen im Sinne einer ,,Ergebnisverpflichtung" (obligation de resultat) zu harmonisieren, ohne dabei die formale und inhaltliche Ausgestaltung der Sanktionsnorm ,,schonungsgebotswidrig" vorzuschreiben, bietet sich die von Satzger tiberzeugend herausgearbeitete Regelbeispielstechnik an118. Eine nach dieser Gesetzgebungstechnik erlassene Richtlinie konnte etwa folgende Anweisungselemente enthalten:
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- dass die Mitgliedstaaten fur den Fall eines bestimmten VerstoBes Sanktionen 74 vorsehen, die ein soziales Unwerturteil zum Ausdruck bringen, - die in einem offentlichen Verfahren verhangt werden und - zu einer in Einklang mit den im nationalen Recht bei Delikten ahnlicher Art und Schwere vorgesehenen Rechtsfolgen fllhren. Hier konnen beispielhaft vergleichbare Delikte oder Deliktskategorien, Zurechnungsstrukturen des Allgemeinen Teils (z. B. Haftung von Amtstragern oder von juristischen Personen) sowie die in Betracht kommenden Sanktionen (z. B. Auferlegung und Ausgestaltung finanzieller EinbuBen, freiheitsentziehender MaBnahmen, Nebenfolgen wie Fahrverbot) aufgefuhrt werden. Solche Regelbeispiele umschreiben in Form von ,,Leitbildera", welche Wir- 75 kung(en) die gewilnschte(n) Sanktionsnorm(en) entfalten soll(en). Die Regelbeispielsmethode ermoglicht somit eine Mindestharmonisierung nationalen Strafrechts, ohne Systembrilche in den nationalen Referenzsystemen zu provozieren. Ein weiterer Vorteil dieser Methode, die lediglich auf eine Angleichung der Ahndungseffekte abzielt, gegeniiber den in der bisherigen Anweisungspraxis herangezogenen Sanktionskriterien (,,wirksam", ,,abschreckend" und ,,angemessen") besteht darin, dass sich auf ihrer Grundlage die Grenzen des den Mitgliedstaaten verbleibenden Umsetzungs- und Beurteilungsspielraums praziser ermitteln und kontrollieren lassen.
Satzger, Europaisierung, S. 460 ff.
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§ 8 Strafrechtliche Anweisungskompetenz der EG
C. Literaturhinweise Bose, Strafen und Sanktionen im Europaischen Gemeinschaftsrecht, 1996, S. 61-78 Dannecker, Strafrecht in der Europaischen Gemeinschaft, JZ 1996, 869, 873 ders., Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, JURA 1998, 79 ders., in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, Kap. 2 Rn. 65, 86-119 Dieblich, Der strafrechtliche Schutz der Rechtsgiiter der europaischen Gemeinschaften, 1985, S. 262-281 Eisele, Einflussnahme auf nationales Strafrecht durch Richtliniengebung der Europaischen Gemeinschaft, JZ 2001, 1157 Groblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europaischen Gemeinschaften, 1996, S. 83-142 Hecker, Europaisches Strafrecht als Antwort auf transnationale Kriminalitat?, JA 2002, 723 Hugger, Strafrechtliche Anweisungen der Europaischen Gemeinschaft, 2000, passim Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 393^73 Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, passim Schroder, Europaische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 179-196 Spannowsky, Wettbewerbsverzerrende Defizite des gemeinschaftsrechtlichen Sanktionsund Vollstreckungssystems, JZ 1994, 326 Vogel, Wege zu europaisch-einheitlichen Regelungen im Allgemeinen Teil des Strafrechts, JZ 1995,331 ders., Geldwasche - ein europaweit harmonisierter Straftatbestand?, ZStW 109 (1997), S. 335
D. Zusammenfassung von § 8 76 Zu den zentralen Grundsatzproblemen des Europaischen Strafrechts gehort die Frage, ob der EG eine strafrechtliche Anweisungskompetenz zusteht und wie weit diese ggf. reicht. Es ist nicht ersichtlich, dass der EGV das Kriminalstrafrecht ganzlich aus dem Anwendungsbereich der Harmonisierungsgrundlagen ausklammern will. Auch die fehlende Rechtsetzungskompetenz der Gemeinschaft auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts spricht nicht gegen die grundsatzliche Zuerkennung einer strafrechtlichen Rechtsangleichungsbefugnis. Die Sekundarrechtspraxis beschrankte sich bislang im Hinblick auf die Souveranitatsvorbehalte der im Rat vertretenen Mitgliedstaaten darauf, in einschlagigen Sekundarrechtsakten auf die bereits aus Art. 10 EGV (Loyalitatsgebot) abzuleitende Forderung hinzuweisen, bestimmte VerstOfte gegen gemeinschaftsrechtliche Interessen durch ,,geeignete" MaBnahmen ,,wirksam, angemessen und abschreckend" zu ahnden. Zu der
D. Zusammenfassung von § 8
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Frage, ob daruber hinaus eine Befugnis der EG besteht, die Mitgliedstaaten zur Schaffung kriminalstrafrechtlicher Normen zu verpflichten, steht eine hochstrichterliche Entscheidung bislang aus. Zustimmung verdient die herrschende Auffassung in der Literatur, wonach das Kriminalstrafrecht grundsatzlich einer Rechtsangleichung nach MaGgabe der im EGV enthaltenen (speziellen und allgemeinen) Harmonisierungsgrundlagen - ggf. unter Heranziehung einer Annexkompetenz - zuganglich ist. RechtsangleichungsmaBnahmen der EG sind in erster Linie im Bereich des Wirtschafts- und Nebenstrafrechts denkbar, da sich diese Normen auf das Funktionieren des Binnenmarktes auswirken konnen. Aber auch soweit es um die Durchsetzung der Gemeinschaftspolitiken - etwa zum Schutz des EG-Finanzhaushalts, der Verbraucher, der Umwelt, der Lebensmittelsicherheit usw. — geht, muss der Gemeinschafit die Befugnis zuerkannt werden, erforderliche Harmonisierungsmafinahmen auch auf das Kriminalstrafrecht zu erstrecken. Die Ausiibung der strafrechtlichen Anweisungsbefugnis wird jedoch von den Grundsatzen der Subsidiaritat und der VerhaltnismaBigkeit (Art. 5 II, III EGV) beschrankt, die zugleich Ausdruck eines strafrechtsspezifischen Schonungsgebotes sind. Die EG darf keine unmittelbar anwendbaren Strafnormen - auch nicht im Gewande einer Harmonisierangsmafinahme - erlassen und sie darf den Mitgliedstaaten nicht im Detail vorgeben, wie eine Sanktionsnorm auf der Tatbestands- und Rechtsfolgenseite auszugestalten ist. Strafrechtliche Anweisungen mtissen sich auf die Vorgabe eines Leitbildes fur den zu erzielenden Ahnungseffekt beschranken, wobei sich als gesetzgeberische Methode die Regelbeispielstechnik anbietet.
§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
A. Gemeinschaftsrecht und nationales Recht I. Grundlagen Das Verhaltnis des Gemeinschaftsrechts zum nationalen Recht der Mitgliedstaaten gehort zu den am meisten diskutierten europarechtlichen Fragen, die auch fur das Europaische Strafrecht von fundamentaler Bedeutung sind1. Ausgangspunkt der Diskussion bilden die Ausfuhrungen des EuGH in der Sache ,,Costa/ENEL"2, in welcher der Gerichtshof klarstellte, dass mit der Unterzeichnung und Ratifikation des EGV eine supranationale Organisation mit einer eigenstandigen Rechtsordnung entstanden ist, gegen die die Mitgliedstaaten nachtraglich keine einseitigen - die Geltung des Gemeinschaftsrechts in Frage stellenden -MaBnahmen treffen dilrften. Das Gemeinschaftsrecht bildet also eine autonome Rechtsordnung, die kraft ihrer Eigenstandigkeit - ohne jedweden innerstaatlichen Umsetzungsakt - Geltung beansprucht (§ 4 Rn. 54). Aufgrund der in den Griindungsvertragen getroffenen Kompetenzabgrenzung steht sie neben den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, wobei jeder Rechtskreis seinen eigenen Anwendungsbereich hat. Unterlasst daher ein Mitgliedstaat die ihm durch eine Sekundarrechtsdirektive auferlegte Umsetzungspflicht, indem er z. B. eine Richtlinie nicht, nicht gehorig oder nicht rechtzeitig in nationales Recht transformiert, so verstoBt er zwar gegen seine EG-vertraglichen Pflichten und setzt sich dem Risiko eines Vertragsverletzungsverfahrens aus (§ 4 Rn. 47). Die innerstaatliche Rechtslage bleibt hiervon aber bis zur erfolgten Umsetzung unberuhrt. Insbesondere sind die nationalen Gerichte und Behorden an das innerstaatliche Recht trotz fehlender Ubereinstimmung desselben mit Gemeinschaftsrecht gebunden. Die Situation andert sich jedoch grundlegend, wenn das Gemeinschaftsrecht unmittelbare Geltung in den Mitgliedstaaten beansprucht, wie dies bei primarrechtlichen Bestimmungen des EGV (§ 4 Rn. 59), EGVerordnungen (§ 4 Rn. 62) und unter bestimmten Voraussetzungen sogar bei Richtlinien (§ 4 Rn. 65) der Fall ist. Sofern unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht und nationales Recht denselben Lebenssachverhalt unterschiedlich regeln, kommt es zu einem Konflikt zwischen zwei nebeneinander stehenden Rechtsordnungen. Die Losung dieses Kollisionsfalles muss dem Geltungsanspruch beider Rechtsordnungen Rechnung tragen, d. h. sie muss einerseits sicherstellen, dass 1 2
Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 124 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 36 ff. EuGHE 1964, 1251, 1270.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
dem unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrecht zur Durchsetzung verholfen wird, ohne andererseits das rationale Rechtssystem iiber das erforderliche MaB hinaus zu beeintrachtigen3. Im Grundsatz ist aber unbestritten, dass bei Kollisionslagen von einem Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegeniiber dem nationalen Recht auszugehen ist. Hinweis: In der kiinftigen Europaischen Verfassung wird der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts vor dem Recht der Mitgliedstaaten in Art. 1-6 EUVerfassung festgeschrieben.
II. Vorranggrundsatz 1. Position des EuGH- Unbeschrankter Vorrang des Gemeinschaftsrechts Nach standiger Rechtsprechung des EuGH setzt sich unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht uneingeschrankt gegen entgegenstehendes nationales Recht, sogar gegen Verfassungsrecht, durch4. Begriindet wird das Primat des Gemeinschaftsrechts vor allem mit dem Befund, dass durch die Gemeinschaftsvertrage eine eigenstandige supranationale Rechtsordnung geschaffen wurde und die Mitgliedstaaten durch Ubertragung von Hoheitsrechten auf die Gemeinschaft ihre Souveranitat beschrankt haben. Hinzu kommt, dass Art. 10 EGV die Mitgliedstaaten zu gemeinschaftstreuem Verhalten und somit zur loyalen Mitwirkung bei der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet5. In der bereits erwannten Entscheidung ,,Costa/ENEL" fuhrte der Gerichtshof aus, „ ...dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fliefienden Recht... keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen konnen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soil. "6 In der Tat wurde der unionsweite Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts konterkariert, wenn sich ein Mitgliedstaat auBerhalb einer besonderen vertraglichen Ermachtigung auf abweichendes nationales Recht berufen konnte. Auch stehen die aus den romischen Vertragen resultierenden Pflichten der Mitgliedstaaten unter keinem Vorbehalt zugunsten der nationalen Rechtsordnungen.
Vgl. zu dem strafrechtsspezifischen Schonungsgebot Satzger, Europaisierung, S. 166 ff. Wegweisend insoweit EuGHE 1964, 1251, 1269 ff.; 1978, 629 ff.; 1979, 2729 ff.; vgl. hierzu Herdegen, Europarecht, Rn. 228 ff; Oppermann, Europarecht, Rn. 616 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 42 ff.; Streinz, Europarecht, Rn. 179 ff. EuGHE 1990, 2433. EuGHE 1964, 1251, 1270.
A. Gemeinschaftsrecht und nationales Recht
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2. Position des BVerfG - Begrenzter Vorrang des Gemeinschaftsrechts Was das Verhaltnis von Gemeinschaftsrecht und einfachem Gesetzesrecht an- 5 belangt, so hat sich das BVerfG bereits in einer Entscheidung aus dem Jahre 1971 fur den uneingeschrankten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber dem einfachen deutschen Gesetzesrecht ausgesprochen7 und dies in standiger Rechtsprechung bestatigt8. Indessen erkennt das BVerfG dem Gemeinschaftsrecht lediglich einen begrenzten Vorrang zu, wenn dessen Vereinbarkeit mit deutschem Verfassungsrecht in Frage steht9. In seinem sog. ,,Solange I-Beschluss"10 bejahte das BVerfG die verfassungs- 6 gerichtliche Uberpriifbarkeit von unmittelbar in alien Mitgliedstaaten geltendem Gemeinschaftsrecht am MaBstab der deutschen Grundrechte im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens nach Art. 100 GG, indem es EG-Verordnungen nachkonstitutionellen Gesetzen gleichstellte. Solange der Integrationsprozess der Gemeinschaft nicht so weit fortgeschritten sei, dass das Gemeinschaftsrecht auch einen vom Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten enthalte, der dem Grundrechtskatalog des GG adaquat sei, sei eine Uberprufung des Gemeinschaftsrechts auf seine Vereinbarkeit mit den Grundrechten des Grundgesetzes moglich. Nach zwei vorbereitenden Beschliissen11 gelangte das BVerfG schlieBlich im ,,Solange II-Beschluss"12 zu einer Umkehrung der ,,Solange I-Formel" bei gleichzeitiger Abschwachung ihrer Voraussetzungen. Wenn der verfassungsgerichtliche Rechtsschutz hinsichtlich der Hoheitsgewalt einer zwischenstaatlichen Einrichtung entfallen solle, so miisse statt dessen eine Grundrechtsgeltung gewahrleistet sein, die nach Inhalt und Wirksamkeit dem Grundrechtsschutz, wie er nach dem Grundgesetz unabdingbar sei, im Wesentlichen gleichkomme. Auf die Voraussetzung eines dem Grundgesetz adaquaten Grundrechtskatalogs hat das BVerfG ebenso verzichtet wie auf dessen Kodifikation und demokratische Legitimation durch Parlamentsbeschluss. Diese (gegenuber ,,Solange-I") verminderten Voraussetzungen sah das BVerfG mittlerweile als erfullt an: „ ...solange die Europaischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenuber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewdhrleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleich zu achten 1st, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbiirgt, wird das BVerfG seine Gerichtsbarkeit iiber die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht... nicht mehr ausuben unddie-
BVerfGE 31, 145, 173 f.; in diese Richtung weisend bereits BVerfGE 22, 292, 296. BVerfGE 52, 187; 75, 223, 240 f. Vgl. zur Judikatur des BVerfG betreffend das Rangverhaltnis zwischen Gemeinschaftsrecht und deutschem Verfassungsrecht Oppermann, Europarecht, Rn. 624; Streinz, Europarecht, Rn. 202 ff. BVerfGE 37, 271. BVerfGE 52, 187; BVerfG NJW 1983, 1258. BVerfGE 73, 223, 339.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
ses Recht mithin nicht mehr am Mafistab der Grundrechte des Grundgesetzes uberprufen; entsprechende Vorlagen nach Art. 1001 GG sindsomit unzuldssig. "13 7 Das BVerfG zieht sich somit auf eine ,,generelle Gewahrleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards" zuruck14 und akzeptiert ein ,,Kooperationsverhaltnis" zum EuGH, dem vorrangig die Aufgabe zukommt, den Grundrechtsschutz fur das gesamte Gebiet der EG zu garantieren. Hierin liegt kein vollige Aufgabe, sondern nur eine Zuriicknahme der Uberprufungskompetenz des BVerfG. Die latent weiter bestehende Uberprufungskompetenz des BVerfG kflnnte dann wieder aktuell werden, wenn die Rechtsprechung des EuGH in einem wichtigen Grundrechtssektor von dem aus deutscher Sicht unabdingbaren Grundrechtsstandard dramatisch abweichen sollte. Nationaler Grundrechtsschutz wird demnach nur in Ausnahmefallen erforderlich. Die Position des BVerfG zur Vorrangfrage lasst sich zusammenfassend dahingehend charakterisieren, dass ein beschrankter, nach den obigen Grundsatzen relativierter Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber nationalem Verfassungsrecht anerkannt wird. Im Hinblick auf den mittlerweile erreichten Grundrechtsstandard auf Gemeinschaftsebene, ilber dessen Einhaltung der EuGH wacht, steht freilich nicht zu erwarten, dass den verfassungsrechtlichen Vorbehalten des BVerfG groBe praktische Bedeutung zukommen wird15.
3. Anwendungs- versus Geltungsvorrang 8 Die radikalste Schlussfolgerung, die aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten gezogen werden konnte, ware das Brechen des nationalen Rechts im foderalen Sinne (vgl. z. B. Art. 31 GG) mit der Folge der Nichtigkeit des nachrangigen Rechts16. Die Gemeinschaftspraxis, insbesondere die supranational Rechtsprechung hat sich indessen fur einen behutsameren Umgang mit dem nationalen Recht entschieden. Nach Auffassung des EuGH17 sowie der hochstrichterlichen deutschen Rechtsprechung18, die in der Sache mit der h. L.19 ubereinstimmt, genieBt das Gemeinschaftsrecht gegenuber dem nationalen Recht keinen Geltungsvorrang, sondern lediglich einen Anwendungsvorrang. In besonders deutlicher Weise fiihrte der EuGH aus: ,,Dariiber hinaus haben nach dem Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts die Ver13 14
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BVerfGE 73, 339, 387. Vgl. BVerfGE 89, 155, 175. Vgl. nur Oppermann, Europarecht, Rn. 624; Schwarze, JZ 1999, 634, 640; Streinz, Europarecht, Rn. 202. Dies war u. a. der Vorschlag von Grabitz, Gemeinschaftsrecht bricht nationales Recht, 1966, S. 98 ff., 113 ff. Vgl. nurEuGHE 1978, 629 ff.; 1984, 483; 1991, 297, 321. Vgl. nur BVerfGE 31, 145, 174; 75, 223, 244; 85, 191, 204; BGHSt 37, 168, 175; BVerwGE87, 15. Vgl. nur Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap Rn. 124 ff.; Gellermann, Europaischer Rechtsschutz, § 24 Rn. 10; Herdegen, Europarecht, Rn. 230; Jarass, Grundfragen, S. 1, 3 Oppermann, Europarecht, Rn. 633 f; Satzger, Europaisierung, S. 53 ff., 484; Schroder, Richtlinien, S. 90; Streinz, Europarecht, Rn. 200, 223 a.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
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tragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane in ihrem Verhdltnis zum internen Recht der Mitgliedstaaten nicht nur zur Folge, dass allein durch ihr Inkrafttreten jede entgegenstehende Bestimmung des geltenden staatlichen Rechts ohne weiteres unanwendbar wird, sondern auch - da diese Bestimmungen vorrangiger Bestandteil der im Gebiet eines jeden Mitgliedstaates bestehenden Rechtsordnung sind —, dass ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert wird, als diese mit Gemeinschaftsnormen unvereinbar waren... "20 Dem mit Gemeinschaftsrecht kollidierenden nationalen Recht wird also nicht die Wirksamkeit abgesprochen - es ist lediglich unanwendbar. Demgegenuber wtirde bei Annahme der Geltungsvorrangregel jede Kollision des nationalen Rechts mit entgegenstehendem Gemeinschaftsrecht automatisch zur Nichtigkeit der betroffenen Rechtsvorschrift fiihren. Die Grande, die fur das Prinzip des Anwendungsvorranges und somit fur eine Kollisionsregel sprechen, welche lediglich die Unanwendbarkeit gemeinschaftsrechtswidriger Rechtsvorschriften vorsieht, sind tiberzeugend. Neben dem rechtspolitischen Argument der Riicksichtnahme auf nationale Empfindlichkeiten sind es vor allem kompetenzrechtliche Erwagungen, die gegen die Geltungsvorrangthese sprechen. Durch die Anordnung der Nichtigkeitsfolge wiirde die Gemeinschaft die ihr vom EGV zugeschriebenen Kompetenzen uberschreiten, soweit hierdurch die Normgeltung in rein innerstaatlichen Regelungszusammenha'ngen beriihrt wiirde. Im Ubrigen ist die Annahme eines Geltungsvorranges auch gar nicht erforderlich, um dem Gemeinschaftsrecht gegenuber kollidierendem nationalen Recht zur Durchsetzung zu verhelfen. Dem Primat des Gemeinschaftsrechts wird bereits dadurch Genilge getan, dass kollidierende nationale Rechtsvorschriften schlicht unangewendet bleiben, ohne deren Geltung (Wirksamkeit) im rein innerstaatlichen Bereich in Frage zu stellen.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht I. Neutralisierung mitgliedstaatlicher Strafvorschriften Das mitgliedstaatliche Strafrecht kann nicht etwa eine Sonderrolle fur sich in An- 10 spruch nehmen, die eine Durchbrechung der allgemeinen Grundsatze zum Verhaltnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht rechtfertigen konnte. Nationale Gesetzgeber, Gerichte und Behorden miissen dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts auch im Bereich des Strafrechts Rechnung tragen. Kollidiert eine nationale Strafnorm mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht, so darf sie nicht angewendet werden. Derartige Kollisionskonstellationen konnen sich ergeben, wenn Strafbestimmungen Verhaltensweisen unter Strafandrohung stellen, die vom Primarrecht, einer EG-Verordnung oder von einer Richtlinienbestimmung gestattet sind, soweit diese - ausnahmsweise - unmittelbare Wirkung entfaltet (§ 4 Rn. 65). Im Falle einer (echten) Kollision zwischen mitgliedstaatliEuGHE 1978, 629, 644 (,,Simmenthal II").
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
chem Strafrecht und unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht bewirkt die Vorrangregel eine Neutralisierung der betroffenen Sanktionsvorschrift21. 11 Infolge der sich aus der Vorrangregel ergebenden Neutralisierungswirkung sind die nationalen Strafverfolgungsorgane daran gehindert, eine Strafrechtsnorm anzuwenden, die ein vom Gemeinschaftsrecht erlaubtes Verhalten ponalisiert22. Zahlreiche praxisrelevante Anwendungsbeispiele bietet etwa das Lebensmittelstrafrecht23. Ein (nicht gesundheitsschadliches) Lebensmittel, das in einem Mitgliedstaat rechtmaBig hergestellt wurde, darf im Lichte der Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. EGV) auch in jedem anderen Mitgliedstaat in Verkehr gebracht werden, selbst wenn es in seiner stofflichen Zusammensetzung oder auBeren Darbietung nicht den innerstaatlichen Bestimmungen des Lebensmittelrechts (und damit der nationalen Verbrauchererwartung) entspricht24. Es gilt also das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung. So darf z. B. - bei entsprechender Kennzeichnung (Etikettierung) - in Deutschland Bier in Verkehr gebracht werden, das nicht nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraut wurde25. Das gleiche gilt fur Saucen, die nicht den deutschen Rezepturen entsprechen26. Der italienische Gesetzgeber darf nicht die Vermarktung von Essig untersagen, der italienischen Rezeptur- bzw. Bezeichnungsvorstellungen nicht entspricht27. Eine deutsche weinrechtliche Vorschrift, die die Verwendung der Bocksbeutelflasche nur Qualitatsweinen aus bestimmten deutschen Anbaugebieten vorbehalt, darf nicht der Einfuhr von Weinen mit Ursprung in einem anderen Mitgliedstaat entgegengehalten werden, die dort nach herkommlicher Ubung in Flaschen identischer oder ahnlicher Form abgefullt sind. Auch hier weist der EuGH darauf hin, dass Verwechslungen im Hinblick auf die Herkunft des Weines bereits durch eine angemessene Etikettierung vermieden werden konnen28. In alien oben genannten Fallen wurde die straf- und buBgeldrechtliche Sanktionierung der Lebensmittelvermarktung gegen die primarrechtliche Garantie der Warenverkehrs-
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Vgl. hierzu Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 12 ff.; JunglSchroth, GA 1983, 241, 264; Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 47; Satzger, Europaisierung, S. 478. Dies folgt aber - entgegen der Auffassung von Satzger, Europaisierung, S. 478, 506, 510 - nicht daraus, dass der Tatbestand der mit Gemeinschaftsrecht kollidierenden Strafnorm nicht erfullt ist. Vielmehr bleibt die tatbestandlich erfullte Strafhorm schlicht unanwendbar. Es handelt sich um eine dem Strafrecht nicht systemimmanente Einwirkung; zutr. Schroder, Richtlinien, S. 283. Zu den Grilnden, die gegen eine Einordnung der Neutralisierung als Rechtfertigungs- oder StrafausschlieBungsgrund sprechen vgl. Satzger, Europaisierung, S. 506 ff.; Schroder, Richtlinien, 2002, S. 279 ff. Vgl. zur Europaisierung des Lebensmittelstrafrechts Hecker, Produktwerbung, S. 58 ff. Standige Rspr. seit EuGHE 1979, 649, 664 (,,Cassis de Dijon"); vgl. hierzu den didaktisch ausgerichteten Beitrag von Schutz, JURA 1998, 631. EuGHE 1987, 1227, 1262 ff. EuGHE 1995, 3599, 3617 ff. EuGHE 1980, 2071; EuGHE 1981, 3019. EuGHE 1984, 1299, 1322 ff.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
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freiheit verstoBen. Entsprechende Bestimmungen des nationalen Strafrechts milssen nach der Vorrangregel unangewendet bleiben29. FUr die deutsche Strafrechtspraxis bedeutet die Vorrangregel folgendes: Immer 12 wenn ein Verhalten bzw. ein Sachverhalt mit Gemeinschaftsrechtsbezug strafrechtlich zu wiirdigen ist, besteht Anlass, die einschlagige nationale Bestimmung auf ihre Vereinbarkeit mit unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht zu iiberpriifen. Die rechtliche Wiirdigung muss sich dann insbesondere mit der Frage auseinandersetzen, ob der mitgliedstaatliche Strafanspruch in gemeinschaftsrechtlich garantierte Grundfreiheiten der Burger eingreift oder mit unmittelbar anwendbarem Sekundarrecht kollidiert. Unter den in Art. 234 EGV genannten Voraussetzungen konnen oder milssen die nationalen Gerichte in diesen Fallen eine Vorabentscheidung des EuGH einholen (§ 6). Europarechtlich versierte Staatsanwalte und Verteidiger werden gegentlber dem Gericht entsprechend sachdienliche Antrage stellen. Die Strafverfolgungsorgane geraten nicht bzw. nur scheinbar in Konflikt mit 13 dem im deutschen Recht verankerten Legalitatsprinzip (Strafverfolgungspflicht), wenn sie eine nach der innerstaatlichen Rechtslage an sich strafbare Tat mit Riicksicht auf die Vorrangregel nicht verfolgen. Da die Unanwendbarkeit der deutschen Strafnorm aus dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts resultiert, folgen sie als Trager staatlicher Gewalt lediglich ihrer Pflicht zu gemeinschaftstreuem Verhalten (vgl. Art. 10 EGV).
II. Uberlagerung strafverfahrensrechtlicher Bestimmungen Der Judikatur des EuGH ist zu entnehmen, dass auch das Prozessrecht der Mit- 14 gliedstaaten insoweit gemeinschaftsrechtlichen Begrenzungen unterliegt, als es den Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts nicht zuwiderlaufen darf. Mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehorden und Gerichten ist es daher verwehrt, nach MaBgabe einer strafbrozessualen Bestimmung zu verfahren, deren Anwendung zu einer unzulassigen Beeintrachtigung einer gemeinschaftsrechtlich begrilndeten Rechtsposition fuhren wilrde30. So wurde bereits entschieden, dass der VerstoB gegen eine unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmung ein gemeinschaftsrechtliches Beweisverwertungsverbot nach sich ziehen kann31. Besondere Bedeutung kommt dem auch im Strafverfahren zu beachtenden Diskriminierungsverbot zu, soweit es dem personalen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts unterfallf32. EU-Auslander diirfen deshalb in keinem mitgliedstaatlichen Strafprozess
Das deutsche Recht tragt der aus dem Gemeinschaftsrecht folgenden Rechtslage durch die Bestimmung des § 47 a I LMBG Rechnung. Gabe es diese Bestimmung nicht, wiirde sich an der Unanwendbarkeit deutscher Stramormen auf Falle der oben genannten Art aber nichts andern. Vgl. hierzu Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 143 f; Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 56. EuGHE 2003, 3735 mit ausftihrlicher Besprechung von Esser, StV 2004, 221 ff. EuGHE 1989, 195; 1996, 161; Zuleeg, JZ 1992, 761, 762.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
allein aufgrund ihrer Staatsangehorigkeit ohne sachlich vertretbaren Grund anders behandelt werden als Inlander. Exemplarisch sei auf das vor einem italienischen Gericht gefuhrte Strafverfahren gegen Bickel und Franz hingewiesen33. Der EuGH stellte im Vorabentscheidungsverfahren klar, dass sich Strafverfahrensregelungen des nationalen Rechts am Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV (ex-Art. 6 EGV) messen lassen miissen, wenn es um die Verfolgung von Personen geht, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation in einem anderen Mitgliedstaat befinden. Im konkreten Fall bedeutete dies, dass eine verfahrensrechtliche Regelung, die an sich nur der deutschsprachigen Bevolkerung in Bozen das Recht auf eine Gerichtsverhandlung in deutscher Sprache einraumte, auch zugunsten von Angeklagten deutscher und osterreichischer Staatsangehorigkeit anzuwenden war.
III. Kollisionskonstellationen 1. Echte und unechte (scheinbare) Kollision 15 Zu einer die Neutralisierungswirkung auslosenden Kollision zwischen nationaler Strafnorm und Gemeinschaftsrecht kann es nur kommen, wenn die Anwendung der Strafhorm im konkreten Einzelfall zwangslaufig gegen unmittelbar anwendbares Gemeinschaftsrecht verstOBt (echter Kollisionsfall). Nur ein scheinbarer Kollisionsfall liegt demgegeniiber vor, wenn nationales Strafrecht den Vorgaben und Wertungen einer nicht unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmung zuwiderlauft34. Da das Gemeinschaftsrecht fur diese Fallkonstellation keine Kollisionsregel bereithalt, kommt eine Neutralisierung der Strafhorm nicht in Betracht. Zwar ist in diesen Fallen zu priifen, ob im Hinblick auf Art. 10 EGV eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Strafnorm besteht (§ 10). Doch andert dies nichts daran, dass fur die rechtliche Wiirdigung des in Rede stehenden Sachverhalts ausschlieBlich das innerstaatliche Recht heranzuziehen ist, solange die Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt ist.
2. Direkte und indirekte Kollision 16 Echte Kollisionen sind wiederum moglich im Rahmen einer direkten oder einer indirekten Kollisionskonstellation: Von einer direkten Kollision zwischen mitgliedstaatlichem Strafrecht und Gemeinschaftsrecht spricht man, wenn die nationale Sanktionsvorschrift und die unmittelbar geltende gemeinschaftsrechtliche Norm dieselbe Materie inhaltlich unterschiedlich regeln35. Charakteristisch fur diese Kollisionskonstellation ist, dass der Rechtsanwender sich in einer Situation befmdet, in der er zwischen zwei inhaltlich divergierenden Regelungsalternativen 33 34 35
EuGH EuZW 1999, 82. Satzger, Europaisierung, S. 480. Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 45 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 491 ff.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
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auswahlen muss, wobei eine dem nationalen Recht, die andere dem Gemeinschaftsrecht entstammt. Ein typischer Fall der direkten Kollision liegt vor, wenn das nationale Strafrecht ein Verhalten verbietet, das vom Gemeinschaftsrecht gestattet wird. Beispielhaft hierfllr stehen die oben aufgefuhrten Falle der Kollision deutschen Lebensmittelstrafrechts mit der primarrechtlichen Garantie der Warenverkehrsfreiheit (Rn. 11). Eine echte Kollision kann aber auch eintreten, wenn eine nationale Vorschrift 17 und eine Gemeinschaftsrechtsnorm zwar unterschiedliche Regelungsziele verfolgen, jedoch durch die Anwendung der innerstaatlichen Bestimmung die Durchsetzung und praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts mittelbar beeintrachtigt wilrde. Man kann insoweit von einer indirekten Kollision zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht sprechen36. Die Ursache fur die Entstehung indirekter Kollisionslagen ist in der kompetenzbedingten Unvollstandigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung zu suchen. Die vom Prinzip der begrenzten Einzelermachtigung gepragte Kompetenzverteilung flihrt dazu, dass die Gemeinschaftsrechtsordnung und die nationale Rechtsordnung nicht dergestalt nebeneinander stehen, dass bestimmte Sachverhalte vollstandig nach Gemeinschaftsrecht, andere vollstandig nach nationalem Recht geregelt werden konnen. Das Gemeinschaftsrecht bleibt vielmehr dort, wo sein Zustandigkeitsbereich endet, auf eine Kooperation mit dem innerstaatlichen Recht angewiesen. Besonders deutlich wird dies in Regelungszusammenhangen, in denen es um den Vollzug materiellen Gemeinschaftsrechts durch nationales Verfahrensrecht geht. Die mitgliedstaatlichen Behorden und Gerichte verfahren nach innerstaatlichem Verfahrensrecht, das nicht immer speziell auf gemeinschaftsrechtliche Belange zugeschnitten ist. Zu denken ist beispielsweise an eine nationale Bestimmung des Verwaltungsverfahrensrechts, die eine Ausschlussfrist fur die Geltendmachung eines gemeinschaftsrechtlich begrundeten Riickerstattungsanspruchs wegen zu Unrecht erhobener Einfuhrgebilhren vorsieht. Ist die vom nationalen Recht gesetzte Frist verstrichen, so ist der Ruckerstattungsanspruch nicht mehr durchsetzbar, was in Widerspruch zu dem Effektivitats- und Vollzugsanspruch des Gemeinschaftsrechts geraten kann. Indirekte Kollisionskonstellationen konnen aber auch im Verhaltnis zwischen 18 Strafrecht und Gemeinschaftsrecht auftreten. Bereits an anderer Stelle wurde dargelegt, dass die Mitgliedstaaten im Lichte des Art. 10 EGV verpflichtet sind, ihr Strafrecht in den Dienst des Schutzes gemeinschaftsrechtlicher Interessen zu stellen (§ 7). Zu einer mittelbaren Beeintrachtigung gemeinschaftsrechtlicher Regelungsziele kann es kommen, wenn eine der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts dienende Strafbestimmung letztlich nicht zur Anwendung gelangt, weil z. B. ein materiellrechtlicher Rechtfertigungsgrund eingreift oder weil die Strafverfolgungsbehorde von ihrer Moglichkeit Gebrauch macht, das Strafverfahren aus Opportunitatsgrunden einzustellen (vgl. §§153 ff. StPO)37. Die LOsung dieser indirekten Kollisionskonstellationen gestaltet sich erheblich schwieriger als dies beim 36
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Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 50 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 499 ff. Vgl. hierzu Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 50 ff; 154 ff; Satzger, Europaisierung, S. 504 ff.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
Aufeinandertreffen direkt kollidierender Regelungen des innerstaatlichen und des supranationalen Rechts der Fall ist. Eine automatische Anwendung der Vorrangregel mit der Folge der Unanwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts kommt jedenfalls schon mit Riicksicht auf die nationale Rechtsgestaltungsautonomie und das strafrechtsspezifische Schonungsgebot nicht in Betracht. Vielmehr ist eine flexible und einzelfallbezogene Losung geboten, welche die widerstreitenden Rechtspositionen und Interessen in Ausgleich bringt. Insoweit bietet sich eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der nationalen Bestimmungen an (§ 10).
IV. Fallbeispiele aus Praxis und Literatur 1. Unbefugte Ausubung einer veterinarmedizinischen Tatigkeit CAuer") 19 Fall 1 (EuGHE 1983, 2727): Der aus Osterreich stammende franzosische Staatsangehorige Auer absolvierte in Italien sein Examen im Fach Veterinarmedizin. AnschlieBend wollte er sich als Tierarzt im Elsass niederlassen. Wegen des fehlenden franzosischen Diploms wurde ihm jedoch von der zustandigen Tierarztekammer die Approbation verweigert. Auer lieB sich dennoch nieder und tibte den Beruf des Tierarztes aus. Die franzosische Anklagebehorde warf ihm vor, den Straftatbestand der unbefugten Ausubung der Tiermedizin erflillt zu haben. Eine zum Tatzeitpunkt trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist noch nicht in franzosisches Recht transformierte Richtlinie ordnete die gegenseitige Anerkennung der in den Mitgliedstaaten erworbenen tierarztlichen Diplome an. 20 Losungshinweise zu Fall 1: Im Hinblick auf eine denkbare Kollision des einschlagigen franzosischen Straftatbestandes mit der primarrechtlichen Garantie der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 ff. EGV) machte das franzosische Strafgericht von der Moglichkeit der Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH Gebrauch (vgl. hierzu § 6). Die Besonderheit des Falles lag darin, dass eine zum Tatzeitpunkt trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist noch nicht in franzosisches Recht transformierte Richtlinie die Gleichwertigkeit und gegenseitige Anerkennung der in den Mitgliedstaaten erworbenen tierarztlichen Diplome vorsah. Der EuGH sah in der Ablehnung des Aufnahmeantrags durch die zustandige Veterinarkammer einen VerstoB gegen die Niederlassungsfreiheit und insbesondere gegen die Richtlinie Nr. 78/1026/EWG38. Die Richtlinie enthalte fur jeden Mitgliedstaat klare, vollstandige, genaue und unbedingte Verpflichtungen, die fur eine Ermessensausubung keinen Raum lassen. Unter diesen Voraussetzungen konne sich ein Einzelner nach Ablauf der Umsetzungsfrist gegeniiber den Gerichten und Behorden des Mitgliedstaats auf die nicht umgesetzte Richtlinie berufen. Die franzosische Veterinarkammer hatte demnach die Aufnahme des Tierarztes Auer jedenfalls nicht wegen fehlender Gleichwertigkeit des in Italien erworbenen Diploms ablehnen diirfen. Rechtsvorschriften, die Straf- und VerwaltungsmaBnahmen gegen einen Tierarzt vorsehen, der seinen Beruf ausubt, ohne Mitglied der berufsstandischen Kammer zu sein, seien insoweit mit Gemeinschaftsrecht unvereinbar, als die Auf-
EuGHE 1983, 2727 ff.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
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nahme des Betroffenen in die Kammer unter Verletzung des gemeinschaftsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots abgelehnt worden sei. Nach Auffassung des EuGH ist daher der Umstand, dass Auer zum Tatzeitpunkt keiner nationalen Tierarztekammer angehorte, nicht geeignet, ein Strafverfahren wegen unzulassiger Berufsausilbung zu rechtfertigen. Das franzosische Gericht wird diese Vorabentscheidung des EuGH zum Anlass nehmen miissen, den einschlagigen Straftatbestand unangewendet zu lassen. Da Auer zum Tatzeitpunkt kraft unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts zur Ausiibung des Tierarztberafs in Frankreich berechtigt war, lag kein VerstoB gegen das von der Strafnorm bewehrte Verhaltensgebot vor.
2. Verstoli gegen nationale Kennzeichnungsvorschriften (,,Ratti") Fall 2 (EuGHE 1979, 1629): Herrn Ratti, dem Leiter eines Unternehmens, das Losungs- 21 mittel und Lacke herstellte und in Verkehr brachte, wurde von einem italienischen Strafgericht vorgeworfen, gegen strafbewehrte Kennzeichnungsvorschriften des Gesetzes Nr. 245 v. 5. Marz 1963 ilber die Etikettierung von Losemitteln verstoBen zu haben. Bei isolierter Betrachtung des italienischen Rechts hat der Angeklagte den Straftatbestand erfullt. Der Angeklagte wies aber in der Sache zutreffend darauf hin, dass er die hinreichend klaren Kennzeichnungsvorschriften beachtet hatte, welche die Harraonisierungsrichtlinie 73/173 des Rates insoweit aufstellte. Nach den Bestimmungen dieser Richtlinie war es demnach erlaubt, die Produkte entsprechend der vom Angeklagten veranlassten Kennzeichnung zu vermarkten. Die Richtlinie war jedoch trotz Ablaufs der Umsetzungsfrist weder zum Tatzeitpunkt noch zum Urteilszeitpunkt in nationales Recht umgesetzt worden. Fallvariante: Der Angeklagte hat Losemittel und Lacke in den Verkehr gebracht, deren Kennzeichnung weder den italienischen Vorschriften noch den Bestimmungen der Richtlinie 73/173 entsprechen. Losungshinweise zu Fall 2: Der italienische Straftatbestand knupft an die Verlet- 22 zung einer innerstaatlichen Kennzeichnungsvorschrift an, die dem Rechtsadressaten strengere Pflichten auferlegt als die mit dem gleichen sachlichen Regelungsziel erlassene Richtlinie. Da der Angeklagte die Vorgaben der Richtlinie eingehalten hat, kommt es fur die strafrechtliche Losung des Falles entscheidend darauf an, ob sich der Angeklagte im konkreten Fall auf die inn begunstigende, aber noch nicht umgesetzte Richtlinie berufen darf. Der im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens mit der Sache befasste EuGH fuhrte hierzu aus: ,,...Sonach ist
auf die erste Frage zu antworten, dass ein Mitgliedstaat nach dem Ablauf der fur die Durchfuhrung einer Richtlinie gesetzten Frist sein dieser Richtlinie noch nicht angepasstes innerstaatliches Recht — auch wenn es Strafsanktionen enthalt - nicht auf eine Person anwenden kann, die den Vorschriften der Richtlinie nachgekommen ist".39 Dem gingen folgende grundsatzliche Feststellungen voraus: ,,...Mit der den 23 Richtlinien durch Art. 189 111 EGV (jetzt Art. 249 III EG V) zuerkannten verbindlichen Wirkung ware es unvereinbar, grundsdtzlich auszuschliefien, dass sich betroffene Personen auf die durch die Richtlinie auferlegte Verpflichtung berufen EuGHE 1979, 1629, 1642.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
konnen. Insbesondere in den Fallen, in denen etwa die Gemeinschaftsbehorden die Mitgliedstaaten durch Richtlinien zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, wiirde die praktische Wirksamkeit einer solchen Mafinahme abgeschwdcht, wenn die Einzelnen sich hierauf nicht berufen und die staatlichen Gerichte sie nicht als Bestandteil des Gemeinschaftsrechts berucksichtigen konnten. Daher kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschrieben Durchfuhrungsmafinahmen nicht fristgerecht erlassen hat, den Einzelnen nicht entgegenhalten, dass er — der Staat - die aus der Richtlinie erwachsene Verpflichtung nicht erfullt hat. Hieraus folgt, dass das nationale Gericht, bei dem ein Rechtsbiirger, der den Vorschriften der Richtlinie nachgekommen ist, die Nichtanwendung einer mit dieser noch nicht in die innerstaatliche Rechtsordnung des sdumigen Staates ubernommenen Richtlinie unvereinbaren nationalen Bestimmung beantragt hat, diesem Antrag stattgeben muss, sofern die in Frage stehende Verpflichtung unbedingt und hinreichend genau ist. "40 24 Da sich der Angeklagte somit auf die unmittelbar anwendbare Richtlinie berufen kann, deren Vorschriften er eingehalten hat, wird das entgegenstehende (strengere) innerstaatliche Kennzeichnungsrecht verdrangt mit der Folge, dass der hieran ankniipfende Straftatbestand neutralisiert wird. Das nationale Gericht kann aufgrund dieser Rechtslage nur die Konsequenz ziehen, den Angeklagten vom Vorwurf eines strafbaren Kennzeichnungsverstofies freizusprechen. 25 Losungshinweise zu Fall 2 (Variante): Die Feststellung, dass die einschlagige Kennzeichnungsrichtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist unmittelbare Wirkung entfaltet, konnte zu der Annahme flihren, dass das hiermit kollidierende nationale Recht nunmehr schlechthin unanwendbar, also auch die das italienische Kennzeichnungsgebot bewehrende Strafnorm generell gesperrt sei41. Dies ha'tte zur Folge, dass der Angeklagte straflos bleibt, obwohl er Produkte in den Verkehr gebracht hat, die weder den Kennzeichnungsvorschriften des innerstaatlichen Rechts noch des Gemeinschaftsrechts entsprechen. Uber den konkreten Einzelfall hinaus wtirde dieser Rechtsstandpunkt, der von einer generellen Unanwendbarkeit der innerstaatlichen Strafnorm ausgeht, ein Rechtsvakuum entstehen lassen. VerstoBe gegen nationales Kennzeichnungs- und Richtlinienrecht blieben solange straflos, bis der nationale Gesetzgeber die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt und eine neue Strafnorm geschaffen hat. Nach der Rechtsprechung des EuGH verlangt das aus Art. 10 EGV abzuleitende Gebot der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts jedoch keine derail weitreichende Verdrangung des nationalen (Straf-)Rechts. Wie die oben (Rn. 23) zitierten Passagen aus der Urteilsbegrundung in der Rechtssache ,,Ratti" belegen, macht der EuGH die unmittelbare Anwendung der nicht fristgerecht umgesetzten Richtlinie von der Bedingung abhangig, dass sich derjenige, der sich auf sie beruft, auch richtliniengetreu verhalten hat42. Folglich bleibt ein Verhalten, das weder mit innerstaatlichem noch mit unmittelbar anwendbarem Richtlinienrecht in Einklang steht, weiterhin aus dem 40 41 42
EuGHE 1979, 1629, 1642. So die Auffassung von Satzger, Europaisierung, S. 491 f. Zutr. gesehen und eingehend begriindet von Schroder, Richtlinien, S. 275 ff.
B. Anwendungsvorrang und rationales Strafrecht
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nicht verdrangten nationalen Straftatbestand strafbar. Der Tater kann also nicht etwa abstrakt vorhandene Inkongruenzen zwischen nationalem Recht und Richtlinienrecht fur sich reklamieren, wenn er sich selbst nicht an die nach beiden Rechtsquellen einschlagigen Bestimmungen gehalten hat.
3. Grenzuberschreitende Veranstaltung einer Lotterie oder Werbung hierfur Fall 3: Ein niederlandischer Anbieter wirbt grenztiberschreitend fur die Teilnahme an sei- 26 ner Lotterieveranstaltung, indem er u. a. Werbeprospekte, Aufnahmeformulare und Lose an deutsche Verbraucher ubersendet. Da ihm hierfur von deutschen Behorden keine Erlaubnis erteilt wurde, stellt sich die Frage, ob er nach deutschem Recht gem. § 287 I, II StGB strafbar ist43. Losungshinweise zu Fall 3: Die Veranstaltung einer grenziiberschreitenden Lot- 27 terie und die Werbung hierfur unterfallen grundsatzlich dem Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 49 EGV. Insoweit genieBt die Tatigkeit des Veranstalters nicht nur Schutz vor Diskriminierung, sondern auch vor einer unverhaltnismafligen Beschrankung durch mitgliedstaatliches Recht. Allerdings lasst sich - auf der Basis der Rechtsprechung des EuGH in der Rechtssache ,,Schindler"44 — das strafbewehrte Lotterieverbot letztlich nicht beanstanden, da es durch zwingende Interessen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist. Der EuGH erkennt in dieser Entscheidung an, dass die Mitgliedstaaten eine Reihe achtenswerter Griinde und Erwagungen sittlicher, religioser, kultureller, sozialer und verbraucherschutzpolitischer Art anfuhren konnen, die gegen eine vollige Liberalisierung des Gliicksspiels ins Feld gefuhrt werden konnen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an die schadlichen wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die dem Glilcksspiel verfallene Verbraucher zu gewartigen haben. Deshalb gesteht der Gerichtshof den Mitgliedstaaten ein Ermessen bei der Beurteilung und Reglementierung von Lotterieveranstaltungen zu, was auch nichtdiskriminierende Beschrankungen, bis hin zu einem grundsatzlichen Verbot, rechtfertigen kann. Ubertragen auf die deutsche Rechtslage bedeutet dies, dass der durch § 287 I, II StGB strafrechtlich bewehrte Genehmigungsvorbehalt jedenfalls dann nicht gegen die Garantie des freien Dienstleistungsverkehrs versto'Bt, wenn er diskriminierungslos gehandhabt wird45.
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Vgl. zu diesem Fall Satzger, Europaisierung, S. 493 f. unter Hinweis auf EuGHE 1994, 1039. EuGHE 1994, 1039, 1096; vgl. auch EuGHE 1999, 6067; 1999, 7289. Vgl. EuGHE 1999, 6067; 1999, 7289. Aus dem gleichen Grund verstofit die Ahndbarkeit einer Person gem. § 8 I Nr. 1 Rechtsberatungsgesetz, die von einem anderen Mitgliedstaat aus eine unbefugte Rechtsberatung in Deutschland betreibt, nicht gegen Art. 49 EGV (vgl. hierzu OLG Koln NJW 2004, 2684, 2685).
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
4. Ubertreibende Produktanpreisung in grenziiberschreitender Werbekampagne 28 Fall 4: Der von Osterreich aus agierende P verbreitet im Rahmen einer internationalen Werbekampagne eine bestimmte Werbebotschaft, durch die er in anderen Mitgliedstaaten - darunter auch in Deutschland - seine Produkte in einem Prospekt mit folgenden Versprechungen anpreist: „ ...Unser neuartiges und weltweit einzigartiges Produkt ,,Haarverdicker-Doppelhaar" verdoppelt das Haar bereits nach einer Anwendung binnen zehn Minuten mit 100%iger Garantie..." 46. Nach den von BGH und h. L. entwickelten Grundsatzen erfullt P durch die Verbreitung dieser Werbebotschaft zumindest den Straftatbestand des § 16 UWG und - falls ein Vermogensschaden eintritt - des § 263 StGB47.
29 Losungshinweise zu Fall 4: Der Rechtsanwender hat bei der strafrechtlichen Wiirdigung solcher Fallkonstellationen zu beachten, dass die nach deutschem Wettbewerbs- oder Betrugsstrafrecht tatbestandsmaBige Verhaltensweise - das Verbreiten einer produktbezogenen Werbebotschaft - in den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit einbezogen ist48. Aus der Sicht des Gemeinschaftsrechts handelt es sich bei den Werbeverboten des nationalen Wirtschaftsstrafrechts um ,,MaBnahmen gleicher Wirkung wie mengenma'Bige Beschrankungen" i. S. d. Art. 28, 29 EGV (ex-Art. 30, 34 EGV). Sie mtissen sich daher an den im Rahmen der ,,Cassis-Rechtsprechung"49 des EuGH entwickelten Vorgaben der Warenverkehrsfreiheit messen lassen, wenn ihre Anwendung auf eine grenzliberschreitende Produktvermarktung in Betracht kommt50. Freilich erkennt auch das Gemeinschaftsrecht den Schutz der Verbraucher vor Tauschung prinzipiell als schutzwurdiges Interesse an, indem der Verbraucherschutz zu den ,,zwingenden Erfordernissen" gerechnet wird, die als immanente Schranken die Warenverkehrsfreiheit begrenzen. Bei der Beurteilung der Tauschungsgefahr stellt der EuGH auf das Leitbild eines aufmerksamen und verstandigen Verbrauchers ab, der willens und in der Lage ist, Informationen zur Kenntnis zu nehmen. Es ist somit zu priifen, ob die tatgegenstandliche Werbebotschaft uberhaupt geeignet ist, einen diesem Verbraucherleitbild entsprechenden Werbeadressaten in die Irre zu fuhren. Da dies im vorliegenden Fall zu verneinen ist, genieBt die Werbekampagne den Schutz der primarrechtlichen Warenverkehrsfreiheit und darf nicht durch die Anwendung nationaler Strafrechtsbestimmungen untersagt werden. Das Prinzip des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts flihrt somit zur Unanwendbarkeit der §§ 16 UWG, 263 I StGB.
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Vgl. zu diesem Fall Hecker, Produktwerbung, S. 284 ff. Vgl. BGHSt 34, 199 (,,Haarverdicker") sowie OLGSt § 263, S. 126 (,,Wunderburstenfall"). EuGHE 1974, 837 (,,Dassonville-Formel"). EuGHE 1979, 649, 664. Vgl. hierzu Hecker, Produktwerbung, S. 61 ff. m. w. N .
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
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5. Abtreibungstourismus Fall 5: In der 16. Woche ihrer Schwangerschaft entschlieBt sich S, ohne vorherige Inan- 30 spruchnahme einer Beratung (vgl. § 219 StGB) in einer niederlandischen Klinik eine Abtreibung ihrer Leibesfrucht vornehmen zu lassen. Arzt A nimmt den Eingriff nach MaBgabe niederlandischen Rechts legal vor. Bei A und S handelt es sich um deutsche Staatsbiirger, die ihren standigen Wohnsitz in Deutschland haben. A pendelt jeden Tag ttber die Grenze, um in der niederlandischen Klinik einer selbstandigen Tatigkeit als Arzt nachzugehen. Nach deutschem Recht haben sich sowohl A (vgl. § 218 I StGB) als auch S (vgl. § 218 I, III StGB) strafbar gemacht. Die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts folgt fur beide Strafanspruche jeweils aus § 5 Nr. 9 StGB (vgl. hierzu bereits § 2 Rn. 25 ff.).
Losungshinweise zu Fall 5: a) Gemeinschaftsrechtsbezug des Fades Im Hinblick auf deri - freilich nicht auf den ersten Blick erkennbaren - Gemein- 31 schaftsrechtsbezug dieser Fallkonstellation besteht Anlass, die einschlagigen deutschen Strafrechtsregelungen auf ihre Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsrecht zu uberpriifen. Die in Art. 49 EGV garantierte Freiheit des innergemeinschaftlichen Dienstleistungsverkehrs beinhaltet in ihrer Auspragung als sog. ,,passive Dienstleistungsfreiheit" das Recht der Marktbtirger, in einem anderen Mitgliedstaat als ihrem Heimatstaat Dienstleistungen in Empfang zu nehmen, ohne durch Beschrankungen daran gehindert zu werden51. Wie der EuGH in der Rechtssache ,,Society for the protection of unborn children/Grogan u. a." ausgefuhrt hat, stellt auch der arztliche Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Staates steht, in dem er vorgenommen wird, eine gemeinschaftsrechtlich geschutzte Dienstleistung dar52. Etwaige moralische Bedenken, die im Hinblick auf die Vernichtung menschlichen Lebens erhoben werden konnten, miissen nach Auffassung des EuGH bei der Vertragsauslegung aufier Betracht bleiben, da es nicht Sache des Gerichtshofes sei, die Beurteilung, die vom Gesetzgeber in den Mitgliedstaaten vorgenommen worden sei, durch seine eigene zu ersetzen. Ein deutscher Arzt mit Wohnsitz in einer deutsch-niederlandischen Grenzregi- 32 on, der seinen personlichen bzw. familiaren Lebensmittelpunkt im Inland behalt, jedoch taglich in die benachbarten Niederlande pendelt, um dort einer dauerhaft angelegten Berufstatigkeit in einer Abtreibungsklinik nachzugehen, kann sich auf die EG-vertragliche Garantie der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 ff. EGV) berufen. Diese Garantie stellt sicher, dass die grenzuberschreitende Erbringung einer Dienstleistung in einem Mitgliedstaat unter den gleichen Voraussetzungen ermoglicht wird, welche dieser Staat fur seine eigenen Angehorigen vorschreibt (Art. 43 II EGV). Zunachst ist festzustellen, dass das deutsche Strafrecht in gemeinschaftsrecht- 33 lich gewahrleistete Grundfreiheiten eingreift, indem es - wie oben gezeigt - bestimmte, im Zusammenhang mit dem Abtreibungstourismus stehende Handlungen 51
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EuGHE 1989, 195, 222; 1999, 11, 28; HailbronnerlNachbaur, EuZW 1992, 105, 108; Holoubek, EU-Kommentar, 2000, Art. 49 EGV Rn. 50; Kort, JZ 1996, 132, 133; Streinz, Europarecht, Rn. 756. EuGHE 1991, 4685, 4733, 4739; vgl. hierzu O'Leary, ELR 1993, 138, 143 ff.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
deutscher Staatsburger bei Strafe verbietet. Die auf § 218 I, III StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB beruhende Strafandrohung ist geeignet, deutsche Patientinnen davon abzuhalten, einen Schwangerschaftsabbruch im Ausland durchfuhren zu lassen53. Der nationale Strafanspruch behindert auf diese Weise die grenztiberschreitende Inanspruchnahme einer in einem anderen Mitgliedstaat legal angebotenen medizinischen Dienstleistung und stort damit den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb des europaischen Binnenmarktes. Soweit das deutsche Strafrecht den im Ausland praktizierenden deutschen Arzt gem. § 218 I StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB mit Strafe bedroht, beruhrt dies seine Niederlassungsfreiheit. Er wird in der Ausilbung seiner selbstandigen Erwerbstatigkeit behindert, weil er bei der Erbringung einer medizinischen Dienstleistung in einem anderen Mitgliedstaat nicht nur die dort geltenden Bestimmungen, sondern auch die deutschen Strafvorschriften einhalten muss. b) Grundfreiheiten als Diskriminierungsverbote 34 Die Vertragsbestimmungen tiber die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit enthalten zunachst ein das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV konkretisierendes Verbot ungleicher Behandlung aufgrund der Staatsangehorigkeit54. Die von § 5 Nr. 9 StGB angeordnete Unterwerfung deutscher Staatsburger unter den Geltungsbereich des deutschen Strafrechts stellt indes keine gemeinschaftsrechtlich verbotene Diskriminierung aus Grilnden der Staatsangehorigkeit dar. Zwar bewirkt § 5 Nr. 9 StGB in den Fallen des Abtreibungstourismus, dass deutsche Staatsangehorige nicht im gleichen Umfang wie Auslander eine medizinische Dienstleistung erbringen bzw. empfangen diirfen. Diese faktische Schlechterstellung von Inlandern gegenilber Auslandern resultiert aber letztlich daraus, dass das Abtreibungsstrafrecht zu den nicht harmonisierten Regelungsmaterien der nationalen Rechtsordnungen gehort mit der Folge, dass der strafrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens in den EG-Mitgliedstaaten zwangslaufig unterschiedlich ausgestaltet ist. Auf Unterschiede dieser Art, die sich als Resultat eines Gefalles autonomer Rechtsordnungen darstellen, sind die Diskriminierungsverbote des EGV nicht anwendbar55. c) Grundfreiheiten als Beschrankungsverbote 35 Die Gewahrleistung der Dienstleistungs- und Niederlassungsfreiheit beinhaltet aber nicht nur ein blofles Diskriminierungsverbot, sondern auch ein allgemeines Beschrankungsverbot56. Nach standiger Rechtsprechung des EuGH diirfen die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten nur beschrankt werden durch Regelungen, die aus zwingenden Grunden des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind. Diese Regelungen mtissen ferner verhaltnismaBig, d. h. geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewahrleisten, und sie durfen 53 54 55 56
Satzger, Europaisierung, S. 416. Holoubek, EU-Kommentar, Art. 43 Rn. 3, 33 und Art. 9 Rn. 56 ff. Vgl. hierzu Nachbaur, Niederlassungsfreiheit, 1999, S. 105 f. m. w. N. EuGHE 1979, 35; 1981, 3305; 1991, 659, 709, 727; 1991, 4221, 4243; 1993, 1663, 1697 f.; 1995, 1141; 1995, 4165, 4197 ff.; 1999, 11, 29; Holoubek, EU-Kommentar, Art. 43 Rn. 3, 45 ff.; Art. 49 Rn. 35, 58 ff; 81 ff; Streinz, Europarecht, Rn. 671, 677.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
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nicht iiber das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist57. Der EuGH hatte bislang keine Gelegenheit, sich zu der Frage zu auBern, ob es die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten zulassen, dass nationale Vorschriften den von einem inlandischen Staatsangehorigen im Ausland legal vorgenommenen Schwangerschaftsabbruch mit Strafe bedrohen. Deutsche Gerichte, deren Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden konnen, mussen deshalb in einschlagigen Fallen gem. Art. 234 EGV eine Vorabentscheidung durch den EuGH herbeifuhren (vgl. hierzu § 6). In der Rechtssache ,,Society for the protection of unborn children/Grogan 36 u. a."58 ging es lediglich um die Frage, ob eine unzulassige Beschrankung der Dienstleistungsfreiheit darin zu sehen ist, dass ein Mitgliedstaat (hier: Irland) einer Studentenvereinigung verbietet, im Inland Informationen iiber Kliniken eines anderen Mitgliedstaates (hier: Grofibritannien) zu verbreiten, in denen Schwangerschaftsabbriiche legal praktiziert werden. Den Ausfuhrungen des Generalanwaltes van Gerven59, der aus den Vertragsbestimmungen iiber die Freiheit des Dienstleistungsverkehrs auch das Recht ableitet, im eigenen Mitgliedstaat ungehindert Informationen iiber die in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Erbringer von Dienstleistungen zu verbreiten, vermochte sich der EuGH nicht anzuschlieBen. Da die Informationen nicht im Auftrag eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Wirtschaftsteilnehmers verbreitet worden seien, konne in dem Informationsverbot schon keine Beschrankung der Dienstleistungsfreiheit gesehen werden60. Folglich musste der EuGH auch nicht dariiber entscheiden, ob das Informationsverbot moglicherweise aus zwingenden Griinden des Allgemeininteresses verhangt werden durfte. d) Schutz des ungeborenen Lebens als zwingender Grund des Allgemeininteresses Im Ausgangspunkt steht aufier Frage, dass die den Abtreibungstourismus mit Stra- 37 fe bedrohenden Bestimmungen des deutschen Rechts einem zwingenden Grund des Allgemeininteresses zu dienen bestimmt sind - dem Schutz des ungeborenen Lebens, der in der deutschen Rechtsordnung mit Verfassungsrang ausgestattet ist61. Aber auch die zur Wahrung eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses bestimmten Regelungen mussen sich an den Kriterien des gemeinschaftsrechtlichen VerhaltnismaBigkeitsgrundsatzes messen lassen. e) Strafbarkeit der Schwangeren und VerhaltnismaUigkeitsgrundsatz In diesem Zusammenhang sind die Ausfuhrungen des Generalanwaltes auBerst in- 38 teressant. Van Gerven legte zunachst dar, dass eine nationale Regelung, die es 57
58 59 60 61
EuGHE 1999, 11, 29; 1995, 4165, 4197 f; Holoubek, EU-Kommentar, Art. 43 Rn. 48; Art. 49 Rn. 105; Kort, JZ 1996, 132, 135; Streinz, Europarecht, Rn. 677 ff. Vgl. EuGHE 1991, 4685, 4733 ff. Vgl. den Schlussantrag des Generalanwaltes van Gerven EuGHE 1991, 4685, 4712 f. Vgl. E u G H E 1991, 4685, 4740. Vgl. nur BVerfGE 39, 1; 88, 2 0 3 . Auch Generalanwalt van Gerven sieht im Schutz des ungeborenen Lebens einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses; vgl. E u G H E 1991,4685, 4715 ff.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
verbietet, schwangeren Frauen Informationen iiber auslandische Kliniken zu geben, in denen ein legaler Schwangerschaftsabbruch praktiziert werden kann, im Hinblick auf das hohe Schutzgut des ungeborenen Lebens nicht unverhaltnismalMg und daher zulassig erscheine. Als MaBnahmen, die unverhaltnismaBig waren, da sie den freien Dienstleistungsverkehr zu stark behindern wilrden, nennt er indes: ,,...das an schwangere Frauen gerichtete Verbot, sich ins Ausland zu begeben oder eine Regelung, nach der sie sich bei ihrer Ruckkehr aus dem Ausland unerwiinschten Untersuchungen unterziehen mussten. "S2 39 Ubertragt man die soeben dargelegte Wertung des Generalanwaltes auf die hier interessierende Fallkonstellation des Abtreibungstourismus, so konnte man zu der Ansicht gelangen, dass die deutschen Strafbestimmungen (§§ 218 I, III, 5 Nr. 9 StGB) schon deshalb als mit dem gemeinschaftsrechtlichen VerhaltnismaBigkeitsgrundsatz unvereinbar eingestuft werden mussten, weil sie Abtreibungstouristinnen dem Risiko einer Strafverfolgung aussetzen. Die hierdurch geschaffene Barriere flir die Inanspruchnahme einer im Ausland legal angebotenen medizinischen Dienstleistung wirke sich - so konnte man argumentieren - faktisch wie ein Verbot aus, sich zum Zwecke eines Schwangerschaftsabbruches ins Ausland zu begeben. Letztlich hangt die Entscheidung, ob die genannten Strafvorschriften den Anforderungen des gemeinschaftsrechtlichen VerhaltnismaBigkeitsgrundsatzes ausreichend Rechnung tragen, jedoch von einer Abwagung der Auswirkungen dieser Regelungen auf die Binnenmarktordnung einerseits und den Interessen des Mitgliedstaates an der Ausdehnung seiner Strafgewalt andererseits ab. UnverhaltnismalMg ware es demnach, wenn deutschen Staatsangehorigen schlechthin untersagt wiirde, sich zum Zwecke eines Schwangerschaftsabbruches in einen Mitgliedstaat zu begeben, in dem dieser Eingriff als legale arztliche Dienstleistung angeboten wird. Denn von der passiven Dienstleistungsfreiheit der Schwangeren bliebe dann nichts Ubrig. Der im deutschen Recht vorgesehene strafrechtliche Schutz des ungeborenen Lebens beinhaltet indes gerade kein absolutes Verbot, im Ausland einen Schwangerschaftsabbruch durchfuhren zu lassen. Fur die Schwangere bleibt der innerhalb der 22. Woche seit der Empfangnis durch einen Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch - falls nicht ohnehin bereits die Voraussetzungen der § 218 a I-III StGB vorliegen - gem. § 218 a IV S. 1 StGB straflos, wenn sie zuvor eine Beratung durch eine anerkannte Beratungsstelle (§219 StGB) in Anspruch genommen hat. Die genannten Strafbestimmungen tragen auf diese Weise dem legitimen Interesse der deutschen Rechtsordnung Rechnung, einen mit Verfassungsrang ausgestatteten Grundwert zu schiltzen, ohne hierdurch die gemeinschaftsrechtlich garantierte Dienstleistungsfreiheit abtreibungswilliger Frauen vollstandig auszuhohlen. Es erscheint nicht unverhaltnismaBig, wenn ein Staat seinen Angehorigen, die ihre Lebensgrundlage im Inland haben, zumutet, dass sie die im Inland geltenden Bestimmungen zum Schutze des ungeborenen Lebens auch im Ausland beachten, sofern ihnen noch ein aus-reichender Raum fur die Wahrnehmung ihrer Grundfreiheiten verbleibt. Im Ergebnis stehen somit die deutschen Regelungen zur Strafbarkeit des Abtreibungstourismus von Schwangeren (§§ 218 I, III, 5 Nr. 9 StGB) im Einklang mit Gemeinschaftsrecht.
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EuGHE 1991, 4685, 4721.
B. Anwendungsvorrang und nationales Strafrecht
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f) Strafbarkeit des Arztes und Verhaltnismaftigkeitsgrundsatz Anders zu beurteilen ist hingegen die gemeinschaftsrechtliche Zulassigkeit der in 40 § 218 I StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB vorgesehenen Strafandrohung gegenuber einem in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen oder voriibergehend tatigen deutschen Arzt, der im Rahmen seiner gewohnlichen Berufstatigkeit Schwangerschaftsunterbrechungen vornimmt. Zunachst muss man sehen, dass seine Niederlassungsfreiheit hierdurch in wesentlich intensiverem MaBe beschrankt wird als die passive Dienstleistungsfreiheit der Schwangeren. Die Abtreibungstouristin begibt sich schlieBlich nur in einer singularen Ausnahmesituation ins Ausland, um dort als Dienstleistungsempfangerin eine Abtreibung ihrer Leibesfrucht vornehmen zu lassen. Demgegenilber stellt die Durchfuhrung von Schwangerschaftsunterbrechungen fur den in einer Abtreibungsklinik praktizierenden Arzt eine hauptberufliche Tatigkeit dar, aus der er sein regelmaBiges Erwerbseinkommen bezieht. Die deutschen Strafbestimmungen zwingen ihn, bei jeder Vornahme eines Schwangerschaftsabbruches — gleich, ob es sich bei seiner Patientin um eine deutsche oder um eine auslandische Staatsangehorige handelt - das deutsche Abtreibungsstrafrecht zu beachten. Gerade von nichtdeutschen Patientinnen wird man nun aber schwerlich erwarten durfen, dass sie die vom deutschen Recht in § 218 a StGB statuierten Verfahrens- und Fristbestimmungen einhalten. Dies aber bedeutet fllr den Arzt, dass er eine Vielzahl von Einriffen nicht durchfuhren darf, sei es, weil die Zwolfwochenfrist (§ 218 a I Nr. 3 StGB) verstrichen ist oder weil seine Patientin keine Beratung bei einer nach deutschem Recht anerkannten Beratungsstelle (§219 StGB) in Anspruch genommen hat. Die von § 5 Nr. 9 StGB angeordnete Unterwerfung des im Ausland praktizie- 41 renden deutschen Arztes unter das deutsche Abtreibungsstrafrecht stellt damit eine unverhaltnismaBige Beschrankung seiner vom EGV garantierten Niederlassungsfreiheit dar. Zwar sind die den Arzt betreffenden Strafbestimmungen geeignet, den Schutz des ungeborenen Lebens - ein zwingender Grund des Allgemeininteresses - zu sichern. Sie sind jedoch nicht erforderlich, weil dieses Allgemeininteresse bereits durch die den medizinischen Dienstleistungsbereich reglementierenden Vorschriften des Mitgliedstaates, in dem der Arzt praktiziert, geschiltzt wird. Im Bereich der medizinischen Berufe ist die Gemeinschaftsrechtssetzung bereits sehr weit fortgeschritten. In zahlreichen Richtlinien wird etwa die Anerkennung der im Heimatstaat erworbenen Abschlusse und Befahigungsnachweise geregelt, um die grenzilberschreitende Mobilitat der betroffenen Berufsgruppen zu fordern und den Ubergang von einem Mitgliedstaat zum anderen zu erleichtern63. Das in diesen Richtlinien zum Ausdruck kommende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung muss deshalb zum Tragen kommen, wenn es um nationale Reglementierungen medizinischer Dienstleistungen geht. Angesichts des in diesem Regelungsbereich erzielten Harmonisierungsgrades muss das in einem Mitgliedstaat bestehende Schutzniveau von den anderen Mitgliedstaaten prinzipiell als ausreichend betrachtet werden. Das deutsche Recht konterkariert hingegen mit seiner Strafandrohung gegenuber dem Arzt, der in einem anderen Mitgliedstaat legal einen Schwangerschaftsabbruch durchfuhrt, die von der Gemeinschaftsrechtsordnung intendierte Vgl. nur Schlag, EU-Kommentar, Art. 47 Rn. 14 m. w. N.
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
Liberalisierung des Niederlassungs- und Dienstleistungsverkehrs im Bereich der medizinischen Berufe. 42 Folgt man der hier vertretenen Wertung, so verstoBt das deutsche Recht insoweit gegen Gemeinschaftsrecht, als es gem. § 218 I StGB i. V. m. § 5 Nr. 9 StGB einen Arzt mit Strafe bedroht, der im Ausland einen legalen Schwangerschaftsabbruch durchfuhrt. Die nationale Strafhorm darf infolge ihrer direkten Kollision mit Gemeinschaftsrecht nach dem Prinzip des Anwendungsvorranges nicht angewendet werden.
6. Lebenslange Ausweisung als strafrechtliche Nebenfolge (,,Calfa") 43 Fall 6 (EuGHE 1999, 11): Frau Calfa, eine italienische Staatsangehorige, wurde wahrend ihres Urlaubes in Griechenland im Besitz von Betaubungsmitteln aufgegriffen. Ein griechisches Gericht verurteilte die Angeklagte deshalb zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten und verfugte als strafrechtliche Nebenfolge - wie dies die einschlagigen Bestimmungen des griechischen Rechts vorsahen - ihre lebenslange Ausweisung aus Griechenland. Gegen diese Ausweisungsverfugung richtete sich das Rechtsmittel der Angeklagten.
44 Losungshinweise zu Fall 6: Es bestehen Zweifel, ob die lebenslange Ausweisung der Burgerin eines Mitgliedstaates, die sich als Touristin in einem anderen Mitgliedstaat aufhalt, mit der gemeinschaftsrechtlichen Garantie der (passiven) Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 EGV) vereinbar ist. Das fur die strafrechtliche Aburteilung der Angeklagten zustandige griechische Gericht setzte das Verfahren daher aus und legte dem EuGH gem. Art. 234 EGV die Frage vor, ob eine nationale Vorschrift, die dem Gericht im Falle eines Schuldspruches wegen Verstofles gegen Betaubungsmittelstrafrecht die lebenslange Ausweisung des Verurteilten vorschreibe, mit Gemeinschaftsrecht vereinbar sei. Der EuGH verneinte dies. Er verwies zunachst auf die primarrechtlichen Vorschriften ilber den freien Dienstleistungsverkehr (Art. 49 ff. EGV; ex-Art. 59 ff. EGV), welche nach standiger Rechtsprechung auch die Freiheit des Dienstleistungsempfangers einschlieBen, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleitung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, ohne durch Beschrankungen daran gehindert zu werden64. Touristen seien als Empfanger von Dienstleistungen anzusehen. Zwar konnen die Freizilgigkeitsrechte durch die Mitgliedstaaten aus Grunden der offentlichen Ordnung beschrankt werden (sog. ,,Ordre-public-Vorbehalt"). Da Frau Calfa die Drogen aber lediglich zum Eigenkonsum und nicht zum illegalen Handeltreiben besessen habe, liege hierin keine so schwerwiegende Gefahrdung der Gesellschaft, dass ihre lebenslange Ausweisung aus Grunden der offentlichen Ordnung ausnahmsweise gerechtfertigt erscheine65. Die lebenslange Ausweisung von Frau Calfa wurde sich daher als unverhaltnismaBige Einschrankung ihres Freiziigigkeitsrechts darstellen. Da der EuGH nur iiber die Auslegung des Gemeinschaftsrechts entscheidet (§ 4 Rn. 45; § 6 Rn. 11), bleibt es dem nationalen Gericht Uberlassen, die sich aus der Vorabentscheidung des Gerichtshofs fur das nationale Strafrecht ergebenden
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Vgl. hierzu EuGHE 1984, 377; 1989, 195; 1991, 4685, 4733 ff.; Hanf, JZ 1999, 785. E u G H E 1999, 1 1 , 2 9 ff.
D. Rechtsprechungshinweise
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Konsequenzen zu ziehen. Im Lichte der Vorrangregel kann dies im vorliegenden Fall nur darauf hinauslaufen, die innerstaatliche Strafbestimmung, auf welche die lebenslange Ausweisung der Angeklagten gesttitzt wurde, unangewendet zu lassen. Dem Rechtsmittel der Angeklagten kann somit im Ergebnis der Erfolg nicht versagt bleiben.
C. Literaturhinweise Dannecker, Die Entwicklung des Strafrechts unter dem Einfluss des Gemeinschaftsrechts, JURA 1998, 79 ders., in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 2. Kap. Rn. 124-135 Eisele, Einfuhrung in das Europaische Strafrecht, JA 2000, 896 Esser, Europaische Vorgaben fur die amtliche Lebensmitteluberwachung - Auf dem Weg zu einem europaischen Beweisverwertungsverbot, StV 2004, 221 Hecker, Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 58-65, 282-287 ders., Europaisches Strafrecht als Antwort auf transnationale Kriminalitat?, JA 2002, 723 Heise, Europaisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, 1998, S. 5-41 Herdegen, Europarecht, 5. Aufl., 2003, § 11 Jarass, Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts, 1994, S. 1 Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, 2000, S. 44-60 Oppermann, Europarecht, 2. Aufl., 1999, § 6 IV (zum Anwendungsvorrang) Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 36-56, 475-517 Schroder, Europaische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 56-102, 249-319 Streinz, Europarecht, 6. Aufl., 2003, § 3 VII (zum Anwendungsvorrang)
D. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1964, 1251 (,,Costa/ENEL" - Verhaltnis der Gemeinschaftsrechtsordnung zu den nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten) EuGHE 1978, 629 (,,Simmenfhal II" - Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber nationalem Recht) EuGHE 1979, 1629 (Strafverfahren gegen Ratti - Vorrang einer unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmung) EuGHE 1983, 2727 (Strafverfahren gegen Auer - Vorrang einer unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmung) EuGHE 1991, 4685 (,,Society for the protection of unborn children/Grogan u. a." - legaler arztlicher Schwangerschaftsabbruch als gemeinschaftsrechtlich geschiitzte Dienstleistung) EuGHE 1994, 1039 (Strafverfahren gegen Schindler - Dienstleistungsfreiheit und strafbewehrtes Verbot ungenehmigter Lotterieveranstaltungen) EuGHE 1999, 11 (Strafverfahren gegen Calfa - lebenslange Ausweisung als VerstoB gegen passive Dienstleistungsfreiheit)
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§ 9 Vorrang des Gemeinschaftsrechts
EuGH EuZW 1999, 82 (Strafverfahren gegen Bickel und Franz - Diskriminierungsverbot im Strafverfahren) EuGHE 2003, 3735 (BuBgeldverfahren gegen Steffensen — gemeinschaftsrechtliches Beweisverwertungsverbot) BVerfGE 31, 145 (uneingeschrankter Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber deutschem Gesetzesrecht) BVerfGE 73, 339 (,,Solange II-Beschluss" - relativierter Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber nationalem Verfassungsrecht) BVerfGE 75, 223 (uneingeschrankter Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber deutschem Gesetzesrecht) BGHSt 37, 168 (Steuerstrafrecht - Anwendungsvorrang einer unmittelbar anwendbaren Richtlinie)
E. Zusammenfassung von § 9 45 Nach standiger Rechtsprechung des EuGH setzt sich unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht uneingeschrankt gegen entgegenstehendes nationales Recht (einschlieBlich Verfassungsrecht) durch. Das BVerfG besta'tigt zwar den uneingeschrankten Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber deutschem Gesetzesrecht, relativiert das Vorrangprinzip jedoch, wenn die Vereinbarkeit von sekundarem Gemeinschaftsrecht mit nationalem Verfassungsrecht in Frage steht. In seinem ,,Solange II-Beschluss" legte das BVerfG dar, dass es seine Gerichtsbarkeit iiber die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht mehr austlben werde, solange die Europaischen Gemeinschaften, insbesondere die Rechtsprechung des Gerichtshofes der Gemeinschaften einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenuber der Hoheitsgewalt der Gemeinschaften generell gewahrleisten, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. 46 Nach inzwischen ganz h. M. in Rechtsprechung und Literatur genieBt das Gemeinschaftsrecht gegenuber dem nationalen Recht keinen Geltungsvorrang, sondern lediglich einen Anwendungsvorrang. Dem mit Gemeinschaftsrecht kollidierenden nationalen Recht wird also nicht die Wirksamkeit abgesprochen - es ist lediglich unanwendbar. Im Falle einer direkten Kollision zwischen mitgliedstaatlichem Strafrecht und unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht bewirkt diese Vorrangregel eine Neutralisierung der betroffenen Sanktionsvorschrift. Auch eine nicht fristgerecht umgesetzte Richtlinie kann strafbarkeitsbegrenzende Wirkung entfalten, wenn sie auch ohne einen Umsetzungsakt durch den nationalen Gesetzgeber bereits aus sich heraus klare, vollstandige, genaue und unbedingte Regelungen enthalt (,,Auer"). Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht aber kein gemeinschaftsrechtliches Gebot, nach dem unmittelbar wirkende Richtlinieninhalte die Anwendung eines Strafgesetzes generell sperren. Wie der Fall ,,Ratti" lehrt, kann sich ein Angeklagter nur dann auf ihn begilnstigendes Richtlinienrecht berafen (mit der Folge der Unanwendbarkeit der Stramorm), wenn er sich selbst richtliniengetreu verhalten hat.
E. Zusammenfassung von § 9
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Anhand von Fallen einer grenzuberschreitenden Dienstleistung (,,ungenehmigte 47 Lotterieveranstaltung") und Produktvermarktung (,,irrefilhrende Werbung") sowie am Beispiel des nach deutschem Recht strafbaren ,,Abtreibungstourismus" wurde aufgezeigt, ob und inwieweit nationale Strafbestimmungen wegen VerstoBes gegen Primarrecht unangewendet bleiben miissen. Die Vorabentscheidung des EuGH im Fall ,,Calfa" macht deutlich, dass auch strafrechtliche Sanktionen auf dem Prufstand des Gemeinschaftsrechts stehen.
§ 10 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
A. Das Rechtsinstitut der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung I. Bedeutung der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Das von Wissenschaft und Praxis im Grundsatz anerkannte Institut der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationaler Rechtsnormen erweist sich nicht nur auf dem Gebiet des Strafrechts als einer der bedeutsamsten Europaisierungsfaktoren1. Es sorgt fur eine Anpassung der innerstaatlichen Rechtsanwendung an die Wertungsvorgaben des Gemeinschaftsrechts und sichert dessen Geltungsanspruch. Der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung kommt in der Praxis schon deshalb eine besondere Bedeutung zu, weil nur auf diesem Wege auch EGRechtsakten, die innerstaatlich nicht unmittelbar anwendbar sind (Richtlinien, Empfehlungen), zu innerstaatlicher Beachtlichkeit verholfen werden kann2. Durch die Rezeption gemeinschaftsrechtlicher Wertungsvorgaben losen sich einzelstaatliche Normen nicht selten von dem Inhalt, der ihrer bisherigen, unter Umstanden schon lange zuriickreichenden nationalen Auslegungstradition entspricht. Dies mag mitunter — je nach rechtspolitischem Standpunkt - als erwilnschter oder unerwunschter Eingriff in die nationale Rechtskultur empfunden werden. Auf der anderen Seite tragt das Institut aber auch zur Schonung der nationalen Rechtsordnung bei, wenn sich bereits durch eine den gemeinschaftsrechtlichen Wertungen Rechnung tragende Rechtsinterpretation potentielle Kollisionen mit unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht und damit die Unanwendbarkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften vermeiden lassen. In Rechtsprechung und Literatur wird im Zusammenhang mit der Frage, ob und wie das Gemeinschaftsrecht bei der Interpretation nationaler Vorschriften zu berilcksichtigen ist, zumeist von richtlinienkonformer Auslegung gesprochen. Dies mag mit der ilberragenden praktischen Bedeutung der Richtlinie als Instrument zur Harmonisierung nationaler Rechtsvorschriften auf nahezu alien Tatigkeitsfeldern
Vgl. nur Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 128 und passim; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 100 und passim; Satzger, Europaisierung, S. 518; Schroder, Richtlinien, S. 333. Zur Beriicksichtigung von Empfehlungen bei der Normauslegung vgl. EuGHE 1989, 4407,4421 (Rz. 18).
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§ 10 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
der EG zusammenhangen3, andert aber nichts daran, dass es sich bei der richtlinienkonformen Auslegung nur um einen - freilich sehr bedeutsamen - Unterfall der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung handelt4. Im Ubrigen ist zu beachten, dass sich die richtlinienkonforme Auslegung als mehrphasiger Interpretationsakt5 darstellt, der sich nicht nur auf eine reine Richtlinienexegese beschranken darf, sondern auch das vorrangige Primarrecht zu berilcksichtigen hat (Rn. 23). Bei der praktischen Rechtsanwendung tritt die Richtlinie regelm&Big insoweit in den Hintergrund, als nationales Recht die Ziele der Richtlinie umfassend verwirklicht. Sie bleibt aber OrientierungsmaBstab fur die ihr konforme Auslegung des nationalen Rechts, kann Anlass zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens geben oder wird moglicherweise selbst zum unmittelbar anwendbaren, entscheidungserheblichen Rechtssatz (§ 4 Rn. 65)6.
II. Begriindung und Inhalt der Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 1. Leitentscheidungen des EuGH (,,von Colson und Kamann"; ,,Harz") 3 Als wegweisend fur die Begriindung einer Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung gelten die Entscheidungen des EuGH in den Fallen ,,von Colson und Kamann"7 und ,,Harz"8. Hintergrund beider Entscheidungen war die Frage, ob das deutsche Recht mit den Vorgaben der Gleichbehandlungsrichtlinie 76/207/EWG9 in Einklang steht. Nach der damaligen Fassung des § 611 a II BGB stand dem von einem Arbeitgeber richtlinienwidrig diskriminierten Bewerber nur Ersatz des Vertrauensschadens, also Erstattung der Fahrt- und Bewerbungskosten, zu. Eine Sanktionierung des richtlinienwidrigen Verhaltens in Form einer lediglich symbolischen Entschadigung tragt nach Auffassung des EuGH dem Erfordernis einer wirksamen Umsetzung der Richtlinie nicht ausreichend Rechnung (vgl. hierzu bereits § 7 Rn. 25). Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht bestand das Problem des Falles darin, dass einerseits die Beschrankung des nationalen Rechts auf blofien Ersatz der Bewerbungskosten nicht als gemeinschaftsrechtskonform eingestuft werden konnte, andererseits die Richtlinie keinerlei konkrete Inhalte hinsichtlich der an einen VerstoB zu knilpfenden Rechtsfolgen vorsah. Sie konnte folglich gegenilber einem Arbeitgeber des offentlichen Dienstes nicht unmittelbar angewendet werden. Die Bundesregierung auBerte im Verlauf des Vorabentscheidungsverfahrens die Auffassung, die Gewahrung von Schadensersatz sei auf der 3
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Vgl. zur Funktion der Richtlinie im Integrationsprozess Gotz, NJW 1992, 1849 ff.; Scherzberg, JURA 1992, 572, 574 ff. Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 48. Zur Beriicksichtigung von Primarrecht bei der Normauslegung vgl. EuGHE 1988, 673. Vgl. hierzu Schroder, Richtlinien, S. 408 ff, 451 ff. Klein, Everling-Festschrift, S. 641, 650. EuGHE 1984, 1891. EuGHE 1984, 1921. ABlEG1976Nr. L 39, S. 40.
A. Das Rechtsinstitut der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung
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Grundlage des § 611 a II BGB bzw. § 823 II i. V. m. § 611 a II BGB nicht ausgeschlossen10. Diese Stellungnahme diente dem Gerichtshof als Ankniipfungspunkt, um eine gemeinschaftsrechtsfreundliche Losung zu prasentieren11. Zwar war es dem EuGH verwehrt, selbst eine richtlinienkonforme Auslegung des § 611 a II BGB vorzunehmen, denn die Auslegung des nationalen Rechts ist ausschlieBlich Aufgabe der vorlegenden Gerichte (vgl. hierzu bereits § 6 Rn. 13). Der Gerichtshof stellte jedoch klar, dass die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gem. Art. 10 EGV (ex-Art. 5 EGV), alle zur Erfullung dieser Verpflichtungen geeigneten MaBnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, alien Tragern offentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten obliegen, und zwar im Rahmen ihrer Zustandigkeiten auch den Gerichten. Daraus folge, dass das nationale Gericht bei der Anwendung des nationalen Rechts, insbesondere auch der Vorschriften eines speziell zur Durchflihrung der Richtlinie erlassenen Gesetzes, dieses nationale Recht im Lichte ihres Wortlautes und des Zwecks der Richtlinie auszulegen hat, um das in Art. 249 III EGV (ex-Art. 189 EGV) genannte Ziel zu erreichen.12 Das nationale Gericht habe daher das zur Durchfuhrung erlassene Gesetz unter voller Ausschopfung des Beurteilungsspielraums, den ihm das nationale Recht einraumt, in Ubereinstimmung mit den Anforderungen des Gemeinschaftsrechts auszulegen und anzuwenden13. Wie weit die Entscheidung des EuGH in den Fallen ,,von Colsen und Kamann" und ,,Harz" fortgewirkt hat, zeigen die Reaktionen des Bundesarbeitsgerichts (BAG). Das BAG14 befand zunachst, § 611 a II BGB a. F. konne auch im Wege einer richtlinienkonformen Auslegung nicht iiber seinen Wortlaut hinaus und gegen den Willen des Gesetzgebers als Grundlage eines den Vertrauensschaden iibersteigenden Anspruchs auf Schadensersatz herangezogen werden15. Jedoch stufte das Gericht die geschlechtsspezifische Diskriminierung beim Zugang zum Beruf als allgemeine Personlichkeitsrechtsverletzung ein, die grundsatzlich einen auf § 823 I BGB gestiltzten Schadensersatzanspruch in Hohe von - im Regelfall -einem Monatsgehalt begriinden konne. Im Lichte der Gleichbehandlungsrichtlinie sei bei einem VerstoB gegen das Benachteiligungsverbot eine Sanktion zu verlangen, die iiber einen rein symbolischen Schadensersatz hinausgehe. Die Problematik dieser Judikatur bestand darin, dass sie mit der tradierten deliktsrechtlichen Dogmatik brach. Nach § 253 I BGB setzt ein Anspruch auf Schadensersatz fur immaterielle Schaden eine gesetzliche Anordnung voraus, an der es gerade fehlte. Ein Schadensersatzanspruch konnte nach der bis dahin maB10 11 12
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EuGHE 1984, 1891, 1901, 1908; 1984, 1921, 1935, 1942. Vgl. hierzu Schroder, Richtlinien, S. 332 f. m. w. N. EuGHE 1984, 1891, 1909 (Rz. 26); EuGHE 1984, 1921, 1942 (Rz. 26) - Hervorhebung durch den Verfasser. EuGHE 1984, 1891, 1909 (Rz. 27 f.); EuGHE 1984, 1921, 1942 (Rz. 27 f.) - Hervorhebung durch den Verfasser. BAGE 61, 219, 222 ff. = NJW 1990, 65 ff. § 611 a BGB wurde mittlerweile vom Gesetzgeber geandert, um den Vorgaben der EuGH-Rechtsprechung gerecht zu werden.
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gebenden Rechtsentwicklung nur bei schweren Personlichkeitsrechtsverletzungen bejaht werden, soweit dies zum Schutz dieser - aus der Verfassung abgeleiteten Rechtsposition geboten ist16. Demgegenuber bejahte das BAG einen Schadensersatzanspruch bereits fur den Regelfall der Benachteiligung ira Einstellungsverfahren, was die enorme Sprengkraft des Prinzips der richtlinienkonformen Auslegung aufzeigt. Bemerkenswert ist ferner, dass das BAG das Instrument der richtlinienkonformen Auslegung auf eine unzweifelhaft nicht zur Umsetzung der Richtlinie geschaffene Norm anwendete.
2. Gemeinschaftsrechtliche Grundlagen des Auslegungsgebotes 6 Der Gerichtshof setzte seine in den Entscheidungen ,,von Colson und Kamann" und ,,Harz" begrilndete Judikatur in der Folgezeit fort und verlangte mit mehr oder weniger gleichlautenden Begrundungsformeln unter Berufung auf Art. 10 EGV und Art. 249 III EGV eine richtlinienkonforme Auslegung desjenigen nationalen Rechts, welches der Umsetzung einer Richtlinie dient17. Im deutschen Schrifttum18 und in der hochstrichterlichen deutschen Judikatur19 stoBt dieser Begriindungsansatz des EuGH, der das Interpretationsgebot sowohl aus dem Loyalitatsprinzip als auch aus der Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 III EGV ableitet, auf breite Zustimmung. Nur vereinzelt wird die Annahme einer Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung prinzipiell abgelehnt20. Einige Vertreter der Literatur fuhren — bei grundsatzlicher Akzeptanz eines im Gemeinschaftsrecht wurzelnden Interpretationsgebotes - teilweise abweichende oder erganzende Begrilndungselemente an. Fur manche Autoren folgt die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung allein schon aus der Zielverbindlichkeit der umzusetzenden Richtlinienbestimmung. Daher sei das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung primar auf die gegenilber Art. 10 EGV speziellere Vorschrift des Art.
Zusammenfassend Deutsch, Unerlaubte Handlungen, Schadensersatz und Schmerzensgeld, 3. Aufl., 1995, Rn. 488 f. Exemplarisch EuGHE 1986, 1651, 1690; 1987, 3969, 3986; 1988, 4635, 4662; 1992, 131, 148.
Vgl. nur Bach, JZ 1990, 1108, 1111 f.; BauerlKahl, JZ 1995, 1077, 1078 f.; Burgi, DVB1 1995, 772, 774 f.; Dannecker, JZ 1996, 869, 872; Gotz, NJW 1992, 1849, 1853 f.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 92 ff.; Lutter, JZ 1992, 593, 604; Satzger, Europaisierung, S. 527 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 336 ff.; Veelken, JuS 1993, 271; a. A. Danzer-Vanotti, StVj 1991, 1, 4 ff.; Ehricke, RabelsZ 59, (1995), 598, 613 f. und Jarass, EuR 1991, S. 211, 216, die lediglich eine richtlinienkonforme Auslegung kraft innerstaatlichen Interpretationsgebotes annehmen wollen. BVerfGE 75, 223, 237; BVerfG NJW 1988, 2173; BGHZ 125, 382, 388 ? = NJW 1998, 2208, 2210; NJW 1998, 3561, 3562; NJW 1999, 948, 949; BAG 61, 209, 216; BVerwGE 89, 320, 323 f. Di Fabio, NJW 1990, 947, 953; restriktiv auch der Ansatz von Scherzberg, JURA 1993, 225, 232; vgl. hierzu die zutr. Gegenargumentation von Schroder, Richtlinien, S. 336 ff.
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249 III EGV zu stiitzen21. Es wird jedoch auch genau umgekehrt argumentiert und die Auffassung vertreten, Art. 249 III EGV konne zwar den Rechtsakten der Gemeinschaft bestimmte Wirkungen zuschreiben, nicht aber den Umgang mit kollidierendem nationalen Recht regeln. Da Fragen der Auslegungsregeln bzw. der Methodenwahl jenseits des Regelungsbereichs des Art. 249 III EGV lagen, finde auch das Gebot der richtlinienkonformen Auslegung seine gemeinschaftsrechtliche Grundlage nur in Art. 10 EGV22. Die Heranziehung des Art. 10 EGV fur die Begriindung eines Gebotes zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung tiberzeugt, denn die Mitgliedstaaten sind zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts verpflichtet (Art. 10 I EGV) und mttssen alle MaBnahmen unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des EGV gefahrden konnten (Art. 10 II EGV). Die vom EuGH postulierte Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Rechtsinterpretation vermeidet daher eine Vertragsverletzung, die sich ein Mitgliedstaat vorwerfen lassen miisste, wenn seine Organe bei der Rechtsanwendung eine Entscheidung treffen, die Gemeinschaftsrecht widerspricht. Aber auch die Berufung des Gerichtshofs auf Art. 249 III EGV tiberzeugt, denn die Inpflichtnahme der in dieser Bestimmung (im Gegensatz zu Art. 10 EGV) ausdriicklich genannten ,,innerstaatlichen Stellen", also auch der zur Rechtsanwendung berufenen staatlichen Organe, ist notwendiger Bestandteil der mitgliedstaatlichen Umsetzungsverpflichtung. Wurde sich diese nur auf die Verpflichtung zur Setzung richtlinienkonformer Rechtsvorschriften beschranken, also nur den Gesetzgeber binden, bestiinde die Gefahr, dass bei der konkretindividuellen Rechtsanwendung (z. B. durch Gerichtsurteile, Verwaltungsakte) auseinanderdivergiert, was durch einen abstrakt-generellen Rechtssatz harmonisiert worden ist23. Zusammenfassend lasst sich damit feststellen, dass eine Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts aus Art. 10 EGV und wenn es um die Umsetzung von Richtlinien geht - zusatzlich aus Art. 249 III EGV abzuleiten ist. Gebunden sind durch dieses Interpretationsgebot alle Trager offentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, also auch Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehorden.
3. Nationale Rechtsgrundlagen einer gemeinschaftsrechtsfreundlichen Auslegung Allgemein anerkannt ist, dass das Gemeinschaftsrecht auch schon im Rahmen der klassischen nationalen Auslegungskriterien Beriicksichtigung finden kann (sog. gemeinschaftsrechtsfreundliche Auslegung). Dient eine nationale Vorschrift der Umsetzung einer Richtlinie, so ftihren bereits der historische und teleologische Interpretationsansatz zur Implementierung der gemeinschaftsrechtlichen Wer21 22 23
Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 265 ff.; Bose, Strafen und Sanktionen, S. 426; Ruffler, OJZ 1997, 121, 123. Nettesheim, AoR 119 (1994), S. 261, 268. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 256; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 83 ff.; Ruffler, OJZ 1997, 121, 125 f.; Schroder, Richtlinien, S. 339 f.
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tungsvorgaben. Da der Rechtsanwender davon ausgehen darf, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte, ist die Umsetzungsvorschrift nach ihrem Sinn und Zweck im Lichte des Gemeinschaftsrechts auszulegen24. In der Literatur wird das Phanomen, dass die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung auch eine Grundlage im nationalen Recht findet, als Verdoppelung des rechtlichen Grundes bezeichnet26. Die gemeinschaftsrechtliche Fundierung des Instituts der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ist jedoch schon deshalb unverzichtbar und von maBgeblicher Bedeutung, weil nur auf ihrer Grundlage ein fur die innerstaatlichen Stellen verbindliches Interpretationsgebot begrilndet werden kann. Beruhte die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nur auf nationalen Interpretationsmaximen, so ware eine solche Auslegung stets nur zulassig, aber nicht geboten26. Auch ist zumindest zweifelhaft, ob sich eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der vor einer Richtlinie erlassenen oder nicht der Umsetzung einer Richtlinie dienenden nationalen Vorschriften auf der Basis rein innerstaatlicher Interpretationsmaximen uberhaupt begriinden lasst.
III. Gegenstand der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung 1. Umsetzungsrecht und sonstiges nationales Recht (,,Marleasing") 10 Die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung erstreckt sich zunachst auf das nationale Umsetzungsrecht, also diejenigen Vorschriften, die von den Mitgliedstaaten speziell zur Durchfuhrung einer Richtlinie erlassen worden sind. Dariiber hinaus ist jedoch nach ganz h. M. auch das sonstige nationale Recht selbst dann richtlinienkonform auszulegen, wenn es sich um Vorschriften handelt, die vor oder unabhangig vom Erlass der Richtlinie ergangen sind27. Bereits in den Urteilen ,,von Colson und Kamann" und ,,Harz" klingt durch die einleitende Wendung ,,insbesondere" an, dass der EuGH das nationale Umsetzungsrecht zwar hervorheben, jedoch daruber hinaus den gesamten innerstaatlichen Rechtsbestand als Gegenstand einer richtlinienkonformen Auslegung in Betracht ziehen will28. Ausdriicklich bestatigt wird diese Rechtskonzeption in der vielfach zitierten Entscheidung des Gerichtshofs im Fall ,,Marleasing"29. 11 In dem Ausgangsverfahren vor einem spanischen Zivilgericht ging es um die Klage einer spanischen Gesellschaft (,,Marleasing SA"), die das Ziel verfolgte, den Gesellschaftsvertrag einer anderen Gesellschaft fur nichtig zu erklaren. Die 24
Jarass, EuR 1991, 211, 217; Kohne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 145 f.; Satzger, Europaisierung, S. 525; Schroder, Richtlinien, S. 338. 25 Gellermann, Beeinflussung, S. 105. 26 Satzger, Europaisierung, S. 526. 27 Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 137; Doepner/Reese, GRUR 1998, 7 6 1 , 7 7 1 ; Gellermann, Beeinflussung, S. 106; Gotz, N J W 1992, 1849, 154; Kohler-Gehrig, JA 1998, 807, 8 1 1 ; Ruffler, OJZ 1997, 121, 125 f.; Schroder, Richtlinien, S. 339 f. 28 Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 83. 29 EuGHE 1990, 4135.
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Klagerin trug vor, dass diese Gesellschaft nur mit dem Zweck gegrilndet worden sei, um ihr - der Klagerin - den Zugriff auf das Vermogen einer weiteren Gesellschaft zu entziehen. Sie sttitzte ihren Antrag auf Vorschriften des spanischen Rechts, wonach Vertrage ohne rechtlichen Grund oder mit einem unerlaubten Grand unwirksam sind. Zum Zeitpunkt der Klageerhebung hatte Spanien die Richtlinie 68/151/EWG zur Koordinierung der Schutzbestimmungen fur Gesellschafter und Glaubiger30 noch nicht umgesetzt. Art. 11 der Richtlinie zahlt die Nichtigkeitsgrilnde abschlieBend auf, ohne die von der Klagerin vorgetragenen Grilnde explizit zu nennen. Die im Vorlageverfahren von dem spanischen Gericht gestellte Frage nach der unmittelbaren Wirkung des Art. 11 verneinte der EuGH unter Hinweis auf seine standige Rechtsprechung, nach der eine Richtlinienbestimmung nicht selbst Verpflichtungen fur den Einzelnen begranden konne. Er stellte jedoch klar, dass ein nationales Gericht die Auslegung des innerstaatlichen Rechts - unabhangig vom Zeitpunkt seines Erlasses - so weit wie moglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten milsse, um das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen und auf diesem Weg Art. 249 III EGV nachzukommen31. Der Gerichtshof begntigte sich nicht mit diesem allgemeinen Hinweis, sondern stellte dartiber hinaus sehr detaillierte Vorgaben fur die Auslegung des einschlagigen spanischen Rechts auf, die das Ergebnis der Auslegung praktisch vorprogrammierten32. Das Erforderais der richtlinienkonformen Rechtsanwendung schlieBe es aus, die Nichtigkeit einer Aktiengesellschaft aus anderen als den in Art. 11 der Richtlinie abschlieBend aufgezahlten Griinden auszusprechen. Die Entscheidung des Gerichthofs im Fall ,,Marleasing" bestatigt, dass das ge- 12 samte nationale Recht, unabhangig davon, ob es der Umsetzung einer Richtlinie dient oder nicht und gleichgultig, ob es zeitlich vor oder nach der Richtlinie erlassen wurde, richtlinienkonform auszulegen ist. Auf diese Weise durften auch keine Wertungswiderspruche entstehen, wenn der nationale Gesetzgeber nicht tatig wird (und nicht tatig werden muss), weil bereits die bestehenden Rechtsvorschriften den Richtlinienvorgaben genilgen (Rn. 15). 2. Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts ohne vorangegangene Transformationsgesetzgebung a) Richtlinie und nationales Recht Richtlinien sind gem. Art. 249 III EGV an die Mitgliedstaaten gerichtet (§ 4 13 Rn. 64). Um unmittelbare Wirkung fur die Burger zu entfalten, bedurfen sie prinzipiell der Umsetzung in das nationale Recht der Mitgliedstaaten33. Die Mitglied-
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AB1EG1968L65, S. 8. EuGHE 1990, 4135, 4159 (Rz. 8); bestatigt in EuGHE 1993, 6911, 6932 (Rz. 20); 1994, 3325, 3357 - Hervorhebung durch den Verfasser. Krit. hierzu Schroder, Richtlinien, S. 343. Nur unter besonderen Voraussetzungen kommt eine unmittelbare Wirkung nicht umgesetzter Richtlinienbestimmungen zugunsten von Unionsburgern in Betracht; vgl. hierzu EuGHE 1970, 825, 838 (Rz. 5); 1982, 53, 70 f. (Rz. 17 ff.); 1983, 2727, 2744
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staaten miissen dabei jene Formen und Mittel wahlen, „ die sich zur Gewdhrleistung der praktischen Wirksamkeit (sog. „ effet utile ") der Richtlinie unter Berticksichtigung des mit ihr verfolgten Zwecks am besten eignen "34. Die Verpflichtung zu einer den Zielsetzungen der Richtlinie entsprechenden Ausgestaltung bzw. Anpassung des nationalen Rechts fuhrt regelmafiig zu besonderen Legislativakten der Mitgliedstaaten in Form eines Gesetzes oder einer Rechtsverordnung35. Inhalt und AusmaB der erforderlichen Rechtsumgestaltung hangen davon ab, inwieweit das nationale Recht bereits den inhaltlichen Vorgaben der Richtlinie entspricht. 14 Damit die Umsetzungsnorm ihre spezifische Funktion, dem materiellen Regelungsgehalt der Richtlinie innerstaatliche Geltung zu verschaffen, erfullen kann, muss zum einen ihre tatbestandliche Fassung richtlinienkongruent ausgestaltet sein. Dies geschieht entweder durch eine wortliche Ubernahme der in der Richtlinie enthaltenen Rechtssatze oder zumindest durch Verwendung einer dem Sinngehalt der Richtlinie entsprechenden Formulierung. Nach standiger Rechtsprechung des EuGH erfordert die Umsetzung einer Richtlinie aber nicht notwendigerweise, dass ihre Bestimmungen fSrmlich oder wortlich in die nationale Rechtsordnung ubernommen werden36. Die rechtstechnischen Moglichkeiten der Transformation von Richtlinien in nationales (StrafjRecht kbnnen etwa am Beispiel des Geldwaschetatbestandes (§ 261 StGB) studiert werden37. 15 Die Notwendigkeit einer speziellen Transformationsgesetzgebung entfallt, soweit die nationale Rechtsordnung bereits ein dem sachlichen Regelungsziel der Richtlinie entsprechendes Rechtsinstrumentarium bereithalt. In diesem Fall kommt der richtlinienkonformen Auslegung die Funktion zu, eine schon vor Inkrafttreten der Richtlinie existierende mitgliedstaatliche Norm, die durch eine moglicherweise schon lange wahrende Rechtspraxis gepragt wurde, in den gemeinschaftsrechtlichen Kontext zu stellen und anhand der sich hieraus ergebenden Vorgaben neu zu interpretieren. Auf diese Weise wird ohne Zutun des Gesetzgebers - durch blofle Interpretationsakte - europaisiertes nationales (Straf)Recht in den Mitgliedstaaten erzeugt. Ein anschauliches Beispiel hierflir bietet das lebensmittelrechtliche Irrefiihrungsverbot:
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(Rz. 16); 1987, 3969, 3985 (Rz. 6 ff.); 1988, 4635, 4662 (Rz. 39 f.); Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 14 ff.; Gotz, NJW 1992, 1849, 1855. EuGHE. 1976, 497, 517 (Rz. 69/73). Zur Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten und zu den verbleibenden Entscheidungsspielraumen vgl. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 10 ff; Gellermann, Beeinflussung, S. 15 ff; Scherzberg, Jura 1992, 572, 576 ff. Vgl. nur EuGHE 1991, 2607, 2631 (Rz. 18); EuGHE 1992, 3265, 3309 (Rz. 17). Wie Vogel, ZStW 109 (1997), S. 335, 342 ff. eindrucksvoll demonstriert, bestehen bemerkenswerte sprachliche, stilistische und systematische Unterschiede bei der mitgliedstaatlichen Umsetzung der Richtlinie 91/308/EWG des Rates der Europaischen Gemeinschaften v. 10. Juni 1991 zur Nutzung des Finanzsystems zum Zwecke der Geldwasche (AB1EG 1991 Nr. L 166, S. 77).
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§ 17 I Nr. 5 LMBG38 verbietet das Inverkehrbringen von Lebensmitteln unter 16 irrefuhrender Aufmachung bzw. das Werben fur Lebensmittel mit irrefiihrenden Aussagen. Vorsatzliche Zuwiderhandlungen sind mit Strafe, fahrlassige VerstoBe mit BuBgeld bedroht (vgl. §§ 52 I Nr. 10, 53 I LMBG). Das lebensmittelrechtliche Irrefuhrungsverbot existierte als zentraler Pfeiler des deutschen Lebensmittel(straf)rechts schon lange vor dem Inkrafttreten der am 18. Dezember 1978 erlassenen Richtlinie 79/112/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten iiber die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfiir (EtikettierungsRL)39. Die genannte Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten u. a. vor, den Schutz der Endverbraucher vor irrefuhrungsgeeigneter Etikettierung bzw. Aufmachung von Lebensmitteln und Werbung sicherzustellen. Da die Richtlinie und die deutsche Bestimmung das gleiche Regelungsziel (Schutz der Verbraucher vor Tauschung) verfolgen, ist § 17 I Nr. 5 LMBG wie eine Vorschrift zu behandeln, die der Umsetzung der EtikettierungsRL in deutsches Recht dient. Zu Recht wird daher in der lebensmittelrechtlichen Literatur einhellig erkannt, dass das Verbot irrefuhrender Lebensmittelwerbung und darstellungsbezogener Tauschung im Lebensmittelverkehr zum harmonisierten Bereich des Lebensmittelrechts gehort. Als solches ist das lebensmittelrechtliche Irrefuhrungsverbot ,,im Lichte des Gemeinschaftsrechts", also richtlinienkonform auszulegen40. Der lebensmittelrechtliche Zentralbegriff der Irrefuhrung unterliegt nunmehr 17 der Definitionsmacht des EuGH und nicht (mehr) den unterschiedlichen Vorstellungen der mitgliedstaatlichen Gerichte. Folglich sind bei der Auslegung des § 17 I Nr. 5 LMBG die vom Gerichtshof entwickelten MaBstabe zugrunde zu legen. Bei der tauschungsrechtlichen Beurteilung einer bestimmten Lebensmitteldarbietung muss mithin von dem Leitbild eines verstandigen, informierten und an Informationen interessierten Verbrauchers ausgegangen werden41. Demgegeniiber unterfallt der dem traditionellen Leitbild des deutschen Lebensmittelrechts zugrunde liegende ,,fluchtige Verbraucher" nicht (mehr) dem Schutzbereich der Verbotsnorm. Eine Lebensmittelprasentation, die zwar geeignet sein mag, bei unaufmerksamen, nicht aber bei verstandigen Verbrauchern eine Fehlvorstellung hervorzurufen, darf somit von dem nationalen Lebensmittelrecht nicht (mehr) un-
Lebensmittel- und Bedarfsgegenstandegesetz i. d. F. d. Bekanntmachung v. 9. September 1997 (BGB1.1 1997, S. 2296). An seine Stelle tritt ab 1. Januar 2005 das Lebensmittel- und Futtermittelgesetzbuch (LFGB); vgl. BT-Drs. 15/3657, S. 1 ff. AB1EG 1978 Nr. L 33, S. 1; inzwischen konsolidiert durch die Richtlinie 2000/13/EG (AB1EG 2000 Nr. L 109, S. 29). Dannecker, WiVerw 1996, 190, 199; Eckert, ZLR 1979, 163, 168; Hecker, Produktwerbung, S. 102 ff.; Herbst, Grundprobleme des lebensmittelstrafrechtlichen Irrefiihrungsverbots, 2000, S. 43 ff., 171 ff.; Hohmann, WRP 1993, 225, 229 f; Zipfel, ZLR 1994, 557, 558, 563 ff.; Rathke, ZLR 1999, 189, 193 f; Schroder, Richtlinien, S. 418 f; Streinz, GRUR 1996, 16, 25. EuGHE 1990, 4827; 1995, 1923, 1944; 1998, 4657; 1999, 513; 2000, 117; 2000, 2297; vgl. hierzu Hecker, Produktwerbung, S. 50 ff; Satzger, Europaisierung, S. 589 ff.
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tersagt oder gem. §§ 52 I Nr. 10, 53 I LMBG mit Strafe oder BuBgeld bedroht werden. b) Fallbeispiel ,,Nostalgiewerbung" fur Lebensmittel 18 Fall 1 (OLG Koblenz LRE 20, 277): Lebensmittelhersteller L macht auf dem Etikett der vermarkteten Fleischerzeugnisse, die unter Verwendung des zugelassenen Zusatzstoffes Nitritpokelsalz hergestellt worden sind, die Angaben: „... Feine Kalbsleberwurst I a" ... wie Anno damals... Wurstmachen hat bei A. Tradition - 100 Jahre - und Tradition heiBt, die Wurst zu machen wie die alten Metzger..., ,,gemacht mit Zutaten wie friiher". Nach Auffassung des Wirtschaftskontrolldienstes (WKD) fiihrt diese Werbung bei den Verbrauchern zu der Vorstellung, das so beworbene Fleischerzeugnis werde mit den vor 100 Jahren ublichen Zutaten hergestellt. Dies treffe jedoch auf die Verwendung von Nitritpokelsalz nicht zu. Dass der Hersteller in einer auf der Vorderseite der Packung angebrachten Zutatenliste auf die Verwendung von Nitritpokelsalz hinweise, sei nicht geeignet, die Abweichung der Beschaffenheit der Ware von der Verkehrsauffassung ausreichend kenntlich zu machen. Frage: Kann gegen L ein BuBgeld gem. §§ 52 I Nr. 10, 53 I LMBG i. V. m. § 17 I Nr. 5 LMBG verhangt werden?
19 Losungshinweise zu Fall 1: Der BuBgeldtatbestand ist erfullt, wenn die vom WKD beanstandete Nostalgiewerbung zur Irrefuhrung der Verbraucher geeignet ist. BeurteilungsmaBstab fur diese Frage ist die Verkehrsauffassung, die wiederum maBgeblich von dem zugrunde gelegten Verbraucherleitbild gepragt wird42. Die deutschen Strafgerichte legen bei der Beurteilung beanstandeter Produktbezeichnungen bzw. Werbeslogans traditionell einen auBerst strengen Irrefuhrungsmaflstab zugrunde43. Sie orientieren sich dabei an dem Leitbild des ,,unkundigen", ,,fliichtigen" und ,,leichtglaubigen" Verbrauchers. Von diesem Ansatz aus beziehen die Gerichte auch den Verbraucher in den Schutzbereich des § 17INr. 5 LMBG ein, der Angaben auf der Verpackung allenfalls oberflachlich liest, eventuellen Risiken des beworbenen Produkts eher unkritisch gegenttbersteht und nur allzu leicht an die ihm durch die Werbung suggerierten Eigenschaften bzw. Wirkungen eines Produkts glaubt. Von diesem Standpunkt aus bestatigte das OLG Koblenz die Argumentation des WKD und somit die Ahndbarkeit des L44. 20 Diese Rechtsprechung missachtet das gemeinschaftsrechtliche Gebot richtlinienkonformer Auslegung und gerat dadurch in Widerspruch zu der wesentlich liberaleren Tauschungsschutzkonzeption des Gemeinschaftsrechts. Das straf- und buBgeldbewehrte Irrefuhrungsverbot des § 17 I Nr. 5 LMBG entspricht in seinem materiellen Regelungsgehalt den in Art. 2 EtikettierungsRL festgelegten Vorgaben. Nach Art. 2 I lit. a EtikettierungsRL darf die Etikettierung und die Art und Weise, in der sie erfolgt, nicht geeignet sein, den Kaufer irrezufiihren. Um die korrekte Unterrichtung und den Schutz des Verbrauchers vor Irrefuhrung sicherzustellen, schreibt Art. 3 I EtikettierungsRL die Verwendung bestimmter Kennzeichnungselemente vor, die bei vorverpackten Lebensmitteln auf der Verpackung oder auf einem mit ihr verbundenen Etikett anzubringen sind. Zu den obligatori42
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Vgl. hierzu Hecker, Produktwerbung, S. 33 ff.; Hohmann, Die Verkehrsauffassung im deutschen und europaischen Lebensmittelrecht, 1994, S. 35. Vgl. Hecker, Produktwerbung, S. 104 ff, 120 ff. m .w. N . O L G Koblenz L R E 20, 277 ff.
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schen Kennzeichnungselementen gehort u. a. neben der Verkehrsbezeichnung ein Zutatenverzeichnis. § 17 I Nr. 5 LMBG ist wie eine die EtikettierungsRL in nationales Recht umsetzende Norm zu behandeln. Es handelt sich insoweit um harmonisiertes Recht, auch wenn das nationale Irrefuhrungsverbot bereits vor Erlass der Richtlinie existierte. Als solches muss § 17 I Nr. 5 LMBG von den Rechtsanwendern richtlinienkonform ausgelegt werden, d. h., es ist eine sinnidentische Interpretation der in der Richtlinie und in der Umsetzungsnorm enthaltenen Regelung vorzunehmen. Nach der EtikettierungsRL reicht ein inhaltlich korrektes und vollstandiges Zutatenverzeichnis grundsatzlich aus, um die Verbraucher vor Tauschung zu schtitzen. Mit der lapidaren Behauptung, der Hinweis auf die verwendeten Zusatzstoffe in der Zutatenliste sei nicht geeignet, die Irreftlhrungsgefahr der beanstandeten Nostalgiebezeichnungen zu beseitigen, diirfen sich die nationalen Uberwachungsbehorden und Gerichte also nicht begniigen. Wie der EuGH in vielen Urteilen bestatigte, geht das Gemeinschaftsrecht bei 21 der Auslegung des Irrefuhrungsbegriffs von dem Leitbild eines ,,durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verstandigen Durchschnittsverbrauchers" aus, der gewillt und fahig ist, die ihm durch die Produktkennzeichnung und in der Werbung unterbreiteten Informationen kritisch aufzunehmen und zu verarbeiten. Der Schutz dieses MaBstabsverbrauchers vor Tauschung ist regelmaBig bereits durch eine den Anforderungen der EtikettierungsRL entsprechende Etikettierung gewahrleistet. Wohl nicht zuletzt unter dem Eindruck des bahnbrechenden ,,becel"-Urteils des BVerwG v. 23. Januar 199245 haben die deutschen Verwaltungsgerichte inzwischen erkannt, dass das Gemeinschaftsrecht eine einschneidende Anderung des Verbraucherleitbildes und damit eine Neubestimmung des lebensmittelrechtlichen IrrefUhrungsverbots bewirkt hat46. So stellte z. B. das VG Koblenz47 fest, dass Wurstkonserven unter den Bezeichnungen ,,Bauern-Leberwurst nach alter Hausschlachtungsart", ,,Original Hunsriicker Bauern-Schwartenmagen nach Original Familienrezept" oder ,,Bauern-Mettwurst" in den Verkehr gebracht werden diirfen, obwohl diese Produkte mit modernen Zusatzstoffen wie Stabilisatoren, Emulgatoren und Geschmacksverstarkern hergestellt werden. Die Verbrauchererwartung gehe nicht dahin, aus Nostalgiebezeichnungen auf vollstandige ,,Chemiefreiheit" des Erzeugnisses zu schlieBen. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung wurde vom OVG Rheinland-Pfalz als unbegritadet verworfen48. Der Senat wies in seiner Urteilsbegrilndung zutreffend darauf hin, dass bei der Interpretation des in § 17 I Nr. 5 LMBG verankerten Irrefuhrungsverbotes das Gemeinschaftsrecht - insbesondere Art. 2 EtikettierungsRL - sowie die einschlagige Rechtsprechung des EuGH zur Warenverkehrsfreiheit nicht auBer Acht gelassen werden diirfen. Unter Beriicksichtigung der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben sei hiernach entgegen der bisherigen Rechtsprechung nicht auf den ,,oberflach-
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B V e r w G E 89, 320 ff. = Z L R 1992, 528 ff. B a y V G H L R E 32, 123, 127 ff.; O V G N R W L R E 3 3 , 400, 404 ff. = Z L R 1997, 8 1 , 84 ff; OVG RhPf. LRE 33, 406 ff; BayVGH LRE 38, 400, 401; VG Koblenz LRE 32, 144 f; VG Neustadt LRE 33, 439 ff; VG Stuttgart LRE 34, 157, 160 f. V G Koblenz L R E 32, 144 f. O V G RhPf. L R E 3 3 , 406 ff.
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lichen" und ,,fluchtigen", sondern auf den ,,verniinftigen und informationsfa'higen" Verbraucher abzustellen, der seine Kaufentscheidung anhand der im Zutatenverzeichnis aufgefuhrten Angaben iiber die Zusammensetzung des Lebensmittels treffe. Da die Etikettierung der beanstandeten Produkte den Anforderungen des Art. 3 EtikettierungsRL entspreche, sei ein ausreichender Schutz des Verbrauchers vor Irrefuhrung gewahrleistet. Die Verwendung von Nostalgiebezeichnungen fuhre somit nicht zu einer rechtlich relevanten Irrefuhrung, die ein entsprechendes Bezeichnungsverbot gem. § 17 I Nr. 5 LMBG rechtfertigen konne. Losungsvorschlag: Gegen L kann nach zutreffender Ansicht keine GeldbuBe gem. §§ 52 I Nr. 10, 53 I LMBG i. V. m. § 17 I Nr. 5 LMBG verhangt werden. 22 Erganzende Hinweise: Mit der am 21. Februar 2002 in Kraft getretenen Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europaischen Parlaments und des Rates v. 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsatze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europaischen Behorde fur Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit49 wurde ein horizontaler Gesamtrahmen geschaffen, in den das gesamte nationale Lebensmittel(straf)recht eingebettet ist. Die Rahmenverordnung verpflichtet die Mitgliedstaaten u. a. dazu, betriigerische und sonst irrefuhrende Praktiken im Lebensmittelverkehr zu verhindern (§ 8 Rn. 29). Eine Anpassung des nationalen Lebensmittel(straf)rechts an das gemeinschaftsrechtliche Tauschungsschutzniveau ist somit unausweichlich. Durch das Festhalten an einem durch die europaische Rechtsentwicklung uberholten Verbraucherleitbild wird eine Auslegungsfreiheit in Anspruch genommen, die den nationalen Gerichten im Anwendungsfeld der gemeinschaftsrechtskonform zu interpretierenden Irrefuhrungsverbote nicht (mehr) zusteht.
IV. Richtlinienkonforme Auslegung als mehrphasiger Interpretationsakt 23 Die Losungshinweise zu Fall 1 machen deutlich, dass es sich bei der richtlinienkonformen Auslegung regelma'Big um einen mehrphasigen Interpretationsakt handelt50. Zumeist kann es mit der isolierten Analyse des Richtlinientextes nicht sein Bewenden haben. Denn das primare Gemeinschaftsrecht - namentlich die Grundfreiheiten und die allgemeinen Rechtsgrundsatze - uberlagern das nationale Recht und das Sekundarrecht. So kann z. B. der in der EtikettierungsRL enthaltene Begriff der ,,Irrefuhrung" nur im Lichte der sog. ,,Cassis-Rechtsprechung"51 (§ 9 Rn. 11, 29) zur primarrechtlichen Warenverkehrsfreiheit gemeinschaftsrechtskonform konkretisiert werden52. Der gesamte Auslegungsvorgang, also die Ausdeutung der nationalen Vorschrift und die der Richtlinie muss den primarrechtlichen Hintergrund (unter besonderer Beriicksichtigung der Rechtsprechung des 49 50 51 52
A B l E G 2 0 0 2 N r . L 3 1 . S . 1. Schroder, Richtlinien, S. 408 ff., 451 ff. EuGHE1979, 649, 664. Schroder, Richtlinien, S. 415 ff.
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EuGH) reflektieren, weil andernfalls nicht in jedem Fall die Gemeinschaftsrechtskonformitat des Auslegungsergebnisses gewahrleistet wird. Die Notwendigkeit einer mehrphasigen Priifung zeigt sich insbesondere in den 24 Fallen, in denen eine Richtlinie ausdriicklich strengere nationale Vorschriften zulasst, jedoch der hohere nationale Schutzstandard seinerseits eine Begrenzung in den Grundfreiheiten des EGV fmdet. Ein Beispiel hierfiir bietet das deutsche Wettbewerbsstrafrecht, das in § 16 1 UWG u. a. an die ,,Eignung zur Irrefiihrung" anknupft. Die Richtlinie 84/450/EWG des Rates zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften tiber irrefuhrende Werbung v. 10. September 1984 (WerbeRL)53 verpflichtet die Mitgliedstaaten u. a. zum Erlass geeigneter und wirksamer Rechtsvorschriften zur Bekampfung irrefuhrender Werbung. Art. 3 WerbeRL fuhrt in einem nicht abschlieGenden Katalog einige zentrale Kriterien auf, die bei der Beurteilung der Frage, ob eine Werbung irreftlhrend i. S. d. Richtlinie ist, zu beachten sind. Nach Art. 7 I WerbeRL steht es den Mitgliedstaaten jedoch frei, innerstaatliche Bestimmungen aufrechtzuerhalten oder zu erlassen, die einen weiterreichenden Schutz vor irrefuhrender Produktwerbung gewahrleisten. Das nationale Wettbewerbsstrafrecht scheint somit keine Begrenzung durch das Gemeinschaftsrecht zu erfahren. Doch dieser Schein trugt, denn die Anwendung des nationalen Verscharfungsvorbehalts wird durch die primarrechtlichen Vorgaben des Art. 28 EGV begrenzt. Bei grenzuberschreitenden Werbekampagnen ist mithin der (liberalere) IrrefuhrungsmaBstab anzulegen, der vom EuGH anhand der Warenverkehrsfreiheit entwickelt wurde54.
V. Verhaltnis der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zu nationalen Auslegungsmethoden Im Grundsatz wird die Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung des 25 nationalen Rechts zwar allgemein anerkannt. Das Verhaltnis dieses Interpretationsgebotes zu den Kriterien der nationalen Auslegungsmethoden ist jedoch von einer ,,ilberbordenden Vorrangdiskussion"55 gepragt. Dabei dreht sich der Hauptstreitpunkt um die Frage, ob der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung gegeniiber den Kriterien der grammatischen, teleologischen, historischen und systematischen Interpretation ein absoluter Vorrang zukomme (Vorrangigkeitsthese)56 oder ob Inhalt und Zielsetzung der Richtlinie grundsatzlich nur als eines von
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AB1EG 1984 Nr. L 250, S. 17. Vgl. hierzu Hecker, Produktwerbung, S. 298 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 414 f. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 131 ff. Die Vorrangigkeitsthese wird im Grundsatz vertreten von Bose, Strafen und Sanktionen, S. 425 ff.; FranzheimlKrefi, JR 1991, 402, 403; Gotz, NJW 1992, 1849, 1854; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 100; Lutter, JZ 1992, 593, 604; Spetzler, RIW 1991, 579, 580.
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mehreren gleichrangigen Auslegungskriterien zu berilcksichtigen seien (Gleichrangigkeitsthese)57. 26 Die Vertreter der Vorrangigkeitsthese stufen das Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung als ,,ranghochstes Normauslegungsprinzip" ein. Nach ihrer Auffassung beansprucht das Resultat einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung daher uneingeschrankten Vorrang vor den nach der tradierten Interpretationsmethode gewonnenen Auslegungsergebnissen. Folgerichtig mussten nach dieser Lehre auch Auslegungsresultate akzeptiert werden, welche unter Zugrundelegung der nationalen Interpretationskriterien unvertretbar erschienen. Um einer nicht unraittelbar geltenden Richtlinie zu innerstaatlicher Durchsetzung gegenuber nationalen Vorschriften zu verhelfen, ist nach einer Ansicht sogar eine Rechtsfortbildung contra legem in Kauf zu nehmen58. Aus spezifisch strafrechtlicher Sicht wird jedoch zu Recht geltend gemacht, dass - selbst bei grundsatzlicher Anerkennung der Vorrangigkeitsthese - die Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung von Straf- und BuBgeldnormen auf gemeinschaftsrechtliche Grenzen (allgemeine Rechtsgrundsatze) stoBt59. Fundamentale Strafrechtsprinzipien wie das Riickwirkungs- und Analogieverbot dttrfen also keinesfalls - auch nicht durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung - verletzt werden (Rn. 34 ff.). 27 Der Vorrangigkeitsthese kann nicht gefolgt werden. Soweit sich diese Lehre auf den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenuber dem nationalen Recht beruft, wird verkannt, dass es sich hierbei um eine Kollisionsregel handelt, die nur im Falle eines Widerspruchs zwischen unmittelbar geltendem Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht zum Zuge kommt (§ 9 Rn. 15). AuBerhalb dieser Konstellation lasst sich aus dieser Kollisionsregel kein ,,methodenbrechendes", andere Auslegungskriterien ilberspielendes Interpretationsgebot ableiten60. Die These vom absoluten Vorrang des Gebotes gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung findet auch in der Rechtsprechung des EuGH keine Grundlage. Der Gerichtshof verlangt lediglich, dass die nationalen Gerichte das in Rede stehende Interpretationsgebot im Rahmcn des ihnen durch das innerstaatliche Recht eingeraumten Beurteilungsspielraumes anwenden61, d. h., ihre Pflicht zu gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung wird durch die Auslegungsregeln der innerstaatlichen Dogmatik und durch den verfassungsrechtlich abgesteckten Rah-
Die Gleichrangigkeitsthese (h. L.) wird im Grundsatz vertreten von Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 213 ff., 247 ff; Classen, EuZW 1993, 83, 87; DanzerVanotti, StVj 1991, 1, 8; di Fabio, NJW 1990, 947 ff; Gellermann, Beeinflussung, S. 112 f; Jarass, Grundfragen, S. 93 ff; Kohne, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 93 ff, 137; Satzger, Europaisierung, S. 531 f; Schroder, Richtlinien, S. 351 ff. Besonders deutlich Lutter, JZ 1992, 593, 607. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 431 ff; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 106 ff.; Ruffler, OJZ 1997, 121, 129. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 147 ff, 247 ff; Gellermann, Beeinflussung, S. 104; Kohne, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 93; Satzger, Europaisierung, S. 531; Schroder, Richtlinien, S. 352. Vgl. nurEuGHE 1984, 1891, 1909; EuGHE 1984, 1921, 1942.
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men begrenzt. Nach den Darlegungen des Gerichthofs kommt eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nur insoweit in Betracht, als das nationale Recht dem Gesetzesanwender einen Spielraum einraumt. Dementsprechend ist der EuGH in der Rechtssache ,,Forster" allein auf die unmittelbare Wirkung der in Rede stehenden Richtlinie eingegangen, weil eine richtlinienkonforme Auslegung nach Auffassung des vorlegenden Gerichts nicht moglich war62. Indem der EuGH damit implizit von der Auslegungsfahigkeit und -bedurftigkeit innerstaatlicher Rechtsvorschriften ausgeht und die nationalen Gerichte als hierfur allein zustandige Interpretationsinstanzen anerkennt, stellt er in begruBenswerter Weise sicher, dass bedenkliche Kompetenzilbergriffe der Judikative in den Bereich der Legislative im Zuge der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung vermieden werden63. Aus der Beschrankung des Interpretationsgebotes durch die nach innerstaatlichem Recht bestehenden Auslegungsspielraume ergibt sich, dass die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen nationalen Regelung keine entgegengesetzte Bedeutung verleihen darf64. Die Ablehnung der Vorrangigkeitsthese bedeutet freilich nicht, dass der ge- 28 meinschaftsrechtskonformen Auslegung keine hervorgehobene Stellung innerhalb des nationalen Auslegungskanons zukommen konnte. Vergleichbar der verfassungs- oder volkerrechtskonformen Auslegung ist dem Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Genuge getan, wenn von mehreren nach nationaler Dogmatik und Verfassungsrecht vertretbaren Auslegungsergebnissen dasjenige gewahlt wird, welches der - etwa in einer Richtlinie zum Ausdruck gelangenden gemeinschaftsrechtlichen Wertungsvorgabe am besten entspricht. Damit nimmt die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation zwar nur den gleichen Rang wie die klassischen Auslegungskriterien ein. Jedoch genieflt sie innerhalb dieses Auslegungskanons als ,,primus inter pares" einen relativen Vorrang, den man treffend mit dem Begriff einer Vorzugsregel beschreiben kann65.
VI. Beginn der Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung Vor dem Hintergrund, dass Richtlinien den Mitgliedstaaten regelmaBig eine Frist 29 zur Umsetzung einraumen, stellt sich die Frage, ab welchem Zeitpunkt die innerstaatlichen Stellen verpflichtet sind, nationales Recht richtlinienkonform auszulegen. Einigkeit besteht darilber, dass die Richtlinie jedenfalls bei der Interpretation solcher Vorschriften zu berucksichtigen ist, die vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu dem Zweck erlassen worden sind, die Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht zu transferieren. Die Beachtlichkeit der Richtlinie fur die Ausdeutung des Umsetzungsrechts folgt hier bereits aus den Auslegungsregeln des nationalen Rechts 62 63 64 65
EuGHE 1990, 3313, 3343, 3346; vgl. hierzu Jarass, Grundfragen, S. 94; Schroder, Richtlinien, S. 359. Satzger, Europaisierung, S. 531; Schroder, Richtlinien, S. 353. Jarass, Grundfragen, S. 95. Ehricke, RabelsZ 59 (1995), 598, 623; Satzger, Europaisierung, S. 532; Schroder, Richtlinien, S. 353 f.
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(historische und teleologische Interpretation), da davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber die Richtlinie korrekt umsetzen wollte (Rn. 9)66. 30 Ob auch ohne vorangegangene Transformationsgesetzgebung bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung besteht, wird streitig diskutiert. Wenngleich sich der Gerichtshof zu dieser Frage noch nicht dezidiert geauBert hat, scheint er in der Rechtssache ,,Kolpinghuis Nijmegen"67 (Rn. 40 ff.) der Ansicht zuzuneigen, dass die innerstaatlichen Gerichte und Behorden bereits ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Richtlinie (vgl. Art. 254 EGV) eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung treffe. Ein Teil der Literatur68 stimmt dieser Auffassung zu und beruft sich zur Untermauerung dieser These auf ein weiteres Urteil, in dem der EuGH im Wesentlichen Folgendes forderte: Bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist sind die Mitgliedstaaten gehalten, keine Vorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles bei Ablauf der Umsetzungsfrist ernstlich in Frage zu stellen69. 31 Aus der hiernach bestehenden Vorwirkung einer erlassenen, aber noch nicht umgesetzten Richtlinie lasst sich jedoch keine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts vor Ablauf der Umsetzungsfrist ableiten. Der Sache nach postuliert der Gerichtshof nicht mehr als ein Vereitelungs- oder Frustrationsverbot70, wie es auch im Recht der volkerrechtlichen Vertrage bekannt ist, wahrend die richtlinienkonforme Auslegung (positiv) auf die materielle Verwirklichung der Richtlinienvorgaben gerichtet ist. Ein dahingehendes Interpretationsgebot vermag aber - wie die h. L. zutreffend erkennt - erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist zur Entstehung gelangen71. Da die Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung u. a. aus der Umsetzungsverpflichtung des Art. 249 III EGV abzuleiten ist (Rn. 6 f.), kann eine Bindung der innerstaatlichen Stellen an dieses Interpretationsgebot auch erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist in Betracht kommen. Erst ab diesem Zeitpunkt will das Gemeinschaftsrecht einen der jeweiligen Richtlinie entsprechenden Rechtszustand gesichert wissen. Auch wilrde es nicht 66
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Gellermann, Europaischer Rechtsschutz, § 33 Rn. 53; ders., Beeinflussung, S. 109 f.; Langenfeld, D O V 1992, 955, 964; Riiffler, OJZ 1997, 121, 125; Schroder, Richtlinien, S. 462. EuGHE 1987, 3969, 3987. Die Entscheidung lasst diesbezuglich jedoch einen groBen Interpretationsspielraum offen und wird dementsprechend unterschiedlich gedeutet; vgl. Gotz, NJW 1992, 1849, 1854; Riiffler, OJZ 1997, 121, 125; Satzger, Europaisierung, S. 536; Schroder, Richtlinien, S. 462. Lenz, DVB1 1990, 903, 908; Schilling, Za6RV 48 (1988), S. 637, 648; Satzger, Europaisierung, S. 535 ff. E u G H E 1997, 7 4 1 1 , 7450 f. (Rz. 50). Weifi, DVB1 1998, 572 ff. Bose, Strafen und Sanktionen, S. 427; Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 264 f.; Ehricke, E u Z W 1999, 5 5 3 ; Gellermann, Europaischer Rechtsschutz, § 33 Rn. 52; Gotz, N J W 1992, 1949, 1854; Jarass, E u R 1991, 2 1 1 , 2 2 1 ; Klein, Everling-FS, S. 6 4 1 , 646; LeiblelSosnitza, N J W 1998, 2507, 2508; Lutter, J Z 1992, 593, 605; Nettesheim, A o R 119 (1994), S. 2 6 1 , 277; Schroder, Richtlinien, S. 461 ff.; Riiffler, OJZ 1997, 121, 125.
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ilberzeugen, durch eine bereits vor Fristablauf einsetzende Inpflichtnahme der nationalen Gerichte in den legislativen Entscheidungsspielraum des mitgliedstaatlichen Gesetzgebers iiber Form und Mittel der Umsetzung einzugreifen. Da das Richtlinienrecht grundsatzlich ein innerstaatliches Gesetzgebungsverfahren durchlaufen muss, bei dem erhebliche Ermessensspielraume gegeben sein konnen, durfen die Gerichte vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht in die Rolle eines ,,Ersatzgesetzgebers" gedrangt werden. Erst dann, wenn der Mitgliedstaat seinen Umsetzungsauftrag nicht fristgerecht erfullt, besteht Anlass, dem Richtlinienrecht mittels richtlinienkonformer Auslegung des nationalen Rechts oder durch Anerkennung einer unmittelbaren Wirkung der Richtlinie zum Durchbruch zu verhelfen. Die Verwerfung einer Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung vor Ablauf 32 der Umsetzungsfrist steht jedoch der Zuerkennung einer entsprechenden Interpretationsbefugnis der Gerichte nicht entgegen, soweit nationale Rechtsdogmatik und Verfassungsrecht eine richtlinienkonforme Ausdeutung innerstaatlicher Vorschriften zulassen. So hat der BGH seine frilhere Rechtsprechung, die von einem grundsatzlichen Verbot der vergleichenden Werbung ausging, noch vor Umsetzung der Richtlinie 97/5 5/EG72 (AnderungsRL) geandert, indem er die groBe Generalklausel des § 1 UWG richtlinienkonform interpretierte73. Obwohl sich der BGH vor Ablauf der Umsetzungsfrist nicht zu einer richtlinienkonformen Auslegung verpflichtet sah, scheute er mit feinem Gespiir davor zurtick, ein richtliniengemaBes Verhalten von Wettbewerbsteilnehmern bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist als sittenwidrig i. S. d. § 1 UWG zu tadeln, um es nach Fristablauf als rechtskonform zu bewerten. Ein unzulassiger Ubergriff der Judikative in den legislativen Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers ist hierin nicht zu erblicken, da die wettbewerbsrechtliche Generalklausel gerade dazu dient, eine rasche Anpassung des nationalen Wettbewerbsrechts an aktuelle Entwicklungen zu ermoglichen. Im Ubrigen sind die Vorgaben der AnderungRL so eindeutig gefasst, dass der Gesetzgeber ohnehin nur eine Umsetzungsregelung74 treffen kann, die mit der vom BGH ,,vorweg hergestellten" Rechtslage inhaltlich Ubereinstimmt. Zusammenfassend lasst sich festhalten: Eine Pflicht zur richtlinienkonfor- 33 men Auslegung besteht erst nach Ablauf der in einer Richtlinie vorgesehenen Umsetzungsfrist. Zuvor besteht jedoch eine Befugnis der mitgliedstaatlichen Gerichte, bestehende Interpretationsspielraume des innerstaatlichen Rechts nach MaBgabe der nationalen Rechtsdogmatik und innerhalb der verfassungsrechtlichen Grenzen richtlinienkonform auszufullen.
Richtlinie 97/55/EG des Europaischen Parlaments und des Rates v. 6. Oktober 1997 zur Anderung der Richtlinie 84/450/EWG fiber irrefuhrende Werbung zwecks Einbeziehung der vergleichenden Werbung (AB1EG 1997 Nr. L 290, S. 18). BGHZ 138, 55, 64 =NJW 1998, 2208, 2210 ff.; BGHNJW 1998, 3561 ff.; BGH WRP 1999, 414 ff. Die Umsetzung der AnderungsRL erfolgte in Deutschland durch das Gesetz zur vergleichenden Werbung und zur Anderung wettbewerbsrechtlicher Vorschriften v. 1. September 2000 (BGB1.1 2000, 1347); vgl. hierzu Plafi, NJW 2000, 3161 ff.
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VII. Grenzen des Gebots gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung 34 Der sachliche Gehalt von (Straf)Gesetzen wird durch Auslegung in die praktische Rechtsanwendung umgesetzt. Die Vielfalt der Lebenssachverhalte und der rechtstatsachliche Wandel werfen immer wieder die Frage auf, ob ein konkretes Geschehen noch unter den abstrakt formulierten Rechtssatz subsumiert werden kann. Nach deutschem Methoden- und Verfassungsverstandnis ist davon auszugehen, dass fur die Auslegung einer Gesetzesbestimmung der in der Norm zum Ausdruck gelangende Wille des Gesetzgebers maBgeblich ist, wie er sich aus dem Wortlaut und dem Sinnzusaninienhang ergibt, in den die Norm hineingestellt ist75. Im Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht kommt der grammatikalischen Auslegung eine besondere Bedeutung zu, weil der mogliche Wortsinn einer Vorschrift der Auslegung mit Blick auf das in Art. 103 II GG verankerte Analogieverbot eine Grenze zieht, die nicht uberschritten werden darf6. 35 Wurde das Gebot zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung unbegrenzt gelten, so folgte hieraus eine Pflicht der innerstaatlichen Stellen, den Anwendungsbereich einer Strafbestimmung erforderlichenfalls auch ilber ihren auBersten moglichen Wortsinn hinaus auszudehnen, wenn nur auf diese Weise dem Gemeinschaftsrecht zur Durchsetzung verholfen werden konnte. Dies aber kame der Schaffung neuen Strafrechts, mithin der AnmaBung einer Strafrechtsetzungskompetenz der EG gleich, die im geltenden Gemeinschaftsrecht gerade nicht besteht77 (§ 4 Rn. 101). Die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung findet jedoch ihre Grenzen sowohl im nationalen Recht als auch im Gemeinschaftsrecht. Ein Konflikt zwischen diesen kumulativ nebeneinander stehenden Schranken ist von vornherein ausgeschlossen, da die gemeinschaftsrechtskonforme Interpretation innerstaatlicher Vorschriften nach der Rechtsprechung des EuGH78 ohnehin nur im Rahmen des nach nationalem Recht bestehenden Auslegungsspielraumes vorzunehmen ist. Folglich stellen insbesondere die im nationalen Verfassungsrecht verankerten Bindungen eine auch vom Gemeinschaftsrecht akzeptierte Auslegungsgrenze dar79. 36 Den Aussagen des EuGH zu den Grenzen des Gebotes der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung ist zu entnehmen, dass die praktische Anwendung 75 76
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Standige Rspr.; vgl. nur BVerfGE 1, 299, 312; 11, 126, 132; 105, 135, 157. BVerfGE 85, 69, 73; 105, 135, 157; BVerfG StV 2004, 254, 256; Schonke/Schrader/Erer, § 1 Rn. 24; HK-OWiG/Rogall, § 3 Rn. 51 ff.; Scheffler, JURA 1996, 505 ff; MuKoStGB/ScAmte, § 1 Rn. 55 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 355 ff. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 64 ff.; unzutreffend daher die vereinzelt gebliebene Auffassung von Thomas, NJW 1991, 2233, 2237, wonach die verfassungsrechtlichen Auslegungsgrenzen durch das Gemeinschaftsrecht gesprengt werden konnen. EuGHE 1984, 1891, 1909 (Rz. 28); EuGHE 1984, 1921, 1942 (Rz. 28); EuGHE 1994, 3325, 3357 (Rz. 26). Dannecker, J Z 1986, 869, 873; Gellermann, Beeinflussung, S. 108; Jarass, Grundfragen, S. 93 ff.; Klein, Everling-FS, S. 6 4 1 , 646; Satzger, Europaisierung, S. 533 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 355 ff.
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dieses Interpretationsgebotes auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht ungeachtet seines (relativen) Vorranges gegeniiber den nationalen Auslegungskriterien (Rn. 28) stets im Einklang mit dem nationalen Recht stehen muss. So fuhrte der Gerichtshof in der Rechtssache ,,Kolpinghuis Nijmegen" (Rn. 40 ff.) aus: „ ...Diese Verpflichtung des innerstaatlichen Gerichts, bei der Auslegung der einschldgigen Bestimmungen seines nationalen Rechts auf den Inhalt der Richtlinie abzustellen, findet jedoch ihre Grenzen in den allgemeinen Rechtsgrundsatzen, die Teil des Gemeinschaftsrechts sind, und insbesondere in dem Grundsatz der Rechtssicherheit und im Ruckwirkungsverbot. "80 In seiner Entscheidung im Fall ,,Telekom Italia" (Rn. 49 ff.) zitierte der EuGH sogar explizit das in Art. 7 I EMRK normierte Gesetzlichkeitsprinzip, um darzulegen, dass sich die Einleitung einer Strafverfolgung wegen eines Verhaltens verbiete, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergebe81. Mit dieser Schranke zieht der EuGH die logische Konsequenz aus der Verankerung des Interpretationsgebotes im Primarrecht (Rn. 6 ff.). Derm auch die allgemeinen Rechtsgrundsatze gehoren dem primarrechtlichen Gemeinschaftsrecht an, so dass die einander gegenuberstehenden, gleichrangigen Prinzipien im Wege der praktischen Konkordanz zum Ausgleich gebracht werden mussen82. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Pflicht zur gemein- 37 schaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen (Straf)Rechts ihre Grenzen sowohl im nationalen Verfassungsrecht als auch in den allgemeinen Rechtsgrundsatzen des Gemeinschaftsrechts findet. Ein praktisches Beispiel, in dem die Grenzen der gemeinschaftsrechtskonfor- 38 men Auslegung sichtbar werden, bildet der Straftatbestand der Falschbeurkundung im Amt (§ 348 StGB). Das aus Art. 10 EGV abgeleitete Assimilierungsprinzip (§ 7 Rn. 27 ff.) fordert, dass Falschbeurkundungen von EG-Beamten ebenso mit Strafe bedroht werden wie gleich gelagerte Handlungen deutscher Amtstrager (Gleichstellungserfordernis). Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 348 StGB sind taugliche Tater einer Falschbeurkundung im Amt aber nur deutsche Amtstrager (vgl. § 11 I Nr. 2 StGB). Folglich ist dieser Tatbestand keiner Auslegung zuganglich, die Falschbeurkundungen von EG-Beamten erfasst83. Eine gegen Art. 103 II GG verstoBende Interpretation contra legem wird - wie oben dargelegt - auch vom Gemeinschaftsrecht nicht gefordert. Hier liegt somit ein Versaumnis des nationalen Gesetzgebers vor, das durch eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht ausgeglichen werden kann. Der Gesetzgeber ist gefordert, eine neue Strafnorm - etwa nach dem Vorbild des EUBestG (§ 7 Rn. 76) - zu schaffen, um
EuGHE 1987, 3969, 3986 (Rz. 13); vgl. auch EuGHE 1996, 6609, 6636 (Rz. 24); EuGHE 1996, 4705, 4730 (Rz. 42). EuGHE 1996, 6609, 6637 - Hervorhebungen durch den Verfasser. Riiffler, OJZ 1997, 121, 129; Satzger, Europaisierung, S. 535; Schroder, Richtlinien, S. 360 ff. Schonke/Schroder/Cramer, § 271 Rn. 1; Satzger, Europaisierung, S. 582.
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sicherzustellen, dass Falschbeurkundungen von EG-Beamten nach deutschem Recht mit Strafe bedroht sind.
B. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht I. Aussagen des EuGH 39 Die Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung erstreckt sich auf alle Rechtsbereiche einschliefilich des Strafrechts und bezieht sowohl das Umsetzungsrecht als auch das vor oder unabhangig vom Erlass einer Richtlinie ergangene nationale Recht ein. In den nachfolgend behandelten Leitentscheidungen des EuGH - allesamt ,,leading cases" des Europaischen Strafrechts - finden sich zentrale Aussagen zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht, deren Quintessenz lautet, dass jedenfalls im strafrechtlichen Kontext ein restriktiver Umgang mit diesem Interpretationsgebot zu fordern ist84.
1. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt nicht umgesetzten Richtlinie (,,Kolpinghuis Nijmegen") 40 Die bereits mehrfach zitierte Entscheidung des EuGH in der Rechtssache ,,Kolpinghuis Nijmegen" (Fall 2) ist fur die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht von grundlegender Bedeutung, da ihre Interpretation nahezu alle Stellungnahmen zu diesem Problemkreis pragt85. Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde: 41 Fall 2 (EuGHE 1987, 3969): Gegen die Kolpinghuis Nijmegen BV wurde in den Niederlanden Anklage erhoben, weil sie im August 1984 ein Getrank - mit Kohlensaure versetztes Leitungswasser - unter der Bezeichnung ,,Mineralwasser" zum Verkauf anbot. Laut Anklage verstieB die Angeklagte damit gegen eine niederlandische Verordnung, welche es verbietet, fiir den menschlichen Genuss bestimmte Waren, die aufgrund ihrer Zusammensetzung fehlerhaft sind, zum Verkauf und zur Lieferung vorratig zu halten, wobei der Begriff ,,fehlerhaft" nicht naher definiert ist. Der gemeinschaftsrechtliche Hintergrund des Falles ergibt sich aus einer Richtlinie v. 15. Juli 198086, die festlegt, unter welchen Voraussetzungen ein Getrank als ,,Mineralwasser" vertrieben werden darf. Nach Art. 4 der Richtlinie muss Mineralwasser aus einer Quelle gewonnen werden und darf bis auf den Entzug oder die Zufugung von Kohlensaure nicht weiter behandelt worden sein. Fur die Umsetzung der Richtlinie sah Art. 15 eine Frist von vier Jahren vor (Ablauf: Juli 1984). Der zum Gegen-
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Schroder, Richtlinien, S. 380, 388. Vgl. hierzu nur Satzger, Europaisierung, S. 538 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 16 ff, 380 ff. Richtlinie 80/777/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften iiber Gewinnung von und den Handel mit naturlichen Mineralwassern (AB1EG 1980 Nr. L 229, S. 1).
B. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
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stand der Anklage gemachte Sachverhalt spielte sich also nach Ablauf der Umsetzungsfrist, aber noch vor Umsetzung der Richtlinie in niederlandisches Recht ab. In dem Vorabentscheidungsverfahren stellte sich somit die Fragen, ob die Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist unmittelbar anwendbar ist und sich die Anklagebehorde infolgedessen zu Lasten der Angeklagten auf die Richtlinienbestimmung des Art. 4 berufen konne. Des Weiteren wurde die Frage aufgeworfen, ob der im niederlandischen Recht enthaltene, aber nicht naher definierte Begriff der ,,Fehlerhaftigkeit" der Ware im Lichte der Richtlinie ausgedeutet werden kann. Losungshinweise zu Fall 2: Im Hinblick auf eine unmittelbare Wirkung der nicht 42 fristgerecht umgesetzten Richtlinie bestatigte der EuGH seine fruhere Rechtsprechung, wonach eine Richtlinienbestimmung nicht aus sich heraus, also ohne Umsetzung in nationales Recht, Verpflichtungen fur den Einzelnen begrilnden konne. Mithin antwortete er auf die beiden ersten Vorlagefragen, dass sich eine innerstaatliche Behorde nicht zu Lasten des Einzelnen auf eine Richtlinie berufen konne, deren erforderliche Umsetzung in nationales Recht noch nicht erfolgt sei87. Der Gerichtshof hat damit eine belastende, die Strafbarkeit begrundende Wirkung einer nicht fristgemafl umgesetzten Richtlinie im Verhaltnis des Staates zum Burger (sog. umgekehrt vertikales Verhaltnis) abgelehnt88. Die dritte Vorlegungsfrage filhrt vor Augen, dass eine belastende Wirkung der 43 Richtlinie auch in Form einer richtlinienkonformen Auslegung eintreten kann, da der in der niederlandischen Strafbestimmung enthaltene Begriff der Fehlerhaftigkeit der Ware mittels der Richtlinienwertung ausgefullt werden konnte. Der Gerichtshof verweist zunachst auf seine fruhere Rechtsprechung, aus der sich ein Gebot zur richtlinienkonformen Auslegung ergibt, und bestatigt damit, dass dieses Institut auch fiir den Bereich des Strafrechts bedeutsam ist. Sodann verweist er jedoch darauf, dass dieses Interpretationsgebot durch die allgemeinen Rechtsgrundsatze, die Teil des Gemeinschaftsrechts sind, insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und des Riickwirkungsverbots begrenzt wird89 Wie Generalanwalt Mischo iiberzeugend ausfuhrte, darf ein nationales Gericht 44 auch die nicht umgesetzte Richtlinie berucksichtigen, urn eine Auslegung des nationalen Rechts zu bestatigen90. Gemeint ist damit, dass bei Vorliegen mehrerer nach nationalem Recht vertretbarer Auslegungsmoglichkeiten die Richtlinienvorgabe ausschlaggebende Bedeutung erlangen kann. Auch der Gerichtshof postulierte kein grundsatzliches Verbot, nicht umgesetzte Richtlinien bei der Ausdeutung von Strafbestimmungen in den Interpretationsvorgang einfliefien zu lassen. Durch seinen Hinweis auf die gemeinschaftsrechtlichen Grenzen der gemeinschaftsEuGHE 1987, 3969, 3985 - Hervorhebungen durch den Verfasser. Dies entspricht auch der h. A. in der Literatur; vgl. Bach, JZ 1990, 1108, 1115; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 160; Kohne, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 65 ff.; Oppermann, Europarecht, Rn. 556; Satzger, Europaisierung, S. 538 ff; Schweitzer/Hummer, Europarecht, 6. Aufl., 2002, Rn. 365 f; teilweise a. A. Mansdorfer, JURA 2004, 297, 303 f; Schroder, Richtlinien, S. 5 ff, 209 ff; ders., DVB1 2002, 157 ff. EuGHE 1987, 3969, 3986 (Rz. 13). EuGHE 1987, 3969, 3979 - Hervorhebung im Original.
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rechtskonformen Auslegung stellte er jedoch klar, dass es sich verbietet, die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen auf einen unbestimmten Tatbestand zu stutzen, der erst durch die Heranziehung von Richtlinienbestimmungen eine hinreichend bestimmte Beschreibung der Verbotsmaterie erlangt. Dies kame in der Tat einer ,,verkappten" unmittelbaren Wirkung der Richtlinie zu Lasten des Einzelnen gleich, die nach standiger Rechtsprechung des EuGH unzulassig ist. Der Gerichtshof hat somit dem Versuch der niederlandischen Anklagebehorde eine Absage erteilt, die nicht umgesetzte Richtlinienbestimmung als ,,Einfallstor" fur die Konkretisierung eines unbestimmten Strafgesetzes zu funktionalisieren91.
2. Strafrechtliche Verantwortlichkeit und Richtlinienrecht im Falle einer zum Tatzeitpunkt fehlerhaft umgesetzten Richtlinie (,,Arcaro") 45 In der Rechtssache ,,Arcaro" (Fall 3) ging es um die unmittelbare Wirkung von fehlerhaft umgesetzten Richtlinien sowie um die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Umweltstrafrechts. 46 Fall 3 (EuGHE 1996, 4705): Italien hatte umweltrelevante Richtlinien fehlerhaft umgesetzt. Im nationalen Recht fehlte eine von den Richtlinien geforderte Genehmigungspflicht zur Ableitung von Cadmium, die ihrerseits strafrechtlich relevant war. Gegenstand des Strafverfahrens war eine zum Tatzeitpunkt nicht genehmigte und damit richtlinienwidrige Ableitung von Cadmium durch den von Herrn Arcaro geleiteten Betrieb. Frage: Kommt eine unmittelbare Anwendung der Richtlinien oder eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts zu Lasten des Angeklagten in Betracht?
47 Losungshinweise zu Fall 3: Rechtstheoretisch lieGe sich argumentieren, bei einer lediglich fehlerhaften Transformation einer Richtlinie sei im Gegensatz zu dem Fall einer fehlenden Umsetzung eine unmittelbare Wirkung zu Lasten des Einzelnen zuzulassen, da aus der Umsetzungsaktivitat des Mitgliedstaates regelmaBig ein Wille zur Herbeifuhrung eines gemeinschaftsrechtskonformen Rechtszustandes herzuleiten sei. Etwaige Umsetzungsdefizite konnten durch Heranziehung der entsprechenden Richtlinieninhalte geheilt werden92. Der Umstand, dass im vorliegenden Fall - anders als in dem Fall ,,Kolpinghuis Nijmegen" (Rn. 40 ff.) - nationale Umsetzungsnormen ergangen waren, veranlasste den Gerichtshof aber nicht zu einer abweichenden Gesamtwtirdigung. Der EuGH priifte nicht einmal, ob die Voraussetzungen der unmittelbaren Wirkung der einschlagigen Richtlinienbestimmungen gegeben sind, sondern verwies auf seine Rechtsprechung, nach der die Richtlinie selbst Verpflichtungen des Einzelnen nicht begriinden und auch eine strafrechtliche Verantwortung nicht festlegen oder verscharfen kann93. Was die Pflicht zu einer richtlinienkonformen Auslegung des nationalen Rechts anbelangt, wiederholte der EuGH zunachst seine ,,so weit wie moglich"-Formel aus dem Urteil ,,Marleasing" (Rn. 10 ff.). Sodann umschrieb er die Grenzen dieses Interpretationsgebots noch wesentlich pragnanter als dies in seinem Entscheidung im Fall 91 92 93
Satzger, Europaisierung, S. 5 4 1 ; Schroder, Vgl. hierzu Schroder, Richtlinien, S. 20. EuGHE 1996, 4705, 4729 f.
Richtlinien, S. 19, 382.
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,,Kolpinghuis Nijmegen" geschehen war: ,,...Diese Verpflichtung des nationalen Gerichts, bei der Auslegung der einschlagigen Bestimmungen seines nationalen Rechts aufden Inhalt der Richtlinie abzustellen, flndet jedoch ihre Grenzen, wenn eine solche Auslegung dazufuhrt, dass einem Einzelnen eine in einer nicht umgesetzten Richtlinie vorgesehene Verpflichtung entgegengehalten wird, und erst Recht dann, wenn sie dazu fu'hrt, dass auf der Grundlage der Richtlinie und in Ermangelung eines zu ihrer Umsetzung erlassenen Gesetzes die strafrechtliche Verantwortlichkeit derjenigen verschdrft wird, die gegen die Richtlinienbestimmungen v erstoften. "94 FUr die konkrete Falllosung hatte es der Gerichtshof bei dem Hinweis belassen 48 konnen, dass dem Einzelnen jedenfalls keine Verpflichtungen aus einer nicht umgesetzten Richtlinie entgegengehalten werden konnen. Mit seiner ,,erst Recht"Formel bringt der EuGH jedoch seine Zuriickhaltung gegeniiber einer strafrechtlichen Belastung durch das Richtlinienrecht sowohl in Gestalt der unmittelbaren Wirkung als auch im Wege der richtlinienkonformen Auslegung zum Ausdruck95. Als greifbares und zentrales Ergebnis dieser Entscheidung bleibt mithin die Schlussfolgerung, dass der Gerichtshof eine dem Fall ,,Marleasing" (Rn. 10 ff.) vergleichbare extensive Auslegung des nationalen Rechts im Bereich des Strafrechts nicht fordert und auch nicht billigt.
3. Erfordernis der Bestimmtheit von Richtlinie und Strafgesetz (,,Telecom Italia") Was in der Entscheidung ,,Arcaro" (Rn. 45 ff.) zum Thema Umfang und Grenzen 49 der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht mit der ,,erst Rechf'-Formel bereits anklang, wird vom Gerichtshof in dem nachfolgend behandelten Urteil in der Rechtssache ,,Telecom Italia" (Fall 4) noch weiter prazisiert. Fall 4 (EuGHE 1996, 6609): Ausgangspunkt war ein von italienischen Strafverfolgungs- 50 organen gefuhrtes Strafverfahren gegen Unbekannt. Italien hatte die EG-Bildschirmrichtlinie96 durch ein Dekret (,,decreto legislative)") umgesetzt, das die Einhaltung des nationalen Umsetzungsrechts mit Strafnormen flankierte. Der italienische Ermittlungsrichter hatte auf Antrag der Staatsanwaltschaft liber die Einholung eines Sachverstandigengutachtens zu entscheiden, welches Aufschluss darilber geben sollte, ob die Arbeitsbedingungen bei der Telecom Italia diesen Arbeitsschutzvorschriften entsprechen. Um diesen Antrag bescheiden zu konnen, stellten sich dem Ermittlungsrichter Auslegungsfragen, die er dem EuGH zur Vorabentscheidung vorlegte. Das italienische Umsetzungsrecht hatte zwar die Vorgaben der EG-Bildschirmrichtlinie konkretisiert, doch aus Sicht des vorlegenden Richters ergab sich aus dem einschlagigen Dekret nicht eindeutig, welche Arbeitnehmer den Schutzvorschriften unterfallen. Nach Art. 2 c der Richtlinie ist darauf abzustellen, ob der
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EuGHE 1996, 4705, 4730 - Hervorhebung durch den Verfasser. Satzger, Europaisierung, S. 543; Schroder, Richtlinien, S. 383 ff. Richtlinie 90/270/EWG v. 29. Mai 1990 fiber die Mindestvorschriften bezuglich der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes bei der Arbeit an Bildschirmgeraten (AB1EG 1990Nr. L156, S. 14).
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Arbeitnehmer ,,gewohnlich bei einem nicht unwesentlichen Teil seiner normalen Arbeit ein Bildschirmgerat benutzt". 51 Losungshinweise zu Fall 4: Der Gerichtshof nahm dieses Verfahren zum Anlass, seine Rechtsprechung zur richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht weiter zu vertiefen. Zunachst wiederholte er seine bereits aus fruheren Entscheidungen bekannten Leitsatze zu Umfang und Grenzen des gemeinschaftsrechtlichen Interpretationsgebots. Hierauf folgen Ausfuhrungen, die in ihrer Aussagekraft ilber seine Judikatur in den Fallen ,,Kolpinghuis Nijmegen" (Rn. 40 ff.) und ,,Arcaro" (Rn. 45 ff.) hinausreichen und deshalb der wortlichen Wiedergabe bediirfen: „ ...Insbesondere in Bezug auf einen Fall wie den des Ausgangsverfa.hrens, in dem es um den Umfang der strafrechtlichen Verantwortlichkeit geht, die sich speziell zur Durchflihrung einer Richtlinie erlassenen Rechtsvorschriften ergibt, ist festzustellen, dass der Grundsatz, wonach ein Strafgesetz nicht zum Nachteil des Betroffenen extensiv angewandt werden darf, der aus dem Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen, und, allgemeiner, dem Grundsatz der Rechtssicherheit folgt, es verbietet, die Strafverfolgung wegen eines Verhaltens einzuleiten, dessen Strafbarkeit sich nicht eindeutig aus dem Gesetz ergibt. Dieser Grundsatz, der zu den allgemeinen Rechtsgrundsdtzen gehort, die den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegen, ist auch in verschiedenen internationalen Vertrdgen verankert, u. a. in Art. 7 EMRK (...). Daher ist es Aufgabe des vorlegenden Gerichts, bei der Auslegung des zur Durchfuhrung der Richtlinie erlassenen nationalen Rechts unter Berticksichtigung des Wortlauts und des Zwecks der Richtlinie fur die Einhaltung dieses Grundsatzes zu sorgen. "97 52 Das Erfordernis der gesetzlichen Bestimmtheit von Strafnormen ist damit vom EuGH klar und eindeutig als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts eingestuft worden98. Als wegweisend muss das nun folgende Vorgehen des Gerichtshofs eingestuft werden. Er verweigerte unter Berufung auf den Bestimmtheitsgrundsatz dem vorlegenden Gericht kurzerhand die Beantwortung der Vorlagefrage, die auf eine konkretisierende Ausdeutung des Arbeitnehmerbegriffes des Art. 2 c EG-Bildschirmrichtlinie abzielte. Grundlegend formulierte der Gerichtshof wie folgt: ,,...In Anbetracht des vagen Charakters des fraglichen Ausdrucks ist den Mitgliedstaaten beim Erlass dieser Umsetzungsmafinahmen ein weites Ermessen zuzuerkennen, das im Hinblick auf den oben (...) genannten Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit von strafbaren Handlungen und Strafen die zustdndigen nationalen Behorden jedenfalls daran hindert, auf die einschldgigen Bestimmungen der Richtlinie Bezug zu nehmen, wenn sie auf dem von der Richtlinie erfassten Gebiet Strafverfahren einleiten wollen. Unter diesen Umstanden braucht diese Frage nicht beantwortet zu werden (...). " "
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EuGHE 1996, 6609, 6637 - Hervorhebungen durch den Verfasser. Hammer-Strnad, Bestimmtheitsgebot, S. 71 f.; Satzger, Europaisierung, S. 544; Schroder, Richtlinien, S. 33, 386. EuGHE 1996, 6609, 6638 - Hervorhebungen durch den Verfasser.
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Der Gerichtshof bekraftigt damit, dass er den Grundsatz ,,nulla poena sine le- 53 ge" auch im Rahmen der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung nationalen Umsetzungsrechts gewahrt wissen will. Daruber hinaus versagt er den Mitgliedstaaten die Berufung auf unbestimmte Formulierungen einer Richtlinie ,jedenfalls" dann, wenn die Auslegung unter strafrechtlichen Gesichtspunkten erfolgt. Er stellt damit eine fur die Zulassigkeit der richtlinienkonfomen Auslegung im Strafrecht geltende Voraussetzung auf. Die Richtlinie darf nur dann zur Ausdeutung eines nationalen Strafgesetzes herangezogen werden, wenn sie ihrerseits hinreichend bestimmt ist. Da demnach einer unbestimmten Richtlinie fur das Strafverfahren keine Bedeutung zukommt, war es nur konsequent, dass der EuGH im Fall ,,Telecom Italia" von einer weiteren Auslegung der EG-Bildschirmrichtlinie absah und die diesbezilgliche Vorlagefrage des nationalen Gerichts unbeantwortet lieB. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der EuGH mit seiner Ent- 54 scheidung in der Rechtssache ,,Telecom Italia" zum einen die strikte Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes bei der Auslegung nationaler Strafrechtsnormen einfordert und zum anderen die Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung fur das Strafrecht enger zieht, indem er verlangt, dass die zur Ausdeutung nationaler Strafbestimmungen herangezogene Richtlinie ihrerseits hinreichend bestimmt sein muss100. Hinzuweisen ist an dieser Stelle auf das Phanomen der sog. richtlinienbeding- 55 ten Normspaltung101. Durch eine rechtsgebietsspezifisch unterschiedliche Auslegung von Strafvorschriften und auBerstrafrechtlichen Normen kann sich die Situation ergeben, dass ein der Umsetzung einer Richtlinie dienendes Ge- oder Verbot, welches von einer Blankettstrafbestimmung (§ 7 Rn. 79) in Bezug genommen wird, im strafrechtlichen Kontext - unter Beachtung des Bestimmtheitsgrundsatzes - enger ausgelegt werden muss als im rein auBerstrafrechtlichen Zusammenhang. Es mag auf den ersten Blick befremdlich wirken, wenn ein und dieselbe Norm unterschiedlich ausgelegt wird, je nachdem, ob sie in einem Straf- oder einem Zivil- bzw. Verwaltungsverfahren zur Anwendung gelangt. Jedoch fuhrt die Normspaltung jedenfalls nicht zu rechtslogischen Widersprilchen, da nicht jedes rechtswidrige Verhalten auch bestraft werden muss102.
II. Aussagen des BGH (,,Pyrolyse-Urteil") Die gemeinschaftsrechtskonforme (hier speziell: richtlinienkonforme) Auslegung 56 einer deutschen Strafrechtsnorm wurde vom BGH erstmals in seinem viel diskutierten103 ,,PyroIyse-Urteil" v. 26. Februar 1991 praktiziert104, in dem es um die
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Schroder, Richtlinien, S. 387 f. Vgl. hierzu Satzger, Europaisierung, S. 560 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 390 ff. jew. m. w. N. Satzger, Europaisierung, S. 563. Vgl. Breuer, Im- und Export von Abfallen, S. 68 ff.; FranzheimlKrefi, JR 1991, 402 ff.; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 167 ff; Hugger, NStZ 1983, 421;
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Ausdeutung des Tatbestandsmerkmals ,,Abfall" i. S. d. § 326 I StGB ging. Dieser in enger Anlehnung an den verwaltungsrechtlichen Kontext zu bestimmende Begriff umfasst sowohl Stoffe, derer sich der Besitzer entledigen will (,,gewillkilrter Abfall"; subjektiver Abfallbegriff), als auch Stoffe, deren geordnete Entsorgung zur Wahrung des Gemeinwohls, insbesondere zum Schutz der Umwelt, geboten ist (,,Zwangsabfall"; objektiver Abfallbegriff)105. 57 Das Landgericht hatte zunachst das Vorliegen von Zwangsabfall verneint. Auch erachtete die Vorinstanz den subjektiven Abfallbegriff als nicht gegeben, da die Angeklagten den fraglichen Stoff, bei dem es sich um in Tankwagen abgefullte und kontaminierte Ole handelte, der Wiederverwertung zufuhren wollten. Nach Auffassung der Vorinstanz stand die MQglichkeit der Wiederverwendung und Weiterverwertung dieser Stoffe ihrer Qualifizierung als ,,Abfall" entgegen. Vielmehr seien sie als Wirtschaftsgut einzustufen. Der BGH trat dieser Wertung, die durchaus im Einklang mit der damals h. M. stand, entgegen. Zutreffend erkannte der Senat, dass der Abfallbegriff durch zwei EG-Abfallrichtlinien106 gemeinschaftsrechtlich besetzt war. Der EuGH hatte hierzu entschieden, dass diesen Richtlinien eine nationale Regelung widerspricht, wenn sie Stoffe oder Gegenstande von dem Abfallbegriff ausnimmt, die einer wirtschaftlichen Wiederverwertung zugefuhrt werden konnen107. In einer zweiten Entscheidung vertrat der Gerichtshof die Ansicht, die Anwendung des Richtlinienrechts konne nicht von den Vorstellungen des Besitzers der Stoffe im Hinblick auf ihre Wiederverwertung abhangen108. 58
Methodisch ging der BGH so vor, dass er zunachst auf § 1 I AbfG a. F.109 abstellte, der unter ,,Abfallverwertung" auch das Gewinnen von Stoffen oder Energie verstand. Hieraus leitete der Senat ab, dass als Abfall nicht nur anzusehen sei, was ,,reif fur die Schutthalde" sei, sondern dass auch solche Stoffe dazu zahlen konnten, die nach ihrer Wiederaufarbeitung ein Wirtschaftsgut darstellen. Entscheidend sei demnach nicht die Vorstellung des Besitzers iiber die MOglichkeit der Wiederverwertung, sondern nur, ob er sich des Stoffes als fur ihn wertlos geworden entledigen will, um ihn der Entsorgung zuzufuhren oder zufuhren zu lassen110. Bis zu diesem Punkt beschrankte sich der BGH auf eine rein national ausgerichtete Aus-
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Sack, JR 1991, 338 ff; Mansdorfer, JURA 2004, 297, 300 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 545 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 322 ff. BGHSt 37, 333. In BGHSt 43, 219, 224 ff. wird die Frage der richtlinienkonformen Auslegung als nicht entscheidungserheblich betrachtet; vgl. hierzu Schall, NStZ-RR 1998,353,355. BGHSt 37, 21, 24; 37, 333, 334; Lackner/Kiihl, § 326 Rn. 2 f.; Schonke/Schroder/Lenckner/Heine, § 326 Rn. 2 a. Richtlinie 75/442/EWG v. 15 Juli 1975 (AB1EG 1975 Nr. L 194, S. 47 und Richtlinie 78/319/EWG v. 20. Marz 1978 (AB1EG 1978 Nr. L 84, S. 43). EuGHE 1990, 1509, 1518 ff. EuGHE 1990, 1461, 1474 ff. Durch das neue Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz ist der Abfallbegriff richtlinienkonform erweitert worden, so dass sich das Auslegungsproblem von BGHSt 37, 333 heute nicht mehr stellt; vgl. Fluck, DVBL 1995, 537 ff. BGHSt 37, 333, 335.
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legung des Abfallbegriffs. Erst nachdem er festgestellt hatte, dass das innerstaatliche Recht eine Qualifizierung der tatgegenstandlichen Stoffe als Abfall zulasst, referierte er den gemeinschaftsrechtlichen Hintergrund, den er sodann als Bestatigung seines nach nationalen Auslegungskriterien entwickelten Auslegungsergebnisses heranzog111. Ohne weitere Begrundung fuhrte der BGH nur in einem Satz aus, dass die nationalen Verwaltungen und Gerichte diese Rechtsprechung (gemeint sind die Urteile des EuGH zur Auslegung der Abfallrichtlinien) bei ihrer Rechtsanwendung zu berilcksichtigen haben, wobei in einem Klammerzusatz auf BGHSt37, 168, 175 hingewiesen wird112. Der BGH praktiziert damit eine richtlinienkonforme Auslegung des nationalen 59 Strafrechts, ohne diese explizit als solche zu benennen oder naher zu begriinden. In der Literatur wird das Urteil daher nur als ,,erster vorsichtiger Schritt" der Strafgerichtsbarkeit gewiirdigt, mit dem sie sich der Problematik des Einflusses von EG-Richtlinien wenigstens genShert habe. Das Urteil sei mithin symptomatisch fur die Unsicherheit, die haufig beim Aufeinandertreffen strafrechtlicher und europarechtlicher Erwagungen herrsche113. Jedenfalls kann abschlieBend festgehalten werden, dass der BGH mit seinem ,,Pyrolyse-Urteil" die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung in den Kanon der strafrechtsrelevanten Auslegungsmethoden aufgenommen hat114.
III. Zur sog. ,,strafbarkeitserweiternden" Auslegung Einige Stimmen in der Literatur halten mit unterschiedlichen Begriindungsansat- 60 zen eine sog. ,,strafbarkeitserweiternde" gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, also die im Lichte des Gemeinschaftsrechts vorgenommene Neuinterpretation eines Strafgesetzes, die zu Ungunsten des Beschuldigten von der bisherigen nationalen Auslegungspraxis abweicht, fur schlechthin unzulassig115. Sie erblicken hierin entweder einen VerstoB gegen Art. 103 II GG, da sich der Strafanspruch nicht mehr allein auf die deutsche Strafvorschrift, sondern auf Gemeinschaftsrecht grttnde116 oder eine Missachtung des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Rechtssicherheit, da diese Rechtsanwendung im Ergebnis einer faktischen unmittelbaren
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BGHSt37, 333, 336. Der Hinweis auf BGHSt 37, 168 ist zumindest missverstandlich, da es in der zitierten Entscheidung nicht um eine richtlinienkonforme Auslegung, sondern um die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie ging; krit. hierzu Hugger, NStZ 1993, 422; Satzger, Europaisierung, S. 547. Satzger, Europaisierung, S. 547; vgl. aber auch Schroder, Richtlinien, S. 325, der eine mogliche Erklarung fur die zuruckhaltende Begrundung des BGH bietet. Dannecker, BGH-Festgabe, S. 339, 366. Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 275 ff.; Hugger, NStZ 1993, 421, 423; Kohne, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 107 ff, 115. Hugger, NStZ 1993, 421, 423.
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Anwendung des Gemeinschaftsrechts zu Lasten des Einzelnen im Staat-BurgerVerhaltnis gleichkomme117. 61 Bei genauerer Betrachtung erweist sich das von diesen Autoren diskutierte Verbot einer strafrechtserweiternden gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung jedoch als blofies Scheinproblem. Bereits die Verwendung des Schlagworts ,,Strafbarkeitserweiterung" ist im Zusammenhang mit Interpretationsvorgangen verfehlt, zumindest aber missverstandlich. Nach ganz h. M. vermag eine frahere Auslegungspraxis, die fur einen Beschuldigten gunstiger gewesen sein mag, die Gerichte nicht zu binden. Grundlage der Strafbarkeit ist immer nur das Gesetz. Eine Rechtsprechungsanderung, die sich unter Beachtung der innerstaatlichen Verfassungsvorgaben fur eine nach nationalen Auslegungskriterien vertretbare Auslegungsvariante entscheidet, ist aus verfassungsrechtlicher Sicht unproblematisch, mag die gewahlte Auslegung im konkreten Fall fur den Beschuldigten auch ungilnstiger sein als die verworfene Auslegungsvariante. Das Vertrauen in den Fortbestand einer bestimmten Auslegungspraxis wird nicht geschiitzt, da Vertrauensgrundlage allein das nationale Gesetz ist, das der Burger allein zu kennen braucht. Zu Recht geht die h. M. daher davon aus, dass ein Rechtsprechungswandel nicht dem Rilckwirkungsverbot unterliegt118. Wenn es somit schon kein Gebot einer starren, in sich verharrenden Interpretation strafrechtlicher Normen gibt, so tiberzeugt es nicht, eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung, die zu einer fur den Beschuldigten gegeniiber der friiheren Rechtsprechung ungiinstigeren Ausdeutung des Strafgesetzes fuhrt, generell fur unzulassig zu halten. Andert sich eine fur den Tater gtinstige Auslegungspraxis, ohne dass er dies bei der Tat wissen konnte, kann diesem Umstand durch Annahme eines unvermeidbaren Verbotsirrtums (§ 17 StGB) Rechnung getragen werden119. 62
Aber auch die vom Gerichtshof im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Auslegung von Strafgesetzen herangezogenen allgemeinen Rechtsgrundsatze des Gemeinschaftsrechts, insbesondere das Prinzip der Rechtssicherheit und das Rtickwirkungsverbot, stehen einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zu Ungunsten des Beschuldigten nicht entgegen. Der EuGH will nur sichergestellt wissen, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen nicht allein auf eine Richtlinie, sondern stets auf ein nationales Strafgesetz gestutzt wird. Solange nur eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegungsvariante gewahlt wird, die sich innerhalb des nach nationalem Recht moglichen Interpretationsspielraumes bewegt, also keine Auslegung contra legem darstellt, schlieBen die allgemeinen
Brechmann, Richtlinienkonforme Auslegung, S. 275; Kohne, Richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, S. 107. BVerfGE 18, 224, 240; BGHSt 41, 101, 111; BayObLG NJW 1990, 2833; OLG Frankfurt NJW 1969, 1634; Dannecker, Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 364 ff., 390; Heise, Gemeinschaftsrecht und Strafrecht, S. 116 ff.; Lackner/Kuhl, § 1 Rn. 4; Satzger, Europaisierung, S. 556; Schroder, Richtlinien, S. 328; a. A. MiiKoStGB/ Schmitz, § 1 Rn. 33 ff. OLG Dusseldorf VRS 73, 367,369; Trondle/Fischer, § 17 Rn. 9 b.
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Rechtsgrundsatze eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung nicht aus120. In diesem Rahmen ist es dem innerstaatlichen Gericht insbesondere erlaubt, eine Richtlinie als Bestatigung des aus dem nationalen Recht gewonnenen Auslegungsergebnisses heranzuziehen, wie dies z. B. der BGH in seinem ,,PyroIyseUrteil" (Rn. 56 ff.) im Hinblick auf den strafrechtlichen Abfallbegriff getan hat121. Zusammenfassend lasst sich somit festhalten: Es bestehen weder verfassungs- 63 rechtliche noch gemeinschaftsrechtliche Bedenken dagegen, unter Heranziehung von Gemeinschaftsrecht zu einer Neuinterpretation eines Strafgesetzes zu gelangen, die fur den Angeklagten ungiinstiger ist als eine fruher vertretene Ausdeutung, solange das Auslegungsergebnis nicht die vom Wortlaut der Norm gezogene Grenze iiberschreitet. Dem Vertrauen des Angeklagten in den Fortbestand einer friiheren, fur ihn gtinstigen Rechtsanwendungspraxis kann bei der Priifung der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums (§ 17 StGB) Rechung getragen werden.
IV. Anwendungsfelder der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht Im Folgenden sollen anhand einiger exemplarisch ausgewahlter Straftatbestande, 64 mogliche Anwendungsfelder der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung im Strafrecht aufgezeigt werden122.
1. Amtsanmaliung (§ 132 StGB) § 132 StGB schiltzt die Autoritat des Staates und seiner Organe als Voraussetzung 65 fur die Funktionsfahigkeit der staatlichen Verwaltung und Rechtsprechung123. Es stellt sich die Frage, ob auch die Autoritat der supranationalen Organe der EG vom Schutzbereich dieser Strafhorm erfasst wird. Ein Teil der Literatur steht auf dem Standpunkt, ein ,,offentliches Amt" konne nur ein inlandisches sein124. Filr diese Ansicht spricht die systematische Interpretation des § 132 StGB. Offentliche Amter werden von ,,Amtstragern" wahrgenommen und bei diesen handelt es sich nach der Legaldefinition § 11 I Nr. 2 StGB um nach deutschem Recht bestellte Funktionstrager. Jedoch ist der Wortlaut des § 132 I StGB fur eine weitere Ausdeutung offen, da unter einem ,,6ffentlichen Amt" auch Amter der EG - als Trager supranationaler Hoheitsgewalt - verstanden werden konnen. § 132 StGB ist somit ein der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung prinzipiell zuganglicher Tatbe-
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Bose, Strafen und Sanktionen, S. 432 f.; Riiffler, OJZ 1997, 121, 129; Satzger, Europaisierung, S. 557 ff.; Schroder, Richtlinien, S. 382. BGHSt 37, 333, 336. Vgl. hierzu die ausfiihrliche Darstellung von Satzger, Europaisierung, S. 571-641; weitere Anwendungsbeispiele finden sich bei Schroder, Richtlinien, S. 41CM-65. BGHSt 12, 30, 31; 40, 8, 12; Schdnke/Schroder/Crawer, § 132 Rn. 1; TronAldFischer, § 132 Rn. 2; Lackner/Kiihl, § 132 Rn. 1. LK-v. Bubnoff, § 132 Rn. 10; Trondle/'Fischer, § 132 Rn. 4, vor § 3 Rn. 9.
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stand125. Angesichts der vielfaltigen Verwaltungskompetenzen der EG konnte ein Vertrauensverlust beim Burger durch unberechtigte Inanspruchnahme hoheitlicher Funktionen zu schwerwiegenden Storungen bei der Aufgabenerftillung der Gemeinschaft fuhren. Die EG bedarf daher ebenso des strafrechtlichen Schutzes wie ihn § 132 StGB im innerstaatlichen Bereich gewahrleistet. Das aus Art. 10 EGV abzuleitende Assimilierungsgebot legt den Mitgliedstaaten u. a. die Pflicht auf, den EG-Interessen einen gleichwertigen strafrechtlichen Schutz angedeihen zu lassen wie den entsprechenden nationalen Schutzgutern (Gleichstellungserfordernis; vgl. § 7 Rn. 27 ff.). Der fur eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung offene Tatbestand des § 132 StGB ist daher im Lichte des Art. 10 EGV dahingehend auszulegen, dass er auch ,,6ffentliche Amter der EG" erfasst126. Der Sinn des § 132 StGB wird durch diese weite, aber innerhalb der Wortlautgrenze liegende Ausdeutung nicht verfalscht oder in sein Gegenteil verkehrt. Eine entsprechende Klarstellung durch den Gesetzgeber - etwa in Form einer Gleichstellungsklausel ware angesichts des Streitstandes in der Literatur jedoch wunschenswert127. 66 Beispielsfall: Privatdetektiv A gibt sich zu Unrecht als Mitarbeiter der Europaischen Betrugsbekampfungsbehorde OLAF aus und nimmt in einem Betrieb Handlungen vor, zu denen nach der Verordnung Nr. 2185/96 des Rates v. 11. November 1996 betreffend die Kontrollen und Uberprtifung vor Ort durch die Kommission zum Schutz der fmanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften vor Betrug und anderen UnregelmaBigkeiten128 nur OLAF-Bedienstete befugt sind (§ 4 Rn. 28 ff.). Nach hier vertretener Auffassung hat sich A gem. § 132 I, 1. Alt. StGB strafbar gemacht. Falls A im Ausland gehandelt hat, ergibt sich die Anwendbarkeit deutschen Strafrechts aus § 6 Nr. 9 StGB, der als internationalstrafrechtliche ,,Auffangnorm" sicherstellt, dass deutsche Strafbestimmungen, die dem Schutz von Gemeinschaftsinteressen dienen, auf extraterritoriale Taten anwendbar sind129 (§ 2 Rn. 54).
2. Verwahrungsbruch (§ 133 StGB) 67 § 133 StGB schutzt die staatliche Gewalt iiber Sachen in dienstlichem Verwahrungsbesitz und das Vertrauen in deren sichere Aufbewahrung130. Wie bei § 132 StGB spricht auch bei § 133 StGB der systematische Zusammenhang mit der Aufgabenerflillung des offentlichen Dienstes fur eine Schutzzweckbeschrankung auf inlandische Rechtsgiiter131. Da der Wortlaut der Norm jedoch keine Beschrankung auf solche Sachen vorsieht, deren Verwahrung auf deutsche Hoheits125
126
127
Nicht gefolgt werden kann LK-v. Bubnoff, § 132 Rn. 10, der von einem ,,eindeutigen VerstoB gegen das Analogieverbot" spricht. Lackner/K«W, § 132 Rn. 4; SK-Rudolphi, § 132 Rn. 6; Satzger, Europaisierung, S. 572. Eine (aus seiner Sicht konstitutive) gesetzliche Regelung fordert Tron&\dFischer, § 132 Rn. 4.
128
ABlEG1996Nr. L 292, S. 2.
129
MuKoStGBA4m6o.s, Vor §§ 3-7 Rn. 16. BGHSt 38, 381, 386; TrondldFischer, § 133 Rn. 2; Lackner/Kuhl, § 133 Rn. 1.
130
131
TmM\dFischer, Vor § 3 Rn. 9.
B. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
357
gewalt zuruckzufuhren ist, kommt auch hier prinzipiell eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Tatbestandes dahingehend in Betracht, dass auch solche Sachen dem Schutzbereich unterfallen, deren Verwahrung auf die Ausubung von Gemeinschaftsgewalt zuriickgeht. Dem Loyalitatsgebot des Art. 10 EGV folgend, muss sichergestellt werden, dass die dienstliche Verfilgungsgewalt von EG-Behorden den gleichen strafrechtlichen Schutz geniefit wie die von deutschen Behbrden (§ 7 Rn. 34). § 133 StGB ist daher gemeinschaftsrechtskonform dahingehend auszulegen, dass unter ,,dienstlicher Verwahrung" auch eine solche fallt, die sich auf gemeinschaftsrechtliche Hoheitsgewalt zuruckfuhren lasst132. Beispielsfall: A nutzt einen Aufenthalt in den Raumlichkeiten von OLAF, um Schriftstiicke 68 (oder andere bewegliche Sachen), die sich in dienstlicher Verwahrung der Euro-paischen Betrugsbekampfungsbehorde befinden, an sich zu nehmen und zu vernichten. Nach hier vertretener Auffassung ist er gem. §§ 133 I, 6 Nr. 9 StGB strafbar.
3. Aussagedelikte (§§ 153 ff. StGB) Aus dem Assimilierungsgebot des Art. 10 EGV folgt, dass die europaische 69 Rechtspflege den gleichen strafrechtlichen Schutz beanspruchen kann wie die deutsche (§ 7 Rn. 34). Der Wortlaut der §§ 153, 154, 156, 160 StGB ist offen fur eine Interpretation, die auch den EuGH bzw. das EuG als ,,Gericht" bzw. eine ,,zur Abnahme von Eiden zustandige Stelle" begreift. Alle Aussagedelikte sind daher auch auf (uneidliche und eidliche) Falschaussagen von Zeugen und Sachverstandigen anwendbar, die vor dem EuGH bzw. dem EuG begangen werden133. Die Anwendbarkeit des § 154 StGB folgt bereits aus der primarrechtlichen Assimilierungsbestimmung des Art. 30 der Satzung des EuGH134 (§ 7 Rn. 11 ff.).
4. Urkundendelikte (§§ 267, 271, 274, 348 StGB) Wie bereits dargelegt (Rn. 38), ist der Tatbestand der Falschbeurkundung im Amt 70 (§ 348 StGB) nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm keiner Auslegung zuganglich, welche die Falschbeurkundung durch EG-Beamte erfasst. Diese Tat kann nur von einem deutschen Amtstrager begangen werden (vgl. § 11 I Nr. 2 StGB)135. Demgegeniiber ist der Tatbestand der Urkundenfalschung (§ 267 StGB) von 71 seinem Wortlaut her offen fur eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung. Diese Bestimmung schutzt die Sicherheit und Zuverlassigkeit des Beweisverkehrs mit Urkunden136. Nach zutreffender Auffassung wird damit nicht nur der inlandische, sondern auch der auslandische oder supranationale Rechtsverkehr geschutzt, also Groblinghoff Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 42, 71; Lackner/£«W, § 133 Rn. 3; Satzger, Europaisierung, S. 573. Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 72 f.; Satzger, Europaisierung, S. 575 ff.; a. A. TrondldFischer, vor § 3 Rn. 9; Lackner/Kiihl, Vor § 153 Rn. 2. Satzung des EuGH (EG) v. 17. April 1957 (BGB1. II 1957, 1166); aktuelle Fassung in Sartorius II Nr. 245. Satzger, Europaisierung, S. 582. BGHSt 9, 44, 45; Tron&XdFischer, § 267 Rn. 1 ; Lackner/SW, § 267 Rn. 1.
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§ 10 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
z. B. die Vorlage einer unechten oder verfalschten Urkunde bei einer europaischen Institution137. Entsprechendes gilt fur die Urkundenunterdrilckung (§ 274 StGB). 72 Schwieriger zu beurteilen ist die Frage, ob § 271 StGB einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zuganglich ist. Dem Wortlaut nach steht einer Einbeziehung von Urkunden mit Bezug zum Gemeinschaftsrecht nichts im Wege. Unter ,,6ffentlichen Urkunden" konnten mithin auch solche Urkunden zu verstehen sein, die von einer EG-Behorde oder von einer auslandischen Stelle im Rahmen der Durchfuhrung von Gemeinschaftsrecht ausgestellt werden138. Gegen diese Auslegung konnte aber das systematische Argument sprechen, dass § 271 StGB nur der SchlieBung einer Lilcke diene, die daraus resultiert, dass § 348 StGB nur von deutschen Amtstragern (Sonderdelikt!) begehbar ist. Ohne die Regelung des § 271 StGB waren Handlungen, die darauf abzielen, einen Amtstrager zur Herstellung einer falschen Urkunde zu veranlassen, nicht strafbar, da die allgemeinen Grundsatzen der mittelbaren Taterschaft nicht eingreifen. Da § 271 StGB also nur eine Strafbarkeitsliicke schlieBt, lieBe sich argumentieren, dass der Anwendungsbereich des § 271 StGB im Hinblick auf seine Tatobjekte (falsche offentliche Urkunden deutscher Amtstrager) nicht ttber den des § 348 StGB hinausgehen kann. Der Wortlaut der Norm lasst freilich eine weitergehende Auslegung zu, ohne hierdurch den Sinn der Strafbestimmung zu verfalschen. Im Hinblick auf das aus Art. 10 EGV abzuleitende Gleichstellungsgebot (§ 7 Rn. 27 ff.) sollte § 274 StGB daher gemeinschaftsrechtskonform dahingehend ausgelegt werden, dass auch die offentliche Beweiskraft von Urkunden mit EG-Bezug geschiltzt wird139.
5. Umweltdelikte (§§ 324 a I, 3251, II, 325 a I, II StGB) 73 Fraglich ist, ob bei verwaltungsakzessorisch ausgestalteten Umweltdelikten, die wie §§ 324 a I, 325 I, II, 325 a I, II StGB - an die ,,Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten" (vgl. § 330 d Nr. 4 StGB) anknupfen, nur VerstoBe gegen deutsches Verwaltungsrecht tatbestandsrelevant sind140. Demnach ware z. B. eine Strafbarkeit gem. § 325 I, II StGB wegen grenzuberschreitender Luftverunreinigung durch eine im Ausland betriebene Anlage ausgeschlossen, wenn hierdurch zwar gegen auslandisches, nicht aber gegen deutsches Verwaltungsrecht verstoBen wird (vgl. hierzu bereits Fall 4 in § 2 Rn. 40 ff.). Richtigerweise ist aber davon auszugehen, dass eine Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten auch darin liegen kann, dass der Tater gegen unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht oder gegen harmonisiertes nationales Umweltrecht verstOBt141. 74 Der Umweltschutz wird heute maBgeblich durch die Umweltpolitik der EG gepragt. Zum Schutz und zur Erhaltung der Umwelt wurden in den zuriickliegenden dreiBig Jahren einige hundert Rechtsakte erlassen. Bereits seit Anfang der 1970er 137 138 139 140
141
Lackner/Ktihl, § 267 Rn. 1; Satzger, Europaisierung, S. 579. Satzger, Europaisierung, S. 581. Lackner/£w«, § 271 Rn. 5; Satzger, Europaisierung, S. 580 ff. So die Auffassung von Trondle/'Fischer, Vor § 3 Rn. 9; Wimmer, ZfW 1991, 140, 146 ff. Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 898 ff.
B. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung im Strafrecht
359
Jahre setzte die Gemeinschaft europaisches Umweltrecht auf der Grundlage einer dynamischen Handhabung des Vertrages, insbesondere einer extensiven Interpretation der in Art. 100 und 235 EGV enthaltenen Harmonisierungskompetenzen142. Eine bedeutsame Aufwertung erfiihr der gemeinschaftliche Umweltschutz mit dem Inkrafttreten der EEA im Jahre 1987 durch die Einftlgung eines besonderen Umweltkapitels in den EGV (ex-Art. 130 r-t EGV; heute Art. 175 ff. EGV), welches spater durch die Vertrage von Maastricht und Amsterdam143 weiterentwickelt wurde. Fortan stellte der Umweltschutz nicht mehr ein blofies Mittel zur Verwirklichung des Binnenmarktes, sondern ein eigenstandiges Vertragsziel dar144. Vor dem Hintergrund der Entwicklung des Europaischen Umweltschutzrechts 75 kann es keinem Zweifel unterliegen, dass den Mitgliedstaaten im Lichte des Gebotes der Gemeinschaftstreue (Art. 10 EGV) die Verpflichtung obliegt, ihr nationales Sanktionensystem zum Zwecke einer effektiven Durchsetzung des umweltschutzrelevanten Gemeinschaftsrechts zu funktionalisieren. Dies bedeutet konkret, dass die Anwendbarkeit von Tatbestanden des deutschen Umweltstrafrechts, die an die Verletzung verwaltungsrechtlicher Pflichten anknilpfen, auch in den Fallen sichergestellt sein muss, in denen der Tater gegen ein im Gemeinschaftsrecht wurzelndes Gebot verstoBt. Denkbar ist in diesem Zusammenhang die Schaffung einer Gleichstellungsklausel nach dem Vorbild des § 264 VII Nr. 2 StGB, durch die klargestellt wird, dass auch dem VerstoB gegen gemeinschaftsrechtlich begriindete Pflichten Tatbestandsrelevanz zukommt. Zum gleichen Ergebnis filhrt aber bereits eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des Merkmals ,,verwaltungsrechtliche Pflichten". Diese Tatbestandsformulierung ist in Befolgung des gemeinschaftsrechtlichen Assimilierungsgebotes so auszulegen, dass die nach der Legaldefinition des § 330 d Nr. 4 StGB tatbestandsrelevanten ,,Rechtsvorschriften" nicht nur deutsche Umweltgesetze, sondern auch EGVerordnungen145 sowie das gesamte harmonisierte Umweltverwaltungsrecht des Staates erfassen, auf dessen Territorium die tatbestandsmaBige Handlung begangen wird. Die Legaldefinition des § 330 d Nr. 4 StGB verwandelt sich durch diese Auslegung pro communitate in eine Gleichstellungsklausel und die betroffenen Strafbestimmungen in europarechtsakzessorische Tatbestande, die dem europaischen Umweltstrafrecht zuzuordnen sind. Gegen den Betreiber einer in einem angrenzenden Mitgliedstaat betriebenen Anlage kann daher wegen grenziiberschreitender Luftverunreinigung nach deutschem Strafrecht (§ 325 I, II StGB) vorge-
Vgl. BreierlVygen, in Lenz (Hrsg.), EG-Vertrag, 2. Aufl., 1999, Vorbem. Art. 174-176 Rn. 1; Hailbronner, EuGRZ 1989, 101, 103; Nicklas, Implementationsprobleme des EG-Umweltrechts unter besonderer Beriicksichtigung der Luftreinhalterichtlinien, 1997, S. 23 ff.; Scheuing, EuR 1989, 153 ff. Art. 2 EGV schreibt mit der Amsterdamer Vertragsanderung ein hohes MaB an Umweltschutz und an Verbesserung der Qualitat der Umwelt als Aufgabe der Gemeinschaft ausdrucklich fest. Vgl. zum Umweltschutz auf europaischer Ebene Epiney, Umweltrecht in der Europaischen Union, 1997, S. 10 ff., 93 ff, 113 ff; Frenz, Europaisches Umweltrecht, 1997, §§ 1-2. Schonke/Schroder/Cramer, § 330 d Rn. 12.
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§ 10 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
gangen werden, wenn er gegen harmonisiertes Umweltrecht verstoBt. Voraussetzung ist allerdings, dass eine Strafrechtsanwendungsbestimmung die Ausdehnung deutscher Strafgewalt gestattet (vgl. hierzu § 2 Rn. 41 ff).
6. Fahrlassigkeitsdelikte 76 Gemeinschaftsrecht kann sich auf die Auslegung generalklauselartiger Tatbestandsmerkmale auswirken146. Ein Hauptanwendungsfall sind die Fahrlassigkeitsdelikte, die eine fahrlassig begangene Handlung (z. B. § 52 I Nr. 10, 53 I LMBG i. V. m. § 17 I Nr. 5 LMBG) oder das fahrlassige Verursachen eines Erfolgs (z. B. §§ 222, 229, 306 d I StGB) mit Strafe bedrohen. 77 Das Fahrlassigkeitsmerkmal kniipft an die Verletzung einer Sorgfaltspflicht an. Inhalt der Sorgfaltspflicht ist es, die aus dem konkreten Verhalten erwachsenen Gefahren fur das geschutzte Rechtsgut zu erkennen und sich darauf richtig einzustellen, also die gefa'hrliche Handlung nur unter ausreichenden Sicherheitsvorkehrungen vorzunehmen oder ganz zu unterlassen. Art und MaB der anzuwenden Sorgfalt ergeben sich nach h. M. aus den Anforderungen, die bei einer Betrachtung der Gefahrenlage ex ante an einen besonnenen Menschen in der konkreten Lage und in der sozialen Rolle des Handelnden zu stellen sind147. In zahlreichen Lebens- und Arbeitsbereichen kann der Rechtsanwender bei der Ausfullung der Sorgfaltspflicht auf sog. Sondernormen zuruckgreifen. Dabei handelt es sich um auBerstrafrechtliche (nicht notwendigerweise gesetzliche) Verhaltensvorschriften oder allgemeine Erfahrungssatze, die zum Ausdruck bringen, wie sich der Einzelne in einer konkreten Situation zu verhalten hat (z. B. Verkehrsregeln, Unfallverhutungsvorschriften, Sport- und Wettkampfregeln, anerkannte Regeln der Technik, arztliche Kunstregeln etc.)148. Wenn sich der Tater an eine rechtlich verbindliche Sondernorm gehalten hat, wird man ein sorgfaltswidriges Verhalten regelmaBig ausschlieBen milssen (Aspekt des erlaubten Risikos)149. Der Riickgriff auf Sondernormen bildet das dogmatische ,,Einfallstor" zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung von Fahrlassigkeitstatbestanden. Gemeinschaftsrechtliche Sondernormen konnen sich aus unmittelbar anwendbaren EG-Vorschriften oder weitaus haufiger - aus Richtlinien ergeben150. 78 Beispiel: Die RL 88/378/EWG des Rates v. 3. Mai 1988 zur Angleichung von Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten iiber die Sicherheit von Spielzeug151 bestimmt, dass die Mitgliedstaaten alle zweckdienlichen MaBnahmen treffen, damit Spielzeug nur in den Verkehr gebracht werden kann, wenn es den in Anhang II angegebene wesentlichen Sicherheitsanforderungen entspricht. Dieser Anhang enthalt teilweise auBerst konkrete Sicherheitsanforderungen, wie z. B. die Festsetzung von Hochstmengen bestimmter gesundheitsgefahrden146 147
148 149 150 151
Vgl. hierzu ausfuhrlich Satzger, Europaisierung, S. 606 ff. BGHSt 7, 307, 309; 20, 315, 321; 37, 184, 187 ff.; BGH NJW 2000, 2754, 2758; Wesse\s/Beulke, AT, Rn. 669; LacknerIKiihl, § 15 Rn. 37; KKOWiG-Rengier, § 10 Rn. 18. Vgl. hierzu nur Bohnert, ]R 1982, 6; Lackner/Kiihl, § 15 Rn. 39. Satzger, Europaisierung, S. 609 ff. Satzger, Europaisierung, S. 612 ff. AB1EG 1988 Nr. L 187, S. 1 ff.
C. Literaturhinweise
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der Stoffe in Kinderspielzeug. Diese Richtlinienvorgaben sind so konkret, dass sie zumindest als Indiz fur die anzuwendende Sorgfalt herangezogen werden konnen152. Freilich muss erst noch durch Auslegung der Richtlinie ermittelt werden, ob diese nur einen bestimmten Mindeststandard oder einen Hochststandard herbeiftihren will153. Sollte sich hierbei ergeben, dass die Richtlinie nur auf die Herstellung eines geraeinschaftsweiten Mindeststandards abzielt, so steht es den Mitgliedstaaten frei, im innerstaatlichen Recht strengere Sicherheitsanforderungen zu stellen, deren Verletzung in eine strafrechtliche Fahrlassigkeitshaftung miinden kann.
C. Literaturhinweise Brechmann, Die richtlinienkonforme Auslegung, 1994, passim Danzer-Vanotti, Richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung, StVj 1991, 1 Dannecker, in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 2. Kap. Rn. 136-150 Gellermann, Beeinflussung des deutschen Rechts durch Richtlinien der EG: dargestellt am Beispiel des europaischen Umweltrechts, 1994, passim Hecker, Die Strafbarkeit grenzuberschreitender Luftverunreinigungen im deutschen und europaischen Umweltstrafrecht, ZStW 115 (2003), S. 880 Heise, Europaisches Gemeinschaftsrecht und nationales Strafrecht, 1998, S. 42-207 Hugger, Zur strafbarkeitserweiternden richtlinienkonformen Auslegung deutscher Strafvorschriften, NStZ 1993, 421 Jarass, Richtlinienkonforme bzw. EG-rechtskonforme Auslegung nationalen Rechts, EuR 1991,211 ders., Grundfragen der innerstaatlichen Bedeutung des EG-Rechts: die Vorgaben des Rechts der Europaischen Gemeinschaft fiir die nationale Rechtsanwendung und die nationale Rechtsetzung nach Maastricht, 1994, passim Kb'hne, Die richtlinienkonforme Auslegung im Umweltstrafrecht, 1997, passim Kohler-Gehrig, Europarecht und nationales Recht - Auslegung und Rechtsfortbildung, JA 1998, 807 Klein, Objektive Wirkungen von Richtlinien, in: Due/Lutter/Schwarze (Hrsg.), Festschrift furEverling, Bd. 1, 1995, S. 641 Lutter, Die Auslegung angeglichenen Rechts, JZ 1992, 593 Mansdorfer, Einfuhrung in das Europaische Umweltstrafrecht, JA 2004, 297 Nettesheim, Auslegung und Fortbildung des nationalen Rechts im Lichte des Gemeinschaftsrechts, A6R 119 (1994), 261 Mffler, Richtlinienkonforme Auslegung nationalen Rechts, OJZ 1997, 121 Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 518-642 Scherzberg, Richtlinie als Instrument der Europaischen Integration, Jura 1992, 572 ders., Die innerstaatlichen Wirkungen von EG-Richtlinien, JURA 1993, 225 Schroder, Europaische Richtlinien und deutsches Strafrecht, 2002, S. 321-465
152
153
Satzger, Europaisierung, S. 615. Vgl. zum Einfluss der EG-Produktsicherheitsrichtlinie auf die sog. ,,Kettenverantwortlichkeit" im Lebensmittelstrafrecht Hecker, Produktwerbung, S. 206 ff.; Satzger, Europaisierung, S. 623 ff. Vgl. zur Methodik der Auslegung von EG-Richtlinien Schroder, Richtlinien, S. 397 ff.
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§ 10 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung
Veelken, Die Bedeutung des EG-Rechts fur die nationale Rechtsanwendung, JuS 1993, 265 Vogel, Geldwasche - ein europaweit harmonisierter Straftatbestand?, ZStW 109 (1997), 335
D. Rechtsprechungshinweise EuGHE 1984, 1891 (,,von Colson und Kamann" - Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Umsetzungsrechts) EuGHE 1984, 1921 (,,Harz" - Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des nationalen Umsetzungsrechts) EuGHE 1987, 3969 (,,Kolpinghuis Nijmegen" - Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht) EuGHE 1990, 4135 (,,Marleasing" - Pflicht zur gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung des sonstigen nationalen Rechts) EuGHE 1996, 4705 (,,Arcaro" - Grenzen der richtlinienkonformen Auslegung im Strafrecht) EuGHE 1996, 6609 (,,Telecom Italia" - Erfordernis der Bestimmtheit von Richtlinie und Strafgesetz) BGHSt 37, 333 (,,Pyrolyse-Urteil" - Richtlinienkonforme Auslegung des § 326 I StGB)
E. Zusammenfassung von § 10 79 Nach standiger Rechtsprechung des EuGH, die vor allem durch die Leitentscheidungen ,,von Colson und Kamann", ,,Harz" und ,,Marleasing" gepragt ist, sind die Trager offentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten (Gerichte, Staatsanwaltschaften und Verwaltungsbehbrden) nach Art. 10 EGV und Art. 249 III EGV verpflichtet, insbesondere die der Umsetzung von Richtlinien dienenden Transformationsvorschriften, aber auch das sonstige nationale Recht so weit wie moglich gemeinschaftsrechtskonform bzw. richtlinienkonform auszulegen. Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung setzt erst mit dem Ablauf der Umsetzungsfrist ein. Jedoch sind die innerstaatlichen Stellen nicht daran gehindert, bereits vor Ablauf der Umsetzungsfrist eine Ausdeutung nationaler Vorschriften pro communitate vorzunehmen, wenn nationales Verfassungsrecht dies zulasst und hierdurch nicht dem gesetzgeberischen Gestaltungsermessen bei der Umsetzung der Richtlinie vorgegriffen wird. Hat der Gesetzgeber eine Richtlinie schon vor Ablauf der Umsetzungsfrist umgesetzt, sind die einschlagigen Bestimmungen im Wege der historischen und teleologischen Interpretation gemeinschaftsrechtskonform auszulegen. 80 Der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung kommt innerhalb des nationalen Auslegungskanons keine absolute, sondern nur eine relative Vorrangstellung zu. Vergleichbar der verfassungs- oder volkerrechtskonformen Auslegung ist dem Gebot der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung Geniige getan, wenn von mehreren nach nationaler Dogmatik und Verfassungsrecht vertretbaren Aus-
E. Zusammenfassung von § 10
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legungsergebnissen dasjenige gewahlt wird, welches der - etwa in einer Richtlinie zum Ausdruck gelangenden - gemeinschaftsrechtlichen Wertungsvorgabe am besten entspricht. Das Interpretationsgebot findet seine Grenzen sowohl im nationalen Verfassungsrecht (Art. 103 II GG) als auch in den allgemeinen Rechtsgrundsatzen des Gemeinschaftsrechts, insbesondere im Grundsatz der Rechtssicherheit (Bestimmtheitsgebot) und des Riickwirkungsverbots. Der EuGH fordert im strafrechtlichen Kontext einen restriktiven Umgang mit 81 der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung. So lehnt er in seinen Entscheidungen ,,Kolpinghuis Nijmegen" und ,,Arcaro" nicht nur eine belastende, die Strafbarkeit begriindende (unmittelbare) Wirkung einer nicht fristgemafl umgesetzten Richtlinie im Verhaltnis des Staates zum Burger ab, sondern versagt den innerstaatlichen Stellen auch die Moglichkeit, unbestimmte Strafgesetze durch Heranziehung von Richtlinienrecht zu konkretisieren. Dariiber hinaus stellt der EuGH in der Rechtssache ,,Telecom Italia" klar, dass eine Richtlinie nur dann zur Ausdeutung eines nationalen Strafgesetzes herangezogen werden darf, wenn sie ihrerseits hineichend bestimmt ist. Die vom Gerichtshof im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Ausle- 82 gung von Strafgesetzen herangezogenen allgemeinen Rechtsgrundsatze stehen — entgegen einer in der Literatur vertretenen Minderheitsmeinung — der gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung zu Ungunsten des Beschuldigten nicht entgegen. Der EuGH will nur sichergestellt wissen, dass die strafrechtliche Verantwortlichkeit des Einzelnen nicht allein auf eine Richtlinie, sondern stets auf ein nationales Strafgesetz gestiitzt wird. Wenn sich das innerstaatliche Gericht fur eine gemeinschaftsrechtskonforme Auslegungsvariante entscheidet, die sich innerhalb des nach nationalem Recht moglichen Interpretationsspielraumes bewegt, begegnet dies keinen verfassungs- oder gemeinschaftsrechtlichen Bedenken. In diesem Rahmen ist es dem Gericht insbesondere erlaubt, eine Richtlinie als Bestatigung des aus dem nationalen Recht gewonnenen Auslegungsergebnisses heranzuziehen, wie dies z. B. der BGH in seinem ,,Pyrolyse-Urteil" im Hinblick auf den strafrechtlichen Abfallbegriff getan hat. Dem Vertrauen des Angeklagten in den Fortbestand einer fruheren, fur ihn gunstigen Rechtsanwendungspraxis kann bei der Pruning der Vermeidbarkeit eines Verbotsirrtums (§17 StGB) Rechung getragen werden. Als mogliche Anwendungsfelder fur eine gemeinschaftsrechtskonforme Ausle- 83 gung im Strafrecht werden in diesem Kapitel exemplarisch die Bereiche AmtsanmaBung (§ 132 StGB), Verwahrungsbruch (§ 133 StGB), Aussagedelikte (§§ 153 ff. StGB), Urkundendelikte (§§ 267, 271, 274, 348 StGB), Umweltdelikte (§§ 324 a I, 325 I, II, 325 a I, II StGB) und Fahrlassigkeitsdelikte behandelt.
§11 Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Saule
A. Einfiihrung Vor dem Hintergrund des Fehlens einer supranationalen Rechtsetzungskompetenz der EG auf dem Gebiet des Kriminalstrafrechts (§ 4 Rn. 101) und angesichts einer nur beschrankten strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG, deren Ausilbung zudem auf politischen Widerstand der Mitgliedstaaten stoBt ( § 8 Rn. 7), erweist sich derzeit das gemeinsame Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten im Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit (PJZS) als zentraler und herausragender Faktor der Europaisierung der international-arbeitsteiligen Strafrechtspflege. Die Entwicklung der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit der EG/EU-Mitgliedstaaten und die Handlungsinstrumente der dritten Saule wurden bereits an anderer Stelle behandelt (§ 5 Rn. 25 ff., 56 ff.). Erinnert sei noch einmal daran, dass erst durch den Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1992 gemeinsame Strukturen fur eine intergouvernementale Zusammenarbeit in Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse - hierzu gehorte die Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) - geschaffen wurden (§ 5 Rn. 56). Ein fur die europaische Strafrechtsentwicklung bedeutsamer Schritt stellte schlieBlich die mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam einhergehende Integration des Schengen-Besitzstandes in den Rah men der EU dar (§ 5 Rn. 71). Seit dem 1. Mai 1999 findet die Zusammenarbeit zwischen den Schengener Vertragsparteien in dem institutionellen und juristischen Rahmen des EUV start. Die ZBJI wurde durch den Amsterdamer Vertrag umstrukturiert und nunmehr als Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) in die neuen Art. 29-42 EUV eingefugt (§ 5 Rn. 69). Nach Art. 29 EUV ist auf das Unionsziel der Schaffung eines ,,Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" hinzuarbeiten durch eine engere Polizei- und Justizzusammenarbeit, aber auch durch eine Annaherung des mitgliedstaatlichen Strafrechts. Im Folgenden soil die dritte Saule unter dem Aspekt der Harmonisierung des materiellen Strafrechts beleuchtet sowie anhand ergriffener oder geplanter Rechtsakte veranschaulicht werden.
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§ 11 Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Saule
B. Angleichung des materiellen Strafrechts im Rahmen der PJZS I. Rechtlicher Rahmen der Strafrechtsangleichung 1. Begrenzung auf Mindestvorschhften 2 Art. 31 lit. e EUV sieht eine schrittweise Annahme von Mafinahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften iiber die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen vor, allerdings - dem Wortlaut nach - begrenzt auf die Bereiche Organisierte Kriminalitat, Terrorismus und illegaler Drogenhandel (vgl. jedoch Rn. 87 ff). Kompetenzrechtlich ist die Angleichung nationaler Straftatbestande im Rahmen der dritten Saule unbedenklich. Da diese Form der Harmonisierung auBerhalb des Gemeinschaftsrechts stattfindet, kann ein Widerspruch zu der Kompetenzverteilung zwischen EG und Mitgliedstaaten (§ 4 Rn. 54) von vornherein nicht auftreten. Freilich erfordern Rechtsakte, die auf Unionsebene erlassen werden, stets ein einstimmiges Vorgehen aller EU-Mitgliedstaaten (vgl. Art. 34 II EUV). Auch kommt eine Angleichung des materiellen Strafrechts nach Art. 29 II EUV (drifter Spiegelstrich) nur insoweit in Betracht, als sie zur Zielerreichung erforderlich ist (Rn. 6).
2. Gemeinsame Definitionen 3 Zu den MaBnahmen, die auf eine Annaherung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten in den von Art. 31 lit. e EUV erfassten Kriminalitatsbereichen abzielen, gehort zunachst der Erlass von Mindestvorschriften zur Ausgestaltung der einschlagigen Tatbestande des Besonderen Teils. Diese konnen z. B. in einer gemeinsamen Definition enthalten sein, in welcher die zentralen objektiven und subjektiven Merkmale der zu inkriminierenden Handlung beschrieben werden (z. B. ,,terroristische Handlung"; ,,illegaler Drogenhandel"; ,,Geldwasche" usw.) und durch die detailliertere oder weitergehende Begriffsbestimmungen des nationalen Rechts nicht ausgeschlossen werden. Die Mitgliedstaaten bleiben demnach frei, dariiber hinaus auch weitere Verhaltensweisen unter Strafandrohung zu stellen. Es ist ihnen jedoch verwehrt, die Mindestvorschriften der in einem Rechtsakt definierten strafbaren Handlung zu unterschreiten, indem sie zusatzliche Strafbarkeitsvoraussetzungen aufstellen1. 4 Von der Angleichungskompetenz des Art. 31 lit. e EUV umfasst sind auch Anweisungen, die sich auf die Anwendung von Bestimmungen des Allgemeinen Teils beziehen, soweit dies fur eine wirksame Bekampfung der jeweiligen Kriminalitatsbereiche erforderlich ist und hierdurch nicht in die Grundstruktur der nationalen Strafrechtssysteme eingegriffen wird. Unproblematisch sind z. B. bereichsspezifische Vorgaben, durch die sichergestellt werden soil, dass der Versuch einer bestimmten Straftat und die Teilnahme (Anstiftung, Beihilfe) mit Strafe bedroht
Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 73.
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werden2. Nicht gedeckt von Art. 31 lit. e EUV waren jedoch ttber die Festlegung von Mindestvorschriften hinausgehende Defmitionen des Versuchs oder der Taterschaft und Teilnahme. Vorgaben zur Verantwortlichkeit juristischer Personen sind nur zulassig, wenn den Mitgliedstaaten ein weiter Umsetzungsspielraum belassen wird, der auch die Moglichkeit einer Beschrankung auf nichtstrafrechtliche Sanktionen zulasst3.
3. Festlegung von Mindesthochststrafen Einer Mindestangleichung zuganglich sind schlieBlich die Strafen in den einschlagigen Kriminalitatsbereichen, welche z. B. in Form der Vorgabe sog. Mindesthochststrafen erfolgen kann. Diese legen das Mindestmafi einer im nationalen Strafrecht vorzusehenden Hochststrafandrohung fest4. Zu beachten ist, dass hierdurch lediglich die nach den Rechtvorschriften der Mitgliedstaaten anwendbaren Strafen einander angenahert werden, nicht aber die tatsachlich zu verhangenden Strafen. Insoweit sind der Rechtsangleichung durch das Prinzip der tat- und schuldangemessenen Strafe und aufgrund der Unabhangigkeit der Gerichte von vornherein Grenzen gesetzt. Freilich steht zu erwarten, dass sich aus der Angleichung der gesetzlichen Sanktionsvorgaben mittelbar auch gewisse Angleichungseffekte in der mitgliedstaatlichen Sanktionspraxis ergeben5. Auch bereichsspezifische Vorgaben iiber erschwerende oder strafmildernde Umstande sowie ilber das Strafanwendungsrecht (,,internationales Strafrecht"; vgl. hierzu § 2 Rn. 2 ff.) konnen auf Art. 31 lit. e EUV gestutzt werden.
It. Grenzen der Strafrechtsangleichung Im Rahmen der intergouvernemental angelegten PJZS kommt dem Subsidiaritatsprinzip - anders als im Bereich der strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG (§ 8 Rn. 63 ff.) - keine Funktion als Kompetenzausubungsschranke zu, da es in der dritten Saule an einer hierarchischen UberVUnterordnung zweier abgrenzbarer Kompetenzebenen (Mitgliedstaaten - EG) fehlt6. Nichtsdestotrotz sind auch der Rechtsangleichung nach Art. 31 lit. e EUV Grenzen gesetzt. In Art. 29 (dritter Spiegelstrich) EUV wird darauf hingewiesen, dass eine Annaherung der Strafvorschriften der Mitgliedstaaten nur erfolgt, ,,soweit dies erforderlich ist". Diese Klausel tragt dem Umstand Rechnung, dass strafrechtsrelevante Harmonisierungsmaflnahmen in einen rechtspolitisch sensiblen Bereich eingreifen, der den Kernbereich staatlicher Souveranitat beruhrt. Die Annaherung des Strafrechts ist somit kein Selbstzweck, sondern muss sich im konkreten Einzelfall als eine zur Durchsetzung des in Art. 29 EUV beschriebenen Unionsziels erforderliche MaB2 3 4 5 6
Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 56. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 57. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 78. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 76. Vgl. hierzu PechsteinlKoenig, Die Europaische Union, 3. Aufl., 2000, Art. 2 Rn. 162.
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nahme rechtfertigen lassen7. Kann die Verwirklichung des Unionsziels auch ohne Rechtsangleichung in ausreichender Weise erreicht werden, so steht dieser Befund der Erforderlichkeit einer Harmonisierungsmafinahme und damit ihrer Zulassigkeit entgegen. Stehen mehrere gleich geeignete Handlungsalternativen zur Verfugung, muss diejenige ergriffen werden, die die Strafrechtsordnungen am meisten schont (Schonungsgebot). Ferner mussen die den Mitgliedstaaten auferlegten Belastungen in einem angemessenen Verhaltnis zu dem jeweils angestrebten Ziel stehen. Praktische Bedeutung entfaltet die in Art. 29 EUV normierte Rechtsangleichungsgrenze bereits im Diskussions- und Planungsstadium von MaBnahmen, da er die beteiligten Akteure (vor allem Kommission und Mitgliedstaaten) zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung iiber die zur Zielerreichung erforderlichen Schritte und ggf. zu einer gewissen Abstimmung ihrer Politiken zwingt8. Hinweis: Der Vertrag tiber eine Verfassung fiir Europa sieht in Art. III-271 I EU-Verfassung weitreichende Kompetenzen zur Harmonisierung des materiellen Strafrechts in Form von Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalitat vor, die aufgrund der Art oder der Auswirkungen der Straftaten oder aufgrund einer besonderen Notwendigkeit, sie von gemeinsamen Grundlagen ausgehend zu bekampfen, eine grenzilberschreitende Dimension haben9. Auch wird in Art. III-271 II EU-Verfassung explizit die Anweisungsbefugnis zu einer strafrechtlichen Bewehrung von EUPolitiken erteilt, wenn es sich um ein Gebiet handelt, auf dem Harmonisierungsmafinahmen erfolgt sind. Als Instrument der Mindestangleichung kommt das ,,Europaische Rahmengesetz" zum Einsatz (§ 4 Rn. 66). Die bereichsspezifische - auf den Schutz der EU-Finanzinteressen bezogene — Kompetenznorm des Art. III-415 IV EU-Verfassung lasst sogar die Setzung supranationaler Strafbestimmungen zu (vgl. hierzu § 14 Rn. 46).
III. Handlungsformen der Strafrechtsangleichung Als passende Handlungsform fur die Angleichung nationaler Strafbestimmungen bietet sich in erster Linie der Rahmenbeschluss an. Dieser ist nach Art. 34 II lit. b EUV parallel zu den EG-Richtlinien konstruiert und damit fur die Mitgliedstaaten nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels, nicht aber in Bezug auf die Formen und Mittel der Zielverwirklichung verbindlich. Daneben besteht nach Art. 34 II lit. d EUV die - bereits im Rahmen der ZBJI eroffnete - Moglichkeit der Erstellung volkerrechtlicher Ubereinkommen, die der Rat den Mitgliedstaaten zur Satzger, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europaischen Union, 2002, S. 71, 83 f.; Wasmeier/Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 19. Zu den Erfordernissen und strukturellen Voraussetzungen der Angleichung unterschiedlicher Strafrechtsysteme vgl. Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 296 ff. Krit. hierzu Weigend, ZStW 116 (2004), S. 275, 281 ff.; Wuermeling, EuR 2004, 216, 227.
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Annahme empfiehlt. Wie die Erfahrung mit dem erst sieben Jahre nach seinem Abschluss (am 17. Oktober 2002) in Kraft getretenen Ubereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der fmanziellen Interessen der EG (vgl. § 14 Rn. 23) lehrt, sind Konventionen - wegen des Ratifikationserfordernisses - eine eher schwerfallige Handlungsform10. Zwar wurde dieses Instrument durch die Neufassung des Art. 34 II lit. d EUV im Amsterdamer Vertrag insoweit effektiviert, als Ubereinkommen nunmehr vorzeitig in Kraft treten konnen, wenn sie mindestens von der Halfte der Mitgliedstaaten ratifiziert wurden. Eine unionsweite Annaherung der Strafbestimmungen wird hierdurch aber nicht erreicht, da der volkerrechtliche Vertrag nur in den ,,vorausgeeilten" Staaten in Kraft tritt. Da MaBnahmen nach Art. 34 EUV dem Einstimmigkeitsprinzip unterfallen, 10 steht die politische Uneinigkeit der Mitgliedstaaten der Realisierung strafrechtlicher Harmonisierungsprojekte grundsatzlich entgegen. Unter engen Voraussetzungen eroffhen die Art. 40, 43 EUV einer Gruppe von mehr als der Halfte der Mitgliedstaaten aber die Moglichkeit, untereinander eine starkere Zusammenarbeit bzw. weitergehende Integration zu begrilnden, der sich die ubrigen Mitgliedstaaten jederzeit anschlieBen konnen. Allerdings ist zu bedenken, dass durch ein ,,Europa der zwei Geschwindigkeiten" das Ziel einer unionsweiten Rechtsangleichung gerade nicht erreicht wird.
C. Bereiche zulassiger Strafrechtsangleichung nach Art. 31 lit. e EUV I. Organisierte Kriminalitat 1. Anwendungsbereich Als Gegenstand einer moglichen Strafrechtsangleichung nennt Art. 31 lit. e EUV 11 explizit den Bereich der ,,Organisierten Kriminalitat" (OK). Zwar fehlt es bislang an einer allseits anerkannten Definition dieses Begriffes. Gewisse Konturen erhalt er jedoch dadurch, dass es sich bei den der OK zuzurechnenden Taten jedenfalls um solche handehi muss, die typischerweise planvoll und arbeitsteilig von mehreren organisatorisch verbundenen Personen begangen werden11. Als Interpretationshilfe fur die Bestimmung des Organisationsgrades kann die Gemeinsame MaBnahme betreffend die Strafbarkeit der kriminellen Vereinigung v. 21. Dezember 199812 herangezogen werden. Eine kriminelle Vereinigung wird dort definiert als ein auf langere Dauer angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die in Verabredung handeln, um Straftaten zu begehen, die mit Freiheitsent-
Vgl. nur Satzger, Europaisierung, S. 467 ff.; ders., in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europaischen Union, 2002, S. 71, 84 ff. Satzger, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europaischen Union, 2002, S. 71, 81 f.; Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 61. AB1EG 1998 Nr.L 351, S. 1.
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zug im HochstmaB von mindestens vier Jahren Freiheitsstrafe bedroht sind. Zu den nach Art. 34 lit. e EUV unter dem Aspekt der Zugehorigkeit zur OK angleichungsfahigen Delikten gehoren neben den Organisations- und Bandendelikten im engeren Sinne auch solche Strafbestimmungen, bei denen ein organisiertes Zusammenwirken mehrerer Tater zwar kein Tatbestandsmerkmal ist, die jedoch typischerweise in organisierter Form begangen werden13. Beispiele hierfur sind das Herstellen und Inverkehrbringen von Falschgeld (Rn. 12 ff.), der Menschenhandel (Rn. 24 ff.), die Schleuserkriminalitat (Rn. 33 ff.) und bestimmte Formen der Geldwasche (Rn. 44 ff.) - alles Straftaten, die in der Regel unter Einsatz technischer, logistischer, finanzieller und personeller Mittel im Rahmen einer arbeitsteilig agierenden Organisation begangen werden14. 2. Rahmenbeschluss I zum strafrechtlichen Schutz des Euro 12 Bereits an anderer Stelle wurde - im Zusammenhang mit der Frage nach einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG - darauf hingewiesen, dass der Rat mit seiner am 3. Mai 1998 erlassenen Verordnung tiber die Einfiihrung des Euro15 lediglich auf die Notwendigkeit eines ,,angemessenen Schutzes des Euro vor Falschungen" hingewiesen und den von der Kommission geforderten kriminalstrafrechtlichen Anweisungen eine klare Absage erteilt hat (§ 8 Rn. 17). Art. 12 der Verordnung verpflichtet die teilnehmenden Mitgliedstaaten lediglich dazu, sicherzustellen, dass es angemessene Sanktionen fur Nachahmungen und Falschungen von Euro-Banknoten und Euro-Munzen gibt, obwohl sich eine entsprechende strafrechtliche Schutzverpflichtung der Mitgliedstaaten bereits aus der allgemeinen Loyalitatspflicht des Art. 10 EGV ergibt. Der Rat zog es vor, von dem Instrument des Rahmenbeschlusses Gebrauch zu machen. 13 Durch den auf der Grundlage des Art. 31 lit. e EUV angenommenen Rahmenbeschluss des Rates v. 29. Mai 2000 iiber die Verstarkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfalschung im Hinblick auf die Einfuhrung des Euro16, der am 30. Mai 2000 in Kraft trat, werden die Mitgliedstaaten verpflichtet, alle Falschungshandlungen einschliefilich des (grenziiberschreitenden) Inverkehrbringens strafrechtlich zu erfassen17. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 14 Durch eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Straftatbestande soil gewahrleistet werden, dass der Euro in alien Mitgliedstaaten (auch in denjenigen, in denen der Euro nicht eingefuhrt wurde) durch wirksame strafrechtliche Mafinahmen in geeigneter Weise geschiltzt wird, um die erforderliche Glaubwiirdigkeit der neuen
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Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 62. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 63 f. Verordnung (EG) Nr. 974/98 des Rates v. 3. Mai 1998 uber die Einfuhrung des Euro; ABlEG1998Nr. L 139, S. 1. ABlEG2000Nr.L140, S. 1. v. Bubnoff, ZEuS 2001, 165, 175.
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Wahrung sicherzustellen und dadurch emste wirtschaftliche Konsequenzen zu vermeiden. b) Wesentlicher Inhalt (1) Jeder Mitgliedstaat hat nach Art. 3 sicherzustellen, dass die folgenden Verhaltensweisen (einschlieBlich der Anstiftung und mit Ausnahme von Buchstabe d des Versuchs) mit Strafe bedroht werden: a) betrilgerische Falschung oder Verfalschung von Geld, b) betrilgerisches Inumlaufbringen von falschem oder verfalschtem Geld, c) Einfuhren, Ausfllhren, Transportieren, Annehmen oder Sichverschaffen vonfalschem oder verfalschtem Geld in Kenntnis der Falschung und in der Absicht, es in Umlauf zu bringen, d) betrugerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen oder Besitzen von Geratschaften, Gegenstanden, Computerprogrammen und anderen Mitteln, die ihrer Beschaffenheit nach zur Falschung oder Verfalschung von Geld besonders geeignet sind bzw. von Hologrammen oder anderen der Sicherung gegen Falschung dienenden Bestandteilen von Geld. (2) Die Geldfalschungsdelikte sind nach Art. 6 mit wirksamen, angemessencn und abschreckenden strafrechtlichen Sanktionen zu bedrohen, die auch Freiheitsstrafen umfassen, welche zu einer Auslieferung filhren konnen. Das betriigerische Falschen oder Verfalschen von Geld i. S. d. Art. 3 I lit. a ist mit Freiheitsstrafe zu bedrohen, die im Hochstmafi mindestens acht Jahre (sog. Mindesthochststrafe) betragen muss. (3) Die Verantwortlichkeit juristischer Personen und die vorzusehenden (auch nichtstrafrechtlichen) Sanktionen sind in Art. 8 und 9 des Rahmenbeschlusses geregelt. (4) Nach den in Art. 7 enthaltenen Regelungen zur Gerichtsbarkeit und Strafverfolgung sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Mafinahmen zu ergreifen, ran ihre gerichtliche Zustandigkeit zu begrunden, wenn die Falschgelddelikte ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurden. Zumindest die Mitgliedstaaten, in denen der Euro eingefuhrt worden ist, treffen geeignete MaBnahmen, um sicherzustellen, dass zumindest die Falschung des Euro unabhangig von der Staatsangehorigkeit des Straftaters und vom Tatort verfolgt werden kann. Steht mehreren Mitgliedstaaten die Gerichtsbarkeit zu und haben sie die Moglichkeit, eine Straftat, die auf denselben Tatsachen beruht, wirksam zu verfolgen, so arbeiten die betreffenden Mitgliedstaaten zusammen, um dariiber zu entscheiden, welcher von ihnen den oder die Straftater verfolgt, um die Strafverfolgung nach Moglichkeit in einem einzigen Mitgliedstaat zu konzentrieren.
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c) Deutsches Strafrecht Die deutsche Rechtsordnung tra'gt den Strafbarkeits- und Sanktionsvorgaben des 19 Rahmenbeschlusses durch die auf den strafrechtlichen Schutz des Euro anwendbaren §§ 146, 147, 149 StGB vollumfanglich Rechnung18. Einer Gesetzesanderung bedurfte es hierfiir nicht, da die bestehenden Strafgesetze einer gemeinschaftsVgl. hierzu Vogel, ZRP 2002, 7 ff.
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rechtskonformen Auslegung zuganglich sind, die der bereits aus dem Loyalitatsgebot (Art. 10 EGV) abzuleitenden Pflicht Rechnung tragt, den Schutz des Euro durch wirksame, abschreckende und verhaltnismaBige Sanktionsandrohungen zu schtitzen. Die deutsche Strafgewalt erstreckt sich gem. § 6 Nr. 7 StGB auch auf Geldfalschungen, die im Ausland begangen werden.
3. Rahmenbeschluss II und Beschluss Liber den Schutz des Euro vor Falschungen 20 Durch den Rahmenbeschluss des Rates v. 6. Dezember 2001 zur Anderung des Rahmenbeschlusses 2000/3 83/JI iiber die Verstarkung des mit strafrechtlichen und anderen Sanktionen bewehrten Schutzes gegen Geldfalschung im Hinblick auf die Einfuhrung des Euro (Rahmenbeschluss II)19 wird der oben behandelte Rahmenbeschluss I um eine Vorschrift iiber die Riickfalligkeit von Straftatern erganzt, die bereits in einem anderen Mitgliedstaat wegen eines Geldfalschungsdelikts rechtskraftig abgeurteilt worden sind. 21 Rahmenbeschluss II bestimmt, dass in Rahmenbeschluss I folgender Art. 9 a einzufugen ist: ,,Jeder Mitgliedstaat erkennt den Grundsatz der Rtickfalligkeit gemaB seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften an und erkennt gemaB seinen innerstaatlichen Rechtsvorschriften an, dass Riickfalligkeit gegeben ist, wenn wegen einer der Straftatbestande nach den Art. 3-5 dieses Rahmenbeschlusses oder wegen einer der Straftatbestande nach Art. 3 des Abkommens bereits rechtskraftige Urteile in einem anderen Mitgliedstaat ergangen sind, und zwar unabhangig davon, welche Wahrung gefalscht wurde." 22 Diese Regelung kann sich z. B. dahingehend auswirken, dass ein bereits in einem anderen Mitgliedstaat wegen Geldfalschung rechtskraftig verurteilter Straftater, der sich wegen einer in Deutschland erstmalig begangen Tat gem. § 146 StGB vor einem deutschen Gericht zu verantworten hat, als Rilckfalltater i. S. d. Art. 9 a Rahmenbeschluss I strenger zu bestrafen ist als ein Ersrtater. Zu denken ist aber auch an die Moglichkeit des Widerrufs einer in Deutschland verhangten Bewahrungsstrafe, wenn der Verurteilte in einem anderen Mitgliedstaat in einschlagiger Weise straffallig geworden und damit auch in Deutschland als Ruckfalltater anzusehen ist. 23 Erganzt und verstarkt wird das strarrechtliche Instrumentarium durch den ebenfalls am 6. Dezember 2001 erlassenen Beschluss des Rates iiber den Schutz des Euro vor Falschungen20. Der Beschluss sieht vor, dass die Mitgliedstaaten ihre im Rahmen strafrechtlicher Ermirtlungen iiber Euro-Falschungen durchgefuhrten nationalen Analysen und gewonnenen Informationen an Europol ubermitteln. Daruber hinaus ist die Einschaltung von Eurojust vorgesehen.
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ABlEG2001Nr. L329, S. 3.
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4. Rahmenbeschluss zur Bekampfung des Menschenhandels Menschenhandel im engeren Sinne kann als Verbringen von Personen gegen ihren 24 Willen unter Anwendung von Gewalt oder Drohung, Ausnutzung eines Abhangigkeitsverhaltnisses oder Vorspiegelung falscher Tatsachen definiert werden21. Am 29. Juli 2002 hat der Rat einen Rahmenbeschluss zur Bekampfung des Menschenhandels angenommen, der am 2. August 2002 in Kraft getreten ist22. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Menschenhandel stellt nach Auffassung der EU-Mitgliedstaaten einen schweren 25 VerstoB gegen grundlegende Menschenrechte und die Menschenwiirde dar. Sie halten es daher fur erforderlich, dem schweren Straftatbestand Menschenhandel nicht nur durch einzelne MaBnahmen eines jeden Mitgliedstaats, sondern auch durch ein umfassendes Konzept zu begegnen, in dem die Definition der alien Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundelemente des Strafrechts, darunter wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen, einen festen Bestandteil bildet. Der vorliegende Rahmenbeschluss beinhaltet eine Festlegung gemeinsamer Regeln zur Bekampfung des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung von Kindern im Hinblick auf ein effizienteres Vorgehen gegen bestimmte Formen der illegalen Einwanderung sowie eine intensivere Zusammenarbeit der Justizbehorden in Strafsachen. b) Wesentlicher Inhalt (1) Der Rahmenbeschluss legt den Mitgliedstaaten bestimmte Ponalisie- 26 rungspflichten auf. Jeder Mitgliedstaat trifft nach Art. 1 I die erforderlichen MaBnahmen, um sicherzustellen, dass folgende Handlungen (einschlieBlich Anstiftung, Beihilfe und Versuch) unter Strafe gestellt werden: Anwerbung, BefSrderung, Weitergabe, Beherbergung und spatere Aufnahme einer Person, einschlieBlich Tausch der Kontrolle oder Weitergabe der Kontrolle liber sie, wenn eine der folgenden Voraussetzungen gegeben ist: a) Anwendung oder Androhung von Gewalt oder anderen Formen der Notigung, einschlieBlich Entfuhrung, b) arglistige Tauschung oder Betrug, c) Missbrauch einer Machtstellung oder Ausnutzung einer Position der Schwache, in einer Weise, dass die betroffene Person keine wirkliche und fur sie annehmbare andere Moglichkeit hat, als sich dem Missbrauch zu beugen oder d) Gewahrung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vergunstigungen mit dem Ziel, das Einverstandnis einer Person zu erhalten, die die Kontrolle ilber eine andere Person hat, zum Zwecke der Ausbeutung der Person durch Arbeiten oder Dienstleistungen, mindestens einschlieBlich unter Zwang geleisteter Arbeiten oder Dienstleistungen, Sklaverei oder der Sklaverei oder der Knechtschaft ahnlichen Verhaltnissen, oder 21
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v. Bubnoff, ZEuS 2001, 165, 180 f.; Wasmeier/Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/ Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 36. AB1EG 2002 Nr. L 203, S.
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zum Zwecke der Ausbeutung einer Person mittels Prostitution oder anderer Formen der sexuellen Ausbeutung einschlieBlich Pornographie. Nach Art. 1 II ist das Einverstandnis eines Opfers von Menschenhandel zur beabsichtigten oder tatsachlich vorliegenden Ausbeutung unerheblich, wenn eine der in Abs. 1 aufgefuhrten Voraussetzungen gegeben ist. Betrifft die Handlung nach Abs. 1 ein Kind (definiert als Person unter 18 Jahre), so ist sie auch dann als Menschenhandel unter Strafe zu stellen, wenn keine der in Art. 1 I lit. a-d aufgefuhrten Voraussetzungen gegeben ist (Art. 1 III). Die Strafbarkeit hangt nicht von einer grenziiberschreitenden Tatbegehung ab23. 27 (2) Nach Art. 4 hat jeder Mitgliedstaat zu gewahrleisten, dass eine juristische Person fur eine Straftat nach Art. 1 und 2 verantwortlich gemacht werden kann, die zu ihren Gunsten von einer Person begangen wurde, die entweder allein oder als Teil eines Organs der juristischen Person gehandelt hat und die eine Fuhrungsposition innerhalb der juristischen Person innehat. 28 (3) Des Weiteren sind die Mitgliedstaaten nach Art. 3 zur Festlegung bestim niter Sanktionen verpflichtet. Jeder Mitgliedstaat hat die erforderlichen MaBnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass Straftaten nach den Art. 1 und 2 mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden, die zu einer Auslieferung fuhren konnen. Jeder Mitgliedstaat muss gewahrleisten, dass Straftaten nach Art. 1 mit Freiheitsstrafen im Hochstmafi von mindestens acht Jahren geahndet werden, wenn sie unter einem der folgenden Umstande begangen wurden: a) durch die Straftat wurde das Leben des Opfers vorsatzlich oder leichtfertig gefahrdet, b) Opfer der Straftat wurde eine Person, die besonders schutzbedurftig war. Eine besondere Schutzbedilrftigkeit liegt auf jeden Fall vor, wenn das Opfer das Alter der sexuellen Selbstbestimmung nach nationalem Recht noch nicht erreicht hatte und die Straftat zum Zweck der Ausbeutung einer Person mittels Prostitution oder anderer Formen der sexuellen Ausbeutung einschlieBlich Pornographie begangen wurde, c) die Straftat wurde unter Anwendung schwerer Gewalt begangen oder dem Opfer wurde durch die Straftat ein besonders schwerer Schaden zugefugt, d) die Straftat wurde im Rahmen einer kriminellen Vereinigung gemaB der Definition in der Gemeinsamen MaBnahme 98/733/JI24 begangen. 29 (4) Jeder Mitgliedstaat muss nach Art. 5 dafur sorgen, dass gegen eine i. S. d. Art. 4 verantwortliche juristische Person wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen verhangt werden konnen, zu denen strafrechtliche oder nicht strafrechtliche Geldsanktionen gehoren und andere Sanktionen gehoren konnen, beispielsweise: a) Ausschluss von offentlichen Zuwendungen oder Hilfen, b) voriibergehendes oder standiges Verbot der Austibung einer Handelstatigkeit, c) richterliche Aufsicht, 23 24
Wasmeier/Jour-Schrdder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 36. AB1EG 1998 Nr.L 351, S. 1.
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d) richterlich angeordnete Auflosung, e) voriibergehende oder endgilltige SchlieBung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden. (5) Filr die Gerichtsbarkeit bestimmt Art. 6, dass jeder Mitgliedstaat die erfor- 30 derlichen MaBnahmen ergreift, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf eine Straftat nach den Art. 1 und 2 in den Fallen zu begriinden, in denen a) die Straftat ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde, b) es sich bei dem Tater um einen seiner Staatsangehorigen handelt oder c) die Straftat zugunsten einer im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats niedergelassenen juristischen Person begangen wurde. Ein Mitgliedstaat kann beschlieBen, dass er die Gerichtsbarkeitsbestimmungen in 31 Art. 6 I lit. b und c nicht oder nur in bestimmten Fallen oder unter bestimmten Umstanden anwendet, wenn die Straftat auBerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurde. Falls ein Mitgliedstaat aufgrund seiner Rechtsvorschriften eigene Staatsangehorige nicht ausliefert, trifft er die erforderlichen MaBnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf eine Straftat nach den Art. 1 und 2 zu begriinden und gegebenenfalls die Strafverfolgung einzuleiten, sofern die Straftat von einem seiner Staatsangehorigen auBerhalb seines Hoheitsgebiets begangen wurde. Die Mitgliedstaaten milssen festlegen, dass die strafrechtlichen Ermittlungen oder die Strafverfolgung in Bezug auf Straftaten, die unter diesen Rahmenbeschluss fallen, zumindest in den Fallen, die von Art. 6 I lit. a erfasst werden (Straftat wurde ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen), nicht von einer Anzeigeerstattung des Opfers abhangen (Art. 7 I). c) Deutsches Strafrecht Im deutschen Strafgesetzbuch fmden sich namentlich in §§ 180 b, 181, 234, 236 32 StGB einschlagige Strafbestimmungen, durch welche die von dem Rahmenbeschluss beschriebenen Handlungen (einschlieBlich Anstiftung, Beihilfe und Versuch) als weltweit verfolgbare Offizialdelikte erfasst werden (§ 6 Nr. 4 StGB bzgl. §§ 180 b, 181 StGB). Des Weiteren werden bestimmte Formen des Menschenhandels von § 7 I Nr. 3, 4, 7 lit. a, 9 VStGB als Verbrechen gegen die Menschlichkeit unter Strafe gestellt, fur die ebenfalls der Weltrechtsgrundsatz gilt (§ 1 VStGB). Gegen juristische Personen kann nach § 30 I OWiG eine GeldbuBe verhangt werden, was nach Art. 5 des Rahmenbeschlusses ausreicht. Falls festgestellt wird, dass fur die Begehung des Menschenhandels die Einrichtung eines Vereins genutzt wird, dessen Zwecke oder Tatigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen, erfolgt nach § 3 VereinsG eine Verbots- und Auflosungsverfugung durch die zustandigen Behorde (Bundes- oder Landesinnenminister).
5. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Schleuserkriminalitat Durch den auf Art. 31 lit. e EUV gestiitzten Rahmenbeschluss v. 28. November 33 2002 betreffend die Verstarkung des strafrechtlichen Rahmens fur die Bekampfung der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum uner-
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laubten Aufenthalt25, der am 6. Dezember 2002 in Kraft getreten ist, werden die Gemeinsamen MaBnahmen gegen Menschenhandel durch spezifische MaBnahmen gegen Schleuserkriminalitat erganzt. Der Rahmenbeschluss fullt die in der am gleichen Tag in Kraft getretenen Richtlinie 2002/90/EG des Rates v. 28. November 2002 zur Definition der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt26 enthaltenen Vorgaben zur Sanktionierung der dort naher beschriebenen Erscheinungsformen des Schleuserwesens aus. Ermachtigungsgrundlagen fur die Richtlinie sind die durch den Amsterdamer Vertrag in die erste Saule iiberfuhrten Art. 61 lit. a, 63 Nr. 3 lit. b EGV, die der EG die Befugnis verleihen, MaBnahmen in den Bereichen illegale Einwanderung und illegaler Aufenthalt zu treffen. Bemerkenswert ist, dass die Richtlinie lediglich die bereits aus dem Loyalitatsgebot (Art. 10 EGV) abzuleitenden Sanktionierungspflichten konkretisiert und damit das Ergreifen spezifisch kriminalstrafrechtlicher MaBnahmen in das Ermessen der Mitgliedstaaten stellt. 34 Nach Art. 1 I S. 3 der Richtlinie 2002/90/EG hat jeder Mitgliedstaat wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen fur Tater festzulegen, die a) einer Person, die nicht Angehorige eines Mitgliedstaates ist, vorsatzlich dabei helfen, in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaates unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates ilber die Einreise oder die Durchreise von Auslandern einzureisen oder durch dessen Hoheitsgebiet zu reisen, b) einer Person, die nicht Angehorige eines Mitgliedstaats ist, zu Gewinnzwecken vorsatzlich dabei helfen, sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Verletzung der Rechtsvorschriften des betreffenden Staates iiber den Aufenthalt von Auslandern aufzuhalten. 35 Auch die Anstiftung und Beihilfe zu diesen Taten sowie der Versuch einer solchen Tat sind unter Sanktionsandrohung zu stellen (Art. 2). Jeder Mitgliedstaat kann beschlieBen, wegen der in Art. 1 I lit. a beschriebenen Handlungen in Anwendung seiner innerstaatlichen Rechtsvorschriften und Rechtspraktiken keine Sanktionen zu verhangen, wenn das Ziel der Handlungen die humanitare Unterstutzung der betroffenen Person ist (Art. 1 II). a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 36 Der Rahmenbeschluss legt die Mitgliedstaaten darauf fest, die in Art. 1 1 2 der Richtlinie 2002/90/EG defmierten Formen der Schleuserkriminalitat (Beihilfe zur illegalen Einwanderung) mit kriminalstrafrechtlichen Mitteln zu bekampfen, und zwar sowohl, wenn diese den unerlaubten Grenzubertritt im engeren Sinne betrifft, als auch, wenn dadurch ein Netzwerk zur Ausbeutung von Menschen unterhalten wird. Zu diesem Zweck sollen zum einen die bestehenden nationalen Rechtsvorschriften angeglichen, zum anderen Mindestvorschriften fur Strafen, die Verantwortlichkeit von juristischen Personen und die Gerichtsbarkeit erlassen werden.
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AB1EG 2002 Nr.L 328, S. 1. AB1EG 2002 Nr. L 328, S. 17.
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b) Wesentlicher Inhalt (1) Nach Art. 1 I des Rahmenbeschlusses hat jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, 37 dass die in den Art. 1 und 2 der Richtlinie 2002/90/EG beschriebenen Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zu einer Auslieferung flihren konnen. Gegebenenfalls konnen neben den in Art. 1 I genannten Strafen noch folgende MaBnahmen ergriffen werden: - Einziehung des Verkehrsmittels, das zur Begehung der strafbaren Handlung benutzt wurde, - Verbot, unmittelbar oder liber Dritte die berufliche Tatigkeit auszuilben, in deren Rahmen die strafbare Handlung begangen wurde, - Abschiebung. Jeder Mitgliedstaat muss nach Art. 1 III daruber hinaus gewahrleisten, dass die Handlungen nach Art. 1 lit. a der Richtlinie 2002/90/EG und, soweit relevant, die Handlungen nach Art. 2 lit. a, sofern sie zu Gewinnzwecken begangen werden, mit Freiheitsstrafen im HochstmaC von mindestens acht Jahren bedroht sind, wenn sie unter einem der folgenden Umstande begangen wurden: a) die strafbare Handlung wurde als Handlung einer kriminellen Vereinigung begangen, wie sie in der Gemeinsamen MaBnahme 98/733/JI27 definiert ist oder b) bei der Begehung der strafbaren Handlung wurde das Leben der Personen gefahrdet, auf die sich die strafbare Handlung bezog. Wenn es zur Wahrung der Koharenz des nationalen Sanktionensystems unerlasslich ist, werden die Handlungen nach Art. 1 III mit Freiheitsstrafen im HochstmaB von mindestens sechs Jahren bedroht, sofern es sich hierbei um eine der Hochststrafen handelt, die fur vergleichbare strafbare Handlungen vorgesehen sind. (2) Nach Art. 2 ist die Verantwortlichkeit juristischer Personen zu regeln. Art. 3 legt die Mitgliedstaaten darauf fest, die erforderlichen MaBnahmen zu treffen, um gegen eine i. S. v. Art. 2 I verantwortliche juristische Person wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen verhangen zu konnen, zu denen strafrechtliche oder nicht strafrechtliche Geldsanktionen sowie andere Sanktionen gehb'ren konnen, wie a) MaBnahmen des Ausschlusses von offentlichen Zuwendungen oder Hilfen, b) MaBnahmen des vorilbergehenden oder standigen Verbots der Ausilbung einer Handelstatigkeit, c) richterliche Aufsicht, d) richterlich angeordnete Auflosung. (3) Jeder Mitgliedstaat ergreift nach Art. 4 I die erforderlichen MaBnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf die Handlungen nach Art. 1 I zu begrunden, wenn diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet, b) von einem seiner Staatsangehorigen oder
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c) zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wurden. 42 (4) Art. 5 enthalt Vorgaben zur Auslieferung und zur Sicherstellung der Strafverfolgung eigener Staatsangehoriger, falls diese nicht an andere Mitgliedstaaten ausgeliefert werden. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, die Vorgaben des Rahmenbeschlusses vor dem 5. Dezember 2004 zu erfullen (Art. 9 I). c) Deutsches Strafrecht 43 Das Gesetz iiber die Einreise und den Aufenthalt von Auslandern im Bundesgebiet (Auslandergesetz - AuslG)28 enthalt bereits einschlagige Straftatbestande, die den Ponalisierungsvorgaben des Rahmenbeschlusses entsprechen. Nach § 92 a I AuslG wird das Einschleusen von Auslandern - hierzu gehoren auch die Anstiftung und das Hilfeleisten zu einer illegalen Einreise - mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu funf Jahren bestraft, wenn der Tater daftlr einen Vermogensvorteil erhalt oder sich versprechen lasst bzw. wenn er wiederholt oder zugunsten von mehreren Auslandern handelt. Der Strafrahmen erhoht sich nach § 92 a II AuslG auf eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren, wenn der Tater gewerbsmaBig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat. Der Versuch ist strafbar (§ 92 a III AuslG). Als Verbrechen, das mit Freiheitsstrafe von einem bis zu zehn Jahren bedroht ist, wird das gewerbs- und bandenmaBige Einschleusen von Auslandern nach § 92 b I AuslG eingestuft. Nach Art. 92 b III AuslG sind die Bestimmungen iiber den erweiterten Verfall (§ 73 d StGB) anzuwenden, d. h., die Strafverfolgungsbehorden konnen auf etwaige Gewinne zugreifen, die im Rahmen organisierter Schleusertatigkeit erzielt wurden.
6. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Geldwasche 44 Bei den MaBnahmen gegen die organisierte Finanzkriminalitat spielt die Bekampfung der Geldwasche eine zentrale Rolle. Die EG hat die Mitgliedstaaten bereits durch die Geldwascherichtlinie v. 10. Juni 199129 angewiesen, das Verbot der Geldwasche im Bereich des Finanz- und Bankensektors mit geeigneten Mitteln durchzusetzen (vgl. § 8 Rn. 11). Da sich der Rat nicht auf eine explizit kriminalstrafrechtliche Anweisung einigen konnte, wurde es den Mitgliedstaaten uberlassen, die zur Umsetzung der Richtlinie erforderlichen MaBnahmen zu ergreifen. Unter den Mitgliedstaaten bestand jedoch Einigkeit daruber, dass sie die in dem UN-SuchtstoffUbK v. 20. Dezember 198830 (§ 5 Rn. 8) und im Geldwascheiibereinkoinnien des Europarats v. 8. November 199031 (vgl. § 3 Rn. 14) vorgesehenen strafrechtlichen MaBnahmen ergreifen werden, wobei der im Europaratsubereinkommen erfasste Vortatenkatalog fur Geldwaschedelikte nicht auf den BeAuslG i. d. F. d. Fassung d. Bekanntmachung v. 9. Mi 1990 (BGB1. I 1990, 1354), zuletzt geandert durch Gesetz v. 9. Januar 2002 (BGB1.1 2002, 361). ABlEG1991Nr. L 166, S. 77. Vgl. das deutsche Ratifikationsgesetz v. 22. Mi 1993 (BGB1. II 1993, 1136). ETS Nr. 141; BGB1. II 1998, 519; 2000, 1304; 2001, 339.
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reich der Drogendelikte beschrankt ist. Die Anderang der Geldwascherichtlinie durch die am 28. Dezember 2001 in Kraft getretene Richtlinie 2001/97/EG32fuhrte zu einer Erweiterung des Geldwascheverbots auf alle Formen der schweren Kriminalitat und bezog auch Aktivitaten und Berufe auBerhalb des Finanzsektors (u. a. Rechtsanwalte, Notare) ein33. Mit einer Reihe weiterer Initiativen verfolgen die Mitgliedstaaten das Ziel, dem 45 organisierten Verbrechen seinen groBten Anreiz, die Erzielung von Ertragen, zu nehmen. Die Gemeinsame Mafinahme v. 3. Dezember 1998 iiber Geldwasche, die Ermittlung, das Einfrieren, die Beschlagnahme und die Einziehung von Tatwerkzeugen und Ertragen aus Straftaten beschrankt die Moglichkeit der Mitgliedstaaten, Vorbehalte zu bestimmten Vorschriften des Geldwascheiibereinkommens geltend zu machen und verbessert die Zusammenarbeit bei der Einziehung von Vermb'gensgegenstanden. Der am 6. M i 2001 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates v. 26. Juni 2001 iiber Geldwasche sowie Ermittlung, Einfrieren, Beschlagnahme und Einziehung von Tatwerkzeugen und Ertragen aus Straftaten34 reformiert und effektiviert die Gemeinsame MaBnahme. Des Weiteren enthalt das am 16. Oktober 2001 verabschiedete Protokoll zum EUUbereinkommen iiber die Rechtshilfe in Strafsachen v. 29. Mai 200035 spezifische Regelungen zur Erleichterung der Rechtshilfe bei der Bekampfung der Geldwaschekriminalitat. Hierzu gehort insbesondere die Bearbeitung von Auskunftsersuchen zu Bankkonten und Bankgeschaften zwischen den Mitgliedstaaten. Das Protokoll sieht vor, dass Rechtshilfe kilnftig nicht mehr unter Berufung auf das Bankgeheimnis oder auf die fiskalische bzw. politische Natur eines Delikts verweigert werden darf. Mangels Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten noch nicht in Kraft getreten ist das am 19. Juni 1997 beschlossene Zweite Zusatzprotokoll zum tibereinkommen iiber den Schutz der finanziellen Interessen der EG zur Bekampfung der Geldwasche36, dem die Bundesrepublik Deutschland durch das Vertragsgesetz v. 21. Oktober 200237 zugestimmt hat. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Die Geldwasche als ,,Herzstuck der organisierten Kriminalitat" soil von den Mit- 46 gliedstaaten mit aller Entschlossenheit bekampft werden. In den Erwagungsgriinden des Rahmenbeschusses ruft der Europaische Rat die Mitgliedstaaten deshalb dazu auf, die materiellen und die formellen Strafrechtsbestimmungen zur Geldwasche (insbesondere zum Einziehen von Vermogensgegenstanden) einander anzunahern. Vor allem soil das Spektrum der kriminellen Aktivitaten, die als Vortaten strafbarer Geldwasche angesehen werden, in alien Mitgliedstaaten einheit32 33
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ABlEG2001Nr. L 344, S. 76 ff. Vgl. hierzu Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236, 238; Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 98 und WasmeierlJour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn 45. ABlEG2001Nr. L 182, S.I. AB1EG 2001 Nr.C 326, S. 1. ABlEG1997Nr. C221,S. 12. BGB1. 2002 II, 2722.
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lich und hinreichend weit gefasst sein. Die Regelungen des Rahmenbeschlusses kniipfen an die strafrechtlichen Vorgaben des Geldwascheubereinkommens des Europarats v. 8. November 1990 an und zielen darauf ab, die in den Mitgliedstaaten bereits ergriffenen UmsetzungsmaBnahmen zu effektivieren38. b) Wesentlicher Inhalt 47 (1) Das Recht der Mitgliedstaaten, Vorbehalte zu den strafrechtlichen Vorgaben des Geldwascheubereinkommens von 1990 geltend zu machen oder aufrecht zu erhalten, wird nach Art. 1 noch weiter eingeschrankt als dies in der Gemeinsamen MaBnahme v. 3. Dezember 1998 geregelt ist. 48 (2) Nach Art. 2 hat jeder Mitgliedstaat in Koharenz mit seinem Strafensystem die erforderlichen MaBnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die in Art. 6 I lit. a und b des Geldwascheubereinkommens von 1990 genannten schweren Straftaten, wie sie sich aus Art. 1 lit. b dieses Rahmenbeschlusses ergeben, mit Freiheitsstrafen belegt werden konnen, die im HochstmaB nicht unter vier Jahren liegen diirfen (sog. Mindesthochststrafe). 49 (3) Art. 3 fiihrt die sog. ,,Wertersatzstrafe" ein. Jeder Mitgliedstaat muss gewahrleisten, dass seine Rechts- und Verfahrensvorschriften liber die Einziehung von Ertragen aus Straftaten, mindestens in den Fallen, in denen ein Zugriff auf diese Ertrage nicht moglich ist, auch die Einziehung von Vermogensgegenstanden ermoglichen, deren Wert dem Wert dieser Ertrage entspricht. Dies gilt sowohl in rein innerstaatlichen Verfahren als auch in Verfahren, die auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaats einschlieBlich der Ersuchen um Vollstreckung auslandischer Einziehungsentscheidungen eingeleitet werden. Die Mitgliedstaaten konnen jedoch die Einziehung von Vermogensgegenstanden, deren Wert den Ertragen aus Straftaten entspricht, in den Fallen ausnehmen, in denen dieser Wert unter € 4 000.- liegen wurde. c) Deutsches Strafrecht 50 In Erfullung der von Deutschland ubernommenen Verpflichtungen aus dem UNSuchtstoffUbK v. 20. Dezember 1988, dem Geldwascheubereinkommen des Europarats v. 8. November 1990 und der Geldwascherichtlinie v. 10. Juni 1991 schuf der deutsche Gesetzgeber durch das Gesetz zur Bekampfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalitat v. 15. Juli 1992 (OrgKG) den Straftatbestand der Geldwasche (§261 StGB)39. Seitdem wurde der Tatbestand - im Wesentlichen bedingt durch die Erweiterung des Vortatenkatalogs als auch durch dessen Anpassung an geanderte Bezugsstraftatbestande - mehrfach geandert40. § 261 StGB zielt darauf ab, das Einschleusen von Vermogensgegenstanden aus organisierter Kriminalitat (OK) 38
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Vgl. hierzu die rechtsvergleichenden Ausfiihrungen zur Geldwaschestrafbarkeit in den EU-Mitgliedstaaten von Ambos, ZStW 114 (2002), S. 236, 240 ff. sowie - bezogen auf Deutschland und England - Gentzik, Europaisierung des Geldwaschestrafrechts, S. 59 ff. BGB1.1 1992, 1302. Vgl. hierzu Tron&\dFischer, § 261 Rn. 1; MuKoStGB/jVew/ze^er, 2003, § 261 Rn. 17 ff.
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und verwandten Erscheinungsformen in den legalen Finanz- und Wirtschaftskreislauf zu verhindern41. Die Strafverfolgungsbehorden sollen in die Lage versetzt werden, die ,,Geld- bzw. Papierspur" (paper-trail) illegaler Finanzstrome aufnehmen, in die Strukturen der OK eindringen und deren Nerv durch Entziehung ihrer Gewinne treffen zu konnen. Obwohl die Bekampfung der OK Anlass zur Schaffung des Geldwaschetatbestandes war, reicht der in § 261 StGB enthaltene Katalog geldwascherelevanter Vortaten inzwischen weit iiber die Straftaten hinaus, die der OK zuzurechnen sind42. Den Vorgaben des Rahmenbeschlusses zur Geldwaschebekampfung tragt das 51 bestehende Rechtsinstrumentarium vollumfanglich Rechnung. Dies gilt zum einen fur die in § 261 I bzw. IV StGB vorgesehenen Strafandrohungen (vgl. hierzu die in Art. 2 des Rahmenbeschlusses angeordnete Mindesthochststrafe), als auch fur die Regelung des § 261 VII StGB ilber Einziehung und Verfall. Der Geldwaschetatbestand ist insoweit in Zusammenschau mit den Vorschriften ilber den erweiterten Verfall (§ 73 d StGB) und dem am 29. November 1993 in Kraft getretenen Gesetz iiber das AufspUren von Gewinnen aus schweren Straftaten - Geldwaschegesetz (GwG)43 — zu sehen. Die erweiterten Verfallsvorschriften dienen der Abschopfung illegalen Vermogens aus dem Wirtschaftskreislauf. Ist der Verfall eines bestimmten Gegenstandes nach der Tat ganz oder teilweise unmoglich geworden, ordnet das Gericht den Verfall eines Geldbetrages an, der dem Wert des Erlangten entspricht (vgl. §§ 73 d II, 73 a, 73 b StGB)44 Damit erfullt das deutsche Recht auch die in Art. 3 des Rahmenbeschlusses niedergelegte Forderung nach Einfuhrung einer ,,Wertersatzstrafe".
II. Terrorismus 1. Anwendungsbereich Art. 31 lit. e EUV benennt als zweiten Bereich angleichungsfahiger Kriminalitats- 52 formen den Terrorismus. Eine prazise Definition dieses Terminus erweist sich schon deshalb als schwierig, weil sich in den Mitgliedstaaten bislang kein einheitliches Begriffsverstandnis herausgebildet hat und nur wenige Rechtsordnungen ei-
BT-Drs. 12/989, S. 26; BR-Drs. 507/92, S. 23. Zur Diskussion iiber eine etwa erforderliche teleologische Reduktion des § 261 StGB in Fallen einer Annahme von Strafverteidigerhonoraren, die aus einer Katalogtat des Mandanten herruhren vgl. TrondldFischer, § 261 Rn. 32 ff.; Lackner/Kuhl, § 261 Rn. 5 jew. m. w. N. Der BGH ist diesen Vorschlagen nicht gefolgt (BGHSt 47, 68). Das BVerfG hat jedoch am 30. Marz 2004 geurteilt, dass § 261 II Nr. 1 StGB nur dann mit der Verfassung vereinbar sei, wenn der Strafverteidiger bei Annahme des Honorars sichere Kenntnis von dessen illegaler Herkunft aus einer Katalogtat habe (BVerfG NJW 2004, 1305 = StV 2004, 254; vgl. hierzu DahslKrauselWidmaier, NStZ 2004, 261; Wohlers, JZ 2004, 670). BGB11 1993, 1770. Vgl. hierzu Podolsky, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 26. Kap. Rn. 46 ff.
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nen speziell auf Terrorismus zugeschnittenen Straftatbestand kennen45. Unter dem Eindruck der Terroranschlage auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 erhielt die Terrorismusbekampfung in den EU-Mitgliedstaaten eine neue Dynamik46. Es bestand Einigkeit dariiber, dass der massiven Bedrohung der internationalen Gemeinschaft durch starker aufeinander abgestimmte strafrechtliche MaBnahmen entgegenzuwirken sei. Der Europaische Rat stellte am 21. September 2001 einen Aktionsplan auf, der einen MaBnahmenkatalog zur Verbesserung der PJZS und zur Finanzierung der Terrorismusbekampfung beinhaltete47. Noch im Dezember 2001 nahm der Rat einen gemeinsamen Standpunkt ilber die Bekampfung des Terrorismus48 an und einigte sich auf der Basis eines Kommissionsvorschlages49, der auch Defmitionsansatze des Volkerrechts beriicksichtigte, am 6. Dezember 2001 auf einen Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekampfung. Die in Art. 1 des Rahmenbeschlusses enthaltene Definition des Begriffs ,,Terrorismus" (Rn. 57) bietet als Ausdruck einer gemeinsamen Rechtsiiberzeugung eine wesentliche Auslegungshilfe fur die Bestimmung des Anwendungsbereiches des Art. 31 lit. e EUV50.
2. Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekampfung 53 Am 13. Juni 2002 hat der Rat einen Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekampfung angenommen, der am 23. Juni 2002 in Kraft getreten ist51. Die Bekampfung des Terrorismus war bereits Thema beim Europaischen Rat von Tampere (1999) und beim Europaischen Rat von Santa Maria da Feira (2000). Nach der gemeinsamen Uberzeugung aller Mitgliedstaaten stellt der Terrorismus eine schwerwiegende und ernsthafte Verletzung der Grundfreiheiten, der Menschenrechte sowie der Grundsatze von Freiheit und Demokratie dar. Bestimmungen zur Terrorismusbekampfung sind bereits in mehreren Rechtsakten der EU-Mitgliedstaaten enthalten. Hierzu zahlen: 54 - das Europol-Ubereinkommen nach den Anderungen aufgrund des Beschlusses des Rates v. 3. Dezember 1998 (Auftrag an Europol, sich mit Straftaten zu befassen, die im Rahmen von terroristischen Handlungen gegen Leben, korperliche Unversehrtheit, personliche Freiheit sowie gegen Sachen begangen wurden oder begangen werden konnten)52,
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Vgl. hierzu die Begrundung zum Vorschlag der Kommission fur einen Rahmenbeschluss zur Bekampfung des Terrorismus; K O M (2001) 5121 endg., S. 6 ff. und v. Bubnoff, N J W 2002, 2672. Vgl. hierzu v. Bubnoff, N J W 2002, 2672 ff. Ratsdokument SI (2001) 990. AB1EG 2001 Nr. L 344, S. 90. K O M (2001) 5121 endg., S. 3 ff. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 60. AB1EG2002, L 164, S. 3. AB1EG 1999 Nr. C 26, S. 22.
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- die Gemeinsame MaBnahme 96/610/JI betreffend die Erstellung eines Verzeichnisses der besonderen Fahigkeiten und Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Terrorismusbekampfung, mit dem die Zusammenarbeit zwischen den EUMitgliedstaaten bei der Terrorismusbekampfung erleichtert werden soil53, - die Gemeinsame MaBnahme 98/428/JI v. 29. Juni 1998 zur Einrichtung eines Europaischen Justiziellen Netzes (EJN), das laut Art. 2 Befugnisse in Bezug auf terroristische Straftaten hat54, - die Gemeinsame MaBnahme 98/73 3/JI v. 21. Dezember 1998 betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der EU55, - die Empfehlung des Rates v. 9. Dezember 1999 betreffend die Bekampfung der Finanzierung von terroristischen Gruppierungen56. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Ziel des Rahmenbeschlusses ist es, einen unionsweit einheitlichen strafrecht- 55 lichen Besitzstand zur Bekampfung des Terrorismus zu schaffen, der die Bildung ,,sicherer Hafen" fur Terroristen ausschlieBt. Der Rahmenbeschluss zielt daher auf eine Angleichung der mitgliedstaatlichen Strafbestimmungen ab, indem er Mindestvorschriften iiber die Tatbestandsmerkmale terroristischer Handlungen und die anzudrohenden Strafen festlegt, welche die Schwere dieser Straftaten widerspiegeln. Er findet Anwendung auf terroristische Straftaten, - die in einem Mitgliedstaat begangen oder vorbereitet wurden, - die von einem Staatsangehorigen eines Mitgliedstaates oder zu Gunsten einer juristischen Person, die ihren Sitz in einem Mitgliedstaat hat, begangen wurden oder - die gegen die Institutionen oder die Bevolkerung eines Mitgliedstaats begangen wurden. b) Wesentlicher Inhalt Der Rahmenbeschluss erlegt den Mitgliedstaaten umfangreiche Ponalisierungs- 56 pflichten auf: (1) Nach Art. 1 hat jeder Mitgliedstaat die erforderlichen MaBnahmen zu tref- 57 fen, um sicherzustellen, dass die unter lit. a-i aufgefuhrten, nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften als Straftaten defmierten vorsatzlichen Handlungen, die durch die Art ihrer Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schadigen kQnnen, als terroristische Straftaten eingestuft werden, wenn sie mit dem Ziel begangen werden, die Bevolkerung auf schwerwiegende Weise einzuschuchtern, offentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstruk53 54 55 56
ABlEG1996Nr. L273, S. 1. ABlEG1998Nr. L 191, S. 4. AB1EG 1998 Nr.L 351, S. 1. AB1EG 1999 Nr.C 373, S. 1.
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turen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstoren: a) Angriffe auf das Leben einer Person, die zum Tode fuhren konnen, b) Angriffe auf die korperliche Unversehrtheit einer Person, c) Entfuhrung oder Geiselnahme, d) schwerwiegende Zerstorungen an einer Regierungseinrichtung oder einer offentlichen Einrichtung, einem Verkehrsmittel, einer Infrastruktur einschlieBlich eines Informatiksystems, einer festen Plattform, die sich auf dem Festlandsockel befindet, einem allgemein zuganglichen Ort oder einem Privateigentum, die Menschenleben gefahrden oder zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten fiihren konnen, e) Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen offentlichen Verkehrsmitteln oder Gutertransportmitteln, f) Herstellung, Besitz, Erwerb, Beforderung oder Bereitstellung oder Verwendung von Schusswaffen, Sprengstoffen, atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie die Forschung und Entwicklung im Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waffen, g) Freisetzung gefahrlicher Stoffe oder Herbeifuhren von Branden, Uberschwemmungen oder Explosionen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefahrdet wird, h) Stoning oder Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Strom oder anderen lebenswichtigen natilrlichen Ressourcen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefahrdet wird, i) Drohung, eine der in lit. a-h genannten Straftaten zu begehen. 58 Als terroristische Straftaten geahndet werden somit Straftaten, die mit dem Vorsatz begangen werden, die Bevolkerung einzuschuchtern und die politischen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Strukturen dieses Landes ernsthaft zu schadigen oder zu zerstoren (namentlich Mord, Korperverletzung, Geiselnahme, Erpressung, Herstellung von Waffen, Anschlage, Anfuhren einer terroristischen Vereinigung usw.)57. Die vorgenannten Straftaten konnen von einer Einzelperson oder einer Vereinigung begangen werden und gegen ein Land oder mehrere Lander gerichtet sein. 59 (2) Nach Art. 2 II muss jeder Mitgliedstaat dafur sorgen, dass die nachstehenden vorsatzlichen Handlungen unter Strafe gestellt werden: a) Anfuhren einer terroristischen Vereinigung, b) Beteiligung an den Handlungen einer terroristischen Vereinigung einschlieBlich Bereitstellung von Informationen oder materiellen Mitteln oder durch jegliche Art der Finanzierung ihrer Tatigkeit mit dem Wissen, dass diese Beteiligung zu den strafbaren Handlungen der terroristischen Vereinigung beitragt. 60 Der Rahmenbeschluss defmiert eine ,,terroristische Vereinigung" in Art. 2 I als einen auf langere Dauer angelegten organisierten Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die zusammenwirken, um terroristische Straftaten zu begehen. Der Begriff ,,organisierter Zusammenschluss" bezeichnet einen Zusammenschluss, der Vgl. hierzu v. Bubnoff, NJW 2002, 2672, 2673.
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nicht nur zufallig zur unmittelbaren Begehung einer strafbaren Handlung gebildet wird und der nicht notwendigerweise formlich festgelegte Rollen fur seine Mitglieder, eine kontinuierliche Zusammensetzung oder eine ausgepragte Struktur hat. (3) Bestimmte Delikte (Diebstahl, Erpressung, Urkundendelikte), die mit dem 61 Ziel einer terroristischen Aktivitat begangen werden, sind nach Art. 3 lit. a-c unter Strafandrohung zu stellen. Ferner muss gem. Art. 4 die Strafbarkeit der Anstiftung, der Mittaterschaft und des Versuchs gewahrleistet werden. (4) Durch Art. 5 I werden die Mitgliedstaaten zur Festlegung bestimmter 62 Sanktionen verpflichtet. Straftaten nach Art. 1-4 mussen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht werden, die zu einer Auslieferung fuhren konnen. Terroristische Straftaten i. S. d. Art. 1 I und i. S. d. Art. 4, soweit sie sich auf terroristische Straftaten beziehen, mussen nach Art. 5 II mit hoheren Freiheitsstrafen bestraft werden konnen, als nach dem innerstaatlichen Recht fur solche Straftaten ohne den nach Art. 1 I erforderlichen besonderen Vorsatz vorgesehen sind, es sei denn, die vorgesehenen Strafen stellen bereits die nach innerstaatlichem Recht moglichen Hochststrafen dar. (5) Dariiber hinaus muss nach Art. 7, 8 jeder Mitgliedstaat gewahrleisten, dass 63 auch juristische Personen fur eine der in Art. 1-4 genannten Straftaten verantwortlich gemacht werden konnen und gegen diese ggf. wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen (auch nichtstrafrechtliche Geldsanktionen und andere Sanktionen) verhangt werden konnen, z. B. - MaGnahmen des Ausschlusses von offentlichen Zuwendungen oder Hilfen, - MaBnahmen des voriibergehenden oder standigen Verbots der Ausiibung einer Handelstatigkeit, - richterliche Aufsicht, - richterlich angeordnete Auflosung, - vorlibergehende oder endgiiltige SchlieBung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden. (6) Spezielle Regelungen zur Gerichtsbarkeit und Strafverfolgung sind in Art. 9 64 enthalten. Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, die erforderlichen MaBnahmen zu ergreifen, um: - ihre gerichtliche Zustandigkeit im Zusammenhang mit terroristischen Straftaten zu begrunden, - ihre gerichtliche Zustandigkeit zu begrunden, wenn sie sich weigern, eigene StaatsangehOrige auszuliefern, - ihr Vorgehen zu koordinieren, wenn mehrere Mitgliedstaaten zustandig sind, - sachdienliche Hinweise auszutauschen (hierzu sind entsprechende operationelle Anlaufstellen zu benennen). c) Deutsches Strafrecht Die deutsche Strafrechtsordnung enthalt zahlreiche Straftatbestande, die auf terro- 65 ristische Handlungen der in Art. 1 I des Rahmenbeschlusses beschriebenen Art
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Anwendung finden und die den von Art. 5 vorgeschriebenen Sanktionierungspflichten in ausreichender Weise Rechnung tragen durften. Zu denken ist vor allem an Volkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Art. 6, 7 VStGB), Kriegsverbrechen (Art. 8-12 VStGB), Totungs- und Korperverletzungsdelikte (§§ 211, 212, 221, 223, 224, 226, 227 StGB), Freiheitsdelikte (§§ 239 I, IV, 239 a, 239 b StGB), gemeingefahrliche Delikte (§§306-306 c, 306 f-311, 313, 314, 315-315 b, 316 b-318, 330, 330 a StGB), Delikte gegen den Bestand oder die Sicherheit des Staates (§§ 81-83, 87, 88 StGB), Verstofle gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz (vgl. insbesondere die Verbrechenstatbestande der §§ 19-20 a KWKG) sowie gegen das Waffen- und Sprengstoffrecht (§§ 51-52 WaffG, §§ 40, 42 SprengG). 66 Das von Art. 2 II aufgestellte Ponalisierungsgebot (Schaffung von Organisationsdelikten) wird von §§ 129 a, 129 b StGB erfullt. Durch das Gesetz zur Umsetzung des Ralimenbeschlusses des Rates v. 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekampfung v. 22. Dezember 200358 wurde § 129 a StGB neu gefasst, erweitert und mit rahmenbeschlusskonformen (angehobenen) Strafandrohungen versehen59. Diese Tatbestande ermoglichen Zugriffe der Strafverfolgungsbehorden im Vorund logistischen Umfeld terroristischer Straftaten, also unabhangig von deren konkreter Ausfuhrung60. Fur kriminelle oder terroristische Vereinigungen, die zumindest eine Teilorganisation innerhalb eines EU-Mitgliedstaates aufweisen, gelten die §§ 129, 129 a StGB gem. § 129 b I S. 1 StGB uneingeschrankt. Auf Vereinigungen auBerhalb der EU sind die §§ 129, 129 a StGB nur dann anzuwenden, wenn die Beteiligungstat entweder im Inland begangen wird, wenn der Tater oder das Opfer Deutscher ist oder sich Tater oder Opfer im Inland befinden61. Juristische Personen unterfallen nach § 30 I OWiG einer buBgeldrechtlichen Verantwortlichkeit, was nach Art. 8 des Rahmenbeschlusses ausreicht. Gegen Vereine, deren Zwecke oder Tatigkeit den Strafgesetzen zuwiderlaufen und die daher nach § 3 VereinsG verboten sind, ist von der zustandigen Behorde (Bundes- oder Landesinnenminister) eine Verbots- und Auflosungsverfugung zu treffen.
3. Rahmenbeschluss uber gemeinsame Ermittlungsgruppen 67 Die oben behandelte materiellrechtliche HarmonisierungsmaBnahme zur Bekampfung des Terrorismus wird durch eine weitere MaBnahme erganzt, die in erster Linie auf eine Effektivierung der grenziiberschreitenden Zusammenarbeit bei der Ermittlung und Aufklarung terroristischer Straftaten abzielt, aber auch in sonstigen Bereichen der internationalen Kriminalitat Anwendung finden kann. Der am 20. Juni 2002 in Kraft getretene Rahmenbeschluss des Rates v. 13. Juni
58 59 60 61
BGB1.1 2003, 2836. Trondle/Fwcfer, § 129 a Rn. 1. v. Bubnoff, NJW 2002, 2672, 2673, 2675 ff. Krit. hierzu Trondls/Fischer, § 129 b Rn. 7 ff.
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2002 tiber gemeinsame Ermittlungsgruppen62 sieht vor, dass die zustandigen Ermittlungsbehorden von zwei oder mehr Mitgliedstaaten fur einen bestimmten Zweck und einen begrenzten Zeitraum, der im gegenseitigen Einvernehmen verlangert werden kann, eine gemeinsame Ermittlungsgruppe zur Durchfuhrung strafrechtlicher Ermittlungen in einem oder mehreren der an der Gruppe beteiligten Mitgliedstaaten bilden konnen. Das Ersuchen um Bildung einer gemeinsamen Ermittlungsgruppe kann von je- 68 dem der betroffenen Mitgliedstaaten gestellt werden. Die Gruppe wird in einem der Mitgliedstaaten gebildet, in dem die Ermittlungen voraussichtlich durchzufuhren sind. Eine gemeinsame Ermittlungsgruppe kann im Wege einer zwischenstaatlichen Vereinbarung insbesondere gebildet werden, a) wenn in dem Ermittlungsverfahren eines Mitgliedstaats zur Aufdeckung von Straftaten schwierige und aufwandige Ermittlungen mit Beziigen zu anderen Mitgliedstaaten durchzufuhren sind, b) wenn mehrere Mitgliedstaaten Ermittlungen zur Aufdeckung von Straftaten durchfuhren, die infolge des zugrunde liegenden Sachverhalts ein koordiniertes und abgestimmtes Vorgehen in den beteiligten Mitgliedstaaten erforderlich machen.
III. Illegaler Drogenhandel 1. Anwendungsbereich Die strafrechtliche Bekampfung des illegalen Drogenhandels gehorte von Anfang 69 an zu den zentralen Zielen der EU. Bereits am 17. Dezember 1996 nahm der Rat im Rahmen der ZBJI aufgrund von Art. K.3 EUV (i. d. F. des Vertrags von Maastricht) die Gemeinsame MaBnahme 96/750/JI betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften und der Verfahren der Mitgliedstaaten der EU zur Bekampfung der Drogenabhangigkeit und zur Verhiitung und Bekampfung des illegalen Drogenhandels63 an. Nach Art. 1 der Gemeinsamen MaBnahme ,,bemuhen sich (die Mitgliedstaaten), ihre Rechtsvorschriften einander anzugleichen, um sie aufeinander abzustimmen, soweit dies zur Verhiitung und Bekampfung des illegalen Drogenhandels in der Europaischen Union erforderlich ist". Nach MaBgabe von Art. 4 tragen die Mitgliedstaaten daftlr Sorge, dass ,,im Rahmen ihrer Rechtsordnungen die Sanktionen fur schwere Delikte im Bereich des Drogenhandels zu den strengsten Strafen fur vergleichbar schwere Straftaten gehoren". Des Weiteren verabschiedete der Rat mit der EntschlieBung v. 20. Dezember 70 1996 uber die Ahndung von schweren Straftaten im Bereich des unerlaubten Drogenhandels64 ein weiteres Rechtsinstrument, in dem die Mitgliedstaaten aufgefor62
AB1EG 2 0 0 2 Nr. L 162, S. 1. Der Rahmenbeschluss tritt auBer Kraft, sobald das Ubereinkommen uber die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der E U ( E U R U ; vgl. § 12 Rn. 7) in alien Mitgliedstaaten in Kraft getreten ist. 63 AB1EG 1996 Nr. L 342, S. 6. 64 ABlEG1997Nr. C 10, S. 3.
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dert werden, sicherzustellen, dass ,,ihre nationalen Rechtsvorschriften fur schwere Drogendelikte die Moglichkeit von Freiheitsstrafen vorsehen, die im Bereich der hochsten Freiheitsstrafen liegen, die das nationale Strafrecht fur vergleichbar schwere Verbrechen vorsieht". Als Einrichtungen der praktischen Zusammenarbeit bei der Drogenbekampfung auf EU-Ebene spielen insbesondere Europol (§ 5 Rn. 61) und die Europaische Drogenbeobachtungsstelle CELAD (§ 5 Rn. 29) eine herausragende Rolle. 71 Auch in Art. 29 EUV wird die Verhutung und Bekampfung des illegalen Drogenhandels als zentrales Unionsziel hervorgehoben. Nach Art. 31 lit. e EUV schlieBt das gemeinsame Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der PJZS auch die schrittweise Annahme von MaBnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften ilber die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in dem Bereich des illegalen Drogenhandels ein. DemgemaB hat die Kommission am 23. Mai 2001 einen Vorschlag fiir einen Rahmenbeschluss des Rates zur Festlegung von Mindestvorschriften iiber die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in dem Bereich des illegalen Drogenhandels65 vorgelegt. Dort findet sich in Art. 1 eine konsensfahige Definition des Begriffs ,,illegaler Drogenhandel", die wesentliche Elemente der in dem UNSuchtstoffObK v. 20. Dezember 198866 und in einzelstaatlichen Vorschriften enthaltenen Begriffsbestimmungen aufnimmt. Diese Definition kann als wichtiger Ansatz zur Bestimmung des Anwendungsbereiches des Art. 31 lit. e EUV herangezogen werden67. 72 Dem Kriminalitatsbereich ,,illegaler Drogenhandel" zuzuordnen sind demnach: - ungenehmigter Verkauf und Handel mit Drogen, - Anbau, Produktion, Herstellung, Einfuhr, Ausfuhr, Verteilung, Anbieten und Verbringung von Drogen ohne Genehmigung und in Gewinnerzielungsabsicht, - ungenehmigter Empfang, Kauf oder Besitz von Drogen zum Zwecke der Weitergabe und in Gewinnerzielungsabsicht.
2. Rahmenbeschlussvorschlag zur Bekampfung des illegalen Drogenhandels 73 Der Rahmenbeschlussvorschlag der Kommission fugt sich in das von der EU seit 1990 verfolgte Konzept eines umfassenden, multidisziplinar ausgerichteten und integrierten Vorgehens zur Drogenbekampfung ein, das sich auf vier Grundpfeiler stiitzt: Nachfragereduzierung, Verringerung des Angebots und Bekampfung des illegalen Handels, international Zusammenarbeit sowie Koordinierung auf einzelstaatlicher und Unionsebene68.
65 66 67 68
K O M (2001) 291 endg. (AB1EG 2001 Nr. C 304 E, S. 172). Vgl. das deutsche Ratifikationsgesetz v. 22. M i 1993; BGB1. II 1993, 1136. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 59. Vgl. hierzu auch den Aktionsplan zur Drogenbekampfung 2000-2004 (Ratsdok. 12553/3/99 Cordrogue 64 REV 3).
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a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlussvorschlages Der von der Kommission vorgeschlagene Rahmenbeschluss legt eine Definition 74 des illegalen Drogenhandels fest, um einen gemeinsamen Ansatz der Bekampfung des illegalen Drogenhandels zu ermoglichen. Der Vorschlag geht in seinen Ponalisierungsvorgaben inhaltlich iiber die EntschlieBung des Rates v. 20. Dezember 1996 ilber die Ahndung von schweren Straftaten im Bereich des unerlaubten Drogenhandels hinaus. Dieser wiirde mit der Annahme des Rahmenbeschlusses obsolet. Nicht hinfallig wurde hingegen die Gemeinsame Mafinahme 96/750/JI v. 17. Dezember 1996 betreffend die Angleichung der Rechtsvorschriften und der Verfahren der Mitgliedstaaten der EU zur Bekampfung der Drogenabhangigkeit und zur Verhutung und Bekampfung des illegalen Drogenhandels. Letztere enthalt namlich zahlreiche weiterhin bedeutsame Vorgaben fur eine verstarkte Zusammenarbeit der Polizei-, Zoll- und Justizbehorden bei der Bekampfung des illegalen Drogenhandels. b) Wesentlicher Inhalt (1) In Art. 1 I, II werden die im Rahmenbeschlussvorschlag verwendeten Begriffe 75 ,,illegaler Drogenhandel" und ,,Drogen" defmiert. Diese Begriffsbestimmungen schlieBen detailliertere Defmitionen in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften nicht aus. In Ubereinstimmung mit der Rechtsprechung in alien Mitgliedstaaten schlagt die Kommission vor, dass dieser Rahmenbeschluss zwei Falle nicht erfasst, namlich erstens den Konsumenten, der Drogen zum personlichen Gebrauch illegal produziert, erwirbt oder besitzt und zweitens den Konsumenten, der Drogen ohne Gewinnerzielungsabsicht weitergibt (z. B. jemand, der Drogen an ihm Nahestehende weitergibt, ohne dafttr Geld zu bekommen). Erfasst werden hingegen der Fall des Verkaufers, der in kleinem MaBstab illegal und in Gewinnerzielungsabsicht Drogen verkauft, der lokale Drogenhandler, der iiber ein Netz von vor Ort agierenden Dealern verfugt oder an Personen verkauft, die auf eigene Rechnung weiterverkaufen und der internationale Drogenhandler, der sich an illegalem Drogenhandel im internationalen MaBstab beteiligt oder einen solchen organisiert oder lenkt bzw. groBe Mengen an Drogen ein- oder ausfuhrt. Die Definition des Rahmenbeschlussvorschlages bezieht sich also insbesondere auf den illegalen grenziiberschreitenden Drogenhandel sowie Handlungen zum Zwecke der Abgabe und der Gewinnerzielung. Da die eingesetzten Kommunikationsmittel nicht prazisiert werden (z. B. Telefon, Fax, Internet), wird auch der iiber die neuen Informations- und Kommunikationstechniken, insbesondere das Internet laufende Handel einbezogen. (2) Nach Art. 2, 3 sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, den in Art. 1 defmier- 76 ten illegalen Drogenhandel einschlieBlich Anstiftung und Beihilfe hierzu sowie den Versuch unter Strafe zu stellen. (3) Die Mitgliedstaaten haben nach Art. 4 sicherzustellen, dass die in den Art. 2 77 und 3 genannten Straftaten mit wirksamen, verhaltnismaBigen und abschreckenden Sanktionen einschlieBlich Freiheitsstrafen im HochstmaB von in schweren Fallen mindestens fiinf Jahren geahndet werden. Des Weiteren muss die Einziehung der Substanzen, die Gegenstand des illegalen Drogenhandels waren, der Tatwerkzeuge und Vermogensgegenstande sowie der direkt oder indirekt durch
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§ 11 Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Saule
den Handel erzielten Ertrage oder Vorteile ermoglicht werden. Neben den vorzusehenden Freiheitsstrafen muss das nationale Recht auch Geldstrafen androhen, die anstatt oder neben einer Freiheitsstrafe verhangt werden konnen. 78 (4) Art. 5 I zahlt erschwerende Umstande auf, die mit einer erhohten Mindesthochststrafe von nicht weniger als sieben Jahre Freiheitsstrafe zu bedrohen sind (Art. 5 II). Unbeschadet sonstiger in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegter erschwerender Umstande haben die Mitgliedstaaten fur die in den Art. 2 und 3 genannten Straftaten folgende erschwerende Umstande vorzusehen: a) der Tater spielt bei der Organisation des Handels eine maBgebende Rolle, oder die Straftat wird im Rahmen einer kriminellen Vereinigung begangen, b) die Straftat wird unter Gewaltanwendung oder unter Einsatz von Waffen begangen, c) die Straftat involviert ausschlieBlich Minderjahrige oder Personen, die nicht ihren Willen ausiiben konnen, d) die Straftat wird innerhalb oder in der Nahe von Schulen, Aufenthaltsorten und Freizeiteinrichtungen fur Jugendliche oder Einrichtungen zur Behandlung und Wiedereingliederung von Drogenabhangigen begangen, e) bei den Tatern handelt es sich um Arzte, Apotheker, Justiz-, Polizei- oder Zollbeamte, Beamte von Justizvollzugsanstalten oder Diensten zur sozialen Wiedereingliederung, Lehrer, Erzieher oder um in Bildungseinrichtungen tatige Personen, die sich ihre berufliche Stellung zur Begehung der Straftat zunutze gemacht haben, f) der Tater wurde in einem Mitgliedstaat der Union wegen einer oder mehrerer vergleichbarerer Straftaten rechtskraftig verurteilt. 79 (5) Nach Art. 6 haben die Mitgliedstaaten unbeschadet sonstiger in den innerstaatlichen Rechtsvorschriften festgelegter mildernder Umstande die erforderlichen MaBnahmen zu treffen, damit die in Art. 4 genannten Strafen gemildert werden konnen, wenn der Straftater den zustandigen Behorden zu Ermittlungs- oder Beweiserhebungszwecken sachdienliche Hinweise iiber die Identitat anderer Straftater geliefert oder zur Identifizierung von Drogennetzen beigetragen hat. 80 (6) Die Verantwortlichkeit juristischer Personen fur die in Art. 2 und 3 genannten Straftaten ist nach Mafigabe der Art. 7, 8 sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten haben zu gewahrleisten, dass gegen eine verantwortliche juristische Person wirksame, verhaltnismaBige und abschreckende Strafen verhangt werden konnen, die Geldstrafen und andere, insbesondere folgende Sanktionen einschlieBen: a) Ausschluss von steuerlichen oder sonstigen Vorteilen oder offentlichen Zuwendungen, b) voriibergehendes oder standiges Verbot der Ausiibung einer gewerblichen Tatigkeit, c) richterliche Aufsicht, d) richterlich angeordnete Auflosung, e) vorubergehende oder endgiiltige SchlieBung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden,
C. Bereiche zulassiger Strafrechtsangleichung nach Art. 31 lit. e EUV
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f) Einziehung von Vermogensgegenstanden, die der Straftat entstammen, sowie von Ertragen und Vorteilen, die direkt oder indirekt durch die Straftat erzielt werden. (7) Jeder Mitgliedstaat ergreift nach Art. 9 I die erforderlichen MaBnahmen, um 81 seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf die in Art. 2 und 3 genannten Straftaten zu begrunden, wenn diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet, b) von einem seiner Staatsangehorigen oder c) zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wurden. (8) Art. 10 legt die Mitgliedstaaten darauf fest, im Einklang mit den geltenden 82 Ubereinkommen und bilateralen oder multilateralen Vereinbarungen bzw. Regelungen einander bei Verfahren im Zusammenhang mit Straftaten i. S. d. Art. 2 und 3 in grofitmoglichem Umfang Amtshilfe zu leisten. Wenn mehrere Mitgliedstaaten fur die Verfolgung einer in Art. 2 oder 3 genannten Straftat zustandig sind, haben sie Konsultationen aufzunehmen, um ihr Vorgehen zu koordinieren. Dabei nutzen sie weitestgehend die justiziellen und sonstigen Kooperationsmechanismen. c) Deutsches Strafrecht Den in Art. 2, 3 des Rahmenbeschlussvorschlages vorgesehenen Mindestbestra- 83 fungsverpflichtungen tragt das geltende deutsche Strafrecht nicht nur vollumfanglich Rechnung, sondern geht - was den Katalog strafbarer Handlungen und die angedrohten Strafen anbelangt - sogar iiber diese hinaus. Der umfangreiche Tatkatalog der §§ 29-3 0a BtMG69 ermoglicht eine flachendeckende und liickenlose Erfassung der verschiedensten Tatbegehungsweisen70. So wird in § 29 I Nr. 1 BtMG - dem Grundtatbestand des deutschen Betaubungsmittelstrafrechts - der unerlaubte Verkauf und Handel mit Drogen unter Strafandrohung gestellt. Qualifikationen (Verbrechenstatbestande) sind in §§ 29a I, 30 I, 30 a I, II BtMG normiert. Anbau, Produktion, Herstellung, Einfuhr, Ausfuhr, Verteilung, Anbieten und Verbringung von Drogen ohne Genehmigung werden von § 29 I Nr. 1 BtMG, besonders schwere Falle dieser Tathandlungen von § 29 III Nr. 1,2 BtMG erfasst. Ebenfalls strafbar gem. § 29 I Nr. 1 BtmG sind der ungenehmigte Empfang oder Kauf von Betaubungsmitteln (,,Erwerben" oder ,,Sichverschaffen in sonstiger Weise"). Der bloBe Besitz von Betaubungsmitteln stellt - ohne dass eine Absicht zur Gewinnerzielung oder Weitergabe vorliegen muss - gem. § 29 I Nr. 3 BtMG eine Straftat dar, wenn der Besitzer iiber keine schriftliche Erlaubnis fur den Erwerb von Betaubungsmitteln verfugt. Der Versuch von Taten gem. § 29 I Nr. 1 BtMG ist gem. § 29 II BtMG strafbar (,,versuchter Besitz" ist als ,,versuchtes Erwerben oder Sichverschaffen" von §§ 29 I Nr. 1, II BtMG erfasst). Fur Taterschaft und Teilnahme gelten die allgemeinen Regeln (§§ 25-27 StGB). Bereits die im Katalog des § 29 I Nr. 1-14 BtMG geregelten Handlungen sind mit der von dem
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Gesetz iiber den Verkehr mit Betaubungsmitteln i. d. F. v. 1. Marz 1994 (BGB1. I 1994, 358; zuletzt geandert am 26. Juni 2002 (BGB1.1 2002, 2261). Vgl. hierzu die umfassende und praxisnahe Kommentierung von Korner, BtMG.
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Rahmenbeschlussvorschlag geforderten Mindesthochststrafe von flinf Jahren bedroht. 84 Auch den in Art. 5 I des Rahmenbeschlussvorschlages aufgefiihrten erschwerenden Umstanden, die mit einer erhohten Mindesthochststrafe von nicht weniger als sieben Jahre Freiheitsstrafe zu bedrohen sind (Art. 5 II), tragt das geltende deutsche Strafrecht Rechnung: Falle, in denen ein Bezug zur Organisierten Kriminalitat besteht, werden von §§ 30 I Nr. 1, 30 a I BtMG erfasst. Erganzend ist auf § 129 StGB, § 30 b BtMG hinzuweisen. Wenn die Straftat unter Anwendung von Gewalt begangen wurde, liegt ein besonders schwerer Fall gem. § 29 III S. 1 BtMG vor (vgl. auch § 29 III S. 2 Nr. 2 BtMG). Bei Einsatz von Schusswaffen oder gefahrlichen Gegenstanden greift § 30 a II Nr. 2 BtMG ein. Wenn in die Straftat Minderjahrige oder Personen, die nicht ihren Willen ausuben konnen involviert werden, liegt zumindest ein besonders schwerer Fall gem. § 29 III S. 1 BtMG vor, wenn nicht sogar §§ 29 a I Nr. 1, 30 a II Nr. 1 BtMG Anwendung finden71 . Wird die Straftat innerhalb oder in der Nahe von Schulen, Aufenthaltsorten und Freizeiteinrichtungen fur Jugendliche oder Einrichtungen zur Behandlung und Wiedereingliederung von Drogenabhangigen begangen, ist ein besonders schwerer Fall gem. § 29 III 1 BtMG anzunehmen72. Das Gleiche gilt, wenn es sich bei den Tatern um Arzte, Apotheker, Justiz-, Polizei- oder Zollbeamte, Beamte voh Justizvollzugsanstalten oder Diensten zur sozialen Wiedereingliederung, Lehrer, Erzieher oder um in Bildungseinrichtungen tatige Personen, die sich ihre berufliche Stellung zur Begehung der Straftat zunutze gemacht haben73. Wenn der Tater in einem Mitgliedstaat der EU wegen einer oder mehrerer vergleichbarerer Straftaten rechtskraftig verurteilt wurde, so stellt dies einen von dem Tatgericht nach § 46 II StGB zu berucksichtigenden, strafscharfend ins Gewicht fallenden Strafzumessungsgrund dar74. 85
Der nach § 6 des Rahmenbeschlussvorschlages vorzusehenden Strafmilderungsmoglichkeit fur ,,kooperative Tater" tragt das deutsche Recht zum einen durch § 31 BtMG Rechnung, der bei bestimmten Taten gem. § 29 BtMG unter gewissen Voraussetzungen ein Absehen von Strafe oder eine Strafmilderung erlaubt75. Aber auch wenn die Voraussetzungen des § 31 BtMG nicht vorliegen, kann die Aufklarungsbereitschaft des Taters bei der Strafzumessung zugunsten des Taters ins Gewicht fallen76. 86 Nach MaBgabe des § 33 I BtMG sind die Bestimmungen ilber den erweiterten Verfall (§ 73 d StGB) anzuwenden, d. h., etwaige Gewinne, die im Rahmen der Betaubungsmittelkriminalitat erzielt wurden, sind abzuschopfen77. Die buBgeldrechtliche Haftung juristischer Personen folgt aus § 30 OWiG.
71 72 73 74 75 76 77
Korner, BtmG, § 29 Rn. 1570. Korner, BtmG, § 29 Rn. 1563. Korner, BtmG, § 29 Rn. 1569. Vgl. nur Trond\dFischer, § 46 Rn. 38. Vgl. hierzu nur die detaillierte Darstellung von Korner, BtmG, § 31 Rn. 8 ff., 43 ff. Vgl. nur Trondle/'Fischer, § 46 Rn. 66 m. w. N . Korner, BtmG, § 33 Rn. 61 m. w. N.
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IV. Ausdehnung der Angleichungsbefugnis auf weitere Kriminalitatsfelder 1. Weite Auslegung des Art. 31 lit. e EUV Dem Wortlaut nach konnte Art. 31 lit. e EUV so zu verstehen sein, dass nur die 87 dort explizit aufgefuhrten drei Kriminalitatsbereiche (Organisierte Kriminalitat, Terrorismus und illegaler Drogenhandel) als Gegenstand von RechtsangleichungsmaBnahmen im Rahmen der PJZS in Betracht kommen. Doch spricht vieles dafur, dass die sprachliche Fassung des Art. 31 lit. e EUV missgltlckt ist und von vornherein weiter verstanden werden muss78. Darauf deutet bereits Art. 29 EUV hin, der die Bekampfung der - organisierten und nichtorganisierten - Kriminalitat, insbesondere des Terrorismus, des Menschenhandels und der Straftaten gegeniiber Kindern, des illegalen Drogen- und Waffenhandels, der Bestechung und Bestechlichkeit sowie des Betrugs als Unionsziel formuliert. Eine enge Auslegung bedeutete zudem einen offensichtlich nicht beabsichtigten Riickfall hinter den unter der Geltung des Maastrichter Vertrages geschaffenen ,,acquis communautaire" (Besitzstand). Die ZBJI beinhaltete namlich bereits die MOglichkeit einer ilber die oben genannten drei Kriminalitatsbereiche hinausgehenden Rechtsangleichung79, von der die Mitgliedstaaten z. B. in dem auf Art. K.3 EUV gestutzten Ubereinkommen v. 26. Juli 1995 Uber den Schutz der fmanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften80 (vgl. hierzu § 14 Rn. 23 ff.) Gebrauch gemacht haben. In der Praxis wird eindeutig eine weite Auslegung des Art. 31 lit. e EUV 88 zugrunde gelegt. So bezog der Europaische Rat von Tampere in seiner Schlussfolgerung Nr. 48 u. a. auch die sexuelle Ausbeutung von Kindern sowie die Umweltund Computerkriminalitat in die Bereiche ein, auf die sich seiner Uberzeugung nach die ,,Bemuhungen zur Vereinbarung gemeinsamer Definitionen, Tatbestandsmerkmale und Sanktionen" konzentrieren sollen. Der Europaische Rat ging somit auch nach Unterzeichnung des Amsterdamer Vertrages (1999) davon aus, dass eine Strafrechtsangleichung in alien Bereichen zulassig ist, in denen die EU bereits eine gemeinsame Politik entwickelt hat oder die von grenzilbergreifender Dimension sind81. Aus systematischen und teleologischen Grunden ist die in Art. 31 EUV enthal- 89 tene Eingangsformulierung ,,Das gemeinsame Vorgehen ... schliefit ein..." so zu verstehen, dass die unter Buchstabe e) aufgefuhrten Kriminalitatsbereiche nicht abschlieBend gemeint, sondern nur exemplarisch hervorgehoben sind. Daraus folgt, dass das Mittel der Strafrechtsangleichung im Rahmen der PJZS grund-
So auch Bose, EU-Kommentar, Art. 31 EUV Rn. 10; GrabitzMiWRoben, Art. 31 EUV Rn. 17 f.; Satzger, in: Tiedemann (Hrsg.) Wirtschaftsstrafrecht in der Europaischen Union, 2002, S. 71, 82; Strs'mz/Satzger, Art. 31 EUV Rn. 12; Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 69; a. A. Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, S. 25; Schiinemann, GA 2002, 501, 504. Vgl. Wasmeier/Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 18. ABlEG1995Nr. C316, S. 49. Vgl. hierzu Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 68.
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satzlich fur alle Kriminalitatsbereiche zur Verfugung steht, soweit dies zur Erreichung des in Art. 29 EUV formulierten Unionsziels erforderlich ist. Die im Folgenden dargestellten Rahmenbeschliisse betreffend Betrugskriminalitat, Kinderpornographie, Umweltkriminalitat, Bestechung im privaten Sektor, fremdenfeindlich motivierte Straftaten (Planungsstadium) und Cyber Crime (Planungsstadium) konnen daher auf Art. 31 lit. e EUV gestiitzt werden. Der Vollstandigkeit halber sei auf den hier - mangels materiellstrafrechtlicher Relevanz - nicht naher behandelten Rahmenbeschluss des Rates v. 15. Marz 2001 iiber die Stellung des Opfers im Strafverfahren82 hingewiesen, der nur pauschal auf Art. 31 EUV (ohne Angabe eines Buchstabens) gestiitzt wird. Seine Bestimmungen zielen nicht nur darauf ab, die Interessen des Opfers im Rahmen des eigentlichen Strafverfahrens zu schtitzen. Der Rahmenbeschluss verpflichtet die Mitgliedstaaten dariiber hinaus, eine Reihe von UnterstutzungsmaBnahmen fur Verbrechensopfer zu ergreifen. Die Existenz dieses Rahmenbeschlusses bestatigt die oben konstatierte Praxis einer weiten Auslegung des in Art. 31 EUV formulierten Handlungsauftrages. 2. Rahmenbeschluss zum strafrechtlichen Schutz bargeldloser Zahlungsmittel 90 Mit dem am 3. Juni 2001 in Kraft getretenen Rahmenbeschluss v. 28. Mai 2001 zur Bekampfung von Betrug und Falschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln83 erganzt der Rat entsprechende Aktivitaten verschiedener internationaler Organisationen (z. B. Europarat, G8, OECD, Interpol und UN). a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 91 Der Rat vertritt die Ansicht, dass die Schwere und die wachsende Bedeutung bestimmter Formen des Betrugs mit unbaren Zahlungsmitteln unionsweite strafrechtliche Maflnahmen erforderlich machen. Der Rahmenbeschluss soil deshalb den strafrechtlichen Schutz sog. ,,Zahlungsinstrumente" in alien Mitgliedstaaten gewahrleisten. Der Begriff des ,,Zahlungsinstruments" wird in Art. 1 des Rahmenbeschlusses definiert als ein korperliches Instrument mit Ausnahme gesetzlicher Zahlungsmittel (Banknoten und Mtinzen), das aufgrund seiner besonderen Beschaffenheit allein oder in Verbindung mit einem anderen Zahlungsinstrument den Inhaber/Benutzer in die Lage versetzt, Geld oder einen monetaren Wert zu iibertragen, wie beispielsweise Kreditkarten, Euroscheckkarten oder andere von Finanzinstituten herausgegebene Karten, Reiseschecks, Euroschecks, andere Schecks und Wechsel, die beispielsweise durch ihr Design, eine Kodierung oder eine Unterschrift gegen Falschung oder betrilgerische Verwendung geschutzt sind. b) Wesentlicher Inhalt 92 (1) Der Rahmenbeschlusses erstellt in Art. 2 einen Katalog verschiedener Verhaltensweisen, die in alien Mitgliedstaaten als Straftaten einzustufen sind. Bei den 82 83
ABlEG2001Nr. L 82, S. 1 ABlEG2001Nr. L 149, S. 4.
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Handlungen wird danach unterschieden, ob sie das Zahlungsinstrument selbst betreffen oder die Herstellung desselben, ob sich die Tat auf ein Zahlungsgeschaft oder mehrere Zahlungsgeschafte richtet oder aber auf die Schritte der Auftragserteilung, der Einziehung des Betrags, der Bearbeitung, Verrechnung und Leistung der Zahlung. Im Einzelnen geht es um folgende vorsatzliche Verhaltensweisen, die zumindest hinsichtlich Kreditkarten, Euroscheckkarten, andere von Finanzinstituten herausgegebene Karten, Reiseschecks, Euroschecks, andere Schecks und Wechsel unter Strafe gestellt werden mttssen: a) Diebstahl oder eine andere widerrechtliche Aneignung eines Zahlungsinstruments, b) Falschung oder Verfalschung eines Zahlungsinstruments zum Zwecke betriigerischer Verwendung, c) Annehmen, Sichverschaffen, Transportieren, Verkauf oder Weitergabe an eine andere Person oder Besitz von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angeeigneten oder ge- oder verfalschten Zahlungsinstrumenten zum Zwecke betrugerischer Verwendung, d) betrugerische Verwendung von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angeeigneten oder ge- oder verfalschten Zahlungsinstrumenten. (2) Von der Ponalisierungspflicht erfasst werden nach Art. 3 auch die Ausfuhrung oder Veranlassung einer Ubertragung von Geld oder monetaren Werten, durch die einer anderen Person ein unzulassiger Vermogensverlust entsteht, mit der Absicht, dem Zuwiderhandelnden oder einem Dritten einen unzulassigen Vermogensvorteil zu verschaffen durch: a) unrechtmaBige Eingabe, Veranderung, Loschung oder Unterdriickung von Computerdaten, insbesondere von Identifikationsdaten oder b) unrechtmaBiges Eingreifen in den Ablauf eines Computerprogramms oder den Betrieb eines Computersystems. (3) Ferner hat jeder Mitgliedstaat nach Art. 4 sicherzustellen, dass die folgenden Verhaltensweisen Straftaten darstellen, wenn sie vorsatzlich begangen wurden: betriigerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen, Verkaufen, Weitergeben an eine andere Person oder Besitzen von Geratschaften, Gegenstanden, Computerprogrammen und anderen Mitteln, die ihrer Beschaffenheit nach zur Begehung der in Art. 2 lit. b beschriebenen Straftaten besonders geeignet sind bzw. von Computerprogrammen, deren Zweck die Begehung einer in Art. 3 beschriebenen Straftaten ist. Es handelt sich hierbei um typische Vorbereitungshandlungen zu den in Art. 2 lit. b und 3 aufgefuhrten Tathandlungen. Die Teilnahme an oder die Anstiftung zu den in Art. 2, 3 und 4 genannten Handlungen oder der Versuch zur Begehung der in Art. 2 lit. a, b und d und in Art. 3 genannten Handlungen ist unter Strafandrohung zu stellen. (4) Die Mitgliedstaaten haben nach Art. 6-8 fur diese Straftaten wirksame, verhaltnismaBige und abschreckende Sanktionen gegen natiiiiiche bzw. juristische Personen vorzusehen (bei letzteren kommen auch nichtstrafrechtliche Sanktionen in Betracht), die zumindest in schweren Fallen auch Freiheitsstrafen einschlieBen.
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§ 11 Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Saule
(5) Jeder Mitgliedstaat ergreift nach Art. 9 I die erforderlichen MaBnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf die im Rahmenbeschluss genannten Straftaten zu begriinden, wenn diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet, b) von einem seiner Staatsangehorigen oder c) zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wurden. Des Weiteren sind in Art. 10 MaBnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung bei Nichtauslieferung von Staatsangehorigen durch die Mitgliedstaaten vorgesehen.
c) Deutsches Strafrecht 98 Alle in Art. 2-4 des Rahmenbeschlusses bezeichneten Handlungen sind nach deutschem Strafrecht unter Strafe gestellt und mit rahmenbeschlusskonformen Sanktionen bedroht84. Der Umsetzung des Rahmenbeschlusses dienen insbesondere die durch das 35. StAG v. 22. Dezember 200385 neu gefassten §§ 152 a, 152 b StGB86. In Betracht kommen §§ 242 ff., 246 StGB fur Handlungen nach Art. 2 lit. a (Diebstahl oder andere widerrechtliche Aneignung eines Zahlungsinstruments); §§ 267 ff., § 151 Nr. 5 StGB i. V. m. §§ 146, 147, 149 StGB, §§ 152 a I Nr. 1, 152 b StGB fur Handlungen nach Art. 2 lit. b (Falschung oder Verfalschung eines Zahlungsinstruments zum Zwecke betriigerischer Verwendung); §§ 259 ff., 152 a I Nr. 2 StGB fur Handlungen nach Art. 2 lit. c (Annehmen, Sichverschaffen, Transportieren, Verkauf oder Weitergabe an eine andere Person oder Besitz von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angeeigneten oder ge- oder verfalschten Zahlungsinstrumenten zum Zwecke betriigerischer Verwendung); §§263, 263 a, 152 a I Nr. 2, 266 b StGB fur Handlungen nach Art. 2 lit. d (betriigerische Verwendung von gestohlenen oder in anderer Weise widerrechtlich angeeigneten oder ge- oder verfalschten Zahlungsinstrumenten). Die in Art. 3 genannten Handlungen (Datenmanipulationen und Einwirken auf den Ablauf eines Computerprogramms) werden von §§ 263 a, 303 a, 303 b, 269, 274 I Nr. 2 StGB erfasst. Vorbereitungshandlungen der in Art. 4 beschriebenen Art (betriigerisches Anfertigen, Annehmen, Sichverschaffen, Verkaufen, Weitergeben an eine andere Person oder Besitzen von Geratschaften, Gegenstanden, Computerprogrammen und anderen Mitteln, die ihrer Beschaffenheit nach zur Begehung der in Art. 2 lit. b beschriebenen Straftaten besonders geeignet sind) konnen nach § 152 a I Nr. 2 StGB i. V. m. § 149 I StGB sowie als strafbare Beihilfe zu den oben aufgefuhrten Urkunden-, Falschungs- und Computerdelikten strafbar sein. Gegen juristische Personen kann nach MaBgabe des § 30 OWiG ein BuBgeld verhangt werden.
Vgl. hierzu Knierim, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 8. Kap. Rn. 128 ff.; Rumpe, JA 2004, 424. BGB1.1 2003, S. 2838. Vgl. hierzu Trbndle/Fischer, § 152 a Rn. 1, § 152 b Rn. 1.
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3. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Kinderpornographie Der auf Art. 29, 31 lit. e EUV gestutzte Rahmenbeschluss des Rates v. 22. De- 99 zember 2003 zur Bekampfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie, der am 21. Januar 2004 in Kraft getreten ist, tragt der Forderung nach Ergreifung legislativer MaBnahmen zur Bekampfung bestimmter Formen der gegen Kinder gerichteten Kriminalitat Rechnung, die im Aktionsplan des Rates und der Kommission zur bestmoglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags Uber den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, in den Schlussfolgerungen des Europaischen Rates von Tampere und in der Entschliefiung des EP v. 11. April 2000 erhoben wurde. Die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten sind sich daruber einig, dass die sexuelle Ausbeutung von Kindern und die Kinderpornographie schwere VerstoBe gegen die Menschenrechte und das Grundrecht des Kindes auf eine harmonische Erziehung und Entwicklung darstellen. Sie halten es daher fur erforderlich, der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie durch ein umfassendes Konzept zu begegnen, in dem die alien Mitgliedstaaten gemeinsamen Grundelemente des Strafrechts, darunter wirksame, verhaltnismaBige und abschreckende Sanktionen, zusammen mit einer moglichst breiten justiziellen Zusammenarbeit einen festen Bestandteil bilden. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Der Rahmenbeschluss verpflichtet die Mitgliedstaaten zum Erlass strafrechtlicher 100 Bestimmungen zur Bekampfung der sexuellen Ausbeutung von Kindern und der Kinderpornographie und legt zu diesem Zweck gemeinsame Definitionen, Tatbestandsmerkmale und Sanktionen fest. Diese MaBnahme erganzt bereits verabschiedete Instrumente zum Schutz von Kindern, welche die EU seit 1996 eingesetzt hat87, darunter: - die Gemeinsame MaBnahme 96/700/JI v. 29. November 1996 zur Aufstellung eines FQrder- und Austauschprogramms fur Personen, die fur die Bekampfung des Menschenhandels und der sexuellen Ausbeutung von Kindern zustandig sind88, - die Gemeinsame MaBnahme 96/748/JI v. 16. Dezember 1996 zur Ausdehnung des der Europol-Drogenstelle erteilten Mandats89, - die Gemeinsame MaBnahme 98/428/JI v. 29. Juni 1998 zur Einrichtung eines Europaischen Justiziellen Netzes (EJN)90, - die Gemeinsame MaBnahme 96/277/JI v. 22. April 1996 betreffend den Rahmen fur den Austausch von Verbindungsrichtern/-staatsanwalten zur Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten der EU91, Vgl. hierzu Wasmeier/Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 37. AB1EG 1996 Nr. L 322, S. 7. ABlEG1996Nr. L 342, S. 4. ABlEG1998Nr. L 191, S. 4.
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- die Gemeinsame MaBnahme 98/427/JI v. 29. Juni 1998 Uber die Anwendung bewahrter Methoden bei der Rechtshilfe in Strafsachen92, - die vom EP und vom Rat erlassenen Rechtsakte wie die Entscheidung Nr. 276/1999/EG des EP und des Rates v. 25. Januar 1999 uber die Annahme eines mehrjahrigen Aktionsplans der Gemeinschaft zur Forderung der sicheren Nutzung des Internet durch die Bekampfung illegaler und schadlicher Inhalte in globalen Netzen93 und - der Beschluss Nr. 293/2000/EG des EP und des Rates v. 24. Januar 2000 zur Annahme eines Aktionsprogramms der Gemeinschaft (Daphne-Programm 2000-2003) uber vorbeugende MaBnahmen zur Bekampfung von Gewalt gegen Kinder, Jugendliche und Frauen94. b) Wesentlicher Inhalt 101 (1) Art. 1 des Rahmenbeschlusses definiert die Begriffe a) ,,Kind": jede Person unter achtzehn Jahren, b) ,,Kinderpornographie": pornographisches Material mit bildlichen Darstellungen aa) echter Kinder, die an einer eindeutig sexuellen Handlung aktiv oder passiv beteiligt sind, einschlieBlich aufreizendem Zur-Schau-Stellen der Genitalien oder der Schamgegend von Kindern, bb) von echten Personen mit kindlichem Erscheinungsbild, die aktiv oder passiv an der genannten Handlung beteiligt sind, oder cc) von realistisch dargestellten, nicht echten Kindern, die aktiv oder passiv an der genannten Handlung beteiligt sind. 102 (2) Art. 2 legt den Mitgliedstaaten die Pflicht auf, Straftatbestande gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern zu schaffen. Folgende vorsatzliche Handlungen sind unter Strafe zu stellen: a) Notigung von Kindern zur Prostitution oder zur Mitwirkung an pornographischen Darbietungen oder Gewinnerzielung durch Kinder oder sonstige Ausbeutung von Kindern zu solchen Zwecken, b) Anwerbung von Kindern zur Prostitution oder zur Mitwirkung an pornographischen Darbietungen, c) Vornahme sexueller Handlungen mit einem Kind, soweit aa) Notigung, Gewalt oder Drohungen angewendet werden, bb) Geld oder sonstige Vergtitungen oder Gegenleistungen dafur geboten werden, dass sich das Kind an den sexuellen Handlungen beteiligt, oder cc) eine anerkannte Stellung des Vertrauens, der Macht oder des Einflusses auf das Kind missbraucht wird. 103 (3) Nach Art. 3 I sind Straftatbestande gegen Kinderpornographie zu schaffen, welche folgende, widerrechtlich vorgenommene vorsatzliche Handlungen mit
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ABlEG1996Nr. L105, S. 1.
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AB1EG 1998 Nr.L 191, S. 1.
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ABlEG1999Nr. L 33, S. 1. AB1EG 2000 Nr.L 34, S. 1.
C. Bereiche zulassiger Strafrechtsangleichung nach Art. 31 lit. e EUV
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Strafe bedrohen, unabhangig davon, ob diese unter Verwendung eines EDVSystems begangen wurden: a) Herstellung von Kinderpornographie, b) Vertrieb, Verbreitung und Weitergabe von Kinderpomographie, c) Anbieten oder sonstiges Zuganglichmachen von Kinderpomographie oder d) Erwerb oder Besitz von Kinderpornographie. (4) Art. 3 II eroffhet den Mitgliedstaaten die MQglichkeit, festzulegen, dass die 104 nachstehenden Handlungen im Zusammenhang mit Kinderpornographie keinen Straftatbestand erflillen: a) Handlungen nach Art. 1 lit. b Ziff. bb) (betrifft echte Personen mit kindlichem Erscheinungsbild) in den Fallen, in denen die echte Person mit kindlichem Erscheinungsbild zum Zeitpunkt der Abbildung in Wirklichkeit 18 Jahre alt oder alter war, b) Handlungen nach Art. 1 lit. b Ziff. aa) und bb) in Fallen der Herstellung und des Besitzes, in denen die abgebildeten Kinder die sexuelle MUndigkeit erreicht, ihre Zustimmung zu der Herstellung und dem Besitz der Bilder gegeben haben sowie die Bilder ausschlieBlich zu ihrer personlichen Verwendung bestimmt sind. Eine Zustimmung wird auch dann, wenn sie nachweislich erteilt wurde, nicht als giiltig betrachtet, wenn beispielsweise hoheres Alter, Reife, Stellung, Status, Erfahrung oder Abhangigkeit des Opfers vom Tater zur Einholung der Zustimmung missbraucht worden sind, c) Handlungen nach Art. 1 lit. b Ziff. cc) (betrifft realistisch dargestellte, nicht echte Kinder) in den Fallen, in denen feststeht, dass das pornographische Material vom Hersteller ausschlieBlich zu seiner personlichen Verwendung hergestellt worden ist und sich ausschlieBlich zu diesem Zweck in seinem Besitz befmdet, soweit zu seiner Herstellung kein pornographisches Material i. S. v. Art. 1 lit. b Ziff. aa) und bb) verwendet wurde und sofern mit der Handlung keine Gefahr der Verbreitung des Materials verbunden ist. (5) Nach Art. 4 I hat jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, dass die Anstiftung oder 105 Beihilfe zur Begehung einer Straftat nach den Art. 2 und 3 unter Strafe gestellt wird. Des Weiteren ist gem. Art. 4 II bereits der Versuch der Begehung einer Handlung nach Art. 2 und Art. 3 I lit. a und b mit Strafe zu bedrohen. (6) Nach der in Art. 5 I niedergelegten Sanktionsverpflichtung hat vorbehaltlich 106 des Abs. 4 jeder Mitgliedstaat sicherzustellen, dass Straftaten nach den Art. 2, 3 und 4 mit Freiheitsstrafen im Hochstmafi von m hides tens einem bis drei Jahren (Mindesthochststrafen) bedroht werden. Art. 5 II legt einen umfangreichen Katalog erschwerender Umstande dar, bei deren Vorliegen gesetzliche Mindesthochststrafen von ftinf bis zehn Jahren angedroht werden mttssen. Als erschwerende Umstande nennt der Rahmenbeschluss - differenzierend nach bestimmten Taten — u. a. die Anwendung von Notigung, Gewalt oder Drohungen, die vorsatzliche oder riicksichtlose Gefahrdung des Tatopfers oder die Tatbegehung im Rahmen einer kriminellen Vereinigung. Nach Art. 5 III mussen die Mitgliedstaaten dafur sorgen, dass eine natiirliche Person, die wegen einer Straftat nach den Art. 2, 3 oder 4 verurteilt wurde, vorubergehend oder dauerhaft daran gehindert werden kann, eine die Beaufsichtigung von Kindern einschlieBende berufliche Tatigkeit auszuiiben.
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107 (7) Die Verantwortlichkeit juristischer Personen fur die in Art. 2, 3 und 4 genannten Straftaten ist nach MaBgabe des Art. 6 sicherzustellen. Die Mitgliedstaaten haben gem. Art. 7 zu gewahrleisten, dass gegen eine verantwortliche juristische Person wirksame, verhaltnismaBige und abschreckende Strafen verhangt werden konnen, die Geldstrafen und andere, insbesondere folgende Sanktionen einschlieBen: a) Ausschluss von steuerlichen oder sonstigen Vorteilen oder offentlichen Zuwendungen, b) voriibergehendes oder standiges Verbot der Ausiibung einer gewerblichen Tatigkeit, c) richterliche Aufsicht, d) richterlich angeordnete Auflosung, e) voriibergehende oder endgiiltige SchlieBung von Einrichtungen, die zur Begehung der Straftat genutzt wurden. 108 (8) Jeder Mitgliedstaat ergreift nach Art. 8 I die erforderlichen MaBnahmen, um seine Gerichtsbarkeit in Bezug auf die im Rahmenbeschluss genannten Straftaten zu begriinden, wenn diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet, b) von einem seiner Staatsangehorigen oder c) zugunsten einer in seinem Hoheitsgebiet niedergelassenen juristischen Person begangen wurden. 109 Des Weiteren sind in Art. 8 III MaBnahmen zur Sicherstellung der Strafverfolgung bei Nichtauslieferung von Staatsangehorigen durch die Mitgliedstaaten und in Art. 9 Bestimmungen iiber den Schutz und die Unterstiitzung der Opfer vorgesehen. Die Mitgliedstaaten milssen den sich aus dem Rahmenbeschluss ergebenden Verpflichtungen bis spatestens 20. Januar 2006 nachkommen (Art. 12 I). c) Deutsches Strafrecht 110 Es ist Aufgabe des deutschen Gesetzgebers, zu priifen, inwieweit die Umsetzung der im Rahmenbeschluss enthaltenen Ponalisierungsverpflichtungen Gesetzesanderungen erforderlich macht. Zwar beziehen sich die §§ 176-176 b StGB, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zum Gegenstand haben, auf Personen unter 14 Jahren, wahrend der Rahmenbeschluss den Schutz von ,,Kindern" auf alle Personen unter 18 Jahren erstrecken will (vgl. Art. 1 lit. a). Jedoch enthalt das deutsche Strafgesetzbuch zahlreiche Tatbestande zum Schutz der sexuellen Selbstbestimmung bzw. vor sexueller Ausbeutung, die nicht auf das Alter des Opfers abstellen (z. B. §§ 174 a-174 c, 177-179, 180a -181 a StGB). Fur den Schutz von Personen unter 18 bzw. 16 Jahren sind ferner §§ 174, 180, 182 StGB einschlagig. Auf im Ausland von Deutschen begangene Straftaten gem. §§ 176-176 b und § 182 StGB findet deutsches Strafrecht Anwendung (vgl. § 5 Nr. 8 b StGB; ,,Sextourismus"). Der in Art. 5 III des Rahmenbeschlusses enthaltenen Vorgabe tragt § 70 StGB (Anordnung eines Berufsverbotes) Rechnung. Bestimmungen gegen Verbreitung, Erwerb und Besitz kinderpornographischer Schriften sind in dem umfangreichen Tatbestandskatalog des § 184 b I Nr. 1-3 StGB enthalten. Da sich die in dieser Strafvorschrift inkriminierten Handlungen auf Darstellungen beziehen, die den sexuellen Missbrauch von Personen unter 14 Jahren zum Gegenstand haben (natio-
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naler Kinderbegriff), stellt sich die Frage, ob das deutsche Strafrecht insoweit den Vorgaben der Art. 3 I i. V. m. Art. 1 lit. a und b des Rahmenbeschlusses genilgt. Immerhin greift fur sonstige pornographische Schriften § 184 I StGB ein.
4. Rahmenbeschluss zum strafrechtlichen Schutz der Umwelt Vor dem Hintergrand regionaler und globaler Umweltprobleme, die hier nur mit 111 den Schlagworten Waldsterben, Treibhauseffekt, Ozonloch und Meeresverschmutzung angedeutet werden sollen, hat sich in vielen Staaten der Welt die Einsicht durchgesetzt, dass die Umwelt nicht allein durch den Einsatz des Privatund Verwaltungsrechts, sondern auch mit dem Instrument strafrechtlicher Repression zu schutzen ist95. Wie die rechtsvergleichende Forschung lehrt, gibt es heute in Europa keine Rechtsordnung mehr, die auf das Strafrecht als Mittel des Umweltschutzes ganzlich verzichtet96. Von einem einheitlichen europaischen Umweltschutzstandard kann allerdings nicht die Rede sein. Angesichts der erheblichen juristischen und praktischen Probleme, vor die sich die Strafverfolger vor allem in Fallen grenziiberschreitender Umweltkriminalitat gestellt sehen97, erscheint die kriminalpolitische Forderung unabweisbar, einheitliche umweltstrafrechtliche Standards in den europaischen Staaten zu schaffen. Nur ein vereinheitlichtes europaisches Umweltstrafrecht vermag der Einsicht Rechnung zu tragen, dass die Bewahrung einer intakten Umwelt im Sinne der Erhaltung und des Schutzes der naturlichen Lebensgrandlagen schon per se ein universelles und nicht nur ein nationales Interesse darstellt98. Hinzu kommt, dass divergierende umweltstrafrechtliche Standards in den Mitgliedstaaten ein Strafrechtsgefa'lle schaffen, dass zu Wettbewerbsverzerrungen fuhren kann und damit das Binnenmarktziel konterkariert (vgl. hierzu bereits § 8 Rn. 46). Das Ziel der Harmonisierung des Umweltstrafrechts wird bereits von der Kon- 112 vention des Europarates zum Schutz der Umwelt durch Strafrecht v. 4. November 1998 verfolgt". In diesem - bisher nur von Estland ratifizierten - Ubereinkommen werden umweltstrafrechtliche Tatbestande formuliert, die von den beitretenden Staaten in nationales Recht umzusetzen sind. Bisher ist jedoch noch nicht einmal die fur das Inkrafttreten der Konvention erforderliche Mindestzahl von 3 Ratifikationen zustande gekommen. Es besteht jedoch die begrilndete Aus95 96
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Vgl. hierzu Heine, UPR 1987, 281; ders., ZStW 101 (1989), S. 722, 724 ff. Vgl. hierzu die Studien des Freiburger Max-Planck-Institutes fur auslandisches und internationales Strafrecht, insbesondere Heine (Hrsg.), Umweltstrafrecht in mittel- und sildeuropaischen Landern, 1997; CornilslHeine (Hrsg.), Umweltstrafrecht in den nordischen Landern, 1994; EserlHeine (Hrsg.), Umweltstrafrecht in England und den USA, 1994, passim. Vgl. hierzu Hecker, Z S t W 115 (2003), S. 880 ff. m. w. N . Vgl. Hopfel, Triffterer-FS, 1996, S. 425, 426 f. Convention sur la protection de l'environnement par le droit penal; European Treaty Series (ETS) Nr. 172. D e r Konventionstext sowie der jeweils aktuelle Ratifikationsstand konnen auf der homepage des Council of Europe im Internet abgerufen werden
unter http://conventions.coe.int.
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sicht, dass es in absehbarer Zeit gelingt, wenigstens in den 25 EU-Mitgliedstaaten einen einheitlichen umweltstrafrechtlichen Mindeststandard zu etablieren. Die fehlende Kompetenz der Gemeinschaft, supranational Straftatbestande zu schaffen, schlieflt - wie bereits an anderer Stelle gezeigt wurde (§ 8 Rn. 42 ff.) - nicht ihre Befugnis aus, die Mitgliedstaaten durch Richtlinien zum Erlass von Sanktionsnormen anzuweisen. 113 Die Kommission hat am 13. Marz 2001 einen auf Art. 175 EGV gestiltzten Richtlinieiivorschlag iiber den strafrechtlichen Schutz der Umwelt vorgelegt100. Nach Auffassung der Kommission reichen die derzeitigen Sanktionen der Mitgliedstaaten nicht aus, um die vollstandige Einhaltung des umweltschutzbezogenen Gemeinschaftsrechts zu gewahrleisten. Nicht alle Mitgliedstaaten wurden strafrechtliche Sanktionen gegen die schwerwiegendsten Verletzungen des Umweltrechts der Gemeinschaft vorsehen. Nach wie vor komme es hier oft zu ernsten VerstoBen gegen das Gemeinschaftsrecht, die nicht mit hinreichend wirksamen und abschreckenden Sanktionen geahndet wurden. Art. 3 des Richtlinienvorschlages sieht deshalb eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten vor, die erforderlichen Mafinahmen zu treffen, um bestimmte Tatigkeiten unter Strafandrohung zu stellen, wenn sie vorsatzlich oder grob fahrlassig begangen werden und die in einem Anhang aufgefuhrten Umweltschutzvorschriften der Gemeinschaft und/oder Vorschriften der Mitgliedstaaten zur Umsetzung solcher Vorschriften der Gemeinschaft verletzen (vgl. § 8 Rn. 21 ff). 114 Bereits in der Vergangenheit haben die im Rat vertretenen Mitgliedstaaten unter Berufung auf ihre nationale Souveranitat Richtlinienvorschlage mit kriminalstrafrechtlichen Anweisungen zuruckgewiesen (vgl. hierzu § 8 Rn. 9 ff.). So auch in diesem Fall. Aufgrund bestehender Kompetenzvorbehalte der Mitgliedstaaten lehnte der Rat mit uberwaltigender Mehrheit die Annahme der von der Kommission vorgeschlagenen Richtlinie ab. Stattdessen aktivierten die Mitgliedstaaten nach langen Verhandlungen das Instrumentarium der PJZS. Am 27. Januar 2003 verabschiedete der Rat der Europaischen Union einen Rahmenbeschluss iiber den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht, der am 6. Februar 2003 in Kraft getreten ist101. Inhaltlich lehnt sich der Rahmenbeschluss weitgehend an das oben bereits erwahnte Ubereinkommen des Europarates an, dessen Umsetzung in das deutsche Recht im Hinblick auf die Verhandlungen auf EU-Ebene zurilckgestellt worden war. Bemerkenswert sind vor allem die in dem Rahmenbeschluss vorgesehenen Eignungsdelikte im Bereich des Gewasser-, Luft- und Bodenschutzes sowie des Abfallstrafrechts. 115 Die Kommission steht jedoch auf dem Standpunkt, dass ein gemeinschaftsrechtlicher Besitzstand bei Umweltkriminalitat nur durch das Gemeinschaftsrecht festgelegt werden konne und musse. Dies gelte insbesondere fur die Definition der umweltbelastenden Tatigkeiten, die strafbar sein sollen und die allgemeine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen vorzusehen. Insoweit bestehe also kein Raum fur die Annahme eines Rechtsaktes nach Art. 34 EUV. 100 101
Vgl. KOM (2001) 139 endg.; AB1EG 2001 Nr. C 180 E, S. 238; vgl. hierzu ausfuhrlich Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, passim. AB1EG 2003 Nr. L 29, S. 55.
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Die Kommission hat daher eine Klage auf Nichtigerklarung des Rahmenbeschlusses beim EuGH eingereicht102. Der EuGH wird also zu klaren haben, ob dieser Rechtsakt in die Rechtsetzungskompetenz der EG (hier in Form einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz) eingreift, was gegen Art. 47 EUV verstoBen wiirde103. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Nach Auffassung der Mitgliedstaaten stellt die Bekampfung der Umweltkriminali- 116 tat eine staatenubergreifende Angelegenheit dar, die abgestimmte strafrechtliche MaBnahmen erfordert. Der Rahmenbeschluss stellt unter Berucksichtigung des Richtlinienvorschlags der Kommission und der Europaratskonvention einen Katalog umweltkrimineller Handlungen auf, die - wenn sie vorsatzlich oder zumindest grob fahrlassig begangen werden - mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen zu bedrohen sind. b) Wesentlicher Inhalt (1) Nach Art. 2-4 hat jeder Mitgliedstaat daftir zu sorgen, dass folgende Handlun- 117 gen (einschlieBlich Teilnahme und Anstiftung), wenn sie vorsatzlich oder zumindest grob fahrlassig begangen werden, Straftaten darstellen: a) das Einleiten, Abgeben oder Einbringen einer Menge von Stoffen oder ionisierender Strahlung in die Luft, den Boden oder das Wasser, welches den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person verursacht, b) das rechtswidrige Einleiten, Abgeben oder Einbringen einer Menge von Stoffen oder ionisierender Strahlung in die Luft, den Boden oder das Wasser, welches deren anhaltende oder erhebliche Verschlechterung oder den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person oder erhebliche Schaden an geschiltzten Denkmalern, sonstigen geschiltzten Gegenstanden, Vermogensgegenstanden, Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist, c) das rechtswidrige Beseitigen, Behandeln, Lagern, Befdrdern, Ausfuhren oder Einfuhren von Abfallen, einschlieBlich gefahrlicher Abfalle, welches den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person oder erhebliche Schaden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualitat sowie an Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist, d) das rechtswidrige Betreiben einer Fabrik, in der eine gefahrliche Tatigkeit durchgefuhrt wird, welches auBerhalb dieser Fabrik den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person oder erhebliche Schaden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualitat sowie an Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist, e) das rechtswidrige Herstellen, Behandeln, Lagern, Verwenden, Befordern, Ausfuhren oder Einfuhren von Kernmaterial oder anderen gefahrlichen radioaktiven Stoffen, welches den Tod oder eine schwere Korperverletzung 102 103
Vgl. hierzu Mansdorfer, JURA 2004, 297, 298; Mohrenschlager, wistra 2003, S. VI. Nach Auffassung von Schmalenberg, Europaisches Umweltstrafrecht, S. 25, fallt das Umweltstrafrecht nicht in die von Art. 31 lit. e EUV abgesteckte Harmonisierungskompetenz.
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einer Person oder erhebliche Schaden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualitat sowie an Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist, f) das rechtswidrige Besitzen, Entnehmen, Beschadigen oder Toten von sowie der rechtswidrige Handel mit geschiitzten wild lebenden Tier- und Pflanzenarten oder Teilen davon, zumindest in den Fallen, in denen sie nach der Definition in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vom Aussterben bedroht sind, g) der rechtswidrige Handel mit Stoffen, die zum Abbau der Ozonschicht fuhren. 118 (2) Nach Art. 5 I ist sicherzustellen, dass die oben genannten Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen bedroht sind, die zumindest in schwerwiegenden Fallen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung fllhren konnen. Die Strafen konnen mit anderen Sanktionen oder MaBnahmen einhergehen, insbesondere dem Verbot fur eine natiirliche Person, eine Tatigkeit, die eine offizielle Genehmigung oder Billigung erfordert, aufzunehmen oder ein Unternehmen oder eine Stiftung zu griinden, zu verwalten oder zu leiten, wenn sich aus dem Sachverhalt, aufgrund dessen sie abgeurteilt wurde, ein eindeutiges Risiko ergibt, dass sie die gleiche Art der kriminellen Aktivitat fortsetzt (Art. 5 II). 119 (3) Die Verantwortlichkeit von juristischen Personen ist nach MaBgabe des Art. 6 sicherzustellen. Ihre Haftung richtet sich nach Art. 7, wonach jeder Mitgliedstaat die erforderlichen MaBnahmen zu treffen hat, damit gegen eine i. S. d. Art. 6 verantwortliche juristische Person wirksame, angemessene und abschreckende Sanktionen verhangt werden konnen, zu denen strafrechtliche oder nichtstrafrechtliche Geldsanktionen sowie andere Sanktionen gehoren konnen, beispielsweise: a) MaBnahmen des Ausschlusses von offentlichen Zuwendungen und Hilfen, b) MaBnahmen des vorilbergehenden oder standigen Verbots der Ausubung einer Gewerbe- oder Handelstatigkeit, c) richterliche Aufsicht, d) richterlich angeordnete Auflosung, e) Verpflichtung zum Ergreifen spezieller MaBnahmen, um die Folgen der die strafrechtliche Verantwortlichkeit begrilndenden Handlung zu beseitigen. 120 (4) Bestimmungen ttber die Gerichtsbarkeit, Auslieferung und Verfolgung finden sich in Art. 8 und 9 des Rahmenbeschlusses. Nach Art. 10 I ist der Rahmenbeschluss von den Mitgliedstaaten bis zum 27. Januar 2005 in nationales Recht umzusetzen. c) Deutsches Strafrecht 121 Bekanntlich verfugt die deutsche Rechtsordnung seit 1980 iiber ein modernes Umweltstrafrecht, dessen Tatbestandskatalog zuletzt im Jahre 1994 durch das 2. Gesetz zur Bekampfung der Umweltkriminalitat verscharft und erweitert wur-
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de104. Die Verantwortlichkeit und Haftung juristischer Personen richtet sich nach § 30 OWiG. Alle in Art. 2-4 des Rahmenbeschlusses definierten Handlungen sind nach deutschem Recht bereits strafbar: So wird das Einleiten, Abgeben oder Einbringen einer Menge von Stoffen oder 122 ionisierender Strahlung in die Luft, den Boden oder das Wasser, welches den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person verursacht (Art. 2 lit. a) insbesondere von den vorsatzlich wie fahrlassig begehbaren §§ 324, 324 a, 325, 326, 330 II Nr. 1, 2, 330 a I StGB erfasst (daneben konnen die Korperverletzungs- und Totungsdelikte eingreifen). Die gleichen Strafbestimmungen sind anwendbar auf das rechtswidrige Einleiten, Abgeben oder Einbringen einer Menge von Stoffen oder ionisierender Strahlung in die Luft, den Boden oder das Wasser, welches deren anhaltende oder erhebliche Verschlechterung oder den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person oder erhebliche Schaden an geschutzten Denkmalern, sonstigen geschutzten Gegenstanden, Vermogensgegenstanden, Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist (Art. 2 lit. b). Das rechtswidrige Beseitigen, Behandeln, Lagern, Befordern, Aus- oder Ein- 123 fuhren von Abfallen, einschlieBlich gefahrlicher Abfalle, welches den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person oder erhebliche Schaden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualitat sowie an Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist (Art. 2 lit. c), wird von den Abfalldelikten des § 326 StGB erfasst (ggf. qualifiziert gem. § 330 StGB). Das rechtswidrige Betreiben einer Fabrik, in der eine gefahrliche Tatigkeit 124 durchgefuhrt wird, welche auBerhalb dieser Fabrik den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person oder erhebliche Schaden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualitat sowie an Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist (Art. 2 lit. d), kann sich als Anlagendelikt nach § 327 StGB, aber auch als Straftat gem. §§ 324, 324 a, 325, 325 a StGB (ggf. qualifiziert gem. § 330 StGB) darstellen. Daneben sind — falls es zum Tod einer Person oder zu Gesundheitsschaden gekommen ist - die Totungs- und Korperverletzungsdelikte einschlagig. Das rechtswidrige Herstellen, Behandeln, Lagern, Verwenden, Befordern, Aus- 125 oder Einfuhren von Kernmaterial oder anderen gefahrlichen radioaktiven Stoffen, welches den Tod oder eine schwere Korperverletzung einer Person oder erhebliche Schaden hinsichtlich der Luft-, Boden- oder Wasserqualitat sowie an Tieren oder Pflanzen verursacht oder zu verursachen geeignet ist (Art. 2 lit. e), wird vor allem von § 328 I-III StGB (ggf. qualifiziert gem. § 330 StGB) unter Strafandrohung gestellt. Daneben konnen §§ 324, 324 a, 325, 326, 330, 330 a StGB sowie Korperverletzungs- und Totungsdelikte eingreifen. Erganzt werden die umweltstrafrechtlichen Bestimmungen des StGB durch ei- 126 ne Fttlle nebenstrafrechtlicher Bestimmungen, die z. B. im BNSchG105 oder im
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31. StAG - 2. UKG v. 27. Juni 1994 (BGB1. I 1994, 1440); in Kraft seit 1. November 1994. Gesetz tiber Naturschutz und Landschaftspflege v. 25. Marz 2002 (BGB1. I 2002, 1193).
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ChemikG106 niedergelegt sind. So wird das im Rahmenbeschluss unter Art. 2 lit. f aufgefuhrte rechtswidrige Besitzen, Entnehmen, Beschadigen oder Toten von sowie der rechtswidrige Handel mit geschiitzten wild lebenden Tier- und Pflanzenarten oder Teilen davon, zumindest in den Fallen, in denen sie nach der Definition in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften vom Aussterben bedroht sind, von § 66 BNSchG mit Strafe bedroht. Der rechtswidrige Handel mit Stoffen, die zum Abbau der Ozonschicht fuhren (Art. 2 lit. g) stellt eine gem. § 9 FCKW-HalonVerbotsverordnung107 i. V. m. § 27 I Nr. 1, II-IV ChemikG strafbare Handlung dar. 5. Rahmenbeschluss zur Bekampfung der Bestechung im privaten Sektor 127 Aktivitaten zur Korruptionsbekampfung stehen seit Jahren auf der Agenda internationaler Organisationen (vgl. zu den MaBnahmen, die im Rahmen der UN, OECD, des Europarates und der ZBJI ergriffen wurden § 5 Rn. 6, 13, 22, 58). Art. 29 EUV erklart die Verhiitung und Bekampfung von Bestechung und Bestechlichkeit ausdrucklich zu einem Ziel der EU108. Durch den am 1. August 2003 in Kraft getretenen Rahmenbeschluss des Rates v. 22. Juli 2003 zur Bekampfung der Bestechung im privaten Sektor109 werden die bisher auf internationaler Ebene eingesetzten Instrumente erganzt. Der Rahmenbeschluss ersetzt die Gemeinsame MaBnahme 98/42/JI v. 22. Dezember 1998 (ZBJI) betreffend die Bestechung im privaten Sektor110. a) Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses 128 Die Mitgliedstaaten messen der Bekampfung der Bestechung sowohl im offentlichen als auch im privaten Sektor besondere Bedeutung bei, da nach ihrer Auffassung die Bestechung sowohl im offentlichen als auch im privaten Bereich die Rechtstreue der Gesellschaft gefahrdet, den Wettbewerb im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen verzerrt und eine gesunde wirtschaftliche Entwicklung hemmt. Mit dem am 22. Juli 2003 erlassenen Rahmenbeschluss soil insbesondere sichergestellt werden, dass in alien Mitgliedstaaten sowohl die Bestechung als auch die Bestechlichkeit im privaten Sektor unter Strafe gestellt wird, dass auch juristische Personen fur diese Straftaten haftbar gemacht werden konnen und dass die dabei verhangten Strafen wirksam, verhaltnismafiig und abschreckend sind. Den aus dem Rahmenbeschluss ergebenden Pflichten mussen die Mitgliedstaaten bis zum 22. Juli 2005 nachkommen (Art. 9 I).
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Chemikaliengesetz i. d. F. v. 20. Juni 2002 (BGB1.1 2002, 2090). FCKW-Halon-Verbotsverordnung v. 6. Mai 1991 (BGB1. I 1991, 1090), zuletzt geandert am 29. Oktober 2001 (BGB1.1 2001, 2785). Wasmeier/Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, 2003, Art. 29 EUV Rn. 42.
ABlEG2003Nr. L 192, S. 54. ABlEG1998Nr. L358, 2.
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b) Wesentlicher Inhalt (1) Art. 1 defmiert die Begriffe Juristische Person" und ,,Pflichtverletzung". In Art. 2 und 3 werden den Mitgliedstaaten Ponalisierungspflichten auferlegt. Jeder Mitgliedstaat muss sicherstellen, dass folgende vorsatzliche Handlungen (einschlieBlich Beihilfe und Anstiftung) Straftaten darstellen, wenn sie im Rahmen von Geschaftsvorgangen ausgeftihrt werden: a) Handlungen, bei denen jemand unmittelbar oder liber einen Mittelsmann einer Person, die fur ein Untemehmen im privaten Sektor in leitender oder sonstiger Stellung tatig ist, einen unbilligen Vorteil fur diese Person selbst oder fur einen Dritten verspricht, anbietet oder gewahrt, damit diese Person unter Verletzung ihrer Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlasst (Bestechung im privaten Sektor), b) Handlungen, bei denen jemand, der in einem Unteraehmen im privaten Sektor in leitender oder sonstiger Stellung tatig ist, unmittelbar oder liber einen Mittelsmann fur sich oder einen Dritten einen unbilligen Vorteil als Gegenleistung dafur fordert, annimmt oder sich versprechen lasst, dass er unter Verletzung seiner Pflichten eine Handlung vornimmt oder unterlasst (Bestechlichkeit im privaten Sektor). Diese Verpflichtung gilt fur Geschaftsvorgange in Untemehmen mit oder ohne Erwerbszweck (Art. 2 II). Den Mitgliedstaaten wird gestattet, dass sie den Geltungsbereich von Art. 2 I auf Handlungen beschranken, die im Zusammenhang mit der Beschaffimg von Waren oder gewerblichen Leistungen eine Wettbewerbsverzerrung zur Folge haben oder haben kb'nnen (Art. 2 III). (2) Nach Art. 4 I muss jeder Mitgliedstaat gewahrleisten, dass die in Art. 2 und 3 genannten Handlungen mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden. Die in Art. 2 genannten Handlungen sind mit einer Mindesthochststrafe zwischen einem Jahr und drei Jahren Freiheitsstrafe zu bedrohen (Art. 4 II). Des Weiteren hat nach Art. 4 III jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften und Grundsatzen die erforderlichen MaBnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass einer nattirlichen Person, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Geschaftstatigkeit wegen der in Art. 2 genannten Handlungen verurteilt worden ist, — zumindest dann, wenn sie im Rahmen der betreffenden Geschaftstatigkeit in einem Untemehmen eine Flihrungsposition innehatte — die weitere Ausiibung dieser oder einer vergleichbaren Geschaftstatigkeit in einer ahnlichen Position oder Eigenschaft voriibergehend untersagt werden kann, wenn der festgestellte Sachverhalt eindeutig auf das Risiko schlieBen lasst, dass die betreffende Person ihre Position oder Tatigkeit fur Bestechung oder Bestechlichkeit missbrauchen kbnnte. Die Verantwortlichkeit juristischer Personen und ihre Sanktionierung ist nach MaBgabe der Art. 5 und 6 sicherzustellen. (3) Jeder Mitgliedstaat trifft nach Art. 7 die erforderlichen Mafinahmen, um seine Zustandigkeit fur die strafbaren Handlungen nach den Art. 2 und 3 in den Fallen zu begrlinden, in denen die Straftat a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wurde, b) von einem seiner Staatsangehorigen begangen wurde oder
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c) zugunsten einer juristischen Person begangen wurde, die ihren Sitz im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats hat. c) Deutsches Strafrecht 133 Den sich aus dem Rahmenbeschluss ergebenden Ponalisierungs- und Sanktionierungsverpflichtungen tragt das deutsche Recht bereits vollumfa'nglich Rechnung. Die Strafbestimmung des § 299 StGB, die durch Art. 1 Nr. 3 des KorrBG v. 13. August 1997111 in das Strafgesetzbuch eingefugt wurde, erfasst in ihrem ersten Absatz die Bestechlichkeit und im zweiten Absatz die Bestechung im geschaftlichen Verkehr. Eine Erweiterung ihres tatbestandlichen Anwendungsbereiches auf Handlungen im auslandischen Wettbewerb (§ 299 III StGB) erfolgte durch Gesetz v. 22. August 2002 zur Ausftthrung der Gemeinsamen MaGnahme betreffend die Bestechung im privaten Sektor v. 22. Dezember 1998112. § 299 StGB tritt an die Stelle des § 12 UWG und beschrankt die Strafbarkeit - nach Art. 2 III rahmenbeschlusskonform — auf Handlungen, die im Zusammenhang mit der Beschaffung von Waren oder gewerblichen Leistungen eine Wettbewerbsverzerrung zur Folge haben oder haben konnen. 134 Die als Sonderdelikt ausgestaltete Strafbestimmung schutzt das Allgemeininteresse an einem freien, lauteren Wettbewerb. Geschiitzt sind auch die Vermogensinteressen der Mitbewerber, vor denen sich der Vorteilsgeber einen Vorsprung verschaffen will113. Tater der Bestechlichkeit (§ 299 I StGB) konnen nur Angestellte oder Beauftragte eines geschaftlichen Betriebs - einer auf Dauer angelegten Unternehmung, die aufierhalb des reinen Privatbereichs am Wirtschaftsverkehr durch Austausch von Waren und Dienstleistungen teilnimmt - sein. Als Tater einer - spiegelbildlich zu § 299 I StGB konstruierten - Bestechung (§ 299 II StGB) kommen nur Mitbewerber oder fur ihn handelnde Dritte in Betracht. Gegenstand beider Tatalternativen ist eine Unrechtsvereinbarung, die darauf abzielt, dass der Vorteilsgeber oder ein Dritter von dem Vorteilsnehmer in unlauterer Weise beim Bezug von Waren oder Dienstleistungen bevorzugt wird. Unlauter ist die Bevorzugung, wenn sie nicht durch sachliche Erwagungen, sondern durch den Vorteil motiviert ist. 135 Filr besonders schwere Falle der Bestechlichkeit und Bestechung im geschaftlichen Verkehr droht § 300 StGB eine erhohte Mindeststrafe an. Taten nach § 299 StGB werden auf Antrag oder bei Bejahung eines besonderen offentlichen Interesses von Amts wegen verfolgt (§ 301 StGB). Unter den in § 302 StGB geregelten Voraussetzungen finden die Vorschriften tiber den erweiterten Verfall (§ 73 d StGB) Anwendung. Der von Art. 4 III des Rahmenbeschlusses geforderten MaBnahme tragt § 70 StGB (Anordnung eines Berufsverbotes) Rechnung.
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Korruptionsbekampfungsgesetz (KorrBG) v. 13. August 1997 (BGB1.1 1997, 2038). BGB1.1 2002, 3387. Vgl. Lackner/Kiihl, § 299 Rn. 1; SchSnke/SchrSder/#e/>ze, § 299 Rn. 2; Trond\dFischer, § 299 Rn. 2.
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6. Rahmenbeschlussvorschlag zur Bekampfung von Fremdenfeindlichkeit Seit dem Jahre 1977 haben die europaischen Institutionen bei verschiedenen Gele- 136 genheiten ihre Entschlossenheit bekraftigt, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu verteidigen und alle Formen von Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verurteilt114. Der erste wichtige Schritt zur Rassismusbekampfung auf EUEbene war eine Entschliefiung des Rates und der im Rat vereinigten Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, in der das Jahr 1997 zum Europaischen Jahr gegen Rassismus erklart wurde115. Darauf aufbauend wurde die Europaische Beobachtungsstelle fur Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien eingerichtet. Auch im Rahmen des EU-Erweiterungsprozesses spielen der Schutz der Menschenrechte und die Bekampfung von Rassismus eine zentrale Rolle. Auf der Tagung des Europaischen Rates 1993 in Kopenhagen wurde vereinbart, dass die beitrittswilligen Lander ,,...institutionelle Stabilitat als Garantie fur demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, fur die Wahrung der Menschenrechte sowie die Achtung und den Schutz von Minderheiten" gewahrleisten mllssen. Alljahrlich iiberpruft die Kommission, welche Fortschritte die einzelnen Beitrittslander in Bezug auf die Kopenhagener Kriterien gemacht und inwieweit sie das Gemeinschaftsrecht iibernommen haben. Durch den Vertrag von Amsterdam wurde ein neuer Art. 13 in den EGV aufgenommen, der der Gemeinschaft erstmals die Befugnis verleiht, legislative Mafinahmen zur Bekampfung von Diskriminierungen zu ergreifen116. Der Wiener Aktionsplan zur bestmoglichen Umsetzung der Bestimmungen des Amsterdamer Vertrags iiber den Aufbau eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts117 fuhrt Rassismus und Fremdenfeindlichkeit unter den spezifischen Formen von Kriminalitat auf, bei denen zu prttfen ist, wie sie am besten mit einem EU-Konzept bekampfit werden konnen. In den Schlussfolgerungen des Europaischen Rates von Tampere (Oktober 1999) wird im Zusammenhang mit der gerechten Behandlung von Drittstaatsangehorigen gefordert, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ausgehend von der Mitteilung der Kommission ilber einen Aktionsplan gegen Rassismus verstarkt bekampft werden miissen. Die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten bei der Bekamp- 137 fung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ist Gegenstand einer aufgrund von Art. K.3 des EUV erlassenen Gemeinsamen MaBnahme v. 15. Juli 1996118. In der Gemeinsamen MaBnahme werden die Mitgliedstaaten aufgefordert, einige na114
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Vgl. die Gemeinsame Erklarung des EP, des Rates und der Kommission betreffend die Achtung der Grundrechte sowie der Europaischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten v. 5. April 1977 (AB1EG 1977 Nr. C 103, S. 1). AB1EG 1996 Nr.C 237, S. 1. Vgl. Richtlinie 2000/43/EG des Rates v. 29. Juni 2000 (AB1EG 2000 Nr. L 180, S. 22) und Richtlinie 2000/78/EG des Rates v. 27. November 2000 (AB1EG 2000 Nr. L 303, S. 16). AB1EG 1999 Nr. C 19, S. 1 (Ziff. 51a). Gemeinsame MaBnahme betreffend die Bekampfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (AB1EG 1996 Nr. L 185, S. 5).
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her bezeichnete rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Verhaltensweisen unter Strafandrohung zu stellen oder, wenn dies nicht getan wird, bei diesen Verhaltensweisen bis zur Schaffung der erforderlichen Bestimmungen von dem (auslieferungsrechtlichen) Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit abzusehen. Es soil verhindert werden, dass die Tater sich divergierende strafrechtliche Regelungen in den einzelnen Mitgliedstaaten zunutze machen konnen, indem sie einfach ihren Aufenthaltsort wechseln, um sich der Strafverfolgung zu entziehen. Ebenfalls vorgesehen sind die Beschlagnahme und Einziehung von rassis-tischem und fremdenfeindlichem Schrift- und Bildmaterial sowie ein zwischenstaatlicher Informationsaustausch. Im Jahre 1998 wurde ein erster Bericht ilber die Durchfuhrung der Gemeinsamen MaBnahme von 1996 erstellt. In den Schlussfolgerungen heiBt es, dass die Mitgliedstaaten die Bestimmungen der Gemeinsamen MaBnahme zwar sehr weitgehend umgesetzt hatten, jedoch immer noch Raum fur weitere Verbesserungen bestehe. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Bekampfung rassistischer und fremdenfeindlicher Inhalte im Internet hervorgehoben. Das EP forderte in seiner EntschlieBung v. 21. September 2000119 die Ersetzung der Gemeinsamen MaBnahme v. 15. Juli 1996 durch einen Rahmenbeschluss. 138
Die Kommission legte am 28. November 2001 einen Vorschlag fur einen Rahmenbeschluss des Rates zur Bekampfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit120 vor. Sie stUtzte ihren Vorschlag maBgeblich auf Art. 29 EUV, welcher vorsieht, dass ein gemeinsames Vorgehen der Mitgliedstaaten im Bereich der PJZS entwickelt sowie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verhiitet und bekampft werden. Der Verwirklichung dieser Ziele dient zum einen die Angleichung des materiellen Strafrechts nach Art. 31 lit. e EUV, zum anderen die Verbesserung der justiziellen Zusammenarbeit unter den in Art. 31 lit. a-c EUV genannten Aspekten (vgl. hierzu § 12 Rn. 4 ff.).
a) Regelungsgegenstand und Ziel des vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses 139 Die von der Kommission vorgeschlagene MaBnahme soil gewahrleisten, dass rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Straftaten in alien Mitgliedstaaten mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden, die eine Auslieferung oder Ubergabe nach sich ziehen konnen. Insbesondere soil die Verbreitung rassistischer und fremdenfeindlicher Inhalte im Internet in alien Mitgliedstaaten strafbar sein. Alles, was ,,offline" gesetzeswidrig ist, soil auch ,,online" gesetzeswidrig sein. Durch die im Rahmenbeschlussvorschlag vorgesehenen gemeinsamen Defmitionen und Strafen soil die justizielle Zusammenarbeit und Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert werden. 140 Der vorgeschlagene Rahmenbeschluss erweitert die Liste der in der Gemeinsamen MaBnahme von 1996 aufgefuhrten Straftaten, die in alien Mitgliedstaaten als Straftaten eingestuft werden mttssen. Eine Neuerung gegenuber der Gemeinsamen MaBnahme von 1996 besteht schlieBlich auch darin, dass den Mitgliedstaaten nicht mehr die Wahlfreiheit belassen wird, ob sie diese Verhaltensweisen unter 119 120
AB1EG 2001 Nr. C 146, S. 110. KOM (2001), 664 endg.
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Strafandrohung stellen oder vom Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit abweichen. Vielmehr wird die Sicherstellung der Strafbarkeit solcher Verhaltensweisen als verbindliche Pflicht festgeschrieben. b) Wesentlicher Inhalt (1) Art. 1 erlautert die Zielsetzung des vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses, namlich die Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten und die engere Zusammenarbeit zwischen den Justiz- und sonstigen Behorden der Mitgliedstaaten bei Straftaten mit rassistischem und fremdenfeindlichem Hintergrund. (2) Art. 2 legt den Anwendungsbereich der geplanten MaBnahme fest. Der Rahmenbeschluss soil fur rassistische und fremdenfeindliche Straftaten gelten, die begangen werden: a) im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten, b) von Staatsangehorigen der Mitgliedstaaten, wenn die Straftat Einzelpersonen oder Gruppen dieses Staates schadigt, oder c) zum Nutzen einer in einem Mitgliedstaat ansassigen juristischen Person. (3) In Art. 3 werden zentrale Begriffe des Rahmenbeschlusses defmiert. Demnach beschreiben die Begriffe ,,Rassismus und Fremdenfeindlichkeit" eine Uberzeugung, nach der Rasse, Hautfarbe, Abstammung, Religion, Weltanschauung, nationale oder ethnische Herkunft ein maBgebender Faktor fur die Ablehnung von Einzelpersonen oder Gruppen ist. Unter einer ,,rassistischen oder fremdenfeindlichen Gruppe" versteht der vorgeschlagene Rahmenbeschluss einen auf langere Dauer angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen, die in Verabredung handeln, um Straftaten nach Art. 4 lit. a-e zu begehen. (4) Der Vorschlag statuiert in Art. 4 eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die nachfolgend aufgefuhrten vorsatzlichen Handlungen einschliefilich Anstiftung, Beihilfe, Mittaterschaft und Versuch (Art. 5) als ,,Straftaten mit rassistischem und fremdenfeindlichem Hintergrund" unter Strafandrohung zu stellen: a) Aufstachelung zu rassistischer oder fremdenfeindlicher Gewalt bzw. zu Rassen- und Fremdenhass oder zu einem anderen rassistischen oder fremdenfeindlichen Verhalten, das den betroffenen Einzelpersonen oder Gruppen erheblichen Schaden zufilgt, b) offentliche Beleidigungen oder Drohungen gegeniiber Einzelpersonen oder Gruppen in rassistischer oder fremdenfeindlicher Absicht, c) offentliche Duldung von Volkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen nach den Art. 6, 7 und 8 des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs in rassistischer oder fremdenfeindlicher Absicht, d) offentliches Leugnen oder Verharmlosen von Verbrechen nach Art. 6 der Charta des Internationalen Militargerichtshofs im Anhang zum Londoner Abkommen v. 8. April 1945 in einer Weise, die geeignet ist, den offentlichen Frieden zu storen, e) offentliche Verbreitung oder Verteilung von Schriften, Bild- oder sonstigem Material mit rassistischen oder fremdenfeindlichen Inhalten,
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f) Leitung oder Unterstiitzung der Aktivitaten einer rassistischen oder fremdenfeindlichen Gruppe bzw. Beteiligung an solchen Aktivitaten, in der Absicht, zu den kriminellen Machenschaften der Organisation beizutragen. 145 Die Aufstellung der unter Art. 4 lit. a-f aufgefuhrten Verhaltensweisen stiitzt sich auf die entsprechende Liste in der Gemeinsamen Maflnahme von 1996, die um den Straftatbestand ,,offentliche Beleidigungen oder Drohungen gegen Einzelpersonen oder Gruppen in rassistischer oder fremdenfeindlicher Absicht" erweitert wird. Auch wird den Mitgliedstaaten die - leider allzu vage formulierte - Verpflichtung festgelegt, neben der offentlichen Aufstachelung zu Gewalt oder Hass ,jedwede sonstige rassistische Verhaltensweise" unter Strafe zu stellen, die Einzelpersonen oder Gruppen erheblichen Schaden zufugen kann. Die Mitgliedstaaten haben sicherzustellen, dass die in Umsetzung des Art. 4 erlassenen Strafvorschriften auch auf rassistische und fremdenfeindliche Inhalte im Internet Anwendung finden. Nach Art. 11 sind zumindest die in Art. 4 lit. a, e und f beschriebenen Handlungen im Tatortstaat von Amts wegen strafrechtlich zu verfolgen. 146 (5) Umfangreiche Vorgaben ilber Strafen und Sanktionen sind in Art. 6 enthalten. Danach tragen die Mitgliedstaaten dafiir Sorge, dass - Straftaten nach den Art. 4 und 5 mit wirksamen, angemessenen und abschreckenden Strafen geahndet werden (Nr. 1), - Straftaten nach Art. 4 lit. b-e zumindest in schwerwiegenden Fallen mit Freiheitsstrafen geahndet werden, die gegebenenfalls zur Auslieferung oder Uberstellung fiihren konnen (Nr. 2), - Straftaten nach Art. 4 lit. a und f mit einer Freiheitsstrafe im HochstmaB von mindestens zwei Jahren geahndet werden (Nr. 3), - bei Straftaten nach den Art. 4 und 5 erganzende oder alternative Sanktionen, wie Gemeinschaftsarbeit oder Teilnahme an SchulungsmaBnahmen, Aberkennung bestimmter burgerlicher oder politischer Rechte oder vollstandige oder teilweise Veroffentlichung des Urteils verhangt oder vorgesehen werden konnen (Nr. 4), - fur Straftaten nach den Art. 4 und 5 GeldbuBen bzw. Geldstrafen oder die Zahlung eines Betrags fur wohltatige Zwecke vorgesehen werden konnen (Nr. 5), - die Einziehung und Beschlagnahme aller zur Begehung der Straftaten nach den Art. 4 und 5 eingesetzten Materialien und Instrumente sowie der Ertrage aus diesen Straftaten ermoglicht wird (Nr. 6). 147 (6) Nach Art. 7 ist es als erschwerender Umstand mit der Folge einer Strafverscharfung zu werten, wenn der Tater eine Straftat nach Art. 4 und 5 in Ausubung einer beruflichen Tatigkeit begeht und das Opfer auf diese Tatigkeit angewiesen ist. Art. 8 legt die Mitgliedstaaten darauf fest, dafiir Sorge zu tragen, dass rassistische oder fremdenfeindliche Beweggriinde auch bei anderen als in den Art. 4 und 5 genannten Straftaten - zu denken ist etwa an Totungs- oder Korperverletzungsdelikte - als erschwerender Umstand gewertet werden konnen. Die Verantwort
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lichkeit juristischer Personen und ihre Sanktionierung ist nach MaBgabe der Art. 9 und 10 zu gewahrleisten. (7) Detaillierte Regelungen uber die gerichtliche Zustandigkeit, Ausliefe- 148 rung, Verfolgung und Informationsaustausch sind in Art. 12-15 enthalten. Die Mitgliedstaaten stellen nach Art. 14 sicher, dass die in den Art. 4 und 5 genannten Straftaten nicht als politische Straftaten gelten, welche die Ablehnung von Rechtshilfe- oder Auslieferungsgesuchen rechtfertigen. c) Deutsches Strafrecht Falls der von der Kommission vorgeschlagene Rahmenbeschluss angenommen 149 und damit fur die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich wird (vgl. Art. 34 II lit. b EUV), muss der deutsche Gesetzgeber priifen, ob die Umsetzung der Zielvorgaben legislative MaBnahmen erfordert. Bereits das geltende deutsche Strafrecht enthalt Straftatbestande, die auf vor- 150 satzliche Handlungen der in Art. 4 beschriebenen Art Anwendung fmden. Zu denken ist insbesondere an die in § 130 I-III StGB normierten Tatbestande der Volksverhetzung. Daneben konnen auch §§ 111, 140, 185-189 StGB sowie die gegen den Gedanken der Volkerverstandigung gerichteten Vereinigungs- und Propagandadelikte gem. §§ 85-86 a StGB einschlagig sein. Aus internationalstrafrechtlicher Sicht ist auf die Rechtsprechung des BGH hinzuweisen, wonach deutsches Strafrecht (hier: §130 III StGB) gem. §§ 3, 9 I, 3. Var. StGB auch auf einen Auslander Anwendung findet, der von ihm verfasste volksverhetzende AuBerungen auf einem auslandischen Server in das Internet stellt und auf diese Weise Internetnutzern in Deutschland zuganglich macht121 (vgl. hierzu § 2 Rn. 34 ff.). Den Eintritt eines zum Tatbestand der Volksverhetzung gehorenden Erfolges i. S. d. § 9 I, 3. Var. StGB bejaht der BGH mit der ilberzeugenden Begrilndung, dass die im Inland abrufbaren Publikationen bei genereller Betrachtung geeignet sind, die Gefahr einer Stoning des offentlichen Friedens in Deutschland hervorzurufen. Die nach deutschem Recht angedrohten Sanktionen tragen den Vorgaben des Rahmenbeschlussvorschlages vollumfanglich Rechnung. Auch besteht nach §§ 74, 74 b-76 a StGB die Moglichkeit der Einziehung von Schriften oder anderen Tatwerkzeugen.
7. Rahmenbeschlussvorschlag uber Angriffe auf Informationssysteme Die Entwicklung der Computer- und Informationstechnologie hat in den letzten 151 Jahrzehnten zu grundlegenden Veranderungen in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und im privaten Bereich gefuhrt122. Elektronische Kommunikationsnetze und Informationssysteme sind mittlerweile ein fester Bestandteil des Alltags der Burger und zudem von grundlegender Bedeutung fur den nationalen und internationalen Geschaftsverkehr. Netze und Informationssysteme wachsen zusammen und 121
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BGHSt 46, 212 = NJW 2001, 624; zust. Hecker, ZStW 115 (2003), S. 880, 888; krit. hierzu Hilgendorf, ZStW 113 (2001), S. 672 und Trondle/'Fischer, § 9 Rn. 8a. Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 1.
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werden immer enger miteinander verkniipft. Neben zahlreichen Vorteilen bieten die eingesetzten Informationssysteme zugleich eine vielfaltige und breite Angriffsflache fiir Manipulationen und schadliche Einwirkungen aller Art. 152 Zur Computerkriminalitat (,,Cyber Crime") gehoren nach allgemeiner Auffassung alle Kriminalitatsphanomene, die unmittelbar oder mittelbar im Zusammenhang mit der elektronischen Datenverarbeitung stehen und unter Einbeziehung einer EDV-Anlage (als Tatmittel und/oder Tatobjekt) begangen werden123. Hierzu zahlen namentlich die folgenden Erscheinungsformen: - Computerspionage: unberechtigtes Eindringen in fremde Rechner und Ausforschung fremder Daten (,,Hacking"), - Computersabotage: Beschadigung oder Vernichtung von Daten; - Computermanipulation: Datenveranderung mit dem Ziel, das Ergebnis eines Datenverarbeitungsvorganges zu beeinflussen, - Unberechtigte Nutzung von Computern, Programmen, Datenubertragungseinrichtungen und unbefugte Verwertung von Programmen. 153 Da elektronische Informationen in Sekundenbruchteilen jederzeit von einem Ort der Welt an einen beliebigen anderen ubertragen werden konnen, ist die Schaffung eines international einheitlichen Mindeststandards zum Schutz der offenen Informationsgesellschaft unverzichtbar. Unterschiedliche nationale Gesetzgebungen zur Bekampfung der Computerkriminalitat fuhren unweigerlich zur Bildung ,,sicherer Hafen", von denen aus strafwiirdige Praktiken ohne Strafbarkeitsrisiko begangen werden konnen. Bestrebungen einer internationalen Harmonisierung des Informationsrechts gibt es bereits auf der Ebene der UN, G8-Staaten, OECD, des Europarats und der EG. So beschreibt die Cyber-Crime-Konvention des Europarats v. 23. November 2001124 einige Tathandlungen, die innerstaatlich unter Strafe gestellt werden sollen und regelt zugleich einige strafprozessuale Fragen. Zu einer Harmonisierung der nationalen Bestimmungen tragt ferner die EGDatenschutzrichtlinie v. 24. Oktober 1995125 bei, die durch das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG)126 v. 22. Mai 2001 in deutsches Recht transferiert wurde127. 154 Nach Auffassung der Kommission bedrohen Angriffe auf Informationssysteme auch den Erfolg der Anstrengungen zur Schaffung einer sichereren Informationsgesellschaft und eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 29 EUV). Es fanden nachweislich - insbesondere im Rahmen der organisierten Kriminalitat - Angriffe auf Informationssysteme statt, und die Furcht vor Terroranschlagen auf Informationssysteme, die Teil der kritischen Infrastruktur der Mitgliedstaaten seien, wachse. Daher bedurfe es GegenmaBnahmen auf Ebene der 123
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Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 9; v. Bubnoff, ZEuS 2001, 165, 185 f; Dannecker, BB 1996, 1285; Hilgendorf, JuS 1996, 509 f.; Sieber, CR 1995, 100. ETSNr. 185. ABlEG1995Nr. L 281, 31. BGB1.12001,904. Vgl. Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 8.
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EU. Ein Beitrag hierzu ist der am 19. April 2002 vorgelegte Vorschlag der
Kommission fiir einen Rahmenbeschluss iiber die Angleichung der einzelstaatlichen Strafrechtsvorschriften gegen Angriffe auf Informationssysteme128, der zu weiten Teilen ilber die Cyber-Crime-Konvention des Europarats hinausgeht129. Der Rahmenbeschlussvorschlag knupft an das in der Mitteilung der Kommission ,,Schaffung einer sichereren Informationsgesellschaft durch Verbesserung der Sicherheit von Informationsinfrastrukturen und Bekampfung der Computerkriminalitat"130 unterbreitete Konzept an. a) Regelungsgegenstand und Ziel des vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses Mit dem vorliegenden Rahmenbeschlussvorschlag soil innerhalb der EU ei- 155 ne starkere Rechtsangleichung herbeigefuhrt werden, als dies bisher in anderen internationalen Foren moglich war. Die von internationalen Organisationen und insbesondere vom Europarat geleisteten Arbeiten zur Angleichung des Strafrechts sowie die Arbeiten der G8-Staaten zum Thema grenzuberschreitende Zusammenarbeit im Bereich der High-Tech-Kriminalitat sollen durch einen gemeinsamen Ansatz der EU fur diesen Bereich erganzt werden. Art. 1 des Vorschlags formuliert den Anwendungsbereich und das Ziel des Rahmenbeschlusses wie folgt: ,,Dieser Rahmenbeschluss stellt darauf ab, durch Angleichung der einzelstaatlichen Strafrechtsvorschriften fur Angriffe auf Informationssysteme die Zusammenarbeit zwischen den Justiz- und sonstigen zustandigen Behorden der Mitgliedstaaten einschlieBlich der Polizei und anderen spezialisierten Strafverfolgungsbehorden der Mitgliedstaaten zu verbessern". Durch eine Mindestangleichung des materiellen Rechts im Bereich der Compu- 156 terkriminalitat (von der Kommission als ,,High-Tech-Kriminalitat" bezeichnet) soil sichergestellt werden, dass alle Formen schwerwiegender Angriffe auf Informationssysteme mit Hilfe der nach dem Strafrecht verfugbaren Techniken und Methoden aufgeklart, verfolgt und geahndet werden konnen. Auf diese Weise soil eine hohe abschreckende Wirkung auf potenzielle Angreifer erzielt werden. Die Kommission halt eine Rechtsangleichung aber auch deshalb fur unverzichtbar, weil sich unterschiedliche strafrechtliche Rahmenbedingungen als Hindernis fur eine wirksame polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit bei Angriffen auf Informationssysteme erweisen konnen. Nur durch eine Angleichung der Rechtsvorschriften wird der Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit (wonach eine Handlung in beiden Landern einen Straftatbestand darstellen muss, bevor die gegenseitige Rechtshilfe bei strafrechtlichen Ermittlungen erfolgen kann) gewahrleistet. b) Wesentlicher Inhalt (1) Art. 2 des vorgeschlagenen Rahmenbeschlusses enthalt zahlreiche Defmitio- 157 nen, in denen Begriffe wie ,,elektronisches Kommunikationsnetz", ,,Computer", ,,Computerdaten" und ,,Informationssystem" prazisiert werden. Der zentrale Begriff ,,Informationssystem" wird in dem Vorschlag weit gefasst, um dem Zusam128 129 130
KOM (2002) 173 endg. Wasmeier/Jour-Schroder, in: v. d. Groeben/Schwarze, 2003, Art. 29 EUV Rn. 50. KOM (2000) 890 endg.
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menwachsen der elektronischen Netze und der unterschiedlichen iiber sie verbundenen Systeme Rechnung zu tragen. Er umfasst daher Personal Computer (PC) und elektronische Kommunikationsnetze (,,Internet") sowie die von ihnen zum Zweck des Betriebs, der Nutzung, des Schutzes und der Pflege gespeicherten, verarbeiteten, abgerufenen oder ilbertragenen Computerdaten. (2) Nach Art. 3 (,,rechtswidriger Zugang zu Informationssystemen") haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass der vorsatzliche und unrechtmaBige Zugang zu einem. Informationssystem oder einem Teil eines Informationssystems unter Strafe gestellt wird (nach Art. 5 einschlieBlich Beihilfe, Anstiftung und Versuch), sofern diese Handlung a) gegen einen Teil eines spezifischen SchutzmaBnahmen unterliegenden Informationssystems gerichtet ist, b) mit der Absicht begangen wird, einer natilrlichen oder juristischen Person Schaden zuzufugen, oder c) mit der Absicht begangen wird, einen wirtschaftlichen Vorteil zu bewirken. Typische Angriffsform ist in diesem Zusammenhang das ,,Hacking"131. Hierunter versteht man Handlungen, die darauf gerichtet sind, sich unberechtigt Zugang zu einem Computer oder einem Computernetz zu verschaffen. Hacking kann auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen, z. B. durch bloBes Ausnutzung von InsiderInformationen oder Abfangen von Passwortern. Haufig geschieht dies in der boswilligen Absicht, Daten zu kopieren, zu verandern oder zu zerstoren. Der unberechtigte Zugriff kann auch darauf abzielen, Webseiten zu korrumpieren oder sich unentgeltlich Zugang zu zugangskontrollierten Diensten zu verschaffen. (3) Nach Art. 4 (,,rechtswidriger Eingriff in Informationssysteme") sind die nachstehenden vorsatzlichen und unrechtmafligen Handlungen (nach Art. 5 einschlieBlich Beihilfe, Anstiftung und Versuch) unter Strafe zu stellen: a) schwere Behinderung oder Storung des Betriebs eines Informationssystems durch Eingabe, Ubermittlung, Beschadigung, Loschung, Verstummelung, Veranderung, Unterdriickung oder Blockierung von Computerdaten, b) Loschung, Verstummelung, Veranderung, Unterdruckung oder Blockierung von Computerdaten eines Informationssystems, sofern dies in der Absicht geschieht, einer naturlichen oder einer juristischen Person Schaden zuzufugen. Die Moglichkeiten, Informationssysteme durch boswillige Angriffe zu storen, sind auBerst vielfaltig132. Eine der bekanntesten Moglichkeiten, die im Internet angebotenen Dienste zu blockieren oder anzugreifen, ist der ,,Denial of Service"-Angriff (vergleichbar mit einer Blockade eines Faxgerates durch lange, wiederholte Nachrichten). Mit ,,Denial of Service"-Attacken wird versucht, Web-Server oder Anbieter von Internetdiensten (ISP) mit automatisch erzeugten Nachrichten zu iiberlasten. Andere Angriffsformen sind beispielsweise die Storung von Servern, die das System der Bereichsnamen (DNS) betreiben, und Angriffe auf Router. Bestimmte bekannte Webseiten (z. B. Portale) haben durch derartige Storangriffe bereits schweren Schaden erlitten. Eine weit verbreitete Form der Computersabotage Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 51, 59, 61, 65. Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 64 ff.
C. Bereiche zulassiger Strafrechtsangleichung nach Art. 31 lit. e EUV
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ist der Einsatz von Software, die Daten verandert oder zerstort (,,Computerviren" bzw. ,,Computerwiirmer"). Manche dieser Programme schadigen den PC selbst, wahrend andere den PC nur dazu benutzen, andere vernetzte Komponenten anzugreifen. Einige Programme (haufig als ,,logische Bomben" bezeichnet) ,,schlummern" so lange, bis sie durch ein Ereignis (wie etwa ein bestimmtes Datum) aktiviert werden und dann Daten verandern oder loschen. Andere, auf den ersten Blick gutartige Programme losen bei Aufruf bosartige Angriffe aus (daher die Bezeichnung ,,Trojanische Pferde"). Eine weitere Variante sind (haufig als ,,Wurmer" bezeichnete) Programme, die im Gegensatz zu einem Virus nicht andere Programme infizieren, sondern sich selbst kopieren. Die Kopien kopieren sich immer weiter und tlberschwemmen so letztendlich das gesamte System mit nicht selten schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgeschaden fur die hiervon betroffenen Betreiber des Informationssystems. (4) Die Mitgliedstaaten werden nach Art. 6 verpflichtet, die erforderlichen MaBnahmen zu treffen, damit die oben beschriebenen vorsatzlichen Angriffe durch wirksame, verhaltnismafiige und abschreckende Strafen geahndet werden konnen. Dies schliefit die Androhung von Freiheitsstrafen im Hochstmaft von mindestens einem Jahr in schweren Fallen ein. Falle, in denen durch die betreffende Handlung kein Schaden oder wirtschaftlicher Vorteil bewirkt wurde, gelten nicht als schwere Falle. (5) Bei Vorliegen folgender erschwerender Umstande sind gem. Art. 7 I fur Straftaten nach Art. 3, 4 und 5 Mindesthochststrafen von vier Jahren anzudrohen: a) die Straftat wurde im Rahmen einer kriminellen Vereinigung gemaB Definition in der Gemeinsamen Mafinahme 98/733/JI v. 21. Dezember 1998 betreffend die Strafbarkeit der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung in den Mitgliedstaaten der Europaischen Union begangen133, b) durch die Straftat wurde einer naturlichen Person direkt oder indirekt ein erheblicher wirtschaftlicher Verlust oder korperlicher Schaden zugefiigt oder ein Teil der kritischen Infrastruktur des Mitgliedstaates erheblich beschadigt, c) durch die Straftat wurden erhebliche Ertrage erzielt. Des Weiteren haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Straftaten nach Art. 3 und 4 mit langeren als den in Art. 6 vorgesehenen Freiheitsstrafen geahndet werden konnen, wenn der Tater bereits in einem Mitgliedstaat wegen einer derartigen Straftat rechtskraftig verurteilt wurde (Art. 7 II). Die Verantwortlichkeit juristischer Personen und ihre Sanktionierung ist nach MaBgabe der Art. 9, 10 zu gewahrleisten. (6) Jeder Mitgliedstaat muss nach Art. I l l dafur sorgen, dass seine Verfolgungszustandigkeit fur strafbare Handlungen nach den Art. 3, 4 und 5 in den Fallen begriindet ist, sofern diese a) ganz oder teilweise in seinem Hoheitsgebiet begangen wurden, b) von eigenen Staatsangehorigen begangen wurden und Einzelpersonen oder Gruppen dieses Staates betreffen,
AB1EG 1998 Nr.L 351, S. 1.
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c) zugunsten einer juristischen Personen begangen wurden, deren Hauptsitz sich im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates befmdet. 166 Bei der Begrundung der Zustandigkeit gemaB Art. 11 I lit. a muss jeder Mitgliedstaat sicherstellen, dass sich diese auch auf Falle erstreckt, in denen: a) der Tater die strafbare Handlung begeht, wahrend er sich physisch im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhalt, unabhangig davon, ob sich die Straftat gegen ein Informationssystem in seinem Hoheitsgebiet richtet oder b) sich die Straftat gegen ein Informationssystem in seinem Hoheitsgebiet richtet, unabhangig davon, ob der Tater die strafbare Handlung begeht, wahrend er sich physisch im Hoheitsgebiet dieses Staates aufhalt. c) Deutsches Strafrecht 167 Spezielle Straftatbestande zur Bekampfung der Computerkriminalitat wurden in der Bundesrepublik Deutschland bereits im Jahre 1986 durch das Zweite Gesetz zur Bekampfung der Wirtschaftskriminalitat (2. WiKG)134 geschaffen (insbesondere §§ 202 a, 263 a, 269, 270, 271 I, 303 a, 303 b StGB). Der Gesetzgeber zog damit die legislatorischen Konsequenzen aus der Erkenntnis, dass die ,,klassischen" Straftatbestande (z. B. §§ 267, 263, 303 StGB) nicht ausreichen, urn die neuen Kriminalitatsphanomene angemessen zu bekampfen135. Der von dem Rahmenbeschlussvorschlag in Art. 3-5 geforderten Ponalisierung des rechtswidrigen Zugangs zu bzw. Eingriffs in Informationssysteme(n) tragt das deutsche Strafrecht bereits vollumfanglich Rechnung136. 168 Die in Art. 3 (,,rechtswidriger Zugang zu Informationssystemen") beschriebenen Handlungen werden von § 202 a StGB unter Strafandrohung gestellt. Hierzu gehort nach zutreffender, aber umstrittener Auffassung auch das ,,Hacking"137. Durch § 202 a StGB wird das (personliche, meist auch wirtschaftliche) Interesse des Verfugungsberechtigten geschiitzt, die in Daten, Dateien oder Datenbanksystemen verkorperten Informationen vor unbefugtem Zugriff zu bewahren. § 202 a StGB erfasst neben dem unberechtigten Eindringen in fremde Dateien oder Datenubermittlungsvorgange auch das unbefugte Kopieren von Daten oder Programmen sowie die Ausbeutung von Datenbestanden durch Spionage (,,Datendiebstahl")138. Daten wirtschaftlicher Unternehmen sind im Ubrigen, soweit es sich um Geschafts- und Betriebsgeheimnisse handelt, bereits von § 17 II Nr. 1 UWG139 geschiitzt140. § 17 III UWG stellt auch - wie von Art. 5 gefordert - den Versuch unter Strafe. 134
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Zweites Gesetz zur Bekampfung der Wirtschaftskriminalitat - 2. WiKG - v. 15. Mai 1986 (BGB1.11986, 721). Vgl. hierzu Mohrenschlager, wistra 1986, 128 ff.; Tiedemann, JZ 1986, 865, 867 f. Vgl. hierzu den Uberblick tiber typische Tathandlungen und die hierauf anwendbaren Straftatbestande bei Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 12. Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 50 ff, 59; TvonAXdFischer, § 202 a Rn. 11; a. A. MiiKo/StGB/Gra/; §202 a Rn. 50 f; Schonke/Schroder/Ie«c/tner, §202 a Rn. 10. Trondle/F«c/ze/-, § 202 a Rn. 2, 10 f. m. w. N. Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb - UWG (BGB1.1 2002, 2850). Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 108 f.
E. Zusammenfassung von § 11
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Sabotagehandlungen der in Art. 4 (,,rechtswidriger Eingriff in Informati- 169 onssysteme") umschriebenen Art werden nach deutschem Recht von mehreren einschlagigen Straftatbestanden erfasst141. Das rechtswidrige Loschen, Unterdrticken, Unbrauchbarmachen oder Verandern von Daten (Software) ist strafbar gem. § 303 a StGB. Richtet sich diese Tat gegen eine Datenverarbeitung, die fur einen fremden Betrieb, ein fremdes Unternehmen oder eine Behorde von wesentlicher Bedeutung ist, so greift als Qualifikationstatbestand § 303 b I Nr. 1 StGB ein. Bei Zerstorang oder Beschadigung von Hardware kommt ein qualifizierter Fall der Sachbeschadigung gem. § 303 b I Nr. 2 StGB in Betracht. Daneben konnen Manipulationen bei der Dateneingabe - je nach Fallgestaltung - gem. §§ 263 a, 269, 270, 274 I Nr. 2 StGB strafbar sein142. Werden Computerdelikte der oben beschriebenen Art aus einer kriminellen Vereinigung heraus begangen, findet § 129 I StGB Anwendung. Die Haftung und Sanktionierung juristischer Personen ergibt sich aus § 30 OWiG.
D. Literaturhinweise Ambos, Internationalisierung des Strafrechts: das Beispiel ,,Geldwasche", ZStW 114 (2002), S. 236 Bar, in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 12. Kap. (Computerkriminalitat) v. Bubnoff, Schwerpunkte strafrechtlicher Harmonisierung in Europa unter Berilcksichtigung der Orientierungsvorgaben aus der Grundrechtscharta 2000, ZEuS 2001, 165 ders., Terrorismusbekampfung — eine weltweite Herausforderung, NJW 2002, 2672 ders., Institutionelle Kriminalitatsbekampfung in der EU - Schritte auf dem Weg zu einem europaischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum, ZEuS 2002, 185 Satzger, Die Europaisierung des Strafrechts, 2001, S. 465-470 ders., Rechtspolitische Moglichkeiten zur Realisierung der Tatbestandsvorschlage der ,,Europa-Delikte", in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europaischen Union, 2002, S. 71 Sieber, Bekampfung des EG-Betrugs und Perspektiven der europaischen Amts- und Rechtshilfe, ZRP 2000, 186 Weigend, Der Entwurf einer Europaischen Verfassung und das Strafrecht, ZStW 116 (2004), S. 275
E. Zusammenfassung von § 11 Das gemeinsame Vorgehen der EU-Mitgliedstaaten im Bereich der PJZS erweist 170 sich als einer der bedeutsamsten Faktoren der Europaisierung des materiellen Strafrechts und der international-arbeitsteiligen Strafrechtspflege. In diesem Ka141
Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 62 ff.
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Vgl. hierzu Bar, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 12. Kap. Rn. 15 ff., 37 ff; 46 ff.
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§ 11 Harmonisierung des materiellen Strafrechts in der dritten Saule
pitel wird der unionsrechtliche Rahmen fiir eine Harmonisierung des materiellen Strafrechts herausgearbeitet. Sodann werden die auf der Grundlage der Art. 29, 31 EUV ergriffenen und geplanten MaBnahmen dargestellt, die auf eine Mindestangleichung bestimmter Bereiche des materiellen Strafrechts der EUMitgliedstaaten abzielen. 171 Der im Dienste des Unionsziels der Schaffung eines ,,Raumes der Freiheit der Sicherheit und des Rechts" (Art. 29 EUV) stehende Handlungsauftrag des Art. 31 lit. e EUV sieht eine schrittweise Annahme von MaBnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften ttber die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen vor. Die in diesem Artikel aufgefuhrten Kriminalitatsbereiche ,,Organisierte Kriminalitat", ,,Terrorismus" und ,,illegaler Drogenhandel" beschreiben den Kreis angleichungsfahiger Materien nicht abschlieBend, sondern nur exemplarisch. Das Mittel der Strafrechtsangleichung steht im Rahmen der PJZS fur alle Kriminalitatsbereiche zur Verfugung, in denen die EU bereits eine gemeinsame Politik entwickelt hat oder die von grenzuberschreitender Dimension sind. Zur Umsetzung ihres Handlungsauftrages bedienen sich die EU-Mitgliedstaaten der in Art. 34 II lit. a-d EUV aufgefuhrten Handlungsinstrumente, wobei der (einstimmigen) Annahme von Rahmenbeschliissen und Erstellung von Ubereinkommen die grOBte praktische Bedeutung zukommt. Die Angleichung des materiellen Strafrechts erfolgt durch Erlass von Mindestvorschriften zur Ausgestaltung der einschlagigen Tatbestande des Besonderen Teils, insbesondere in Form gemeinsamer Definitionen, in denen die zentralen Tatbestandsmerkmale der zu inkriminierenden Handlung beschrieben werden. Von der Angleichungskompetenz umfasst sind auch Anweisungen zur Ausgestaltung des Allgemeinen Teils, insbesondere Taterschaft und Teilnahme sowie Versuch, soweit hierdurch nicht in die Grundstruktur der nationalen Strafrechtssysteme eingegriffen wird. Vorgaben zur Verantwortlichkeit juristischer Personen sind zulassig, wenn den Mitgliedstaaten ein ausreichend breiter Umsetzungsspielraum belassen wird, der auch die Moglichkeit einer Beschrankung auf nichtstrafrechtliche Sanktionen zulasst. Einer Mindestangleichung zuganglich sind schlieBlich die Rechtsfolgen (Strafen und sonstige Sanktionen). Insbesondere konnen sog. ,,Mindesthochststrafen" und bereichsspezifische Vorgaben iiber strafzumessungsrelevante Umstande festgelegt werden. 172
Im Rahmen der dritten Saule wurden bereits zahlreiche Rechtsakte erlassen oder geplant, die auf eine Mindestangleichung des materiellen Strafrechts der EU-Mitgliedstaaten abzielen. Folgende Kriminalitatsbereiche sind davon betroffen: Organisierte Kriminalitat, Falschgelddelikte, Menschenhandel, Schleuserkriminalitat, Geldwasche, Terrorismus, illegaler Drogenhandel, Straftaten im Zusammenhang mit bargeldlosen Zahlungsmitteln, Kinderpornographie, Umweltkriminalitat, Korruption im privaten Sektor, rassistisch oder fremdenfeindlich motivierte Straftaten und Cyber-Crime (Angriffe auf Informationssysteme).
§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
A. Einfiihrung Das Unionsziel der Schaffung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des 1 Rechts soil u. a. im Wege einer engeren Zusammenarbeit der Justizbehorden sowie anderer zustandiger Behorden der Mitgliedstaaten nach Art. 31 lit. a-d und Art. 32 EUV erreicht werden (vgl. Art. 29 II, 2. Spiegelstrich EUV). Die im EUV angesprochene Zusammenarbeit der Justizbehorden betrifft die gesamtc Strafrechtspflege einschlieBlich der Tatigkeit der Gerichte1. Dieser Befund wird bestatigt von Art. 31 lit. a EUV, wonach sich die angestrebte Intensivierung der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen auf Gerichtsverfahren ebenso bezieht wie auf das Ermittlungsverfahren und die Strarvollstreckung. Die Formulierung ,,...im Wege einer engeren Zusammenarbeit..." (Art. 29 EUV) weist zudem auf den dynamischen Charakter des Handlungsauftrages hin. Dahinter steht die Erkenntnis, dass die bestehenden Verfahren des zwischenstaatlichen Rechtshilfeverkehrs in einem Wirtschaftsraum ohne Binnengrenzen effizienter gestaltet werden miissen als bisher2. Rechtshilfe in Strafsachen ist jede Unterstiltzung, die vom ersuchten Staat auf 2 Ersuchen fur ein auslandisches Strafverfahren (des ersuchenden Staates) gewahrt wird. Dies gilt unabhangig davon, ob das auslandische Verfahren von einem Gericht oder einer Behorde (Staatsanwaltschaft, Polizei-, Zoll- und Finanzbehorden) betrieben wird oder ob die Rechtshilfehandlung von einem Gericht oder einer Behorde vorzunehmen ist3. Traditionelle Bereiche der Rechtshilfe sind der Auslieferungsverkehr4, die Unterstiltzung bei der Vollstreckung strafrechtlicher Sanktionen (Vollstreckungshilfe)5 und die sog. ,,kleine" oder sonstige Rechtshilfe6, bei der es um alle denkbaren Untersttitzungshandlungen geht, die nach dem innerstaatlichen Verfahrensrecht des ersuchten Staates zulassig sind. Hierzu geho1 2 3
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Wasmeier/Jour-Schrdder, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 29 EUV Rn. 14. Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2000, 185, 188 ff.; Wasmeier, ZStW 116 (2004), S. 320 ff. Zu den Grundfragen und rechtlichen Grundlagen des Rechtshilferechts vgl. die praxisorientierte Darstellung von Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 1-29. Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 54 ff. und die instruktive Einfuhrung von Weigend, JuS 2000, 105. Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 133 ff. Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 171 ff.
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§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
ren z. B. die Zustellung von Ladungen und Urteilen, die Vernehmung von Zeugen und Beschuldigten oder die Beschlagnahme und Herausgabe von Beweismitteln, aber auch grenziiberschreitende operative MaBnahmen wie die Uberwachung des Fernmeldeverkehrs, der Einsatz verdeckter Ermittler, die Observation und kontrollierte Lieferung. Innerhalb der EU erlangen die von den Mechanismen der klassischen Rechtshilfe gelosten Formen der justiziellen Zusammenarbeit - zu denken ist z. B. an einige Instrumente des SDU (§ 5 Rn. 33 ff.) - wachsende Bedeutung7. Eine dynamische Fortentwicklung der zwischenstaatlichen Kooperationsformen ist dringend erforderlich, da sich das bestehende Rechtshilfesystem nach den Erfahrungen der StrafVerfolgungspraxis vielfach als zu schwerfallig und ineffizient erwiesen hat8. Ein deutscher Strafverfolger driickte diesen Befund in folgendem Bild aus: ,,Die Verbrecher reisen mit Uberschallgeschwindigkeit in der Concorde, die Polizei folgt ihnen im Porsche, und die Justiz besteigt die Postkutsche."9 Zur Verwirklichung der in Art. 31 lit. a-d EUV konkretisierten Ziele bedienen sich die Mitgliedstaaten der in Art. 34 II lit. a-d EUV vorgesehenen Handlungsformen, wobei der Annahme von Rahmenbeschlussen und der Erstellung volkerrechtlicher Ubereinkommen die gro'Bte praktische Bedeutung zukommt.
B. Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit I. Instrumente des Rechtshilfeverkehrs in Europa Als Gegenstand der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen wird in Art. 31 lit. a EUV zunachst die Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit bei Gerichtsverfahren und bei der Vollstreckung von Entscheidungen aufgefuhrt. Dieser Handlungsauftrag bezieht sich vor allem auf die zwischenstaatliche Rechtshilfe sowie auf die Koordinierung justizieller Aktivitaten10. Art. 31 lit. a EUV ist mithin als dynamischer Auftrag an die Mitgliedstaaten zu verstehen, iiber den status quo der bestehenden Kooperation hinauszugehen, wie er sich vor allem in der ,,Mutterkonvention" des europaischen Rechtshilfeverkehrs, dem Europaischen Ubereinkommen v. 20. April 1959 iiber die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhUbk)11 mit seinem Zusatzprotokoll v. 17. Marz 197812 niederschlagt.
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Vgl. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 3. Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2000, 185, 188 f.; Perron, Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 147 ff. Fatkinhauer, Der Kriminalist 1994, 257, 258. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 5 ETS Nr. 30; BGB1. II 1964, 1369, 1386; 19761, 1799; I 1982, 2071; II 2000, 555. ETS Nr. 99; BGB1. II 1990, 124; 1991, 909; 2000, 555.
B. Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit
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1. Europaisches Rechtshilfeubereinkommen des Europarates Nach Art. 1 I EuRhUbk verpflichten sich die Vertragsparteien ,,einander Rechts- 5 hilfe zu leisten in alien Verfahren hinsichtlich strafbarer Handlungen". Das Ubereinkommen raumt den Vertragsparteien jedoch zahlreiche Moglichkeiten zur Geltendmachung einschrankender Vorbehalte ein, von denen sie reichlich Gebrauch gemacht haben. Einige dieser Vorbehalte haben sich als der effektiven Zusammenarbeit entgegenstehende Hindernisse erwiesen. Zu denken ist insbesondere an die Verweigemng der Rechtshilfe im Bereich fiskalischer oder politischer Straftaten sowie an das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit13. Im Ubrigen bilden die neben der ,,Mutterkonvention" des Europarates bestehenden zahlreichen bioder multilateralen Rechtshilfeabkommen mit ihren unterschiedlichen Anwendungsbereichen und Vorbehalten ein fur den Rechtsanwender kaum mehr zu iiberschauendes Normendickicht14, was sich in der alltaglichen Rechtshilfepraxis als Hemmnis fur eine effektive Strafverfolgung erweist15.
2. Rechtshilfekooperation nach Art. 48 ff. SDU Zu einer Erleichterung der zwischenstaatlichen Rechtshilfekooperation fuhrten die 6 Art. 48 ff. SDU16. So sind die Vertragsparteien nach Art. 50 SDU verpflichtet, einander Rechtshilfe bei der Verfolgung von Fiskaldelikten zu leisten, wenn sich diese auf bestimmte (vergemeinschaftete) Abgaben beziehen. Art. 52 SDU ermoglicht die direkte Ubersendung gerichtlicher Urkunden unmittelbar an Privatpersonen und Art. 53 SDU den unmittelbaren Austausch von Rechtshilfeersuchen zwischen JustizbehOrden der Vertragsparteien.
3. EU-Ubereinkommen iiber die Rechtshilfe in Strafsachen (EURU) Ein ilber den bestehenden Kooperationsstandard weit hinausgehender Schritt ist 7 das Ubereinkommen iiber die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU v. 29. Mai 2000 (EURU)17. Aufbauend auf dem EuRhUbk nebst Zusatzprotokoll (Rn. 4) wird das Ubereinkommen nach erfolgter Ratifikation im Wesentlichen folgende Regelungen und Neuerungen mit sich bringen:
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Vgl. hierzu Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 9. Perron, ZStW 112 (2000), S. 202, 205; ders., Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 148 f.; Schomburg, DRiZ 1999, 107, 108 ff.; ders., ZRP 1999, 237 f. Eine Ubersicht iiber die wichtigsten Rechtshilfebeziehungen Deutschlands in Strafsachen findet sich bei Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Anhang 5, S. 193. Vgl. hierzu Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 11. AB1EG 2000, Nr. C 197, S. 1. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 41; Epiney, EuZW 2003, 421 ff. und Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 12.
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§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
- Erstreckung der Rechtshilfe auf die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten (Art. 3, der Art. 49 lit. a SDU ersetzt), - Verpflichtung des um Rechtshilfe ersuchten Staates, die Form- und Fristbestimmungen des ersuchenden Staates einzuhalten (Art. 4); sog. ,,forum regit actum"-Grundsatz anstelle des bisher geltenden Grundsatzes ,,locus regit actum"18, - Grundsatz der unmittelbaren Ubersendung von Urkunden (Art. 5, ersetzt Art. 52 SDU), - Grundsatz des unmittelbaren Geschaftsverkehrs (Art. 6, ersetzt Art. 53 SDU), - Informationsaustausch auch ohne Ersuchen (Art. 7), - zeitweilige Uberstellung inhaftierter Personen zu Ermittlungszwecken (Art. 9), - Vernehmung von Zeugen und Sachverstandigen per Video- oder Telefonkonferenz (Art. 10 f.), - Durchftihrung kontrollierter Lieferungen (Art. 12), - Bildung und Arbeit gemeinsamer Ermittlungsgruppen (Art. 13), - Durchfuhrung verdeckter Ermittlungen (Art. 14), - Regelungen zur Uberwachung des Telekommunikationsverkehrs (Art. 17 ff.), - Regelungen zum Schutz personenbezogener Daten (Art. 23). 8 Am 16. Oktober 2001 hat der Rat ein - von den Mitgliedstaaten noch zu ratifizierendes - Protokoll zum EURU19 beschlossen, das weitere Erganzungen und Erleichterungen der Zusammenarbeit sowie bereichsspezifische Bestimmungen zur Rechtshilfe vorsieht. Unter anderem schrankt es die Moglichkeiten zur Geltendmachung von Vorbehalten bei fiskalischen und politischen Delikten ein, stellt spezielle Regelungen fur die Einholung von Bankauskiinften bereit und bezieht die justizielle Koordinierungsstelle Eurojust (§ 5 Rn. 73 ff.) in die Rechtshilfe ein.
4. Rahmenbeschlussvorschlag uber die Europaische Beweisanordnung 9 Am 14. November 2003 hat die Kommission einen Vorschlag fur einen Rahmenbeschluss des Rates uber die Europaische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstucken und Daten zur Verwendung in Strafverfahren20 vorgelegt. Die bisher bestehenden Rechtshilfeinstrumente sollen nach dem vorliegenden Vorschlag durch eine Europaische Beweisanordnung ersetzt werden, die auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung beruht. Damit folgt die vorgeschlagene MaBnahme dem gleichen strukturellen Ansatz wie der Rahmenbeschluss uber den Europaischen Haftbefehl (vgl. Rn. 19 ff). Bei der Europaischen Beweisanordnung handelt es sich um eine von der zustandigen Behorde eines Mitgliedstaats erlassene justizielle Entscheidung, welche die Erlangung von Sachen, Schriftstucken und Daten aus einem anderen Mitgliedstaat zur Verwendung 18 19 20
Vgl. hierzu Lagodny, Spinellis-FS, 2002, S. 641. AB1EG 2001 Nr. C 326, S. 1. KOM (2003) 688 endg.
B. Erleichterung und Beschleunigung der Zusammenarbeit
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in einem Strafverfahren bezweckt (Art. 1). Die zentrale Innovation dieses Instruments besteht darin, dass die Beweisanordnung einer Justizbehorde des Anordnungsstaates in einem anderen Mitgliedstaat (Vollstreckungsstaat) innerhalb einer vorgegebenen Frist unmittelbar - also ohne eine vorangehende innerstaatliche Bewilligung - zu vollstrecken ist (Art. 11). Die Griinde fur eine Versagung der Vollstreckung werden eng begrenzt. Insbesondere stellt die beiderseitige Strafbarkeit - anders als im traditionellen Rechtshilfeverkehr - grundsatzlich keinen Versagungsgrund dar (Art. 16). Der Anwendungsbereich der Europaischen Beweisanordnung ist nach dem 10 Vorschlag der Kommission auf die Erlangung von Sachen, Schriftstiicke oder Daten beschrankt, die aufgrund verschiedener prozessualer Eingriffsrechte (z. B. Beschlagnahme-, Vorlage- oder Durchsuchungsbefugnisse) erlangt wurden. Rechtshilfeersuchen, die auf die Erlangung sonstiger Beweismittel gerichtet sind - zu denken ist z. B. an die Vernehmung von Verdachtigen oder Zeugen, die Entnahme von DNA-Proben beim Verdachtigen sowie an die Uberwachung des Telekommunikationsverkehrs und von Kontobewegungen - sollen weiterhin in den Formen und Verfahren des bestehenden Rechtshilfeinstrumentariums abgewickelt werden. In der Begriindung des Rahmenbeschlussvorschlags fiihrt die Kommission je- 11 doch aus, dass die Europaische Beweisanordnung nur der erste Schritt auf dem Weg zu einer umfassenden einheitlichen Regelung sein soil, die zu gegebener Zeit alle bestehenden Rechtshilferegelungen ersetzen wiirde. Ein derartiges gemeinsames Instrument wiirde innerhalb der EU die traditionelle Rechtshilfe in derselben Weise ersetzen wie der Europaische Haftbefehl die klassische Auslieferung (vgl. Rn. 19 ff.). Bereits in ihrem Grunbuch v. 11. Dezember 2001 zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europaischen Staatsanwaltschaft21 hat die Kommission das Konzept eines ,,europaweit verkehrsfahigen Beweises"22 vorgeschlagen. Danach sollen die mitgliedstaatlichen Gerichte, die mit einem Strafverfahren befasst sind, in dem es um den Vorwurf einer Beeintrachtigung der finanziellen Interessen der EG geht, verpflichtet werden, jedes Beweismittel zuzulassen, das nach dem nationalen Recht eines anderen Mitgliedstaates rechtmaBig erhoben wurde (vgl. zur Tragfahigkeit eines auf dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung beruhenden Beweistransfers Rn. 44 ff.).
II. Instrumente des Vollstreckungshilfeverkehrs in Europa Die Vollstreckungshilfe stellt ein wesentliches Element einer effektiven grenz- 12 uberschreitenden Strafrechtspflege dar23. Nicht selten entziehen sich verurteilte auslandische Straftater der Strafvollstreckung durch Rilckkehr in ihr Heimatland. Wenn eine Auslieferung dieser Personen an den Urteilsstaat ausscheidet, kann al21 22 23
KOM (2001) 715 endg. Vgl. hierzu Glefi, ZStW 115 (2003), S. 131. Vgl. Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 133 ff.
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lein die grenziiberschreitende Zusammenarbeit bei der Strafvollstreckung die Durchsetzung des Rechts (Pravention und gerechter Schuldausgleich) sicherstellen. Hinzu kommt, dass das Ziel der Resozialisierung eines zu Freiheitsstrafe verurteilten Straftaters in seinem Heimatstaat in der Regel besser erreicht werden kann. Der Bereich der Vollstreckungshilfe wird von folgenden Ubereinkommen gepragt24: - Europaisches Ubereinkommen iiber die Uberstellung verurteilter Personen v. 21. Marz 198325 mit seinem Zusatzprotokoll v. 18. Dezember 199726, - Ubereinkommen iiber die Anwendung der Europaratskonvention von 1983 ilber die Uberstellung von verurteilten Personen v. 25. Mai 198727, - Ubereinkommen v. 13. November 1991 zwischen den Mitgliedstaaten der EG iiber die Vollstreckung auslandischer strafrechtlicher Verurteilungen (EGVollstrUk)28, - Ubereinkommen v. 17. Juni 1998 tiber die Vollstreckung des auslandischen Entzugs der Fahrerlaubnis29, - Ubereinkommen v. 28. April 1999 iiber die Zusammenarbeit in Verfahren wegen Zuwiderhandlungen gegen Verkehrsvorschriften und bei der Vollstreckung von dafiir verhangten GeldbuBen und Geldstrafen wegen verkehrsrechtlicher VerstoBe (Schengen III-Abkommen)30.
C. Erleichterung der Auslieferung 13 Nach Art. 31 lit. b EUV schlieBt das gemeinsame Vorgehen im Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen die Erleichterung der Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten ein. Die Auslieferung stellt eine besondere Form der Rechtshilfe dar und ist Gegenstand eines formlichen Verfahrens, welches darauf abzielt, einen mutmaBlichen oder rechtskraftig verurteilten Straftater der Gerichtsbarkeit des ersuchenden Staates zu iiberstellen31. Von der Auslieferung abzugrenzen ist die befristete Uberstellung von Personen zum Zwecke der Beweisaufnahme (eine MaBnahme der ,,kleinen" Rechtshilfe) und die auf Wunsch eines Verurteilten 24
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Eine Ubersicht ilber die wichtigsten Vollstreckungshilfebeziehungen Deutschlands in Strafsachen findet sich bei Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Anhang 5, S. 194. ETS Nr. 112; BGB1. II 1991, 1006; 1992, 98; vgl. auch das Uberstellungsausfiihrungsgesetz v. 26. September 1991 (BGB1.1 1991, 1954). ETS Nr. 167. ABlEG1987Nr. L 169, S. 29. Noch nicht in Kraft getreten, aber fur Deutschland im Verhaltnis zu den Niederlanden vorzeitig in Anwendung (BGB1. II 1997, 1350; 1998, 896). AB1EG 1998 Nr. C216, S. 2. AB1EG 2000 Nr. L 239, S. 429. Vgl. hierzu Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 E U V Rn. 30.
C. Erleichterung der Auslieferung
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erfolgende Uberstellung desselben in seinen Heimatstaat zum Zwecke einer besseren Resozialisierung32. Auch wenn in Art. 31 lit. b EUV nur von ,,Erleichterung" und nicht von ,,Beschleunigung" der Auslieferung die Rede ist, wird man den Handlungsauftrag dieser Bestimmung dahingehend verstehen miissen, dass gerade in dem eingriffsintensiven, da mit Freiheitsverlust verbundenen Auslieferungsverfahren eine moglichst kurze Verfahrensdauer, also ein Beschleunigungseffekt anzustreben ist33.
I. Instrumente des Auslieferungsverkehrs in Europa 1. Europaisches Auslieferungsubereinkommen des Europarates Der Auslieferungsverkehr zwischen den europaischen Staaten wird wie der Be- 14 reich der Rechts- und Vollstreckungshilfe durch ein komplexes Netzwerk von Regelungen volkerrechtlicher und nationaler Provenienz gepragt34. Als ,,Mutterkonvention" fungiert auch hier ein Ubereinkommen des Europarates, das in alien EUMitgliedstaaten anwendbare Europaische Auslieferungsubereinkommen v. 13. Dezember 1957 (EuAlUbk)35. Es wird durch zwei Zusatzprotokolle v. 15. Oktober 197536 und v. 17. MSrz 197837 erganzt, welche aber nicht von samtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert wurden. Nach dem EuAlUbk konnen die Unterzeichnerstaaten die Auslieferung von folgenden Bedingungen abhangig machen38: - Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit (Art. 2 I). Das dem Verfolgten zu Last gelegte Verhalten muss nach dem Recht des ersuchten und ersuchenden Staates mit Freiheitsentzug von mindestens einem Jahr bedroht sein bzw. die verhangte Strafe muss mindestens vier Monate betragen (§ 2 Rn. 73), - keine Auslieferung wegen politischer Straftaten (Art. 3 I). Dieser Nichtauslieferungsvorbehalt greift ein, wenn der ersuchte Staat den Tatvorwurf als iiberwiegend politisch motivierte oder gepragte Handlung bewertet, - keine Auslieferung bei drohender rechtsstaatswidriger Verfolgung (Art. 3 II). Eine Auslieferung ist unzulassig, wenn ernstliche Grilnde fur die Annahme sprechen, dass der verfolgten Person aufgrund ihrer Rasse, Religion, Staatsangehorigkeit, Zugehorigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder auf32
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Vgl. hierzu das Europaratsubereinkommen iiber die Uberstellung verurteilter Personen v. 21. Marz 1983 (ETS Nr. 112; BGB1. II 1991, 1006; 1992, 98). Vgl. Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 31. Eine Ubersicht tiber die wichtigsten Rechtshilfebeziehungen Deutschlands die Auslieferung betreffend findet sich bei Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Anhang 5, S. 192. ETS Nr. 24; BGB1. II 1964, 1369; 1976, 1778; I 1982, 2071; II 1994, 299. ETS Nr. 86.
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ETSNr. 98;BGB1. II 1990, 118; 1991,874.
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Vgl. hierzu Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31 EUV Rn. 32; Ziegenhahn, Menschenrechte und grenzuberschreitende Zusammenarbeit, S. 190 ff.
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grand ihrer politischen Anschauungen im ersuchenden Staat menschenrechtswidrige Repressalien drohen, Auslieferung wegen Fiskaldelikten kommt nur bei besonderer Vereinbarung in Betracht (Art. 5), Ablehnung der Auslieferung eigener Staatsangehoriger (Art. 6), Ablehnung wegen Rechtshangigkeit (Art. 8). Der Auslieferung steht entgegen, dass im ersuchten Staat bereits ein Strafverfahren gegen die verfolgte Person anhangig ist, Prinzip des ,,ne bis in idem" (Art. 9). Der Auslieferung steht die bereits erfolgte rechtskraftige Aburteilung der Tat im ersuchten Staat entgegen. Dieses Prinzip erstreckt sich ilber Art. 54 SDU auf den gesamten EU-Rechtsraum (vgl. hierzu § 13 Rn. 12 f.), Nichtauslieferung bei Verjahrung der Strafverfolgung nach den Vorschriften des ersuchenden oder des ersuchten Staates (Art. 10), Spezialitatsprinzip (Art. 14). Der Ausgelieferte darf im ersuchenden Staat grundsatzlich nur wegen der Taten verurteilt werden, fur welche die Auslieferung bewilligt wurde (§ 2 Rn. 75).
15 Die zahlreichen Vorbehaltsmoglichkeiten, die das EuAlUbK zulasst, stehen einer effektiven grenzuberschreitenden Zusammenarbeit entgegen. Zumindest im Rahmen des Verhaltnisses der EU-Mitgliedstaaten untereinander, das auf gegenseitigem Vertrauen in das ordnungsgemaBe Funktionieren der Strafrechtspflege und die Beachtung der Menschenrechte basieren sollte, erscheinen sie zu weitgehend. Ein erster Schritt zur Erleichterung des Auslieferungsverkehrs wurde mit dem von alien EU-Staaten ratifizierten Europaratsubereinkommen zur Bekampfung des Terrorismus v. 27. Januar 197739 unternommen. Diese Konvention schrankt die Vorbehaltsmoglichkeiten bei politischen Straftaten fur bestimmte Begehungsformen ein.
2. Erleichterung des Auslieferungsverkehrs durch Art. 59 ff. SDU 16 Weitere Verbesserungen der justiziellen Zusammenarbeit bringen die das EuAlfjbk erganzenden und seine Anwendung erleichternden Bestimmungen der Art. 59-66 SDU40. So sind nach Art. 62 I SDU fur die Unterbrechung der Verjahrung allein die Vorschriften des ersuchenden Staates maBgebend41. Eine im ersuchten Staat erlassene Amnestie steht der Auslieferung nicht mehr generell entgegen (Art. 62 II SDU). Art. 63 SDU schrankt die Vorbehaltsmoglichkeiten bei Fiskaldelikten ein. Art. 65 SDU vereinfacht den Geschaftsweg bei der Stellung von Auslieferungsersuchen. In fast alien EU-Mitgliedstaaten ist inzwischen der Geschaftsverkehr Uber die Justizministerien moglich (Art. 12 EuAlUbK sieht hierfur den diplomatischen Weg vor). Des Weiteren wird in Art. 66 SDU eine Auslieferung im vereinfachten Verfahren ermoglicht, wenn die verfolgte Person nach 39 40 41
ETS Nr. 90; BGB1. II 1978, 321, 907; 1989, 857; 1998, 1136. Vgl. hierzu Vogel, JZ 2 0 0 1 , 937, 939. Vgl. hierzu B G H N S t Z 2002, 661 m. Anm. v. Hecker.
C. Erleichterung der Auslieferung
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Belehrung liber ihr Recht auf Durchfuhrung eines fdrmlichen Auslieferungsverfahrens zustimmt.
3. EU-Ubereinkommen iiber das vereinfachte Auslieferungsverfahren Die bereits in Art. 66 SDU angelegte Moglichkeit der Durchfuhrung eines verein- 17 fachten Verfahrens der Auslieferung wird in dem mangels Ratifikation in alien Mitgliedstaaten noch nicht in Kraft getretenen Ubereinkommen v. 10. Marz 1995 iiber das vereinfachte Auslieferungsverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der EU42 weiter ausgebaut. Dieses Ubereinkommen zielt durch verbindliche Fristsetzungen und einen weitgehenden Verzicht auf Formlichkeiten auf eine weitere Beschleunigung und Vereinfachung des Auslieferungsverkehrs ab43.
4. EU-Auslieferungsubereinkommen (EUAU) Zur Erleichterung des gewohnlichen (nicht vereinfachten) Auslieferungsverfah- 18 rens wurde das mangels Ratifikation in alien Mitgliedstaaten noch nicht in Kraft getretene Ubereinkommen v. 27. September 1996 iiber die Auslieferung zwischen den Mitgliedstaaten der EU (EUAU)44 getroffen, das die Europaratskonventionen erganzt und deren Vorbehaltsmdglichkeiten - insbesondere was die Auslieferung eigener Staatsangehoriger sowie die Verfolgung von politischen und Fiskaldelikten anbelangt - deutlich einschrankt45. Auslieferungsfahig sollen auch Delikte sein, fur die im ersuchten Staat eine Hochststrafe von mindestens sechs Monaten gilt. Der Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit kann bei Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung nur noch unter engen Voraussetzungen angebracht werden. Die Verjahrungsfrage richtet sich allein nach dem Recht des ersuchenden Staates (Art. 8 I EUAU). Eine praktische Erleichterung ist schlieBlich die Eroffnung der Moglichkeit, Auslieferungsersuchen auch per Fernkopie (Fax) zu stellen.
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AB1EG 1995 Nr. C 78, S. 2; vgl. das deutsche Zustimraungsgesetz v. 7. September 1998 (BGB1. II 1998, 2229, 2253; 1999, 357). D a s Ubereinkommen findet fur die Bundesrepublik Deutschland vorzeitige Anwendung im Verhaltnis zu Danemark, Finnland, den Niederlanden, Osterreich, Schweden und Spanien. Vgl. hierzu Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 89 ff. AB1EG 1996 Nr. C 313, S. 11; vgl. das deutsche Zustimmungsgesetz v. 27. September 1998 (BGB1. II 1998, 2253). Aufgrund von Art. 18 IV EUAU i. V. m. Art. 1, 3 des Zustimmungsgesetzes kommt das E U A U fur die Bundesrepublik Deutschland im Verhaltnis zu Spanien, Portugal, Danemark, Finnland, den Niederlanden und Osterreich vorzeitig zur Anwendung. Vgl. hierzu Vogel, JZ 2001, 937, 938 f.
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II. Rahmenbeschluss iiber den Europaischen Haftbefehl 1. Einfiihrung 19 Auf der Tagung des Rates der Justiz- und Innenminister der EU-Mitgliedstaaten in Sevilla wurde auf Vorschlag der Kommission46 am 13. Juni 2002 der Rahmenbeschluss iiber den Europaischen Haftbefehl und die Ubergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten47 angenommen. Dieser trat am 7. August 2002 in Kraft. Der Verabschiedung des Rahmenbeschlusses waren zahe politische Verhandlungen auf EU-Ebene vorausgegangen48. Zwar vermochten die Mitgliedstaaten bereits auf der Sitzung des Rates in Laeken am 6.11. Dezember 2001 eine grundsatzliche Einigung iiber das Vorhaben zu erzielen. Aufgrund des Widerstands Italiens gegen den Anwendungsbereich des Europaischen Haftbefehls, der sich nach der Vorstellung aller anderen Mitgliedstaaten auf einen Katalog von 32 Straftaten erstrecken sollte, musste das Projekt jedoch zuruckgestellt werden. Italien wollte die Katalogtaten zunachst auf sechs Tatbestande beschranken und z. B. Geldwasche und Korruption nicht mit aufnehmen. Dieser Vorschlag fand aber ebenso wie weitere nachgereichte Kompromissvorschlage Italiens nicht die Zustimmung der tibrigen Mitgliedslander. Unter dem offentlichen Druck gab Italien daraufhin seine Blockadehaltung auf und machte damit den Weg frei fur die Schaffung eines Instruments, das die traditionelle Form der Rechtshilfe (Staatenkooperation) durch ein ,,System des freien Verkehrs strafrechtlich justizieller Entscheidungen"49 ersetzt. 20
Der mit dem Europaischen Haftbefehl eingeleitete Wandel des Auslieferungsverkehrs spiegelt sich bereits in der neuen Terminologie wider50. Der ,,ersuchende" Staat, der im tradierten Auslieferungsrecht um die Auslieferung einer verfolgten oder rechtskraftig verurteilten Person ersucht, wird nach Mafigabe des Rahmenbeschlusses zu dem Mitgliedstaat, der einen Europaischen Haftbefehl ausstellt (,,Ausstellungsmitgliedstaat"). Der ,,ersuchte" Staat, der bisher daruber zu entscheiden hatte, ob er das Auslieferungsersuchen bewilligt, wird zu dem Mitgliedstaat, der den Europaischen Haftbefehl vollstreckt (,,Vollstreckungsmitgliedstaat"). An die Stelle der ,,Auslieferung" im herkommlichen Sinne tritt die ,,Ubergabe" aufgrund eines Europaischen Haftbefehls. Die bestehenden Auslieferungsubereinkommen finden nach Umsetzung des Rahmenbeschlusses in den Mitgliedstaaten nur noch insoweit Anwendung, als sie eine iiber das im Rahmenbeschluss vorgesehene Verfahren hinausgehende Vereinfachung oder Erleichterung der Ubergabe der verfolgten Person ermoglichen.
AB1EG 2001 Nr. E 332, S. 305. ABlEG2002Nr. L 190, S. 1. Vgl. hierzu Wegner, StV 2003, 105. Vgl. die Erwagung in Ziff. 5 des Rahmenbeschlusses. Hierzu bereits Sieber, ZStW 103 (1991), S. 957, 963; ders., ZRP 2000, 186, 190. Vgl. hierzu ausfiihrlich Rohlff, Der Europaische Haftbefehl, 2003, passim sowie Bose, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233, 240 f.; v. Heintschel-HeinegglRohlff, GA 2003, 44, 45; Seitz, NStZ 2004, 546.
C. Erleichterung der Auslieferung
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2. Regelungsgegenstand und Ziel des Rahmenbeschlusses Bei dem Europaischen Haftbefehl handelt es sich gem. Art. 1 I um eine justizielle 21 Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist und die Festnahme und Ubergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat zur Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Mafiregel der Sicherung bezweckt. Durch den Europaischen Haftbefehl soil - dem Handlungsauftrag des Art. 31 lit. b EUV folgend - die Auslieferung von Straftatern innerhalb der EU-Mitgliedstaaten erleichtert und beschleunigt werden. Zu diesem Zweck ersetzt der Rahmenbeschluss den undurchsichtigen, aus einer Vielzahl von Abkommen bestehenden ,,Regelungsdschungel" des Auslieferungsrechts und statuiert ein vereinfachtes System der Ubergabe, das an die Stelle des bisherigen Auslieferungsverfahrens tritt. Das traditionelle Auslieferungsverfahren, das eine Einbeziehung politischer Gesichtspunkte erlaubte, wird durch Einfuhrung des Europaischen Haftbefehls EU-intern beseitigt. An mehreren Stellen verweist der Rahmenbeschluss auf die Zusammenarbeit der nationalen Justizbehorden mit Eurojust (§ 5 Rn. 73 ff.) und auf die Inanspruchnahme der Kontaktstellen des EJN (§ 5 Rn. 68), was die Einbindung des Europaischen Haftbefehls in ein entstehendes System europaischer Strafverfolgung unterstreicht. 3. Wesentlicher Inhalt des Rahmenbeschlusses a) Verfahrensrechtliche Regelungen (1) Die wichtigste verfahrenstechnische Neuerung, die der Rahmenbeschluss mit 22 sich bringt, ist die Abschaffung des gouvernementalen Bewilligungsverfahrens (§ 2 Rn. 80 ff.). Wahrend das traditionelle (zweistufige) Auslieferungsverfahren dadurch gekennzeichnet ist, dass zunachst ein Gericht (in Deutschland das Oberlandesgericht, in dessen Bezirk der Betroffene ergriffen oder ermittelt worden ist) die rechtliche Zulassigkeit der Auslieferung priift und sodann eine Regierungsbehorde (in Deutschland der Bundesjustizminister oder eine von ihm beauftragte Behorde) dariiber entscheidet, ob sie die (rechtlich zulassige) Auslieferung bewilligt, sieht der Rahmenbeschluss ein (einstufiges) rein justizielles Verfahren vor. Demnach soil nur noch die zustandige Justizbehorde eines EU-Mitgliedstaates iiber die Auslieferung (Ubergabe) einer Person entscheiden. Das Ubergabeverfahren wird direkt zwischen den beteiligten Justizbehorden abgewickelt (Art. 9 I). Der Europaische Haftbefehl kann durch jedes sichere Mittel an die zustandige Justizbehorde ubermittelt werden, wenn der Aufenthaltsort der gesuchten Person bekannt ist (Art. 10 IV). Andernfalls kann eine Ausschreibung im SIS (vgl. § 5 Rn. 50 ff.) erfolgen (Art. 9 II). (2) Ein Europaischer Haftbefehl wird als Eilsache erledigt und vollstreckt 23 (Art. 17 I). Die endgiiltige Entscheidung liber die Vollstreckung soil in den Fallen, in denen die gesuchte Person ihrer Ubergabe zustimmt, innerhalb von zehn Tagen nach Erteilung der Zustimmung erfolgen (Art. 17 II). In den anderen Fallen soil die endgiiltige Entscheidung ilber die Vollstreckung des Europaischen Haftbefehls innerhalb von 60 Tagen nach der Festnahme der gesuchten Person erfolgen (Art. 17 III). Die Ubergabe der gesuchten Person soil sobald wie moglich zu ei-
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nem zwischen den Behorden vereinbarten Zeitpunkt, spatestens aber zehn Tage nach der endgiiltigen Entscheidung iiber die Vollstreckung des Europaischen Haftbefehls (Art. 23 I, II), erfolgen. b) Materielle Bestimmungen 24 (1) Art. 2 I legt fest, dass ein Europaischer Haftbefehl bei Handlungen erlassen werden kann, die nach den Rechtsvorschriften des Ausstellungsmitgliedstaats mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden MaBregel der Sicherung im HochstmaB von mindestens zwolf Monaten bedroht sind, oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer MaBregel der Sicherung, deren MaB mindestens vier Monate betragt. Diese Regelung entspricht den Festlegungen des Art. 2 I EuAltJbk iiber auslieferungsfahige Straftaten (Rn. 14). 25 (2) Im Rahmenbeschlussvorschlag der Kommission war vorgesehen, das traditionelle Auslieferungserfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit (§ 2 Rn. 73) abzuschaffen und den Mitgliedstaaten lediglich die Erstellung einer Negativliste mit denjenigen Delikten zu gestatten, die vom Anwendungsbereich des Europaischen Haftbefehls ausgenommen sein sollten51. Da die Mitgliedstaaten aber offensichtlich nicht auf die mit dem Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit verbundene ,,Notbremsenfunktion"52 verzichten wollten, vermochte sich der Kommissionsvorschlag insoweit nicht durchzusetzen. Der erlassene Rahmenbeschluss bestimmt in Art. 2 IV, dass die Ubergabe von der beiderseitigen Strafbarkeit der Handlung abhangig gemacht werden kann (vgl. auch Art. 4 Nr. 1). Allerdings und dies gehort zu den zentralen Innovationen des Rechtsinstituts - gilt dies nicht, wenn es sich bei der dem Europaischen Haftbefehl zugrunde liegenden Handlung um eine Katalogtat i. S. d. Art. 2 II handelt, die im Ausstellungsmitgliedstaat im HochstmaB mit einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden MaBregel der Sicherung im HochstmaB von mindestens drei Jahren bedroht ist. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt nach Art. 2 II eine Ubergabe aufgrund eines Europaischen Haftbefehls ohne Uberprufung des Vorliegens der beiderseitigen Strafbarkeit bei folgenden Straftaten: -
Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Terrorismus, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung von Kindern und Kinderpornographie, illegaler Handel mit Drogen und psychotropen Stoffen, illegaler Handel mit Waffen, Munition und Sprengstoffen Korruption, Betrugsdelikte, einschlieBlich Betrug zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften i. S. d. Ubereinkommens v. 26. Juli 1995 iiber den Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften, - Wasche von Ertragen aus Straftaten, 51
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Vgl. Art. 27 und Erwagungsgrund Ziff. 14 des Vorschlags (AB1EG 2001 Nr. E 332, S. 305). Vgl. hierzu Weigend, JuS 2000, 105, 110.
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- Geldfalschung, einschlieBlich der Euro-Falschung, - Cyberkriminalitat, - Umweltkriminalitat, einschlieBlich des illegalen Handels mit bedrohten Tierarten oder mit bedrohten Pflanzen- und Baumarten, - Beihilfe zur illegalen Einreise und zum illegalen Aufenthalt, - vorsatzliche Totung, schwere Korperverletzung, - illegaler Handel mit Organen und menschlichem Gewebe, - Entfuhrung, Freiheitsberaubung und Geiselnahme, - Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, - Diebstahl in organisierter Form oder mit Waffen, - illegaler Handel mit Kulturgutern, einschlieBlich Antiquitaten und Kunstgegenstande, - Betrug, - Erpressung und Schutzgelderpressung, - Nachahmung und Produktpiraterie, - Falschung von amtlichen Dokumenten und Handel damit, - Falschung von Zahlungsmitteln, - illegaler Handel mit Hormonen und anderen Wachstumsforderern, - illegaler Handel mit nuklearen und radioaktiven Substanzen, - Handel mit gestohlenen Kraftfahrzeugen, - Vergewaltigung, - Brandstiftung, - Verbrechen, die in die Zustandigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs fallen, - Flugzeug- und Schiffsentftlhrung, - Sabotage. Die Positivliste entspricht dem derzeitigen Grundbestand an gemeinsamen bzw. 26 ubereinstimmenden strafrechtlichen Bewertungen, wie sie in Ubereinkommen auf UN-, Europarats- und EU-Ebene Ausdruck finden. Deren Eignung als Uberstellungsgrundlage wird vom Rahmenbeschluss unionsweit verbindlich festgelegt, obwohl nicht fur alle in der Liste aufgefuhrten Straftaten vollstandig harmonisierte Definitionen existieren53. Dem sucht eine Zusatzerklarung des Rates Rechnung zutragen, in der definitorische Leitempfehlungen filr Straftaten im Zusammenhang mit Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, Sabotage sowie Erpressung und Schutzgelderpressung formuliert werden. (3) Der klassische Auslieferungsvorbehalt der Spezialitat will sicherstellen, 27 dass der Auszuliefernde im ersuchenden Staat ausschlieBlich wegen der Tat strafrechtlich verfolgt wird, wegen der die Auslieferung vom ersuchten Staat bewilligt wurde (§ 2 Rn. 75). Entgegen dem ersten Entwurf der Kommission, der die Abschaffung des Spezialitatsgrundsatzes vorsah, halt der erlassene Rahmenbeschluss 53
Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 226 f.; Rohlff, Der europaische Haftbefehl, S. 87 ff.; krit. gebeniiber dem generellen Verzicht auf Uberprilfung der beiderseitigen Strafbarkeit Vogel, JZ 2001, 937, 940.
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in Art. 27 II grundsatzlich an diesem Prinzip fest. Jedoch sind in Art. 27 I und III Ausnahmen genereller und spezieller Art vorgesehen, was zu einem hochkomplexen und uniibersichtlichen Regelungsgeflecht fiihrt54. 28 (4) In Art. 3 Nr. 1-3 normiert der Rahmenbeschluss Grtinde, bei deren Vorliegen die Vollstreckung des Europaischen Haftbefehls zwingend abzulehnen ist. Ein obligatorischer Ablehnungsgrund liegt vor, wenn - die Straftat, aufgrund deren der Europaische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsstaat unter eine Anmestie fallt und dieser Staat nach seinem eigenen Strafrecht fur die Verfolgung der Straftat zustandig war (Nr. 1), - sich aus den der vollstreckenden Justizbehorde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Mitgliedstaat rechtskraftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsmitgliedstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (transnationales ,,ne bis in idem"; Nr. 2), - die Person, gegen die der Europaische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats aufgrund ihres Alters fiir die Handlung, die diesem Haftbefehl zugrunde liegt, nicht strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden kann (Nr. 3). 29 (5) Die vollstreckende Justizbehorde kann die Vollstreckung des Europaischen Haftbefehls verweigern, wenn einer der in Art. 4 Nr. 1-7 aufgefuhrten fakultativen Ablehnungsgriinde vorliegt, namlich - in einem der in Art. 2 IV 4 genannten Falle die Handlung, aufgrund deren der Europaische Haftbefehl ergangen ist, nach dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats keine Straftat darstellt (beiderseitige Strafbarkeit); dies gilt jedoch nicht in Steuer-, Zoll- und Wahrungsangelegenheiten (Nr. 1), - die Person, gegen die der Europaische Haftbefehl ergangen ist, im Vollstreckungsmitgliedstaat wegen derselben Handlung, aufgrund deren der Europaische Haftbefehl ausgestellt worden ist, strafrechtlich verfolgt wird (,,Rechtshangigkeit"; Nr. 2), - die Justizbehorden des Vollstreckungsmitgliedstaats beschlossen haben, wegen der Straftat, aufgrund deren der Europaische Haftbefehl ausgestellt worden ist, kein Verfahren einzuleiten bzw. das Verfahren einzustellen, oder wenn gegen die gesuchte Person in einem Mitgliedstaat aufgrund derselben Handlung eine rechtskraftige Entscheidung ergangen ist, die einer weiteren Strafverfolgung entgegensteht (transnationales ,,ne bis in idem"; Nr. 3), - die Strafverfolgung oder die Strafvollstreckung nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats verjahrt ist und hinsichtlich der Handlungen nach seinem eigenen Strafrecht Gerichtsbarkeit bestand (Nr. 4),
Vgl. hierzu v. Heintschel-HeinegglRohlff, GA 2003, 44, 48.
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- sich aus den der vollstreckenden Justizbehorde vorliegenden Informationen ergibt, dass die gesuchte Person wegen derselben Handlung von einem Drittstaat rechtskraftig verurteilt worden ist, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann (transnationales ,,ne bis in idem"; Nr. 5), - der Europaische Haftbefehl zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden MaBregel der Sicherung ausgestellt worden ist, sich die gesuchte Person im Vollstreckungsmitgliedstaat aufhalt, dessen Staatsangehoriger ist oder dort ihren Wohnsitz hat und dieser Staat sich verpflichtet, die Strafe oder die MaBregel der Sicherung nach seinem innerstaatlichen Recht zu vollstrecken (Nr. 6), - der Europaische Haftbefehl sich auf Straftaten erstreckt, die a) nach den Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats ganz oder zum Teil in dessen Hoheitsgebiet oder an einem diesem gleichgestellten Ort begangen worden sind oder b) auBerhalb des Hoheitsgebiets des Ausstellungsmitgliedstaats begangen wurden, und die Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaats die Verfolgung von auBerhalb seines Hoheitsgebiets begangenen Straftaten gleicher Art nicht zulassen (Nr. 7). Hinzuweisen ist darauf, dass das Verbot der Doppelbestrafung im Hinblick 30 auf die in Art. 54 SDU getroffene Regelung liber ein transnationales ,,ne bis in idem" innerhalb der EU (vgl. hierzu § 13) zu einem obligatorischen AbIehnungsgrund nach Art. 3 Nr. 2 fiihrt. Ein Vollstreckungshindernis ergibt sich nach Art. 54 SDU i. V. m. Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses nicht nur im Falle einer in einem Mitgliedstaat erfolgten rechtskraftigen Aburteilung in Form einer gerichtlichen Verurteilung oder eines Freispruchs, sondern auch im Falle des Erlasses einer sonstigen verfahrenserledigenden Entscheidung, die materielle Rechtskraft entfaltet (z. B. eine Einstellung nach § 153 a StPO oder eine belgische ,,transactie"55). (6) SchlieBlich sieht Art. 5 bestimmte Falle vor, in denen die Vollstreckung des 31 Europaischen Haftbefehls davon abhangig gemacht werden kann, dass der Ausstellungsmitgliedstaat bestimmte Garantien abgibt. Handelt es sich um einen Haftbefehl aufgrund eines gegen die gesuchte Person verhangten Abwesenheitsurteils56, kann die Moglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens unter Anwesenheit des Betroffenen im Ausstellungsmitgliedstaat nach der Ubergabe des Betroffenen gefordert werden (Art. 5 Nr. 1). Droht dem Betroffenen eine lebenslange Freiheitsstrafe, kann die Vollstreckung des Europaischen Haftbefehls an die Bedingung gekniipft werden, dass die Rechtsordnung des Ausstellungsmitgliedstaates eine Uberpriifung der verhangten Strafe — auf Antrag oder spates55 56
Vgl. hierzu E u G H N J W 2003, 1173 f. = N S t Z 2003, 332 = StV 2003, 201 ff. Diese sind in einigen Staaten zulassig (z. B . in Italien und Frankreich); zur Problematik in Frankreich vgl. E G M R N J W 2 0 0 1 , 2387; zur Problematik der Auslieferung zwecks Vollstreckung v o n Abwesenheitsurteilen vgl. auch B G H J Z 2002, 4 6 4 m. Anm. v. Vogel.
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tens nach 20 Jahren - oder Gnadenakte zulasst, die zur Aussetzung der Vollstreckung der Strafe oder der MaBregel ftthren kcmnen und auf die die betroffene Person nach dem innerstaatlichen Recht oder der Rechtspraxis des Ausstellungsmitgliedstaates einen Anspruch hat (Art. 5 Nr. 2)57. Bei eigenen Staatsangehorigen des Vollstreckungsmitgliedstaates oder bei Personen, die ihren Wohnsitz im Vollstreckungsmitgliedstaat haben, kann die Ubergabe davon abhangig gemacht werden, dass sie nach Gewahrung rechtlichen Gehors zur VerbiiBung der Freiheitsstrafe oder der freiheitsentziehenden MaBregel der Sicherung, die im Ausstellungsmitgliedstaat gegen sie verhangt werden, ruckuberstellt werden (Art. 5 Nr. 3). 32 (7) SchlieBlich weist Art. 1 III ausdriicklich darauf hin, dass der Europaische Haftbefehl unter dem Vorbehalt der Grundrechte und der in Art. 6 EUV niedergelegten allgemeinen Rechtsgrundsatze steht, was mittelbar auch die Gewahrleistung der Konventionsgarantien der EMRK einschlieBt (vgl. Art. 6 II EUV)58. Art. 1 III formuliert mithin einen ,,europaischen ordre public"59. 33 Uber die Auslegung des Rahmenbeschlusses, insbesondere der Auslieferungshindernisse, kann der EuGH im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens nach MaBgabe des Art. 35 EUV entscheiden.
4. Vorlaufige Bewertung und Ausblick 34 Der Europaische Haftbefehl stellt den Auslieferungsverkehr zwischen den EUMitgliedstaaten auf eine neue rechtliche Grundlage und markiert zugleich einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Das von Europaischem Rat, Kommission und EP als ,,Eckstein" der justiziellen Zusammenarbeit bezeichnete Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wird in diesem neuen Instrument erstmalig konkret ausgeformt (vgl. hierzu Erwagungsgrund Ziff. 6 und Art. 1 II des Rahmenbeschlusses)60. Durch die Schaffung eines unionsweit vollstreckbaren Festnahmeund Uberstellungsbefehls ruckt das an die Stelle des klassischen Auslieferungsverfahrens tretende EU-interne Ubergabeverfahren zwischen den mitgliedstaatlichen Justizbehorden bereits in die Nahe einer innerstaatlichen Zusammenarbeit. Zwar haben sich die Mitgliedstaaten bereits in bestehenden bi- und multilateralen Auslieferungsubereinkommen sowie in dem noch in der Ratifikationsphase befindli57 58 59 60
Nach deutschem Recht besteht ein solcher Anspruch gem. §§ 57 a, b, 67 d, 67 e StGB. Vgl. hierzu Vogel, JZ 2002, 464, 468. Bose, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233, 241; v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 231. Vgl. Schlussfolgerungen Nr. 35 und 36 des Vorsitzes des Europaischen Rates am 15./16. Oktober 1999 in Tampere (EU-Bulletin 10-1999, S. 7, 12); Mitteilung der Kommission an den Rat und das EP ,,Gegenseitige Anerkennung von Entscheidungen in Rechtssachen" v. 26. Juli 2000 (KOM (2000) 495); MaBnahmenprogramm des Rates und der Kommission zur Umsetzung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (AB1EG 2001 Nr. C 12, S. 10); EntschlieBung des EP zur gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Strafsachen (AB1EG 2001, Nr. C 34, S. 385).
C. Erleichterung der Auslieferung
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chen EUAU (Rn. 18) grundsatzlich verpflichtet, Auslieferungsersuchen der Vertragsparteien zu bewilligen. Diese volkerrechtliche Pflicht ist jedoch durch bestehende Vorbehaltsmoglichkeiten, insbesondere durch den Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit eingeschrankt. Demgegenilber legt der Rahmenbeschluss Uber den Europaischen Haftbefehl die moglichen Auslieferungshindernisse abschlieBend fest (Art. 3, 4). Auf andere als die dort aufgefuhrten Grilnde darf die Ablehnung der Vollstreckung des Haftbefehls also nicht gestutzt werden. Nach den Vorgaben des Art. 2 II des Rahmenbeschlusses mlissen die Mitglied- 35 staaten im Falle der Verfolgung einer Katalogtat auch eigene Staatsangehorige an einen anderen Mitgliedstaat iibergeben, ohne den Vorbehalt der beiderseitigen Strafbarkeit (Art. 2 IV) geltend machen zu dilrfen. Der deutsche Gesetzgeber hat durch eine Anderung des Art. 16 II GG den Weg fur eine Auslieferung eigener Staatsangehoriger frei gemacht, indem er das verfassungsrechtliche Verbot der Auslieferung deutscher Staatsangehoriger mit einer Einschrankung versehen hat61. Nach Art. 16 II 2 GG n. F. kann durch Gesetz eine abweichende Regelung fur Auslieferungen an einen Mitgliedstaat der EU oder an einen internationalen Gerichtshof getroffen werden, soweit rechtsstaatliche Grundsatze gewahrt sind62. Auf welche Grund- und Menschenrechte der Betroffene sich berufen kann, um 36 die Vollstreckung eines Europaischen Haftbefehls zu verhindern, wird auch in Zukunft filr Diskussionen sorgen63. Der mit der Vollstreckung des Europaischen Haftbefehls verbundene Eingriff in die Freiheitsrechte der verfolgten Person erscheint jedenfalls bei dem vom Rahmenbeschluss geforderten Vorliegen einer auslieferungsfahigen Straftat (vgl. Art. 2 I) oder einer Katalogstraftat (Art. 2 II) nicht unverhaltnismaBig64. Die Art und Weise des Vollzugs des Europaischen Haftbefehls und die Rechte der verfolgen Person bestimmen sich nach dem Recht des Vollsteckungsstaates. Der Rahmenbeschluss verlangt explizit die Gewahrleistung bestimmter Mindestgarantien fur den Verfolgten nach MaBgabe der innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Vollstreckungsmitgliedstaates, wie das Recht auf Unterrichtung liber den Haftbefehl und dessen Inhalt (Art. 11 I), den Anspruch auf Beiziehung eines Rechtsbeistandes und eines Dolmetschers (Art. 11 II) und auf rechtliches Gehor (Art. 14). Auch besteht die MOglichkeit einer vorlaufigen Haftentlassung, sofern eine Flucht der verfolgten Person auf andere Weise als durch Inhaftierung verhindert werden kann (Art. 12). Zusatzliche Garantien sieht der Rahmenbeschluss fur bestimmte Problemkonstellationen (Abwesenheitsverurteilungen, drohende lebenslange Freiheitsstrafe im Ausstellungsstaat) vor. Es ist Aufgabe aller EU-Mitgliedstaaten, fur eine ausgewogene Balance zwischen den Erfordernissen einer modernen Verbrechensbekampfung einerseits und einem hohen rechtsstaatlichen Standard andererseits zu sorgen. 61 62
63 64
Vgl. Art. 1 des Gesetzes v. 29. N o v e m b e r 2000 (BGB1.1 2000, 1633). Nach Auffassung von Schunemann, Z R P 2003, 185; ders., G A 2004, 193, 205 ff. verstoBt eine Auslieferung deutscher Staatsangehoriger ohne Prufung der beiderseitigen Strafbarkeit gegen Art. 16 II S. 2 GG; krit. auch Hackner u. a., Leitfaden Internationale Rechtshilfe, Rn. 93. Vgl. hierzu v. Heintschel-HeinegglRohlff, GA 2003, 44, 50; Vogel, JZ 2001, 937, 941. Vgl. hierzu v. Bubnoff, ZEuS 2002, 185, 231 f.
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Reichlich uberzogen erscheint die Befllrchtung, der Europaische Haftbefehl laufe ,,eindeutig auf die europaweite Herrschaft des jeweils punitivsten Strafrechts und damit auf die Schaffung eines Raumes der Unfreiheit und der Unsicherheit hinaus"65. Zwar ist es vollig legitim, gerade im Bereich des eingriffsintensiven Ubergabeverfahrens die Wahrung der Bilrgerrechte einzufordern. Es sollte dabei aber nicht Ubersehen werden, dass nicht nur in Deutschland, sondern auch in den anderen EU-Mitgliedstaaten ein faires, rechtsstaatliches Verfahren fiir den Verfolgten gewahrleistet ist66. Den Schutz der Grund- und Menschenrechte kann man in alien EU-Mitgliedstaaten - zumal sie alle der EMRK verpflichtet sind - grundsatzlich als gleichwertig ansehen. Daher besteht innerhalb des Rechtsraumes der EU kein Grund, die von dem Rahmenbeschluss geforderte zwischenstaatliche Kooperation zum Zwecke der Strafverfolgung oder Strafvollstreckung in Frage zu stellen. Dies gilt nicht nur fur die Festnahme und Ubergabe eigener Staatsangehoriger, sondern auch von Auslandern, die ihren Lebensmittelpunkt in einem Mitgliedstaat haben. Dem im Hinblick auf seine Resozialisierung verstandlichen Interesse des Betroffenen, die gegen ihn verhangte Strafe in seinem Heimat- oder Wohnsitzstaat verbiiBen zu konnen, kann bereits mit einer Riickilberstellung hinreichend Rechnung getragen werden (vgl. Art. 5 III)67.
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Die Umsetzung des neuen Rechtsinstituts erfordert nationale Ausfuhrungsgesetze, die derzeit in den Gesetzgebungsorganen der Mitgliedstaaten beraten und in naher Zukunft erlassen werden. In Deutschland wurde der Rahmenbeschluss liber den Europaischen Haftbefehl und die Ubergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten durch das Europaische Haftbefehlsgesetz (EuHbG)68 v. 21. M i 2004, das am 23. August 2004 in Kraft getreten ist, in deutsches Recht umgesetzt69. Ob sich der Europaische Haftbefehl in der Praxis bewahren und insbesondere die erhofften Erleichterungs- und Beschleunigungseffekte im Auslieferungsverkehr erzielen wird, kann erst nach vollstandiger Umsetzung und Anwendung des Rahmenbeschlusses in alien Mitgliedstaaten beurteilt werden.
Schunemann, ZRP 2003, 185, 188; ders., StV 2003, 116, 119; vgl. auch Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332, 336, 350 (,,Horrorvision der entfesselten Krafte des Prinzips der gegenseitigen Anerkenmmg"). Vgl. hierzu BT-Drs. 14/2668, S. 5 zur Anderung des Art. 16 II GG; Bose, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233, 245; Wasmeier, ZStW 116 (2004), S. 320, 321. Einen subjektiv-rechtlichen Anspruch auf Riickuberstellung bejaht Lagodny, ZRP 2000, 175, 176. BGB1.12004, 1784. Vgl. hierzu OLG Stuttgart StV 2004, 546; Seitz, NStZ 2004, 546 ff.; krit. im Hinblick auf die Einfugung der Rahmenbeschlussvorgaben in die Terminologie und Systematik des IRG Wehnert, StraFo 2003, 359 f.
D. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen
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D. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen I. Anwendungsfeld Die gegenseitige Anerkennung justizieller Entscheidungen soil nach der ge- 39 meinsamen Uberzeugung des Europaischen Rates, der Kommission und des EP als grundlegendes Strukturprinzip (,,Eckstein") der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen etabliert werden70. Eine Auspragung dieses Prinzips findet sich bereits in Art. 1 EG-ne bis in idem-Ubk und Art. 54 SDU, die ein transnationales Doppelbestrafungsverbot statuieren (vgl. § 13)71. Bei uneingeschrankter Geltung und Verwirklichung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung bestilnde ein einheitlicher Rechtsraum, in dem die Entscheidungen der nationalen Justizbehorden Gultigkeit im gesamten Unionsraum beanspruchen konnten. Die von der Justizbehorde eines Mitgliedstaates getroffenen strafprozessualen Anordnungen mussten dann von alien anderen EU-Mitgliedstaaten automatisch, d. h. ohne weitere Formalitaten (Bewilligungsverfahren, Priifung von Vorbehalten usw.), anerkannt und unverztiglich auf dieselbe Weise vollstreckt werden wie dies bei einer innerstaatlichen Entscheidung der Fall ware. In dem Rahmenbeschluss uber den Europaischen Haftbefehl wird das Struk- 40 turprinzip der gegenseitigen Anerkennung - soweit es um die Festnahme und Ubergabe von Personen zum Zwecke der Verfolgung von Katalogtaten i. S. d. Art. 2 II geht - umgesetzt. An die Stelle des tradierten zwischenstaatlichen Auslieferungsverkehrs tritt ein System des freien Verkehrs strafrechtlich justizieller Entscheidungen (hier in Form einer auf Festnahme und Ubergabe einer Person gerichteten richterlichen Anordnung). Ein nachster Schritt in diese Richtung ware der Erlass der von der Kommission vorgeschlagenen Europaischen Beweisanordnung (Rn. 9 ff.). Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Kommission langfristig eine umfassende einheitliche MaBnahme anstrebt, die zu gegebener Zeit alle bestehenden Rechtshilferegelungen ersetzen soil (Rn. 11). Die Idee eines ,,europaweit verkehrsfahigen Beweises" liegt - thematisch be- 41 grenzt auf den Schutz der EG-Finanzinteressen - auch der im Griinbuch der Kommission v. 11. Dezember 200172 vorgestellten Konzeption zugrunde (§ 14 Rn. 36 ff.)73. Die Kommission betont, dass der Schwerpunkt der derzeitigen Hindernisse bei der transnationalen Strafverfolgung in den Unterschieden der nationalen Rechtssysteme im Vor- und nicht etwa im Hauptverfahren begrilndet liege. Dementsprechend legt sie besonderes Gewicht auf die Ausgestaltung des Ermitt70 71 72 73
Vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 60 sowie Wasmeier, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 31EUVRn. 23 ff., 42. Vgl. hierzu Glefi, ZStW 116 (2004), S. 353, 362 ff.; Radtke, GA 2004, 1, 17 m .w. N. KOM(2001)715endg. Vgl. hierzu Bose, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233; Glefi, ZStW 115 (2003), S. 131; Radtke, GA 2004, 1, 4 ff; Satzger, StV 2003, 137, 141.
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lungsverfahrens. Das Griinbuch unterscheidet zwischen nationalen und gemeinschaftlichen ErmittlungsmaRnahmen, die von der neu zu errichtenden Institution eines Europaischen Staatsanwalts durchgefuhrt werden sollen. Fur nicht mit ZwangsmaBnahmen verbundene gemeinschaftliche ErmittlungsmaBnahmen (z. B. Informationssammlung, Zeugenbefragung, einvernehmliche Beschuldigtenvernehmung) sei ein spezielles gemeinschaftliches Verfahren einzufuhren. Fur die Zwangsmaflnahmen soil dagegen nationales Recht einschlagig sein. Bei den ZwangsmaBnahmen unterscheidet das Kommissionsmodell wiederum zwischen solchen, die vom Europaischen Staatsanwalt mit richterlicher Genehmigung vorgenommen werden sollen und solchen, die der nationale Richter selbst anordnen soil (z. B. Haftbefehl). Es sollen also keine nationalen Prozessordnungen ersetzt, sondern mehrere Prozessordnungen miteinander verbunden werden. Um auf supranationale Regelungen verzichten zu konnen, schlagt die Kommission vor, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Leitprinzip des europaischen Ermittlungsverfahrens zu erheben. Strafprozessuale EingriffsmaBnahmen - man denke etwa an Hausdurchsuchungen, Beschlagnahme von Gegenstanden, Telefonuberwachungen bis hin zum Haftbefehl -, die durch das Gericht eines Mitgliedstaates angeordnet oder genehmigt wurden, sollen demnach in jedem anderen Mitgliedstaat ohne weitere gerichtliche Prilfung vollstreckt werden konnen74. Beweise, die in einem Mitgliedstaat nach dessen Recht rechtmaBig erhoben worden sind, sollen von den Strafgerichten jedes anderen Mitgliedstaates verwertet werden diirfen75. II. Gemeinschaftsrechtlicher Hintergrund des Prinzips 42 Seinen Ursprung findet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in den wirtschaftlichen Grundfreiheiten des EGV, insbesondere in der Garantie des freien Warenverkehrs (Art. 28 ff. EGV). Nach der Judikatur des EuGH muss sich an der primarrechtlichen Garantie der Warenverkehrsfreiheit jede Handelsregelung der Mitgliedstaaten messen lassen, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar, tatsachlich oder potentiell zu behindern76. In der fur die Dogmatik des freien Warenverkehrs wegweisenden Entscheidung ,,Cassis de Dijon"77 hat der EuGH bestatigt, dass dies auch fur nicht diskriminierende MaBnahmen gilt, die nicht zwischen Inlands- und Importprodukten unterscheiden. Im konkreten Fall, welcher dieser Rechtsprechung den Namen verlieh, war zu beurteilen, ob die Anforderungen des deutschen Lebensmittelrechts an den Mindestweingeistgehalt von Fruchtlikoren (25 Vol. %) einem Produkt, das in Frankreich mit 15-20 Vol. % unter der Bezeichnung ,,Cassis de Dijon" rechtmaBig hergestellt und in den Verkehr gebracht wurde, als Einfuhrhindernis entgegengehal74 75
76
Vgl. Grunbuch (Fn. 71) S. 55 ff. Vgl. Grunbuch (Fn. 71) S. 63 ff. Grundlegend EuGHE 1974, 837, 852 = NJW 1975, 515, 516 (,,Staatsanwaltschaft/Dassonville"). Grundlegend EuGHE 1979, 649, 664 (,,Cassis de Dijon").
D. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen
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ten werden konnen. Der EuGH wies das von der Bundesregierung vorgebrachte Argument des Gesundheitsschutzes als ,,nicht stichhaltig" zurilck und bewertete die MaBnahme als unverhaltnismaBig, da dem legitimen Ziel des Verbraucherschutzes bereits durch eine angemessene Etikettierung Rechnung getragen werden konne. Ein nicht gesundheitsschadliches, ordnungsgemaB gekennzeichentes Lebensmittel, das in einem Mitgliedstaat rechtmaBig hergestellt wurde, darf in jedem anderen Mitgliedstaat in Verkehr gebracht werden, selbst wenn es in seiner Zusammensetzung oder auBeren Darbietung nicht den dortigen Produktbestimmungen entspricht. Die Interpretation der Warenverkehrsfreiheit als Beschrankungsverbot flihrt 43 faktisch zu einer gegenseitigen Anerkennung der Produktstandards nach dem Herkunftslandprinzip. So darf z. B. - bei entsprechender Kennzeichnung - in Deutschland Bier in Verkehr gebracht werden, das nicht nach MaBgabe des deutschen Reinheitsgebots hergestellt wurde78. Die Kommission griff die Rechtsprechung des EuGH auf und machte das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung zur Grundlage ihrer Binnenmarktkonzeption, welche sie in ihrem WeiBbuch zur Vollendung des Binnenmarktes79 im Allgemeinen und in ihren Mitteilungen v. 8. November 198580 und v. 24. Oktober 198981 Uber den freien Verkehr mit Lebensmitteln innerhalb der Gemeinschaft im Besonderen dargelegt hat. Die unter dem Schlagwort ,,Neue Strategie" verfolgte Konzeption beinhaltete den kiinftigen Verzicht auf die Vereinheitlichung von Lebensmittelrezepturen. Harmonisierungsbedarf erkannte die ,,Neue Strategie" nur in den Bereichen, in denen Handelshemmnisse auch nach MaBgabe des Primarrechts gerechtfertigt sind und daher der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung nicht greifen kann (z. B. im Bereich des Gesundheitsschutzes). Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung pragt auch den Bereich der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EGV)82. Ein Kreditinstitut, das in einem Mitgliedstaat ansassig ist, bedarf nur einer Erlaubnis dieses Mitgliedstaates, um in alien anderen Mitgliedstaaten Finanzdienstleistungen erbringen zu konnen83. Schliefilich ist auf das verwaltungsrechtliche Institut des sog. ,,transnationalen Verwaltungsakts" hinzuweisen84. Es handelt sich dabei um eine in einem Mitgliedstaat getroffene behordliche Entscheidung, die in den anderen Mitgliedstaaten Wirkung entfaltet (z. B. gemeinschaftsweite Anerkennung des in einem Mitgliedstaat erworbenen Hochschuldiploms).
78 79 80 81 82 83 84
EuGHE 1987, 1227, 1262 ff. Dok. K O M (1985/310) v. 14. Juni 1985 (BR-Drs. 289/95 v. 10.7.1985). ,,Vollendung des Binnenmarktes: D a s gemeinschaftliche Lebensmittelrecht"; K O M (1985/603) end. (BR-Drucks. 35/86). ABlEG1989Nr. C271,S. 3. EuGHE 1979, 35, 52. Vgl. hierzu Kurth, WM 2000, 1521, 1525. Vgl. hierzu Becker, DVB1. 2001, 855, 856 f.; Fastenrath, Die Verwaltung 31 (1998), 277, 301 f.; Ohler, DVB1. 2002, 880 f.
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III. Tragfahigkeit des Prinzips beim transnationalen Beweistransfer 44 Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung strafjustizieller Entscheidungen, insbesondere seine Auspragung in Form eines europaischen Beweistransfers durch ,,europaweit verkehrsfahige Beweise", lehnt sich offenkundig an das im Gemeinschafitsrecht praktizierte Freiziigigkeitskonzept an. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass eine uneingeschrankte Ubertragung der fur den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen entwickelten Grundsatze auf den Bereich des zwischenstaatlichen Beweistransfers unter den gegenwartigen Rahmenbedingungen kein gangbarer Weg ist. Das in einem Mitgliedstaat nach MaBgabe innerstaatlicher Rechtsvorschriften erlangte Beweismittel kann nicht einfach mit einem Wirtschaftsprodukt gleichgesetzt werden, das in alien Mitgliedstaaten ,,Verkehrsfahigkeit" beanspruchen kann. Dies folgt bereits aus der schlichten Erkenntnis, dass der ungehinderte Verkehr von Waren und Dienstleistungen darauf gerichtet ist, wirtschaftliche Freiheit (Binnenmarktziel) zu verwirklichen, wahrend strafjustizielle Mafinahmen naturgemaB in die Freiheit der Burger eingreifen (eine Ausnahme bildet insoweit die transnationale Ausdehnung von Verfahrensrechten, z. B. das Prinzip ,,ne bis in idem")85. Der ,,Import" von Beweismitteln beruhrt somit in elementarer Weise die Rechte des Beschuldigten, die in den mitgliedstaatlichen StrafVerfahrensordnungen - und zwar in alien Abschnitten vom Ermittlungsbis zum gerichtlichen Hauptverfahren - hochst unterschiedlich ausgestaltet sind86. Zwar sorgen die von der EMRK garantierten Verfahrens- und Beschuldigtenrechte fur einen gemeinsamen europaischen Grundrechtsstandard in alien mitgliedstaatlichen Verfahrensordnungen (vgl. § 3 Rn. 18 ff.). Aber abgesehen davon, dass die EMRK nur Mindestrechte garantiert, darf nicht ubersehen werden, dass die nationalen Rechtsordnungen als ,,komplexe dynamische Systeme"87 ganz unterschiedliche Strategien verfolgen, um ein rechtsstaatliches Strafverfahren zu gewahrleisten88. Die Anwendung des Prinzips des freiziigigen Beweismittelverkehrs lasst auBer Acht, dass die Regelungen fur die Beweismittelerhebung im Ermittlungsverfahren und deren Verwertung im Hauptverfahren in bestimmten Fallen nicht nur nicht deckungsgleich, sondern inkompatibel sind. Das gilt insbesondere fur den Vergleich des kontinentalen Offizialverfahrens mit dem Parteiverfahren des Common Law89. Die folgenden Beispielsfalle mbgen die Problemlage verdeutlichen:
Bose, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233, 238 ff.; Glefi, ZStW 116 (2004), S. 353, 364 ff.; Satzger, StV 2003, 137, 142. Vgl. Perron, ZStW 112 (2000), S. 202, 211 ff. Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 288. Glefi, ZStW 115 (2003), S. 131, 143 f; Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332, 346; Radtke, GA 2004, 118; Satzger, StV 2003, 137, 141. Bendler, StV 2003, 133, 135; vgl. hierzu auch die umfassende rechtsvergleichende Darstellung von Perron, Die Beweisaufhahme im Strafverfahrensrecht des Auslands, 1995, passim.
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Beispielsfall 1: In Frankreich und England werden parallele Ermittlungen gegen verschie- 45 dene Personen wegen des Verdachts des Subventionsbetrugs zum Nachteil der EG gefuhrt. Ein franzosischer Ermittlungsrichter vernimmt in diesem Zusammenhang einen Zeugen und fertigt hierilber ein Protokoll. Nach franzosischem Recht darf der in der Voruntersuchung erhobene Zeugenbeweis durch Verlesung des Vernehmungsprotokolls in die Hauptverhandlung eingefuhrt und verwertet werden (,,preuve litterale"). Wird die Hauptverhandlung dagegen in England durchgefuhrt, kommt nach englischem Strafprozessrecht eine Einfllhrung und Verwertung des Protokolls durch Verlesung grundsatzlich nicht in Betracht. Anders als das franzosische ist das angelsachsische Strafverfahren entscheidend durch die Grundsatze der Unmittelbarkeit und Miindlichkeit gepragt. Die unter Beweis gestellten Tatsachen mussen demnach durch eine in der Hauptverhandlung vorzunehmende Vernehmung des Zeugen eingefuhrt werden. Nach dem Konzept des freien Beweismitteltransfers ware das englische Gericht gezwungen, das nach franzosischem Recht rechtmaBig erhobene und daher verwertbare Beweismittel ohne weitere Uberpriifung seiner Vereinbarkeit mit englischem Recht in das Strafverfahren einzubeziehen90. Beispielsfall 2: In Spanien ist eine auf richterliche Anordnung erfolgte Uberwachung des 46 Fernmeldeverkehrs grundsatzlich bei jeder Straftat zulassig91. Das Prinzip des freien Verkehrs justizieller Entscheidungen wilrde bedeuten, dass die Anordnung eines spanischen Richters, wegen des Verdachts eines einfachen Diebstahls den Telefonanschluss eines in Deutschland lebenden Verdachtigen zu iiberwachen, von den deutschen Strafverfolgungsbehorden anerkannt und vollstreckt werden mtisste, obwohl dieser Eingriff nach innerstaatlichem Recht (§ 100 a StPO) nicht zulassig ware. Falls cs zu ciner Anklagc dieser Tat vor einem deutschen Gericht kommt, mussten die aus der Uberwachungsmafinahme gewonnenen Erkenntnisse als Beweismittel anerkannt und verwertet werden92. Der in Deutschland gewahrte Grundrechtsschutz wiirde dadurch ausgehebelt93. Die hier an den Beispielen des Zeugenbeweises und der Telekommunikations- 47 uberwachung verdeutlichten Grundprobleme des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung von Beweismitteln bzw. Ermittlungshandlungen treffen auch auf andere Beweismittel und justizielle Entscheidungen zu. Eine dem Modell des freien Warenverkehrs folgende Umsetzung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung wurde zu einer beliebigen Kombinierbarkeit strafprozessualer EingriffsmaBnahmen und einem grenziiberschreitenden Beweistransfer fuhren, der die strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Fundamente der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen untergrabt und verfalscht94. Durch die Vielzahl denkbarer Kombinations90 91
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Glefi, Z S t W 115 (2003), S. 131, 139 f.; Radtke, G A 2004, 1, 18. Vgl. z u m spanischen Recht u n d z u den unterschiedlichen Regelungen der Telekommunikationsiiberwachung in Schweden u n d den Niederlanden Perron, Z S t W 112 (2000), S. 202, 219 m. w.N. Bose, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233, 246 f., 248 f. Zur Verwertung von im Ausland gewonnenen Beweismitteln im deutschen Strafverfahren Bose, ZStW 114 (2002), S. 149. Hecker, Kreuzer-Freundesgabe, S. 181, 197 f.; Nestler, ZStW 116 (2004), S. 332, 346 f.; Satzger, StV 2003, 137, 141; a. A. BrunerlHetzer, NStZ 2003, 113 mit der Bemerkung, die Bedeutung des Schutzes der finanziellen Interessen erlaube keine Beschrankung auf die ,,Asthetik" einer Rechtsordnung.
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mb'glichkeiten strafprozessualer Versatzstticke unterschiedlicher nationaler Herkunft entstiinde ein schwer uberschaubares und inkoharentes Gesamtrechtsgebilde, das schon aus rechtsstaatlichen Griinden kein taugliches Modell fur ein Europaisches Strafverfahrensrecht sein kann. Hochst bedenklich ist auch, dass kein Parlament die moglichen Beweistransfers jemals in einem geordneten Gesetzgebungsverfahren diskutiert und beschlossen hat. 48 Die hier vorgetragene Kritik richtet sich ausschlieBlich gegen das Konzept einer gegenseitigen Anerkennung von Beweismitteln und justiziellen Entscheidungen, wie es in dem Griinbuch v. 11. Dezember 2001 und in dem Vorschlag der Kommission fur einen Rahmenbeschluss iiber die Europaische Beweisanordnung (Rn. 9 ff.) zum Ausdruck gelangt. Sie betrifft nicht den Europaischen Haftbefehl, der das traditionelle Auslieferungsverfahren durch ein Ubergabeverfahren ersetzt. Beim Europaischen Haftbefehl bezieht sich die Anerkennung durch die anderen Mitgliedstaaten auf die gerichtliche Entscheidung eines Ausstellungsmitgliedstaates, die unter Anwendung einer in sich konsistenten Verfahrensordnung zustande gekommen ist (vgl. Art. 1 II des Rahmenbeschlusses). Die betroffene Person wird dabei vom Vollstreckungsmitgliedstaat der Strafgewalt des Ausstellungsmitgliedstaates ilberantwortet, welcher das Strafverfahren gegen den Betroffenen ausschlieBlich nach den Regeln seines innerstaatlichen Strafverfahrensrechts durchfuhrt. Die Zusammenarbeit zwischen Ausstellungs- und Vollstreckungsmitgliedstaat fiihrt also nicht dazu, dass nationale Justizorgane gezwungen werden, Ermittlungsanordnungen einer auslandischen Justizbehorde zu exekutieren oder in einem Strafverfahren auch solche Beweise zu verwerten, die nach innerstaatlichem Recht gesperrt waren.
IV. Losungsmbglichkeiten de lege ferenda 49 Wie gezeigt, begegnet das Konzept der Verkehrsfahigkeit von Beweismitteln und strafjustiziellen Entscheidungen, die auf die Gewinnung von Beweisen gerichtet sind, erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken, weil die Gewinnung und Verwertung von Beweisen dem strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Referenzsystem einer Rechtsordnung folgt, die mit dem Referenzsystem einer anderen Rechtsordnung nicht kompatibel ist. In der Literatur sind bereits Losungsmoglichkeiten angedacht worden, wie das Problem der Beweiserhebung und des Beweistransfers gelost werden konnte: 50 Der erste Losungsansatz besteht darin, den miihsamen Weg einer Harmonisierung des mitgliedstaatlichen Strafprozessrechts zu beschreiten. Je starker die mitgliedstaatlichen Referenzsysteme in Bezug auf die Gewinnung und Verwertung von Beweismitteln ubereinstimmen, desto groBer ist der mogliche Anwendungsbereich des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung. Hierbei stellt sich allerdings die Frage, ob der hierfur erforderliche Aufwand nicht unverhaltnismaBig erscheint und in Konflikt mit dem Subsidiaritatsprinzip gerat95. 95
Vgl. hierzu Base, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233, 249 f.; Satzger, StV 2003, 137, 142.
D. Prinzip der gegenseitigen Anerkennung justizieller Entscheidungen
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Als zweite Losungsmoglichkeit ist an die Verlagerung strafrechtlicher Kompe- 51 tenzen auf die EG und Schaffung eines supranationalen Strafverfahrensrechts zu denken. Ein genuin europaisches Strafverfahrensrecht bezoge sich - wie im Griinbuch vorgeschlagen - nur auf die Verfolgung von abschlieBend statuierten Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EG. Zugleich wiirde eine bereichsspezifische supranationale Kodifikation die Rechtsgrundlage fiir die Tatigkeit einer europaischen Finanzstaatsanwaltschaft und eines europaischen Strafgerichts bilden. Sie miisste auBerdem Kollisions- und Kompetenzkonfliktregelungen vorsehen, die eine Antwort darauf geben, wie zu verfahren ist, wenn sich Straftaten (wie haufig) nicht nur gegen die EG-Finanzinteressen richten, sondern auch gegen materielles Strafrecht der Mitgliedstaaten verstoBen96. Der Vorteil dieses Losungsmodells besteht darin, dass die nationalen Strafrechtsordnungen starker geschont wiirden als dies bei einer ,,Breitbandharmonisierang" der Fall ware97. Allerdings sind die Chancen fur die Realisierung eines supranationalen Strafverfahrensrechts aufgrund der Souveranitatsvorbehalte der Mitgliedstaaten derzeit als gering einzustufen. Ein drifter Losungsweg besteht in der Einfuhrung eines europaischen Beweis- 52 zulassungsverfahrens98. Im Rahmen dieses Zulassungsverfahrens wurde die RechtmaBigkeit der Beweiserhebung am MaBstab eines einheitlichen europaischen Referenzsystems gepriift. Fallt diese Prilfung positiv aus, so ware das Produkt der Beweiserhebung europaweit verkehrsfahig. Die mitgliedstaatlichen Gerichte miissten den zugelassenen Beweis ohne weitere Uberprilfung in einer Hauptverhandlung verwerten. Durch die Setzung eines europaischen Beweiszulassungsstandards lieBe sich die einem freien Beweistransfer entgegenstehende Unvereinbarkeit der nationalen Standards ilberwinden. Als Grundlage fur die inhaltliche Ausgestaltung des europaischen Referenzsystems konnte auf die Vorgaben der EMRK zuriickgegriffen werden. Die Entscheidungsgewalt iiber die Frage des Beweistransfers konnte einem europaischen Gericht oder den nationalen Gerichten (evt. kombiniert mit einer Vorlagepflicht an ein europaisches Gericht zur Sicherung einer europaweit einheitlichen Rechtsanwendung) ubertragen werden. Das dritte Losungsmodell belasst die Durchfuhrung der Strafverfahren bei den Mitgliedstaaten, wtirde diesen also - im Gegensatz zum zweiten Modell - keine Abtretung von Hoheitsgewalt abfordern. Allerdings konnte die Koexistenz eines europaischen Beweiszulassungsstandards (im Bereich des strafrechtlichen Schutzes der EG-Finanzen) und eines nationalen Beweiszulassungsstandards (bei Verfolgung sonstiger Straftaten) Probleme aufwerfen, wenn sich eine Tat im prozessualen Sinne sowohl gegen EG-Finanzinteressen als auch gegen nationale Schutzguter zugleich richtet.
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Vgl. hierzu Radtke, GA 2004, 1, 19. Vgl. hierzu SchwarzburglHamdorf, NStZ 2002, 617, 623. Vgl. hierzu Glefi, ZStW 115 (2003), S. 131, 148 ff.; Radtke, GA 2004, 1, 19 ff.
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§ 12 Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen
E. Literaturhinweise Bose, Das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in der transnationalen Strafrechtspflege in der EU, in: Momsen/Bloy/Rackow (Hrsg.), Fragmentarisches Strafrecht, 2003, S. 233 BrunerlHetzer, Nationale Strafverfolgung und Europaische Beweisfuhrung?, NStZ 2003, 113 v. Bubnoff, Institutionelle Kriminalitatsbekampfung in der EU - Schritte auf dem Weg zu einem europaischen Ermittlungs- und Strafverfolgungsraum, ZEuS 2002, 185 Glefi, Die ,,Verkehrsfahigkeit von Beweisen" im Strafverfahren, ZStW 115 (2003), S. 131 dies., Zum Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, ZStW 116 (2004), S. 353 Hecker, 1st die Zeit reif fiir die Schaffung eines ,,Europaischen Staatsanwaltes" zum Schutz der EG-Finanzinteressen?, in: Kube/Schneider/Stock (Hrsg.), Kriminologische Spuren in Hessen — Freundesgabe fiir A. Kreuzer zum 65. Geburtstag, 2003, S. 181 v. Heintschel-HeinegglRohlff, Der Europaische Haftbefehl, GA 2003, 44 Nestler, Europaisches Strafprozessrecht, ZStW 116 (2004), S. 332 Radtke, Der Europaische Staatsanwalt - ein Modell fur Strafverfolgung in Europa mit Zukunft?, GA 2004, 1 Rohlff, Der Europaische Haftbefehl, 2003, passim Satzger, Gefahren fur eine effektive Verteidigung im geplanten europaischen Verfahrensrecht, StV 2003, 137 Schunemann, Fortschritte und Fehltritte in der Strafrechtspflege der EU, GA 2004, 193 Seitz, Das Europaische Haftbefehlsgesetz, NStZ 2004, 546 Vogel, Abschaffung der Auslieferung? - Kritische Anmerkungen zur Reform des Auslieferungsrechts in der Europaischen Union, JZ 2001, 937 Wasmeier, Stand und Perspektiven des EU-Strafrechts, ZStW 116 (2004), S. 320 Weigend, Grundsatze und Probleme des deutschen Auslieferungsrechts, JuS 2000, 105
F. Rechtsprechungshinweise OLG Stuttgart StV 2004, 546 (Anwendbarkeit des EuHbG)
G. Zusammenfassung von § 12 53 Art. 29 EUV formuliert den Auftrag an die Mitgliedstaaten, die strafjustizielle Zusammenarbeit mit dem Ziel einer Wirksamkeitssteigerung dynamisch fort zu entwickeln, d. h. iiber den Status quo der bestehenden Rechtshilfekooperation (Auslieferung, Vollstreckungshilfe, sonstige Rechtshilfe) hinauszugehen. Die in Umsetzung dieses Auftrages ergriffenen bzw. geplanten Maflnahmen werden in diesem Kapitel dargestellt. Hierzu gehort vor allem die Schaffung neuer Rechtshilfeinstrumente auf EU-Ebene, die gegeniiber den einschlagigen ,,Mutterkonventionen" des Europarates erhebliche Erleichterungen der zwischenstaatlichen Zu-
G. Zusammenfassung von § 12
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sammenarbeit in Strafsachen mit sich bringen und Beschleunigungseffekte erzielen. Hervorzuheben ist der Rahnienbeschluss iiber den Europaischen Haftbefehl 54 und die Ubergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten, der am 7. August 2002 in Kraft getreten und von den Mitgliedstaaten in nationales Recht zu transformieren ist. Der Europaische Haftbefehl ersetzt die traditionelle Auslieferung durch ein ,,System des freien Verkehrs strafrechtlich justizieller Entscheidungen". In diesem neuen Handlungsinstrument wird erstmalig das von Europaischem Rat, Kommission und EP ,,Eckstein" der justiziellen Zusammenarbeit qualifizierte Prinzip der gegenseitigen Anerkennung konkret ausgeformt. Ein nachster Schritt in diese Richtung ware der Erlass der von der Kommission vorgeschlagenen Europaischen Beweisanordnung. Die Idee eines ,,europaweit verkehrsfahigen Beweises" liegt - thematisch begrenzt auf den Schutz der EG-Finanzinteressen — auch der im Griinbuch der Kommission v. 11. Dezember 2001 vorgestellten Konzeption zugrunde. Daruber hinausgehend strebt die Kommission langfristig eine umfassende einheitliche MaBnahme an, die zu gegebener Zeit alle bestehenden Rechtshilferegelungen ersetzen soil. Seinen Ursprung findet das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung in den wirt- 55 schaftlichen Grundfreiheiten des EGV. Eine uneingeschrankte Ubertragung der fur den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen entwickelten Grundsatze auf den Bereich des zwischenstaatlichen Beweistransfers ist unter den gegebenen Rahmenbedingungen, die durch unterschiedliche Strafverfahrenssysteme der Mitgliedstaaten gekennzeichnet sind, kein gangbarer Weg. Das Konzept der Verkehrsfahigkeit von Beweismitteln und strafjustiziellen Entscheidungen begegnet erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken, weil die Gewinnung und Verwertung von Beweisen dem Referenzsystem einer nationalen Rechtsordnung folgt, die mit dem einer anderen Rechtsordnung nicht kompatibel ist. Die beliebige Kombinierbarkeit strafprozessualer Eingriffsmafinahmen und der freie Beweistransfer wilrden so zu einer Untergrabung und Verfalschung der strafprozessualen und verfassungsrechtlichen Fundamente der nationalen Rechtsordnungen fiihren. Ohne weitreichende Harmonisierung der nationalen Verfahrensrechte erscheint das Konzept des freien Beweistransfers aufgrund gegenseitiger Anerkennung weder tragfahig noch wiinschenswert. Als Alternative zu einem aufwandigen Harmonisierungskonzept bieten sich eine bereichsspezifische (auf den Schutz der EG-Finanzinteressen beschrankte) Verlagerung strafrechtlicher Kompetenzen auf die EG und die Schaffung eines supranationalen Strafverfahrensrechts an. Die Realisierungschancen dieses Projekts sind jedoch aufgrund der Souveranitatsvorbehalte der Mitgliedstaaten derzeit als gering einzustufen. Eine weitere Losungsmoglichkeit besteht schlieBlich in der Einfuhrung eines europaischen Beweiszulassungsverfahrens, in welchem die RechtmaBigkeit der Beweiserhebung am MaBstab eines einheitlichen europaischen Referenzsystems gepriift wiirde.
§13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot in derEU
A. Einfiihrung Fall 1: Der deutsche Staatsangehorige A veriibte am 20. Januar im elsassischen StraBburg einen bewaffneten Bankuberfall. Ohne Beute floh er mit seinem Wagen iiber den offenen Grenziibergang nach Deutschland. In Offenburg geriet er in eine Verkehrskontrolle. Dabei stellte sich heraus, dass er nicht im Besitz einer Fahrerlaubnis ist. Noch bevor den deutschen Strafverfolgungsbehorden der Vorfall in StraBburg bekannt wurde, verurteilte ihn das AG Offenburg wegen des am 20. Januar begangenen Vergehens des Fahrens ohne Fahrerlaubnis zur Zahlung einer Geldstrafe. Das Urteil wurde rechtskraftig. Frage 1: Darf A vor einem deutschen Gericht wegen versuchten schweren Raubes angeklagt und verurteilt werden? - Frage 2: Angenommen, in Deutschland erfolgte noch keine Strafverfolgung des A. Stehen deutsches Verfassungsrecht (Art. 103 III GG), allgemeine Regeln des Volkerrechts oder Gemeinschaftsrecht einer Aburteilung des A in Deutschland entgegen, wenn A wegen des Bankilberfalls von einem franzosischen Gericht rechtskraftig verurteilt worden ist?
Der bereits in der romischen Rechtslehre bekannte Rechtssatz ,,ne bis in idem" konnte sich iiber die Jahrtausende hinweg zu einem strafprozessualen Menschenrecht entwickeln, das - freilich in unterschiedlicher Auspragung - Eingang in alle rechtsstaatlichen Strafrechtsordnungen der Welt gefunden hat1. Im deutschen Recht ist der Grundsatz ,,Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden" in der Verfassung (Art. 103 III GG) verankert und implementiert ein Strafverfolgungshindernis, welches zur Verfahrenseinstellung gem. §§ 206 a, 260 III StPO fuhrt2. Man spricht hierbei von einem Strafklageverbrauch. Uber den zu eng gefassten Wortlaut (,,bestraft") hinaus erfasst Art. 103 III GG nicht nur den Fall einer rechtskraftigen Verurteilung, sondern auch und erst recht den eines rechtskraftigen Freispruchs. Die Einmaligkeit der strafrechtlichen Verfolgung eines Taters wegen derselben Tat nimmt im Recht der Gegenwart den unbestrittenen Rang einer allgemeinen Regel des Volkerrechts3 ein - wobei jedoch eine bedeutsame Einschrankung nicht iibersehen werden darf: Das volkerrechtliche Doppelbestrafungsverbot hindert nur die mehrfache Aburteilung derselben Tat im Inland. Nach wie vor gilt, was das Bundesverfassungsgericht im Jahre 1987 feststellte: Ktihne, Strafprozessrecht, Rn. 60; Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 33 f. Zur Rechtsnatur und dogmatischen Fundierung des Grundsatzes ,,ne bis in idem" vgl. Dannecker, Kohlmann-FS, S. 593, 600 ff; Schroeder, JuS 1997, 227. Vgl. BVerfGE 75, 1, 23.
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§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot in der EU
,,Es existiert keine allgemeine Regel des Volkerrechts, die es gebietet, die Strafverfolgung gegen eine Person wegen eines Lebenssachverhaltes zu unterlassen, dessentwegen sie bereits in einem dritten Staat verfolgt und rechtskraftig abgeurteilt worden ist"4. In neuerer Zeit wird diese Rechtsprechung von einigen kritischen Stimmen in der Literatur zwar in Frage gestellt5. Aber vor dem Hintergrund, dass die meisten Staaten - darunter auch die Bundesrepublik Deutschland - nur ein rechtsordnungsinternes Doppelbestrafungsverbot kennen und auch Art. 4 I des 7. Zusatzprotokolls zur EMRK6 v. 22. November 1984 sowie Art. 14 VII des Internationalen Paktes iiber burgerliche und politische Rechte7 v. 19. Dezember 1969 explizit nur ein innerstaatliches ,,ne bis in idem" fordern, wird man ein staateniibergreifendes Doppelbestrafungsverbot derzeit nicht als allgemeine Regel des Volkerrechts anerkennen konnen8. Die am 7. Dezember 2000 auf dem EUGipfel in Nizza feierlich verktindete Charta der Grundrechte der Europaischen Union9 postuliert in Art. 50 das Verbot erneuter Verfolgung oder Bestrafung wegen einer Tat, derentwegen ein Beschuldigter in der Union nach dem Gesetz rechtskraftig verurteilt oder freigesprochen worden ist. Dieser Grundsatz beinhaltet eine transnationale Dimension, da er sich sowohl auf das Verhaltnis der Mitgliedstaaten untereinander als auch auf das Verhaltnis zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft bezieht10. Mangels vertraglich begrundeter Geltung vermag die Grundrechtscharta derzeit aber keine unmittelbare Verbindlichkeit zu entfalten11. Das Prinzip ,,ne bis in idem" wird im Gemeinschaftsrecht zwar als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt12. Dieser statuiert aber nur ein rechtsordnungsinternes Doppelbestrafungsverbot auf Gemeinschaftsebene13. Er steht daher nur der wiederholten Verhangung einer Gemeinschaftssanktion (etwa wegen VerstoBes gegen europaisches Kartellrecht) entgegen. Losungshinweise zu Fall 1: Materiellrechtlich besteht gegen A ein deutscher Strafanspruch gem. §§ 249, 250 II Nr. 1, 22, 23 I, 7 II Nr. 1 StGB. Allerdings kb'nnte einer strafrechtlichen Verfolgung des A der in Art. 103 III GG festgeschriebene Grundsatz ,,ne bis in idem" - ein prozessuales Verfolgungshindernis entgegenstehen. Bekanntlich dominiert im deutschen StrafVerfahrensrecht ein 4 5 6 7 8
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BVerfGE 75, 1,18 ff.; vgl. auch BGHSt 34, 334, 340. Vgl. EndrifilKinzig, StV 1997, 665, 667; Schomburg, StV 1999, 244, 249. ETSNr. 117. UNTS Vol. 999 Nr. 14668; BGB1. II 1973, 1533; 1976, 1068; 1979, 1218; 1991, 1111. So auch Dannecker, Kohlmann-FS, S. 593, 596; Jung, in: Schuler-Springorum-FS, S. 493, 496 f.; Mayer, Ne-bis-in-idem-Wirkung europaischer Strafentscheidungen, 1992, S. 50; Landau, Sollner-FS, S. 627, 634; van den Wyngaert, Revue Internationale de Droit Penal, 1999, S. 76; VogellNorouzi, JuS 2003, 1059, 1060. Abgedruckt in EuGRZ 2000, 554 sowie in Sonderbeilage zu NJW 49/2000. Dannecker, Kohlmann-FS, S. 593, 596. Vgl. Schroder, JZ 2002, 849, 850. EuGHE 1966, 153, 178; 1984, 4177, 4195 f. (Rz. 12 ff.); Satzger, Europaisierung, S. 178, 686; Spannowsky, JZ 1994, 326, 334. EuGHE 1969, 1, 13 ff. (Rz. 2 ff); Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 62.
A. Einfuhrung
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prozessualer Tatbegriff, demzufolge unter ,,Tat" nicht etwa das verwirklichte Delikt, sondern das gesamte Taterverhalten zu verstehen ist, das nach natiirlicher Auffassung einen einheitlichen historischen Lebensvorgang bildet14. Die Flucht iiber die Grenze (und damit das Fahren ohne Fahrerlaubnis) steht mit dem in StraBburg verilbten Bankilberfall in einem so engen raumlichen, zeitlichen und sachlichen Zusammenhang, dass es einer unnatiirlichen Aufspaltung eines einheitlichen Geschehens gleichkame, wenn man diese Ereignisse getrennt aburteilen wurde15. Die materielle Rechtskraft des Offenburger Gerichtsurteils bewirkt somit auch hinsichtlich des Bankilberfalles einen Verbrauch der Strafklage, der durch Art. 103 III GG verfassungsrechtlich abgesichert ist. Losungsvorschlag zu Frage 1: Im Hinblick auf den in StraBburg begangenen Bankilberfall ist die Strafklage verbraucht. A darf in Deutschland nicht mehr strafrechtlich verfolgt werden (Zu der Frage, ob das Urteil des AG Offenburg auch einer strafrechtlichen Verfolgung in Frankreich entgegensteht vgl. Rn. 57). Losungsvorschlag zu Frage 2: Weder Art. 103 III GG noch eine allgemeine Regel des Volkerrechts oder Gemeinschaftsrecht stehen der strafrechtlichen Verfolgung des A in Deutschland wegen derselben - in Frankreich abgeurteilten - Tat entgegen. Nach § 51 III S. 1 StGB wird jedoch auf die neue Strafe die auslandische angerechnet, soweit sie vollstreckt ist. AuBerdem kann die Staatsanwaltschaft gem. § 153 c II StPO von der Verfolgung der Straftat absehen, wenn wegen der Tat im Ausland schon eine Strafe gegen den Beschuldigten vollstreckt worden ist und die im Inland zu erwartende Strafe nach Anrechnung der auslandischen nicht ins Gewicht fiele oder der Beschuldigte wegen der Tat im Ausland rechtskraftig freigesprochen worden ist. Das Risiko, in mehreren Staaten wegen derselben Tat strafrechtlich verfolgt und abgeurteilt zu werden, hangt vor allem mit der Ausdehnung der nationalen Strafgewalten aufgrund der Bestimmungen des Internationalen Strafrechts zusammen (vgl. hierzu § 2 Rn. 2 ff). Der heutige MobilitStsgrad der Burger und ihr nahezu unbeschrankter raumlicher Aktionsradius lassen zahlreiche strafrechtsrelevante Fallkonstellationen entstehen, die mehr als einen nationalen Strafanspruch auszulosen vermogen16. Dabei ist nicht nur an Sachverhalte aus dem Bereich der seit jeher international operierenden Organisierten Kriminalitat zu denken, wie Rauschgifthandel, Waffenschmuggel oder Kfz-Verschiebung. Bereits das recht triviale Ereignis eines Taschendiebstahls, der von einem italienischen Gelegenheitsganoven zum Nachteil einer deutschen Touristin wahrend eines Kurzbesuches im Elsass verubt wird, fuhrt zu einer Kumulation konkurrierender nationaler Strafanspriiche und begrtlndet damit das Risiko einer mehrfachen Strafverfolgung und Aburteilung wegen derselben Tat. 14
15 16
Vgl. BGHSt 16, 200, 202; 41, 385, 388; BGH NStZ 1995, 46, 47; Beulke, BGHFestgabe, S. 781 ff.; Engelhardt, in: KKStPO, 5. Aufl., 2003, § 264 Rn. 3 ff.; KleinknechtlMeyer-Gofiner, StPO, 47. Aufl., 2004, § 264 Rn. 1 ff.; Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 639 ff. jew. m. w. N. Aus osterreichischer Sicht vgl. PlockingerlLeidenmiihler, wistra 2003, 81, 87. So auch BGH NStZ 1996, 41, 42 in einer vergleichbaren Fallkonstellation. Krit. zu der ,,uferlosen" Weite des deutschen internationalen Strafrechts LagodnylNillTheobald, JR 2000, 205, 206 f.
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§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot in der EU
Das Fehlen eines transnationalen ,,ne bis in idem"-Prinzips im innerstaatlichen Recht der meisten Staaten und im Volkerrecht stellt nicht nur aus individualrechtlichen Grunden ein losungsbedilrftiges Problem dar. Konkurrierende nationale Strafanspruche bergen auch ein nicht unbetrachtliches zwischenstaatliches Konfliktpotential. So fuhrten in der Vergangenheit die unterschiedlichen Drogenbekampfungsstrategien in den Niederlanden und Deutschland immer wieder zu Irritationen. Das nachbarschaftliche Verhaltnis wurde erheblich getrtlbt, als das LG Dilsseldorf Mitte der 1980er Jahre einen hollandischen Canabishandler zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilte. Der Verurteilte war zumindest flir einen Teil der von ihm zwischen 1978 und 1981 ausschlieBlich in Arnheim (NL) begangenen Taten schon im Jahre 1981 vom Gerichtshof in Arnheim zu einer Gefangnisstrafe von 20 Wochen verurteilt worden. Das AusmaB der durch das Dusseldorfer Strafverfahren verursachten Verstimmung zeigte sich u. a. daran, dass der niederlandische Justizminister nicht nur jede Rechtshilfe verweigert, sondern darilber hinaus auch offiziell um Einstellung des Verfahrens gebeten hatte. Der BGH hob das Dusseldorfer Urteil spater im Rahmen eines Revisionsverfahrens wegen VerstoBes gegen ein Beweisverwertungsverbot zwar auf. Er bestatigte aber unter Heranziehung des Weltrechtsprinzips (vgl. § 6 Nr. 5 StGB) ausdriicklich die Existenz eines deutschen Strafanspruches, dem das in Art. 103 III GG mit Verfassungsrang ausgestattete Doppelbestrafungsverbot nicht entgegenstehe17. Ein prominenter Vertreter der niederlandischen Strafrechtslehre nahm diesen Fall zum Anlass, die Einmischung Deutschlands in innerstaatliche Angelegenheiten zu beklagen. Die deutsche Justiz wilrde den Niederlanden das deutsche Bekampfungsmodell aufoktroyieren, das nicht in die niederlandische Drogenpolitik passe. Dem kleinen Nachbarn, dessen Strafrecht bereits seit ilber 100 Jahren jedes auslandische Strafurteil als Strafverfolgungshindernis akzeptiere, sei es schwer zu vermitteln, dass sich die deutsche Justiz als ,,Weltrichter fur Strafzumessungsfragen" aufspiele18. Das Bestreben der Staaten, ihre Souveranitat gerade im Bereich des Strafrechts zu verteidigen, ist durchaus nachvollziehbar, wenn man sich bewusst macht, dass in den nationalen Strafgesetzbiichern die fundamentalen sozialen, kulturellen und politischen Wertentscheidungen eines Gemeinwesens zum Ausdruck gelangen19. In welchem Umfang und in welchen Bereichen eine Rechtsordnung gerade das repressive Mittel Strafrecht einsetzt und in welchen Bereichen nicht, stellt eine eminent politische Entscheidung dar. Das rechtsunterworfene Individuum gerat dabei freilich allzu leicht in die Gefahr, zwischen den nationalen Interessen zerrieben und auf dem Altar konkurrierender Strafanspruche geopfert zu werden20. Vor diesem Hintergrund kann es nur begruBt werden, dass die Vermeidung von Mehrfachverurteilungen aus international-strafrechtlicher Sicht inzwischen als ein
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BGHSt 34, 334. Ruter, JR 1988, 136, 137 f. Vgl. hierzu Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 288; Ruter, ZStW 105 (1993), S. 30, 35; Weigend, ZStW 105 (1993), S. 774, 789. Jung, StV 1990,509,517.
A. Einfuhrung
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vorrangig zu losendes Problem erachtet wird21. Die Association internationale de droit penal (AIDP) forderte auf ihrem XVI. Kongress die Anerkennung der Einmaligkeit der Strafverfolgung als Menschenrecht, das einer Bestrafung derselben Tat durch mehrere Staaten entgegensteht22. In Betracht zu ziehen sei vor allem die Moglichkeit, ein transnationales Doppelbestrafungsverbot in dem Internationalen Pakt iiber burgerliche und politische Rechte sowie in den regionalen Menschenrechtskonventionen zu verankern23. Bestrebungen des Europarates (§ 3), ein zwischenstaatliches Doppelbestra- 9 fungsverbot in den Mitgliedstaaten des Europarates zu etablieren, waren bislang nicht von Erfolg gekront. So statuiert etwa das Europaische Ubereinkommen iiber die internationale Geltung von Strafurteilen v. 28. Mai 197024 in Art. 53 das staatenubergreifende Verbot, eine Person, gegen die ein rechtskraftiges ,,europaisches Strafurteil" ergangen ist, wegen derselben Handlung erneut zu verfolgen oder abzuurteilen25. Nach Ablauf von 30 Jahren haben aber lediglich 15 von 45 Mitgliedstaaten des Europarates das Ubereinkommen ratifiziert26, darunter die skandinavischen Staaten Danemark, Island, Norwegen und Schweden, die das Ubereinkommen untereinander anwenden27. Bei realistischer Betrachtung ist also nicht damit zu rechnen, dass sich das Projekt eines paneuropaischen Doppelbestrafungsverbotes nach dem Modell der genannten Europaratskonvention in einem absehbaren Zeitraum realisieren lasst. Das EP hatte bereits in seiner Entschliefiung v. 16. Marz 1984 die staatenilber- 10 greifende Anwendung des Grundsatzes ,,ne bis in idem" innerhalb der EG gefordert28. Im Jahre 1987 unternahmen die EG-Mitgliedstaaten schlieBlich einen ersten Anlauf zur Durchsetzung eines gemeinschaftsweiten Doppelbestrafungsverbots. Ihre Regierungen schlossen am 25. Mai 1987 das Ubereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten der Europaischen Gemeinschaften tiber das Verbot der dop-
Vgl. Jung, SchUler-Springorum-FS, S. 493, 500; Lagodny, ZStW 101 (1989), S. 987, 1004 ff. Vgl. zum Vorkolloquium zu Sektion IV des XVI. AIDP-Kongresses den Tagungsbericht von Vogel, ZStW 110 (1998), S. 973 ff. Der Resolutionstext (vgl. B. 4.) ist veroffentlicht in ZStW 112 (2000), S. 723 ff. ETS Nr. 70. Seine nichtamtliche Kurzbezeichnung lautet EuVollstrUbk; abgedr. bei Grutzner/Potz, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 2. Aufl., Loseblatt, Bd. 3, III. 5. Das EuVollstrUbk trat am 26. Juli 1974 nach Hinterlegung der dritten Ratifikationsurkunde in Kraft. Das Ubereinkommen iiber die Ubertragung von Strafverfahren v. 15. Mai 1972 (ETS 73), das in Art. 35 ein transnationales ,,ne bis in idem" vorsieht, wurde bislang lediglich von 15 Staaten ratifiziert. Folgende Staaten haben das EuVollstrUbk ebenfalls ratifiziert: Osterreich, Zypern, Litauen, die Niederlande, Rumanien, Spanien und Tiirkei. Der jeweils aktuelle Ratifikationsstand kann auf der Homepage des Council of Europe im Internet abgerufen werden unter http://conventions.coe.int. AB1. 1984 Nr.C 104/133.
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§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot in der EU
pelten Strafverfolgung (EG-ne bis in idem-Ubk)29. Art. 1 EG-ne bis in idemUbk lautet: ,,Wer in einem Mitgliedstaat rechtskraftig abgeurteilt worden ist, darf in einem anderen Mitgliedstaat wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann." 11 Die EG-Mitgliedstaaten praktizierten damit eine intergouvemementale justizielle Zusammenarbeit, die spater mit dem Vertrag von Maastricht (1992) institutionalisiert wurde und heute als dritte Saule der EU bezeichnet wird30. Da das EG-ne bis in idem-Ubk noch nicht von alien Mitgliedstaaten ratifiziert wurde, steht das Datum seines Inkrafttretens noch nicht fest. Sieben Mitgliedstaaten - namentlich Danemark, Deutschland31, Frankreich, Italien, Osterreich, Portugal und die Niederlande - haben jedoch von der Moglichkeit Gebrauch gemacht, das Ubereinkommen im Verhaltnis untereinander schon vorzeitig anzuwenden32. 12 Eine inhaltlich mit Art. 1 EG-ne bis in idem-Ubk ubereinstimmende Regelung findet sich in Art. 54 des Schengener Durchfuhrungsiibereinkommens (SDU) v. 19. Juni 199033: ,,Wer durch eine Vertragspartei rechtskraftig abgeurteilt worden ist, darf durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden, vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist, gerade vollstreckt wird oder nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann." 13 Das SDU dient der Umsetzung der bereits im Schengener Abkommen34 v. 14. Juni 1985 beschlossenen Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen und sieht AusgleichsmaBnahmen fur hierdurch befurchtete Sicherheitsverluste vor35. Deswegen enthalt das SDU u. a. Bestimmungen iiber die Kontrollen an den AuBengrenzen, die polizeiliche grenziiberschreitende Kooperation, die Einrichtung des Schengener Informationssystems und die Erleichterung der Rechtshilfe in Strafsachen. Nach der Gemeinsamen Erklarung zu Art. 139 SDU in der Schluss29 30
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Abgedruckt in SchomburglLagodny, IRhSt, S. 889 ff. Vgl. hierzu Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 70; Nelles, Z S t W 109 (1997), S. 727, 734; Oberleitner, Schengen und Europol, 1998, S. 2 ff.; SchomburglLagodny, IRhSt, Einl. Rn. 34; Schomburg, N J W 1999, 540. BGB1. II 1998, 2226. Vgl. hierzu Schomburg, N J W 2000, 1833, 1834; ders., N J W 2000, 340, 342. Vgl. hierzu das deutsche Zustimmungsgesetz in BGB1. II 1993, 1010,1 1997, 1606. Ubereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Franzosischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (vgl. GMB1. 1986, S. 79). Vgl. hierzu ausfuhrlich Kattau, Strafverfolgung nach Wegfall der europaischen Grenzkontrollen, eine Untersuchung der Schengener Abkommen, 1993, passim und Kiihne, Kriminalitatsbekampfung durch innereuropaische Grenzkontrollen?, 1991, passim.
A. Einfuhrung
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akte bedurfte das am 1. September 1993 in Kraft getretene Regelungswerk noch einer ausdrucklichen Inkraftsetzung in den Schengener Vertragsstaaten. Diese erfolgte am 26. Marz 1995 zunachst fur Deutschland, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Spanien und Portugal. Seit 1995 traten Italien, Griechenland, Osterreich, Danemark, Finnland und Schweden dem SDU bei, wobei das SDU fur die drei nordischen Staaten erst am 25. Marz 2001 in Kraft gesetzt wurde. Island und Norwegen sind assoziierte Staaten, die das SDU anwenden. Gem. Art. 1 der Ratsbeschliisse v. 1. Juni 200036 und v. 7. Marz 200237 wenden auch Groflbritannien und Irland die Bestimmungen liber das transnationale Doppelbestrafungsverbot an. Nach dem am 1. Mai 2004 erfolgten EU-Beitritt von zehn Staaten, die den Schengen-Besitzstand grundsatzlich vollstandig zu ubernehmen hatten38, erstreckt sich der raumliche Anwendungsbereich des Art. 54 SDU derzeit auf insgesamt 27 europaische Staaten. Hinweis: Der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der 14 EU-Mitgliedstaaten unterzeichnete Vertrag iiber eine Verfassung fiir Europa statuiert in Art. II-110 ein unionsweites Doppelbestrafungsverbot: ,,Niemand darf wegen einer Straftat, derentwegen er bereits in der Union nach dem Gesetz rechtskraftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren erneut verfolgt oder bestraft werden." Dieses Justizgrundrecht erlangt jedoch erst mit dem Inkrafttreten des Verfas- 15 sungsvertrages Geltung, wozu es erst noch seiner Ratifikation in alien EUMitgliedstaaten bedarf. Eine Neuauflage des Ende der 1980er Jahre spielenden Falles der Doppelver- 16 folgung eines hollandischen Drogenhandlers durch die deutsche Justiz ist heute unter der Geltung des Art. 54 SDU und dem zwischen den Niederlanden und Deutschland vorzeitig anwendbaren Art. 1 EG-ne bis in idem-Ubk - ausgeschlossen. Dass eine gesamteuropaische Losung der Doppelbestrafungsproblematik aber noch immer aussteht, zeigt sich in dem folgenden Fall. Fall 2: Der niederlandische Staatsangehorige S machte sich Mitte M i 1992 mit den in sei- 17 nem Wagen versteckten 85 kg Haschisch von Amsterdam aus auf den Weg nach Mailand, um die Drogen dort weiterzuverkaufen. Dazu kam es aber nicht, da das Schmuggelgut bei der Ausreise von Deutschland in die Schweiz von Schweizer Grenzbeamten entdeckt und beschlagnahmt wurde. Nach seiner Entlassung aus der rund zwei Monate andauernden Untersuchungshaft in der Schweiz kehrte S in die Niederlande zuruck. Das AG Basel-Stadt verurteilte ihn im Dezember 1992 in Abwesenheit wegen VerstoBes gegen das Schweizer Betaubungsmittelgesetz zu einer Haftstrafe von 18 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewahrung ausgesetzt wurde. Fast vier Jahre spater, im Oktober 1996, wurde S bei seiner Einreise nach Deutschland festgenommen und in Untersuchungshaft verbracht. Im Friihjahr 1997 wurde er wegen desselben Sachverhalts, der schon der Schweizer Verurteilung aus 36 37 38
AB1EG 2000 Nr. L 131, S. 43. AB1EG 2002 Nr. L 64, S. 20. Vgl. die in Anhang I der Beitrittsakte aufgefuhrten Bestimmungen des SchengenBesitzstandes, die ab dem Beitritt fur die neuen Mitgliedstaaten bindend und in ihnen anzuwenden sind (AB1EU 2003 Nr. L 236, S. 50).
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§ 13 Transnationales Doppelbestrafungsverbot in der EU
dem Jahre 1992 zugrundelag, von einem deutschen Gericht wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betaubungsmitteln in nicht geringer Menge (vgl. § 29 a I Nr. 2 BtmG) zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die Revision des S wurde vom BGH unter Hinweis auf die lediglich rechtsordnungsinteme Wirkung des in Art. 103 III GG verankerten Doppelbestrafungsverbotes verworfen39. Frage: Angenommen, dieser Fall spielte sich heute ab. Konnte sich S gegenuber den deutschen Strafverfolgungsbehorden auf Art. 54 SDU berufen?
18 Losungshinweise zu Fall 2: Wegen des beschrankten raumlichen Anwendungsbereiches des Art. 54 SDU ist ein in einem Nichtvertragsstaat abgeurteilter Tater nicht davor geschiltzt, in Deutschland oder einem sonstigen Vertragsstaat wegen derselben Tat erneut strafrechtlich verfolgt zu werden. Der von einigen Stimmen in der Literatur40 erhobenen Forderung, iiber eine den raumlichen Anwendungsbereich des Art. 54 SDU erweiternde Auslegung nachzudenken, kann nicht gefolgt werden. Auch eine Erstreckung des transnationalen ,,ne bis in idem"Grundsatzes auf Nichtvertragsstaaten, die - wie z. B. die Schweiz - der EMRK beigetreten sind, kommt nicht in Betracht. Denn diese Norminterpretation wurde sich sowohl iiber den Willen der Vertragsparteien als auch uber den spezifischen europapolitischen Kontext hinwegsetzen, in den die besonders enge Kooperation der Schengenvertragsparteien eingebunden ist41. Hierzu gehoren ausweislich der Praambel des SDU der Abbau der Grenzkontrollen und die im Lichte der Binnenmarktrealisierung zu sehende Erleichterung des Personen- und Warenverkehrs im Schengener Rechtsraum. 19 Es bleibt daher den nationalen Rechtsordnungen uberantwortet, dariiber zu befinden, wie sich eine auBerhalb des Schengener Rechtsraumes erfolgte rechtskraftige Aburteilung auf ein wegen derselben Sache gefuhrtes inlandisches Strafverfahren auswirkt. Ein rechtsvergleichender Blick offenbart diesbeziiglich betrachtliche Unterschiede zwischen den nationalen Strafrechtssystemen: Wahrend etwa das deutsche, b'sterreichische, englische und italienische Recht auslandischen Strafentscheidungen prinzipiell keine strafklageverbrauchende Wirkung im Inland zuerkennt, verbieten das niederlandische und spanische Recht eine erneute Strafverfolgung selbst bei Inlandstaten, die im Ausland abgeurteilt wurden42. Die ,,ne bis in idem"-Regelungen des belgischen, franzosischen und luxemburgischen Rechts statuieren fur den Fall einer rechtskraftigen Auslandsaburteilung zwar ein Verfahrenshindernis. Dieses findet allerdings nur auf extraterritoriale Taten Anwendung43. 39 40 41 42
43
Dieser Fall wird mitgeteilt von EndrifilKinzig, StV 1997, 665 f. Vgl. hierzu EndrifilKinzig, StV 1997, 665, 668. Zutr. Landau, S6llner-FS, S. 627, 634 f. Dannecker, Kohlmann-FS, S. 593, 598; LagodnylNill-Theobald, JR. 2000, 205, 207 pladieren fur eine einseitig-nationale Anerkennung auslandischer Urteile auch im deutschen Recht nach dem Modell der hollandischen Regelung. Vgl. Dannecker, Kohlmann-FS, S. 593, 598 f.; Epp, OJZ 1979, 36, 37; Jung, SchulerSpringorum-FS, S. 493, 496; van den Wyngaert, Revue Internationale de Droit Penal 1999, S. 77 f.; van den Wyngaert/Stessens, International and Comparative Law Quarterly 1999, 779, 783.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU
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Immerhin ist mit Art. 54 SDU ein teileuropaisches Doppelbestrafungsver- 20 bot44 auf den Weg gebracht worden, dessen Bedeutung fur die Strafrechtsentwicklung in Europa gar nicht hoch genug geschatzt werden kann. Za'hlt doch die wechselseitige Anerkennung strafjustizieller Erledigungsakte zu den elementarsten Grundlagen und Voraussetzungen einer gemeinsamen europaischen Strafverfolgung45. Von dieser Uberzeugung ist auch die zukunftige europaische Verfassung geleitet, die in Art. II-110 ein unionsweites Verbot der Doppelbestrafung als Justizgrundrecht verankert (Rn. 14). Bis zum Inkrafttreten des EU-Verfassungsvertrages bleibt Art. 54 SDU zentrale Rechtsgrundlage fur die unionsweite Geltung des Prinzips ,,ne bis in idem". Die bei der Auslegung dieser Bestimmung durch Rechtsprechung und Literatur gewonnenen Erkenntnisse werden auch fiir das Verstandnis des in Art. 11-110 EU-Verfassung normierten Doppelbestrafungsverbots von erheblicher Bedeutung sein.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU I. Vorabentscheidungskompetenz des EuGH gem. Art. 35 EUV Vor dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages am 1. Mai 1999 fehlte im 21 Rahmen der dritten Saule der EG ein Verfahrensmechanismus zur Gewahrleistung einer gemeinschaftsweit einheitlichen und verbindlichen Norminterpretation. Den mit der Auslegung des Art. 54 SDU befassten nationalen Strafgerichten war insbesondere die Moglichkeit versagt, den EuGH zur Vorabentscheidung (§ 6) anzurufen. Es war daher vorbildlich, dass der BGH in den von ihm zu entscheidenden Fallen stets eine bilaterale Verstandigung mit dem jeweiligen Erstverfolgerstaat herbeifuhrte46. Die Gefahr, dass die strafrechtliche Integration Europas infolge divergierender nationaler Interpretationen des ,,ne bis in idem"-Prinzips einen Riickschlag erleiden konnte, bestand aber dennoch fort. Durch die mit dem Inkrafttreten des Amsterdamer Vertrages erfolgte Einbezie- 22 hung des Schengen-Besitzstandes47 in den Rahmen der Europaischen Union wurde - im Zusammenspiel mit dem neuen Art. 35 EUV - die Voraussetzung dafur 44 45 46
47
Lagodny, NStZ 1997, 265. Jung, Schuler-Springorum-FS, S. 4 9 3 , 501. Vgl. B G H N S t Z 1998, 149; B G H S t 45, 123. Volkerrechtliche Rechtsgrundlage fur das Einholen authentischer Auskunfte ilber auslandisches Recht ist das Europaische Ubereinkommen v. 7. Juni 1968 betreffend Auskunfte iiber auslandisches Recht (BGB1. II 1974, 937) i. V. m. dem Zusatzprotokoll v. 15. M a r z 1978 (BGB1. II 1987, 58). Der Schengen-Besitzstand wird konstituiert durch die Schengener A b k o m m e n v. 14. Juni 1985 (Schengen I) u n d v. 19. Juni 1990 (SDU), die spateren Beitrittsprotokolle und -ubereinkommen weiterer EG-Mitgliedstaaten hierzu, die Beschlilsse und Erklarungen d e s aufgrund des S D U eingesetzten Exekutivausschusse sowie die Rechtsakte zur Durchfuhrung des Ubereinkommens; vgl. hierzu d a s Protokoll zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstands in den Rahmen der Europaischen Union (AB1EG 1997 C 340, S. 93).
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geschaffen, dass nunmehr der EuGH eine Zustandigkeit fur die Auslegung nicht nur des EG-ne bis in idem-Ubk, sondern auch des Art. 54 SDU erhielt48. Art. 35 I EUV lautet: ,,Der Gerichtshof der EG entscheidet unter den in diesem Artikel festgelegten Bedingungen im Wege der Vorabentscheidung iiber die Gtlltigkeit und Auslegung der Rahmenbeschltisse und Beschlusse, iiber die Auslegung der Ubereinkommen nach diesem Titel und liber die Gilltigkeit und Auslegung der dazugehorigen DurchfiihrungsmaBnahmen." 23 Dies gilt freilich nur ftlr diejenigen Staaten, die von der gem. Art. 35 II EUV eroffneten Moglichkeit des ,,opt-in" Gebrauch gemacht haben. Nach dieser Bestimmung kann jeder Mitgliedstaat durch eine bei der Unterzeichnung des Vertrages von Amsterdam oder zu jedem spateren Zeitpunkt abgegebene Erklarung die Zustandigkeit des EuGH fur Vorabentscheidungen nach Art. 35 1 EUV anerkennen. 24 In Deutschland ist das Zusammenwirken der nationalen Gerichte mit der supranationalen Gerichtsbarkeit mittlerweile durch das EuGHG49 ausdrilcklich geregelt worden. Nach § 1 I EuGHG kann jedes Gericht eine Vorabentscheidung des EuGH herbeifilhren, wenn die Auslegung eines in Art. 35 EUV genannten Ubereinkommens im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Letztinstanzliche Gerichte sind hierzu gem. § 1 II EuGHG sogar verpflichtet. Der BGH erkennt die Vorabentscheidungszustandigkeit des EuGH fur die Auslegung des SDU nach MaBgabe des EuGHG in einer neueren Entscheidung v. 6. Juni 2002 nunmehr ausdriicklich an50, nachdem er diese Option in seinem Urteil v. 10. Juni 1999 noch offen gelassen hatte51. Inzwischen wurde der EuGH aufgrund zweier Vorlagen der belgischen Rechtbank van Eerste Aanleg Veurne und des OLG Koln52 gem. Art. 35 I EUV mit der Auslegung des Art. 54 SDU befasst53 (Fall 5; Rn. 31 ff.). Damit besteht die Aussicht, Schritt fur Schritt zu einer einheitlichen Auslegung und Anwendung des transnational Doppelbestrafungsverbotes im Rechtsraum der Vertragsparteien zu gelangen. 25 Problematisch ist freilich, dass bei einer Einschaltung des EuGH mit erheblichen Verfahrensverzogerungen zu rechnen ist. Neueren Untersuchungen zufolge betragt die durchschnittliche Dauer eines Vorabentscheidungsverfahrens ca. 12-17
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OLG Koln NStZ 2001, 558, 560; Hecker, StV 2001, 306, 307; Ktihne, Strafprozessrecht, Rn. 59, 73, 8 1 ; Lagodny, NStZ 1998, 154; Schomburg, StV 1999, 246, 248; ders., N J W 2000, 1833, 1839. Gesetz betreffend die Anrufung des Gerichtshofes der Europaischen Gemeinschaften im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens auf dem Gebiet der polizeilichen Zusammenarbeit und der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 35 des E U Vertrages v. 6. August 1998, in Kraft getreten am 1. Mai 1999 (BGB1.1 1998, 2035). B G H NStZ 2002, 661 mit zust. Anm. v. Hecker, NStZ 2002, 663; PlockingerlLeidenmiihler, wistra 2003, 81, 82. BGHSt 45, 123, 129. OLG Koln NStZ 2001, 558. EuGH NJW 2003, 1173 = NStZ 2003, 332.
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Monate54. Konflikte mit der strafprozessualen Maxime des Beschleunigungsgebotes erscheinen vorprogrammiert. Es sollte daher dringend ein strafrechtlicher Spruchkorper des EuGH geschaffen werden55, der eine raschere Erledigung von Vorabentscheidungsersuchen gewahrleisten konnte.
II. Das Merkmal ,,rechtskraftige Aburteilung" Unter den Voraussetzungen des Art. 54 SDU bewirkt die rechtskraftige Aburtei- 26 lung durch eine Vertragspartei im gesamten Schengener Rechtsraum den Verbrauch der Strafklage und schafft damit ein Verfahrenshindernis, das jeder erneuten Strafverfolgung aus Anlass der abgeurteilten Tat entgegensteht56. Uber die Reichweite dieses zentralen Rechtsbegriffes des Art. 54 SDU konnte bislang in Rechtsprechung und Literatur jedoch keine Einigkeit erzielt werden. Als gesichert gilt nach dem derzeitigen Stand der Diskussion lediglich die Erkenntnis, dass jedenfalls das von einer Vertragspartei gefallte freisprechende57 oder verurteilende Gerichtsurteil die Strafklage im gesamten Schengener Rechtsraum verbraucht58. Eine dogmatische Klarung des Aburteilungsmerkmals ist dringend geboten, da die Rechtsordnungen aller Vertragsparteien eine Fulle strafprozessualer Erledigungsakte kennen, die nicht in Gestalt eines formlichen Gerichtsurteils ergehen. Man denke nur an die im deutschen Justizalltag tausendfach praktizierte Erledigung von Strafsachen im Strafbefehlswege (§§ 407 ff. StPO) sowie in Form eines richterlichen oder staatsanwaltlichen Beschlusses Uber die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfugigkeit oder nach Erfullung von Auflagen (§§ 153, 153 a StPO). Umgekehrt stellt sich aus deutscher Sicht die Frage, welche Wirkung auslandischen Verfahrensabschlilssen beizumessen ist, die in der deutschen Rechtsordnung kein prozessuales Pendant finden59. Die rechtliche Problematik kann exemplarisch anhand der folgenden Erledigungsarten aufgezeigt werden: belgische bzw. niederlandische ,,transactie" (Fall 3 und 5), Osterreichisches Straferkenntnis (Fall 4) und staatsanwaltlicher Einstellungsbeschluss gem. § 153 a I StPO (Fall 5).
54 55 56
57 58
59
Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 195. Satzger, Europaisierung, S. 666 geht sogar von einer Durchschnittsdauer von 21,4 Monaten aus. Vgl. Schomburg, NJW 1999, 540, 543. Vgl. zu den auslieferungsrechtlichen Folgen SchomburglLagodny, IRhSt, Einleitung Rn. 69, Art. 54 SDU Rn. 4. Vgl. zur Einbeziehung des Freispruchs in den Anwendungsbereich des Art. 54 SDU BGH NJW 2001, 2270; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 661. BGH NStZ 1998, 149, 152; BGHSt 45, 123, 127; OLG Saarbrucken StV 1997, 359; BayObLG StV 2001, 263; Schomburg, StV 1997, 383, 384; ders., StV 1999, 246, 247; Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 468 ff.; van den Wyngaert, NStZ 1998, 153, 154. Vgl. zu den verfahrensbeendenden Entscheidungen im franzosischen und niederlandischen Strafprozess Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 359 ff.; 407, 439 ff.
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1. Belgische ,,transactie" 27 Fall 3 (BGH NStZ 1999, 250): Die StA wirft den beiden Angeklagten mit der zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage vor, in der Zeit von Oktober bis Dezember 1988 in Hamburg, Antwerpen, Brussel und Monaco gemeinsam mit andern Beteiligten durch neun selbstandige Handlungen belgische Eingangsabgaben in Hone von DM 2, 9 Mio. verkurzt zu haben, indem sie als Angestellte der Hamburger Firma E Breitbandstahl und Blechplatten aus Jugoslawien mit gefalschten Ursprungszeugnissen als tiirkische Erzeugnisse in Belgien abfertigen lieBen, um die Erhebung von Antidumpingzoll in der Europaischen Gemeinschaft zu umgehen (§ 370 I Nr. 1, VI AO). Wegen dieses Sachverhaltes wurden in Belgien und Deutschland Ermittlungsverfahren gegen die Beteiligten gefuhrt. Das von den belgischen Zollbehorden eingeleitete Verfahren wurde am 30. Dezember 1991 durch eine ,,transactie" nach belgischem Recht abgeschlossen, durch die sich der Inhaber der Firma E gegenuber dem Finanzministerium verpflichtete, die angefallenen Zolle, eine Zollstrafe und die Saumniszinsen zu zahlen. Das LG Hamburg stellte gegen die Angeklagten in Deutschland durchgefuhrte Verfahren wegen eines Verfahrenshindernisses (Strafklageverbrauch) ein. Hiergegen richtet sich die Revision der StA. Frage: Steht Art. 54 SDU einer strafrechtlichen Verfolgung der Angeklagten entgegen?
28 Erste Losungshinweise zu Fall 3: Die belgische Rechtsordnung sieht die Moglichkeit vor, ein Steuerstrafverfahren niederzuschlagen, indem der Beschuldigte sich einem von der Finanzbehorde vorgeschlagenen verwaltungsrechtlichen Vergleich, der sog. ,,transactie" unterwirft, der ihn zur Begleichung des hinterzogenen Betrages sowie zur Zahlung einer von der BehSrde festgelegten Geldsumme verpflichtet. Nach vollstandiger Erfllllung der Zahlungspflicht ist im Inland eine erneute Strafverfolgung wegen derselben Sache ausgeschlossen60. Ob die Erledigung einer Steuerstrafsache durch ein in Belgien abgewickeltes Transactieverfahren in Deutschland nach Art. 54 SDU zu einem Verfolgungshindernis fuhrt, hangt davon ab, ob man die belgische ,,transactie" als ,,rechtskraftige Aburteilung" wertet. Diese Frage wurde von dem zur Entscheidung berufenen LG Hamburg61 bejaht, vom OLG Hamburg62 indessen abgelehnt. Vor dem Hintergrund, dass das deutsche Recht die Steuerhinterziehung mit Freihe its strafe bis zu funf Jahren bedroht (vgl. § 370 I AO) erblickte der Hamburger Senat in der belgischen ,,transactie" gar einen willkilrlich anmutenden ,,Freikauf von Strafe". Der BGH lieB die Beantwortung der Rechtsfrage in seinem Urteil v. 2. Februar 1999 aufgrund der gegebenen Sachverhaltskonstellation ausdrucklich offen63. Durch eine belgische ,,transactie" trete jedenfalls dann kein Strafklageverbrauch ein, wenn es sich um ein Verfahren handele, in dem die ,,transactie" unmittelbar eine juristische Person betreffe und die Wirkung im Rahmen des verwaltungsrechtlichen Vergleichs auf Dritte (hier: die Angeklagten) erstreckt werde, ohne dass diese ihrerseits Leistungen zu erbringen haben. Der BGH gab zwar zu bedenken, dass nach dem Willen 60
61 62 63
Vgl. hierzu van den Wyngaert, NStZ 1998, 153; van den Wyngaert/Stessens, International and Comparative Law Quarterly 1999, 779, 799 f. LG Hamburg wistra 1995, 358; ebenso LG Hamburg wistra 1996, 359. OLG Hamburg wistra 1996, 193. BGH NStZ 1999, 250; vgl. bereits BGH NStZ 1998, 149, 152, wo ahnliche Uberlegungen angestellt werden.
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der Schengener Vertragsparteien nur Gerichtsurteilen - zumindest aber gerichtlichen Entscheidungen - eine strafklageverbrauchende Wirkung zukommen sollte. Den Urteilsgriinden lasst sich jedoch die bemerkenswerte Andeutung entnehmen, dass der Senat im Hinblick auf eine fortschreitende rechtliche Integration der EG-Mitgliedstaaten auch eine weite Auslegung des Art. 54 SDU, die Verfahrenserledigungen nach Art der belgischen ,,transactie" erfasst, nicht generell ausschliefit64.
2. Osterreichisches Straferkenntnis Fall 4 (BayObLG StV 2001, 263): Der Angeklagte A fuhr am 12. Februar 1997 gegen 29 3 Uhr 40 von Innsbruck kommend mit seinem PKW auf der Inntalautobahn Richtung Kufstein, obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses nicht mehr in der Lage war, sein Fahrzeug sicher zu fuhren. An sich wollte er an der Anschlussstelle Kufstein-Nord die Autobahn verlassen und nach Hause fahren. Da er jedoch die Ausfahrt ubersah, gelangte er nach einer Fahrtstrecke von 800 Metern auf deutschem Staatsgebiet an den Grenziibergang Kiefersfelden-Autobahn zur Einreise in das Bundesgebiet. Eine bei ihm am 12. Februar 1997 um 4 Uhr 25 entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,93 Promille im Mittelwert. Aufgrund eines Straferkenntnisses der (osterreichischen) Bezirkshauptmannschaft Kufstein wurde A mit einer Geldstrafe von ATS 10 000.- wegen einer Verwaltungsubertretung belegt. Das AG Rosenheim verurteilte A am 4. November 1997 wegen derselben Trunkenheitsfahrt (§ 316 II StGB) zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten ohne Bewahrung. Das LG Traunstein anderte als Berufungsgericht am 1. April 1998 das Urteil dahingehend ab, dass die gegen A verhangte Freiheitsstrafe zur Bewahrung ausgesetzt wurde. Gegen dieses Urteil legte A Revision zum BayObLG ein, mit der er die Einstellung des Verfahrens wegen Strafklageverbrauchs begehrte. Frage: Kann sich A auf Art. 54 SDU berufen?
Erste Losungshinweise zu Fall 4: Die Beantwortung der Rechtsfrage hangt da- 30 von ab, ob das osterreichische Straferkenntnis eine ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU darstellt. Dem konnte entgegenstehen, dass es sich bei dem gegen A nach osterreichischem Recht erlassenen Straferkenntnis nicht um eine richterliche Entscheidung handelt. Vielmehr wurde das Trunkenheitsdelikt des A als bloBe Verwaltungsubertretung behandelt, die von der Bezirkshauptmannschaft einer Verwaltungsbehorde - geahndet wurde65. Wahrend der BGH in seiner oben aufgefuhrten Transactie-Entscheidung (Fall 3) immerhin eine gewisse Offenheit gegentiber einer weiten Auslegung des Aburteilungsmerkmals signalisierte, vertrat das BayObLG in seinem Urteil v. 26. Mai 2000 einen eindeutig restriktiven Standpunkt66. Nach Auffassung des BayObLG vermogen nur Gerichtsurteile zumindest aber gerichtliche Entscheidungen ein staateniibergreifendes DoppelSo auch die Einschatzung von Schomburg, StV 1999, 246, 247. Das Straferkenntnis kann mit dem Rechtsmittel der Berufung angegriffen werden, die an den ortlich zustandigen Verwaltungssenat zu richten ist. Bei diesem handelt es sich nicht um ein Gericht, sondern um eine weisungsfreie Verwaltungsbehorde. BayObLG StV 2001, 263; der gleichen Auslegungslinie folgen Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 468 ff; van den Wyngaert, NStZ 1998, 153, 154; van den Wyngaert/Stessens, International and Comparative Law Quarterly 1999, 779, 797 ff.
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bestrafungsverbot auszulosen. Der Senat lehnte es daher ab, dem in Osterreich ergangenen Straferkenntnis strafklageverbrauchende Wirkung in Deutschland zuzuerkennen67.
3. Niederlandische ,,transactie" und staatsanwaltliche Verfahrenseinstellung gem. § 153 a StPO 31 Fall 5 (EuGH NJW 2003, 1173): Der EuGH hatte infolge der Vorabentscheidungsersuchen eines deutschen und eines belgischen Gerichts gem. Art. 35 EUV iiber die Auslegung des Art. 54 SDU zu entscheiden. Dem lagen folgende Ausgangsverfahren zugrunde. 32 (1) Der Beschuldigte G, ein ttlrkischer Staatsangehoriger mit Wohnsitz in den Niederlanden, betrieb in Heerlen (Niederlande) eine Imbissstube. Dort beschlagnahmte die niederlandische Polizei im Rahmen zweier Betriebsdurchsuchungen im Januar und Februar 1996 groBere Rauschgiftmengen. Die niederlandische Staatsanwaltschaft stellte das Strafverfahren gegen G ein, nachdem er ihr Angebot, Geldbetrage in Hohe von NLG 3 000.- bzw. NLG 750 .- angenommen und gezahlt hatte (,,transactie"). In der Folgezeit wurde G in Deutschland festgenommen und von der Staatsanwaltschaft Aachen wegen gewerbsmaBigen Handels mit Betaubungsmitteln angeklagt (vgl. § 6 Nr. 5 StGB). Am 13. Januar 1997 verurteilte ihn das AG Aachen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und funf Monaten, deren Vollstreckung zur Bewahrung ausgesetzt wurde. Nachdem G hiergegen Berufung eingelegt hatte, stellte das LG Aachen das Verfahren gegen G mit Beschluss v. 27. August 1997 ein. Zur Begrttndung wurde auf den durch den niederlandischen Verfahrensabschluss eingetretenen Strafklageverbrauch verwiesen, der gem. Art. 54 SDU auch fur die deutsche Strafverfolgung verbindlich sei. Hiergegen legte die StA Aachen sofortige Beschwerde beim OLG Koln ein. Der Senat setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob gem. Art. 54 SDU Strafklageverbrauch eintrete, wenn nach niederlandischem Recht wegen desselben Sachverhaltes national die Strafklage verbraucht sei. 33 (2) Der Beschuldigte B, ein deutscher Staatsangehoriger mit Wohnsitz in Deutschland, wurde von der belgischen StA wegen einer Korperverletzung angeklagt, die er im Oktober 1997 in Ostduinkerke (Belgien) zum Nachteil von Frau L begangen haben soil. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft Bonn das wegen dieser Tat gegen B geftlhrte Verfahren gegen Zahlung einer GeldbuBe von DM 1 000.- gem. § 153 a StPO eingestellt. Nach § 153 a I S. 5 StPO kommt dem Einstellungsbeschluss eine eingeschrankte materielle Rechtskraftwirkung dergestalt zu, dass die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden kann. Die belgische Rechtbank van Eerste Aanleg Veurne setzte deshalb das Verfahren aus und legte dem EuGH die Frage vor, ob Art. 54 SDU einer Strafverfolgung in Belgien entgegensteht. 34 Erste Losungshinweise zu Fall 5: Der EuGH beantwortete die Vorlegungsfragen in einer gemeinsamen Entscheidung dahingehend, dass das in Art. 54 SDU aufgestellte Verbot der Doppelbestrafung auch fur zum Strafklageverbrauch fuhrende Verfahren der in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden Art gilt, in denen die Staatsanwaltschaft eines Mitgliedstaates ohne Mitwirkung eines Gerichts ein in diesem Mitgliedstaat eingeleitetes Strafverfahren einstellt, nachdem der Beschuldigte bestimmte Auflagen erfullt und insbesondere einen bestimmten, von der 67
Des Weiteren berief sich das BayObLG auf die Vorbehaltsklausel des Art. 55 I lit. a SDU, die den Vertragsparteien das Recht einraumt, unter bestimmten Voraussetzungen (Tatort liegt ganz oder teilweise auf deutschem Hoheitsgebiet) nicht an Art. 54 SDU gebunden zu sein.
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Staatsanwaltschaft festgesetzten Geldbetrag entrichtet hat68. Dabei stellte der EuGH maBgeblich auf den Sinn und Zweck des transnationalen Doppelbestrafungsverbotes ab. Art. 54 SDU soil verhindern, dass eine Person, die von ihrem Recht auf Freiziigigkeit Gebrauch macht, wegen derselben Tat in mehreren Mitgliedstaaten verfolgt wird. Zur Verwirklichung dieses Zieles konne Art. 54 SDU nur beitragen, wenn er auch auf solche strafklageverbrauchende Entscheidungen anwendbar ist, die ohne Mitwirkung eines Gerichts und nicht in Form eines Urteils ergangen sind. Der EuGH fuhrte klarstellend aus, dass das Doppelbestrafungsverbot den durch die Straftat Geschadigten nicht hindere, eine zivilrechtliche Klage auf Ersatz des erlittenen Schadens zu erheben.
4. Vertiefende Diskussion Weitere Losungshinweise zu den Fallen 3 bis 5: Wie die nachfolgende Diskus- 35 sion zeigt, vermag die vom OLG Hamburg (Fall 3) und vom BayObLG (Fall 4) vertretene restriktive Interpretation des Aburteilungsbegriffes nicht zu iiberzeugen, wahrend die Entscheidung des EuGH (Fall 5) Beifall verdient69. Im Hinblick auf die volkervertragsrechtliche Natur des Schengener Durchfuhrungsiibereinkommens sind fur die Interpretation des in die dritte Saule der EU uberfuhrten Art. 54 SDU die in Art. 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention kodifizierten Auslegungsmaximen heranzuziehen70. Danach ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Ubereinstimmung mit seiner gewohnlichen, seinen Bestimmungen im Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen71. Die spezifische Ziel- und Zweckbestimmung des Art. 54 SDU muss dabei den Anhaltspunkten entnommen werden, die der Text des Vertrages einschlieBlich seiner Praambel und Anlagen liefert, da andere Auslegungsaspekte - wie etwa die Entstehungsgeschichte des Abkommens - nach Art. 32 der Wiener Vertragsrechtskonvention nur erganzend und bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen herangezogen werden konnen. Da das SDU in drei amtlichen Sprachen (deutsch, niederlandisch und franzosisch) abgefasst wurde und Art. 142 II 4 SDU jeden Wortlaut fur gleichermafien verbindlich erklart, ist von der in Art. 33 III Wiener Vertragsrechtskonvention angeordneten Vermutung auszugehen, dass die Ausdrilcke des Vertrages in jedem authentischen Text die gleiche Bedeutung haben. Durch die Einbeziehung des SDU in das Unionsrecht ist nunmehr zwar der Wortlaut aller Amtssprachen der EU verbindlich72. Dies andert aber nichts daran, dass
EuGH NJW 2003, 1173 = NStZ 2003, 332 = StV 2003, 201. Vgl. aber auch die Kritiken von Radtke/Busch, NStZ 2003, 281, 283; Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 478, 486 ff. Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 97 ff. Vgl. das Wiener Ubereinkommen v. 23. Mai 1969 iiber das Recht der Vertrage (BGB1. II 1985, 927; 1987, 757; abgedruckt bei SchomburglLagodny, IRhSt, Anhang 12). Die im WVertrRUbk enthaltenen Auslegungskriterien werden als kodifiziertes Volkergewohnheitsrecht angesehen; vgl. hierzu BGH NStZ 1998, 149, 151; Dorr, DOV 1993, 696, 702 m. w. N. Bose, GA 2003, 744, 747; Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 57 jew. m. w. N.
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die grammatikalische Auslegung des Art. 54 SDU anhand der Textfassung der drei ursprunglich authentischen Rechtssprachen vorzunehmen ist, denn nur diese geben sprachlich den originaren Regelungsgehalt wieder, der nunmehr als Unionsrecht weitergelten soil. Es uberzeugt daher nicht, etwa unter Hinweis auf die portugiesische Fassung des Art. 54 SDU („... definitivamente julgado por um tribunal...") eine restrictive Interpretation des Doppelbestrafungsverbotes herzuleiten, die nur noch Gerichtsurteilen transnationale Erledigungswirkung zuerkennt73. Vielmehr ist der portugiesische wie jeder andere mitgliedstaatliche Gesetzgeber verpflichtet, eine sprachliche Fassung des Art. 54 SDU zu wahlen, die den materiellen Regelungsgehalt der Norm, wie er sich aus den ursprunglich fur verbindlich erklarten Rechtssprachen ergibt, zum Ausdruck bringt. Andernfalls hatten es die Mitgliedstaaten in der Hand, je nach der von ihnen gewahlten Ubersetzung des Art. 54 SDU den Anwendungsbereich des Doppelbestrafungsverbotes neu zu bestimmen. a) Wortlautinterpretation 36 Setzt man zunachst bei der Wortlautauslegung der deutschen Textfassung an, so scheint diese an eine ganz spezielle Form der Verfahrenserledigung anzuknupfen, namlich an ein Gerichtsurteil. Art. 54 SDU spricht ausdrucklich von dem ,,Urteilsstaat" und auch in der Vorbehaltsregelung des Art. 55 SDU ist von einem ,,auslandischen Urteil" die Rede74. Dieses Begriffsverstandnis kann sich auf die Tradition fruherer ,,ne bis in idem"-Abkommen berufen, die auf der Ebene des Europarates ausgearbeitet wurden. In diesen Ubereinkommen wurde stets zwischen gerichtlichen Urteilen und nichtgerichtlichen Verfahrenserledigungen unterschieden75. Auch die in Art. 58 SDU verwendete Bezeichnung ,,Justizentscheidung", legt ein enges Begriffsverstandnis nahe76. Der Sprachgebrauch der deutschen Fassung des SDU ist jedoch nicht einheitlich. So findet sich in Art. 57 SDU, der die wechselseitige Erteilung von Auskiinften iiber die in einem Vertragsstaat erfolgte Aburteilung einer Person regelt, der weite Begriff ,,Entscheidung". Auch das in Art. 54 SDU enthaltene Vollstreckungselement zwingt nicht etwa dazu, nur vollstreckbaren Gerichturteilen die Qualitat einer rechtskraftigen Aburteilung zuzuerkennen. Denn die Formulierung ,,...vorausgesetzt, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion bereits vollstreckt worden ist..." kann auch so verstanden werden, dass sie nur bei Verfahrensabschltissen Bedeutung erlangt, denen typischerweise eine Vollstreckung nachfolgt. Bei alien sonstigen Erledigungsakten ist das Vollstreckungselement schlicht gegenstandslos. Die niederlandische Formulierung ,,vonnis" bezeichnet ebenso wie der franzosische Ausdruck ,,jugement" zwar in 73 74
75
76
So Bose, GA 2003, 744, 749, 756. Wie sich den Denkschriften der deutschen und der osterreichische Regierung entnehmen lasst, gingen sie bei Vertragsabschluss in der Tat davon aus, dass die ne-bis-inidem-Regelung nur bei Vorliegen eines auslandischen Gerichtsurteils zur Anwendung gelangen soil (vgl. Denkschrift der Bundesregierung zum SDU; BT-Drs. 12/2453, S. 91,93). Vgl. van den Wyngaert, NStZ 1998, 153.
Stein, WW 2003, 1162, 1163.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU
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erster Lime ein Gerichtsurteil. In den jeweiligen Rechtssprachen werden diese Bezeichnungen aber auch fur sonstige Entscheidungen, z. B. richterliche Beschlusse, verwendet77. Die grammatikalische Interpretation vermag demnach keine eindeutige Antwort auf die gestellte Auslegungsfrage zu liefern78. Dem Wortlaut nach ist es also — wovon im Ergebnis auch der EuGH ausgeht79 — zumindest nicht ausgeschlossen, unter den Begriff ,,rechtskraftige Aburteilung" nicht nur formliche Gerichtsurteile zu subsumieren, sondern auch sonstige verfahrensabschlieBende und rechtskraftbewirkende Entscheidungen, an denen kein Gericht mitgewirkt hat. b) Systematische Interpretation Fur eine Beschrankung des Anwendungsbereiches des Art. 54 SDt) auf in Urteils- 37 oder Beschlussform ergangene richterliche Entscheidungen konnte der systematische Zusammenhang mit der in Art. 58 SDU getroffenen Regelung sprechen. Nach Art. 58 SDU stehen die vorstehenden Bestimmungen - also auch Art. 54 SDU - der Anwendung weitergehender Bestimmungen des nationalen Rechts liber die Geltung des Verbots der Doppelbestrafung in Bezug auf ,,auslandische Justizentscheidungen" nicht entgegen. Art. 58 SDU stellt mithin klar, dass Art. 54 SDU keine abschlieBende Regelung des transnationalen Doppelbestrafungsverbotes darstellt, sondern lediglich einen von alien Vertragsparteien einzuhaltenden verfahrensrechtlichen Mindeststandard garantieren soil. Den Schengen-Vertragsstaaten steht es also frei, auf nationaler Ebene das Verbot der Doppelbestrafung groBztlgiger auszugestalten80. Wenn man den Terminus ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU als Unterfall des (Ober-)Begriffes ,,auslandische Justizentscheidungen" auffasst, konnte man hieraus den Schluss ziehen, dass in grenzuberschreitenden Konstellationen nur gerichtlichen Entscheidungen strafklageverbrauchende Wirkung beizumessen seien81. Zwingend ist diese restriktive Auslegung freilich nicht, da sich im SDU selbst keine Definition oder sonstige erlauternde Bemerkung zu dem Terminus ,,auslandische Justizentscheidung" fmdet82. Auch nach Auffassung des EuGH folgt aus Art. 58 SDU nicht, dass Art. 54 SDU ausschlieBlich auf Urteile oder gerichtliche Entscheidungen anwendbar sein soil. Vielmehr raume diese Bestimmung unabhangig von der Natur der fraglichen auslandischen Entscheidungen den Mitgliedstaaten das Recht ein, nationale Rechtsvorschriften anzuwenden, die dem Doppelbestrafungsverbot eine groBere Trag-
Vgl. LG Hamburg wistra 1995, 358, 359; LG Hamburg wistra 1996, 359, 36\; SchomburglLagodny, IRhSt, Art. 54 SDU, Rn. 12; Schomburg, StV 1997, 383, 384; ausfuhrlich hierzu Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 197 ff. Hecker, StV 2001, 306, 308; PlockingerlLeidenmuhler, wistra 2003, 81, 84; RadtkelBusch, NStZ 2003, 281, 284; VogellNorouzi, JuS 2003, 1059, 1062; a. A. insoweit Stein, NJW 2003, 1162, 1163. EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Ziffer 42). Vgl. hierzu PlockingerlLeidenmuhler, wistra 2003, 81, 85. So BGH wistra 1997, 271 = NStZ 1998, 151; a. A. Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer, EuGHE 2003, 1348, 1371 (Rz. 108). Plockinger/Leidenmuhler, wistra 2003, 81, 85.
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weite verleihen oder seine Anwendung an weniger strenge Voraussetzungen kniipfen83. c) Teleologische Interpretation 38 Da weder die Wortlautauslegung noch die systematische Interpretation zu eindeutigen Ergebnissen fuhrt, kann eine Prazisierung des Aburteilungsbegriffes letztlich nur anhand einer an Sinn und Zweck orientierten Interpretation des Art. 54 SDU gelingen: Man konnte sich - wie das OLG Hamburg (Fall 3) - auf den Standpunkt stellen, es handle sich bei Verfahrensabschlussen wie der belgischen ,,transactie" lediglich um nationale Besonderheiten, die schon deshalb nicht als ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU gewertet werden konnen, weil sie nicht mit den Rechtsordnungen samtlicher Vertragsstaaten harmonieren84. Wenn Art. 54 SDU demnach nur Verfahrenserledigungen erfassen wiirde, die im nationalen Recht aller Vertragsparteien anerkannt sind, waren nur Gerichtsurteile geeignet, ein transnationales Doppelbestrafungsverbot auszulosen. Eine solche Auslegung des Aburteilungsbegriffes auf dem ,,kleinsten gemeinsamen Nenner" des Strafprozessrechts aller Vertragsparteien wiirde somit eine Vielzahl sonstiger, nicht in Urteilsform ergehender Verfahrensabschltisse aus dem Anwendungsbereich des Art. 54 SDU ausklammern, was schon aus rein praktischen Grunden nicht uberzeugen kann. Kein gut beratener Beschuldigter wiirde einer Verfahrenseinstellung gem. § 153 StPO zustimmen oder auf das Einlegen eines Einspruchs gegen einen Strafbefehl verzichten, wenn er befurchten miisste, in einem anderen Schengenstaat mangels Aburteilung in Urteilsform erneut zur Rechenschaft gezogen zu werden. Justizentlastende Erledigungsformen, die einen Verfahrensabschluss ohne gerichtliche Hauptverhandlung ermoglichen, wiirden im Schengener Rechtsraum entwertet ein Effekt, der angesichts der nicht nur in Deutschland knappen Justizressourcen nicht sachgerecht erscheint85. 39
Bei einer an Sinn und Zweck des transnationalen Doppelbestrafungsverbotes orientierten Norminterpretation muss - worauf auch der EuGH zu Recht hinweist86 - beriicksichtigt werden, dass die Schengener Vertragsparteien in einen bereits fortgeschrittenen und stetig fortschreitenden Integrationsprozess im Rahmen der Europaischen Union eingebunden sind87. Alle Vertragsparteien sind dazu verpflichtet, an dem in Art. 29 EUV formulierten Ziel der Herstellung eines ,,Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" mitzuwirken. Dieses Ziel wird vor allem durch eine Intensivierung der polizeilichen und justiziellen Kooperation zwischen den Mitgliedstaaten erreicht (vgl. Art. 30, 31 EUV). Innerhalb des Schengener Rechtsraumes hat diese Zusammenarbeit bereits eine sehr konkrete Gestalt angenommen - etwa in Form des Informationsaustausches aufgrund des SIS (§ 5 Rn. 50 ff), der operativen Zusammenarbeit der Polizei- und Strafverfolgungsbehorden (§ 5 Rn. 33 ff), der Erleichterung der Rechtshilfe und der gegenseitigen Unter83 84 85 86 87
EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Ziff. 43, 45). OLG Hamburg wistra 1996, 193, 195. Hecker, StV 2001, 306, 307; PlockingerlLeidenmuhler, wistra 2003, 81, 86. EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Ziff. 36, 37). Dieser Aspekt wird auch von BGH NStZ 1998, 149, 152 gesehen.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU
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stiltzung im Ermittlungs- und Strafverfahren (§12 Rn. 4 ff.)88. Das Zusammenwachsen der Vertragsparteien zu einem Rechtsraum, in dem die Krafte der nationalen Strafgewalten im Interesse einer effektiveren Kriminalitatsbekampfung gebiindelt werden, darf nicht zu einer Aushohlung elementarer Beschuldigtenrechte fiihren. Es muss verhindert werden, dass eine Vertragspartei die ihr zuganglichen Informationen oder Ermittlungsergebnisse eines Erstverfolgerstaates benutzt, urn eine dort bereits rechtskraftig abgeschlossene Strafsache im Inland erneut aufzurollen. Ein GesetzesverstoB, der in einem Staat nicht mehr geahndet werden kann, weil er aufgedeckt und abschlieBend sanktioniert worden ist, soil nicht erneut in einem anderen Staat des Schengenverbundes strafrechtlich verfolgt werden konnen. Insoweit stellt die Ausformung eines moglichst weitreichenden transnationalen Doppelbestrafiingsverbotes ein unabdingbares rechtsstaatliches Korrektiv gegenilber einer international-arbeitsteilig operierenden Strafverfolgung dar89. Die im SDU vorgesehene Abschaffung der Personenkontrollen an den gemein- 40 samen Grenzen dient der Vollendung des europaischen Binnenmarktes. Das Binnenmarktziel korrespondiert mit der Idee, einen gemeinsamen Rechtsraum zu schaffen, in dem die divergierenden nationalen Rechtsvorschriften keine Stoning des freien Verkehrs von Personen, Giltern und Kapital mehr darstellen90. Dieses Ziel kann nur durch eine Harmonisierung des Rechts oder durch die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung realisiert werden. Da die divergierenden nationalen Strafrechtssysteme einer Angleichung derzeit allenfalls beschrankt zuganglich sind, kann ein gemeinsamer Rechtsraum im Bereich der Strafrechtspflege nur auf der Basis der gegenseitigen Anerkennung verfahrensabschlieBender Erledigungsakte wachsen91. Hieraus folgt fur die Auslegung des Art. 54 SDU, dass die Definitionsmacht iiber den nationalen Rechtsakt, an den das staatenubergreifende Doppelbestrafungsverbot anknupft, ausschlieBlich beim Erstverfolgerstaat liegt. Entscheidend ist also, dass nach dem Recht des erstverfolgenden Staates die ergriffene MaBnahme eine erneute Verfolgung derselben Tat im Inland ausschlieBt92. d) Definition des Merkmals ,,rechtskraftige Aburteilung" Auf der Grundlage einer teleologischen Interpretation des transnationalen Doppel- 41 bestrafungsverbotes, wird folgende Definition des Aburteilungsmerkmals vorgeschlagen: ,,Rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU ist jede verfahrensabschliefiende und rechtskraftbewirkende Entscheidung, die nach dem Recht des Erstverfolgerstaates zu einem Verbrauch der Strafklage ftihrt. Verfahrenserledigungen nach Art der belgischen bzw. niederlandischen ,,transactie" (Falle 3 und 5), des osterreichischen Straferkenntnisses (Fall 4) oder des staats88 89
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91 92
Vgl. hierzu Kiihne, Strafprozessrecht, Rn. 96. Vgl. hierzu Jung, Schuler-Springorum-FS, S. 4 9 3 , 5 0 1 ; Schomburg, StV 1999, 246, 247. A u f den Aspekt der Freiziigigkeit stellt auch E u G H N J W 2 0 0 3 , 1173, 1174 (Ziff. 3 8 ) ab. Vgl. auch EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Ziff. 33). Vgl. hierzu Dannecker, Kohlmann-FS, S. 593, 6 1 1 , 614; Hecker, StV 2 0 0 1 , 306, 309.
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anwaltlichen Einstellungsbeschlusses gem. § 153 a StPO (Fall 5) sind demnach geeignet, im gesamten Rechtsraum der EU ein Verfahrenshindernis auszulosen. Nach hier vertretener Auffassung stellen auch strafprozessuale Erledigungen wie die ohne Auflage ergehende richterliche Verfahrenseinstellung gem. § 153 II StPO, der Nichteroffhungsbeschluss gem. §§ 204, 211 StPO oder die Verwerfung eines Klageerzwingungsantrages gem. § 174 StPO eine ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU insoweit dar, als diese Entscheidungen materielle Rechtskraft entfalten. Es bleibt abzuwarten, ob diese weite Auslegung auch vom EuGH geteilt wird. Zwar hob der EuGH in seinem Urteil v. 11. Februar 2003 (Fall 5) das Erfordernis einer ,,Ahndung" hervor93. Ob die Ahndung aber eine notwendige Bedingung filr die Einstufung strafbrozessualer Verfahrensabschlusse als ,,rechtskraftige Aburteilung" sein soil94, kann dem Urteil nicht mit Sicherheit entnommen werden95.
III. Vollstreckungselemente des Art. 54 SDU 42 Nach Art. 54 SDU ist das Verbot doppelter Strafverfolgung an die weitere Voraussetzung gekntlpft, dass im Fall einer Verurteilung die Sanktion - bereits vollstreckt ist, - gerade vollstreckt wird oder - nach dem Recht des Urteilsstaats nicht mehr vollstreckt werden kann. 43 Fall 6 (OLG Saarbriicken StV 1997, 359): A wurde von einem belgischen Gericht wegen unerlaubten Besitzes von Betaubungsmitteln rechtskraftig zu einer Gefangnisstrafe von drei Monaten unter Gewahrung eines auf zwei Jahre befristeten Strafaufschubs und daneben zur Zahlung einer Geldstrafe (zwei Monate Ersatzgefangnisstrafe) verurteilt. Die Geldstrafe hat A noch nicht gezahlt. Frage: Steht Art. 54 SDU einer strafrechtlichen Verfolgung des A in Deutschland wegen derselben Tat entgegen? 44 Erste Losungshinweise zu Fall 6: Zunachst ist festzustellen, dass eine ,,rechtskraftige Aburteilung" des A durch eine Vertragspartei (Belgien) wegen derselben Tat vorliegt. Da A von dem belgischen Gericht zu einer (zur Bewahrung ausgesetzten) Freiheitsstrafe und zur Zahlung einer Geldstrafe verurteilt wurde, hangt die Anwendbarkeit des Art. 54 SDU davon ab, ob eines der drei Vollstreckungselemente gegeben ist.
93 94 95
EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Ziff. 27, 29); Stein, NJW 2003, 1162, 1164; Thym, NStZ 2003, 334. So Thym, NStZ 2003, 334. Zutr. gesehen von Stein, NJW 2003, 1162, 1164.
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1. Erstes Vollsteckungselement Das erste Vollstreckungselement (,,...bereits vollstreckt worden ist...") ist nur bei 45 vollstandiger Erledigung der Vollstreckung einer Sanktion erfullt, z. B. nach Verbiifiung einer Gefangnisstrafe, Zahlung einer Geldstrafe, Erfllllung einer Auflage oder nach Erlass einer Bewahrungsstrafe96. In Fall 6 hat A weder die gegen ihn verhangte Freiheitsstrafe verbufit noch die ihm auferlegte Geldstrafe gezahlt. Somit ist das erste Vollstreckungselement nicht verwirklicht.
2. Zweites Vollstreckungselement Das zweite Vollsteckungselement (,,...gerade vollstreckt wird...") beschreibt eine 46 Situation, in der die Vollstreckung der verhangten Sanktion bereits eingeleitet wurde und noch andauert. In Fall 6 stellt sich die Frage, ob dieses Vollstreckungselement erfullt ist, obwohl A ,,unter Bewahrung" steht, also die gegen ihn verhangte Freiheitsstrafe derzeit nicht verbufit. Ein Teil der Rechtsprechung und Literatur stehen auf dem Standpunkt, eine Freiheitsstrafe werde nur dann ,,gerade vollstreckt", wenn der Verurteilte sich zwecks Strafverbiifiung im Strafvollzug befinde97. Diese Auffassung vermag nicht zu iiberzeugen. Bereits bei der Auslegung des Merkmals ,,rechtskraftige Aburteilung" wurde darauf hingewiesen, dass die Ausformung eines moglichst weitreichenden transnationalen Doppelbestrafungsverbotes ein unabdingbares rechtsstaatliches Korrektiv gegenilber einer international-arbeitsteilig operierenden Strafverfolgung darstellt (Rn. 39). Die Herausnahme der in alien Vertragsstaaten hochst praxisrelevanten Sanktionsform bedingte Freiheitsstrafe aus dem Anwendungsbereich des Art. 54 SDU ist mit dieser tlbergeordneten Zielsetzung unvereinbar. Der Wortlaut steht einer weiten Auslegung des zweiten Vollstreckungselements 47 nicht entgegen. Da der Verurteilte nur bei genauer Einhaltung aller Bewahrungsauflagen vom Strafvollzug im Verurteilungsstaat verschont bleibt, kann man davon sprechen, dass eine bedingte Freiheitsstrafe auch schon wahrend der laufenden Bewahrungszeit vollstreckt wird. Jeder Verstofi gegen eine Bewahrungsauflage (insbesondere gegen das Gebot, keine weitere Straftat zu begehen) kann den Widerruf der Bewahrung nach sich ziehen. Sinn und Zweck des zweiten Vollstreckungselements ist es, zu verhindern, dass der in einem Mitgliedstaat rechtskraftig Verurteilte, dem vor vollstandiger Erledigung der Strafvollstreckung die Fluent in einen anderen Schengenstaat gelingt, sich dort unter Berufung auf Art. 54 SDU einer neuerlichen Verfolgung und letztlich Vollstreckung des Ersturteils entziehen kann. Diese Zwecksetzung - Verhindern einer Vollstreckungsvereitelung - wird auch erreicht, wenn man bereits den Beginn der Bewahrungszeit als gegenwartige Vollstreckung der Freiheitsstrafe erfasst. Wird die Strafaussetzung zur Bewahrung von dem Erstverfolgerstaat widerrufen, so kann er in jedem anderen Vertragsstaat um Auslieferung zur Vollstreckung oder Ubernahme der Vollstreckung ersu96 97
Schomburg/Lagodny, IRhSt, Art. 54 SDU, Rn. 20. OLG Saarbrucken StV 1997, 359, 360; Specht, Die zwischenstaatliche Geltung des Grundsatzes ne bis in idem, 1999, S. 165 ff.
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chen98. Das zweite Vollstreckungselement ist daher mit der iiberzeugenden h. M. auch bei Verhangung einer zur Bewahrung ausgesetzten Freiheitsstrafe erfiillt". 48 Weitere Losungshinweise zu Fall 6: Nach den bisherigen Ausfuhrungen wird die von dem belgischen Gericht gegen A verhangte Sanktion - eine zur Bewahrung ausgesetzte Freiheitsstrafe - ,,gerade vollstreckt". Der Anwendung des Art. 54 SDU konnte aber entgegenstehen, dass A die ihm zugleich auferlegte Geldstrafe (bisher) nicht gezahlt hat. Es stellt sich somit die Frage, ob die beiden nebeneinander verhangten Strafen als Gesamtsanktion zu verstehen ist, die kein Doppelbestrafungsverbot gem. Art. 54 SDU auslost, wenn auch nur bei einer der beiden Strafen die Vollstreckungsvoraussetzungen nicht vorliegen100. Von diesem Standpunkt aus ware A in den anderen Vertragsstaaten nicht vor einer erneuten Strafverfolgung wegen derselben Tat geschtitzt, solange er die ihm in Belgien auferlegte Geldstrafe nicht gezahlt hat - ein Ergebnis, das schon im Hinblick auf die Schutzfunktion des Art. 54 SDU (Rn. 39) nicht zu iiberzeugen vermag. Der Gefahr einer Vollstreckungsvereitelung durch A wird bereits dadurch ausreichend entgegengetreten, dass wenigstens eine der beiden Strafen die Vollstreckungsanforderungen erfiillt101. Losungsvorschlag zu Fall 6: Art. 54 SDU steht der strafrechtlichen Verfolgung des A in Deutschland wegen der bereits von einem belgischen Gericht abgeurteilten Tat entgegen.
3. Drittes Vollstreckungselement 49 Typische Anwendungsfalle des dritten Vollstreckungselements (,,...nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann...") sind die Amnestie, Begnadigung oder Vollstreckungsverjahrung (vgl. § 79 I StGB). Die Auslegung des dritten Vollstreckungselements bereitet in der Praxis Schwierigkeiten, wie der folgende Fall zeigt. 50 Fall 7 (OLG Munchen StV 2001, 495): Die Beschuldigte B - eine deutsche Staatsburgerin - hat ihre Mutter vorsatzlich getotet, indem sie am 11. Oktober 1996 in Las Aguilas/Puerto de la Cruz (Teneriffa/Spanien) der auf dem Bett liegenden Frau ein Kopfkissen auf Mund und Nase drilckte, ihr sodann einen mitgebrachten Plastikmiillbeutel iiber den Kopf stulpte und so lange zuhielt, bis der Tod eintrat. Das zustandige spanische Geschworenengericht in Santa Cruz de Tenerife wertete diese Tat als Totschlag und verhangte in seinem Urteil v. 24. Dezember 1997 gegen B unter Berucksichtigung strafmildernder Umstande eine Freiheitsstrafe von funf Jahren unter Anrechnung der seit 15. Oktober 1996 vollzogenen Untersuchungshaft. Mit Beschluss v. 6. August 1998 verfugte das Gericht gem. Art. 89 codigo penal, die verbleibende Restfreiheitsstrafe durch die Ausweisung (der Beschuldigten) ftlr die Dauer von funf Jahren aus dem nationalen Hoheitsgebiet zu ersetzen, verbunden mit der Mahnung, dass B im Falle einer Wiedereinreise nach Spanien die ihr auferlegte Freiheits98 99
100 101
Plockinger/Leidenmuhler, wistra 2003, 81, 87 f. Vgl. BGHSt 46, 187 = NStZ 2 0 0 1 , 163 = StV 2 0 0 1 , 262, 2 6 3 ; Plockinger/Leidenmuhler, wistra 2003, 8 1 , 87, Satzger, Europaisierung, S. 690 f; Schomburg, StV 1997, 383, 384; Schomburg/Lagodny, IRhSt, Art. 54 SDU, Rn. 2 1 . So OLG Saarbrucken StV 1997, 359; krit. hierzu Schomburg, StV 1997, 383, 384. Plockinger/Leidenmuhler, wistra 2003, 81, 88.
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strafe zu verbuBen hatte. B wurde am 19. August 1998 in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Das AG Miinchen erlieB am 29. September 1999 wegen derselben Tat einen Haftbefehl gegen die untergetauchte B. Am 26. Marz 2001 wurde B durch Zielfahnder des LKA Miinchen in Wiesbaden ausfindig gemacht und sodann in Untersuchungshaft genommen. Nachdem der von B eingelegten Haftbeschwerde vom Haftrichter des AG Miinchen nicht abgeholfen wurde, hob das LG Munchen I mit Beschluss v. 24. April 2001 den Haftbefehl auf. Hiergegen richtete sich die weitere Beschwerde der Staatsanwaltschaft Munchen II, iiber die das OLG Munchen zu entscheiden hatte. Frage: Steht die in Spanien erfolgte Verurteilung der B dem Erlass eines Haftbefehls in Deutschland entgegen?
Losungshinweise zu Fall 7: Der fur den Erlass eines Haftbefehls gem. § 112 I 51 StPO vorausgesetzte dringende Tatverdacht muss sich auf eine prozessual verfolgbare, rechtswidrig und schuldhaft begangene Tat beziehen102. Ein deutscher Strafanspruch wegen des von B im Ausland begangenen vorsatzlichen Totungsdelikts lasst sich aus § 7 II Nr. 1 StGB i. V. m. § 211 StGB bzw. § 212 StGB ableiten. Fraglich ist, ob die auslandische Aburteilung ilber Art. 54 SDU eine Sperrwirkung auslost mit der Folge, dass die Tat in Deutschland nicht mehr verfolgbar ist. Das OLG Munchen verwarf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft als unbegrimdet. Der Senat stutzt seinen - die Aufhebung des Haftbefehls bestatigenden Beschluss maBgeblich auf die Bestimmung des Art. 54 SDU, die nach Auffassung des Senats einer erneuten Verfolgung der Beschuldigten wegen des von ihr am 11. Oktober 1996 in Spanien begangenen Totungsdelikts entgegenstehe. Diese Entscheidung verdient im Ergebnis Beifall103, wie die nachfolgende Subsumtion zeigt: Sowohl die Bundesrepublik Deutschland als auch das Konigreich Spanien sind 52 Vertragsparteien des SDU. Auch stellt das in einem formlichen Verfahren erlassene Gerichtsurteil zweifellos eine ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU dar. Die von dem Geschworenengericht verhangte Sanktion - hier: Freiheitsstrafe von fiinf Jahren - ist nicht ,,bereits vollstreckt" worden, da dieses Vollstreckungsmoment nur bei vollstandiger VerbuBung einer Gefangnisstrafe oder nach Erlass einer Bewahrungsstrafe erfullt ist (vgl. Rn. 45). B hat jedoch unter Anrechnung der Untersuchungshaft weniger als zwei Jahre Haft verbiiBt. Bei dem erfolgten Procedere kann auch nicht davon gesprochen werden, dass die Sanktion ,,gerade vollstreckt" wird, wie dies etwa bei einer Freiheitsstrafe der Fall ist, deren Vollstreckung von Anfang an oder nach TeilverbilBung zur Bewahrung ausgesetzt worden ist (Rn. 46). Vielmehr wurde die weitere Vollstreckung der verhangten Sanktion abgebrochen und durch die Ausweisung der Beschuldigten aus dem spanischen Hoheitsgebiet ersetzt. Nach alledem hangt die Entstehung eines transnationalen Verfahrenshindernisses von der entscheidenden Frage ab, ob die Sanktion ,,nach dem Recht des Urteilsstaates nicht mehr vollstreckt werden kann".
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Vgl. nur Boujong, KKStPO, 5. Aufl., 2003, § 112 Rn. 4 m. w. N. Vgl. hierzu Hecker, StV 2002, 71 ff.
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a) Wortlautauslegung 53 Ob das dritte Vollstreckungselement erfullt ist, kann mit einer blofien Wortlautauslegung nicht zweifelsfrei entschieden werden. Einerseits kann man die Klausel ,,nach dem Recht des Urteilsstaat nicht mehr vollstreckt werden kann" als nicht erfullt ansehen, da die weitere Vollstreckung der gegen B verhangten Freiheitsstrafe - anders als in den (typischen) Fallen einer Amnestie, Begnadigung oder Vollstreckungsverjahrung — nach spanischem Recht nicht schlechthin ausgeschlossen, sondern nur unter der Bedingung ausgesetzt ist, dass B innerhalb der Funf-JahresFrist nicht wieder nach Spanien einreist. Auf der anderen Seite lasst sich argumentieren, das in Art. 54, 3. Var. SDU beschriebene Erfordernis sei gegeben, weil Spanien sich durch die Ausweisung der B der faktischen Moglichkeit zur weiteren Strafvollstreckung begeben habe und die einzige Bedingung fur eine Fortsetzung der Vollstreckung - die Einreise der B in spanisches Hoheitsgebiet - dem Willen der B unterstellt habe. Da beide - zu gegensatzlichen Ergebnissen fuhrenden Auslegungsmoglichkeiten vom Wortlaut des Art. 54 SDU gedeckt sind, kommt abermals der teleologischen Interpretation ausschlaggebende Bedeutung zu. b) Teleologische Auslegung 54 Begreift man Art. 54 SDU als Gradmesser und Katalysator der strafrechtlichen Integration Europas, muss die Auslegung des Art. 54 SDU von einer grofitmoglichen Toleranz und Akzeptanz anderer Rechtsordnungen im Schengener Rechtsraum ausgehen104. Es gilt, der im Verurteilungsstaat getroffenen Entscheidung groBtmoglichen Respekt entgegenzubringen und zur Anerkennung im Inland zu verhelfen. Hierzu gehort die Bereitschafit, etwa bestehende abweichende Rechtsgrundsatze und Gerechtigkeitsvorstellungen, die in der inlandischen Justizpraxis moglicherweise zu einer anderen Behandlung der im Ausland erledigten Strafsache gefuhrt hatten, in einem justiziell immer starker zusammenwachsenden Europa zurucktreten zu lassen. Ftir die Losung von Fall 7 bedeutet dies, dass bei wertender Betrachtung die von dem spanischen Gericht verfugte Ausweisung der Beschuldigten der Gewahrung einer Strafaussetzung zur Bewahrung bzw. einem Gnadenerweis — beides anerkannte Anwendungsfa'lle des Art. 54 SDU - gleichzustellen sind. Die teleologische Auslegung des Art. 54 SDU spricht somit dafur, das dritte Vollstreckungselement bereits dann zu bejahen, wenn der Verurteilungsstaat den Verurteilten ausweist und die Vollstreckung der verhangten Freiheitsstrafe mit der MaBgabe abbricht, dass diese nur im Falle seiner erneuten Einreise fortgesetzt werden kann. Losungsvorschlag zu Fall 7: Das transnationale Doppelbestrafungsverbot steht dem Erlass eines Haftbefehls gegen B in Deutschland entgegen.
104
In diesem Sinne auch EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Ziff. 33); Hecker, StV 2001, 306, 309; Jung, StV 1990, 509, 517; Lagodny, NStZ 1997, 265, 266; Landau, Sollner-FS, S. 627, 630, 633.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU
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IV. Tat beg riff und Reichweite der materiellen Rechtskraft Der Verfahrensgegenstand, auf den sich der grenztiberschreitende Strafklage- 55 verbrauch bezieht, ist die ,,abgeurteilte Tat". Es stellt sich somit die Frage, wie der in Art. 54 SDU genannte Tatbegriff05 zu bestimmen ist. In Betracht kommt das Abstellen auf den Tatbegriff des Erstverfolgerstaates. Denkbar ware aber auch die Entwicklung eines eigenstandigen ,,europaischen" Tatbegriffs106. In der Literatur ist des Weiteren vorgeschlagen worden, wenigstens die materielle Rechtskraft eines Verfahrensabschlusses nach ,,europaischen" Mindestanforderungen zu bestimmen107. So soil anhand der folgenden Kriterien ein Kanon der unter Art. 54 SDU subsumierbaren Verfahrensabschltisse zusammengestellt werden: - Reichweite der Kognitionspflicht (Pflicht, die angeklagte Tat aufzuklaren), - Ausgestaltung der Sachverhaltsaufklarung (milndliche Verhandlung oder Entscheidung nach Aktenlage), - Erfordernis einer Begrilndung. Legt man diese Kriterien zugrunde, so kame etwa einer staatsanwaltlichen Einstel- 56 lungsverfiigung gem. § 153 a StPO keine transnationale Sperrwirkung gem. Art. 54 SDU zu, weil die Divergenz der fur die materielle Rechtkraftfahigkeit aufgestellten Kriterien im Verhaltnis zum gerichtlichen Sachurteil zu gravierend erscheint108. Dieser Vorschlag verdient keinen Beifall. Mit seiner Orientierung an der materiellen Rechtskraft strafgerichtlicher Sachurteile lauft er Gefahr, sonstige Formen strafprozessualer Verfahrensabschliisse, denen im Schengener Rechtsraum eine hohe Praxisrelevanz zukommt, vom Anwendungsbereich des Art. 54 SDU weitgehend auszuklammern. Dies stttnde mit der Funktion des transnationalen Doppelbestrafungsverbots als rechtsstaatliches Korrektiv gegenilber einer international-arbeitsteilig operierenden Strafverfolgung nicht in Einklang. Das Verbot der Doppelbestrafung soil - wie der EuGH in seinem Urteil v. 11. Februar 2003 hervorhebt109 - gerade auch solchen Beschuldigten zugute kommen, deren Straftaten in vereinfachten Erledigungsformen geahndet werden konnen. Es erscheint daher verfehlt, nur solchen Verfahrensabschlussen eine Sperrwirkung i. S. d. Art. 54 SDU zuzuerkennen, die nach den oben aufgefuhrten Kriterien qualitativ einem nach mundlicher Hauptverhandlung ergehenden gerichtlichen Sachurteil entsprechen oder nahe kommen. 105
106 107 108 109
Vgl. zur Problematik des Tatbegriffes Grotz, StraFO 1995, 102, 103; Plockinger/Leidenmuhler, wistra 2003, 81, 86 f.; Schomburg, NJW 2000, 1833, 1834 f.; Schomburg/Lagodny, IRhSt, Art. 54 SDU, Rn. 14; Stein, Europaisches tie bis in idem, S. 183 ff.; van den Wyngaert, Revue Internationale de Droit Penal 1999, 35, 80 ff.; van den Wyngaert/Stessens, International and Comparative Law Quarterly 1999, 779, 788 ff. Bose, GA 2003, 744, 758 ff. BohnertlLagodny, NStZ 2000, 636, 640; RadtkelBusch, NStZ 2003, 281, 286 f. So RadtkelBusch, NStZ 2003, 281, 286 f. gegen EuGH NJW 2003, 1173 ff. EuGH NJW 2003, 1173, 1174 (Rz. 40).
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Nach hier vertretener Ansicht erfordert eine an Sinn und Zweck des Art. 54 SDU orientierte Auslegung weder die Bildung eines ,,europaischen" Tatbegriffs noch die Aufstellung ,,europaischer" Kriterien zur Bestimmung der materiellen Rechtskraft. Das transnationale Doppelbestrafungsverbot zielt darauf ab, den Tater im gesamten Schengener Rechtsraum so zu stellen, wie er im Erstverfolgerstaat steht. Dieses Ziel wird bereits durch die gegenseitige Anerkennung rechtskraftbewirkender Verfahrensabschlusse erreicht (vgl. zu diesem Strukturpinzip § 10 Rn. 39 ff). Daraus folgt, dass die Definitionsmacht iiber Verfahrensgegenstand (Tatbegriff) und Reichweite der strafprozessualen Erledigungswirkung eines rechtskraftigen Verfahrensabschlusses (materielle Rechtskraft) allein beim Erstverfolgerstaat liegt110. Solange es in dem Europa der Europaischen Union lediglich eine Koexistenz nationaler Strafrechtssysteme und kein unionsweit vereinheitlichtes Straf- und Strafprozessrecht gibt, liegt es in der Natur der Sache, dass der Erstverfolgerstaat die strafprozessualen Erledigungsformen sowie deren jeweilige materielle Rechtskraft festlegt und damit letztlich die Reichweite des in Art. 54 SDU verankerten unionsweiten ,,ne bis in idem" bestimmt. In Fall 1 (Rn. 1) steht das Urteil des AG Offenburg gem. Art. 54 SDU auch einer erneuten strafrechtlichen Verfolgung in Frankreich wegen der in StraBburg begangenen Tat entgegen. Abzustellen ist auf den im Erstverfolgerstaat (Deutschland) geltenden Tatbegriff und auf die nach dortigem Recht eintretende - einen uneingeschrankten Strafklageverbrauch bewirkende - materielle Rechtskraft. Den franzosischen Justizbehorden ist es im Hinblick auf das Art. 54 SDU innewohnende Prinzip der gegenseitigen Anerkennung verwehrt, sich auf einen moglicherweise engeren Tatbegriff des franzosischen Rechts zu berufen.
58 Fall 8 (Variante 1): Wie Fall 1 (Rn. 1) jedoch mit folgender Abwandlung: Das AG Offenburg erlasst gegen A einen Strafbefehl wegen Fahrens ohne Fahrerlaubnis. A lasst die Einspruchsfrist verstreichen und zahlt die ihm auferlegte Geldstrafe. Variante 2: Das AG Offenburg stellt das Verfahren gegen A gem. § 153 a II StPO nach Zahlung einer GeldbuBenauflage endgultig ein. Spater wird A in Frankreich festgenommen. Frage: Kann A von der franzosischen Justiz wegen des in StraBburg begangenen Bankuberfalles verfolgt werden?
1. Deutscher Strafbefehl und Art. 54 SDU 59 Losungshinweise zu Fall 8 (Variante 1): Nach Ablauf der Einspruchsfrist steht der Strafbefehl einem Urteil gleich (§410 III StPO) und entfaltet deshalb wie dieses eine unbeschrankte materielle Rechtskraftwirkung. Als verfahrensabschlieBende und rechtskraftbewirkende Entscheidung, die in Deutschland zu einem Verbrauch der Strafklage ftihrt, stellt der Strafbefehl eine ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU dar (Rn. 41). Zwar lasst das deutsche Recht bei Verfahrenserledigungen durch Strafbefehl - ilber § 362 StPO hinausgehend - eine Wiederaufhahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten zu, wenn neue Beweismittel oder Tatsachen beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den 110
MuKoStGB/Ambos, Vor §§ 3-7 Rn. 76; Ebensperger, OJZ 1999, 171, 183; Hecker, StV 2001, 306, 309; Lagodny, NStZ 1997, 265, 266;-Satzger, Europaisierung, S. 691; Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 189 ff.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU
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Mheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begrunden (§ 373 a StPO). Die Befugnis, die Rechtskraft des Strafbefehls auf diesem Wege zu durchbrechen, steht aber nur dem zustandigen deutschen Gericht zu. Am Ende einer angeordneten Wiederaufhahme des Verfahrens und einer erneuten gerichtlichen Hauptverhandlung (vgl. § 370 II StPO) steht ein Verfahrensabschluss in Urteilsform, der an die Stelle des (aufgehobenen) rechtskraftigen Strafbefehls tritt und gem. Art. 54 SDU einer Verfolgung derselben Tat im Ausland entgegensteht. Losungsvorschlag zu Fall 8 (Variante 1): A kann im Hinblick auf den in Deutschland gegen ihn erlassenen rechtskraftigen Strafbefehl von der franzosischen Justiz nicht wegen des in StraBburg veriibten Bankiiberfalls verfolgt werden.
2. Einstellung des Verfahrens nach Erfullung einer Auflage Losungshinweise zu Fall 8 (Variante 2): Bei dem vom AG Offenburg erlassenen 60 Beschluss liber die endgiiltige Einstellung des Verfahrens gem. § 153 a II StPO handelt es sich zwar grundsatzlich um eine ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU (vgl. Rn. 41). Zu beachten ist jedoch, dass dem Einstellungsbeschluss nach § 153 a I S. 5 StPO lediglich eine eingeschrankte materielle Rechtskraftwirkung dergestalt zukommt, dass die Tat nicht mehr als Vergehen verfolgt werden kann. Da der von A in StraBburg verilbte Bankiiberfall nach deutschem Strafrecht ein Verbrechen darstellt (vgl. § 249 bzw. §§ 253, 255, 12 I StGB), besteht in Deutschland kein Verbot erneuter Strafverfolgung wegen derselben Tat. A wird von Art. 54 SDU unionsweit nur so gestellt, wie er im Erstverfolgerstaat stilnde. In Deutschland besteht - wie gezeigt - kein Verbot, A wegen des Banktiberfalles in StraBburg zu verfolgen. Losungsvorschlag zu Fall 8 (Variante 2): Art. 54 SDU steht somit einer Verfolgung des A durch die franzosische Justiz nicht entgegen. Die soeben am Beispiel des § 153 a II StPO aufgezeigten Grundsatze gelten 61 entsprechend auch fur andere Verfahrensabschliisse, die lediglich zu einem beschrankten Strafklageverbrauch fuhren und daher iiber Art. 54 SDU nur ein beschranktes transnationales Doppelbestrafungsverbot zu begrunden vermogen. Zu denken ist etwa an den Nichteroffnungsbeschluss (§§ 204, 211 StPO), an die Verwerfung eines Klageerzwingungsantrages (§ 174 StPO), an die gerichtliche Einstellung des Verfahrens gem. § 153 II StPO111 oder an die nach franzosischem Recht von der Anklagekammer eines Appelationsgerichtshofes getroffene ,,ordonnance de non lieu par des raisons de fait"112 (untersuchungsrichterliche Verfahrensbeendigung wegen nicht hinreichenden Tatverdachts aus tatsachlichen Grtinden113). Keine materielle Rechtskraft und damit auch keinen transnationalen Strafklageverbrauch entfalten die staatsanwaltliche Einstellung des Verfahrens gem. Zur (umstrittenen) Reichweite des Strafldageverbrauchs bei § 153 II StGB vgl. BGH NStZ 2004, 218; abl. Heghmanns, NStZ 2004, 633, 635. BGHSt 45, 123; abl. Kiihne, StV 1999, 480; ders., JZ 1998, 876; zust. Satzger, Europaisierung, S. 691 f. und Schomburg, NJW 2000, 1833, 1836. Vgl. hierzu ausflihrlich Stein, Europaisches ne bis in idem, S. 365 ff.
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§ 170 II StPO (Einstellung mangels hinreichenden Tatverdachts) bzw. § 153 I StPO (Einstellung aus Opportunitatsgriinden)114.
V. Anwendbarkeit des Art. 54 SDU auf Entscheidungen im Buftgeldverfahren 62 Fall 9 (Variante 1): A begeht auf deutschem und franzosischem Staatsgebiet eine Trunkenheitsfahrt, die nach deutschem und franzosischem Recht eine Straftat darstellt. Wahrend dieser Fahrt wird er in einer deutschen Ortschaft ,,geblitzt". Noch bevor A in Deutschland oder Frankreich wegen der Trunkenheitsfahrt strafrechtlich verfolgt wird, verurteilt ihn ein deutsches Gericht wegen Geschwindigkeitsiibertretung ohne mundliche Verhandlung durch Gerichtsbeschluss zur Zahlung einer GeldbuBe. Variante 2: Der von einer deutschen Verwaltungsbehorde wegen Geschwindigkeitsuberschreitung gegen A erlassene BuBgeldbescheid wird rechtskraftig. Frage: Steht Art. 54 SDU einer Strafverfolgung des A wegen Trunkenheitsfahrt durch die franzosische Justiz entgegen?
1. Verurteilung zu einer Buligeldzahlung 63 Losungshinweise zu Fall 9 (Variante 1): Die durch rechtskraftiges Urteil oder Beschluss (§ 72 OWiG) eines deutschen Gerichts erfolgte Verurteilung eines Betroffenen zur Zahlung einer GeldbuBe wegen einer von ihm begangenen Ordnungswidrigkeit bzw. der diesbezugliche Freispruch stehen gem. § 84 II OWiG einer Verfolgung derselben Tat als Straftat entgegen. Hieran ankniipfend bewirkt Art. 54 SDU den Verbrauch der Strafklage im gesamten Schengener Rechtsraum115. Zwar ist gem. § 85 III S. 1 OWiG eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Betroffenen unter den in § 362 StPO genannten Voraussetzungen zu dem Zweck zulassig, die Verurteilung nach einem Strafgesetz herbeizufuhren. Dariiber hinaus ist eine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Verurteilten gem. § 85 III S. 2 OWiG bereits dann zulassig, wenn neue Beweismittel oder Tatsachen beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den fruheren Beweisen geeignet sind, die Verurteilung wegen eines Verbrechens zu begrimden. Die Befugnis, die Rechtskraft des Gerichtbeschlusses auf diesem Wege zu durchbrechen, steht aber nur dem zustandigen deutschen Gericht (§ 85 IV OWiG) zu. Am Ende einer angeordneten Wiederaufnahme des Verfahrens und einer erneuten gerichtlichen Hauptverhandlung steht somit ein Verfahrensabschluss in Urteilsform, der gem. Art. 54 SDU die Verfolgung derselben Tat im Ausland verbietet. Losungsvorschlag zu Fall 9 (Variante 1): Art. 54 SDU steht der Strafverfolgung des A in Frankreich entgegen.
Nicht gefolgt werden kann daher dem Strafgericht Eupen, wistra 1999, 479, das der mit richterlicher Zustimmung erfolgten staatsanwaltlichen Einstellung gem. § 153 I StPO transnationale Erledigungswirkung beimisst; zu Recht abl. RadtkelBusch, NStZ 2003, 281, 286 und Satzger, Europaisierung, S. 692. Vgl. Hecker StV 2001, 306, 310.
B. Auslegung und Anwendungsbereich des Art. 54 SDU
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2. Erledigungswirkung eines rechtskraftigen Bullgeldbescheids Losungshinweise zu Fall 9 (Variante 2): Schwieriger zu beurteilen ist die trans- 64 nationale Erledigungswirkung des von einer deutschen Behorde in Form eines rechtskraftigen Bufigeldbescheids verhangten BuBgeldes. Nach hier vertretener Auffassung stellt dieser Erledigungsakt - obgleich von einer Verwaltungsbehorde erlassen (Rn. 30, 41) - eine ,,rechtskraftige Aburteilung" i. S. d. Art. 54 SDU dar116. Filr eine Gleichstellung des BuBgeldbescheids mit einer strafjprozessualen Aburteilung spricht sein eindeutig repressiv-punitiver Charakter117. Zu beachten ist jedoch die nur eingeschrankte materielle Rechtskraft des BuBgeldbescheids. Nach deutschem Recht (§ 84 I OWiG) steht der BuBgeldbescheid nur der erneuten Verfolgung derselben Tat unter dem Aspekt einer Ordnungswidrigkeit entgegen. Somit besteht auch nur ein beschrankter transnationaler Strafklageverbrauch. Beispielsweise konnte A, wenn er die Trunkenheitsfahrt auf osterreichischem Staatsgebiet begangen hatte, nicht etwa mit einem Straferkenntnis - einer buBgeldahnlichen Verwaltungssanktion - geahndet werden (vgl. hierzu Rn. 29 f.). Kein transnationales Verfolgungshindernis besteht indes, wenn dieselbe Tat nach dem Recht des Zweitverfolgerstaats als Straftat gewertet wird. Denn Art. 54 SDU stellt A nur so, wie er im Erstverfolgerstaat stunde. In Deutschland kann A trotz des rechtskraftigen BuBgeldbescheids wegen Trunkenheitsfahrt (§316 StGB) strafrechtlich verfolgt werden. Losungsvorschlag zu Fall 9 (Variante 2): Der in Deutschland erlassene rechtskraftige BuBgeldbescheid stellt kein nach Art. 54 SDU zu beriicksichtigendes Hindernis fur die franzosische Justiz dar, A wegen der in Frankreich begangenen Trunkenheitsfahrt strafrechtlich zu verfolgen.
VI. Zur Frage der Weitergeltung mitgliedstaatlicher Erklarungen und Vorbehalte nach der Uberfiihrung des SDU in den Rahmen der EU Nach Art. 55 I SDU ist es den Vertragsparteien gestattet, bei der Ratifikation, der 65 Annahme oder der Genehmigung des Ubereinkommens in bestimmten Fallen Vorbehalte zu erklaren mit der Folge, dass sie nicht gem. Art. 54 SDU gebunden sind. Die Bundesrepublik Deutschland hat bei der Ratifikation des SDU von dieser Moglichkeit Gebrauch gemacht118. So hat sie erklart, dass sie durch Art. 54 SDU u. a. nicht gebunden ist, wenn die Tat, die dem auslandischen Urteil zugrunde lag, ganz oder teilweise in ihrem Hoheitsgebiet begangen wurde oder wenn die Tat, die dem auslandischen Urteil zugrunde lag, eine bestimmte Strafvorschrift (vor allem Straftaten gegen die innere und auBere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland) erftillt hat. Bereits an anderer Stelle wurde dargelegt, dass mit dem am 1. Mai 1999 in 66 Kraft getretenen Vertrag von Amsterdam der gesamte Schengen-Besitzstand (,,Schengen-acquis") in den rechtlichen und institutionellen Rahmen der Europai116 117 118
Hecker, StV 2001, 306, 310; a. A. KKOWiG/Bohnert, Einleitung Rn. 136. Vgl. auch EGMR EuGRZ 1985, 62 (,,6tztiirk/Deutschland"). BGB1. II 1994, 631; vgl. hierzu SchomburglLagodny, IRhSt, Art. 55 SDU Rn. 1.
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schen Union einbezogen wurde (§ 5 Rn. 71). Die formale Abwicklung erfolgte durch ein dem Vertrag beigefllgtes Protokoll, mit dem die Schengen-Vertragsparteien primarrechtlich ermachtigt wurden, untereinander eine engere Zusammenarbeit im Rahmen des Schengen-Besitzstandes, der in einem Anhang zum Protokoll definiert wird, einzurichten (Schengen-Protokoll). Das Schengen-Protokoll sah vor, dass der Rat durch einstimmigen Beschluss die Rechtsgrundlage fur jede Bestimmung und jeden Beschluss festzulegen hat, die den SchengenBesitzstand bilden. Diese Einordnung hat der Rat im Wege des Beschlusses 1999/436/EG v. 20. Mai 1999 zur Festlegung der Rechtsgrundlagen fur die einzelnen Bestimmungen und Beschlusse, die den Schengen-Besitzstand bilden, vorgenommen119. 67 Es bestehen gute Griinde fur die Annahme, dass die von Deutschland und anderen Schengen-Vertragsstaaten abgegebenen einseitigen Erklarungen (Vorbehalte) mit der Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen (dritte Saule) der EU in Wegfall geraten sind120. Denn nach dem Wortlaut des im Anhang zum Schengen-Protokoll im Einzelnen spezifizierten Schengen-Besitzstandes sind einseitige Erklarungen, die erst anlasslich der Ratifikation eines Beitrittsubereinkommens von einer Vertragspartei abgegeben wurden, nicht Bestandteil des Schengen-acquis. Auch eine Analyse des Ratsbeschlusses v. 20. Mai 1999 spricht gegen die Weitergeltung einzelstaatlicher Erklarungen gem. Art. 55 SDU. Die Anhange dieses Beschlusses listen auBerst detailliert auf, welche Erklarungen und Beschliisse zum Schengen-Besitzstand gehoren. Es findet sich aber kein einziger Hinweis auf die Fortgeltung einzelstaatlicher Vorbehalte. Folglich ist davon auszugehen, dass die mit der Ratifikation erklarten Vorbehalte gem. Art. 55 SDU durch die Uberfuhrung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der EU ihre Geltung verloren haben. Dies entspricht auch dem mit der Uberfuhrung des Schengen-Besitzstandes in die Unionsordnung verfolgten Ziel, die europaische Integration zu vertiefen und der EU die Moglichkeit zu geben, sich schneller zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln.
C. Ausblick 68 In dem derzeit 46 Mitgliedstaaten umfassenden Europa des Europarates existiert bereits ein Rechtsraum, in dem auf der Basis der EMRK bestimmte strafrechtsrelevante Mindestgarantien gewahrleistet werden (vgl. § 3 Rn. 18 ff). Diese bildet gleichsam den Nucleus eines europaischen Prozessrechtsstandards. Das transnationale Doppelbestrafungsverbot fand bislang jedoch noch keine Aufnahme in den Kreis konventionsgeschutzer Individualrechte (Rn. 3). Immerhin existiert mit Art. 54 SDU ein unionsweites (teileuropaisches) transnationales Doppelbestrafungsverbot, das sich zu einem verfahrensrechtlichen Motor fur die Strafrechtsintegration innerhalb der EU entwickeln kann. Voraussetzung hierfur ist 119 120
ABlEG1999Nr. L 176, S. 17 ff. Zutr. Plockinger/Leidenmuhler, wistra 2003, 81, 82 f.
D. Literaturhinweise
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freilich, dass die nationalen Gerichte in geeigneten Fallen von der durch den Amsterdamer Vertrag geschaffenen Moglichkeit Gebrauch machen, eine Vorabentscheidung des EuGH herbeizufllhren. Die supranational Gerichtsbarkeit hat es dann in der Hand, das transnational Doppelbestrafungsverbot so zu formen, dass seine integrationsfordernden Effekte weitestmoglich zum Tragen kommen. Die den Vertragsparteien abzuverlangende gegenseitige Akzeptanz auslandischer Verfahrenserledigungen mag fur eine gewisse Ubergangszeit dazu fiihren, dass Verfolgungsbehorden und Verteidiger danach trachten, die Abwicklung einer Strafsache in dem aus jeweiliger Sicht giinstigsten Rechtssystem zu erreichen. Es steht jedoch nicht zu befurchten, dass sich die nationalen Strafrechtssysteme von den Prozessbeteiligten auf Dauer in dieser Weise gegeneinander ausspielen lassen. Mittel- bis langfristig wird gerade die Existenz eines weitreichenden Doppelbestrafungsverbotes zu einer Angleichung der Sanktionsbreiten im Rechtsraum der Vertragsparteien und damit zu einer Vertiefung der europaischen Integration im Bereich der Strafrechtspflege beitragen121.
D. Literaturhinweise Bose, Der Grundsatz ,,ne bis in idem" in der Europaischen Union, GA 2003, 744 Dannecker, Die Garantie des Grundsatzes ,,ne bis in idem" in Europa, KohlmannFestschrift, 2003, S. 593 Endrifi/Kinzig, Nachdenken tiber ein erweitertes ,,Ne bis in idem", StV 1997, 665 Hecker, Das Prinzip ,,Ne bis in idem" im Schengener Rechtsraum (Art. 54 SDU), StV 2001, 306 ders., Strafklageverbrauch gem. Art. 54 SDU bei Aburteilung eines Totungsdelikts in Spanien - Anm. zu OLG Munchen StV 2001, 495; StV 2002, 71 Jung, Zur Internationalisierung des Grundsatzes ,,ne bis in idem", Schuler-Springorum-FS, 1993, S. 493 Kiihne, Ne bis in idem in den Schengener Vertragsstaaten, JZ 1998, 876 Lagodny, Teileuropaisches ,,ne bis in idem" durch Art. 54 SDU, NStZ 1997, 265 PlockingerlLeidenmuhler, Zum Verbot doppelter Strafverfolgung nach Art. 54 SDU, wistra 2003, 81 Radtke/Busch, Transnationaler Strafklageverbrauch in der Europaischen Union, NStZ 2003, 281 Schomburg, Anmerkung zu BGH StV 1999, 244; StV 1999, 246 (,,transactie") ders., Die Europaisierung des Verbots doppelter Strafverfolgung - Ein Zwischenbericht, NJW2000, 1833 Stein, Ein Meilenstein fur das europaische ,,ne bis in idem", NJW 2003, 1162 dies., Zum europaischen ne bis in idem nach Artikel 54 des Schengener Durchfuhrungsubereinkommens, 2004, passim Thym, Anmerkung zu EuGH NJW 2003, 1173 (= NStZ 2003, 332), NStZ 2003, 334 VogellNorouzi, Europaisches ,,ne bis in idem" - EuGH, NJW 2003, 1173, JuS 2003, 1059 121
Zu mdglichen Leitlinien fur eine neue europaweite ,,ne bis in idem"-Regelung \g Stein, Europaischen ne bis in idem, S. 492 ff.
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E. Rechtsprechungshinweise EuGH NJW 2003, 1173 f. = NStZ 2003, 332 = StV 2003, 201 ff. (,,transactie und Einstellunggem. § 153aStPO) BVerfGE 75, 1 (Zur Geltung des Grundsatzes ,,ne bis in idem" im allgemeinen Volkerrecht) BGHNStZ 1999, 250 = StV 1999, 244 (,,transactie") BGHSt 45, 123 = StV 1999, 478 (,,ordonnance den non lieu") OLG Miinchen, StV 2001, 495 (Ausweisung mit Abbruch der Vollstreckung nach Aburteilung eines Totungsdelikts in Spanien) BayObLG StV 2001, 263 (osterreichisches Straferkenntnis) OLG Hamburg wistra 1996, 193 (,,transactie") LG Hamburg wistra 1996, 359 (,,transactie")
F. Zusammenfassung von § 13 69 Volker- und Gemeinschaftsrecht kennen ebenso wie die meisten nationalen Rechtsordnungen (vgl. nur Art. 103 III GG) lediglich ein rechtsordnungsinternes Verbot doppelter Strafverfolgung und Bestrafung wegen derselben Tat. Das in Art. 54 SDU verankerte transnational Doppelbestrafungsverbot (,,ne bis in idem") erstreckt die Erledigungswirkung der in einem Erstverfolgerstaat getroffenen ,,rechtskraftigen Aburteilung" einer Tat auf alle Vertragsparteien - derzeit insgesamt 27 europaische Staaten - und begriindet damit ein unionsweites Verfahrenshindernis. Erfasst sind neben den von einem Gericht nach Durchfuhrung einer Hauptverhandlung in Urteilsform gefallten Verurteilungen und Freispruchen auch sonstige Verfahrensabschlusse, die nach dem Recht des Erstverfolgerstaates materielle Rechtkraft entfalten. Hierzu gehoren exemplarisch der deutsche Strafbefehl, die Einstellung des Verfahrens gem. §§ 153 II, 153 a StPO, der Nichteroffnungsbeschluss gem. §§ 203, 210 StPO, der rechtskraftige BuBgeldbescheid, die niederlandische oder belgische ,,transactie" sowie das osterreichische Straferkenntnis. Zu beachten ist jedoch, dass in den Fallen, in denen die materielle Rechtskraft des Verfahrensabschlusses beschrankt ist, auch nur ein beschrankter transnationaler Strafklageverbrauch eintreten kann. Die Defmitionsmacht uber den Verfahrensgegenstand (Tatbegriff) und die Reichweite der strafprozessualen Erledigungswirkung eines rechtskraftigen Verfahrensabschlusses (materielle Rechtskraft) liegt allein beim Erstverfolgerstaat. Im Falle einer Verurteilung ist des Weiteren zu priifen, ob eines der drei Vollstreckungselemente gegeben ist. Die von Deutschland und anderen Schengen-Vertragsstaaten gem. Art. 55 SDU abgegebenen Vorbehalte sind mit der Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der dritten Saule der EU in Wegfall geraten.
Teil IV Strafrechtlicher Schutz der finanziellen Interessen der EG
§ 14 Betrugsbekampfung durch Europaisches Strafrecht
A. Gemeinschaftsfinanzen als Angriffsflache fur kriminelle Praktiken Fall I 1 : Eine rumanische Tatergruppe hinterzog mindestens ECU 84,5 Mio. Eingangsabgaben, indem sie hochwertiges Rindfieisch bei der Einfuhr in die EG (hier: von Rumanien nach Deutschland) als ,,genieBbaren Schlachtabfall" (insbesondere Zwerchfellmuskulatur) deklarierte. Aufgrund der Zerkleinerung des Fleisches war eine serologische Untersuchung der Ware zum Zeitpunkt ihrer Einfuhr nicht moglich. Das Tauschungsmanover wurde aber durch eine Uberprufung der Plausibilitat der gemachten Angaben aufgedeckt. Die Tater hatten eine Einfuhrmenge von 10 870 Tonnen angeblicher Zwerchfellmuskulatur geltend gemacht. Da bei der Schlachtung eines Rindes maximal ein Kilogramm Zwerchfell anfallt, hatten 10,87 Mio. Rinder geschlachtet werden mtissen, um die angegebene Einfuhrmenge zu erreichen. Wenn die Angaben der Tater zutrafen, diirfte es in Rumanien keine lebenden Rinder mehr geben. Fall 2 2 : Mit Hilfe eines neuen biochemischen Untersuchungsverfahrens sind Karlsruher Zollfahnder Subventionsbetrugern auf die Schliche gekommen. Ein Importeur angeblich estnischer Butter hatte zu Unrecht Subventionen in Hohe von zwei Millionen Euro erhalten. Bei einer Untersuchung stellte sich heraus, dass die Butter nicht aus Estland kam. Die Fahnder hatten die eingefuhrte Butter mit der sog. Stabilisotopen-Analyse untersucht. Dabei werden Proben des landestypischen Erdbodens mit landwirtschaftlichen Produkten verglichen. Die Tests zeigten, dass die Milch fur die Butter nicht von estnischen Kuhen stammen konnte. Zudem war die Butter in Blocken von 25 Kilogramm verpackt - in Estland sind jedoch nur 20-Kilo-Blocke ublich.
I. Einfiihrung Die EG hat ein vitales Interesse an einer recht- und ordnungsgemaBen Vereinnahmung der ihr zustehenden Mittel und an einer ebensolchen Verausgabung. In alien einnahmen- und ausgabenrelevanten Bereichen bietet der EG-Haushalt indes breite Angriffsflachen fur betriigerische Praktiken (Rn. 9 ff.). Neben der EinbuBe materieller Ressourcen der EG bergen diese Angriffe - jedenfalls wenn sie gehauft auftreten - in bestimmten Wirtschaftssektoren die Gefahr von WettbewerbsMitgeteilt von Sieber, ZSchwStrR 114 (1996), S. 357, 363. Bericht in Sudkurier v. 15. April 2003.
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verzerrungen3. Sollte sich bei den Steuerzahlern der Eindruck bilden und verfestigen, dass ,,Brilssel" (scheinbar) tatenlos zusieht, wie Jahr fur Jahr horrende Summen aus dem ,,europaischen Subventionstopf in ,,unsichtbaren Kanalen" versickern, sind auch ideelle Schaden in Form eines dem europaischen Einigungsprozess abtraglichen Ansehensverlustes der Gemeinschaft nicht auszuschlieBen4. Der Schutz der EG-Finanzinteressen steht daher seit Jahren im Zentrum der strafrechtsrelevanten Aktivitaten auf Gemeinschaftsebene. Die Notwendigkeit, Angriffen auf die EG-Finanzen auch durch den Einsatz repressiv-strafrechtlicher Mafinahmen zu begegnen, wird heute im Grundsatz einhellig bejaht5. Mangels eigener Strafrechtsetzungskompetenz (§ 4 Rn. 101) kann die EG ihre finanziellen Interessen jedoch nicht selbst strafrechtlich sichern. Sie ist hierbei auf das oftmals luckenhafte und uneinheitliche Strafrecht der Mitgliedstaaten angewiesen6. Mit seinem ,,Mais-Urteil"7 (§ 7 Rn. 27 ff.) setzte der Gerichtshof im Jahre 1989 ein klares Signal. Das aus dem Loyalitatsgebot (Art. 10 EGV) abgeleitete Gleichstellungserfordernis (Assimilierungsprinzip) sowie das Gebot wirksamer, verhaltnismafiiger und abschreckender Sanktionen (,,Mindesttrias") fanden mit der deklaratorischen Bestimmung des Art. 280 EGV (ex-Art. Art. 209 a EGV) Eingang in das kodifizierte Primarrecht. Da das Assimilierungsprinzip nur eine begrenzte Rechtsangleichung ermoglicht, arbeitete die Kommission verstarkt daran, den Schutzstandard weiter auszubauen. Am 28. Juni 2000 legte die Kommission ein Konzept fur eine Gesamtstrategie zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften vor, das sich auf einen Zeitraum von funf Jahren (2001-2005) bezieht8. Als die vier entscheidenden Herausforderungen werden dabei eine umfassende Gesetzgebungspolitik im Bereich der Betrugsbekampfung, eine neue Kultur operativer Zusammenarbeit, ein organiibergreifendes Vorgehen zur Prevention und Bekampfung von Korruption sowie die Starkung der strafrechtlichen Dimension genannt. In institutioneller Hinsicht ist bereits mit der Schaffung eines eigenstandigen Amtes fur Betrugsbekampfung (OLAF)9, dessen Befugnisse neben der externen auch die interne - also auf Vorgange innerhalb der Kommission bezogene - administrative Betrugsaufklarung umfasst, eine neue Ara in der gemeinschaftsrechtlichen Betrugsbekampfung angebrochen10 (§ 4 Rn. 28 ff.). OLAF verfugt iiber die umfangreichsten Erfahrungen im Bereich des Schutzes der EG-Finanz-
Schwarzburg/Hamdorf, NStZ 2002, 617, 618; Sieber, ZRP 2000, 186, 187. Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 16 ff. Hecker, Kreuzer-Freundesgabe, S.181, 188; Hedtmann, EuR 2002, 122, 131 ff.; Heitzer, Punitive Sanktionen, S. 3 f.; Pache, Schutz der finanziellen Interessen der EG, passim; Sieber, ZRP 2000, 186, 187; WolffganglUlrich, EuR 1998, 616, 626 ff. Vgl. hierzu den rechtsvergleichenden Uberblick bei Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, S. 155 ff.; ders., ZStW 108 (1996), S. 577, 585 ff. EuGHE 1989, 2965 = EuZW 1990, 99. KOM (2000) 358 endg. Verordnung (EG) Nr. 1073/99 (AB1EG 1999 Nr. L 136, S. 1). OLAF= Office de la Lutte Antifraude. Glefi, EuZW 1999,618,621.
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interessen. Die Kommission weist in ihrem Jahresbericht zur Betrugsbekampfung darauf hin, dass im Jahre 2001 wichtige Schritte zur Konsolidierung des Betrugsbekampfungsamtes unternommen worden seien: zum einen durch die Einrichtung einer Direktion intelligence", welche sich durch den Auf- und Ausbau strategischer und operativer Analysen dafur einsetzen soil, die operative Strategie der Kommission zu verbessern und die Mitgliedstaaten bei der Festlegung ihrer Prioritaten fur die Betrugsbekampfung zu unterstutzen, zum anderen durch das neu geschaffene Referat ,,Richter und Staatsanwalte", das die justizielle Weiterverfolgung von betrugsrelevanten Untersuchungen in den Mitgliedstaaten sicherstellen und die reibungslose Zusammenarbeit zwischen OLAF und den nationalen Ermittlungsstellen fordern soil". Von besonderer Bedeutung ist die Ausgestaltung des materiellen Strafrechts der Mitgliedstaaten. Am 17. Oktober 2002 trat nach iiber siebenjahriger Ratifikationsphase das Ubereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (PIF-Konvention)12 nebst erstem Zusatzprotokoll13 betreffend Bestechung und Bestechlichkeit sowie einem weiteren Protokoll14, welches die Zustandigkeit des EuGH fur die Auslegung der PIF-Konvention festlegt, in Kraft. Es sieht ein einheitliches Betrugsstrafrecht bei betrugerischen Handlungen zum Nachteil der EG vor (Rn. 23 ff.). Man kann deshalb mit Recht davon sprechen, dass sich der Schutz der finanziellen Interessen der EG als Motor der Entwicklung eines Europaischen Strafrechts darstellt15.
II. Gemeinschaftsfinanzen Dass der strafrechtliche ,,Eigenschutz" zu einem vordringlichen Anliegen der Ge- 6 meinschaft geworden ist, hangt mafigeblich mit der Finanzreform der Gemeinschaften im Jahre 1970 zusammen16, insbesondere mit der Umstellung der Finanzierung von einer Fremdfinanzierung durch die EG-Mitgliedstaaten zu einem System der Eigenfinanzierung17. Derzeit beruht das Finanzierungssystem des Gemeinschaftshaushalts auf dem Ratsbeschluss v. 31. Oktober 1994 ilber das System der Eigenmittel der Europaischen Gemeinschaften18. 11
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KOM (2002) 348 endg., S. 10 f. Praktische Fallbeispiele einer erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen OLAF und den nationalen Behorden bei der Betrugsbekampfung werden auf S. 15 ff. aufgefuhrt. AB1EG 1995 Nr. C 316, S. 49 ; PIF=Protection des interets financiers. ABlEG1996Nr. C313, S. 2. AB1EG 1997 Nr.C 191, S. 1. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 270; Fromm, Finanzinteressen der EG; S. 6; Sieber, Corpus Juris, S. 4 ff. Vgl. hierzu Beschluss des Rates v. 21. April 1970 ilber die Ersetzung der Finanzbeitrage der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (AB1EG 1970 Nr. L 94, S. 9). Dannecker, Schutz der finanziellen Interessen der EG, S. 9, 14; ders., ZStW 108 (1996), S. 577; Wolf/gang/Ulrich, EuR 1998, 616, 617. AB1EG 1994 Nr. L 293, S. 9.
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1. Eigenmittel der EG 7 Die Eigenmittel der EG umfassen19: - Agrarabschopfungen: Agrarzolle, die auf Einfuhren von einer Gemeinsamen Marktorganisation unterliegenden Agrarerzeugnissen erhoben werden, - Zuckerabgaben: Produktionsabgaben, die im Rahmen der Gemeinsamen Marktorganisation fur Zucker vorgesehen sind und zur Stiitzung des Marktes verwendet werden, - ZoIIe: Einnahmen, die sich aus der Anwendung des Gemeinsamen Zolltarifs auf den Zollwert der aus Drittlandern eingefuhrten Waren ergeben, - Mehrwertsteuereigenmittel: Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines einheitlichen Satzes auf der nach den Gemeinschaftsvorschriften harmonisierten Mehrwertsteuerbemessungsgrundlage eines jeden Mitgliedstaats ergeben, - Bruttosozialprodukteigenmittel: Einnahmen, die sich aus der Anwendung eines jahrlich im Rahmen des Haushaltsverfahrens unter Beriicksichtigung aller sonstigen Haushaltseinnahmen festgelegten Satzes auf das Bruttosozialprodukt der Mitgliedstaaten ergeben. Es handelt sich hierbei um eine Einnahme zur Gewahrleistung des Haushaltsausgleichs, die es ermoglichen soil, den Gesamtbetrag der Zahlungsermachtigungen zu decken, die zur Finanzierung der in den Haushaltsplan eines gegebenen Haushaltsjahres eingesetzten Ausgaben erforderlich sind, - Sonstige Einnahmen: Einnahmen aus laufender Verwaltungstatigkeit der EG (z. B. aus Verkaufen, Vermietungen, Vergutungen fur erbrachte Leistungen, GeldbuBen und Zwangsgeldern).
2. Ausgaben der EG 8 Beziiglich der Ausgaben der EG enthalt das Primarrecht keine ausdrucklichen Vorgaben. Vielmehr folgt aus der Zuweisung einer Aufgabenkompetenz an die EG notwendig auch deren Befugnis, diese Aufgaben durch Einsatz entsprechender Mittel zu erfiillen. Die folgenden Ausgabenbereiche20 sind - wie die oben aufgefuhrten Einnahmen - potentielle Objekte strafwurdiger Angriffe auf die EGFinanzinteressen: - Agrarausgaben: Ausgaben zur Finanzierung der Gemeinsamen Agrarpolitik (Art. 32-38 EGV), insbesondere MaBnahmen der Marktregulierung, Erstattungen bei Ausfuhr in Drittstaaten und direkte Einkommensbeihilfen, - StrukturmaBnahmen: Ausgaben mit struktureller Zweckbestimmung zur Forderung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts innerhalb der EG (z. B. zur Entwicklung strukturschwacher Regionen, Entwicklung des landlichen Raumes, Forderung von Vorhaben im Bereich des Umweltschutzes),
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Vgl. hierzu WolffganglUlrich, EuR 1998, 616, 618 ff. Vgl. hierzu WolffganglUlrich, EuR 1998, 616, 621 ff.
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Interne Politiken: Ausgaben zur Finanzierung von Programmen in den Bereichen Bildung, Kultur, Jugendaustausch, Energiepolitik und Umwelt, Verbraucherschutz, transeuropaische Netze sowie Forschung und technologische Entwicklung, Externe Politiken: Ausgaben zur Finanzierung von MaBnahmen in Drittstaaten (z. B. Reformprogramme fur die mittel- und osteuropaischen Staaten, humanitare HilfsmaBnahmen, Beitrage zu Hilfsprogrammen internationaler Organisationen), Verwaltungsausgaben: Kosten fur Personal, Dienstgebaude, Material, Veroffentlichungen und sonstige Verwaltungsausgaben.
III. Deliktsformen und Taterstrukturen 1. Erscheinungsformen der EG-Betrugereien Wie die Erfahrungen in den vergangenen Jahren zeigen, bildet der EG-Finanzhaushalt offensichtlich eine attraktive Zielscheibe fur eine facettenreiche Vielzahl betrugerischer Praktiken, welche letztlich darauf abzielen, das Finanzaufkommen der EG zu schmalern21. Dabei sind auf der Einnahmenseite insbesondere die Zolle und Mehrwertsteuereinnahmen, auf der Ausgabenseite vor allem die Aufwendungen fur die Agrar- und Strukturpolitik (Subventionen, Erstattungen) betroffen22. Als Hauptursache fur auftretende UnregelmaBigkeiten wird haufig das planwirtschaftliche System staatlich gelenkter und geordneter Agrarmarkte genannt23. Die EG erhebt Agrarabschopfungen und Einfuhrzolle auf viele Waren aus Drittstaaten, um die niedrigen Weltmarktpreise kunstlich auf ihr Preisniveau anzuheben, damit die teureren EG-Produkte innerhalb des Europaischen Binnenmarktes iiberhaupt absetzbar sind. Fur die Ausfuhr von EG-Produkten werden dem Exporteur Erstattungen bezahlt, weil bestimmte Produkte auf dem Weltmarkt sonst nicht konkurrenzfahig waren. Sowohl die Einfuhrzolle als auch die Ausfuhrerstattungen bilden einen erheblichen Anreiz fur ,,schwarze Schafe" aus der Import- und Exportbranche, durch Manipulationen unberechtigte Gewinne zu Lasten des EGHaushalts zu erzielen. Tauschungen werden sowohl im Zusammenhang mit der Einfuhr von Drittlandswaren in die EG begangen, um die gemeinschaftsrechtlichen Zolle nicht oder nicht vollstandig bezahlen zu miissen, als auch bei der Ausfuhr von Waren in Drittlander vorgenommen, um hohere Erstattungen zu erlangen. Die Aussicht, bei relativ niedrigem Entdeckungsrisiko eine erhebliche finanzielle Leistung ohne jedwede Gegenleistung nur aufgrund vorgetauschter Abgabentatbestande bzw. Erstattungs- oder Subventionskriterien zu erhalten, macht diese dirigistischen Steuerungsmittel zu einem kriminogenen Faktor ersten Ran-
Vgl. zum typischen modus operandi Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 579 ff.; ders., JURA 1998, 79, 86; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 361 ff. Hedtmann, EuR 2002, 122; Wolffgang/Ulrich, EuR 1998, 616, 624 f. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 580; Hedtmann, EuR 2001, 122, 123; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 377 f.
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ges. AuBerdem ist die Scheu der Tater, Delikte zu Lasten des EG-Haushalts zu begehen, gering, weil ein sichtbarer Geschadigter fehlt. a) Hinterziehung von Abgaben bei der Wareneinfuhr 10 Eine klassische Methode der Abgabenhinterziehung ist die unterlasse Anmeldung (Deklaration) von Waren bei deren Einfuhr in die EG (Schmuggel)24. Praktisch noch bedeutsamer sind Falschanmeldungen der Warenmengen nach Zahl und Gewicht sowie Tauschungen ttber die Warengattung oder deren Qualitat (vgl. hierzu den in Fall 1 mitgeteilten Sachverhalt). Haufig erfolgt die Hinterziehung von Abgaben auch durch falsche Angaben liber das Ursprungsland oder die Zweckbestimmung der eingefuhrten Waren. Die Falschangaben werden dabei nicht selten mit gefalschten Stempeln (z. B. Zollstempel) oder unrichtigen Urkunden (z. B. Ursprungszeugnisse, veterinararztliche Zeugnisse) belegt. b) Erschleichung von Erstattungen bei derWarenausfuhr 11 Die Tauschungsmanover zur Erschleichung von Erstattungen bei der Ausfuhr von Waren in Drittlander entsprechen - spiegelbildlich - im Wesentlichen denjenigen bei der Hinterziehung von Abgaben. Um zu Unrecht in den Genuss von Ausfuhrerstattungen zu gelangen, werden unrichtige Angaben iiber Menge, Gewicht, Gattung und Ursprungsland der Waren gemacht. Wahrend beim Import hochwertige Erzeugnisse als minderwertige deklariert oder zu geringe Mengen angegeben werden, um die zu zahlenden Abschopfungsbetrage zu senken, werden beim Export minderwertige Erzeugnisse als hochwertige deklariert oder hohere Exportmengen angegeben, um uberhohte Ausfuhrerstattungen zu erschleichen. Hinzu kommen Falschangaben bezilglich des Bestimmungslandes oder Verwendungszwecks der ausgefuhrten Waren. c) Abgabenhinterziehung und Subventionserschleichung innerhalb der EG 12 Innerhalb der EG werden zahlreiche Beihilfen und sonstige Vergiinstigungen gewahrt. Eine verbreitete Methode der Vorteilserlangung besteht dementsprechend darin, durch Falschangaben das Vorliegen eines Subventionstatbestandes zu behaupten (vgl. hierzu den in Fall 2 mitgeteilten Sachverhalt). Um eindeutige Betrugsfalle zu Lasten der EG-Finanzinteressen handelt es sich bei betrilgerischen ,,Karusselgeschaften" oder beim Erschleichen mehrfacher Subventionsgewahrung fur dieselben Produkte25. In einem Bericht ilber die Exportsubventionen der EG hat der Europaische Rechnungshof aber auch vor fiktiven Handelsgeschaften gewarnt, die sich in einer rechtlichen Grauzone befmden26. Zu denken ist zum einen an Warentransaktionen, bei denen Giiter ohne stichhaltigen wirtschaftlichen Grund in der Absicht, Ausgleichsbetrage zu erhalten, auf Umwegen versandt werden. Zum anderen werden durch Schein- oder Umgehungsgeschafte Gesetzesliicken oder mehrdeutige Gesetzesformulierungen ausgenutzt27. 24
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Vgl. hierzu und zum Nachfolgenden Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 580 ff.; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 361 ff. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 581. AB1EG 1986 C 3 2 1 , S. 51 ff. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 582 f; Tiedemann, NJW 1990, 2226, 2230 f.
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2. Taterstrukturen und Schadensschatzungen Die zum Nachteil des EG-Finanzhaushalts begangenen Betrugs-, Steuer- und 13 Zolldelikte stellen typische Erscheinungsformen der Wirtschaftskriminalitat dar. Sie werden von intelligent operierenden Tatern bzw. Tatergruppen mit der Zielrichtung begangen, durch geschickte Manipulationen (z. B. Falschdeklarierungen, Falschung von Urkunden, Zertifikaten, Stempeln) hohe Gewinne zu erzielen und zugleich Entdeckungsrisiken zu minimieren28. Eine typische Methode zur Verschleierung von Sachverhalten ist die Einschaltung (Verschachtelung) einer Vielzahl von Gesellschaften unter Einbeziehung von Strohmannern und Briefkastengesellschaften. Ein GroBteil der Betriigereien erfolgt im Namen von Unternehmen oder Gesellschaften, die ausschliefilich zum Zweck der Deliktsbegehung gegriindet wurden. Zudem weisen diese Taten zunehmend transnationale Beziige auf und betreffen einen Bereich, der fur die organisierte Kriminalitat von besonderem Interesse ist29. Weil sich der durch straff organisierte Tatergruppen gepragte illegale Markt durch eine oligopolistische Struktur auszeichnet, fuhrt selbst die Verhaftung von Fuhrungspersonen und die damit einhergehende Zerschlagung ganzer Tatergruppen haufig nur dazu, dass deren Marktanteile sofort von einer anderen Tatergruppe ilbernommen werden30. Schatzungen iiber den prozentualen Anteil der durch Betriigereien und Un- 14 egelmaBigkeiten jahrlich verursachten Schaden am Gesamthaushalt der EG bewegen sich zwischen 1,4 % und 20 %31. Die Kommission bezifferte das auf der Grundlage der bekannt gewordenen Betrugsfalle errechnete Gesamtschadensvolumen fur das Jahr 1999 mit 413 Mio. €32. Die Aufschlilsselung des gesamten Schadensvolumens nach Bereichen ergab dabei folgendes Bild: 122 Mio. € bei den Einnahmen (0,9 % des Aufkommens an traditionellen Eigenmitteln) und 291 Mio. € bei den Ausgaben (0,3 % des EU-Gesamthaushaltsplans), davon 170 Mio. € bei den Agrarausgaben, 73 Mio. € bei den direkten Ausgaben der Gemeinschaften und 48 Mio. € bei den Strukturfonds.
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Vgl. hierzu den illustrativen Betrugsfall, der in Anhang 3 (S. 9 8 ff.) des Griinbuchs der Kommission v. 11. Dezember 2001 geschildert wird; KOM (2001)715 endg. Vgl. hierzu Dannecker, Schutz der finanziellen Interessen der EG, S. 18; Kuhl, Kriminalistik 1997, 105; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 372 f. Sieber, ZRP 2000, 186, 187. Gesicherte empirische Untersuchungen uber die Hohe der tatsachlichen Schaden gibt es freilich nicht; vgl. zum Ganzen Dannecker, Schutz der finanziellen Interessen der EG, S. 17 f; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 11 ff.; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 373 f. Vgl. K O M (2000) 718, Abschnitte 4. und 5. Vgl. auch das vorgelegte Zahlenmaterial im Jahresbericht 2001 z u m Schutz der finanziellen Interessen der E G und zur Betrugsbekampfung - K O M (2002) 348 endg.
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IV. Praventionsstrategien 15 Kriminalstrafrechtliche Sanktionen kommen regelma'Big zu spat, denn sie greifen immer erst ein, wenn das ,,Kind schon in den Brunnen gefallen ist". Das Gebot der Stunde lautet daher, alle nur erdenklichen administrativen PraventionsmaBnahnien auszuloten, um Missbrauchsmoglichkeiten einzudammen33. Neben der Verbesserung der institutionellen Zusammenarbeit zwischen den europaischen (OLAF) und den mitgliedstaatlichen Akteuren (Zoll- und Steuerverwaltungen sowie Polizei- und Strafverfolgungsbehbrden) gilt es, die Zollerhebungs-, Erstattungs- und Subventionsverfahren sowie die darauf bezogenen Kontrollmechanismen so zu gestalten, dass Vermb'genseinbuBen, Fehlleitungen von Finanzmitteln, Zweckentfremdungen von Zuschtissen usw. nach Moglichkeit schon im Ansatz verhindert werden und zugleich ein hohes Entdeckungsrisiko geschaffen wird34. Im Agrarbereich fmden sich noch viele produktbezogene Subventionen und Zolle, die an schwer zu kontrollierende Parameter anknupfen. Der Europaische Rechnungshof wies darauf hin, dass durch ein erhohtes MaB an Prevention sowie durch einen Abbau betrugsanfalliger Subventionsmechanismen auf EG-Ebene bereits eine deutliche Verringerung des Schadensvolumens bewirkt werden kbnnte35. Im Mai 2001 hat die Kommission einen ,,Aktionsplan 2001-2003"36 verbffentlicht, der ein an der Gesamtstrategie zum Schutz der fmanziellen Interessen der Gemeinschaften v. 28. Juni 200037 ausgerichtetes erstes Arbeitsprogramm darstellt. Der Aktionsplan tragt in bemerkenswerter Weise der zutreffenden Annahme Rechnung, dass das Strafrecht allein keinen flachendeckenden Schutz fur ein pointiert ausgedriickt — ,,kriminogenes Subventionierungssystem"38 bieten kann. In der Tat greifen kriminalstrafrechtliche MaBnahmen zu kurz, solange die notwendige Reform des bestehenden Subventionierungswesens aussteht - eines Systems, das sich als auBerst anfallig fur Unregelma'Bigkeiten, Verschwendung, Zweckentfremdung, Korruption und Betrug erwiesen hat.
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Vgl. hierzu Hecker, Kreuzer-Freundesgabe, S. 181, 187 f.; Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 30 ff; Hedtmann, EuR 2002, 123, 124 ff.; Magiera, Friauf-FS, 1996, S. 13, 20 f.; Pache, Schutz der fmanziellen In-teressen der EG, S. 316; ders., EuR 1993, 173, 176; Sieber, ZRP 2000, 186, 187 ff.; Wattenberg, StV 2000, 95, 102. Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 377. Vgl. hierzu den Bericht der SZ v. 6.November 2002, S. 26. K O M (2001), 254 endg. K O M (2000) 358 endg. Sieber, AGON Nr. 29, S. 3, 9.
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B. EG-Finanzinteressen als Schutzobjekt des Europaischen Strafrechts I. Mitgliedstaatliche Schutzverpflichtung Die Notwendigkeit, Angriffen auf die EG-Finanzen auch durch den Einsatz re- 16 pressiv-strafrechtlicher Mafinahmen zu begegnen, wird im Grundsatz von niemandem ernsthaft bestritten. Eine effektive Betrugspravention, die kein ,,zahnloser Tiger" sein soil, kann auf flankierende strafrechtliche Mittel nicht verzichten. Da die EG mangels eigener Kriminalstrafgewalt (§ 4 Rn. 101) fur den strafrechtlichen Schutz ihrer Finanzinteressen nicht selbst sorgen kann, ist sie darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten EG-Betriigereien mit Strafe bedrohen und festgestellte kriminelle Handlungen effektiv verfolgen. Bereits mehrfach wurde auf die Judikatur des EuGH39 hingewiesen, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, VerstoBe gegen die EG-Finanzinteressen nach ahnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln zu verfolgen wie nach Art und Schwere vergleichbare Zuwiderhandlungen gegen nationales Recht (§ 7 Rn. 29). AuBerdem mussen die angedrohten Sanktionen wirksam, verhaltnismaBig und abschreckend sein. Art. 280 I, II EGV bestimmen deklaratorisch: ,,(1) Die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten bekampfen Betrugereien und sonstige gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtete rechtswidrige Handlugen mit MaBnahmen nach diesem Artikel, die abschreckend sind und in den Mitgliedstaaten einen effektiven Schutz bewirken. (2) Zur Bekampfiing von Betrugereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, ergreifen die Mitgliedstaaten die gleichen MaBnahmen, die sie auch zur Bekampfung von Betrugereien ergreifen, die sich gegen ihre eigenen finanziellen Interessen richten."
II. Rechtszersplitterung als Hindernis fur eine effektive Betrugsbekampfung Zwar existieren in alien Mitgliedstaaten einschlagige Straftatbestande wie etwa 17 Betrug, Subventionsbetrug, Steuer- und Abgabenhinterziehung sowie Urkundenfalschung. Als problematisch erweist sich jedoch der Befund, dass diese Tatbestande in den jeweiligen Mitgliedstaaten inhaltlich zum Teil hochst unterschiedlich ausgeformt sind, etwa was die Strafbarkeit der Fahrlassigkeitstat, des Versuchs, die strafrechtliche Haftung juristischer Personen sowie die Art und Hohe der vorgesehenen Sanktionen betrifft40. In Deutschland gibt es neben dem Vermogensdelikt des Betruges (§ 263 StGB) 18 den Tatbestand des Subventionsbetruges (§ 264 StGB), der nicht nur die Bestra39 40
EuGHE 1989, 2965 = EuZW 1990, 99. V g l . hierzu die rechtsvergleichenden Ausfuhrungen v o n Dannecker, Strafrechtsentwicklung in Europa, S. 155 ff; ders., Z S t W 108 (1996), S. 577, 585 ff.
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fling wegen vorsatzlicher Tatbegehung erlaubt, sondern auch leichtfertiges, d. h. grob fahrlassiges Handeln mit Strafe bedroht (§ 264 IV StGB)41. Der deutsche Tatbestand des § 264 IV StGB gewahrt somit eine strafrechtliche Handhabe auch gegen solche Tater, denen der Vorsatz zur Tauschung nicht mit der fur eine Verurteilung ausreichenden Sicherheit nachgewiesen werden kann: In der Regel werden Falschangaben zumindest auf Leichtfertigkeit beruhen. AuBerdem setzt die Bestrafung wegen vollendeten Subventionsbetmges nicht — wie § 263 StGB — den Nachweis eines eingetretenen Vermogensschadens voraus. Bereits die bloBe Tauschungshandlung begriindet die Strafbarkeit. 19 Das spanische Strafrecht kennt lediglich einen betrugsahnlich ausgestalteten Tatbestand (Art. 309 Codigo penal), der nur vorsatzliche Schadigungen von ttber 50 000 ECU mit Strafe bedroht. Unterhalb dieser Grenze gibt es lediglich die Moglichkeit der Verhangung einer GeldbuBe durch die Verwaltungsbehorde42. Portugal und Italien kennen einen dem spanischen Modell folgenden betrugsahnlichen Tatbestand, jedoch ohne die Festlegung von Schadensmindestgrenzen43. Der franzosische Betrugstatbestand (,,escroquerie", Art. 313 Code penal) kann anders als das deutsche Pendant nicht schon durch eine einfache Luge und nicht durch Unterlassen begangen werden44. Wahrend schriftliche Lugen im franzosischen, belgischen, portugiesischen, spanischen und niederlandischen Recht als eine strafbare Form der Urkundenfalschung angesehen werden, unterfallen sie im deutschen, danischen, englischen, irischen und griechischen Strafrecht nicht dem Tatbestand der Urkundenfalschung45. 20 Hochst unterschiedlich ausgestaltet ist die Strafbarkeit juristischer Personen46. In manchen Mitgliedstaaten - wie in Deutschland - entfallt sie ganz. Das Fehlen einer Verbandsstrafe in Deutschland muss sich freilich nicht zwangslaufig nachteilig auf den Schutz der finanziellen Interessen der EG auswirken. Denn die nach § 30 I OWiG eroffnete Moglichkeit der Verhangung einer UnternehmensgeldbuBe wird in Deutschland bei weitem haufiger eingesetzt als die Verbandsstrafe im Ausland, und die Sanktionierungen mit hohen GeldbuBen konnen die Betroffenen zuweilen harter treffen als eine Geldstrafe. Die nationalen Strafrechtsordnungen der Mitgliedstaaten weisen zudem hochst unterschiedliche Sanktionssystematiken und -groBen auf. Wahrend beispielsweise die kurze Freiheitsstrafe in einigen Mitgliedstaaten verbreitet ist, ist es ein zentrales und im Wesentlichen umgesetztes Anliegen des deutschen Reformgesetzgebers, diese zuriickzudrangen. Stattdessen nimmt in Deutschland die Geldstrafe einen hohen Stellenwert ein. Was die Geldstrafe anbelangt, ist das Tagessatzsystem eingefuhrt, wahrend anderswo die Geldsummenstrafe existiert. Ferner sind die Obergrenzen fur die Strafaussetzung zur Bewahrung vollig unterschiedlich. Die Divergenzen erstrecken 41 42 43 44 45 46
Vgl. hierzu nur Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 186 ff. Bacigalupo, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 129, 130. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 591. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 588. Bacigalupo, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 129, 130 f.; Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 592. Dannecker, ZStW 108 (1996), S. 577, 592 f.
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sich ferner auf das Strafverfahrensrecht. So gilt z. B. das Legalitatsprinzip nicht in alien Mitgliedstaaten, was zu Unterschieden in der Strafverfolgungspraxis fiihrt47. Als Fazit der kursorischen rechtsvergleichenden Betrachtung kann festgehalten 21 werden, dass von einem einheitlichen strafrechtlichen Schutzstandard zugunsten der EG-Finanzinteressen innerhalb der EU nicht die Rede sein. Die hieraus zu ziehende Konsequenz kann daher nur darauf hinauslaufen, durch RechtsangleichungsmaBnahmen zu verhindern, dass intelligent, transnational und zumeist in organisierter Form operierende Tater bzw. Personenverbande die Strafrechtsdivergenzen der Mitgliedstaaten fur ihre kriminellen Zwecke ausnutzen. Im Idealfall sollten die Tater im gesamten Rechtsraum der EU einem (zumindest annahernd) gleichen Strafbarkeits- und Strafverfolgungsrisiko unterliegen.
III. Wege zur Uberwindung der Rechtszersplitterung in Europa Zur Uberwindung der Zersplitterung des europaischen Rechtraumes bieten sich im 22 Prinzip zwei Optionen an: Zum einen konnte der EG durch eine Anderung des EGV die Kompetenz zur Schaffung eines echten supranationalen Strafrechts - etwa in Form eines EUFinanz-Strafgesetzbuches48 - zum Schutz ihrer eigenen Rechtsguter eingeraumt werden49. Die zweite Moglichkeit besteht darin, durch bereichsspezifische HarmonisierungsniaBnahmen die einschlagigen Straftatbestande einschlieBlich der Zurechnungsnormen des Allgemeinen Teils sowie der Rechtsfolgenseite vollstandig oder wenigstens teilweise anzugleichen mit dem Ziel, in alien Mitgliedstaaten einen einheitlichen strafrechtlichen (Mindest-)Schutzstandard zugunsten der finanziellen Interessen der EG zu etablieren50. Rechtstechnisch kann eine Harmonisierung jedenfalls mit dem Instrumentarium der dritten Saule (Rahmenbeschluss oder Ubereinkommen) erfolgen51. Streitig diskutiert wird, ob eine richtliniengesteuerte Rechtsangleichung auch im Rahmen der ersten Saule auf der Basis von Art. 280 IV S. 1 EGV moglich ist (vgl. hierzu § 8 Rn. 56 ff.). Die nur zogerliche Ratifikation der PIF-Konvention (Rn. 23) durch die Mitgliedstaaten hat die Kommission veranlasst, am 23. Mai 2001 den Vorschlag fur eine Richtlinie iiber den strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft vorzulegen52. Mittels der vorgeschlagenen Richtlinie sollten der Ratifikationsstau aufgePerron, Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 142. Schwarzburg/Hamdorf, NStZ 2002, 617, 623 f. Perron, ZStW 112 (2000), S. 202, 210; ders., Strafrechtsvereinheitlichung, S. 135, 154; Sieber, SchwZStrR 114 (1996), S. 357, 393; Tiedemann, Roxin-FS, S. 1401, 1411. Dannecker, JZ 1996, 869, 879; ders., ZStW 108 (1996), S. 577, 603; ders., Einfluss des Gemeinschaftsrechts, S. 161, 182 ff.; Zieschang, ZStW 113 (2001), S. 255, 265 ff. Vgl. hierzu nur Satzger, in: Tiedemann (Hrsg.), Wirtschaftsstrafrecht in der Europaischen Union, 2002, S. 71 ff. KOM (2001) 272 end. (AB1EG 2001 Nr. C 240 E, S. 19); vgl. hierzu Satzger, ZRP 2001, 537 ff.
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lost und die weiteren Vorteile der ersten Saule genutzt werden. Aufgrund der Vorbehalte der Mitgliedstaaten gegen eine so weitreichende Harmonisierungskompetenz der Gemeinschaft (vgl. hierzu § 8 Rn. 7) wurde diese Richtlinie vom Rat bisher nicht erlassen53.
IV. Ubereinkommen iiber den Schutz derfinanziellen Interessen der EG 23 Fur die Angleichung des materiellen Strafrechts im Sinne einer Mindestharmonisierung sind neben der Annahme entsprechender Rahmenbeschltisse (vgl. hierzu § 11) die deliktsbezogenen Ubereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten von besonderer Bedeutung. Eine Vorreiterrolle auf dem Weg zu einem vereinheitlichten Betrugsstrafrecht nimmt das auf der Grundlage von Art. K.3 EUV (ZBJI; § 5 Rn. 56) getroffene Ubereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der flnanziellen Interessen der EG (PIF-Konvention)54 ein, das am 17. Oktober 2002 nach uber siebenjahriger Ratifikationsphase in Kraft trat.
1. Wesentlicher Inhalt der PIF-Konvention 24 Die PIF-Konvention geht auf intensive Bemuhungen um einheitliche Strafrechtsregelungen gegen betragerische Handlungen zum Nachteil der EG in den 1990er Jahren zuruck. Ihre Umsetzung in den Mitgliedstaaten filhrt zu einem einheitlichen Betrugsstrafrecht mit angeglichenen Mindeststrafen55. Art. 1 I PIFKonvention enthalt eine fur alle Mitgliedstaaten verbindliche Definition des Betruges zum Nachteil der flnanziellen Interessen der EG im Zusammenhang mit Ausgaben (lit. a) und Einnahmen (lit. b). Er lautet wie folgt: ,,Art. 1 Allgemeine Bestimmungen (1) Filr die Zwecke dieses Ubereinkommens umfasst der Tatbestand des Betrugs zum Nachteil der flnanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften a) jede vorsatzliche Handlung oder Unterlassung betreffend die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollstandiger Erklarungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europaischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europaischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, unrechtmafiig erlangt oder zuruckbehalten werden, - das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge,
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Vgl. auch die uberarbeitete Fassung des Richtlinienvorschlags v. 16. Oktober 2002; KOM (2002), 577 endg. AB1EG 1995 Nr. C 316, S. 49 ; PIF=Protection des interets financiers. Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 43 ff; ders., Einfluss des Gemeinschaftsrechts, S. 161, 166 ff.; ders., ZStW 108 (1996), S. 577, 596 ff; Groblinghoff, Verpflichtung des Strafgesetzgebers, S. 157 ff; Zieschang, EuZW 1997, 78 ff.
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- die missbrauchliche Verwendung solcher Mittel zu anderen Zwecken als denen, fur die sie ursprilnglich gewahrt worden sind, b) im Zusammenhang mit Einnahmen jede vorsatzliche Handlung oder Unterlassung betreffend - die Verwendung oder Vorlage falscher, unrichtiger oder unvollstandiger Erklarungen oder Unterlagen mit der Folge, dass Mittel aus dem Gesamthaushaltsplan der Europaischen Gemeinschaften oder aus den Haushalten, die von den Europaischen Gemeinschaften oder in deren Auftrag verwaltet werden, rechtswidrig vermindert werden, - das Verschweigen einer Information unter Verletzung einer spezifischen Pflicht mit derselben Folge, - die missbrauchliche Verwendung eines rechtmaBig erlangten Vorteils mit derselben Folge. (2) Vorbehaltlich des Art. 2 II trifft jeder Mitgliedstaat die erforderlichen und geeigneten MaBnahmen, um Abs. 1 so in sein innerstaatliches Recht umzusetzen, dass die von ihm erfassten Handlungen als Straftaten umschrieben werden. (3) Vorbehaltlich des Art. 2 II ergreift jeder Mitgliedstaat ferner die erforderlichen MaBnahmen, damit die vorsatzliche Herstellung oder Bereitstellung falscher, unrichtiger oder unvollstandiger Erklarungen oder Unterlagen mit der in Abs. 1 erwahnten Folge als Straftat umschrieben wird, sofern sie nicht bereits entweder als selbstandige Straftat oder als Beteiligung am Betrug im Sinne von Abs. 1, als Anstiftung dazu oder als Versuch eines solchen Betrugs strafbar ist. (4) Der vorsatzliche Charakter einer Handlung oder Unterlassung im Sinne der Abs. 1 und 3 kann aus den objektiven Tatumstanden geschlossen werden." In Art. 2 PIF-Konvention sind die von den Mitgliedstaaten vorzusehenden 25 Sanktionen fur Taten i. S. d. Art. 1 geregelt: ,,Art. 2 Sanktionen (1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen MaBnahmen um sicherzustellen, dass die in Art. 1 genannten Handlungen sowie die Beteiligung an den Handlungen im Sinne von Art. 1 Abs. 1, die Anstiftung dazu oder der Versuch solcher Handlungen durch wirksame, angemessene und abschreckende Strafen geahndet werden konnen, die zumindest in schweren Betrugsfallen auch Freiheitsstrafen umfassen, die zu einer Auslieferung fuhren konnen; als schwerer Betrug gilt jeder Betrug, der einen in jedem Mitgliedstaat festzusetzenden Mindestbetrag zum Gegenstand hat. Dieser Mindestbetrag darf 50 000 ECU nicht tiberschreiten. (2) Jedoch kann ein Mitgliedstaat in minderschweren Betrugsfallen, die einen Gesamtbetrag von weniger als 4 000 ECU zum Gegenstand haben und bei denen getnaB seinen Rechtsvorschriften keine besonderen erschwerenden Umstande vorliegen, Sanktionen einer anderen Rechtsnatur als die in Abs. 1 vorgesehenen Strafen vorsehen." Die Mitgliedstaaten miissen femer nach Art. 3 PIF-Konvention die erforder-lichen 26 MaBnahmen treffen, damit Leiter oder Entscheidungstrager von Unternehmen als strafrechtlich verantwortlich angesehen werden konnen. In Art. 6 des Ubereinkommens wird der Grundsatz einer verstarkten justiziellen Zusammenarbeit bekraftigt. Art. 7 enthalt den Grundsatz ,,ne bis in idem". Nach Art. 9 PIFKonvention sind die Mitgliedstaaten nicht daran gehindert, weitergehende innerstaatliche Rechtsvorschriften (z. B. die Einbeziehung grob fahrlassiger Verhaltensweisen) zu erlassen, die liber die Verpflichtungen aus diesem Ubereinkommen hinausgehen.
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Der Weg, iiber deliktsbezogene Ubereinkommen zumindest zu einer Mindestharmonisierung im Bereich des materiellen Strafrechts zu gelangen, mag zwar muhsam und langwierig erscheinen, weil volkerrechtliche Ubereinkommen zunachst von den berufenen Vertretern der Mitgliedstaaten ausgehandelt, nach erfolgtem Abschluss von den Mitgliedstaaten ratifiziert und sodann in nationales Recht umgesetzt werden miissen. Andererseits bietet dieser Weg den Vorteil, dass es den mitgliedstaatlichen Gesetzgebern uberlassen bleibt, wie sie die auf europaischer Ebene erarbeiteten und im Ubereinkommen niedergelegten Regelungen in ihr jeweils bestehendes nationales Strafrechtssystem integrieren. Die gesetzestechnische Einpassung kann so unter Beriicksichtigung der spezifischen legislatorischen und dogmatischen Gegebenheiten erfolgen. So bleibt es z. B. dem deutschen Gesetzgeber zur freien Entscheidung uberlassen, ob er an der klassischen Zweiteilung zwischen dem strafrechtlichen Schutz der Einnahmenseite (§ 370 AO) und Ausgabenseite (§§ 263 ff. StGB) festhalt oder nicht.
2. Umsetzung in Deutschland 28 Die Umsetzung der PIF-Konvention erfolgte in Deutschland durch das EGFinanzschutzgesetz v. 10. September 199856. Die Mehrzahl der in dem Ubereinkommen genannten Handlungen wurde vom deutschen Recht bereits durch § 370 AO (Einnahmenseite) bzw. §§263, 264 StGB a. F. (Ausgabenseite) erfasst. § 264 StGB wurde den Vorgaben der Konvention angepasst. Neu ist z. B. die nunmehr in § 264 I Nr. 2 StGB geregelte zweckwidrige Verwendung von Subventionen57. Die Ausdehnung des Subventionsbegriffs auf Leistungen an Private sowie fur andere Zwecke als der Wirtschaftsforderung gilt gem. § 264 VII Nr. 2 StGB nur fur Subventionen, die nach Gemeinschaftsrecht gewahrt werden. Dies hat zu einer Aufspaltung des Subventionsbegriffs gefuhrt, je nachdem, ob es sich um eine nach nationalem Recht (Bundes- oder Landesrecht) oder nach Gemeinschaftsrecht zu erbringende Leistung handelt58. Nach § 6 Nr. 8 StGB unterliegt der Subventionsbetrug dem Weltrechtsprinzip (§ 2 Rn. 52). Somit konnen Auslander auch dann in Deutschland strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie in einem anderen Land einen Subventionsbetrug zum Nachteil der EG-Finanzinteressen begangen haben. Fur die Verfolgung dieser Taten sind in Deutschland gem. § 74 c I Nr. 5 GVG die Wirtschaftsstrafkammera zustandig, wenn der Staatsanwalt wegen der besonderen Bedeutung des Falles Anklage zum Landgericht erhebt.
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BGB1. II 1998,2322. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 187. Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 186.
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C. Modelle fur die kunftige Entwicklung des Europaischen Strafrechts I. Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen der EU Als Modellkodifikation fur ein kunftiges supranationales oder harmonisiertes 29 Strafrecht konnte das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutze der finanziellen Interessen der EU (,,Corpus Juris") von 1997 dienen, das in ilberarbeiteter Fassung (in Anlehnung an den Ort der Abschlusskonferenz) als ,,Corpus Juris Florence"59 im September 1999 dem EP vorgelegt wurde60. Die Vorschlage des Corpus Juris beziehen sich ausschlieBlich auf den Schutz der EG-Finanzinteressen: ,,Was wir vorschlagen, ist vielmehr eine Reihe von strafrechtlichen Regelungen, die eine Art Corpus Juris bilden, die auf den strafrechtlichen Schutz der Finanzinteressen der Europaischen Union beschrankt und dazu bestimmt sind, in einem weitgehend vereinheitlichten europaischen Rechtsraum ein gerechteres, einfacheres und effizienteres Sanktionssystem zu ermoglichen"61. Dem Corpus Juris liegen die gemeineuropaischen Grundlagen sowie die Ideen der Aufklarung und Garantien der Europaischen Menschenrechtskonvention zugrunde, wodurch nach der Intention seiner Verfasser das Fundament des zukilnftigen Europaischen Strafrechts geschaffen werden soil62.
1. Wesentlicher Inhalt des Corpus Juris Nach Auffassung der Verfasser des Corpus Juris haben es die bisher unternomme- 30 nen Schritte der Assimilierung, der justiziellen Kooperation und partieller Harmonisierungsansatze nicht vermocht, ein gerechtes, einfaches und effizientes System zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaften zu errichten63. Die von einer Gruppe europaischer Strafrechtswissenschaftler im Auftrag der Kommission erarbeitete Studie schlagt daher in einem Regelwerk (Corpus Juris) die Einfuhrung straf- und strafverfahrensrechtlicher Normen eines Europaischen Strafrechts vor. Materiellrechtlich ist das Corpus Juris auf eine vollstandige
Der Text des ,,Corpus Juris Florence" (auch ,,Corpus Juris 2000") kann - ebenso wie die englische bzw. franzosische Originalfassung — in deutscher Ubersetzung abgerufen werden auf der Seite http://europa.eu.int/comm/anti_fraud/green_paper/links.html (Stand 12/04). Vgl. Huber (Hrsg.), Corpus Juris, passim; vgl. hierzu auch Dannecker, Wirtschaftsund Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 273 ff.; Kuhne, Strafprozessrecht, Rn. 63 ff; Sieber, Corpus Juris, S. 2 ff. Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 28. Zu Inhalt und Kritik am Corpus Juris vgl. die Beitrage von Braum, JZ 2000, 493, 495 ff; Hassemer, KritV 1999, 133 ff; Manoledakis, KritV 1999, 181 ff; Otto, JURA 2000, 99 ff; Spinellis, KritV 1999, 141 ff; Wattenberg, StV 2000, 95 ff. Delmas-Marty, Corpus Juris, S. 10.
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Vereinheitlichung der dort vorgesehenen Straftatbestande64 und Sanktionen65, verbunden mit einem Allgemeinen Teil66 gerichtet. Verfahrensrechtlich wird die Schaffung einer Europaischen Staatsanwaltschaft und eines Freiheitsrichters vorgeschlagen67. 31 Ausgehend von dem Gesetzlichkeitsprinzip werden in einem Katalog von acht Artikeln (des Corpus Juris Florence; CJ) folgende Straftatbestande formuliert: - Art. 1 CJ: Betrtigereien zum Nachteil der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften und gleichgestellte Delikte - Art. 2 CJ: Betrugereien bei der Erteilung von Auftragen - Art. 3 CJ: Geldwasche und Hehlerei - Art. 4 CJ: Bildung einer kriminellen Vereinigung - Art. 5 CJ: Bestechung und Bestechlichkeit - Art. 6 CJ: Amtspflichtverletzung - Art. 7 CJ: Amtsmissbrauch - Art. 8 CJ: Bruch des Dienstgeheimnisses 32 Mit Ausnahme von Taten nach Art. 1 CJ, bei denen Leichtfertigkeit genilgt, wird in subjektiver Hinsicht Vorsatz verlangt (Art. 9 CJ). Es werden einheitliche Strafen und MaBnahmen ftir alle Tatbestande vorgeschlagen, die neben Freiheitsstrafen (bis zu flinf Jahren, in schweren Fallen bis zu sieben Jahren) und/oder Geldstrafen (hochstens 365 Tagessatze bei einer maximalen Tagessatzhohe von 3 000 Euro) fur natiirliche Personen auch Sanktionen ftir juristische Personen wie Geldstrafen (bis zu zehn Mio. Euro), Ausschluss von offentlichen Subventionen oder gerichtliche Uberwachung beinhalten (Art. 14 CJ). Fur die Ermittlung, Verfolgung, Aburteilung und Strafvollstreckung wird ein europaisches Territorialitatsprinzip statuiert, das die Gesamtheit der Staatsgebiete der EGMitgliedstaaten umfassen soil (Art. 18 ff. CJ). Dementsprechend sollen die vorgenannten Aufgaben von einer Europaischen Staatsanwaltschaft wahrgenommen werden. Es handelt sich bei dieser um eine unabhangige Strafverfolgungsbehorde, die sich aus einem Europaischen Generalstaatsanwalt sowie abgeordneten nationalen Europaischen Staatsanwalten zusammensetzt (Art. 18 III CJ). 33 Wahrend der gesamten Vorbereitungsphase nimmt den justiziellen Freiheitsschutz ein unabhangiger und unparteiischer Richter wahr, der so genannte Freiheitsrichter (Art. 25 I CJ). Jeder Mitgliedstaat benennt einen solchen Richter bei dem Gericht des Ortes, an dem es einen abgeordneten Europaischen Staatsanwalt gibt. Der Freiheitsrichter ist auch zustandig, um beziiglich der Umstande, die GeVgl. hierzu die Beitrage zur Erstfassung des CJ von Bacigalupo und Otto, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 129 ff., 141 ff. Vgl. hierzu die Beitrage zur Erstfassung des CJ von Grasso und Trdskman, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 215 ff., 225 ff. Vgl. hierzu die Beitrage zur Erstfassung des CJ von Tiedemann und Neumann, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 61 ff., 67 ff. Vgl. hierzu die Beitrage zur Erstfassung des CJ von Spencer und Nelles, in: Huber (Hrsg.), Corpus Juris, S. 249 ff., 261 ff.
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genstand der Strafverfolgung sind, Gutachten oder SicherungsmaBnahmen anzuordnen, sofern die Existenz einer Verbindlichkeit nicht emstlich zu bestreiten ist und sofern solche MaBnahmen zum Schutz der zivilrechtlichen Anspruche notwendig und verhaltnismaBig sind. Die Anklageentscheidung des Europaischen Staatsanwaltes unterliegt der Prufung durch den Freiheitsrichter (Art. 21 III CJ). Dieser ruft das nationale Gericht an, das fur das Hauptverfahren zustandig ist, und ladt den Beschuldigten unter Angabe von Tag und Uhrzeit seiner Verhandlung. Der Freiheitsrichter wendet auBer dem CJ sein eigenes nationales Recht an.
2. Bedeutung des Corpus Juris Das CJ lasst bewusst offen, auf welchem Weg es in das Gemeinschaftsrecht imp- 34 lementiert werden soil68. Die vorgeschlagenen Regelungen eines bereichsspezifischen Straf- und Strafverfahrensrechts dienen in erster Linie als Diskussionsgrundlage fur die Fortentwicklung des Europaischen Strafrechts69. In der Literatur stoBen vor allem die im CJ angelegte Tendenz zu einer weitreichenden Vorverlagerung der Strafbarkeit, aber auch die noch nicht in jeder Hinsicht ausgereiften prozessualen Regelungen zum Schutz des Beschuldigten (Verfahrensgarantien) aufKritik70. Vor dem Hintergrund, dass die Entwicklung des Europaischen Strafrechts mit 35 der europaischen Integration bisher nicht Schritt gehalten hat71, unterbreitet das CJ erstmals fundierte Vorschlage zu der Frage, welche europaischen Interessen als strafrechtlich schutzwilrdig zu definieren sind und wie dieser Schutz im gesamten europaischen Raum moglichst effektiv gestaltet werden kann. Den Verfassern des CJ ist bewusst, dass die hierfiir notwendige Harmonisierung der nationalen Strafrechtssysteme sowie die erforderliche Zusammenarbeit sich nicht in Form eines ,,groBen Wurfes" einer europaischen Einheitslosung fur alle Bereiche des Strafrechts durchsetzen wird. Das zukilnftige Europaische Strafrecht wird vielmehr in vielen Einzelschritten, in zahlreichen bereichsspezifischen Regelungen, in verschiedenen Modellen und mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten entstehen72. Bei aller Kritik im Detail kommt dem CJ daher das unbestreitbare Verdienst zu, eine breite offentliche Diskussion iiber die Rolle des Strafrechts und des Strafprozessrechts im europaischen Einigungsprozess ausgelost zu haben.
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Vgl. hierzu Dannecker, Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, 2. Kap. Rn. 276. Vgl. hierzu die zahlreichen Beitrage in Huber (Hrsg.), Corpus Juris, passim. Vgl. hierzu Braum, JZ 2000, 493, 498 ff.; Dannecker, Hirsch-FS, 1999, S. 141, 143 ff.; Salditt, StV 2003, 136 f.; Wallenberg, StV 2000, 95, 96 ff. Sieber, Corpus Juris, S. 2. Sieber, Corpus Juris, S. 3.
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II. Griinbuch der Kommission 1. Wesentlicher Inhalt des Grunbuchs 36 Die EG-Kommission hat am 11. Dezember 2001 ein Griinbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europaischen Staatsanwaltschaft vorgelegt 73 . Mit ihrem dort zur Diskussion gestellten Konzept eines europaischen Finanzstrafrechts und der Schaffung einer supranationalen Strafverfolgungsbehorde lehnt sich die Kommission eng an das Modell des CJ an. Der neu zu schaffende Art. 280 a EGV soil nach dem Vorschlag der Kommission folgenden Wortlaut haben: ,,1. Um einen Beitrag zur Verwirklichung der Ziele des Art. 280 I EGV zu leisten, ernennt der Rat, der auf Vorschlag der Kommission mit qualifizierter Mehrheit und nach Zustimmung des Europaischen Parlaments beschlieBt, fur eine nicht verlangerbare Amtszeit von sechs Jahren einen Europaischen Staatsanwalt. Der Europaische Staatsanwalt hat die Aufgabe, gegen Tater von Straftaten und Teilnehmer an Straftaten, die sich gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft richten, zu ermitteln, sie strafrechtlich zu verfolgen und wegen dieser Straftaten vor den zustandigen Gerichten der Mitgliedstaaten offentliche Anklage gema'6 den in Absatz 3 genannten Vorschriften zu erheben. 2. Der Europaische Staatsanwalt wird unter Personlichkeiten ausgewahlt, die jede Gewahr fur Unabhangigkeit bieten und in ihrem Staat die fur die Ausubung hochster richterlicher Amter erforderlichen Voraussetzungen erfullen. Er darf bei der Erflillung seiner Pflichten Anweisungen weder anfordern noch entgegennehmen. Er kann auf Antrag des Parlaments, des Rats oder der Kommission vom Gerichtshof seines Amtes enthoben werden, wenn er die Voraussetzungen fur die Ausiibung seines Amtes nicht mehr erfullt oder eine schwere Verfehlung begangen hat. Der Rat legt das Statut des Europaischen Staatsanwalts nach dem Verfahren des Art. 251 EGV fest....". 37 Die Kommission lasst die Frage offen, auf welcher materiellrechtlichen Basis der Europaische Staatsanwalt tatig werden soil und begnugt sich mit einer Aufiistung der in Betracht kommenden Moglichkeiten 74 . Die Kommission schlagt vor, folgenden Art. 280 a III in den EGV einzufugen: ,,Der Rat legt nach dem Verfahren des Art. 251 die Bedingungen fur die Ausubung des Amtes des Europaischen Staatsanwalts fest und erlasst insbesondere (a) Vorschriften zur Festlegung der Tatbestandsmerkmale von Betrug und jeder anderen rechtswidrigen Handlung, die gegen die finanziellen Interessen der Gemeinschaft gerichtet ist, sowie der Strafen fur alle Straftatbestande;...". 38 Da dieser Artikel keine Beschrankung auf eine Richtliniengesetzgebung vorsieht, ware es nicht ausgeschlossen, dass die EG durch den Erlass einer Verordnung ein in alien Mitgliedstaaten unmittelbar geltendes, supranationales Strafrecht schafft. Nach Auffassung der Kommission soil sich die Frage, wie das fur die Arbeit des 73
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KOM (2001) 715 endg. (abrufbar im Internet auf der Homepage der Kommission unter http://www.europa.eu.int; vgl. auch die ,,Follow-Up-Mitteilung" der Kommission in KOM (2003) 128 endg. v. 19. Marz 2003. Vgl. Grunbuch, S. 36 ff.
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Europaischen Staatsanwaltes notwendige ,,gemeinsame materielle Recht" am besten festgelegt werden kann, im Rahmen des Grunbuchs unter neuen Vorzeichen stellen75. Das Mandat des Europaischen Staatsanwaltes soil materiellrechtlich jedenfalls kein umfassendes sein, sondern sich entsprechend der Zielrichtung des Schutzes der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaft auf einen bestimmten Katalog einschlagiger Delikte beschranken. Was den Inhalt dieser Tatbestande anbelangt, bezieht sich die Kommission auf den bereits erwahnten Richtlinienvorschlag v. 23. Mai 2001 (Rn. 22). Dieser defmiert in Kapitel III. vier Straftatbestande: Betrug (aller Arten), Bestechlichkeit, Bestechung und Geldwasche. Dariiber sollen in Anlehnung an die Arbeiten zum CJ nunmehr auch Delikte wie Ausschreibungsbetrug, Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung, Missbrauch von Amtsbefugnissen und Verletzung des Dienstgeheimnisses normiert und der Verfolgungszustandigkeit des Europaischen Staatsanwaltes unterstellt werden. Um auf supranational Strafverfahrensregelungen verzichten zu konnen, 39 schlagt die Kommission vor, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Leitprinzip des europaischen Ermittlungsverfahrens zu erheben (vgl. hierzu § 12 Rn. 39 ff). Strafprozessuale EingriffsmaBnahmen, die durch ein Gericht eines Mitgliedstaates angeordnet oder genehmigt wurden, sollen demnach in jedem anderen Mitgliedstaat ohne weitere gerichtliche Prufung vollstreckt werden konnen76. Auch sollen Beweise, die in einem Mitgliedstaat nach dessen Recht legal erhoben worden sind, von dem Strafgericht eines anderen Mitgliedstaates verwertet werden dllrfen77. 1st der Europaische Staatsanwalt nach Abschluss der Ermittlungen zu der Uberzeugung gelangt, ausreichende Beweise dafiir zu haben, dass eine Verurteilung des Beschuldigten wahrscheinlicher ist als ein Freispruch - es bleibt die Frage nach dem MaB des Verdachtes -, soil er Anklage vor einem Gericht eines Mitgliedstaates erheben. Form, Inhalt und Kontrolle der Anklageschrift sollen sich dabei allein nach dem jeweiligen nationalen Recht des Staates richten, bei dessen Gericht Anklage erhoben worden ist. Wo dies im Einzelfall zu erfolgen hat, soil sich aus vom Gemeinschaftsgesetzgeber festzulegenden bestimmten Kriterien ergeben. Fur den Fall, dass nach jenen Vorschriften in mehreren Mitgliedstaaten Anklage erhoben werden konnte, soil der Europaische Staatsanwalt nach pflichtgemaBem Ermessen ein Gericht auswahlen oder die Verfahren trennen und in verschiedenen Staaten Anklage erheben diirfen. Bezuglich der Kontrolle dieser Entscheidung des Europaischen Staatsanwaltes ilber den Anklageort stellt die Kommission drei Moglichkeiten zur Diskussion: Entweder die Kontrolle seitens des nationalen Gerichts, bei dem Anklage erhoben wird oder die Kontrolle seitens eines dafur einzurichtenden Gerichts auf Gemeinschaftsebene einer ,,Europaischen Vorverfahrenskammer" — oder, drittens, der Ausschluss jeglicher Kontrolle, getragen von dem Vertrauen in die Gleichwertigkeit der nationalen Rechtssysteme.
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Vgl. Grunbuch, S. 36. Vgl. Grunbuch, S. 55 ff. Vgl. Grunbuch, S. 63 ff.
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2. Kritische Wurdigung 40 Auf das vom Grunbuch zum strafprozessualen Leitsatz erhobene Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wurde bereits an anderer Stelle kritisch eingegangen (§ 12 Rn. 44 ff.). Die folgende Wurdigung des Griinbuchvorschlages konzentriert sich daher auf die im Grunbuch angelegte Errichtung einer Europaischen Finanzstaatsanwaltschaft. 41 Zunachst ist festzustellen, dass die Europaische Staatsanwaltschaft - wenn sie ins Leben gerufen wilrde, ohne dass zuvor eine supranationale Strafrechtsbasis hergestellt wurde — zwangslaufig nur mitgliedstaatliches Strafrecht vollziehen konnte. Dabei liegt ein grundlegendes Problem schon darin begrundet, dass auch bei europaweit harmonisierten Straftatbestanden zu erwarten ist, dass diese von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat abweichend, namlich im Lichte nationaler Auslegungsmaximen interpretiert werden, was angesichts des unterschiedlichen richterlichen Selbstverstandnisses in den jeweiligen EU-Staaten, verbunden auch mit unterschiedlichen rechtskulturellen Pragungen zu Divergenzen bei der Auslegung der Tatbestandsmerkmale und ihrem Zusammenspiel mit Zurechnungsnormen des Allgemeinen Teils fuhren konnte78. Daruber hinaus sind nicht nur die materiellrechtlichen Grundlagen von Bedeutung, sondern auch die Strafzumessungspraxis. Betrachtet man allein die von Bundesland zu Bundesland divergierende Sanktionspraxis innerhalb Deutschlands (,,Nord-Siid-Gefalle"), die doch auf einem einheitlichen Rechtsrahmen beruht, so wird die Schwierigkeit deutlich, eine auch nur einigermaBen koharente Strafzumessungspraxis innerhalb Europas zu erzielen. Weitere Probleme wirft die Strafzumessung im Einzelfall auf. Dies gilt etwa fur die Berilcksichtigung des Vorlebens, namentlich von Vorverurteilungen des Taters. Soil das aburteilende Gericht mit Strafen, die durch ein Strafgericht eines anderen Mitgliedstaats verhangt worden sind, eine nachtragliche Gesamtstrafe bzw. Einheitsstrafe bilden konnen oder ist hier europaweit nach den Grundsatzen des Harteausgleichs zu verfahren? - Kann ein deutsches Gericht Sicherungsverwahrung anordnen, wenn die formalen Voraussetzungen aufgrund auslandischer Verurteilungen vorliegen? - Dtirfen auch Sanktionen beriicksichtigt werden, die im jeweils anderen Mitgliedstaat nicht existieren? - Die Fttlle der hier nur kursorisch angedeuteten Schwierigkeiten lasst erhebliche Zweifel daran aufkommen, ob es sinnvoll und wiinschenswert erscheint, eine europaische Strafverfolgungsinstitution ins Leben zu rufen, solange keine supranationalen materiellrechtlichen Grundlagen geschaffen wurden (vgl. aber zu den sich aus Ill-Art. 415 IV EUVerfassung ergebenden Perspektiven Rn. 46). 42
Im Ubrigen ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum ein supranationales Strafverfolgungsorgan besser in der Lage sein soil, nationale Strafrechtsnormen effektiv anzuwenden und durchzusetzen als die seit jeher damit betrauten nationalen Strafverfolgungsbehorden. Den ,,Mehrwert" einer Europaischen Staatsanwaltschaft konnte man freilich darin sehen, dass sie eine von nationalen Interessen losgeloste Strafverfolgung garantiert und dass sie grenztiberschreitende Ermittlungs- und Strafverfolgungsmaflnahmen moglicherweise effektiver koordinieren Vgl. hierzu nur Perron, ZStW 109 (1997), S. 281, 288.
C. Modelle fur die kunftige Entwicklung des Europaischen Strafrechts
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kann als eine nationale Strafverfolgungsbehorde. Das Gewicht dieser denkbaren Vorteile sollte jedoch nicht tiberschatzt und gegenuber den drohenden Nachteilen sorgfaltig abgewogen werden. Zum einen ist anerkannt, dass das Unterlassen einer Strafverfolgung unter bestimmten Voraussetzungen gemeinschaftsrechtswidrig sein und ein Vertragsverletzungsverfahren nach sich ziehen kann79. Kein Mitgliedstaat kann es sich daher auf Dauer erlauben, strafbare VerstoBe gegen Gemeinschaftsrechtsguter - etwa aus Unwillen oder Desinteresse - systematisch unverfolgt zu lassen. Zum anderen bietet sich in der gegenwartigen Entwicklungsphase der transnationalen Strafrechtspflege eine verstarkte Nutzung und Fortentwicklung bereits vorhandener Instrumente der grenziiberschreitenden Kooperation, insbesondere die seit 28. Februar 2002 tatige Koordinierungsstelle Eurojust (§ 5 Rn. 73 ff.) als echte und vorzugswilrdige Alternative an80. Die mitgliedstaatliche Souveranitat bliebe unangetastet. Ein konflikttrachtiges Nebeneinander zweier Strafrechtsorgane - eines europaischen und eines nationalen - die ihre Tatigkeit beide auf der Basis mitgliedstaatlichen Strafrechts vollziehen, wilrde ebenso vermieden wie die Gefahr von Kompetenzstreitigkeiten in den (nicht eben seltenen) Fallen, in denen eine Tat im prozessualen Sinne sich sowohl gegen gemeinschaftsrechtliche wie nationale Rechtsgiiter richtet. Die hieraus resultierenden Probleme, z. B. Strafklageverbrauch, Koordinierung der Ermittlungen, auch zur Vermeidung unergiebiger oder schadlicher Parallelermittlungen, Stellung des Beschuldigten sowie Zustandigkeit fur Verfolgung und Rechtsschutz, die mit der Begrenzung der Zustandigkeit auf den engen Bereich des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften einhergehen, sollten nicht unterschatzt werden. Uberdacht werden sollte auch die Frage einer parlamentarischen Kontrolle der Europaischen Staatsanwaltschaft. Der Europaische Staatsanwalt ist gemaB dem Kommissionsentwurf fur einen neuen Art. 280 a Nr. 2 S. 2 EGV weisungsunabhangig und damit keinem Parlament rechenschaftspflichtig. Das Amtsenthebungsverfahren gemaB Art. 280 a Nr. 2 S. 3 EGV gewahrleistet keine ausreichende Kontrolle des supranationalen Strafverfolgungsorgans. Das im Griinbuch angelegte Modell eines europaischen Ermittlungsverfahrens 43 mit seinem Herzstuck - dem Europaischen Staatsanwalt - vermag in dieser Form nicht zu ilberzeugen und erscheint beim gegenwartig erreichten Stand der grenzuberschreitenden Kooperation der Mitgliedstaaten als allzu voreiliger ,,Schnellschuss", dessen ,,Risiken und Nebenwirkungen" den versprochenen Mehrwert in Frage stellen81. Da die Schaffung einer Europaischen Staatsanwaltschaft ohnehin nur eine von mehreren Moglichkeiten zur Verbesserung des Schutzes der finanziellen Interessen der Gemeinschaften darstellt, muss der Griinbuchvorschlag einem kritischen Vergleich mit anderen Optionen einer europaischen Kriminalpolitik unterzogen werden. Vorrangig sollte ttber eine verstarkte Nutzung und Fortentwicklung der bereits vorhandenen Formen der transnationalen Zusammenarbeit diskutiert werden. Die Zeit ist noch nicht reif fur die Schaffung einer Europai79 80 81
Vgl. hierzu nur Jokisch, Gemeinschaftsrecht und Strafverfahren, S. 149 ff. Vgl. hierzu nur Schomburg, ZRP 1999, 237 ff. und Dieckmann, NStZ 2001, 617, 620. Vgl. auch die berechtigte Kritik von Radtke, GA 2004, 1, 16 ff.; Satzger, StV 2003, 137, 139 und Sommer, StV 2003, 126 ff.
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§ 14 Betrugsbekampfung durch Europaisches Strafrecht
schen Staatsanwaltschaft. Zum einen wttrde es in der Logik einer solchen Institution liegen, dass diese supranationales Recht vollzieht und ihre Anklagen vor einem europaischen Strafgericht erhebt82. Hierftir fehlt es aber an den europaverfassungsrechtlichen Voraussetzungen, insbesondere an einem demokratische Legitimation vermittelnden europaischen Legislativorgan. Aber auch aus praktischen Grunden kann den Vorschlagen der Kommission nicht zugestimmt werden. Bevor einer geradezu revolutionaren Umwalzung auf dem Gebiet der Strafrechtspflege das Wort geredet wird, sollten auf der Ebene der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten vorrangig alle nur denkbaren praventiv-administrativen Moglichkeiten ausgeschopft werden, um die Betrugsanfalligkeit des bestehenden ,,kriminogenen" EG-Subventions- und Finanzwesens zu minimieren. Das Kriminalstrafrecht kann und soil diese MaBnahmen flankieren bzw. erganzen, aber nicht ersetzen. In alien Mitgliedstaaten sollte ein annahernd gleicher strafrechtlicher Mindestschutzstandard etabliert werden. Das Inkrafttreten der PIF-Konvention ist bereits ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Die Koordinierung der transnationalen Zusammenarbeit zwischen den mitgliedstaatlichen Strafverfolgungsbehorden sollte durch den Ausbau von Eurojust verbessert werden. Es gilt, alle bereits verfugbaren praventiven und repressiven Instrumente zu optimieren. Erst wenn dies geschehen und ihr Versagen erwiesen ist, erscheint es gerechtfertigt, sich an tiefergehende Einschnitte in die gewachsenen nationalen Strafrechtskulturen der Mitgliedstaaten heranzuwagen. III. Supranationales Betrugsstrafrecht auf Grundlage der zukiinftigen EU-Verfassung 44 Der am 29. Oktober 2004 von den Staats- und Regierungschefs der EUMitgliedstaaten unterzeichnete (noch ratifikationsbediirftige) Vertrag iiber eine Verfassung fur Europa (EU-Verfassung) geht in Art. III-271 I von dem Grundsatz aus, dass HarmonisierungsmaBnahmen auf dem Gebiet des materiellen Strafrechts in Form von Mindestangleichungen durch Europaische Rahmengesetze vorzunehmen sind. Das Europaische Rahmengesetz ist ein Gesetzgebungsakt, der fur jeden Mitgliedstaat, an den es gerichtet ist, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist, jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und Mittel uberlasst (Art. 1-33 I S. 3 EU-Verfassung). Damit setzt die EU-Verfassung den bereits in Art. 29, 31 lit. e EUV eingeschlagenen Weg der Strafrechtsangleichung fort (vgl. § 11). Da die Saulenarchitektur der EU - und damit die bisherige Unterscheidung zwischen erster und dritter Saule - aufgelost und durch einen einheitlichen Pfeiler (supranationales Unionsrecht) ersetzt werden soil, ist es konsequent, dass Art. 111-271 II EU-Verfassung die strafrechtliche Rechtsangleichungskompetenz auch auf Regelungsbereiche erstreckt, auf denen bereits HarmonisierungsmaBnahmen erfolgt sind. Dabei handelt es sich vor allem um Materien, die bislang in der ersten Saule der EU (Gemeinschaftsrecht) angesiedelt waren83. Die 82
Sieber, ZRP 2000,186,191.
83
Weigend, ZStW 116 (2004), S. 275, 284.
D. Literaturhinweise
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derzeit noch kontrovers diskutierte Frage nach dem Bestehen einer strafrechtlichen Anweisungskompetenz der EG (vgl. § 8) wird sich also nach Inkrafttreten der EU-Verfassung erledigt haben. Der neu geschaffenen EU steht als Rechtsnachfolgerin der EG eine Befugnis zur Strafrechtsangleichung in frtther der EG zugewiesenen Aufgabenbereichen zu, wenn sich die Angleichung strafrechtlicher Normen als unerlasslich fur die wirksame Durchfiihrung der Unionspolitik erweist (vgl. Art. III-271 II EU-Verfassung). Wahrend Art. III-271 I, II EU-Verfassung lediglich eine unionsweite Mindest- 45 angleichung des mitgliedstaatlichen Strafrechts vorsieht, lasst der in den Abschnitt ,,Betrugsbekampfung" eingefugte Art. III-415 IV EU-Verfassung sogar die Moglichkeit unmittelbar geltender europaischer Straftatbestande in Form Europaischer Gesetze aufscheinen. Art. III-415 IV EU-Verfassung lautet: ,,Zur Gewahrleistung eines effektiven und gleichwertigen Schutzes in den Mitgliedstaaten sowie in den Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union werden die erforderlichen MaBnahmen zur Verhutung und Bekampfung von Betrugereien, die sich gegen die finanziellen Interessen der Union richten, durch Europaisches Gesetz oder Rahmengesetz festgelegt. Es wird nach Anhorung des Rechnungshofs erlassen." Der Wegfall der in Art. 280 IV S. 2 EGV enthaltenen Vorbehaltsklausel84 46 (,,Die Anwendung des Strafrechts der Mitgliedstaaten ...bleibt unberiihrt") und die Auffuhrung des ,,Europaischen Gesetzes" (Art. 1-33 I S. 2 EU-Verfassung) als zulassige Handlungsform lasst die Auslegung zu, dass auf der Grundlage des Art. III-415 IV EU-Verfassung auch supranationale Straftatbestande erlassen werden diirfen. Denkbar ware z. B. die Ausformulierung konkreter Strafvorschriften nach dem Modell des CJ (Rn. 31). Mit diesem Schritt ware der Durchbruch fur ein Europaisches Strafrecht im engeren Sinne erzielt, wenngleich auch nur beschrankt auf den Bereich der EU-Betrugsbekampfung85. Solche Europastraftaten im engen Sinne konnten von einer nach Art. III-274 I EU-Verfassung einzurichtenden Europaischen Staatsanwaltschaft verfolgt werden.
D. Literaturhinweise Dannecker, Strafrechtlicher Schutz der Finanzinteressen der Europaischen Gemeinschaft gegen Tauschung, ZStW 108 (1996), S. 577 ders., Das Ubereinkommen iiber den Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften, in: Leitner (Hrsg.), Aktuelles zum Finanzstrafrecht, 1998, S. 9 ders., in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.), Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 2. Aufl., 2004, 2. Kap. Rn. 43-48, Rn. 273-280
84
Sie bildet eines der Hauptargumente gegen die Annahme einer Strafrechtsetzungskompetenz der EG gem. Art. 280 IV S. 1 EGV; vgl. hierzu Fromm, Finanzinteressen der EG, S. 304 ff. 85 Weigend, ZStW 116 (2004), S. 275, 288.
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Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG - Die Frage der Einfuhrung einer supranationalen Strafrechtskompetenz durch Artikel 280 IV EGV, 2004, passim Groblinghoff, Die Verpflichtung des deutschen Strafgesetzgebers zum Schutz der Interessen der Europaischen Gemeinschaften, 1996, S. 149-166 Hecker, 1st die Zeit reif fur die Schaffung eines ,,Europaischen Staatsanwaltes" zum Schutz der EG-Finanzinteressen?, in: Kube/Schneider/Stock (Hrsg.), Freundesgabe fur A. Kreuzer, 2003, S. 181 Hedtmann, UnregelmaBigkeiten und Betrug im europaischen Agrarsektor, EuR 2002, 122 Huber (Hrsg.), Das Corpus Juris als Grundlage eines Europaischen Strafrechts, 2000, passim Otto, Das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der fmanziellen Interessen der Europaischen Union, JURA 2000, 98 Radtke, Der Europaische Staatsanwalt - Ein Modell fur Strafverfolgung in Europa mit Zukunft?, GA 2004, 1 Satzger, Gefahren fur eine effektive Verteidigung im geplanten europaischen Verfahrensrecht, StV 2003, 137 Schwarzburg/Hamdorf, Brauchen wir ein EU-Finanz-Strafgesetzbuch?, NStZ 2002, 617 Sieber, Subventionsbetrug und Steuerhinterziehung zum Nachteil der Europaischen Gemeinschaft, SchwZStrR 114 (1996), S. 357 ders., Auf dem Weg zu einem europaischen Strafrecht - Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der fmanziellen Interessen der Europaischen Union, in: Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Union, 1998, S. 2 ders., Bekampfung des EG-Betrugs und Perspektiven der europaischen Amts- und Rechtshilfe, ZRP 2000, 186 Tiedemann, Der Schutz der Finanzinteressen der Europaischen Gemeinschaft, NJW 1990, 2226 Wallenberg, Der ,,Corpus Juris" - Tauglicher Entwurf fur ein einheitliches europaisches Straf- und Strafprozessrecht?, StV 2000, 95 WolffganglUlrich, Schutz der fmanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften, EuR 1998, 616 Zieschang, Das Ubereinkommen zum Schutz der fmanziellen Interessen der EG und seine Auswirkungen auf das deutsche Strafrecht, EuZW 1997, 78
E. Zusammenfassung von § 14 47 Der EG-Finanzhaushalt bildet eine attraktive Zielscheibe fur eine facettenreiche Vielzahl betrilgerischer Praktiken, welche letztlich darauf abzielen, das Finanzaufkommen der EG zu schmalern. Dabei sind auf der Einnahmenseite insbesondere die Zolle und Mehrwertsteuereinnahmen, auf der Ausgabenseite vor allem die Aufwendungen fur die Agrar- und Strukturpolitik (Subventionen, Erstattungen) betroffen. Die zum Nachteil des EG-Finanzhaushalts begangenen Betrugs-, Steuer und Zolldelikte stellen rypische Erscheinungsformen der - auch organisierten Wirtschaftskriminalitat dar. Sie werden von intelligent operierenden Tatern bzw. Tatergruppen mit der Zielrichtung begangen, durch geschickte Manipulationen hohe Gewinne zu erzielen und zugleich Entdeckungsrisiken zu minimieren. Der
E. Zusammenfassung von § 14
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Schutz der EG-Finanzinteressen steht daher seit Jahren im Zentrum der strafrechtsrelevanten Aktivitaten auf Gemeinschaftsebene. Die Notwendigkeit, Angriffen auf die EG-Finanzen auch durch den Einsatz repressiv-strafrechtlicher MaBnahmen zu begegnen, wird heute im Grundsatz einhellig bejaht. Die Mitgliedstaaten sind gem. Art. 280 I, II EGV zu einem effektiven Schutz der EG-Finanzinteressen verpflichtet. Zwar existieren in alien Mitgliedstaaten einschlagige Straftatbestande wie etwa 48 Betrug, Subventionsbetrug, Steuer- und Abgabenhinterziehung sowie Urkundenfalschung. Als problematisch erweist sich jedoch der Befund, dass diese Tatbestande in den jeweiligen Mitgliedstaaten inhaltlich zum Teil hochst unterschiedlich ausgeformt sind, etwa was die Strafbarkeit der Fahrlassigkeitstat, des Versuchs, die strafrechtliche Haftung juristischer Personen sowie die Art und Hohe der vorgesehenen Sanktionen betrifft. Die bisherige Entwicklung des Europaischen Strafrechts zum Schutz der EG-Finanzinteressen zielte deshalb auf die Schaffung eines strafrechtlichen Mindestschutzstandards in den Mitgliedstaaten ab. Eine Vorreiterrolle auf dem Weg zu einem vereinheitlichten Betrugstrafrecht nimmt das auf der Grundlage von Art. K 3 EUV getroffene Ubereinkommen v. 26. Juli 1995 betreffend den Schutz der finanziellen Interessen der EG (PIF-Konvention) ein, das am 17. Oktober 2002 nach ilber siebenjahriger Ratifikationsphase in Kraft trat. Seine Umsetzung wird zu einem einheitlichen Betrugsstrafrecht mit angeglichenen Mindeststrafen fuhren. In Deutschland erfolgte die Umsetzung der PIF-Konvention durch das EG-Finanzschutzgesetz vom 10. September 1998. Insbesondere im Rahmen des § 264 StGB (Subventionsbetrug) fuhrte die Anpassung an die Konventionsvorgaben zu einschneidenden Veranderungen. Als Modellkodifikation fur ein kiinftiges supranationales oder harmonisiertes 49 Strafrecht konnte das Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EG (,,Corpus Juris") von 1997 dienen, das in ilberarbeiteter Fassung (in Anlehnung an den Ort der Abschlusskonferenz) als ,,Corpus Juris Florence" im September 1999 dem EP vorgelegt wurde. Dieses Regelwerk schlagt die Einfuhrung straf- und strafverfahrensrechtlicher Normen eines Europaischen Strafrechts vor. Materiellrechtlich ist das CJ auf eine vollstandige Vereinheitlichung der dort vorgesehenen Straftatbestande und Sanktionen, verbunden mit einem Allgemeinen Teil gerichtet. Verfahrensrechtlich wird die Schaffung einer Europaischen Staatsanwaltschaft und eines Freiheitsrichters vorgeschlagen. Weitreichende Reformvorschlage finden sich auch in dem von der Kommission 50 am 11. Dezember 2001 vorgelegten Griinbuch zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer Europaischen Staatsanwaltschaft. Nach Auffassung der Kommission soil sich die Frage, wie das fur die Arbeit des Europaischen Staatsanwaltes notwendige gemeinsame materielle Recht am besten festgelegt werden kann, im Rahmen des Grunbuchs unter neuen Vorzeichen stellen. Das Mandat des Europaischen Staatsanwaltes soil materiellrechtlich jedenfalls kein umfassendes sein, sondern sich entsprechend der Zielrichtung des Schutzes der finanziellen Interessen der Europaischen Gemeinschaft auf einen bestimmten Katalog einschlagiger Delikte be-
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schranken. Die Kommission betont, dass der Schwerpunkt der derzeitigen Hindernisse bei der transnationalen Strafverfolgung in den Unterschieden der nationalen Rechtssysteme im Vor- und nicht etwa im Hauptverfahren begriindet liege. Dementsprechend legt sie besonderes Gewicht auf die Ausgestalrung des Ermittlungsverfahrens. Um auf supranational Regelungen verzichten zu konnen, schlagt die Kommission vor, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Leitprinzip des europaischen Ermittlungsverfahrens zu erheben. 51 Der Durchbruch zu einem Europaischen Strafrecht im engeren Sinne konnte auf der Grundlage der zukiinftigen Europaischen Verfassung erfolgen. Nach Art. III-415 IV EU-Verfassung diirfen - bezogen auf den Schutz der EUFinanzinteressen - auch supranationale Straftatbestande erlassen werden. Solche Europastraftaten im engen Sinne konnten von einer nach Art. III-274 I EUVerfassung einzurichtenden Europaischen Staatsanwaltschaft verfolgt werden.
Stichwortverzeichnis
Abkommen von Schengen (Schengen I) 5 30 Abschreckungserfordernis 7 63 ff. Abtreibungstourismus 2 25 ff., 9 30 ff. Aburteilung 13 26 ff. Akteneinsichtsrecht 3 53 Aktives Personalitatsprinzip 2 46 f. Allgemeine Erklarung der Menschenrechte 5 5 AmtsanmaBung 10 65 f. Amtstrager -begrifflO 38, 65, 70, 72 Analogieverbot 10 26, 34 Annexkompetenzen 8 41 Anti-Folter-Komitee 3 6 Anweisungskompetenz Begriindungsansatze fur eine strafrechtliche~derEG8 35ff. Grenzen der strafrechtlichen ~ 8 62 ff. Reichweite der strafrechtlichen ~ 8 69 ff. Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts 7 49, 9 8, 10 ff. Assimilierungsprinzip 7 1 ff, 27 ff. Auslegung autonome ~ der Gemeinschaftsrechtsbegriffe 7 56 autonome ~ der Konventionsrechte 3 35 contra legem 10 26, 38, 62 gemeinschaftsrechtskonforme - 7 6, 15, 71,75, 10 1 Grenzen der gemeinschaftsrechtskonformen ~ 10 34 ff. richtlinienkonforme ~ 10 2 strafbarkeitserweiternde gemeinschaftsrechtskonforme ~ 10 60 ff. Auslegungsmonopol 6 3 Auslieferung 2 65, 70 ff, 12 13 ff. EuAlUbK 12 14 EUAU 12 18 Europaischer Haftbefehl 12 19 ff. Auslieferungshindernisse 2 76, 3 37 ff.
Auslieferungsrecht 2 71 ff. Auslieferungsverbote 3 37 ff. Auslieferungsverfahren 2 77 ff. Auslieferungsverkehr 2 71, 12 14 ff. Aussagedelikte 7 10 ff. Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der -10 69 AuBerungsdelikte - im Internet 2 33 ff. Ausweisung lebenslange - 9 43 f. B Basler Ubereinkommen (BU) 5 9, 8 31 Beschrankungsverbote 9 35 Bestechung EU-BestG5 15 IntBestG5 15 Rahmenbeschluss zur Bekampfung der - im privaten Sektor 11 127 ff. Bestimmtheitsgrundsatz 7 83 f, 109, 10 52, 54 f. Betrug gegen EG-Finanzinteressen 14 9 ff. Betrugsbekampfung 14 15 ff. Bevolkerungsklausel 4 14 Beweisanordnung Europaische -12 9 ff. Bilaterale Zusammenarbeit mit Drittstaaten 5 2,26,51 - am Beispiel des deutschschweizerischen Polizeivertrags 5 79 ff. Binnenmarkt 8 38 Blankettstrafnormen 7 79 ff.
Cassis de Dijon 9 29,12 42 Cyber Crime 11 152 Cyber-Crime-Konvention des Europarats 11 153 Rahmenbeschlussvorschlag zum Schutz vor Angriffen auf Informationssysteme 11 154 ff.
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Stichwortverzeichnis
Comite Europeen de la Lutte Antidrogue (CELAD) 5 29 Corpus Juris 14 29 ff. D Denial of Service-Angriff 11 161 Deutscher ~ als Opfer einer Straftat 2 48 ~ als Tater einer Straftat 2 46 ff. Deutsch-schweizerischer Polizeivertrag 5 79 ff. Dienstleistungsfreiheit aktive ~ 9 27, 34 ff. passive ~ 9 31, 34 ff. Direct Enforcement Model 2 86 Diskriminierung ~sverbot9 14, 27, 34 geschlechtsspezifische ~ 10 5 Inlander- 9 34 Distanzdelikte 2 33 ff. Doppelbestrafung -sverbot als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts 13 3 ~sverbot im nationalen Recht 13 2, 4 EG-ne bis in idem-Ubk 13 10 Europaisches Ubereinkommen iiber die internationale Geltung von Strafurteilen 13 9 transnationales Verbot der ~ in der EU 13 1 ff, 26 ff. volkerrechtliches Verbot der - 1 3 2 Doppelte Mehrheit Prinzip der ~n Mehrheit 4 13 Drogenhandel 5 8, 56, 64 f, 11 2, 69 ff. Rahmenbeschlussvorschlag zur Bekampfung des illegalen ~s 11 71 ff. UN-SuchtstoffubK 5 8 Durchgriffswirkung ~von Richtlinien 4 65 E EG-Kommission 4 18 ff. Einzelermachtigung Prinzip der begrenzten ~4 54 Entsprechungsklausel 7 Erfolgsort 2 ~ bei Gefahrdungsdelikten 2 36 ff, 39 ff. ~ beim Unterlassungsdelikt 2 17, 20 ~ beim versuchten Delikt 2 17, 19, 23 ~ beim vollendeten Delikt 2 17, 19 ~ der Teilnahme 2 17, 21 f.
Ermittlungsgrundsatz 6 17 Euro Rahmenbeschluss zum strafrechtlicher Schutzdes~8 19,11 13 Verordnung des Rates iiber die Einfuhrung des ~ 8 16 ff. Eurojust 5 73 ff. Europa ~ als kriminalgeographischer Raum 133 ~ der zwei Geschwindigkeiten 5 30 Europaische Atomgemeinschaft (EAG) 4 2 Europaische Beweisanordnung 12 9 ff. Europaische Gemeinschaft (EG) 4 2 ff. Europaische Gemeinschaft fur Kohle und Stahl (EGKS) 4 2 Europaische Menschenrechtskonvention (EMRK)3 4, 18 ff. Europaische Staatsanwaltschaft 14 32, 36 ff, 46 Europaische Union (EU) 4 103 ff. Europaische Verfassung 1 3 Europaischer Gerichtshof (EuGH) 4 41 ff. strafrechtsrelevante Aktivitaten des ~ 4 50 Europaischer Gerichtshof fur Menschenrechte (EGMR) 3 6, 20 ff, 24 ff. Europaischer Haftbefehl 12 19 ff. Europaischer Rat 4 9 Europaischer Rechnungshof 4 51 ff. Europaisches Amt fur Betrugsbekampfung (OLAF) 4 28 ff. Europaisches Auslieferungsubereinkommen (EuAlUbk)2 71,3 11, 13, 16,12 14 Europaisches Gesetz 4 63 Europaisches Haftbefehlsgesetz (EuHbG) 12 38 Europaisches Justizielles Netz (EJN) 5 68 Europaisches Kartellrecht 4 23, 79, 102 Europaisches Parlament 4 34 ff. strafrechtsrelevante Aktivitaten des ~ 4 40 Europaisches Rahmengesetz 4 66 Europaisches Strafrecht 1 5 ff. Europaisches Ubereinkommen iiber die Rechtshilfe in Strafsachen (EuRhUbk)3 11, 13, 16, 12 4 f. Europaisches Ubereinkommen iiber Geldwasche sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Ertragen aus Straftaten 5 20 Phanomen der ~ 8 9, 55
Stichwortverzeichnis
Europaisches Ubereinkommen zur Datennetzkriminalitat 5 23 Europaisches Verfassungsrecht 1 17 Europaisches Verwaltungssanktionenrecht 4 82 Europaisierung ~ des nationalen Strafrechts 1 5 ff. -seffekte 1 21 ff. Europarat3 1 ff. Europarecht 116 European Commitee on Crime Problems (ECCP)3 10 European Drug Unit (EDU) 5 59 f. Europol5 61ff.
Fahndungskategorien im SIS 5 53 Fahrlassigkeitsdelikte Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der~10 76ff. Fair-trial-Prinzip 3 52 ff. Financial Action Task Force on Money Laundering (FATF) 5 16 Flaggenprinzip 2 45 Folterverbot 3 39, 42 Frage- und Konfrontationsrecht 3 55 ff. Freiheitsrichter 14 32 Fremdenfeindlichkeit 11 136 f. Rahmenbeschlussvorschlag zur Bekampfung von Rassismus und ~ 11 138 ff. Frustrationsverbot 10 31 Fusionsvertrag 4 2, 6
Gebietsgrundsatz siehe Territorialitatsprinzip Gegenseitige Anerkennung 9 11, 19 f, 41, 12 9, 34, 39 ff. Tragfahigkeit der ~ beim transnational Beweistransfer 12 44 ff. ~ im Rahmen des transnationalen Doppelbestrafungsverbots 13 57 Geheimhaltungspflichten Verletzung von ~ 7 16 f. GeldbuBen 4 79 Geldwasche Europaisches Ubereinkommen ilber ~ sowie Ermittlung, Beschlagnahme und Einziehung von Ertragen aus Straftaten 5 20 Geldwascherichtlinie 8 1, 9, 11, 13 ff.,
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Rahmenbeschluss zur Bekampfung der - 8 15,1145 Gemeinsame Agrarpolitik 8 43 Gemeinsame AuBen- und Sicherheitspolitik (GASP) 4 58 Gemeinsame Verkehrspolitik 8 44 Gemeinsamer Markt 8 38 Gemeinschaftsrecht ~ als Obergrenze fur nationales Strafrecht7 44ff, 51 ff. ~ als Untergrenze fur nationales Strafrecht 7 39 ff. Rechtsquellen und Charakteristika des ~s 4 54 ff. Vorrang des ~s 4 60, 9 1 ff. GemeinschaftsrechtsakzessorischesBlankettstrafrecht 7 79 ff. Gemeinschaftsrechtsfreundliche Auslegung 10 9 Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung 10 1 Anwendungsfelder der ~ im Strafrecht 10 64 ff. Begrtindung der Pflicht zur - 1 0 6 ff. Grenzen der Pflicht zur ~ 10 34 ff. strafbarkeitserweiternde ~ 10 60 ff. Gemeinschaftsstrafrecht 7 8 Gemeinschaftstreue 7 2 Genuine link 2 103 Gleichstellung der Beamten 5 46 ff. Gleichstellungserfordernis 7 27 ff. Gleichstellungsklauseln 7 71 ff. Grenzuberschreitende Nacheile 5 42 ff, 90 ff. Grenzuberschreitende Observation 5 37 ff, 86 ff. Grenzuberschreitende Werbekampagne 9 28 f. Griechischer Maisskandal 7 27 ff. Grunbuch 14 36 ff. Grundrechtscharta der EU 13 3 H Hacking 11 152,159,168 Haftbefehl Rahmenbeschluss Europaischer ~ 12 19 ff. Europaisches -sgesetz (EuHbG) 12 38
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Stichwortverzeichnis
Handlungsort 26, 52 ff. Harmonisierung ~ des Strafrechts mittels Anweisungen der EG 8 26 ff. ~ des Strafrechts im Rahmen der dritten SaulederEUll Iff. Harmonisierungsbefugnisse allgemeine ~ 8 38, 48 ff. Annexkompetenzen 8 41 spezielle ~ 8 38, 43 ff. Herkunftslandprinzip 12 43 I Immunitatenprotokoll 5 61 Implied powers 4 50, 89, 101 Indirect Enforcement Model 2 86 Individualbeschwerde 3 20, 23 f, 26 ff. Individualschutzprinzip 2 50 Informationssysteme 11 151 ff. Denial of Service-Angriff 11 161 Hacking 11 152,159,168 Rahmenbeschlussvorschlag zum Schutz vor Angriffen auf ~ 11 154 ff. Informelle Zusammenarbeit 5 2, 18, 26 ff. Inlanderdiskriminierung 9 34 Inlandsbegriff 2 13 Inlandstaten Anwendung des deutschen Strafrechts auf ~ 2 13 ff. Insider-Richtlinie 8 32 Intergouvernementale Zusammenarbeit in der EU4 107, 5 25ff. International-arbeitsteilige Strafrechtspflege 5 1, 111,13 39 Internationaler Pakt fur burgerliche und politische Rechte (IPBPR) 5 5, 13 3 Internationaler Strafgerichtshof (IStGH) 2 87 Internationales Strafrecht 2 2 ff. Interpol 5 3 Irrefuhrungsverbot lebensmittelrechtliches ~ 10 15 ff. gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des~slO 19 ff.
Jurisdiktionskonflikte 2 60 ff. K Kautionsverfall 4 82 Kinderpornographie 11 99 ff., 110
Rahmenbeschluss zur Bekampfung der ~ 11 99 ff. Kollision direkte~9 16 echte~9 15 indirekte~9 16 ff. scheinbare ~ 9 15 Kommission der EG 4 18 ff. strafrechtsrelevante Aktivitaten der ~ 4 25 ff. Kompetenzverteilungsprinzip 2 60 Komplementaritat 2 90 f. Konferenz von Rom 2 87 Kongress der Gemeinden und Regionen Europas 3 5 Kontrollierte Lieferung 5 10, 33, 98 ff. Konventionsorgane der EMRK 3 24 f. Konventionsrechte als Auslieferungshindernis 3 37 ff. Korruptionsbekampfung OECD-Konvention zur Bekampfung der Korruption 5 13 Strafrechtskonvention zur ~ 5 22 Kriminalitat Organisierte ~ 5 18, 27, 59, 65, 73, 76, 88,112, 11 Kriminalpolitik Europaische ~ 1 10 f. Kriminologie 1 15
Lebensmittelstrafrecht 7 96, 101 ff., 9 11, 10 15 ff., 18 ff. Legalitatsprinzip 9 13 Legitimierender Anknupfungspunkt 2 10, 12,61 Lex-mitior-Grundsatz 7 97 Lockspitzel 3 54 Lotterieveranstaltung grenzuberschreitende ~ 9 26 f. Werbung fur ~ 9 26 f. Loyalitatsgebot 7 2, 4 ff., 27, 30, 39, 42, 50, 55,71,10 6,67 M Mehrphasiger Interpretationsakt 10 2, 23 f. Menschenhandel 11 24 Rahmenbeschluss zur Bekampfung des ~s 11 25 ff. Menschenrechtsschutz 3 21 ff.
Stichwortverzeichnis
Mindesthochststrafe 115 kinderpornographische Schriften 11 103, 110 Mindesttrias 7 27 ff., 63 ff. Mindestvorschriften ~ zum Zwecke der Strafrechtsangleichung 11 2 ff. Ministerkomitee 3 4 f, 25, 31 N Ne bis in idem im nationalen Recht 13 2 ff. im allgemeinen Volkerrecht 13 2 transnationales ~ in der EU 13 1 ff, 26 ff. Neutralisierung ~ von Strafrechtsnormen 9 10 ff., 15, 24 Nichteinmischungsgebot volkerrechtliches - 2 10 ff, 95 Nichtigkeitsklagen 4 48 Niederlassungsfreiheit 9 20, 32 ff, 40 f. Nostalgiewerbung 10 18 ff. Notwehr ~ im Lichte der EMRK 3 67 ff. O OECD-Konvention zur Bekampfung der Korruption 5 13 Office de la Lutte Anti-Fraude (OLAF) 4 28 ff. Ordre Public 2 59, 76, 12 32 Organe ~ der EG 4 6 ff. ~ des Europarates 3 5 Organisation fur Wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) 5 11 Organleihe 5 117 Organisierte Krimmalitat 5 18, 27, 59, 65, 73, 76,88,112, 11
Parlamentarische Versammlung 3 5 Passives Personalitatsprinzip 2 48 PIF-Konvention 14 23 ff. Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 5 69 ff, 12 1 ff. Polizeilicher Informationsaustausch 5 22, 34 ff., 81 Primarrecht 4 59 f. Punitive Sanktionen 4 76 EURU 12 7
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R Rahmenbeschluss ~ als neue Handlungsform im Rahmen der PJZS 5 71 ~ tiber den Europaischen Haftbefehl 12 19 ff. ~ iiber den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht 8 24,11, 114 ~ iiber gemeinsame Ermittlungsgruppen 1167f. ~ zum strafrechtlicher Schutz des Euro 8 19,11 13 ~ zur Bekampfung der Bestechung im privaten Sektor 11 127 ff. ~ zur Bekampfung der Geldwasche 8 15,1145 ~ zur Bekampfung der Kinderpornographiell99ff. ~ zur Bekampfung der Schleuserkriminalitatll33ff. ~ zur Bekampfung des Menschenhandels 11 25 ff. ~ zur Bekampfung von Betrug und Falschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln 11 90 ff. ~ zur Terrorismusbekampfung 1153 ff. Rahmenbeschlussvorschlag ~ iiber die Europaische Beweisanordnung 12 9 ff. ~ zum Schutz vor Angriffen auf Informationssysteme 11 154 ff. ~ zur Bekampfung des illegalen Drogenhandels 11 71 ff. ~ zur Bekampfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit 11 138 ff. Rassismus 11 136 f. Rahmenbeschlussvorschlag zur Bekampfung von ~ und Fremdenfeindlichkeit 11 138 ff. Rat der EG (EU) 4 7 ff. strafrechtsrelevante Aktivitaten des ~ 4 16 f. Rechtsetzungskompetenz strafrechtliche ~ der EG 4 72 ff, 101 Rechtsguter auslandische ~ 2 6 europaische (supranationale) ~ 7 34 inlandische ~ 2 5 f. Rechtshilfe in Strafsachen 2 65 ff, 70 ff, 12 2, 4 ff.
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Stichwortverzeichnis
Rechtshilferecht2 71 ff. Rechtsschutz ~ gegen grenzuberschreitende Strafverfolgung 5 111 ff. Rechtsprechungswandel 10 61 Richtlinien 4 64 -recht und strafrechtliche Verantwortlichkeit 10 40 ff., 45 ff, 49 ff. Erfordernis der Bestimmtheit von ~ 10 49 ff. Unmittelbare Anwendbarkeit von ~ 4 65 Richtlinienkonforme Auslegung 10 2 Beginn der Pflicht zur ~ 10 29 ff. Grenzen der Pflicht zur ~ 10 34 ff. Rom-Statut (IStGH-Statut) 2 87 ff. Riickverweisungsklausel 7 100 Ruckwirkungsverbot 10 36, 43, 61 f.
Sanktionstypen des Gemeinschaftsrechts 4 78 ff. Schengen-acquis (Schengen-Besitzstand) 5 31,71 Schengener Durchftihrungsubereinkommen (SDU) 5 30 ff. Schengener Informationssystem (SIS) 5 50 ff. Schleuserkriminalitat 11 11, 33 Rahmenbeschluss zur Bekampfung der ~ 11 33 ff. Schonungsgebot strafrechtsspezifisches ~ 8 69 Schutz der EG-Finanzinteressen 8 56 ff, 14 23 ff. Schutzbereich ~ eines Straftatbestandes 2 5 ff. Schutzbereichsausdehnung ~ auf Rechtsguter der EG 2 7 ff, 7 71, 74 ff. Schutzbereichsbeschrankung ~ auf inlandische Rechtsguter 2 5 f. Schutzverpflichtung ~ der EG-Mitgliedstaaten 7 2, 6, 19 ff. Schutzprinzip 2 49 Sekundarrecht4 61 ff. Sondernormen 10 77 Sorgfaltspflichten Gemeinschaftsrechtliche Uberlagerung von ~ 10 77 f. Staatenbeschwerde 3 23
EuRhUbk 12 5 Staatenverbund E U a l s - 4 104 Staatsschutzprinzip 2 49 Strafanwendungsrecht 2 2 ff. Strafbarkeitslucken ~ durch Austausch des Verweisungsobjekts 7 95 ff. Straferkenntnis 13 29 f. Strafgeld4 81 Strafklageverbrauch ~ auf Gemeinschaftsebene 13 3 ~ im deutschen Recht 13 2 ff. transnationaler ~ 13 1 ff, 26 ff. Strafrecht im weiteren Sinne 4 76 Strafprozessuale Verfahrensgarantien 3 52 ff. Strafrechtsdogmatik 112 Strafrechtsetzungskompetenz der EG 4 72 ff, 101 Strafrechtsrelevante Garantien der EMRK 3 33 ff. Strafrechtsvergleichung 1 13 Strafverfahrensrecht 1 14 Strafzuschlage 4 82 Subsidiaritatsprinzip 8 63 ff, 11 6 Subventionskiirzungen 4 82 Subventionssperren 4 82 Supplementary Information Request at the National Entry (SIRENE) 5 52 Supranationale Straftatbesta'nde 14 46 Supranational Verweisungen 7 8 ff. Supranationaler Gesamttatbestand 7 8, 13 f.
Tatortstrafbarkeit 2 46, 56 ff. Tempelarchitektur ~ der Europaischen Union 4 58, 106 Territorialitatsprinzip 2 13 ff. europaisches ~ 7 67 Terrorismus 5 18, 26, 56, 64, 70, 72, 88, 11 2, 52 ff. Terrorismusbekampfung Rahmenbeschluss liber gemeinsame Ermittlungsgruppen 11 67 f. Rahmenbeschluss zur -11 53 ff. Todesstrafe Verbot der ~ 3 40, 43 Todeszellensyndrom 3 41 Transactie 13 27 ff.
Stichwortverzeichnis
Transnationales Strafrecht 2 64 ff. Treuepflicht siehe Loyalitatsgebot TREVI-Arbeitsgruppen 5 26 ff. U Ubiquitatsprinzip 2 17 Ubereinkommen ilber die Rechtshilfe in Strafsachen zwischen den Mitgliedstaaten der EU (EURU) 12 7 Umsetzungsrecht 10 10 ff. Umweltdelikte Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der ~ 10 73 ff. grenzuberschreitende ~ 2 39 ff. Umweltschutz 8 45 ff. Umweltstrafrecht Rahmenbeschluss iiber den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht 8 24, 11, 114 Richtlinienvorschlag uber den strafrechtlichen Schutz der Umwelt 4 27, 8 21 ff. UN-Anti-Folterkonvention 5 5 Unite de Coordination de la Lutte AntiFraude (UCLAF) 4 28 ff. United Nations (UN) 5 5 ff. UN-Sicherheitsrat sicherheitsratsgestiltzte Zustandigkeit des IStGH 2 89, 106 UN-SuchtstoffUbK 5 8 UN-TranskrimUbK5 10 Untatigkeitsklagen 4 49 Untersuchungshaft 3 27, 53, 62 ff. uberlange ~ 3 63 ff. Urkundendelikte Gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung der ~ 10 70 ff.
Verbraucherleitbild 10 19, 21 f. Verbrechen gegen die Menschlichkeit 2 51, 85, 88, 98 Verdeckte Ermittlungen 5 10, 82, 84, 94 ff. Verdeckte Registrierung 5 55 Vereinte Nationen (UN) 5 5 ff. Verfahrensdauer uberlange ~ 3 59 ff. Verfahrensverzogerungen vorlagebedingte ~ 6 22 Verfassung fur Europa 1 3
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VerhaltnismaBigkeitsprinzip gemeinschaftsrechtliches ~ 7 44 f., 48 f, 54, 68, 8 66 ff., 9 38 ff Verordnungen 4 62 Vertrag von Amsterdam 4 39, 5 69 Vertrag von Maastricht 4 39, 5 56 Vertrag von Nizza 4 13, 5 73 Vertragsverletzungsklagen 4 47 Verwahrungsbruch 10 67 f. Verwaltungssanktionrecht Europaiscb.es ~ 4 82 Verweisung dynamische ~ in Blankettstrafnormen 7 82 statische ~ in Blankettstrafnormen 7 81 Volkermord 2 51 f., 85, 88, 93, 97 Volkerrechtl 18,2 10 ff. Volkerstrafgesetzbuch (VStGB) 2 93 ff. Volkerstrafrecht 2 84 ff. Vollstreckungshilfe 2 65, 12 12 Vorabentscheidungsverfahren 4 45 f, 6 1 ff. ~ im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens6 18ff. ~ im Rahmen eines Haupt- und Zwischen verfahrens 6 16 f. ~ und strafprozessuale Maximen 6 15 ff. Funktion und Bedeutung des ~ 6 3 ff. Zulassigkeit des ~ 6 6 ff. Vorlageermessen 6 6, 17 Vorlagepflicht 6 7 Missachtung der ~ 6 5 Vorrang des Gemeinschaftsrechts 4 60, 9 Iff. Anwendungs- 4 60, 9 8, 10 ff. begrenzter ~ 9 5 ff. Geltungs- 9 8 unbeschrankter ~ 9 3 f. W Warenverkehrsfreiheit 9 11, 29 Werbung grenziiberschreitende ~ 9 26 ff. Weltrechtsprinzip 2 51 f, 94 Wettbewerbsverzerrung 8 43, 46, 51, 54 f. Wiener Ubereinkommen uber das Recht der Vertrage 13 35 Wirksamkeitserfordernis 7 63 ff. Wortlaut ~ als auBerste Grenze der Auslegung im Strafrecht 10 5, 34
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Stichwortverzeichnis
Z Zahlungsmittel Rahmenbeschluss zur Bekampfimg von Betrug und Falschung im Zusammenhang mit unbaren Zahlungsmitteln 11 90 ff. Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres (ZBJI) 5 56 Zuwiderhandlung gegen EG-Verordnung 7 86 ff. Zwangsgeld 4 47, 80