Europäische Romantik: Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung 9783110311020, 9783110310900

This volume compiles essays on Scandinavian, German, English, and French Romanticism from the perspectives of history, a

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German Pages 334 [336] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Zur Einführung
Romantik und Romantikforschung heute
Deutungskonflikt ‚Romantik‘ Problemgeschichtliche Überlegungen
Künste
Forschungsbericht zur nicht unproblematischen kunsthistorischen Romantik-Forschung in Deutschland: Friedrich, Runge und Zeitgenossen
Bildtheoretische Grundfragen der Romantik. Skizze eines Forschungsfeldes
Mimesis versus Fiktion. Präfigurationen modernen Bildverständnisses bei Caspar David Friedrich
Augenblicke. Autonomie und Selbstreferenzialität sprachlicher Formen beim Betrachten von Bildern
Scandinavian Landscape Painting. A Survey of an Uncharted Field
Romantik und Historie. Aspekte des Geschichtlichen in der Musik
Philosophie und Wissenschaftsreflexion
Wirklichkeit als „Duft“ und „Anklang“. Romantik, Realismus und Idealismus um 1800
Die Frühromantik als Bestandteil der klassischen deutschen Philosophie
Hegels Kritik an der Romantik
Romantische Medizin und Naturforschung. Ideentransfer rund um die Ostsee
Zur Aktualität von Friedrich Schlegels Kritikkonzeption für die Geisteswissenschaften
Literaturen
Eigenarten romantischer Geselligkeit
Der Orient auf der Bühne. Byrons Sardanapal als romantisches Drama und als Melodrama
Improvisation, Speculation, and Mediality. The Late-Romantic Information Age
Medien des Ewigen. Zur Schnittstelle von idealistischer Ästhetik, Phrenologie und Literatur (Hegel, Otto, Goldschmidt)
Produktive Insolvenz. Zur poetologischen Potenzierung romantischer Ökonomie bei Carl Jonas Love Almqvist und Søren Kierkegaard
Frühromantik und Gegenwartsliteratur. Progressive Universalpoesie um 2000
Französische Romantik als „Gegen-Moderne“? Auch eine Erwiderung auf Antoine Compagnon, am Beispiel Chateaubriands
Anhang
Abbildungsnachweise
Über die Autorinnen und Autoren
Personenregister
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Europäische Romantik: Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung
 9783110311020, 9783110310900

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Europäische Romantik

Europäische Romantik Interdisziplinäre Perspektiven der Forschung

Herausgegeben von Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

ISBN 978-3-11-031090-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-031102-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038298-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Coverbild: Jørgen Roed: Afskedsscene på Toldboden (1834), Öl auf Leinwand (66 × 82 cm), Privatbesitz. Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Zur Einführung Helmut Hühn und Joachim Schiedermair Romantik und Romantikforschung heute

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Helmut Hühn Deutungskonflikt ‚Romantik‘ Problemgeschichtliche Überlegungen

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Künste Werner Busch Forschungsbericht zur nicht unproblematischen kunsthistorischen Romantik-Forschung in Deutschland: Friedrich, Runge und Zeitgenossen Johannes Grave Bildtheoretische Grundfragen der Romantik Skizze eines Forschungsfeldes 51 Kilian Heck Mimesis versus Fiktion Präfigurationen modernen Bildverständnisses bei Caspar David Friedrich 65 Reinhard Wegner Augenblicke Autonomie und Selbstreferenzialität sprachlicher Formen beim Betrachten von Bildern 83 Michelle Facos Scandinavian Landscape Painting A Survey of an Uncharted Field

99

Walter Werbeck Romantik und Historie Aspekte des Geschichtlichen in der Musik

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VI

Inhalt

Philosophie und Wissenschaftsreflexion Paul Ziche Wirklichkeit als „Duft“ und „Anklang“ Romantik, Realismus und Idealismus um 1800 Andreas Arndt Die Frühromantik als Bestandteil der klassischen deutschen Philosophie Walter Jaeschke Hegels Kritik an der Romantik

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Thomas Stamm-Kuhlmann Romantische Medizin und Naturforschung Ideentransfer rund um die Ostsee 171 Jure Zovko Zur Aktualität von Friedrich Schlegels Kritikkonzeption für die Geisteswissenschaften 185

Literaturen Günter Oesterle Eigenarten romantischer Geselligkeit

201

Marie-Louise Svane Der Orient auf der Bühne Byrons Sardanapal als romantisches Drama und als Melodrama Angela Esterhammer Improvisation, Speculation, and Mediality The Late-Romantic Information Age 229 Joachim Schiedermair Medien des Ewigen Zur Schnittstelle von idealistischer Ästhetik, Phrenologie und Literatur (Hegel, Otto, Goldschmidt)

239

215

Inhalt

Klaus Müller-Wille Produktive Insolvenz Zur poetologischen Potenzierung romantischer Ökonomie bei Carl Jonas Love Almqvist und Søren Kierkegaard 259 Eckhard Schumacher Frühromantik und Gegenwartsliteratur Progressive Universalpoesie um 2000

279

Edoardo Costadura Französische Romantik als „Gegen-Moderne“? Auch eine Erwiderung auf Antoine Compagnon, am Beispiel Chateaubriands 289

Anhang Abbildungsnachweise

315

Über die Autorinnen und Autoren Personenregister

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VII

Zur Einführung

Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

Romantik und Romantikforschung heute Die Kultur der europäischen Romantik ruft in den Wissenschaften großes Interesse hervor. Die Forschung auf dem Weg ihrer Internationalisierung steht vor einer doppelten Aufgabe: Auf der einen Seite lässt sich die Rede von ‚der‘ Romantik unter komparatistischer Perspektive schwer legitimieren; deshalb ist zu differenzieren im Hinblick auf die verschiedenen Nationalkulturen, auf ihre zeitlichen Entfaltungen und auf die verschiedenen Domänen romantischer Aktivität.1 Hinzu kommt: Die Romantik-Begriffe der an der Diskussion beteiligten wissenschaftlichen Disziplinen sind nicht einfach aufeinander abbildbar. Missverständnisse scheinen vorprogrammiert, wenn nicht disziplinär angelegte Forschungsgeschichten rekonstruiert und voneinander abgehoben werden. Auf der anderen Seite droht die Forschung in verschiedene Fächerkulturen und hoch differenzierte Forschungsstände auseinanderzufallen. Deshalb erscheint es geraten, interdisziplinäre Verbindungslinien zu ziehen und übergreifende Zusammenhänge in dem dichten Geflecht der europäischen Diskurse aufzuzeigen. In einem Aufsatz, der in der Mitte der 1990er Jahre die einflussreiche Schriftenreihe der Stiftung für Romantikforschung einleitete, hat Gerhard Neumann eine „Archäologie des Anfangs“ als zentrales Anliegen romantischer Wissenschaft, Philosophie, Literatur und bildender Kunst beschrieben.2 Die romantische Reflexion des Anfangs wird gleichzeitig Ort zahlreicher (Neu-)Anfänge: der Philologien und der modernen Geschichtswissenschaften, einer Anthropologie, die das Unbewusste integriert,3 oder neuer Konzeptionen künstlerischer Darstellung und Visualität,4 um nur einige zu nennen. Deshalb ergibt es durchaus Sinn, von der Romantik als einem ‚Beginn der Moderne‘ zu sprechen, wenn man die fortlaufende Erneuerung, das immer wieder neu inszenierte Ansetzen als eine ihrer Leitmetaphern begreift.5

1 Vgl. Walter Schmitz: „Die Welt muß romantisiert werden…“. Zur Inszenierung einer Epochenschwelle durch die Gruppe der ‚Romantiker‘ in Deutschland. In: Hendrik Birus (Hrsg.): Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Stuttgart 1995, S. 290–308, bes. S. 291. 2 Gerhard Neumann: Romantisches Erzählen. Einleitung. In: Ders. (Hrsg.): Romantisches Erzählen. Würzburg 1995, S. 7–23, hier S. 7. 3 Vgl. die Ergebnisse des DFG-Projekts „Romantische Anthropologie“ unter der Leitung von Manfred Engel. 4 Vgl. etwa Jonathan Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge, Mass. 1992. 5 Diese Perspektive nahm beispielsweise die DFG-Forschergruppe „Anfänge (in) der Moderne“ ein.  







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Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

Zur Wirkungsgeschichte der Romantik gehört paradoxerweise auch, dass gerade diejenige Epoche, die Historisierung,6 Prozessualität und eben auch Obsoleszenz als grundlegende Bedingungen menschlicher Kultur zu verstehen beginnt, zu einem (historisch vergangenen) Bezugspunkt für spätere Neuausrichtungen wurde: Immer wieder inszeniert man sich als Erbe der Romantik,7 um das eigene Projekt als Neuansatz zu legitimieren. Das Verhältnis der Wissenschaft zu diesen paradoxen Anverwandlungen wie auch Projektionen ist komplex. In manchen Fällen initiiert sie diese, in anderen Fällen reagiert sie nur darauf oder kommentiert ihre Engführungen, Idiosynkrasien und blinde Flecke. Die letzte dieser Funktionalisierungen ist unter dem Label ‚Postmoderne‘ bekannt geworden, die wesentliche ihrer Denkfiguren (etwa gebrochene Subjektivität, mise en abyme, Referenzlosigkeit des sprachlichen Zeichens) in der frühromantischen Ästhetik vorgebildet sah. Damit hätte die Romantik gleichzeitig den Einstieg in die Moderne wie deren Überwindung motiviert. Auch diese Phase der Dehistorisierung scheint mittlerweile in eine Phase der Rehistorisierung der Romantik (und auch der postmodernen Lust an der Romantik) übergegangen zu sein.8 Dass sich die Romantik wiederholt als Ort der Rückprojizierung des eigenen Anfangs eignet, liegt an dem eingangs genannten Umstand, dass sie ihre eigenen Anfänge und ihr immer wieder neues Einsetzen mit einer Reflexion des Anfangens verknüpft. Begreift man die Romantik als eine Strömung, die zur Konfiguration der sich entfaltenden Moderne gehört, wird die Beschäftigung mit ihr zwangsläufig zu einer Reflexion des eigenen (immer noch modernen) Standorts. Romantik-Forschung ist damit immer auch Interpretation der Gegenwart9 bzw. Interpretation von Gegenwärtigkeit: Historisierende Kontextualisierung und aktualisierende Dekontextualisierug stellen sich ihr als parallele Prozesse dar; Konstruktionsmodelle sind dabei jeweils kritisch zu reflektieren.

6 Vgl. auch Michael Gamper u. Helmut Hühn: Was sind Ästhetische Eigenzeiten? Hannover 2014, bes. S. 27–37. 7 Vgl. mit Blick auf die moderne Kunst etwa den Ausstellungskatalog: Christoph Vitali (Hrsg.): Ernste Spiele. Der Geist der Romantik in der deutschen Kunst 1790‒1990. Stuttgart 1995. 8 Beispielhaft sei genannt: Alice Kuzniar: Hypervisuality in German Romanticism, or ‚The Crystal Revenge‘. In: Lis Møller u. Marie-Louise Svane (Hrsg.): Romanticism in Theory. Aarhus 2001, S. 108–123. Vgl. auch mit Blick auf die Deutungsmuster der Kunstgeschichtsschreibung die von Christian Scholl geleitete Abschlusstagung „Was ist romantisch an der romantischen Kunst? Kunsttheorie und Künstlerpraxis“ der Emmy Noether-Forschergruppe „Romantikrezeption, Autonomieästhetik und Kunstgeschichte“ im Jahr 2009. 9 Wie u. a. die kritische Auseinandersetzung mit der Romantik angefangen bei Hegel und Kierkegaard bis zu Carl Schmitt und Ludwig Klages zeigt.  





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Romantik und Romantikforschung heute

Sowenig die Romantik-Forschung demnach auf eine Reflexion der eigenen Gegenwart verzichten kann, sowenig kann sie sich Grenzen der Zuständigkeit erlauben: Friedrich Schlegel imaginiert im 125. Athenäums-Fragment eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste […], wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.10

Die Romantik wäre demnach ein Phänomenzusammenhang, der alle Bereiche der Wissens- und Erfahrungsproduktion umfasst, und somit auch ein Forschungsgegenstand, der Interdisziplinarität verlangt. Dies ist keine neue Erkenntnis. Doch die Herausgeber dieses Bandes sind sich mit den Beiträgerinnen und Beiträgern einig, dass die von den deutschen Romantikern gerne benutzte Vorsilbe ‚sym‘ in der Rekonstruktion noch immer zu wenig Beachtung findet. Dieser Band kann dem Manko nicht abhelfen, aber es doch in seiner Konzeption immerhin als Aufgabe der Forschung anzeigen. Noch ein weiteres Desiderat soll zumindest markiert werden: Da der industrielle Modernisierungsschub im 19. Jahrhundert zwar in den einzelnen Regionen Europas unterschiedlich früh ansetzte und sich der Prozess der sozialen, kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Modernisierung entsprechend unterschiedlich schnell vollzog, ist es nicht zu leugnen, dass auch die Erforschung der Romantik, als wichtiges Moment dieses Prozesses, ein gesamteuropäisches Format und Design erfordert.11 In diesem Sinn ist es wohl angezeigt – wie dies beispielsweise in der anglophonen Forschungsliteratur üblich ist –,12 von den Romantiken im Plural zu sprechen: Nur im Plural sind gleichzeitig die Kernepoche sowie ihre späteren Anverwandlungen und voneinander abweichenden Konstruktionen ‚des‘ Romantischen zu erfassen; nur im Plural kann die Romantik als fait social total wahrgenommen werden, in dem alle Wissensbestände und Erfahrungsbereiche vernetzt sind; und nur im Plural wird die Vielgestaltigkeit und komplexe Interdependenz der verschiedenen europäischen Nationalromantiken rekonstruierbar, ohne Letztere in einem Gefüge von Original und Nachahmung hierarchisieren zu müssen. Entsprechend versammelt dieser Band in seinen drei Kapiteln  





10 Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Paderborn u. a. 1958 ff. [=KFSA], Bd. I/2, S. 165–255, hier S. 185. 11 Schlegel betont programmatisch in seiner Geschichte der europäischen Literatur (KFSA, Bd. II/ 1, S. 5): „Die europäische Literatur bildet ein zusammenhängendes Ganzes, wo alle Zweige innigst verwebt sind, eines auf das andere sich gründet, durch dieses erklärt und ergänzt wird.“ 12 So bereits 1924 bei Arthur O. Lovejoy: On the discrimination of Romanticisms. In: PMLA 39 (1924), S. 229–253.  















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Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

Beiträge zur dänischen, deutschen, englischen, französischen, norwegischen und schwedischen Romantik aus einem breiten Cluster von Disziplinen – Bildwissenschaft, Geschichte, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und Philosophie –, wobei einzelne Untersuchungen ihre konkrete Problemstellung immer wieder auf die Frage hin transzendieren, wie Romantik-Forschung heute aussehen kann, eine Frage, die entsprechend auch die Gegenwart der Forschung berücksichtigen muss.  



Zum Umschlagbild

Abb. 1: Jørgen Roed, Afskedsscene på Toldboden [Abschiedsszene am Zoll], 1834, Öl auf Leinwand, 66 x 82 cm. Privatbesitz.

Das für den Umschlag des Bandes gewählte Bild Abschiedsszene am Zoll (Afskedsscene på Toldboden, 1834) des dänischen Malers Jørgen Roed (1808–1888) reflektiert die Verschränkung temporaler Perspektiven, die für das historische Denken seit der Romantik konstitutiv ist. Der Neuanfang verbindet sich mit dem Blick zurück: Ein junges Paar – er mit schwarzer Schirmmütze, sie mit grüner  

Romantik und Romantikforschung heute

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Haube – trennt sich gerade von der Familie, um in die Neue Welt aufzubrechen. Man kann diese Abschiedsszene als Ankündigung einer Situation lesen, die sich im beschleunigenden Modernisierungsprozess in Dänemark häufig wiederholen wird: Aufgrund des Bevölkerungswachstums werden große Teile der Bevölkerung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zur Globalisierung gezwungen. Demnach kann man das Motiv des Aufbrechens und des sich auf diesem Bild ankündigenden Neuanfangs als eine Metapher der Moderne auffassen, die immer auf dem Weg in eine unbestimmte Zukunft ist. Diese Deutung wird durch das räumliche Arrangement der Figuren unterstützt; Roed führt der europäischen Sehgewohnheit entsprechend den Blick des Betrachters von links nach rechts: von einem Soldaten, der der Blickrichtung entgegen nach links (also in die Vergangenheit) aus dem Bild zu streben scheint, über die Alten, die parallel zur Blickrichtung des Betrachters und damit mit dem Betrachter zusammen auf die junge Generation blicken, die selbst wiederum von der Blickbewegung überholt wird, in das Ungewisse des Nebels, in dem sich noch schemenhaft die Masten eines Schiffs erahnen lassen. Versteht man das Motiv des Aufbruchs, wie vorgeschlagen, als Metapher der Moderne, dann liegt es nahe, diese durch das Wandern des Blicks in Bewegung gesetzte räumliche Konstellation in temporale Begriffe zu übersetzen. Der Soldat am linken Bildrand wird entsprechend zum Agenten der etablierten Ordnung und damit der Vergangenheit, die klare Gestalt und Handlungsmacht besitzt, die aber vom Blick (als Triebfeder der historischen Bewegung) auf eine Zukunft am rechten Bildrand hin geöffnet wird, die nicht mehr aus der Vergangenheit abgeleitet werden kann; vielmehr ist die Zukunft derart offen, dass ihre Gestalt im Grau des Nebels nicht einmal erahnt werden kann. Man kann die Blickführung durch das Arrangement der Figuren demnach als allegorische Repräsentation der romantischen Entdeckung von Historizität verstehen, von Geschichte als einmaligem Prozess, der ‚nach vorne‘ radikal offen ist, obwohl er sich als eine Abfolge von Konstellationen, die aufeinander aufbauen, vollzieht. Zwischen klar konturierter Ordnung der Vergangenheit und in gleicher Weise offener, unbestimmter Zukunft liegt die Gegenwart, also der Ort des Abschieds von der Vergangenheit, den Roed nicht einfach als Trennlinie zwischen Alt und Jung gestaltet, sondern als dialektische Verschränkung von historisch festgelegtem Blickpunkt und futurisch offenem Ausblick. Denn gerade die Aufbrechenden sind in ihrer Körperhaltung dem Land und damit der Ordnung der Vergangenheit zugewandt, die zu verlassen sie im Begriff sind; wohingegen die Repräsentanten der Vergangenheit, die zurückbleibende Familie, nur von hinten zu sehen sind und so – in Parallelführung mit dem Blick des Bildbetrachters – aus dem Jetzt der Gegenwart in die offene Zukunft blicken. Die Verschränkung der Perspektiven ist noch dazu in den Gesten der sich fassenden Hände anschaulich gemacht. Damit wird ästhetisch nachvollziehbar, dass eine Ausschließlichkeit in der Zuordnung zur Vergangenheit oder zur Zu 





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Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

kunft nicht möglich ist, dass sich vielmehr beide Perspektiven dialektisch aufeinander beziehen. Entsprechend mag dieses Bild der dänischen Romantik als Portal einer Publikation dienen, die danach fragt, mit welchem Selbstverständnis, mit welchem methodischen Bewusstsein und mit welchem Erkenntnisinteresse heute Romantik-Forschung betrieben wird.

Zu den Beiträgen Helmut Hühn führt in vier Schritten in den Tagungsband ein: In einem ersten macht er die Vielfalt und Heterogenität der europäischen Romantiken zum Thema und skizziert Strategien der internationalen Forschung, mit solcher Vielgestaltigkeit umzugehen. In einem zweiten Schritt geht er auf die Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zurück und deutet anhand der frühen Romantik-Kritiken von Hegel, Goethe und Heine die Formierung wirkmächtiger europäischer Deutungsmuster an. Diese Muster können als Indikatoren ungelöster historischer Konflikte betrachtet werden. Der Beitrag versucht in einem dritten Schritt in Kontaktaufnahme mit der jüngeren Forschung aufzuzeigen, wie problematisch es ist, den Begriff der Romantik als Epoche, als Stil oder als Haltung zu bestimmen. Abschließend rückt Hühn die Vielfalt und Heterogenität der Romantiken in den Horizont einer Konfliktgeschichte der sozialen und kulturellen Moderne und plädiert für die dichte Beschreibung einzelner Werke und Artefakte.

Künste Die Forschung zur deutschen romantischen Bildkunst wird dominiert von Arbeiten zu Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge. Ersterer gibt, wie Werner Buschs Forschungsgeschichte zeigt, seit seiner Wiederentdeckung um 1900 Anlass zu Streit in methodischer und ideologischer Hinsicht, der bis heute nicht beigelegt ist. Tendenzielle Sinnoffenheit und definitive Sinnzuschreibung konkurrieren miteinander, je nach Zeitbedingtheit und Positionierung stärker religiös, politisch oder ästhetikgeschichtlich ausgerichtet. Philipp Otto Runge scheint es hier leichter zu haben. Die hochkomplexe Befrachtung seiner Werke mit unterschiedlichen Sinnschichten lässt zwar die Untersuchungen diesen Gedankenwegen folgen, doch ist auch bei Runge nichts Abschließendes zu sagen. In Bewegung ist auch die Forschung zur Nazarenerkunst oder zu Carl Blechen und Schinkel. Nach wie vor scheint es ein Hauptproblem der Forschung zu sein, so Busch, dass das Verhältnis von klassischen und romantischen Formen nicht hinreichend analysiert ist.

Romantik und Romantikforschung heute

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Welche Anregungen die Malerei der Romantik für bildtheoretische Fragen bereithält, erwägt der Beitrag von Johannes Grave. Skizziert werden neue Perspektiven für eine Forschung, die historische Untersuchungen mit systematischen Fragen verbindet. Im Zentrum steht der scheinbar paradoxe Befund, dass sich in Bildern Friedrichs, Runges und der Nazarener Bemühungen beobachten lassen, das Bildbewusstsein der Betrachter zu wecken und zu stärken, während dieselben Bilder zugleich auf neue Weise ‚Macht‘ über ihre Rezipienten zu gewinnen scheinen. Eine spezifisch rezeptionsästhetische Temporalität, die um 1800 verstärkt Bedeutung erlangt, könnte einen Weg weisen, um beide Aspekte, Bildbewusstsein und Bildmacht, zu verknüpfen. Ein in der kunstgeschichtlichen Forschung seit langem erörtertes Problem ist es, ob sich Caspar David Friedrich bei seinen Landschaftsgemälden streng mimetisch an den Vorlagen orientierte, die ihm das Studienmaterial seiner Zeichnungen lieferte. Weniger der Kompositcharakter der Gemälde selbst steht hier zur Debatte ‒ an ihm bestanden nie Zweifel ‒, sondern die Frage, ob Friedrich in den Gemälden einzelne Details wie Äste oder Zweige gegenüber dem in den Zeichnungen akribisch fixierten Naturvorbild abänderte. Ausgehend von den philosophisch-ästhetischen Diskursen um 1800 versucht der Beitrag von Kilian Heck den Werkprozess Friedrichs zu verfolgen, um abschließend an einzelnen Fallbeispielen diese für die oft behauptete Prämodernität Friedrichs wichtige Frage zu erörtern. Die Überlegungen von Reinhard Wegner widmen sich dem Verhältnis des Betrachters zum Bild, wie es in Texten des frühen 19. Jahrhunderts fassbar wird. Damit rücken Fragen der Wahrnehmung, der Zeitlichkeit von Sehen und Erkennen, aber auch der Wechselseitigkeit von Produktion und Rezeption in den Fokus. Wegner verdeutlicht, dass die korrespondierenden Bezugnahmen auf Text- und Bildwahrnehmung um 1800 der Romantik-Forschung neue Perspektiven eröffnen können. Einsichten in Rezeptions- und Produktionsverfahren als voneinander abhängige Prozesse lassen den dialogischen Charakter des bildnerischen wie des literarischen Werks in ihren jeweiligen komplexen Strukturen und unterschiedlichen Strategien präziser erkennen und darstellen. Mit der bemerkenswerten Ausnahme von Dänemark, dessen ‚goldenes Zeitalter‘ der Kunst (1800–1850) mit der romantischen Periode zusammenfällt, hat die skandinavische Landschaftsmalerei bisher wenig Aufmerksamkeit in der Forschung gefunden. Bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts betrachtete die skandinavische Forschung die Kunst ihrer Heimatländer als eher provinziell. Einzelne, bereits kanonisierte Künstler wie Edvard Munch in Norwegen oder Akseli Gallen-Kallela in Finnland bildeten eine Ausnahme. Eine Wieder- und Neuentdeckung erfolgte erst durch eine große amerikanische Ausstellung, die Anfang der 80er Jahre unter dem Titel Northern Light: Realism and Symbolism in

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Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

Scandinavian Painting 1880–1910 in Washington und New York zu sehen war. Michelle Facos lenkt in ihrem Beitrag die Aufmerksamkeit auf den noch unerschlossenen Reichtum der skandinavischen Traditionen der Landschaftsmalerei, indem sie einen Überblick über das noch nicht bearbeitete Feld eröffnet und so künftige Arbeiten nicht nur anregt, sondern vehement einfordert. Die Anwendung des Begriffs der ‚Romantik‘ auf die Musik und damit auf einen anderen Sektor der Kultur verweist einerseits auf den, wenngleich phasenverschobenen, Zusammenhang zwischen den romantischen Bewegungen in Dichtung, bildender Kunst und Philosophie und der musikalischen Romantik, andererseits auf eine angestrebte Gegenposition zur Musik insbesondere der Wiener Klassiker. Musikwissenschaft und Musikgeschichte laborieren bis heute an dem Konzept eines Epochenschemas. Zu den Konstitutiva musikalischer Romantik gehört, so Walter Werbeck in seinem Beitrag, ein spezifischer Umgang mit der Geschichte. Der Entdeckung der Historie im ausgehenden 18. Jahrhundert folgt deren kreativ-produktive Anverwandlung auf dem Fuße: Ein Prozess, der verschiedene Spielarten eines musikalischen Historismus zeitigte. Läge es somit nahe, die ältere These einer ‚klassisch-romantischen‘ Epoche der Musik im Geiste des Historismus wieder zu beleben, so verweisen doch einerseits die Etablierung einer musikalischen Klassik gegen die aktuelle Romantik und andererseits revolutionär-aufklärerische Bruchstellen vor allem in Deutschland wie etwa um 1850 oder um 1900 darauf, wie wenig homogen diese Epoche tatsächlich war.  

Philosophie und Wissenschaftsreflexion Seit den 1970er Jahren ist die Rede von der besonderen ‚Aktualität‘ der Frühromantik ein wiederkehrender Topos der Forschung. Durch zahlreiche Studien zur ‚Modernität‘ der Radikalaufklärung13 ist jedoch aus der Aufklärungsforschung heraus eine neue Dynamik entstanden, die anders über Innovation und Gültigkeit beider Formationen nachzudenken erlaubt. Vergessene Autoren, unbekannte Konstellationen, konkurrierende Netzwerke sind in den Blick geraten, die stärker berücksichtigt werden müssen. Im Rahmen der Erforschung der komplexen nach-

13 Vgl. Winfried Schröder: Zur Modernität der Radikalaufklärung. In: Hubertus Busche u. Stefan Hessbrüggen-Walter (Hrsg.): Departure to Modern Europe ‒ Philosophy between 1400 and 1700. Hamburg 2010, S. 986–993; Jonathan I. Israel u. Martin Mulsow (Hrsg.): Radikalaufklärung. Frankfurt a. M. 2014.  





Romantik und Romantikforschung heute

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kantischen Problemlagen und Debatten14 ist das Verhältnis des frühromantischen und frühidealistischen Denkens neu in den Blick getreten.15 Eine wichtige Debatte der nachkantischen Philosophie, die Bestimmung des Verhältnisses von Idealismus und Realismus, ist auch Gegenstand der Überlegungen von Paul Ziche. Friedrich Schlegel verbindet in seinem Gespräch über die Poesie die Forderung nach einer „neuen Mythologie“ mit der nach einem „gränzenlosen Realismus“, der aus dem philosophischen Idealismus hervorgehen müsse. Um 1800 lässt sich in der Tat eine breite ‚realistische Bewegung‘ nachweisen. Der Beitrag skizziert Aspekte dieses Realismus, die es gestatten, die philosophischpoetologischen Debatten um 1800 präziser zu konturieren. Es kann, so Ziche, um 1800 nicht um eine bloße Vereinigung beider Positionen gehen, auch nicht um eine eindeutige Abweisung einer von beiden: Gesucht wird nach neuen Denkmöglichkeiten, die diese Gegenüberstellung grundsätzlich übersteigen. Schlegels Charakterisierung der „Phantasie“ in seinem Gespräch in Termen des „Duftes“ oder „Anklangs“ versucht – wieder in Übereinstimmung mit Bemühungen von Philosophen wie Friedrich Wilhelm Joseph Schelling – genau dies zu leisten. Dass die frühromantische Philosophie, obwohl sie noch immer nicht ihrer Bedeutung entsprechend wahrgenommen wird, integraler Bestandteil der Klassischen Deutschen Philosophie ist, betont Andreas Arndt. Anhand zentraler Themen des Diskurses der nachkantischen Philosophie (des Verhältnisses des Idealismus zum Realismus, des Problems des Selbstbewusstseins, der Rolle der Poesie und der Bedeutung der Ästhetik) zeigt der Beitrag, dass die Frühromantik keinen Sonderweg darstellt, sondern wesentliche Impulse für die weitere Entwicklung der Klassischen Deutschen Philosophie gibt. Die Romantik im Sinne einer spezifischen Epoche der Geschichte des Denkens und der Kunst hat Georg Wilhelm Friedrich Hegel noch nicht vor Augen gestanden. Gleichwohl trifft seine Analyse, wie Walter Jaeschke herausarbeitet, zentrale Züge des ‚romantischen Denkens‘. Hegel sieht ‚das Romantische‘ als die Klimax einer von der Antike bis in die Gegenwart verlaufenden Subjektivitätsgeschichte. Hegel entfaltet also eine philosophische Langzeitperspektive, in der er romantisches Denken geschichtlich verortet. Seine Sicht der Romantik, die in der Moderne Epoche gemacht hat, ist ambivalent: Sie bildet für ihn die höchste  





14 Vgl. Walter Jaeschke u. Helmut Holzhey (Hrsg.): Früher Idealismus und Frühromantik (1795– 1805). 2. Bde. Hamburg 1990–1995; Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Kant und der Frühidealismus. Hamburg 2007. 15 Vgl. Karl Ameriks, Fred Rush u. Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): Romantik/Romanticism (=Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism 6 [2008]). Berlin, New York 2009; Walter Jaeschke u. Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845. München 2012.  

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Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

Gestalt dieser Subjektivitätsgeschichte, doch eben damit auch die höchste Form des Objektivitätsverlustes und deshalb zugleich die schärfste Zuspitzung einer Krise, die nur durch den philosophischen Begriff vermittelt werden kann. Die Bedeutung topographischer und zugleich netzwerkorientierter Forschung in der Rekonstruktion romantischer Wissenschaftsgeschichte verdeutlicht der Beitrag von Thomas Stamm-Kuhlmann. Vermittelt durch die geistigen Zentren Jena und Dresden, breitet sich romantisches Denken zwischen Gelehrten und Künstlern aus, die ursprünglich dem Ostseeraum entstammten, unter ihnen Heinrich Steffens, Hans Christian Ørsted, Caspar David Friedrich und Johann Christian Clausen Dahl. Der Philosoph Schelling und der Mediziner Carl Gustav Carus liefern den Protagonisten das theoretische Rüstzeug. Damit rückt Stamm-Kuhlmann ins Zentrum, was häufig nur peripher behandelt wird: die romantische Medizin und Naturforschung. Diese Fokusverschiebung erprobt er auch geographisch: Stamm-Kuhlmann umkreist tentativ die Ostsee, um sie als Medium romantischer Aktivitäten zu verstehen, die Wissenschaft und Kunst miteinander verbinden. Einen philosophischen Aktualisierungsversuch unternimmt der Beitrag von Jure Zovko, der Friedrich Schlegels insbesondere an Lessing anknüpfendes Konzept der hermeneutischen Kritik als eine Alternative zu Gadamers philosophischer Hermeneutik liest. Die Aufgabe der Kritik besteht nach Schlegels Ansicht darin, die Errungenschaften und Objektivationen des Geistes in ihrem Wahrheitsgehalt zu eruieren. Deshalb setze jede kritische Bewertung der philosophischen und kulturellen Überlieferung, so Zovko, symphilosophische Kompetenz und, mit Kant zu sprechen, die Urteilskraft des Interpreten voraus.

Literaturen Das einleitend genannte Ideal gemeinschaftlichen Produzierens in den Künsten und Wissenschaften behandelt Günter Oesterle in seinem Beitrag zu den Eigenarten romantischer Geselligkeit. Diese seien am besten auf der Folie eines im 18. Jahrhundert elaborierten Diskurses der Geselligkeit der Aufklärung beschreibbar. Es lassen sich nämlich sowohl bedeutsame Kontinuitäten wie markante Diskontinuitäten zwischen den jeweiligen Geselligkeitskonzepten feststellen: In Aufklärung wie Romantik ist Geselligkeit Mittel und Medium, eine von Pedanterie freie (auch wissenschaftliche) Mitteilung und damit zugleich einen neuartigen urbanen Lebensstil zu erreichen. Das romantische Geselligkeitsprojekt reflektiert darüber hinaus aber auch die Grenzen der Geselligkeitskonzeption der Aufklärung. Statt wie in aufklärerischen Vorgaben das gute Benehmen in der Zügelung und Dämpfung individueller Manier zu sehen, fordert und fördert die romantische Geselligkeit die individuelle Originalität. Diese bis zur Virtuosität gesteigerte  



Romantik und Romantikforschung heute

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Kunst romantischer Geselligkeit ist im Austesten der Schicklichkeitsgrenzen, so das Fazit Oesterles, allerdings ein höchst riskantes Unternehmen. Aspekte politischer Repräsentation untersucht Marie-Louise Svane, wenn sie zeigt, wie Lord Byron Macht, Geschlecht und Performanz in der Tragödie über den Assyrerkönig Sardanapalus zueinander positioniert. Byron inszeniert den Bankrott der politischen Herrscherfigur als mehr oder weniger gelungenes (Geschlechter-)Rollenspiel und stellt gleichzeitig Politik als Handlungsfeld pessimistisch zur Schau. Das Drama balanciert zweideutig zwischen hoher Tragödie und melodramatischer Komödie und zwischen der Inszenierung orientalischer Vorzeit und dem zeitgenössischen britischen Imperialismus in Indien. Byrons Sardanapalus erschien 1821. Angela Esterhammer rekonstruiert das zeitgenössische literarisch-kulturelle Feld in Großbritannien als ein „Informationszeitalter“, das sich stark von dem Feld der vorhergehenden Jahrzehnte unterscheidet; entsprechend seien neue Paradigmen der Interpretation gefragt. Basierend auf neueren Studien im Bereich der Buch-, Theater- und Mediengeschichte müssen die 1820er Jahre als eine von regem Informationsfluss und Medienwandel geprägte Epoche charakterisiert werden. Zur Analyse der intensiven Auseinandersetzung mit Medialität, die sich auf dem kulturellen Markt der 1820er Jahre abspielt, eignen sich insbesondere die vielschichtigen Begriffe Improvisation, Spekulation und Performance. Mit Beispielen aus literarischen Zeitschriften, Bühnendarstellungen und fiktionalen Texten veranschaulicht Esterhammer die Mobilität von Konzepten über internationale Netzwerke und ihre Remedialisierung zwischen Print und Aufführung (Performance) – beides Medien, die für das englische spätromantische Informationszeitalter kennzeichnend sind. Einen anderen Medienbegriff verfolgt der Beitrag Medien des Ewigen. Zur Schnittstelle von idealistischer Ästhetik, Phrenologie und Literatur (Hegel, Otto, Goldschmidt): Die Besessenheit des 19. Jahrhunderts von optischen und visuellen Phänomenen zeigt sich unter anderem in der internationalen Begeisterung für die Phrenologie, die Lehre von der notwendigen Verbindung zwischen der Form des Kraniums und des Charakters einer Person. Joachim Schiedermairs Beitrag zeigt, dass das, was heute als absurde Randerscheinung in der Geschichte der Naturwissenschaften gilt, eine wichtige Schnittstelle zu einem weit wirkmächtigeren Diskurs des 19. Jahrhunderts besaß. In der Überzeugung, dass das Innere im Äußeren eine Signatur hinterlasse, die nur entsprechend gedeutet werden müsse, um ihren Wahrheitsgehalt preiszugeben, überschneidet sich die Phrenologie mit der Forderung, die die idealistische Ästhetik an gelungene Kunst stellt. Am deutlichsten wird diese Überlappung in der zeitgenössischen Porträttheorie. Der Aufsatz skizziert die dänische Variante dieses Schnittpunkts und führt die Argumentation zu einem literarischen Text des für Dänemark zentralen Autors Meïr  





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Helmut Hühn und Joachim Schiedermair

Aaron Goldschmidt (1819–1887) weiter, der die ikonischen Voraussetzungen der Physiognomik kritisch behandelt. In der germanistischen Forschung hat man sich in den letzten beiden Jahrzehnten intensiv mit dem Wechselverhältnis von Literatur und Ökonomie auseinandergesetzt. Dabei hat man auch darauf aufmerksam machen können, dass die aktuellen Diskussionen rund um Gefahren und Möglichkeiten von Staatskrediten ein signifikantes Vorleben im frühen 19. Jahrhundert hatten. Insbesondere die Schriften Adam Müllers kreisen um die Vorstellung eines solchen Nationalkredits, durch den die Dynamik wirtschaftlicher Prozesse reguliert werden soll; Müller kann ihn deshalb für eine nationale Rhetorik vereinnahmen. In dem von Klaus Müller-Wille vorgelegten Aufsatz wird an zwei prominenten Beispielen aus Skandinavien gezeigt, wie Müllers Vorstellungen zum Nationalkredit im europäischen Kontext rezipiert wurden. Die zentrale These des Artikels läuft darauf hinaus, dass der Schwede Carl Jonas Love Almqvist und der Däne Søren Aabye Kierkegaard Müllers Vorgaben regelrecht invertieren. Während Müller versucht, die Eigendynamik ökonomischer Prozesse durch die Idee des Nationalkredits rhetorisch zu rahmen, greifen Almqvist und Kierkegaard die Vorstellung des Kredits auf, um über die Möglichkeiten einer anderen Form von Rhetorik zu reflektieren. Die letzten beiden Beiträge thematisieren die Gegenwart der Romantik im 21. Jahrhundert. Mit Blick auf Texte von und über Rainald Goetz und Christian Kracht skizziert Eckhard Schumacher, wie in der Gegenwartsliteratur und der gegenwärtigen Literaturkritik mit Verweisen auf die Romantik operiert wird. In der Fokussierung auf das Provokationspotenzial, die Gegenwartsfixierung, eine spezifische Form der Kopplung von Leben und Schreiben und das Konzept der Ironie, die die Frühromantik und die so genannte Popliteratur aneinander rücken lässt, wird gefragt, welche Rolle der Rückbezug auf Romantik für die Konstruktion von Traditionslinien, Verweisketten und literaturgeschichtlichen Zusammenhängen spielt und wie zugleich das, was unter dem Stichwort Romantik verbucht wird, durch derartige Bezugnahmen neu konfiguriert werden kann. Ausgehend von Antoine Compagnons Studie Les antimodernes: de Joseph de Maistre à Roland Barthes (Paris 2005) setzt sich Edoardo Costadura mit der Frage auseinander, wie man Romantik und Moderne zusammendenken kann. Entgegen der pauschalen These Compagnons, der zufolge die Romantik als Gegen- bzw. Antimoderne zu verstehen ist, schließt er sich der Interpretation Paul Bénichous an, der die substantielle Widersprüchlichkeit und (politische wie ästhetische) Ambiguität der Bewegung herausstreicht. Im Zentrum der Ausführungen stehen mit Chateaubriand und Stendhal zwei Romantiker, die auf unterschiedliche Art und Weise die politischen und ästhetischen Modernisierungsprozesse reflektiert und literarisch umgesetzt haben, Prozesse, die bis heute ihre Wirksamkeit besitzen.  



Romantik und Romantikforschung heute

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Dank Die Beiträge des vorliegenden Bands basieren auf den Vorträgen und Diskussionen, die vom 23. bis 26. November 2011 im Rahmen der internationalen Fachtagung „Perspektiven europäischer Romantik-Forschung heute“ in Greifswald gehalten wurden. Die Tagung stellte eine Kooperation der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, der Forschungsstelle Europäische Romantik der Friedrich-SchillerUniversität Jena und des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald dar. Die Durchführung der Tagung und die Publikation dieses Bandes wurden finanziell großzügig von den genannten Institutionen sowie der DFG unterstützt, denen an dieser Stelle herzlich gedankt sei.  

Helmut Hühn

Deutungskonflikt ‚Romantik‘ Problemgeschichtliche Überlegungen Romantik-Forschung stößt seit längerem auch international auf großes Interesse. Sie hat sich – wie auch die Forschung zur Aufklärung – vielfältig ausdifferenziert. Die Frage nach den Perspektiven europäischer Romantik-Forschung dient nicht zuletzt einer methodologischen Orientierung und Selbstvergewisserung: Mit welchem Bewusstsein treiben wir heute so etwas wie ‚Romantik-Forschung‘? Aus welchen Beobachterpositionen heraus erfassen wir die Phänomene als Gegenstände der Forschung? Wie bestimmen, kontextualisieren und modellieren wir sie als Objekte des Wissens? Welche Forschungsfragen und ‑vorhaben bewegen uns heute? Ich möchte im Folgenden einige Probleme berühren, mit denen die sich internationalisierende Forschung seit längerem zu kämpfen hat. Der Ausdruck ‚Romantik‘ ist ein kultur- und literaturgeschichtlicher, kunsttheoretischer und philosophischer Sammelbegriff. Die Rede von ‚der‘ Romantik ist, auf dem Stand der komparatistischen Forschung, sehr schwer einzuholen und zu legitimieren.1 Ein Ergebnis der Forschungsgeschichte ist, dass das, was wir Romantik nennen, sich in einer irreduziblen Vielfalt zeigt. Die Erscheinungsformen der romantischen Strömung scheinen einander sogar zu widersprechen, weswegen man die Romantik auch die „Bewegung der manifesten Widersprüche“2 genannt hat. Die Forschung hat die Spannbreite, Diversität und Widersprüchlichkeit der europäischen Romantiken in den letzten Jahren herausgearbeitet.3 Ich gehe in der Reflexion der  



1 Vgl. auch Walter Schmitz: „Die Welt muß romantisiert werden …“. Zur Inszenierung einer Epochenschwelle durch die Gruppe der ,Romantiker‘ in Deutschland. In: Hendrik Birus (Hrsg.): Germanistik und Komparatistik. DFG-Symposion 1993. Stuttgart 1995, S. 290–308, hier S. 291. 2 Hans Mayer: Fragen der Romantikforschung. In: Ders.: Zur deutschen Klassik und Romantik. Pfullingen 1963, S. 263–305, S. 304. 3 Vgl. exemplarisch Christoph Bode: Europe. In: Nicholas Roe (Hrsg.): Romanticism: An Oxford Guide. Oxford 2005, S. 126–136; Paul Bénichou: Romantismes français. Paris 2004; Pino Fasano: L’Europa romantica. Florenz 2004; zum Problemkreis der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der europäischen Aufklärung vgl. schon Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 19–36, hier S. 21: „In Wirklichkeit, d. h. im Lichte der Quellen, sind Optimismus und Pessimismus, ja Eschatologie und Nihilismus, Glaube an die Vernunft und Verherrlichung des Gefühls, Zuversicht in die Macht des menschlichen Geistes und erkenntnistheoretische Verzweiflung, so oder so motivierte Religiosität und Atheismus, Moralismus und Eudämonismus, Altruismus und Egoismus nicht wegzudenkende Tendenzen ein und desselben  















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Helmut Hühn

Forschungsgeschichte in einem ersten Schritt zurück auf die Kontroverse von Arthur O. Lovejoy und René Wellek über die Einheit bzw. Vielheit und Heterogenität der Romantiken (I). In einem zweiten Schritt möchte ich anhand der frühen Romantik-Kritiken von Hegel, Goethe, Heine und Kierkegaard die Formierung historischer Deutungsmuster von Romantik aufzeigen, die lange Zeit die europäische Diskussion bestimmt haben und bis heute virulent sind. Diese Muster können als Indikatoren ungelöster historischer Konflikte betrachtet werden (II). In einem dritten Schritt markiere ich einige der Probleme, die zu bedenken sind, wenn von der Romantik als Epoche, als Stil oder als ‚Haltung‘ gesprochen wird (III). In einem abschließenden vierten Schritt rücke ich die Vielfalt und Heterogenität der Romantik in den Horizont einer Konfliktgeschichte der kulturellen Moderne, die Langzeitzusammenhänge reflektiert, und plädiere zugleich für die dichte Beschreibung einzelner Werke und Problemkonstellationen (IV).

I Die Vielfalt der Romantiken und die Frage nach übergreifenden Zusammenhängen Romantik ist eine künstlerische, philosophische, wissenschaftliche, religiöse und politische ‚Bewegung‘ von europäischer Reichweite. Historisch ist sie situiert in einer Phase vielfältiger gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und geistiger Umbrüche, die man in ihrer soziokulturellen Einheit auch als das „Zeitalter der Revolutionen“4 bezeichnet hat. Übergreifende Zusammenhänge der Romantik5 werden heute ob der Grenzen der disziplinären Zuständigkeiten und der immer größeren Spezialisierung der Einzelforschung kaum mehr greifbar. Gerade die Erkenntnis der Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Künsten, zwischen der künstlerischen und der religiösen, zwischen der philosophischen und der politisch-sozialen Bewegung verspricht wichtige Einsichten in die kulturellen

Zeitalters, dessen ebenbürtige Söhne so verschiedene Persönlichkeiten und Denker wie Rousseau und La Mettrie, Herder und Locke, Fichte und Marquis de Sade sind.“ 4 Vgl. etwa Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens, Bd. 3, 2: Das Zeitalter der Revolutionen. Stuttgart, Weimar 2008; zum Verhältnis der romantischen Bewegungen zur Französischen Revolution: Richard Brinkmann: Frühromantik und Französische Revolution. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Deutsche Literatur und Französische Revolution. Sieben Studien. Göttingen 1974, S. 172–191; David Duff: From Revolution to Romanticism. The Historical Context to 1800. In: Duncan Wu (Hrsg.): A Companion to Romanticism. Oxford u. a. 1998, S. 23–34. 5 Vgl. zum Problemkreis Bernd Auerochs u. Dirk von Petersdorff (Hrsg.): Einheit der Romantik? Zur Transformation frühromantischer Konzepte im 19. Jahrhundert. Paderborn u. a. 2009.  













Deutungskonflikt ‚Romantik‘

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Formationsprozesse. Zur Kultur der europäischen Romantik gehören eine Vielzahl von Zentren, eine Vielzahl von Protagonisten und Netzwerken, eine Vielzahl von kulturellen Interaktionen und Transformationen und eine Vielzahl von unterschiedlichen Problemkonfigurationen. Die Pluriformität der Romantik zeigt sich schon in kleinen Einheiten, sie zeigt sich auf der Ebene der nationalen Romantiken, und sie zeigt sich erst recht, wenn man die Herausforderung einer transnationalen Erforschung dieser Bewegungen auf sich nimmt, die in verschiedenen nationalen Ausprägungen und mit historischen Verschiebungen aufgetreten sind. Wo ist eine Gemeinsamkeit, die es erlaubte, den Terminus der Romantik gleichermaßen auf Chateaubriand und Victor Hugo anzuwenden, auf Heine und Brentano, auf den politisch nationalen Messianismus von Mickiewicz und Joseph Schellings späte Philosophie der Offenbarung?

So fragte Hans Mayer 1962.6 Bereits 1924 hatte Arthur O. Lovejoy festgestellt, es gebe so etwas wie die europäische Romantik gar nicht: „The word ‚romantic‘ has come to mean so many things that, by itself, it means nothing. It has ceased to perform the function of a verbal sign.“7 Konsequent wäre es, so Lovejoy, auf ein Wort von beschränktem wissenschaftlichen Gebrauchswert zu verzichten oder es wenigstens ausschließlich im Plural zu verwenden, denn „the ‚Romanticism‘ of one country may have little in common with that of another, and at all events ought to be defined in distinctive terms.“8 Skeptisch verglich Lovejoy die literarischen Bewegungen der deutschen, englischen und französischen Romantik: The fact that the same name has been given by different scholars to all of these episodes is no evidence, and scarcely even establishes a presumption that they are all identical in essentials. There may be some common denominator of them all; but if so, it has never yet been clearly exhibited, and its presence is not to be assumed a priori.9

6 Mayer: Fragen der Romantikforschung (Anm. 2), S. 265. 7 Arthur O. Lovejoy: On the Discrimination of Romanticisms. In: PMLA 39 (1924), S. 229–253, wieder abgedruckt in: Meyer Howard Abrams (Hrsg.): English Romantic Poets: Modern Essays in Criticism. 2. Aufl. Oxford 1975, S. 3–24, hier S. 6; vgl. zur Kritik am „Mißbrauch, der seit mehr als einem halben Jahrhundert mit diesem Namen getrieben worden ist“, schon Wilhelm Dilthey: Novalis. In: Ders.: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Leipzig, Berlin 1922, S. 268–348, hier S. 269; vgl. zur Begriffsgeschichte Hans Eichner: ,Romantic‘ and Its Cognates: The European History of a Word. Toronto 1972. 8 Ebd., S. 8. 9 Ebd., S. 9.  











   





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Helmut Hühn

Ein Vierteljahrhundert später positionierte sich René Wellek, der die vergleichende Literaturwissenschaft im Blick auf eine transnationale Ästhetik und Poetologie weiterentwickelte. Drei gemeinsame ‚Nenner‘ wies er den literarischen europäischen Romantiken zu: If we examine the characteristics of the actual literature which called itself or was called ‚romantic‘ all over the continent, we find throughout Europe the same conceptions of poetry and of the workings and nature of poetic imagination, the same conception of nature and its relation to man, and basically the same poetic style, with a use of imagery, symbolism, and myth which is clearly distinct from that of eighteenth-century neoclassicism. This conclusion might be strengthened or modified by attention to other frequently discussed elements: subjectivism, mediævalism, folklore, etc.10

Auf diese Trias von Kriterien – „imagination for the view of poetry, nature for the view of the world, and symbol and myth for poetic style“11 – gründete Wellek seine Behauptung von der „Unity of European Romanticism“.12 Später akzentuierte er die Übereinstimmung zwischen den Bewegungen in der Bemühung, „to overcome the split between subject and object, the self and the world, the conscious and the unconscious. This is the central creed of the great romantic poets in England, Germany, and France.“13 Diese Forschungskontroverse ist seither in mannigfacher Weise, man kann es wohl so sagen, variiert und wiederholt worden. Bis heute versucht man, den Wellekschen Katalog gemeinsamer Merkmale zu verbessern, d. h. zu präzisieren und zu vervollständigen.14 Auf der anderen Seite greift man in jüngerer Zeit gerne, wie Christoph Bode das auf eindrückliche Weise getan hat, auf das Konzept der „Familienähnlichkeit“ zurück.15 Es schafft die Möglichkeit, das Problem der Vielgestaltigkeit der europäischen Romantiken anders in den Griff zu bekommen. Die Beziehung einer „Familienähnlichkeit“ besteht nach Ludwig Wittgenstein für eine  





10 René Wellek: The Concept of Romanticism in Literary History. In: Comparative Literature 1 (1949), S. 1–23 u. S. 147–172, wieder abgedruckt in: René Wellek: Concepts of Criticism, hrsg. u. mit einer Einleitung versehen v. Stephen G. Nichols, Jr. New Haven 1963, S. 128–198, hier S. 160 f. 11 Ebd., S. 161. 12 Ebd., S. 160. 13 Romanticism reexamined. In: Concepts of Criticism. New Haven 1963, S. 199–221, hier S. 220. 14 Vgl. etwa Lilian Furst: Romanticism in Perspective: A Comparative Study of Aspects of the Romantic Movements in England, France and Germany. London 1969, mit Rekurs auf „individualism“, „imagination“ und „feeling“; Michael Ferber: Introduction. In: Michael Ferber (Hrsg.): A Companion to European Romanticism. Oxford u. a. 2005, S. 1–9. 15 Christoph Bode: Romantik – Europäische Antwort auf die Herausforderung der Moderne? Versuch einer Rekonzeptualisierung. In: Anja Ernst u. Paul Geyer (Hrsg.): Die Romantik: ein Gründungsmythos der Europäischen Moderne. Göttingen 2010, S. 85–99.  









   













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Reihe von Fällen in einer Entwicklungsreihe, „wenn diese (außer etwa einer einheitlichen Bezeichnung) kein Merkmal gemeinsam haben. […] Von Fall zu Fall gibt es Übereinstimmung in den Merkmalen; aber kein Merkmal ist durchlaufend.“16 Familienähnlichkeiten werden also konstituiert durch ein „kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.“17 Die Mitglieder a und d der ‚romantischen Familie‘ können durch andere charakteristische Merkmale miteinander verbunden sein als die Mitglieder b und c. Das bei Wittgenstein nicht eindeutig bestimmte Konzept der Familienähnlichkeit erlaubt es, auf ‚definierende‘ Merkmale zu verzichten. Der Vorteil dieses Modells im Rahmen der Romantik-Forschung ist: Die Diversität der Romantiken muss nicht eliminiert werden; die Entdeckung von Zusammenhängen und von Übergängen wird zum schöpferischen Akt des forschenden Sehens und Erkennens. Wir können zwar in der Verwirrung der Vielgestaltigkeit eine Übersicht herstellen, aber wir haben damit noch nicht die Frage beantwortet: Was hebt denn die ‚Familie der romantischen Positionen‘ von anderen nicht-romantischen Familien bzw. Positionen ab? Brauchen wir neben dem Bündel von charakteristischen Merkmalen einer Familie also doch noch andere, ‚externe‘ Kriterien, um verschiedene Familien voneinander abgrenzen zu können? Oder sollen wir alle Familien so betrachten, als ob sie ihrerseits miteinander verwandt und folglich Übergänge zwischen allen Familien erkennbar wären? In dieser letzteren Weise scheint Wittgenstein selbst das Konzept der Familienähnlichkeit verstanden zu haben.

II Deutungsmuster der frühen Romantik-Kritik Die Vorstellungen dessen, was Romantik ist, werden in den europäischen Diskursen des 19. und auch 20. Jahrhunderts geprägt durch Deutungsmuster, die bereits die frühen Romantik-Kritiken bereitgestellt haben. Blicken wir auf die über zweihundertjährige Wirkungsgeschichte, dann stehen Verdikte am Anfang. Hegel, Goethe, Heine und Kierkegaard markieren wichtige Anfänge der RomantikKritik. In ihren Schatten stehen, wie Karl Heinz Bohrer18 herausgearbeitet hat, fast alle späteren Rezeptionsformationen.

16 Gottfried Gabriel: Artikel ‚Familienähnlichkeit‘. In: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 2. Hrsg. v. Jürgen Mittelstraß. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2005, S. 473. 17 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen §§ 66 ff. In: Ders.: Werkausgabe, Bd. 1: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. 11. Aufl. Frankfurt a. M. 1997, S. 277 f. 18 Karl Heinz Bohrer: Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M. 1989.  





















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Hegels Auseinandersetzung mit der Romantik und mit Friedrich Schlegel im Besonderen vollzieht sich kontinuierlich von der Differenzschrift und der Phänomenologie des Geistes an – hier noch anonym – über die seit 1818 immer wieder gehaltenen Vorlesungen über Ästhetik und die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) bis in sein Spätwerk hinein. Noch die Solger-Rezension von 1828 ist ein Schlüsseldokument seiner Romantik-Kritik, die nicht nur wegen ihrer Schärfe Epoche macht. Da die Hegelsche Vorlesung zur Ästhetik erst postum veröffentlicht wird, kommt den Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), besonders dem § 140, und der Solger-Rezension (1828) eine entscheidende Funktion zu, bekennt sich Hegel hier doch öffentlich als ‚Anti-Romantiker‘ und als ‚Anti-Schlegelianer‘. Hegels Romantik-Kritik firmiert erst mit der Vorlesung zur Ästhetik, nicht schon in der Phänomenologie des Geistes, unter dem Leitbegriff der „Ironie“. Dieser Sachverhalt zeigt, dass Hegel erst mit etwa 20 Jahren Abstand zur Frühromantik diese insgesamt auf ein Konzept von Ironie verpflichten will. „Ironie“ ist dabei der Ausdruck für eine weltlose und mit anderen Subjekten unvermittelte Form von Subjektivität, die sich selbst missversteht als „Meister über das Gesetz und die Sache“ und sich „als das Absolute“ behauptet;19 die späte Enzyklopädie von 1830 bestimmt in § 571 die Ironie dadurch, dass sie „allen objectiven Gehalt sich zu nichte, zu einem eiteln zu machen weiß […] und mit der Versicherung auf der höchsten Spitze der Religion und Philosophie zu stehen, vielmehr in die hohle Willkür zurückfällt.“20 Hegel sieht das ‚Prinzip der Subjektivität‘ als ein modernekonstitutives. Entschieden kritisiert wird aber die Form einer modernen Subjektivität, deren „hohle Willkür“ alle maßgeblichen Werte verwirft und menschliche Vernunft zerstört: Das romantische Subjekt versteht sich nach Hegel als die alleinige und exklusive Entscheidungsinstanz für „Wahrheit, Recht und Pflicht“21 und untergräbt in dieser Weise die Welt vorgegebener rechtlicher Verpflichtungen oder sittlicher Bindungen. Das ist der fundamentale Vorwurf, den Hegel an die romantische Bewegung insgesamt richtet. Dass die Romantik eine Form von willkürlicher Subjektivität ist, hatte Hegel schon in der Phänomenologie des Geistes angedeutet mit seiner Kritik der „schönen Seele“, die in sich „verglimmt“ und schwindet „als ein gestaltloser Dunst, der  







19 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 140. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, 1. Hrsg. v. der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste [=GW]. Hamburg 2009, S. 122–134, hier S. 134, 123. 20 Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830). In: GW, Bd. 20, S. 554. 21 Vgl. Grundlinien, § 140. In: GW, Bd. 14, 1, S. 133; vgl. den Beitrag von Walter Jaeschke in diesem Band.  

















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sich in Luft auflöst“.22 Dem romantischen Bewusstsein mangele es, so die frühe Kritik, an Realitätsbewusstsein, es habe kein Daseyn, denn das Gegenständliche kommt nicht dazu, ein Negatives des wirklichen Selbsts zu seyn; so wie dieses [sc. das Selbst] nicht zur Wirklichkeit [kommt]. Es fehlt ihm die Kraft der Entäusserung, die Kraft sich zum Dinge zu machen, und das Seyn zu ertragen. Es lebt in der Angst die Herrlichkeit seines Innern durch Handlung und Daseyn zu beflecken, und um die Reinheit seines Herzens zu bewahren, flieht es die Berührung der Wirklichkeit, und beharrt in der eigensinnigen Kraftlosigkeit, seinem zur letzten Abstraction zugespitzten Selbst zu entsagen, und sich Substantialität zu geben […] sein Thun ist das Sehnen, das in dem Werden seiner selbst zum wesenlosen Gegenstande sich nur verliert.23

Noch bevor Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik die Kritik fortschreibt, hatte Goethe Position bezogen. Dieser ist es, der aus der Romantik 1812 sogar schon eine „Epoche“ macht, nämlich die „der forcirten Talente“,24 in der die Philosophie zunächst die Künste verdirbt und diese einander dann wechselseitig verderben durch die Auflösung der Kunstformen und die Ignoranz gegenüber ihren medialen Voraussetzungen. Goethe kritisiert die Entgrenzungsbestrebungen und Absolutsetzungen romantischer Ästhetik wie die religiöse Libido der künstlerischen Gestaltung. Jene „große Kluft aber zwischen dem gewählten Gegenstand und der letzten technischen Ausführung“, so Goethe, werde durch „religiose Gesinnungen“25 überbrückt. Sein Wort im Gespräch mit Eckermann aus dem Frühjahr 1829 macht dann europaweit Schule: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke“.26 Sinngemäß taucht dieses Goethesche Verdikt auch 1827 in einer Rezension der Spätromantik-Kritik Walter Scotts auf, wo es sich direkt gegen E. T. A. Hoffmann richtet. Goethe betont, er habe  





22 Phänomenologie des Geistes (1807). In: GW, Bd. 9, S. 355. 23 Ebd., S. 354 f. 24 Johann Wolfgang von Goethe: Epoche der forcirten Talente. In: Ders.: Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abteilung I–IV, 133 Bände. Weimar 1887–1919, Bd. I, 42, 2, S. 442 f. 25 Ebd., S. 443. 26 Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurter Ausgabe. II. Abteilung, Bd. 12: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Hrsg. v. Christoph Michel u. a. Frankfurt a. M. 1999, S. 324; Ernst Behler: Frühromantik. Berlin, New York 1992, S. 25; ders.: Romantik. In: Bernd Witte u. a. (Hrsg.): Goethe-Handbuch in vier Bänden. Band 4, 2: Personen, Sachen, Begriffe. L–Z. Stuttgart, Weimar 1998, S. 918–926; Jan Urbich: Epoche und Stil. Überlegungen zu zwei Deutungsmustern der Jenaer Frühromantik. In: Jürgen John u. Justus H. Ulbricht (Hrsg.): Jena. Ein nationaler Ort? Köln, Weimar, Wien 2007, S. 123–138.  



































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mit Trauer gesehen, daß diese krankhaften Werke des leidenden Mannes lange Jahre in Deutschland wirksam gewesen und solche Verirrungen als bedeutend fördernde Neuigkeiten gesunden Gemütern eingeimpft worden.27

Heine kann in seiner Romantischen Schule (1835) auf Versatzstücke der Hegelschen wie der Goetheschen Kritik zurückgreifen und tut dies auch in seiner Imagination einer „Schule“. Es ist die vielleicht schönste Totsagung der romantischen Bewegung, welche die Kritik hervorgebracht hat. „Was war aber die romantische Schule in Deutschland?“, fragt Heine und gibt die berühmte Antwort: Sie war nichts anders als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben, manifestirt hatte. Diese Poesie aber war aus dem Christentume hervorgegangen, sie war eine Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen.28

Rhetorisch bündig und höchst kunstvoll suggeriert Heine die Einheitlichkeit eines romantischen ‚Weltbildes‘, dessen Vertreter mit reaktionärer Rückwärtsgewandtheit und gegenwartsflüchtiger Verliebtheit ins Absolute zu verhindern suchten, dass das Zeitalter der Aufklärung in ein aufgeklärtes Zeitalter habe übergehen können. Heine sieht die romantische Bewegung wesentlich als eine der Flucht, der Flucht vor der Wirklichkeit, und das heißt hier: der regressiven Flucht vor den Aufgaben der geschichtlichen und politischen Gegenwart in eine imaginäre Vergangenheit: Fr. Schlegel war ein tiefsinniger Mann. Er erkannte alle Herrlichkeiten der Vergangenheit und er fühlte alle Schmerzen der Gegenwart. Aber er begriff nicht die Heiligkeit dieser Schmerzen und ihre Nothwendigkeit für das künftige Heil der Welt. Er sah die Sonne untergehn und blickte wehmütig nach der Stelle dieses Untergangs und klagte über das nächtliche Dunkel, das er heranziehen sah; und er merkte nicht, daß schon ein neues Morgenroth an der entgegengesetzten Seite leuchtete. Fr. Schlegel nannte einst den Geschichtsforscher ‚einen umgekehrten Propheten‘. Dieses Wort ist die beste Bezeichnung für ihn selbst. Die Gegenwart war ihm verhaßt, die Zukunft erschreckte ihn, und nur in die Vergangenheit, die er liebte, drangen seine offenbarenden Seherblicke. Der arme Fr. Schlegel, in den Schmerzen unserer Zeit sah er nicht die Schmerzen der Wiedergeburt, sondern die Agonie des Sterbens, und aus Todesangst flüchtete er sich in die

27 The Foreign Quaterly Review No 1 July, 1827. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 18, 2: Letzte Jahre 1827–1832. Hrsg. v. Johannes John u. a. München 1996, S. 94–97, hier S. 96; vgl. Walter Scott: On the Supernatural in Fictitious Composition, and Particularly on the Work of Ernest Theodore William Hoffmann. In: The Foreign Quaterly Review 1 (1827), S. 60–98. 28 Heinrich Heine: Die romantische Schule. In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 8, 1. Hrsg. v. Manfred Windfuhr. Hamburg 1979, S. 126.  















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zitternden Ruinen der katholischen Kirche. Diese war jedenfalls der geeignetste Zufluchtsort für seine Gemüthsstimmung. Er hatte viel heiteren Übermuth im Leben ausgeübt; aber er betrachtete solches als sündhaft, als Sünde die späterer Abbuße bedurfte, und der Verfasser der ‚Lucinde‘ mußte notwendigerweise katholisch werden.29

Heine bedient sich in seiner politischen Kritik an einem reaktionären Romantizismus auch des 1817 erschienenen Aufsatzes Neu-deutsche religios-patriotische Kunst, den er Goethe und nicht seinem wirklichen Autor Heinrich Meyer zuschreibt.30 Theodor Echtermeyers und Arnold Ruges antiromantische Kampfschrift Der Protestantismus und die Romantik (1839) konstruiert wenige Jahre nach Heines Die Romantische Schule eine romantische Makroperiode seit 1770, die als eine der geschichtlichen Irrationalität und politischen Reaktion gedeutet wird.31 Kierkegaards Kritik schließlich trifft nicht nur eine historische Bewegung, sondern zugleich einen existentiellen Habitus. In seiner Dissertation Über den Begriff der Ironie (1841) rückt er das Selbstverhältnis des Subjekts ins Zentrum der Betrachtung. Infrage steht die ästhetische Existenz der Romantiker, die in der Unmittelbarkeit zur Erfüllung kommen will, in der Unmittelbarkeit des hedonistischen Selbstgenusses wie der uneingeschränkten Willkür. Präsentiert sich das Ästhetische als ein Medium eines gesteigerten Selbstseins, einer höheren Freiheit und Individualität, so erweist sich die ästhetische Existenz in ihrer Realität gerade als Flucht vor dem konkreten Subjekt, als Ausweichen vor der Entscheidung. Zweierlei mag deutlich geworden sein: 1. Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind – auf philosophischer, ästhetischer, politischer und geschichtlicher Ebene – fast alle Vorwürfe gegen die Romantik präsent, die dann Epoche machen: Es ist vornehmlich diese Kritik, die den Begriff ‚Romantik‘ modelliert und die romantische Bewegung als eine subjektivistische, vernunftfeindliche, wirklichkeitsflüchtige, reaktionäre und gegenaufklärerische Strömung erscheinen lässt. Wirkmächtige Dichotomien wie ‚Klassik und Romantik‘ und ‚Aufklärung und Romantik‘ werden im Rahmen der Kritik aufgebaut.32 2. Die Kritiker  



29 Ebd., S. 165 f.; vgl. Lucien Calvié: Un romantique européen, critique du romantisme politique allemande: Heinrich Heine. In: Gérard Raulet (Hrsg.): Les romantismes politiques en Europe. Paris 2009, S. 497–518. 30 Vgl. auch Norbert Oellers: Heines Florettübungen. „Die romantische Schule“. In: Roland Berbig, Martina Lauster u. Rolf Parr: Zeitdiskurse. Heidelberg 2004, S. 13–27. 31 Vgl. Walter Jaeschke (Hrsg.): Philosophie und Literatur im Vormärz. Der Streit um die Romantik (1820–1854). Hamburg 1985, S. 192–325. 32 Vgl. zum gegenwärtigen Forschungsstand: Ludwig Stockinger: Die Auseinandersetzung der Romantiker mit der Aufklärung. In: Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch. 2. Aufl. Stutt 











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selbst haben ein zutiefst ambivalentes Verhältnis zum kritisierten Objekt. Den ‚Klassiker‘ Goethe kann man mit Hans Blumenberg auch als einen „Protoromantiker“33 begreifen. Das gilt für Heine sicherlich ebenso, der noch in seiner Abwendung von der Romantik romantischem Denken und Darstellen verpflichtet bleibt. In den späten Geständnissen präsentiert er sich denn auch als einen „romantique défroqué“.34 Kierkegaards polemische Auseinandersetzung mit Friedrich Schlegel, die das Schlusskapitel seiner Dissertation prägt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie weitreichend Kierkegaards Darstellungsform indirekter Mitteilung von Schlegels Versuch geprägt ist, eine literarisch fundierte Philosophie zu begründen. Verdeckter sind die Ambivalenzen, die sich in Hegels Kritik manifestieren: Die vom frühen wie vom späten Hegel „geringschätzig behandelte Romantik“ ist doch zugleich, wie Theodor W. Adorno herausgestellt hat, „das Ferment seiner eigenen Spekulation“.35

III Epoche, Stil, Haltung – Probleme mit dem Romantik-Begriff  

Besonders das Kunstverständnis, das die Frühromantiker entwickeln, scheint „einen Faszinationsbegriff“ von Romantik geschaffen zu haben, „der eine Vielzahl von Bestrebungen und Erinnerungen in sich bündelt und so zugleich zu einer Europa erfassenden Arbeit am Begriff wird“.36 Es sind nicht zuletzt die Kritiker, die von der Romantik, wie ich anzudeuten versucht habe, als einer Epoche, einem Stil oder einer geistigen Haltung sprechen. Alle diese Begriffsverwendungen führen Problematisches mit sich. Epochenkonstruktionen haben bekanntlich immer „etwas Mißliches“.37 Wir setzen Epochen experimentell, nicht zuletzt im Interesse

gart 2003, S. 79–106; Rainer Godel u. Matthias Löwe: Erzählen im Umbruch. Narration 1770–1810. Zur Einleitung. In: Wezel-Jahrbuch 12/13 (2009/10), S. 9–18, hier S. 9–15. 33 Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1996, S. 444. 34 Vgl. Heinrich Heine: Geständnisse (1854). In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (Anm. 28), Bd. 15. Hamburg 1982, S. 13. 35 Vgl. Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie. Drei Studien zu Hegel: Skoteinos oder Wie zu lesen sei. In: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1986, S. 354. 36 Karlheinz Stierle: Zwischen Romanus und Romantik – Wandlungen eines europäischen Schlüsselbegriffs. In: Ernst u. Geyer (Hrsg.): Die Romantik (Anm. 15), S. 55–82, hier S. 71. 37 So Reinhart Koselleck: Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit. In: Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck (Hrsg.): Epochenschwelle und Epochenbewußtsein. München 1987, S. 269–282, hier S. 269.  

































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an historischer Selbstverständigung und Selbstdeutung. Epochenqualität ist keine Eigenschaft des Geschichtsverlaufs, wie schon Johann Gustav Droysen in seiner Historik zum Ausdruck gebracht hat, sondern das Ergebnis einer historiographischen Strukturierungsleistung: Ich habe kaum nötig, hier ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß es in der Geschichte sowenig Epochen gibt wie auf dem Erdkörper die Linien des Äquators und der Wendekreise, daß es nur Betrachtungsformen sind, die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt, um sie so desto gewisser zu fassen.38

Aufklärung wie Romantik können in kultureller wie gesellschaftlicher Hinsicht als Epochen mit europäischer Weite bestimmt werden. Wenn es auch Unterschiede in den jeweiligen nationalen Ausprägungen gibt, so bilden sie doch übernationale europäische Problemzusammenhänge. Die Romantik antwortet in vieler Hinsicht auf die Problembestände der Aufklärung, denen sie ihre eigene Existenz mit verdankt. Die Vorstellung, diese kulturhistorischen Formationen seien in sich geschlossen und homogen, entspricht nicht den tatsächlichen Gegebenheiten. Die europäische Romantik ist keine homogene Position. Wenn wir uns die Prozesse von der Konstitution der ersten romantischen Bewegungen bis zum Transfer spätromantischen Denkens und Darstellens vor Augen führen, haben wir einen Zeitraum von, grob überschlagen, hundert Jahren zu bestimmen. Wie sollen wir diese Zeitspanne diachron und synchron in sinnvoller Weise ordnen? Zahlreiche Unstimmigkeiten müssen in Kauf genommen werden, wenn man 1. den nationalgeschichtlichen Rahmen zu überschreiten und 2. die Phänomene und Phänomenzusammenhänge multidisziplinär zu reflektieren versucht. Läuft man nicht Gefahr, eine abstrakte Allgemeinheit zu erzeugen, in der die individuellen Besonderheiten der einzelnen Romantiken, die konkreten Differenzen und Konflikte untergehen? Muss man nicht, um verantwortbare Wissenschaft auch in Periodisierungsfragen zu betreiben, zeitlich, räumlich, disziplinär und medial viel stärker eingrenzen?39 Betrachtet man ein ‚kleines‘ Feld des Ganzen, die literarische Romantik in Deutschland, dann gilt, was Michael Titzmann in der kritischen Reflexion des Epochenkonzepts herausgestellt hat: „Teilmengen der Literatur eines Zeitraums [wie die romantische Literatur, H.H.], sie mögen evalua-

38 Johann Gustav Droysen: Historik. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 2: Texte im Umkreis der Historik. Hrsg. v. Horst Walter Blanke [2 Teilbände]. Stuttgart-Bad Cannstatt 2007, S. 371. 39 Die Inhomogenität zeigt sich auch in den Details. So kann auf dem Stand der Forschung nicht mehr einfach von ‚der‘ frühromantischen Philosophie oder ‚der‘ romantischen Ironie gesprochen werden, ohne die markanten Differenzen zwischen den einzelnen Autoren und ihren Positionen zu vernachlässigen.  



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tiv noch so bedeutend sein, konstituieren keine ‚Epoche‘, sondern höchstens ‚Richtungen‘, ‚Strömungen‘“.40 Das 19. Jahrhundert hat die Romantik in vielfältiger Weise zu einer Epoche gemacht. Dabei ging es nicht zuletzt um die Formierung historischer und politischer Identität auf der Basis inkludierender wie exkludierender Unterscheidungen zwischen Eigenem und Fremden. ‚Romantik‘ ist denn auch als Epochenbezeichnung in den letzten Jahrzehnten wiederholt in Frage gestellt worden.41 Genauer aufzuarbeiten bleibt am historischen Material, wie Epochen- und Stilbegriffe historisch formiert und wie sie rezeptionsgeschichtlich transformiert werden.42 Auch die Rede von der Romantik als einem Stil ist problematisch: Werke, die unter dem Begriff der Romantik versammelt werden, zeichnen sich durch erhebliche formale Abweichungen voneinander aus. Es scheint nicht der Fall zu sein, dass sich in den verschiedenen Künsten eine einheitliche Stilkategorie ausbildete oder ein verbindliches ästhetisches Programm fassen ließe.43 Hegel hat am Ende seiner Vorlesungen über die Ästhetik sehr deutlich herausgearbeitet, seine eigene Gegenwart sei charakterisiert durch eine Pluralität nebeneinander bestehender und einander überlagernder Stile, Muster, kultureller Dispositive und ästhetischer Prinzipien.44 Die Einsicht in die Verfügbarkeit his 

40 Michael Titzmann: Artikel ‚Epoche‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v. Klaus Weimar u. a., Bd. 1. Berlin, New York 1997, S. 476–480; ders.: Epoche und Literatursystem. Ein terminologisch-methodologischer Vorschlag. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 49, 3 (2002), S. 294–307; vgl. Eric Achermann: Epochenbegriffe und Epochennamen. Prolegomena zu einer Epochentheorie. In: Peter Wiesinger u. Hans Derkits (Hrsg.): Epochenbegriffe. Grenzen und Möglichkeiten. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Bern u. a. 2002, S. 19–24. 41 Vgl. etwa Mary A. Favret u. Nicola Watson (Hrsg.): At the Limits of Romanticism. Essays in Cultural, Materialist, and Feminist Criticism. Bloomington, Indiana u. a. 1994; John B. Beer: Questioning Romanticism. Baltimore u. a. 1995; Albert Meier: Klassik – Romantik. Stuttgart 2008, S. 9 ff. 42 Vgl. auch Burkhart Steinwachs: Was leisten (literarische) Epochenbegriffe? Forderungen und Folgerungen. In: Hans-Ulrich Gumbrecht u. Ursula Link-Heer (Hrsg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Frankfurt a. M. 1985, S. 312–323, hier S. 319. 43 Vgl. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen Französischer Revolution und Restauration, Band 1: Das Zeitalter der Französischen Revolution 1789–1806 (=Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 7.1). 2. Aufl. München 2000, S. 76: „Mit einem Wort: Es gibt keine Romantik als nach einem ästhetischen Programm oder Grundgesetz ablaufende Periode, und es gibt erst recht keine Romantiker.“ Vgl. auch Theodor W. Adorno: Musikalische Schriften I–III: Klassik, Romantik, Neue Musik. In: Ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 28), Bd. 16, S. 126. 44 Vgl. Sabine Schneider u. Heinz Brüggemann: Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. Eine Einführung. In: Sabine Schnei 









































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torischer Stilformen und damit in die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist eine wesentliche Einsicht in die Bedingungen künstlerischen Schaffens, die nicht zuletzt die Romantiker durch ihre umfassenden Historisierungsbemühungen vertieft haben. Seit diesen Bemühungen ist dann auch die Gültigkeit einer „auf die große Synthese abzielende[n] Definition von Stil als Ausdruck der Einheit einer Epoche“45 nachhaltig in Frage gestellt worden. Ich möchte an Friedrich Schlegel erinnern, der jene Pluralität der Stilformen und der nebeneinander bestehenden kunsttheoretischen Programme im Studiums-Aufsatz kritisch als „ästhetischen Kramladen“46 vergegenwärtigt hat. Darf man dann wenigstens als Gemeinsamkeit der verschiedenen ‚Romantiken‘ so etwas wie eine „innere Haltung“47 oder eine „Intention“48 postulieren, wie man das neuerdings vorgeschlagen hat? Schon die Kritiker Hegel, Goethe, Heine und Kierkegaard konstruieren romantische Mentalitäten. Man kann solche Haltungen oder Intentionen geschichtlich wie übergeschichtlich, d. h. als Geisteshaltungen, die sich bis in die Gegenwart hinein als immer wieder aktualisierbar erweisen, konstruieren. Aber droht nicht gerade hierbei eine starke Komplexitätsreduktion? Zu erinnern ist an Carl Schmitt, der sich – im Anschluss an Hegel – berechtigt sah, die geschichtliche Bewegung der Romantik über die letzte „Haltung“49 des romantischen Subjektes zur Welt zu bestimmen. Wirklichkeitsflucht („Entwirklichung der Welt“50) und Entscheidungsvermeidung, das sind für Schmitt Signaturen der zeitgenössischen Moderne, die er zugleich als historische Mentalität, ja als „Struk 





der u. Heinz Brüggemann (Hrsg.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. München 2011, S. 7–36, hier S. 11 ff.; jetzt auch: Heinz Brüggemann: Modernität im Widerstreit. Zwischen Pluralismus und Homogenität: Eine Theorie-, Kultur- und Literaturgeschichte (18. – 20. Jahrhundert). Würzburg 2015. 45 Hubert Locher: Artikel ‚Stil‘. In: Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Hrsg. v. Ulrich Pfisterer. 2. Aufl. Stuttgart, Weimar 2011, S. 414–419, hier S. 414. 46 Vgl. Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie (1797). In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 1. Hrsg. v. Ernst Behler u. a. Paderborn u. a. 1958, S. 222. 47 Vgl. Andreas Beyer: Die Kunst des Klassizismus und der Romantik. München 2011, S. 13. 48 So Stefan Matuschek: Aufklärung, Klassik, Romantik. Drei gleichzeitige Intentionen in der deutschen Literatur um 1800. In: Olaf Breidbach u. Hartmut Rosa (Hrsg.): Laboratorium Aufklärung. München 2010. S. 51–68, hier S. 56: „Das Wort ‚Infinitisierung‘ dient damit als Vorschlag, mehrere entscheidende Kennzeichen der Romantik als eine Intention zusammenzufassen: die Aufhebung der Gattungsgrenzen, auch die Verbindung von Wissenschaft und Kunst („Universalpoesie“), die strategische Verunklärung der Aussagen, die auf einen spekulativ unendlichen Prozess des Denkens und Argumentierens weisen soll („romantische Ironie“), die Überschreitung der eigenen Gegenwart in historischen oder utopischen Projektionen (Wiederentdeckung des Mittelalters, „Neue Mythologie“)“. 49 Vgl. Carl Schmitt: Politische Romantik. 2. Aufl. München, Leipzig 1925, S. 22 f. u. ö. 50 Ebd., S. 109.  







































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tur des romantischen Geistes“51 aufweisen will. Auch wenn Georg Lukács ihm hier beipflichtet – Schmitt habe Recht mit der „Feststellung, dass das Romantische nicht im Gegenstand, sondern in der Stellung des romantischen Subjekts zum Gegenstand zu suchen“52 sei –, wird deutlich, dass solche Vereinfachungen ‚des‘ Romantischen, die bei dem romantischen Subjekt ansetzen, wenig nützen.53 Auch auf dem Feld der Mentalitätsgeschichte zeigt sich eine irreduzible Pluralität: Zu unterscheiden sind miteinander konkurrierende und einander widersprechende ‚romantische‘ Haltungen. In Anlehnung an Jerome McGann hat Christoph Reinfandt unter Romantik „eine für die Kultur der Moderne charakteristische Denkhaltung und Weltanschauung, ja […] ein erkenntnistheoretisches Paradigma“ verstanden.54 Romantik wird hier, im Anschluss an Michel Foucault, begriffen als eine „Diskursformation“.55 Was aber ist der Status einer Diskursformation? Wie können wir diese Formation, die per se durch die „Verflechtung von Kontinuitäten und Diskontinuitäten“56 gekennzeichnet ist, beschreiben und wie ihre Transformation erklären? Und müssen wir nicht unterschiedliche diskursive Formationen voneinander abheben können, um sie als solche profilieren zu können? Grundsätzli 



51 Ebd., S. 29, Inhaltsübersicht. 52 Vgl. Georg Lukács: Rezension der zweiten Auflage der „Politischen Romantik“. In: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 13 (1928), S. 307–308, hier S. 307. 53 Vereinfachend ist auch die Perspektive von Rüdiger Safranski, der unter Vernachlässigung der europäischen Perspektiven die Romantik als ein deutsches Phänomen, ja als „spezifisch deutsche […] Gesinnung schlechthin“ darstellen will: Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. Wien 2007; viel zu unscharf argumentiert umgekehrt die Ausstellung „Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst“ einschließlich ihres zugehörigen Katalogs: Felix Krämer (Hrsg.): Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst. Ostfildern 2013, der eine „romantische Geisteshaltung“ vorzuführen sucht, „die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ganz Europa erfasste“ (S. 9). 54 Christoph Reinfandt: Romantische Kommunikation. Zur Kontinuität der Romantik in der Kultur der Moderne. Heidelberg 2003, S. 37; Reinfandt schließt an die wichtige Untersuchung von Jerome J. McGann an: The Romantic Ideology: A Critical Investigation. Chicago, London 1983; vgl. auch Raymond Immerwahr: Romantisch. Genese und Tradition einer Denkform. Frankfurt a. M. 1972. 55 Ebd., S. 53 f.; vgl. auch Alexander von Bormann: Wie aktuell ist die deutsche Romantik? Ein Umblick in die Forschung. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 78 (1984), S. 401–414; Wolfgang Bunzel, Peter Stein u. Florian Vaßen: ‚Romantik‘ und ‚Vormärz‘ als rivalisierende Diskursformationen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. In: Dies. (Hrsg.): Romantik und Vormärz. Zur Archäologie literarischer Kommunikation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (=Vormärz-Studien, Bd. X). Bielefeld 2003, S. 9–46; Wolfgang Bunzel: Spätromantik. In: Ders. (Hrsg.): Romantik. Epoche – Autoren – Werke. Darmstadt 2010, S. 42–59, hier S. 42 u. ö.: „Die Romantik ist eine Diskursformation, die sich insgesamt über einen Zeitraum von rund 50 Jahren erstreckt und im Zuge ihrer Entwicklung mehrere Etappen durchläuft […].“ 56 Vgl. Michel Foucault: Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M. 1981, S. 251, vgl. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften. Frankfurt a. M. 1974, S. 427 f.  







































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chere epistemische und wissenschaftstheoretische Klärungen und Explikationen stehen hier an, wobei die Perspektivenabhängigkeit der kulturellen Konstruktion diskursiver Formationen deutlich bleiben muss.

IV Die Romantiken im Prozess der kulturellen Moderne. Konfliktgeschichtliche Perspektiven Die Vielfalt und Heterogenität der europäischen Romantiken und ihrer einzelnen Erscheinungsformen kann wohl nur problem-57 und konfliktgeschichtlich genauer erfasst werden. Die europäischen Romantiken gehören zum „Zeitalter der entstehenden Moderne“, das man, wie der Historiker Jürgen Osterhammel, zwischen 1750 und 1870 ansetzen kann.58 Auf ganz unterschiedlichen Feldern (Kunst, Philosophie, Wissenschaften, Politik und Religion) werden kontroverse Antworten auf die geschichtlichen, epistemischen, religiösen und künstlerischen Umbrüche und die einander folgenden Modernisierungsschübe erfunden und erprobt. Viele der ‚romantischen Phänomene‘ dürfen, das zeigt die problemgeschichtliche Rekonstruktion, nicht isoliert behandelt werden. Die europäische Romantik ist, so betrachtet, etwas ganz anderes als ein Gemengsel von spanischem Schmelz, schottischen Nebeln und italienischem Geklinge, verworrene und verschwimmende Bilder, die gleichsam aus einer Zauberlaterne ausgegossen werden, und durch buntes Farbenspiel und frappante Beleuchtung seltsam das Gemüth erregen und ergötzen.59

Sie ist ein Projekt, das bis heute fortläuft und das Ziel verfolgt, unter geschichtlichen Herausforderungen, mit denen sich die Welt rapide und durchgreifend verändert, Denk- und Darstellungsräume zu eröffnen. Es kommt in diesem roman-

57 Zu Begriff und Konzept der Problemgeschichte vgl. auch Joachim Schulte u. Uwe Justus Wenzel (Hrsg.): Was ist ein ‚philosophisches‘ Problem? Frankfurt a. M. 2001; Otto Gerhard Oexle (Hrsg.): Das Problem der Problemgeschichte 1880‒1932. Göttingen 2001; Katja Mellmann: Das Konzept des Problemlösens als Modell zur Beschreibung und Erklärung literaturgeschichtlichen Wandels. In: Scientia Poetica 14 (2010), S. 253–264; sowie Michael Titzmann: ‚Problem – Problemlösung‘ als literaturhistorisches und denkgeschichtliches Interpretationsinstrument, ebd., S. 298‒332. 58 Jürgen Osterhammel: Über die Periodisierung der neueren Geschichte. In: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Berichte und Abhandlungen, Bd. 10, Berlin 2006, S. 45– 64. 59 Heinrich Heine: Die Romantik (1820). In: Ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe (Anm. 28), Bd. 10. Hamburg 1993, S. 195.  















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tischen Laboratorium der Moderne zu prekären Versuchen, andrängende Probleme zu lösen.60 Positionen werden bezogen, Korrekturen und Revisionen vorgenommen, die man als Entwürfe des Modernen wie als Kritik des Modernismus61 begreifen kann. Fraglich ist, ob die Moderne der romantischen Bewegungen noch die unsere ist. Es scheint aber, dass das gegenwärtige Interesse an der Romantik auch darin gründet, dass wir uns in den romantischen Denk- und Darstellungsprojekten wie in den romantischen Auseinandersetzungen mit einer problemerzeugend voranschreitenden Moderne immer noch wiedererkennen können. Im Horizont einer Problemgeschichte der kulturellen wie gesellschaftlichen Moderne lösen sich – in gewisser Weise jedenfalls – die Konstruktionen von Aufklärung, Klassizismus, Idealismus und Romantik auf, und es beginnt umgekehrt, wie Heinz Brüggemann und Sabine Schneider dies gezeigt haben, die Einheit einer plural verfassten kulturellen Moderne Gestalt zu gewinnen. Im makroepochalen Forschungsrahmen einer konflikthaft fortschreitenden Moderne werden aber auch die individuellen Strömungen wieder neu erkennbar und voneinander unterscheidbar. Es wird, vereinfacht gesagt, sichtbar, welche Fragen sie miteinander teilen, und welche Antworten sie voneinander unterscheiden. Romantik-Forschung kann auf ihre Weise die Konfliktgrammatik der Moderne sichtbar machen, die nicht zuletzt, wie der Streit zwischen Hegel und Friedrich Schlegel zeigt, durch Muster der Delegitimierung und Legitimierung intersubjektiver Verbindlichkeit gekennzeichnet ist. Der Prozess der Modernisierung in den 150 Jahren radikaler Romantik-Kritik von Hegel bis Georg Lukács ist nicht als eine klare Entwicklungslinie zu verstehen, sondern vielmehr als ein dynamisches Spannungsgefüge heterogener Impulse, Wertsetzungen, Programme, institutioneller Muster und Praktiken, die aufeinander aufbauen und aufeinander reagieren. Die Moderne scheint dieses widersprüchliche dynamische Spannungsgefüge selbst zu sein, in dem die Grundkonflikte immer wieder neu verhandelt werden müssen, und zwar in variierenden historischen Konstellationen.  



60 Vgl. zum Problem der politischen Verortung Gérard Raulet: Préface. In: Ders.: (Hrsg.): Les romantismes politiques en Europe (Anm. 29), S. 5–9, hier S. 6 ff.: „Bref, ‚le romantisme‘ se présente sous les aspects multiples du traditionalisme, du socialisme, du nationalisme, du ‚libéralisme‘ (notion qui n’est du reste pas de nature à contribuer à une clarification et doit être elle-même incluse dans la problématisation à laquelle invite le romantisme). […] Tant les décalages dans le temps que les stratégies idéologiques et politiques qui se jouent dans les discours expliquent sans aucun doute l’imprécision globale et croissante du concept même de romantisme.“ 61 Vgl. auch Dirk von Petersdorff: Realismus und Konstruktion. Zu den Bildlichkeitstypen in der Literatur und Malerei zwischen Novalis und Caspar David Friedrich. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2006. Hrsg. v. Anne Bohnenkamp. Tübingen 2006, S. 185–208, hier S. 186.  











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Für die Entwicklung des Zeitbewusstseins der kulturellen Moderne haben die Romantiken einen wesentlichen Beitrag geliefert. Grundlage für viele Debatten der europäischen Romantiken ist die Dialektik einer radikalen Verzeitlichung. Diese Verzeitlichung besteht nicht nur in der Erkenntnis, dass alles, was ist, historisch geworden und historisch vermittelt und dadurch wesentlich bestimmt ist.62 Die Verzeitlichung des Denkens und Wissens hat Konsequenzen auch für die Erkenntnis und Beschreibung der eigenen Gegenwart, die als prekär erfahren wird.63 Im Ungenügen an der eigenen Gegenwart, im Zwiespalt mit ihr hat Hans Robert Jauß einen wesentlichen Grund für die romantische Modernität gesehen. Das apostrophierte „Ungenügen an der eigenen, unvollendeten Gegenwart“64 geht einher mit der Herausbildung einer „reflexiven Geschichtszeitkategorie“ ‚Gegenwart‘.65 Wenn die eigene Gegenwart reflexiv geworden ist, können keine absoluten Ordnungen mehr aufgestellt werden. Gerade auf dem Feld der Künste und Wissenschaften haben die europäischen Romantiken eine solche radikale Verzeitlichung der Erfahrungswelten und der gesellschaftlichen und kulturellen Ordnungen zur Darstellung gebracht und solcherart auch dem philosophischen Erkennen zu denken aufgegeben. Vor diesem Hintergrund plädiere ich dafür, Romantik-Forschung im Horizont einer Problem- und Konfliktgeschichte der Moderne zu betreiben. Notwendig scheint die Verbindung einer solchen übergreifenden makrohistorischen Perspektive mit mikrologischen Untersuchungen der einzelnen Werke und Konstellationen. Erst in ihr zeigt sich der heuristische Wert der forschungsleitenden Perspektive auf die Problemgeschichte der Moderne. Über dichte Beschreibungen einzelner Werke, Artefakte und Problemkonfigurationen können übergreifende Zusammenhänge der europäischen Romantiken und ihrer „multiplen Moderni-

62 Vgl. zu der von den romantischen Bewegung betriebenen Historisierung auch Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. 4. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 5. Hrsg. v. Birgit Recki. Hamburg 2000, S. 233 ff. 63 Vgl. Niklas Luhmann: Eine Redeskription ‚romantischer Kunst‘. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hrsg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996, S. 325–344. 64 Hans Robert Jauß: Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 11–66, hier S. 50. 65 Vgl. Ingrid Oesterle: Der ,Führungswechsel der Zeithorizonte‘ in der deutschen Literatur. Korrespondenzen aus Paris, der Hauptstadt der Menschheitsgeschichte, und die Ausbildung der geschichtlichen Zeit ,Gegenwart‘. In: Dirk Grathoff (Hrsg.): Studien zur Ästhetik und Literaturgeschichte der Kunstperiode (=Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft; 1). Frankfurt a. M. 1985, S. 11–76; vgl. dies.: „Es ist an der Zeit!“. Zur kulturellen Konstruktionsveränderung von Zeit gegen 1800. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 91–119, hier S. 100.  























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täten“66 neu entdeckt werden und kann die europäische Dimension der Romantik in diesen Werken und Problemkonfigurationen selbst freigelegt werden. Aufgegeben ist der Forschung die produktive Verbindung von makrohistorischer Problemperspektive und mikrologischer Aufmerksamkeit für die Details.

66 Vgl. Shmuel N. Eisenstadt: ,Multiple Modernities‘. Der Streit um die Gegenwart. Frankfurt a. M. 2007.  

Künste

Werner Busch

Forschungsbericht zur nicht unproblematischen kunsthistorischen Romantik-Forschung in Deutschland: Friedrich, Runge und Zeitgenossen Die deutsche kunsthistorische Romantik-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg ist nicht ohne die Hypothek des ‚Dritten Reichs‘ zu denken. Die Kulturpolitik der Nationalsozialisten hat Caspar David Friedrich zum Inbegriff des ‚deutschen Wesens‘ gemacht. Aus Anlass von Friedrichs 100. Todestag veranstaltete die Dresdener Gemäldegalerie 1940 eine Ausstellung, die ihre besondere Sinngebung in der Zeitschrift Die Kunst im Deutschen Reich erfuhr, wo es heißt, Friedrich verkörpere „innerste Züge unseres nationalen und völkischen Wesens“.1 Am Ende resümiert der Aufsatz mit dem Titel Deutsche Innerlichkeit: „In Caspar David Friedrichs Werk, der Leistung keines anderen Volkes vergleichbar, wird das ewige Deutschland immer wesentliche Züge seiner Seele in seiner Verkündigung erblicken.“2 Eine solche Formulierung spielt unter anderem mit dem romantischen Begriff der Kunstreligion. Als nach zwölf Jahren das auf 1000 Jahre angelegte Reich am Ende war, wollte man von der nationalistischen Dimension nichts mehr wissen, die mit Kurt Karl Eberleins Volksbuch zu Caspar David Friedrich von 1939 in der Propagierung des Friedrichdeutschen – nach dem Vorbild des Rembrandtdeutschen von Julius Langbehn – gegipfelt hatte.3 Die Zuschreibung der Innerlichkeit allerdings sollte gewahrt bleiben. Die humanistische Entpolitisierung Friedrichs führte dazu, dass man vorerst auf die unproblematischere Beschäftigung mit der deutschen Spätromantik in Gestalt von Ludwig Richter und Moritz von Schwind auswich. Nach dem Zusammenbruch konnten sie eine Trostfunktion übernehmen. Man kann sich die Auflagenhöhe etwa der Blauen Bücher zu Ludwig Richter heute kaum noch vorstellen; Richters Werke wurden, wie schon nach dem Ersten Weltkrieg, zum deutschen Hausschatz. Die enge, kleinbürgerliche Idylle, ein wenig resignierend und naturverklärend, konnte offenbar der Zeitstimmung adäquat Ausdruck geben.  







1 Werner Kloos: Deutsche Innerlichkeit. Zum 100. Todestag von Caspar David Friedrich. In: Die Kunst im Deutschen Reich 5 (1940), S. 150–159, hier S. 151. 2 Ebd., S. 159. 3 Kurt Karl Eberlein: Caspar David Friedrich, der Landschaftsmaler. Ein Volksbuch deutscher Kunst. Bielefeld u. a. 1939.  







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Werner Busch

Nach der deutschen Konsolidierung in den späten 50er und frühen 60er Jahren begann die systematische Erforschung der Kunst des zuvor weitgehend verpönten 19. Jahrhunderts, gefördert durch die Fritz-Thyssen-Stiftung. Ein Resultat war das Werkverzeichnis zu Caspar David Friedrich, das der Deutsche Verein für Kunstwissenschaft 1967 bei Helmut Börsch-Supan in Auftrag gab und das 1973/74 zum 200. Geburtstag Friedrichs vorlag.4 Wie der Autor schreibt, hat ihm diese Arbeit ermöglicht, seine an der Bildgestaltung Caspar David Friedrichs orientierte Dissertation zu überdenken und systematisch durch Untersuchungen zur allegorischen Aussage der Bilder zu ergänzen. Sein Ziel war die Entschlüsselung der Friedrichschen Bildersprache. Die Forschung ist bis heute auf dieses umfassende Kompendium, das alle denkbaren und damals zur Verfügung stehenden Quellen zu Friedrich zusammengetragen hat, angewiesen. Börsch-Supan hat seine Entschlüsselungsergebnisse in einem Bedeutungsindex niedergelegt, in dem er so gut wie alle Gegenstände Friedrichscher Bilder mit Symbolbedeutung beladen hat. Das hat bis zum heutigen Tag zu einer unversöhnlichen und scheinbar unauflösbaren Debatte über die Berechtigung dieser Setzungen geführt. Im Jubiläumsjahr 1974 fanden in Dresden und Hamburg, in Ost und West, große Ausstellungen statt, die beide auf ihre Weise eine Gegenposition zu BörschSupan einnahmen. In Hamburg propagierte man den von der frühromantischnaturmystischen Literatur beeinflussten Friedrich und sah im Gegensatz zu den Börsch-Supanschen Sinnfestschreibungen eine tendenzielle Sinnoffenheit der Bilder. Auf der Dresdener Ausstellung, mehr noch auf der in Greifswald folgenden Friedrich-Konferenz, war es der politische Friedrich, der gesehen wurde als das „Produkt eines sich ausformenden bürgerlich-demokratischen Lebensgefühls, eines neuen Geschichtsbewußtseins und Nationalgefühls“. Nun fand in Hamburg parallel zur Friedrich-Ausstellung 1974 der Deutsche Kunsthistorikertag mit einer Friedrich-Sektion statt, und hier wurde ebenfalls von einer jüngeren Generation dem politischen Friedrich das Wort geredet. Diese Position fand in zwei Publikationen ihren Niederschlag, dem von Berthold Hinz, Hans-Joachim Kunst, Peter Märker u. a. herausgegebenen Band Bürgerliche Revolution und Romantik. Natur und Gesellschaft bei Caspar David Friedrich und dem von Werner Hofmann mit einer gewissen Reserve verantworteten Band Caspar David Friedrich und die deutsche Nachwelt. Aspekte zum Verhältnis von Mensch und Natur in der bürgerlichen Gesellschaft.5 Gerechtfertigt sah man sich in Ost und West durch Friedrichs Engagement in den Freiheitskriegen, seine Zugehörigkeit zum Kreis der verdäch 

4 Helmut Börsch-Supan u. Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen. München 1973. 5 Berthold Hinz, Hans-Joachim Kunst u. a.: Bürgerliche Revolution und Romantik. Natur und Gesellschaft bei Caspar David Friedrich. Gießen 1976; Werner Hofmann: Caspar David Friedrich und  

Forschungsbericht zur kunsthistorischen Romantik-Forschung

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tigten Demagogen und seine auch spätere Verwendung der Demagogentracht in seinen Bildern, trotz des Verbotes dieser Tracht an der Dresdener Akademie, an der Friedrich Landschaft unterrichtete. Verkürzt gesagt: All das, was BörschSupan religiös gedeutet hatte, erfuhr nun seine politische Interpretation mit der gleichen Verbindlichkeit. Es lässt sich auch sagen, woher das Repertoire der politischen Inanspruchnahme der Friedrichschen Gegenstände stammte: aus einem kleinen Buch von Hans Wolf Jäger Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz von 1971.6 Die Texte der Greifswalder Konferenz erschienen im Übrigen 1978 in einem Sonderband der wissenschaftlichen Zeitschrift der ErnstMoritz-Arndt-Universität.7 Begleitet wurde die politische Ausdeutung noch durch die Dissertation von Peter Märker 1974, die erstaunlicherweise soeben noch einmal unverändert erschienen ist, und durch die von Peter Rautmann 1976.8 Damit war, gelinde gesagt, die Debatte eröffnet, wobei die frühromantischnaturmystische Deutungsvariante in doppelter Hinsicht im Vorteil war. Zum einen konnte sie die religiöse und die politische Position gleichermaßen integrieren und einer Deutung unterstellen, die sie aufgehen ließ in einer eher unbestimmten utopischen Zukunftshoffnung nach dem Scheitern der Französischen Revolution, nach welcher dereinst im Schlegelschen Sinn der universale Zusammenhang wieder hergestellt sein würde. Zum anderen konnte sie sich in Umberto Ecos Vorstellung vom offenen Kunstwerk aufgehoben sehen, der zufolge definitive Sinnzuschreibungen grundsätzlich in Frage zu stellen sind. Das Problem der frühromantischen Deutungsvariante liegt allerdings darin, dass beinahe beliebig das gesamte Arsenal frühromantischer Literatur und Theoriebildung auf das Haupt des armen Friedrich gehäuft wurde, der darunter kaum mehr zu erkennen war, jedenfalls seine individuellen Konturen verlor. Einschlägigstes Beispiel hierfür ist Joseph Leo Koerners zuerst 1990 erschienenes Buch, das auf Deutsch unter dem Titel Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt 1998 herauskam und neben sämtlichen deutschen romantischen Literaten selbst Wordsworth heranzieht.9 Heraus kommt in dieser Tradition letztlich ein pantheistischer und zu-

die deutsche Nachwelt. Aspekte zum Verhältnis von Mensch und Natur in der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1974. 6 Hans-Wolf Jäger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz. Stuttgart 1971. 7 Caspar David Friedrich. Bildende Kunst zwischen der Französischen Revolution und der bürgerlich-demokratischen Revolution von 1848. 1. Greifswalder Romantik-Konferenz 1974 (=Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität; Sonderband). Greifswald 1978; vgl. Hannelore Gärtner (Hrsg.): Caspar David Friedrich: Leben, Werk, Diskussion. Berlin 1977. 8 Peter Märker: Geschichte als Natur. Untersuchungen zur Entwicklungsvorstellung bei Caspar David Friedrich. Kiel 1994; Peter Rautmann: Caspar David Friedrich. Landschaft als Sinnbild bürgerlicher Wirklichkeitsaneignung. Frankfurt a. M. 1979 [zugleich: Hamburg, Diss., 1976]. 9 Joseph Leo Koerner: Caspar David Friedrich. Landschaft und Subjekt. München 1998.  



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gleich der Ästhetik des Sublimen verpflichteter Friedrich – wogegen Johannes Grave schon in seiner Magisterarbeit Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen 2001 Einspruch erhoben hat.10 Dem einseitigen Verständnis der drei genannten Positionen habe ich versucht entgegenzuarbeiten, zuerst in einem Aufsatz von 1987 mit dem Titel Zu Verständnis und Interpretation romantischer Kunst.11 Es sollte der Widerspruch der drei Ansätze insofern aufgelöst werden, als ich die zeichenhafte Eindeutigkeit, sei sie nun religiös oder politisch orientiert, und die Annahme der tendenziellen Sinnoffenheit durch die Ablehnung der Behauptung von Allegorie oder Symbol im ersten Falle und von gänzlicher Unbestimmtheit im zweiten Falle im Begriff der Metapher zu vereinigen gesucht habe. Die Metapher eröffnet ohne gänzliche Festschreibung bestimmte Bedeutungsfelder, die vom Betrachter in der Rezeption Friedrichscher Bilder auf durchaus subjektive, d. h. relative Weise zu besetzen sind. Dieser Gedanke eines metaphorischen Verfahrens bei Friedrich ist von Hilmar Frank in seinem gelehrten Buch mit dem Titel Aussichten ins Unermessliche. Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich von 2004 aufgegriffen worden und durch den im Zusammenhang mit der Landschaftsmalerei um 1800 von Christian August Semler im Rückgriff auf den von Rousseau geprägten Begriff der „rêverie“ ergänzt worden, mit dem ein Terminus gefunden ist, der den von Friedrichs Figuren vollzogenen Blick in die Landschaft nicht einfach als eine Reflexionsform begreift, die auch aufklärerisch-rational zu denken wäre, sondern als einen träumerischen Modus, bei dem die Wirkung des Gesehenen nur halb bewusst ist.12 Friedrich gibt die Richtung der Erfahrung vor, er folgt nicht einem vorgängigen Text, der etwa im Werk zeichenhaft eingelöst würde. Nach den Ausstellungen und Konferenzen hat in der DDR das an Boden gewonnen, was man, entschieden positiv verstanden, Regionalforschung nennen könnte. In den Archiven der DDR sind weitere Quellen zu Friedrich aufgetan worden, zusammengefasst 1985 von Karl-Ludwig Hoch, dessen Dissertation von 1981, nur im Typoskript vorhanden, nach wie vor die beste Charakterisierung von Friedrichs religiöser Position liefert.13 Hierzu hat Johannes Grave, allerdings ohne die Dissertation von Hoch zu nennen, 2011 einen weiteren Vorschlag gemacht:  



10 Johannes Grave: Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen. Friedrichs „Eismeer“ als Antwort auf einen zentralen Begriff der zeitgenössischen Ästhetik. Weimar 2001. 11 Werner Busch: Zu Verständnis und Interpretation romantischer Kunst. In: Romantik. Beiträge von Werner Busch u. a. Annweiler 1987, S. 1–29. 12 Hilmar Frank: Aussichten ins Unermessliche. Perspektiven und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich. Berlin 2004. 13 Karl-Ludwig Hoch: Caspar David Friedrichs Frömmigkeit und seine Ehrfurcht vor der Natur [Leipzig, Diss., 1981].  



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Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik.14 Verkürzt gesagt ist demnach Friedrich Protestant mit einem streng ausgeprägten lutherischen Gnadenbegriff; es gibt Züge von Pietismus bis hin zum Herrnhutertum, seltenere Einsprengsel von Pantheismus, den man besser nach einem um 1820 von dem Theologen Karl Christian Friedrich Krause im Gespräch mit Carl Gustav Carus geprägten Begriff ‚Panentheismus‘ nennen sollte, denn ein reines Verströmen in die Natur gibt es bei Friedrich nicht, alle Erfahrung ist an den einen Gott zurückgebunden. Man kann auch von Zügen der negativen Theologie sprechen, wie Schreier es 1990 getan hat.15 Glaubensgewissheit auf Erden gibt es nicht, nur Hoffnung auf Erlösung nach dem Tode. Zusätzlich hat von westlicher Seite Gerhard Eimer in seiner Arbeit Zur Dialektik des Glaubens bei Caspar David Friedrich von 1982 schwedische Einflüsse auf Friedrichs Glaubensauffassung geltend gemacht,16 was nicht ganz abwegig ist: Friedrich war Schwede. Sein König Gustav IV. Adolf, dem er zuerst den Tetschener Altar widmen wollte, was aus politischen Gründen schließlich nicht mehr möglich war, stilisierte sich zum Retter des Protestantismus nach dem Vorbild seines Vorfahren Gustav II. Adolf; er hatte ausgeprägt pietistischherrnhuterische Züge, die ihren Ausdruck etwa in einer Natureinkehr mitten in der Schlacht fanden. Dieses Problem der Friedrichforschung, die durch sein Werk aufgegebene theologische Verortung, scheint mir im Großen und Ganzen geklärt, der in dieser Frage vor kurzem noch einmal unternommene Neuanlauf nicht haltbar zu sein. Doch dazu gleich noch im Zusammenhang. Aus der Regionalforschung hervorgegangen, wenn auch erst nach der Wende publiziert, ist eine ganze Reihe von genauen Untersuchungen zu Friedrichs Reisen und seinen dabei vorgenommenen motivischen Erschließungen bestimmter Regionen: Rügen, Harz, Sächsische Schweiz, Böhmen, aus der Feder von Hermann Zschoche, Frank Richter und dem bereits zitierten Pfarrer Hoch.17 Diese Forschungen waren Voraussetzung für das gerade erschienene, von Christina Grummt in zehnjähriger Arbeit erstellte Werkverzeichnis der mehr als 1000 Zeichnungen Caspar David Friedrichs, in dem es durch Autopsie aller Zeichnungen möglich war, Skizzenbuchzusammenhänge zu sichern, Reiseverläufe zu präzisieren, Datierungen zu korrigieren und Entwick-

14 Johannes Grave: Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik. Zürich 2011. 15 Christoph Schreier: Negative Theologie? Zur Evokation des Transzendenten bei Caspar David Friedrich. In: Giessener Beiträge zur Kunstgeschichte VIII (1990), S. 99–113. 16 Gerhard Eimer: Zur Dialektik des Glaubens bei Caspar David Friedrich. Frankfurt a. M. 1982. 17 Herrmann Zschoche: Caspar David Friedrichs Rügen. Eine Spurensuche. Husum u. a. 2007; ders.: Caspar David Friedrich im Harz. Husum 2008; Frank Richter: Caspar David Friedrich. Das Riesengebirge und die böhmischen Berge. Husum 2012; Karl-Ludwig Hoch: Caspar David Friedrich in der Sächsischen Schweiz. Skizzen, Motive, Bilder. Dresden 1996.  





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lungsstränge aufzuzeigen.18 Durch die Qualität der Zweitonabbildungen aller Zeichnungen liegt nun ein unerlässliches Arbeitswerkzeug vor, bei aller denkbaren Kritik im Einzelnen. Zu den Ergebnissen der Regionalforschung gehört schließlich auch, dass bestimmte, im Schatten der Großen (Friedrich und Runge) stehende Künstler auch in ihrem Bezug zu diesen sichtbar werden, wie etwa Klinkowström, der 2010 im Rahmen der Greifswalder Ausstellung Die Geburt der Romantik. Friedrich, Runge, Klinkowström einen aus den Quellen gesicherten Platz in der RomantikForschung erhält,19 was zuvor schon in vorzüglicher Weise der von einem Kolloquium begleiteten Carus-Ausstellung in Dresden und Berlin für diesen Freund Friedrichs und Goethes gelungen war. Katalog und Kolloquiumsband erschienen 2009.20 In jüngerer Zeit sind vier größere Arbeiten zu Friedrich erschienen, Werner Hofmanns Buch von 2000, mein eigenes von 2003, das von Hilmar Frank von 2004, gefolgt von meiner lexikalischen Zusammenfassung im Allgemeinen Künstler-Lexikon 2005, und schließlich das soeben erschienene Buch von Johannes Grave 2012.21 Alle Arbeiten versuchen auf unterschiedliche Weise sich dem Problem der Interdependenz von Form und Inhalt zu nähern. Hofmann konstatiert Kontrastkoppelungen besonders bei den Friedrichschen Bilderpaaren, betont den offenen Kontext der Werke, sieht extreme Formfiguren, die Ausdrucks- und Bedeutungsfigur zugleich sind, betont die spannungsvolle Verschränkung von Nähe und Ferne in der Vertikalstaffelung, lehnt, wie auch ich, die wenigen orthodox-religiösen Bilder wegen ihrer Einsinnigkeit ab und macht den Schillerschen Begriff der ‚dunklen Totalidee‘ stark. Das ähnelt dem von Frank ins Zentrum gestellten Begriff der „rêverie“ und markiert einen halbbewussten Zustand von Wahrnehmung oder, mit Schleiermacher zu reden, von Anschauung, Gefühl und Erkenntnis. Ich selbst habe versucht, über eine genaue Untersuchung des Werkprozesses – Friedrich montiert seine Bilder aus vor dem Objekt studierten Wirklichkeitspartikeln zu einem künstlerischen Organismus, der die Wirklichkeitsver 

18 Christina Grummt: Caspar David Friedrich. Die Zeichnungen. Das gesamte Werk. 2 Bde. München 2011. 19 Uwe Schröder (Hrsg.): Die Geburt der Romantik. Friedrich, Runge, Klinkowström. Greifswald 2010. 20 Petra Kuhlmann-Hodick, Gerd Spitzer u. Bernhard Maaz (Hrsg.): Carl Gustav Carus. Natur und Idee. Katalog. Berlin 2009; dies. (Hrsg.): Carl Gustav Carus. Wahrnehmung und Konstruktion. Essays. Berlin 2009. 21 Werner Hofmann: Caspar David Friedrich. Naturwirklichkeit und Kunstwahrheit. München 2000; Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion. München 2003; Frank: Aussichten ins Unermessliche (Anm. 12); Johannes Grave: Caspar David Friedrich. München 2012.  

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pflichtung transzendiert – hinter Friedrichs Bildkonstruktionsfiguren zu kommen, und meine, sie in den Vorstellungen der romantischen Mathematik eines Novalis, Oken und vor allem Schleiermacher gefunden zu haben. Novalis lädt Mathematik auf sehr grundsätzliche Weise religiös auf, was zu der Setzung führt: „Reine Mathematik ist Religion“.22 Schleiermacher, der Novalis’ mathematische Fragmente herausgegeben hat, selbst wenn sie unter Friedrich Schlegels Namen erschienen sind, hat selbst über transzendentale Mathematik am Beispiel der Kegelschnitte reflektiert und sieht die Hyperbel als die höchste Form, als Inbegriff der Unendlichkeitsvorstellung. Es ist diejenige Form, die Friedrich, wie man schon in den 20er Jahren beobachtet hat, am häufigsten als Bildfigur verwendet. Das Konkrete der Natur geht im Abstrakten der Mathematik auf als der einzigen Form, die Verweisungsdimensionen auf das Göttliche eröffnet. Diese Bemühungen von Hofmann, Busch und Frank mündeten in den Essener und Hamburger Katalog der Friedrich-Ausstellung von 2006,23 der zu wütenden Antworten und Rezensionen derjenigen geführt hat, die man die neuen Traditionalisten nennen könnte und die letztlich den Börsch-Supanschen Ansatz fortschreiben möchten – am drastischsten Reinhard Zimmermann,24 in gemäßigter Form in einer ausführlichen Rezension meines Buches Christian Scholl, der seine Position dann 2007 in seinem umfangreichen Buch zu Friedrich, Runge und den Nazarenern unter dem Titel Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst niedergelegt hat.25 Selbst wenn Scholl einen weiteren Sinnbildbegriff propagiert, so ist doch Friedrichs Anbindung an barocke Ikonographie und Emblematik für sein Argument zentral. In diesem Sinne hat nun allerdings Thomas Noll, bereits 2006 und ebenfalls in Göttingen, ein Buch des Titels Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich mit dem verräterischen Untertitel Physikotheologie, Wirkungsästhetik und Emblematik herausgegeben und damit Friedrich gänzlich im 18. Jahrhun 





22 Novalis: Schriften. Hrsg. v. Ludwig Tieck u. Friedrich Schlegel. Paris 1840, S. 276. 23 Hubertus Gaßner (Hrsg.): Caspar David Friedrich. Die Erfindung der Romantik. Katalog. München 2006. 24 Vgl. Reinhard Zimmermann: Das Geheimnis des Grabes und der Zukunft. Caspar David Friedrichs ,Gedanken‘ in den Bilderpaaren. In: Jahrbuch der Berliner Museen N.F. 42 (2000 [ersch. 2003]), S. 187–257; ders.: „Kommet und sehet“. Caspar David Friedrichs Bildverständnis und die Frage des „offenen Kunstwerks“. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 62 (2002), S. 65–93, und ausführliche Rezensionen dess. zu den Büchern von Hofmann, Busch, Frank und jetzt Grave, die mit geradezu erschreckender Aggressivität die Autoren angreifen, um die eigene Position zu behaupten. 25 Christian Scholl: Romantische Malerei als neue Sinnbildkunst. Studien zur Bedeutungsgebung bei Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und den Nazarenern. München 2007; vgl. ders.: Rezension zu: Werner Busch: Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion [siehe Anm. 21]. In: Journal für Kunstgeschichte 7 (2003), S. 372–381.  









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dert verankert.26 Apodiktisch wird Friedrich zum Physikotheologen und Emblematiker in barocker Tradition gestempelt. Die Emblemwerke, die auf ihn zur Anwendung gebracht werden, stammen zumeist aus dem 17., weniger aus dem 18. Jahrhundert, und die Physikotheologie, um nur dies vorsichtig anzumerken, ist eine gänzlich aufklärerische Unternehmung. Sie diente der Rechtfertigung neuerer wissenschaftlicher Erkenntnis im religiösen Kontext und verlor gleich nach der Mitte des 18. Jahrhunderts rasant an Einfluss – man denke nur an Kants frühe Abhandlung zum Sublimen aus den 1750er Jahren und vergleiche sie mit seinen Bemerkungen zum Sublimen in der Kritik der Urteilskraft von 1790, wo aber auch nichts von physikotheologischem Gedankengut geblieben ist. Friedrich in eine Reihe mit Brockes und Scheuchzer zu stellen, scheint mir nicht möglich zu sein. Wer in Friedrichs Bildern eine optimistische Rechtfertigungsstrategie für naturwissenschaftliche Erkenntnis sehen will, verfehlt seine tiefe Melancholie ebenso wie seinen historischen Ort nach dem Scheitern der Französischen Revolution. Das jüngst erschienene Buch von Grave wägt vor diesem Hintergrund vorsichtig und souverän ab.27 Es lehnt sowohl die einseitig zeichenhafte wie auch eine auf gänzliche Sinnoffenheit pochende Lektüre der Friedrichschen Bilder ab und betont Friedrichs ausgeprägt ästhetische Bildordnung, die den Betrachter zur Reflexion des Sichtbaren führt und zugleich dessen religiöse Grundierung erfahrbar werden lässt – als möglichen Erfahrungsvorgang und nicht als bloße Setzung. Damit scheint mir die Friedrich-Forschung an einem guten Punkt angelangt zu sein. Ganz kurz zur Runge- und Nazarener-Forschung. Der Beginn einer ernsthaften, quellenbasierten Runge-Forschung vollzog sich gänzlich wie im Falle Friedrichs. Friedrich ist 1774 geboren, und so lag 1974 das vom Deutschen Verein für Kunstwissenschaft in Auftrag gegebene Werkverzeichnis vor,28 Runge ist 1777 geboren, wieder wurde der Deutsche Verein für Kunstwissenschaft tätig, und 1975 erschien Jörg Traegers Monographie und kritischer Katalog zu Runge: beides Meilensteine der Erforschung der Romantik, bis heute nicht überholt.29 Und ebenso wie bei Friedrich folgte die Hamburger Kunsthalle bei Runge mit einer großen Ausstellung sowie mit einem Kolloquium Runge – Fragen und Antworten, dessen Beiträge 1979 vorgelegt werden konnten.30 Im selben Jahr erschienen auch  









26 Thomas Noll: Die Landschaftsmalerei von Caspar David Friedrich. Physikotheologie, Wirkungsästhetik und Emblematik. Voraussetzungen und Deutung. München 2006. 27 Grave: Caspar David Friedrich (Anm. 21). 28 Börsch-Supan u. Jähnig: Caspar David Friedrich (Anm. 4). 29 Jörg Traeger: Philipp Otto Runge und sein Werk. Monographie und kritischer Katalog. München 1975; ders.: Philipp Otto Runge oder Die Geburt einer neuen Kunst. München 1977. 30 Hanna Hohl (Hrsg.): Runge. Fragen und Antworten. München 1979.  



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die Akten des entsprechenden DDR-Kolloquiums der 2. Greifswalder RomantikKonferenz.31 Damit hatte auch die Forschung zu Runge ihre Basis. Doch Runge ist spröder als Friedrich, intellektueller, fordert keine Bekenntnisse heraus, und so blieb die folgende Forschung sehr viel gemäßigter und von sehr viel geringerem Umfang. Wichtig sind zwei kleinere Bücher, die Teilaspekte des bei Traeger Aufgerufenen behandeln: der von Konrad Feilchenfeldt kommentierte, noch vor Traegers Monographie publizierte Briefwechsel Brentano – Runge von 1974 und Karl Möseneders Buch über Runge und Jakob Böhme von 1981.32 Nun basiert alle Runge-Forschung auf den von Runges Bruder Daniel 1840– 41 herausgegebenen Hinterlassenen Schriften, deren Originalvorlagen nur zum geringsten Teil erhalten sind, was insofern ein besonderes Problem aufwirft, als Daniel die Schriften Philipp Ottos, zumeist Briefe, ganz offensichtlich gereinigt hat, vor allem wohl in politischer Hinsicht. Runge, der schon 1810 starb, hing offenbar nicht nur vaterländischen Gedanken an, sondern auch den Idealen der Französischen Revolution. Und wie bei Friedrich dürften diese Überzeugungen in religiöse Vorstellungen eingebettet gewesen sein, wenn auch bei Runge in stark spekulative Traditionen. Runges Bildersprache hat aufweisbare, strenge Strukturen, allerdings um einiges komplexer als bei Friedrich, was die Annäherung nicht leichter macht. Die Böhme-Bindung öffnet Spekulationen Tor und Tür, die mathematisch fundierten visuellen Strukturen sind so komplex, dass ihr Nachvollzug schwindelerregende Bezüge offenbart. Eine neue große Arbeit von Thomas Lange aus dem Jahr 2010 ist, wie der Titel festhält, dem bildnerischen Denken Philipp Otto Runges gewidmet.33 Runge war – im Gegensatz zu Friedrich – ein philosophischer Kopf, der sich in Spekulationen verlieren konnte. Die letzte große Zusammenfassung stellt die Hamburger Runge-Ausstellung unter dem Titel Kosmos Runge von 2010/11 dar, die weitgehend von Markus Bertsch verantwortet wurde.34 Das die Ausstellung vorbereitende Kolloquium ist ebenfalls in gedruckter Form erschienen.35 Eigene Wege hat die Forschung zu Runges Farbenlehre genommen, angeregt durch Goethes intensive und positive Auseinandersetzung  





31 Philipp Otto Runge im Umkreis der deutschen und europäischen Romantik. 2. Greifswalder Romantik-Konferenz 1.–5. Mai 1977 (=Wissenschaftliche Zeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität). Greifswald 1979. 32 Konrad Feilchenfeldt (Hrsg.): Clemens Brentano, Philipp Otto Runge. Briefwechsel. Frankfurt a. M. 1974; Karl Möseneder: Philipp Otto Runge und Jakob Böhme. Über Runges „Quelle und Dichter“ und den „Kleinen Morgen“. Marburg 1981. 33 Thomas Lange: Das bildnerische Denken Philipp Otto Runges. Berlin 2010. 34 Markus Bertsch (Hrsg.): Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik. Katalog. München 2010. 35 Markus Bertsch (Hrsg.): Kosmos Runge. Das Hamburger Symposium. München 2013 [diese Publikation geht zurück auf das Symposium „Philipp Otto Runge und die Geburt der Romantik“, das an der Hamburger Kunsthalle vom 8. bis 10. Oktober 2009 stattfand].  





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mit Runges Farbtheorie, jedoch recht eigentlich erst mit Heinz Matiles Arbeit zu Runges Farbenlehre von 1973, die nach der Runge-Ausstellung und dem RungeKolloquium 1979 nochmals überarbeitet worden ist.36 Bei aller Bezugnahme auf Jakob Böhmes abstrakte Kosmosanalogien, die sich auch in komplexen mathematischen Konfigurationen niedergeschlagen haben, rekurriert Runge doch primär auf die romantische Arabeske, von der Friedrich Schlegel dekretiert hat, sie sei das einzig denkbare Strukturprinzip des Romans, einer Gattung, die alle anderen Gattungen in sich fassen soll. Die fragmenthaft erfahrene Wirklichkeit soll durch das künstliche Gespinst der Arabeske gebunden werden und damit nach Schlegel einen utopischen Vorschein des verlorenen universalen Zusammenhangs entwerfen. Runge gibt der Arabeske, traditionellerweise eine bloße Ornamentform, eine verbindliche Struktur, die als dialektischer Dreischritt zu lesen ist. Die Arabeske ist achsensymmetrisch angeordnet, hat ihren Ursprung in einem Punkt auf dem unteren Teil der Symmetrieachse, entfaltet sich dann antithetisch nach links und nach rechts und steigt auf, um oben zu einer höheren Synthese wieder zusammenzufinden. Diese Struktur kann Widersprüchliches, Auseinanderstrebendes fassen, kommt aus dem Unbestimmten, konkretisiert sich, um schließlich transzendiert zu werden. Die Forschung zur Arabeske geht auf Karl-Konrad Polheims Buch zur Arabeske von 1966 zurück.37 Ich habe in meiner Habilitationsschrift von 1979, publiziert 1985 unter dem Titel Die notwendige Arabeske die Übertragung auf die bildende Kunst versucht.38 Günter Oesterle hat dann von germanistischer Seite in einer ganzen Reihe von Aufsätzen und Lexikon-Beiträgen der Überlegung zur Arabeske Tiefe gegeben.39 Da er, wie ich auch, zugleich mehrfach zum Capriccio publiziert hat, wird deut-

36 Heinz Matile: Die Farbenlehre Philipp Otto Runges. Ein Beitrag zur Geschichte der Künstlerfarbenlehre. Bern 1973; 2., verb. u. verm. Aufl., München 1979. 37 Karl-Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik. München 1966. 38 Werner Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklichkeitsaneignung und Stilisierung in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts. Berlin 1985. 39 Vgl. Günter Oesterle: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Kontroverse Formprobleme zwischen Aufklärung, Klassizismus und Romantik am Beispiel der Arabeske. In: Herbert Beck u. a. (Hrsg.): Ideal und Wirklichkeit der bildenden Kunst im späten 18. Jahrhundert (=Frankfurter Forschungen zur Kunst, Bd. 11). Berlin 1984, S. 120–139; ders., Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldne Topf“. In: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69–107; ders.: Artikel ‚Arabeske‘. In: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 1: Absenz – Darstellung. Hrsg. v. Karlheinz Barck u. a. Stuttgart, Weimar 2000, S. 272–286; ders.: Das Faszinosum der Arabeske um 1800. In: Walter Hinderer (Hrsg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik (=Stiftung für Romantikforschung, Bd. 21). Würzburg 2002, S. 51–70.  



























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lich, dass wir beide das Problem der Aufwertung, ja Absolutsetzung ursprünglich niedrig eingestufter Gattungen bedacht und beide darüber reflektiert haben, dass diese nur möglich ist über die Akzeptanz einer nicht wirklich aufhebbaren FormInhalt-Divergenz seit der Romantik, die der Form eine reflexive Dimension zuschreibt und ihre tendenzielle Autonomie als Voraussetzung begreift, zu einer ironischen Aufhebung der Divergenz zu kommen. Zum Jahreswechsel 2013/14 zeigte das Freie Deutsche Hochstift/Goethe-Museum unter dem Titel „Verwandlung der Welt“ eine größere Ausstellung zur Arabeske, die dann auch in der Hamburger Kunsthalle zu sehen war; die Ausstellung sucht bildkünstlerische, literarische und musikalische Arabesken-Auffassung zusammenzuführen. Ferner ist eine vom Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar zu verantwortende Neuausgabe der Schriften Philipp Otto Runges in Arbeit, die auf den Vorarbeiten von Konrad Feilchenfeldt fußt. Ein Wort noch zur Nazarener-Forschung, die nach frühen Vorarbeiten etwa von Margaret Howitt 1886 und Carl Georg Heise 1928 zu Friedrich Overbeck oder von Fritz Herbert Lehr 1924 zu Franz Pforr zumeist in Ausstellungskatalogen (Frankfurt 1977, Rom 1981) ihren Niederschlag gefunden hat.40 Erst spät hat dann ein Neuanlauf stattgefunden, zu Overbeck 1999 durch Brigitte Heise, die verstärkt auf die literarischen und autobiographischen Quellen zurückgegriffen hat.41 Michael Thimann, der sich in den letzten Jahren neben der Handzeichnungsforschung am intensivsten mit den Nazarenern beschäftigt hat, hat die kulturpolitische Dimension, besonders des späten Overbeck, stark gemacht und nachdrücklich auf dessen päpstlich gestützten Versuch einer katholischen Erneuerung der Kunst sowie seine Absicht hingewiesen, systematisch den gesamten Bereich kirchlicher Kunst durchzugestalten, bis hin zu Entwürfen für Kirchen auf dem Balkan.42 Die Handzeichnungsforschung verdient einen gesonderten Satz, da sie es gewesen ist, die der Nazarenerkunst den Stempel, sie sei per se konservativ, ja reaktionär, insofern hat nehmen können, als sie das erstaunliche Abstraktionsvermögen der Nazarenerzeichnung, ihren innovativen Umgang mit Raum- und Zeitvorstellungen, um nur das Wichtigste zu sagen, hat hervorkehren können. Manches von

40 Margaret Howitt: Friedrich Overbeck. Sein Leben und Schaffen. 2 Bde. Bern 1886; Carl Georg Heise (Hrsg.): Overbeck und sein Kreis. Hundert Bildertafeln. München 1928; Fritz Herbert Lehr: Die Blütezeit romantischer Bildkunst. Franz Pforr, der Meister des Lukasbundes. Marburg 1924; Klaus Gallwitz (Hrsg.): Die Nazarener. Katalog. Frankfurt a. M. 1977; ders. (Hrsg.): I Nazareni a Roma. Catalogo della mostra presso la Galleria Nazionale dArte Moderna di Roma. Katalog. Roma 1981. 41 Brigitte Heise: Johann Friedrich Overbeck. Das künstlerische Werk und seine literarischen und autobiographischen Quellen. Köln 1999. 42 Michael Thimann: Friedrich Overbeck und die Bildkonzepte des 19. Jahrhunderts. Regensburg 2014.  

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diesen Überlegungen findet sich in dem Kolloquiumsband Zeichnen in Rom 1790– 1830, den Margret Stuffmann und ich im Jahr 2001 herausgegeben haben.43 Ein Schlusssatz, um wenigstens in einem Punkt angedeutet zu haben, in welche Richtung die Romantik-Forschung in der bildenden Kunst künftig gehen könnte: Die Stiftung für Romantik-Forschung, der das große Verdienst zukommt, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie in ihrer Interdependenz bedacht zu haben, hat vor kurzem ihr letztes Kolloquium abgehalten. Die komplexe Wechselwirkung von frühromantischer Literatur und bildender Kunst hätte auch weiterhin Thema zu sein, so wie es exemplarisch gerade die Dissertation von Jutta Voorhoeve mit dem Titel Romantisierte Kunstwissenschaft. Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit von 2010 vorgeführt hat, die zudem das wechselseitige Verhältnis von Historismus und neuer Poetik beleuchtet.44 Auch diese Frage scheint mir in Zukunft Gegenstand der Forschung sein zu müssen. Ein zweiter Schlusssatz zu dem, was ich nicht genannt habe: Ich habe den Sonderfall Blechen nicht erwähnt. Zwei noch nicht publizierte große Arbeiten zu Blechen sind abgeschlossen, von Annik Pietsch (†)45 und von Kilian Heck.46 Blechens italienische Zeichnungen waren vor kurzem wunderbar zu sehen.47 Aufsätze von Klaus Herding (1996) und Hans Dickel (2001) haben hier vorgearbeitet.48 In Berlin warten im Kabinett allerdings 7000 Zeichnungen von Blechen auf ihre Erschließung. Ebenfalls nicht erwähnt habe ich einen Grenzfall wie Schinkel. Neben dem großen Corpus-Unternehmen, zu dem zuletzt Eva BörschSupan Wichtiges beigetragen hat, liegen etwa Arbeiten von Jörg Trempler vor.49

43 Margret Stuffmann u. Werner Busch (Hrsg.): Zeichnen in Rom. 1790–1830. Köln 2001. 44 Jutta Voorhoeve: Romantisierte Kunstwissenschaft. Franz Sternbalds Wanderungen von Ludwig Tieck und die Emergenz moderner Bildlichkeit. Paderborn 2010. 45 Annik Pietsch: Material, Technik, Ästhetik und Wissenschaft der Farbe. 1750–1850. Eine produktionsästhetische Studie zur ‚Blüte‘ und zum ‚Verfall‘ der Malerei in Deutschland am Beispiel Berlin. Berlin 2014. 46 Kilian Heck: Das zweite Bild im Bild. Auflösungstendenzen des perspektivischen Raums bei Carl Blechen. Erscheint voraussichtlich 2015. 47 Rosa von der Schulenburg (Hrsg.): Carl Blechen. Mit Licht gezeichnet. Das Amalfi-Skizzenbuch aus der Kunstsammlung der Akademie der Künste, Berlin. Katalog. Berlin 2009. 48 Klaus Herding: Carl Blechen – der Widerstand gegen das Erhabene. In: Thomas Koebner u. Sigrid Weigel (Hrsg.): Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Opladen 1996, S. 100–115; Hans Dickel: Zeichnung und Farbe. Carl Blechen in Rom und Neapel. In: Margret Stuffmann u. Werner Busch (Hrsg.): Zeichnen in Rom: 1790–1830 (Anm. 43), S. 247–262. 49 Eva Börsch-Supan: Die Provinzen Ost- und Westpreußen und Großherzogtum Posen (=Denkmäler deutscher Kunst, Bd. 18). Berlin 2003; Jörg Trempler: Schinkels Motive. Berlin 2007; ders.: Karl Friedrich Schinkel: Baumeister Preussens. Eine Biographie. München 2012.  









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Forschungsbericht zur kunsthistorischen Romantik-Forschung

In Berlin ist ein großes Ausstellungs- und Forschungsunternehmen zu Schinkel in Arbeit. Was ich aber auch nicht erwähnt habe, sind große Forschungsverbünde wie der in Jena, kunsthistorisch betreut von Reinhard Wegner, besonders interessant durch die Arbeiten von Olaf Breidbach zur romantischen Naturwissenschaft.50 Ein weiterer Sonderfall ist das Berliner Akademieprojekt zur „Berliner Klassik“ als Gegenentwurf zur „Weimarer Klassik“ unter der Federführung von Conrad Wiedemann. Mir scheint, mit gutem Grund hätte das Unternehmen auch „Berliner Romantik“ heißen können. Was zeigt, dass die Grenzen hier fließend sind und dringend selbst zum Thema gemacht werden müssten. Diese hier eher freihändig formulierten Bemerkungen zur Romantik-Forschung51 müssten in einen umfassenderen, kritischen Forschungsbericht überführt werden. Vielleicht können sie zu einem solchen Anlass geben.

50 Vgl. Olaf Breidbach: Typologien und Metamorphosen. Über die romantische Anschauung von Welt. In: Reinhard Wegner (Hrsg.): Kunst – die andere Natur. Göttingen 2004, S. 173–188; Olaf Breidbach u. Roswitha Burwick (Hrsg.): Physik um 1800. Kunst, Naturwissenschaft oder Philosophie? Paderborn 2012; Olaf Breidbach: Konturen der Naturforschung im Zeitalter der Romantik. In: Peter Forster (Hrsg.): Rheinromantik. Kunst und Natur. Regensburg 2013, S. 141–155. – Aus der Arbeit des Sonderforschungsbereichs 482 „Ereignis Weimar–Jena. Kultur um 1800“ ging 2010 die „Forschungsstelle Europäische Romantik“ der Friedrich-Schiller-Universität Jena hervor. 51 Das Manuskript wurde im Jahr 2013 abgeschlossen.  







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Bildtheoretische Grundfragen der Romantik Skizze eines Forschungsfeldes Nach den aktuellen Perspektiven eines Forschungsfeldes zu fragen, schließt auch eine Reflexion über dessen Relevanz ein. Wenn romantische Literatur, Kunst und Musik ebenso wie andere kulturgeschichtliche Aspekte der Romantik auch noch nach einer langen Phase intensiver Forschung in hohem Maße Interesse zu wecken vermögen, so deutet das darauf hin, dass es nicht allein der Wunsch nach historischer Präzisierung und Differenzierung ist, der diese Forschungsdynamik antreibt. Besondere Aufmerksamkeit kommt der Romantik vielmehr offenbar auch deswegen zu, weil die Beschäftigung mit ihr immer wieder Fragen berührt, die nicht nur von historischer Bedeutung sind, sondern systematisches Interesse beanspruchen dürfen. Die Romantik kann daher als ein Forschungsfeld gelten, das besonders dazu einlädt, ja auffordert, materialnahe, historisch differenzierende Studien mit Fragestellungen von allgemeiner Relevanz zu verknüpfen. Wenn mit guten Gründen dafür plädiert wurde, dass die geisteswissenschaftliche Forschung die sie leitenden systematischen Fragen und Probleme klarer ausweisen solle,1 so gilt dies erst recht für ein Untersuchungsfeld, das auf eine lange Tradition ertragreicher Forschung zurückblicken kann. Mit den folgenden, knappen Überlegungen soll exemplarisch ein Forschungsfeld umrissen werden, das historische Untersuchungen zur romantischen Bildkunst mit aktuellen systematischen Problemen vermitteln könnte: Studien zur Malerei und Zeichenkunst der Romantik können, so die leitende These, in erheblichem, bislang vielleicht unterschätztem Maße dazu beitragen, auf grundlegende Herausforderungen aktueller bildtheoretischer und bildkritischer Diskussionen zu antworten. Bei dem Versuch, diese Vermutung zu untermauern, werden fragwürdige Zuspitzungen und problematische Auslassungen nahezu unvermeidlich sein. Weder können die folgenden Ausführungen der europäischen Dimension der Romantik gerecht werden, noch wird es möglich sein, meine vier Thesen zur bildtheoretischen Aktualität der romantischen Kunst hinreichend

1 Vgl. Jürgen Kaube: Hölderlin und die Fruchtfliege. Typen der Objektwahl in der Literaturwissenschaft. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Dezember 2009, S. N3; sowie Hans Ulrich Gumbrecht: Der Käse und die Bücherwürmer. Wissenschaftliche Forschung oder Kontemplation der Erfahrung von Intensität? Worum es den Literatur- und Kunstwissenschaften gehen sollte. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. Januar 2010, S. N3.  





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differenziert in exemplarischen Analysen zu entfalten.2 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei daher vorab der Anspruch meiner Überlegungen eingeschränkt: Ziel ist es nicht, die spezifische Eigenart oder Differenz romantischer Bildkunst zu beschreiben. Die Thesen, die ich vorstellen möchte, verstehen sich keinesfalls als zentrale Aspekte einer Definition des Romantischen in Malerei und Zeichnung, und es ist möglich, ja wahrscheinlich, dass sich vergleichbare Phänomene auch an der Kunst- und Bildproduktion anderer Epochen beobachten ließen. Das nimmt der romantischen Kunst jedoch nichts von dem Reichtum an Anregungen, den sie für bildkritische Reflexionen bereithalten kann. Ganz in diesem Sinne soll hier skizziert werden, wie sich aus einer Analyse romantischer Kunstwerke Argumente für aktuelle Debatten um die ‚Macht‘ des Bildes gewinnen lassen. Zu diesem Zweck werden im Folgenden vier thesenhaft zugespitzte Überlegungen zur Diskussion gestellt.

I Kritik an ‚bild-vergessenen‘ Darstellungsformen und Wahrnehmungskonventionen Vor allem die Landschaftsmalerei der Romantik zeugt davon, dass das Verhältnis von Bild und Wirklichkeit um 1800 einem grundlegenden Wandel unterliegt. Sowohl die Landschaftsmalerei des ausgehenden 18. Jahrhunderts als auch der theoretische Diskurs über diese zunehmend wichtige Gattung lassen das Bemühen erkennen, die im Bild dargestellte Natur so wirklichkeitsnah vor Augen zu führen, dass die Bindung der Landschaft an künstliche Darstellungsmittel und -formen in Vergessenheit geraten kann. Kunsttheoretikern wie Christian Ludwig von Hagedorn, Johann Georg Sulzer und Carl Ludwig Fernow galt es als höchstes Ziel der Landschaftsmalerei, den Betrachter so suggestiv in die Landschaft einzuladen und hineinzuziehen, dass er über deren bildliche Vermittlung hinweggetäuscht wurde. Wanderungen des Betrachters in der Landschaft, wie sie Hagedorn, Sulzer und Fernow imaginierten und Denis Diderot mit seinem Salon von 1767 oder Goethe mit seinem Gedicht Amor ein Landschaftsmaler spielerisch aufgriffen,3 fanden in der Landschaftsmalerei Jakob Philipp Hackerts ihr künst-

2 Die hier skizzierten Überlegungen greifen Beobachtungen und Analysen auf, die ich an anderer Stelle ausgeführt habe. Ich erlaube mir, im Folgenden auf entsprechende Publikationen zu verweisen. 3 Für detaillierte Nachweise vgl. Johannes Grave: Landschaft als Bildkritik. Zur Restitution von Bildlichkeit bei den Nazarenern und Caspar David Friedrich. In: Markus Bertsch u. Reinhard Wegner (Hrsg.): Landschaft am „Scheidepunkt“. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaf-

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lerisches Äquivalent. Durch eine überzeugende Erschließung des Bildraums und eine geschickte Verteilung zahlreicher einzelner Detailmotive wusste der Landschaftsmaler den Betrachter dazu anzuregen, den Blick in der Landschaft schweifen zu lassen.4 Zugleich blendete Hackert alle Aspekte des Bildes aus, die auf seinen artifiziellen und vermittelnden Status hätten aufmerksam machen können. Nie wird die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Flächigkeit und Begrenztheit des Bildes oder auf dessen eigene Materialität, die Leinwand und die Farbsubstanzen, gelenkt. Um 1800 äußert sich jedoch sowohl im Kunstschaffen als auch im Kunstdiskurs ein grundlegendes Unbehagen an Bildkonzepten, die darauf zielen, die Grenzen zwischen Bild und Wirklichkeit zu überspielen, auszublenden oder vergessen zu machen. Darstellungstechniken und Wahrnehmungskonventionen, die einen Realitätseffekt oder Erfahrungen von Immersion und Illusion anstreben, geraten zunehmend in die Kritik. Bildformen, die den Betrachter täuschen oder aber die Autonomie der Kunst nicht respektieren, gelten nun als problematisch. Was sich bereits vor dem Einsetzen der eigentlichen Romantik ankündigt – Goethe kritisiert schon in seinem Laokoon-Aufsatz den „modernen Wahn […], daß ein Kunstwerk dem Scheine nach wieder ein Naturwerk werden müsse“5 –, wird von den Romantikern mit besonderem Nachdruck verfolgt. Die künstlerischen Strategien, die Hackert und andere Landschafter seiner Generation aufgeboten hatten, um dem Betrachter den Weg in die Naturszenerie zu ebnen, werden von Caspar David Friedrich und Philipp Otto Runge, aber auch den Nazarenern kaum mehr genutzt. Immersive und illusionistische Effekte werden von ihnen bewusst gemieden; statt dessen tritt nun die Bindung des Bildes an einen begrenzten flächigen Träger und an die Darstellungsmittel Linie und Farbe auffällig stark in den Vordergrund. Friedrichs symmetrische, mithin an der Bildfläche orientierte Kompositionen (Abb. 1), Runges arabeskes Linienspiel (Abb. 2) und die rigide zeichnerische Faktur der Lithographien Ferdinand Oliviers (Abb. 3) lassen den Betrachter  



fen und Literatur um 1800. Göttingen 2010, S. 295–329, bes. S. 298–305; ferner Johannes Grave: Diesseits und jenseits der Landschaft. Naturerlebnis und Landschaftsbild bei Goethe. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 103 (2009), S. 427–448. 4 Hackert selbst hat diesen Anspruch geäußert; vgl. die kunsttheoretischen Fragmente Jakob Philipp Hackerts: Norbert Miller u. Gisela Maul (Hrsg.): Lehrreiche Nähe. Goethe und Hackert. München 1997, S. 106–122, bes. S. 120; vgl. ferner Wolfgang Krönig u. Reinhard Wegner: Jakob Philipp Hackert. Der Landschaftsmaler der Goethezeit. Köln 1994, bes. S. 35–85; sowie Thomas Weidner: Jakob Philipp Hackert. Landschaftsmaler im 18. Jahrhundert. Zürich, Berlin 1998, S. 142 f. 5 Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Bd. 4, 2: Wirkungen der französischen Revolution 1791–1797. Hrsg. v. Karl Richter u. a. München 1986, S. 73–88, hier S. 77.  

























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Abb. 1: Caspar David Friedrich, Morgennebel im Gebirge, um 1808, Öl auf Leinwand, 71 x 104 cm. Rudolstadt, Thüringer Landesmuseum Heidecksburg.

nie auch nur einen Augenblick daran zweifeln, dass er vor einem künstlichen Bild steht.6 Bei allen, zum Teil erheblichen Differenzen ist Runge, Friedrich und den Nazarenern das Bemühen gemeinsam, das Bildbewusstsein des Betrachters zu wecken und zu stärken; der Rezipient soll darum wissen, dass alles, was ihm vor Augen steht, durch ein Bild vermittelt ist, und nicht durch einen fragwürdigen Realitätseffekt getäuscht werden. Friedrich hat diesen Grundzug romantischer Bildkunst auch in seinen Schriften mehrfach ganz unmissverständlich zum Ausdruck gebracht: „Ein Bild muß sich als Bild als Menschenwerk gleich darstellen; nicht aber als Natur täuschen wollen.“7

6 Vgl. Grave: Landschaft als Bildkritik (Anm. 3); sowie ders.: Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik. Berlin 2011. 7 Caspar David Friedrich: Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. Bearb. v. Gerhard Eimer in Verbindung mit Günter Rath. Frankfurt a. M. 1999, S. 86 (mit Hilfe des Faksimiles der Handschrift korrigiert).  





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Abb. 2: Philipp Otto Runge, Der Kleine Morgen, 1808, Öl auf Leinwand, 109 x 85,5 cm. Hamburger Kunsthalle.

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Abb. 3: Ferdinand Olivier, Mittwoch. Fußpfad auf dem Mönchsberge bey Salzburg, um 1818–1822, Kreidelithographie, 28,2 x 32,9 cm (Blatt). München, Staatliche Graphische Sammlung.

II Einsicht in den nicht-propositionalen Charakter des Bildes Dass den Romantikern daran gelegen sein musste, das Bildbewusstsein der Betrachter nicht auszublenden, sondern zu stärken, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass ihnen Bilder in vielen Fällen zur Darstellung komplexer Gedanken und Fragen dienten. Mit guten Gründen ist in der jüngsten Forschung darauf insistiert worden, dass die Krise etablierter ikonographischer Codes um 1800 keineswegs zur Folge gehabt hat, dass Bilder nicht mehr für kommunikative Zwecke verwandt worden wären.8 Die reiche Bildproduktion der Nazarener, aber 8 Vgl. etwa Cordula Grewe: Painting the Sacred in the Age of Romanticism. Farnham 2009, S. 319 f.; Michael Thimann: Kinder Apolls, Söhne Mariens. Positionen deutscher Malerei zwischen Klassik und Romantik. In: Andreas Beyer (Hrsg.): Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 6: Klassik und Romantik. München 2006, S. 351–371, bes. S. 353–358.  









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auch die Werke Runges und Friedrichs adressieren Betrachter, denen sich durchaus Sinn vermitteln soll. Eine überzeugende Antwort auf die Frage, wie dieser Sinn des Bildes verfasst ist und wie er sich artikuliert, ist jedoch vor allem in der Friedrich-Forschung durch Scheinalternativen verstellt worden. Der bisweilen erbitterte Streit um die Deutbarkeit von Friedrichs Werken hat sich allzu entschieden auf die Frage verengt, ob sich die Bilder durch eine klar dechiffrierbare Bedeutung oder eine kaum eingrenzbare Sinnoffenheit auszeichnen. Tertium non datur?, möchte man angesichts dieser – zugegebenermaßen zugespitzten – Alternative fragen. Wäre es nicht eine Erwägung wert, dass dem Bild ein Sinn eigen sein könnte, der sich nicht mit der Bestimmtheit von Begriffen und Zeichen erfassen lässt, sondern sich auf grundlegend andere Weise mitteilt? Die Voraussetzungen für ein solches Verständnis des Bildes, das nicht mehr dem Modell einer auf distinkten Zeichen basierenden Repräsentation folgt, waren um 1800 außergewöhnlich gut. Die mit Alexander Gottlieb Baumgarten einsetzende Ästhetik, aber auch die Poetologie Friedrich Gottlieb Klopstocks hatten einem Verständnis von dichterischer und künstlerischer Darstellung vorgearbeitet,9 das nicht mehr allein dem Vorbild der begrifflich-diskursiven Sprache folgte und dennoch daran festhielt, dass auch solche Darstellung einen keineswegs beliebigen Sinn vermittelt. Dass Dichtung und Bildkünste nicht nur der Einkleidung von sprachlich-diskursiv fassbaren Aussagen dienen, sondern einen Sinn eigener Art hervorzubringen vermögen, kann als ein Grundzug der ästhetischen Debatten der Jahrzehnte um 1800 gelten. Die Künstler der Romantik mussten nicht eigens Leser philosophischer Schriften werden, um mit diesem neuen Denken in Berührung zu kommen. Das Konzept der ‚ästhetischen Idee‘ etwa, mit dem Kant wesentliche Argumente dieser Debatte aufgriff, wurde von Theoretikern wie Christian August Semler und Carl Ludwig Fernow sogleich in den zeitgenössischen Diskurs über die Landschaftsmalerei eingeführt.10  



9 Zu Baumgarten vgl. Ursula Franke: Kunst als Erkenntnis. Die Rolle der Sinnlichkeit in der Ästhetik des Alexander Gottlieb Baumgarten (=Studia Leibnitiana Supplementa, Bd. 9). Wiesbaden 1972; zu Klopstock vgl. Winfried Menninghaus: ‚Darstellung‘. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neues Paradigmas. In: Christiaan L. Hart Nibbrig (Hrsg.): Was heißt „Darstellen“? Frankfurt a. M. 1994, S. 205–226; vgl. ferner Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008. 10 Zur Anwendung des kantischen Begriffs der ,ästhetischen Idee‘ auf die Landschaftsmalerei vgl. Carl Ludwig Fernow: Über die Landschaftmalerei. In: Ders.: Römische Studien. 3 Bde. Zürich 1806–1808, Bd. 2, S. 1–130, bes. S. 42, S. 111 u. S. 119; sowie Christian August Semler: Untersuchungen über die höchste Vollkommenheit in den Werken der Landschaftsmalerei, Bd. 1. Leipzig 1800, S. 73. Vgl. ferner Hilmar Frank: Aussichten ins Unermeßliche. Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich. Berlin 2004, S. 99–110.  























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Ganz in diesem Sinne haben etwa Runge und Friedrich darauf beharrt, in und mit ihren Bildern einen Sinn zu artikulieren, der sich keineswegs schlicht in Worte fassen lässt, sondern konstitutiv an das Ausdrucksmittel des Bildes gebunden ist. Runge, dem es im Umgang mit Sprache nicht an Selbstbewusstsein mangelte, schrieb im Dezember 1802 an Ludwig Tieck: Das Rechte kann ich nur nicht so sagen, und viel weniger schreiben, wie ich’s meyne. Ich wollte nämlich das, wie ich zu den Begriffen von den Blumen und der ganzen Natur gelangt bin, wiedergeben in Bildern; nicht was ich mir denke und was ich empfinden muß, und was wahr und zusammenhangend darin zu sehen ist: sondern, wie ich dazu gekommen bin, und noch dazu komme, das zu sehen, zu denken und zu empfinden, so den Weg, den ich gegangen bin, und da müßte es doch curios seyn, daß andere Menschen das so gar nicht begreifen sollten.11

Nicht eine spezifische Aussage, sondern ein Reflexionsprozess („wie ich dazu gekommen bin …“), in dem sich Sehen, Denken und Empfinden verbinden, steht im Zentrum von Runges Interesse. Ein durchaus vergleichbares Anliegen äußert sich in einem Brief Friedrichs an Friedrich August Koethe vom 18. August 1810:  

Sie verlangen zu wissen was ich jetzt thue und treibe. Das bin ich mit Worten zu sagen nicht instande [sic], vielleicht ist es mir gelungen nach verlauf von einem halben Jahre meine Gedanken auf der Leinewand hingepinselt zu haben und als dan[n] lade ich Sie und alle so wohlgefallen daran finden ein: kommet und sehet.12

Was sich in diesen Äußerungen Friedrichs und Runges, vor allem aber in ihren Werken ankündigt, ist die grundlegende Einsicht in den nicht-propositionalen Charakter des Bildes.13 Bilder sind aus ihrer Sicht offenkundig nicht analog zur begrifflichen Sprache verfasst. Und tatsächlich lässt sich das Potential von Bil-

11 Philipp Otto Runge: Hinterlassene Schriften. 2 Bde. Hrsg. v. Daniel Runge. Hamburg 1840– 1841, Bd. I, S. 27 (Runge an Ludwig Tieck, 1. Dezember 1802). 12 Herrmann Zschoche (Hrsg.):Caspar David Friedrich. Die Briefe. Hamburg 2005, S. 70; vgl. auch Karl-Ludwig Hoch: Caspar David Friedrich – unbekannte Dokumente seines Lebens. Dresden 1985, S. 40. 13 Zu nicht-propositionalen Erkenntnisformen vgl. die Arbeiten von Christiane Schildknecht und Gottfried Gabriel; einführend: Christiane Schildknecht: Einleitung [in die Sektion „Ausdrucksgrenzen. Theorien nicht-propositionaler Wissensformen“]. In: Wolfram Hogrebe (Hrsg.): Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Deutscher Kongress für Philosophie. Berlin 2004, S. 759–761; zum Bildwissen als nicht-propositionalem Wissen vgl. etwa Günter Abel: Zeichen- und Interpretationsphilosophie des Bildes. In: Stefan Majetschak (Hrsg.): Bild-Zeichen. Perspektiven einer Wissenschaft vom Bild. München 2005, S. 13–29, bes. S. 23–27; sowie Gottfried Gabriel: Vergegenwärtigung in Literatur, Kunst und Philosophie. In: Carl Friedrich Gethmann (Hrsg.): Lebenswelt und Wissenschaft. Hamburg 2011, S. 726–745, bes. S. 726 f.  





















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dern, Sinn hervorzubringen und zu artikulieren, mit einer Semiotik, die sich am Muster der propositionalen Sprache orientiert, nicht erschöpfend erklären.14 Doch auch wenn sich die Werke Runges und Friedrichs nicht problemlos in Sprache übersetzen lassen, zeichnen sie sich durch einen Sinn aus, der keineswegs gänzlich im Vagen verbleibt, sondern von einem sehr ernsten, individuellen Anliegen zeugt.

III Entdeckung einer neuen Form der Wirkmacht von Bildern Jede Stärkung des Bildbewusstseins auf Seiten des Betrachters scheint auf den ersten Blick mit einer Schwächung der Bildwirkung einherzugehen. Wer sich angesichts eines Gemäldes des Umstands bewusst ist, dass alles, was ihm vor Augen steht, bildlich vermittelt ist, scheint problemlos die Distanz zum Dargestellten wahren zu können. Selbst übermächtige, erhabene Sujets können den Betrachter unter diesen Bedingungen nicht nachhaltig beunruhigen. Und dennoch zeichnen sich einige Werke romantischer Maler durch eine besondere Wirkmacht aus, ohne ihren Bildstatus und ihre Artifizialität durch illusionistische und immersive Effekte zu überspielen.15 Diese andersartige Bildwirkung, die in Kunstwerken der Romantik eindrucksvoll in Erscheinung tritt, zeugt von einer ‚Macht‘ des Bildes, die nicht mehr damit erkauft ist, dass das Bild als vermittelnde Instanz verleugnet wird. Anders als die traditionelle Wirkungsästhetik,16 die komplexe Darstellungsformen und eine ausgefeilte Bildrhetorik nutzte, um die Aufmerksamkeit auf die scheinbare Gegenwart des Dargestellten zu fokussieren, erschließen einige Künstler ab 1800 eine Wirkmacht des Bildes, die keine Schwächung des Bildbewusstseins voraussetzt. Als mächtig erweist sich das Bild nun nicht mehr allein wegen des Dargestellten, sondern aufgrund der ästhetischen Ereignisse und Erfahrungen, in die es den Betrachter verstrickt. Der Rezipient erfährt

14 Vgl. etwa Hubert Damisch: Acht Thesen für (oder gegen?) eine Semiologie der Malerei. In: Emmanuel Alloa (Hrsg.): Bildtheorien aus Frankreich. Eine Anthologie. München 2011, S. 203–219. 15 Vgl. Johannes Grave: Unheimliche Bilder. Die ‚Nachtseiten‘ der bildenden Kunst um 1800. In: Felix Krämer (Hrsg.): Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst (Ausst.-Kat. Städel Museum 2012/13). Ostfildern 2012, S. 30–41. 16 Zur Krise der klassischen Wirkungsästhetik Ende des 18. Jahrhunderts vgl. Frank Büttner: Der Betrachter im Schein des Bildes. Positionen der Wirkungsästhetik im 18. Jahrhundert. In: Herbert Beck, Peter C. Bol u. Maraike Bückling (Hrsg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung (Ausst.-Kat. Städel Museum 1999/2000). München 1999, S. 341–349.  







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das Bild als ‚machtvoll‘, obwohl es sich sogleich als Bild in seiner Artifizialität zu erkennen gibt. An kaum einem Werk lässt sich dieses neue Verständnis der Wirkmacht des Bildes so gut beobachten wie an Caspar David Friedrichs Mönch am Meer (Abb. 4). Bereits die Reaktionen von Clemens Brentano, Achim von Arnim und Heinrich von Kleist zeugen davon, wie das Gemälde den Betrachter nachdrücklich auf seinen Bildstatus aufmerksam macht und dennoch zugleich Macht über ihn gewinnt. Beschreibt Brentano, dass ihm der erwartete Einstieg in die Landschaft nicht gelingt und er sich auf den Raum „zwischen mir und dem Bilde“17 verwiesen sieht, so lässt Kleist mit seiner monströsen Metapher von den weggeschnittenen Augenlidern18 keinen Zweifel daran, dass diese Distanzierung von Betrachter und Bild keineswegs als beruhigender Sicherheitsabstand erfahren wird. Nicht ein im Bild dargestellter Gegenstand, sondern das Bild selbst erlangt offenbar eine Wirkmacht, die der Betrachter als Angriff auf seine Wahrnehmung empfindet. Was Brentano und Kleist in ihren Reaktionen auf Friedrichs Werk schildern, wäre in einer ausführlichen, aufwendigen Analyse des Bildes zu prüfen und müsste mit detaillierten Beobachtungen zum Wahrnehmungsprozess vor dem Gemälde untermauert werden. Nur soviel sei an dieser Stelle, im Rückgriff auf Überlegungen, die ich andernorts ausführlicher darlegen konnte,19 bemerkt: Friedrichs Mönch am Meer verstört den Betrachter vor allem durch widerstreitende Erfahrungen, die sich den drei bildbeherrschenden Farbfeldern verdanken. Die weitestgehende Reduktion des Bildes auf diese Farbfelder hat zur Folge, dass sich der Betrachter bald einer durch Streifen strukturierten Fläche, bald aber einer unermesslichen, inkommensurablen Tiefe gegenübersieht. Da sich diese Tiefe des Bildes jeder perspektivischen Erschließung verweigert, entzieht sie sich auch der rationalen Kontrolle durch den Betrachter. Dieser kann zu keinem abschließenden Urteil über das kommen, was ihm vor Augen steht. Friedrichs Mönch am Meer veranschaulicht daher auf exemplarische Weise, dass weder die überzeugende oder gar täuschende Vergegenwärtigung des Dargestellten noch eine Rhetorik der  

17 Hartwig Schultz: ‚Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft‘. Kritische Edition der Texte von Achim von Arnim, Clemens Brentano und Heinrich von Kleist im Paralleldruck. In: Lothar Jordan u. Hartwig Schultz (Hrsg.): Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. Caspar David Friedrichs Gemälde „Der Mönch am Meer“ betrachtet von Clemens Brentano, Achim von Arnim und Heinrich von Kleist (Ausst.-Kat. Kleist-Museum). Frankfurt a. d. Oder 2004, S. 38–46, hier S. 41. 18 Heinrich von Kleist: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Brandenburger Ausgabe, Bd. II/7: Berliner Abendblätter I. Hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle. Basel 1997, S. 61 f., hier S. 61. 19 Vgl. Grave, C. D. Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik (Anm. 6), S. 63–81; ders.: Caspar David Friedrich. München 2012, S. 145–169.  

















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Abb. 4: Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, um 1808–1810, Öl auf Leinwand, 110 x 171,5 cm. Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie.

Evidenz, sondern Erfahrungen von Irritation im Zentrum der neuen Bildwirkung stehen, die nicht mehr auf einer Schwächung des Bildbewusstseins beruht. Erst diese Bildwirkung kann im strengen Sinne als eine ‚Macht‘ des Bildes gelten, während die ältere, frühneuzeitliche Wirkungsästhetik mit machtvollen Inszenierungen des Dargestellten aufwartete.

IV Die rezeptionsästhetische Temporalität des Bildes Von entscheidender Bedeutung für die Entfaltung dieser neuartigen Wirkungsästhetik ist die Einsicht, dass sich das Bild auf rezeptionsästhetischer Ebene durch eine besondere Zeitlichkeit auszeichnet. In das Zentrum des neuen Bilddenkens rückt nicht der vergegenwärtigte Gegenstand der Darstellung, sondern der Wahrnehmungsprozess, dem sich der Betrachter in Gegenwart des Bildes aussetzt. Dabei streben Künstler wie Philipp Otto Runge und Caspar David Friedrich keineswegs danach, den Verlauf der Bildbetrachtung detailliert durch rezeptionsästhetische Vorgaben zu lenken und zu bestimmen. Die der Betrachtung

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eigene Zeitdimension wird vielmehr dadurch ins Bewusstsein des Rezipienten gerufen, dass ein grundlegender bildinterner Widerstreit in die Darstellung eingeführt wird, der sich der Kontrolle des Betrachters entzieht. Der bildinterne Widerstreit, der komplexe Wahrnehmungsvollzüge anzuregen vermag, kann mit durchaus sehr unterschiedlichen Mitteln in das Bild eingeführt werden. Im Mönch am Meer, aber auch in anderen Bildern Friedrichs ist es nicht zuletzt ein Wechselspiel zwischen Flächen- und Raumwahrnehmung, das die Unabschließbarkeit der Bildbetrachtung zur Folge hat. Viele Landschaften Friedrichs treten dem Betrachter unübersehbar als begrenzte Fläche entgegen und weisen dennoch eine suggestive, nicht mehr perspektivisch ermessbare Tiefe auf. Der Widerstreit zwischen Fläche und Tiefe, zwischen Dargestelltem und Darstellungsmitteln, der durch Friedrichs neue Darstellungsform gestiftet wird, dient dazu, den Rezipienten in eine Bildbetrachtung zu verstricken, die sich nicht mit einer erschöpfenden Deutung abschließen lässt. In dieser Verstrickung, die sich einer rezeptionsästhetischen Zeitlichkeit des Bildes verdankt, liegt die neue ‚Macht‘ des Bildes begründet. Philipp Otto Runge hat mit anderen Mitteln vergleichbare Effekte erzielt. Sein Gemälde Die Lehrstunde der Nachtigall (Abb. 5), das durch Klopstocks Ode gleichen Titels angeregt worden ist, stellt den Betrachter bereits durch den ungewöhnlichen Einsatz des malerisch fingierten plastischen Rahmens vor Herausforderungen.20 Der aufwendig gestaltete Rahmen sichert nicht mehr allein die Einheit und Geschlossenheit des eigentlichen Bildes, sondern tritt in Konkurrenz zur zentralen Darstellung und stellt den Betrachter vor die Frage, wie sich die arabesken Motive des Rahmens zum Binnenbild verhalten. Zu dieser komplizierten Konstellation tritt mit der Inschrift, die auf der Leiste zwischen Rahmen und Binnenbild Verse aus Klopstocks Ode zitiert, ein Element, das weitere rezeptionsästhetische Probleme aufwirft: Um die Schrift zu lesen, muss der Betrachter von einem schweifenden oder springenden Betrachten zu einem Lesen wechseln, das der mit der Schrift vorgegebenen Richtung folgt. Zudem sieht er sich gezwungen, so nah an das Gemälde heranzutreten, dass er das eigentliche Bild aus den Augen verliert und auf die Materialität des Gemäldes gestoßen wird, der sich die von weitem täuschende Erscheinung des fingierten Rahmens verdankt. Doch selbst wenn der Betrachter die Schrift gelesen und die verschiedenen Partien des Gemäl-

20 Hier greife ich frühere Überlegungen auf, partielle Übernahmen sind unvermeidlich: vgl. Johannes Grave: Philipp Otto Runge, Die Lehrstunde der Nachtigall. In: Markus Bertsch, Uwe Fleckner u. a. (Hrsg.): Kosmos Runge. Der Morgen der Romantik (Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2010/11). München 2010, S. 120–126; sowie ders.: Runges Poetologie der bildlichen Darstellung. Überlegungen zur ‚Lehrstunde der Nachtigall‘. In: Markus Bertsch u. Jenns Howoldt (Hrsg.): Philipp Otto Runge und die Geburt der Romantik. München 2012, S. 159–167.  





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Abb. 5: Philipp Otto Runge, Die Lehrstunde der Nachtigall (zweite Fassung), 1804/05, Öl auf Leinwand, 104,7 x 85,5 cm. Hamburger Kunsthalle.

des aufmerksam in den Blick genommen hat, fügen sich die verschiedenen Beobachtungen nicht problemlos zu einem stimmigen Ganzen: Während Klopstocks Verse zum Flöten auffordern, deutet die Geste der Nachtigallenmutter im Bild an, dass der Knabe seine Flöte nicht spielen soll. Runge dürfte auf diese Weise jedoch nicht allein eine Irritation des Betrachters angestrebt haben. Stellt

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man sein Gemälde in den Kontext jenes Bilddenkens, das er in seinen zahlreichen Briefen umkreist, so zeigt sich, dass es ihm darum ging, der Darstellung eine Dynamik und Beweglichkeit zu erhalten. Nur so schien es ihm möglich, die „Empfindung des Zusammenhanges des ganzen Universums mit uns“21 erfahrbar werden zu lassen, die im Zentrum seines künstlerischen Schaffens steht. Es sind unterschiedliche Motive, die Runge und Friedrich dazu veranlasst haben, in ihren Gemälden bildinterne Widersprüche einzusetzen. Doch gilt für beide, dass sie den Betrachter ihrer Bilder auf diese Weise in prinzipiell unabschließbare Wahrnehmungsprozesse verstricken, die ihn mit der zeitlichen Erstreckung der Bildbetrachtung konfrontieren. Friedrich wie auch Runge stoßen den Betrachter bei der Auseinandersetzung mit dem Werk immer wieder auch auf den Bildstatus und die Artifizialität der Darstellung. Scheint so zunächst der Präsenzeffekt des Bildes geschwächt, so kommt dem Bild doch eine neue, elementarere ‚Macht‘ zu: Nicht mehr im vergegenwärtigenden Vor-Augen-Stellen des Dargestellten, sondern in einem nicht restlos kontrollierbaren Prozess ästhetischer Erfahrung erweist sich das Bild als wirkmächtig.

V Die bildtheoretische Aktualität der Romantik Mit diesem grundlegend anderen Verständnis der ‚Macht‘ des Bildes dürfte die Romantik wesentliche Anregungen bereithalten, die auch für aktuelle Fragen der Bildtheorie und Bildkritik von Bedeutung sind.22 Genauere Analysen von Gemälden, Zeichnungen und Druckgraphiken der Romantik versprechen daher, Wege zu einem Verständnis des Bildes zu bahnen, das es erlaubt, zwei vermeintlich einander ausschließende Aspekte – Bildbewusstsein und Bildmacht – zusammenzudenken. Das scheinbare Paradox, dass dem Bild eine Eigenaktivität und ‚Macht‘ zukommen kann, obgleich es sich als lebloses, statisches Ding ausweist, könnte sich im Lichte romantischer Bildkonzepte als überraschend folgerichtig erweisen. Ausgehend von Bildern der Romantik scheint es möglich, eine Rezeptionsästhetik zu entwickeln, die der Zeitlichkeit der Bildbetrachtung und damit der Verstrickung des Betrachters in das ästhetische Geschehen in besonderem Maße gerecht wird. Auf dieser Grundlage ließe sich ein Ansatz gewinnen, um neue Antworten auf die alte Frage nach der ‚Macht‘ des Bildes zu geben.  



21 Runge: Hinterlassene Schriften (Anm. 11), Bd. I, S. 11. Zu Runges Begriff des Zusammenhangs vgl. Thomas Leinkauf: Kunst und Reflexion. Untersuchungen zum Verhältnis Philipp Otto Runges zur philosophischen Tradition. München 1987, bes. S. 15–32. 22 Vgl. etwa – zur ‚Macht‘ des Bildes – zuletzt Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Frankfurt a. M. 2010.  











Kilian Heck

Mimesis versus Fiktion Präfigurationen modernen Bildverständnisses bei Caspar David Friedrich Das zeichnerische Œuvre Caspar David Friedrichs weist eine Fülle akribisch genau beobachteter Naturstudien auf.1 Es ist eine noch immer nicht abschließend geklärte Frage, weshalb Friedrich solchen Wert auf die Darstellung auch kleinster Details wie Baumnadeln oder Wurzelverästelungen legte. Werner Busch sieht diesen Detailismus in Zusammenhang mit der Vorliebe Friedrichs für geometrische Teilungsverfahren wie den Goldenen Schnitt, mit dem er eine ästhetische Strategie verfolgt habe, die den verlorenen Zusammenhang von Mensch, Natur und Gott erneut zum Vorschein bringen sollte.2 Solche akribische Befolgung bildnerischer Authentizität mag aber auch als Kritik anderer Verfahren verstanden werden, welche die fiktionale Bildgestaltung im Rahmen der Effektsteigerung beabsichtigten. Für seine Gemälde griff Friedrich immer wieder auf diese Naturstudien zurück, die er aber in einen völlig neuen Zusammenhang stellte, indem er sie entsprechend seinen künstlerisch-ästhetischen Vorstellungen modifizierte.3 So kopierte Friedrich teilweise aus mehreren Naturstudien einzelne Bäume oder Äste und kompilierte sie in den Gemälden vollständig neu, so dass im fertigen Gemälde oft Einzelelemente zu finden sind, die aus dem in völlig anderem örtlichen und zeitlichen Zusammenhang entstandenen Studienmaterial entnommen sind.4 Im Folgenden soll untersucht werden, wie dieses zunächst merkwürdig anmutende Verfahren einer strikten Befolgung mimetischer Naturbeobachtung und fiktionaler Neukomposition dieser Teilfragmente im fertigen Werk einzuordnen ist. Hier sind vor allem zwei Diskurse innerhalb der Kunstdebatte des 18. Jahrhunderts zu erwähnen: zunächst der Illusionismus, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts breit diskutiert wird. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts tritt dann die Erörterung des Sublimen in den Vordergrund. Gerade die jüngste Forschung sieht Anzeichen dafür, dass Friedrich sowohl den Illusionismus wie auch das Erhabene

1 Vgl. dazu ausführlich Christina Grummt: Die Zeichnungen. Das gesamte Werk. München 2011, passim. 2 Vgl. Werner Busch: Caspar David Friedrich: Ästhetik und Religion. München 2003, S. 138 ff. 3 Vgl. Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 31. 4 Zu diesem Verfahren ausführlich Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 31; Johannes Grave: Caspar David Friedrich. München 2012, S. 173 ff.  















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zu überwinden versuchte.5 Zu beiden Konzepten bedarf es aber zunächst weiterer Ausführungen: Mit seinen 1719 erschienenen Réflexions hat Jean-Baptiste Dubos die erste Theorie der ästhetischen Illusion vorgelegt, die eine Sinnestäuschung als Ursache des sinnlichen Vergnügens in der Kunst ausschließt.6 Dubos führt zur Unterlegung seiner Theorie das berühmt gewordene Beispiel an, dass jeder Betrachter ein Gemälde beurteilen könne, welches ein Ragout darstelle. So wie jeder in der Lage sei, kompetent den ‚Wert‘ oder ‚Unwert‘ eines Ragouts zu schmecken, so könne auch jeder Betrachter den Wert oder Unwert eines Gemäldes mit einem Ragout beurteilen.7 Der Betrachter eines solchen Bildes sei sehr wohl in der Lage, das mittels der Zentralperspektive konstruierte Bild als dargestellte Illusion zu erkennen und von der Wirklichkeit zu unterscheiden.8 Die Wahrnehmung des Kunstwerks erscheint bei Dubos demnach nicht mehr als eine Funktion der Vernunft, sondern als eine des Gefühls, und erreicht damit eine vollständige Relativierung in Bezug auf das betrachtende Subjekt. Die Illusion ist nicht Ursache des Vergnügens, sondern ihr Inzidenzpunkt.9 Diese Bindung der Illusion an das „sentiment“ und seine Distanzierung von der „raison“ ist eine Grundkonstante der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts.10 Das Paradoxon dieses Gedankens besteht nun darin, dass Kunst erst auf der Ebene der ästhetischen Illusion die Kompetenz besitzt, den einzelnen subjektiven Betrachter zu illudieren und epistemologisch mit dem Erfassen von Wirklichkeit zu betrauen.11 Der durch das Mittel der perspektivischen Konstruktion erreichte Illusionismus kann in Bildern des 18. Jahrhunderts demnach immer nur dann interpretiert werden, wenn solche Mittel als subjektiv-sinngebende Elemente nicht des Bildes, sondern des anschauenden Rezipienten verstanden werden. Nun ist es kaum wahrscheinlich, dass Friedrich unmittelbar diese französische Illusionismusdiskussion rezipiert hat. Vielmehr wird in Bezug auf ihn immer wieder die Diskussion um das Erhabene angeführt, wobei insbesondere Schillers

5 Vgl. Grave: Caspar David Friedrich (Anm. 4), S. 194–199, bes. S. 198. 6 Vgl. Ludwig Tavernier: Apropos Illusion. Jean Baptiste Dubos’ Einführung eines Begriffs in die französische Kunstkritik des 18. Jahrhunderts. In: Pantheon XLII (1984), S. 158–160, hier S. 158. 7 Vgl. ebd. 8 Vgl. ebd. 9 Vgl. ebd. 10 Vgl. Hubertus Kohle: Leidenschaft und kühler Blick. Diskursive kontra ästhetische Kunsttheorie im 18. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft XXXIII/2 (1988), S. 247–258, S. 251 f. 11 Vgl. Tavernier: Apropos Illusion (Anm. 6), S. 158.  





















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Aufsätze Vom Erhabenen (1793) und Über das Erhabene (1801) als kunsttheoretische Folgerungen aus Kants Begriffsbestimmungen zum Erhabenen genannt werden.12 Hierbei wird das gleiche Problem wie bei Dubos virulent, aber ins Gegenteil gewendet. Sobald nämlich der Betrachter vergegenwärtige, dass er einer künstlichen Inszenierung beiwohne, gebe es für ihn keine Veranlassung mehr, das Geschehen auf der Bühne tatsächlich als bedrohlich wahrzunehmen.13 Die Rezeption des um 1800 in den kunsttheoretischen Schriften vielfältig diskutierten Problems des Erhabenen hat ebenfalls diesen Mangel konstatiert, wobei insbesondere Christian August Semler und Carl Ludwig Fernow zu nennen sind. Beide haben in ihren Traktaten Über die höchste Vollkommenheit in den Werken der Landschaftsmalerei (1800) und Über die Landschaftsmalerei (1803) die Kategorie des Erhabenen im Nachklang Schillers als wenig probates Mittel für die Landschaftsmalerei gewertet.14 Die Frage nach der Erkennbarkeit fiktionaler Bildinhalte steht demnach sowohl bei der französischen Illusionismusdebatte wie auch bei der deutschen Diskussion um das Erhabene um 1800 im Zentrum der Erörterung. Im Zusammenhang mit Friedrich hat insbesondere Johannes Grave mehrfach die Kritik des Künstlers an der Ästhetik des Erhabenen betont.15 Grave führt als Grund die lutherische Religiosität Friedrichs an, deretwegen er in der Erfahrung des Erhabenen einen Akt der Hybris habe sehen müssen:16 Alle Teuschung macht einen widrigen Eindruck, wie aller Betrug. Z. B. Wachsfiguren werden immer etwas zurückstoßendes haben je teuschender sie gemacht sind. Ein Bild muss sich als Bild als Menschenwerk gleich darstellen; nicht aber als Natur täuschen wollen. Doch strebet immer hin, ihr Mahler nach Wahrheit, wahrhaftiglich teuschen werdet ihr doch nie und ist auch nicht Forderung der Kunst […].17

Ausgehend von diesem späten, etwa 1828 bis 1830 entstandenen und in der Friedrich-Forschung seit langem bekannten Text Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst ver-

12 Vgl. Grave: Caspar David Friedrich (Anm. 4), S. 194 f. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 195. – Bei Fernow heißt es etwa: „Die bildende Kunst kann durch ihre Darstellungen das Gefühl des Erhabenen nicht unmittelbar wecken, wie die Natur; denn sie kann das Erhabene nicht wirklich darstellen, wie diese“, zit. nach Grave, ebd., S. 195. 15 Vgl. ebd., S. 194–199, bes. S. 198. 16 Vgl. ebd., S. 198. 17 Caspar David Friedrich: Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern. Bearb. v. Gerhard Eimer mit Günter Rath. Frankfurt a. M. 1999, S. 86; teilweise auch zit. bei Grave: Caspar David Friedrich (Anm. 4), S. 198. – Für den Hinweis auf diese Bemerkung Friedrichs bin ich Johannes Grave zu Dank verpflichtet.  



























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storbenen Künstlern kann ein gewisses Misstrauen Friedrichs gegen optische Illusion angenommen werden.18 Nun gibt es einige wenige Äußerungen Friedrichs, die in seinen Werkprozess Einblick gewähren: So ist seine Ablehnung von Vorzeichnungen wie etwa Farbstudien bekannt, wie sie von der Plein-air-Malerei um Pierre-Henri de Valenciennes propagiert wurden. Friedrich äußert sich hierzu wie folgt: Wie sehr man auch die Weise in Schutz nimmt das beabsichtigte ins Große auszuführende Bild zuvor ins Kleine zu mahlen, so bin ich doch dagegen; denn man kopirt nur zu leicht sich selbst und die freie geistige Nachbildung der Natur, das eigendliche Schaffen, hört auf.19

Entsprechend finden sich farbige Vorzeichnungen in seinem Werk eher selten.20 Der für Friedrich charakteristische Typus der „bildmäßigen Zeichnung“ ist hier nicht im strengen Sinne als Vorzeichnung zu verstehen, da sie weitgehend ausgearbeitet ist.21 Der nicht auf klassischen Vorzeichnungen beruhende Werkprozess des Künstlers ist oft beschrieben worden: Friedrich entwickelt eine Art Kompositverfahren, das zwar den einzelnen Gegenstand, etwa einen Baum, minutiös in der Zeichnung wiedergibt, der aber etwa beim Übertrag des gezeichneten Baumes auf ein Gemälde wie bei einem Pasticcio die Dinge aus den verschiedensten Kontexten zusammenaddiert.22 Daraus ergibt sich wiederum die Konsequenz, dass je Bild eine neue Ansicht eröffnet wird, die nicht durch das bildnerische Objekt selbst die Rezeption reguliert, sondern es dem Betrachter überlässt, die disparaten Einzeldinge zusammenzufügen. Freilich wäre hier einzuwenden, dass Friedrich selbst es ist, der diese Einzeldinge im Rahmen einer großen, neuen Gesamtkomposition zusammenfügt. Dennoch ist es kaum zu erklären, warum er einerseits so sehr dem mimetischen Detailreichtum eines jeden Blattes huldigt, andererseits aber in geradezu kühner Weise eben nicht die ‚Wirklichkeit‘ der Dinge, ihre äußere Realität,

18 Einschränkend wäre hier zu bemerken, dass Friedrich auch Transparentbilder schuf, die nur mittels künstlerischer Beleuchtung als optische Illusion überhaupt funktionieren konnten, vgl. hierzu Birgit Verwiebe: Lichtspiele. Vom Mondscheintransparent zum Diorama. Stuttgart 1997, S. 59–62. 19 Friedrich: Äußerungen (Anm. 17), S. 27: „Wie sehr man auch die Weise in Schutz nimmt das beabsichtigte ins Große auszuführende Bild zuvor ins Kleine zu mahlen, so bin ich doch dagegen; denn man kopirt nur zu leicht sich selbst und die freie geistige Nachbildung der Natur, das eigendliche Schaffen, hört auf.“ 20 Vgl. auch die wenigen Beispiele für farbige Vorzeichnungen, die nicht als „bildmäßig“ gelten, bei Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), etwa S. 580, Nr. 606. 21 Vgl. ebd., S. 30. 22 Vgl. Busch: Caspar David Friedrich (Anm. 2), S. 82–85; Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 31 f.  























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sondern vielmehr ein Komposit einzelner innerer und äußerer Bilder wiedergibt. Johannes Grave hat denn auch die Herauslösung der datierten und geographisch markierten Zeichnungen aus ihrem Zusammenhang für Friedrich nicht in erster Linie als Ausdruck mimetischer Genauigkeit gewertet, sondern als „Gegengewicht zu seinen bisweilen irreal anmutenden, strengen Bildkompositionen“.23 Erst hierdurch sei ein spannungsreiches Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und tieferer Bedeutung erreicht, so Grave.24 Einige Beispiele können das angesprochene Verfahren erläutern: Werden etwa die Vorstudien der Abtei im Eichwald (1809/10) mit dem ausgeführten Gemälde verglichen, dann ergeben sich einige signifikante Veränderungen (Abb. 1 und 2).25 Aus der Studie einer Eiche vom 5. Mai 180926 verwendet Friedrich ebenso Teilfragmente wie aus der nur Wochen später angefertigten Studie von Weinlaub und Buchen vom 13./14. Juni 1809 (Abb. 3 und 4).27 Zunächst findet sich der Baum der Zeichnung auf dem Gemälde fast exakt wieder, direkt links neben der Ruine. Allerdings ist auf dem Gemälde ein weiterer starker Ast links des Baumes zu erkennen. Dieser Ast findet sich nicht auf der Zeichnung vom 5. Mai, wohl aber auf der vom 13. Juni wieder. Folgendes war geschehen: Der kleine, in der Mitte befindliche Baum in der unteren Reihe wurde von Friedrich interessanterweise in Gänze in seiner zickzackförmigen Gesamtgestalt kopiert, um dann als linker Ast wieder im Gemälde aufzutauchen.28 Dass Friedrich hier aus zwei in ihrer Gestalt vollständig entwickelten Bäumen der beiden Zeichnungen in einer Art additivem Verfahren einen völlig neuen Baum auf dem Gemälde kreiert, ist bereits für sich bemerkenswert. Dass er aber einmal im Gemälde die unvollständige Gesamtgestalt der einen zeichnerischen Vorlage – der vom 5. Mai – übernimmt und dann für den noch fehlenden linken Ast wiederum die Gesamtgestalt eines anderen Baumes aus der Zeichnung vom 13. Juni überträgt, diesen Baum aber zum Ast modifiziert, ist ein Indiz dafür, dass Friedrich hochkomplexe „Kompositbäume“ schafft, die eben nicht mehr der mimetischen Übernahme aus der Vorlage verpflichtet sind.29  













23 Grave: Caspar David Friedrich (Anm. 4), S. 177. 24 Vgl. ebd., S. 178. 25 Vgl. Helmut Börsch-Supan u. Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich: Gemälde, Druckgraphik und bildmäßige Zeichnungen. München 1973, S. 304, Nr. 169. 26 Vgl. Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 558, Nr. 586. – Bei Grummt finden sich auch frühere Nachweise dieser Übernahme aus der genannten Zeichnung in der Sekundärliteratur; vgl. auch Busch: Caspar David Friedrich (Anm. 2), S. 77 f., und den Kommentar von Grummt (Anm. 1) zu Buschs Beobachtung, S. 558, Nr. 586. 27 Vgl. ebd., S. 570, Nr. 594. 28 Vgl. ebd., S. 31 f.; S. 558. 29 Dieser Begriff bei Grummt, ebd., S. 31.  













   

























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Abb. 1: Caspar David Friedrich, Abtei im Eichwald, 1809–10, Öl auf Leinwand. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie.

Abb. 2: Caspar David Friedrich, Abtei im Eichwald (Detail).

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Abb. 3: Caspar David Friedrich, Studie einer Eiche, 5. Mai 1809, Bleistift. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum.

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Abb. 4: Caspar David Friedrich, Studie von Weinlaub und Buchen vom 13./14. Juni 1809, Bleistift. Oslo, Nationalmuseum.

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Der Grund für dieses Verfahren ist relativ klar: Friedrich musste es bei der aus dem Halbdunkel aufscheinenden Abtei primär auf die Silhouette ankommen, bei der das Licht die Architektur und die Bäume von hinten umfängt. Ein nach vorne zum Betrachter ragender Ast wie auf der Zeichnung hätte im Gemälde seine Wirkung verfehlt. Genau dieses Verfahrens, einzelne Bildelemente auseinanderzunehmen und montageartig ganz neu zu formatieren, bedient sich Friedrich auf vielfältigste Weise, wie an dutzenden Beispielen zu belegen wäre.30 So werden auch in anderen Gemälden gegenüber den Vorgaben der Zeichnungen völlig neuartige Kompositbäume geschaffen. Mit solchen subtilen Beobachtungen haben Grummt und auch Grave jeder Untersuchung zu Friedrich wichtige Impulse gegeben. Denn hier kehrt nichts weniger als eine Grundfrage der Forschung zu dem Greifswalder Romantiker wieder: diejenige nämlich, ob der Künstler trotz aller Ummontierungen der Einzelszenen am Mimetischen insgesamt festhält – oder ob er mitunter den Weg zu einer völlig freien Formenfindung wählt, die das Naturvorbild wenigstens in einigen Details fiktional ergänzt. Ein weiteres Beispiel für ein Kompositverfahren bei Friedrich wäre das Gemälde Die Schwestern auf dem Söller am Hafen/Nacht im Hafen von 1820 (Abb. 5).31 Hier finden sich gleich mehrere Architekturen vereint: der Rote Turm und die Marktkirche aus Halle, das Stralsunder Rathaus, ein Turm aus Neubrandenburg sowie die Silhouette des Greifswalder Hafens.32 Dieses aus den verschiedensten, keineswegs nur von Friedrich selbst stammenden Bildvorlagen komponierte Gemälde macht sein Kompositverfahren nicht nur offensichtlich, es erklärt es geradezu zum Programm. Die Künstlichkeit des Bildwerkes wird hier insofern aufgegriffen, als jedem Betrachter die fiktionale Struktur sofort evident werden muss. Die Stadt wird zum Traum, zur Erscheinung, zur Vision, die ein „vollkommenes, bildmäßiges Arrangement der Architekturansichten“ zeigt und gerade nicht anstrebt, dass der Betrachter die ausschließlich bildliche Vermittlung vergisst.33 Insbesondere für dieses Gemälde macht Werner Busch im Hamburger Katalog von 2006 jedoch geltend, dass hier trotz der Zusammenfügung von Architekturen aus den unterschiedlichsten örtlichen Kontexten unbedingt an der mimetischen Ausrichtung jedes einzelnen Elements festgehalten wird.34 Diese  

30 Weitere Beispiele bei Grave: Caspar David Friedrich (Anm. 4), S. 178 ff., und Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 31 f. 31 Börsch-Supan u. Jähnig: Caspar David Friedrich (Anm. 25), S. 358, Nr. 263. 32 Vgl. Grave: Caspar David Friedrich (Anm. 4), S. 216. 33 Ebd. 34 Vgl. Werner Busch: Friedrichs Bildverständnis. In: Caspar David Friedrich: die Erfindung der Romantik (Museum Folkwang, Essen, 5. Mai bis 20. August 2006, Hamburger Kunsthalle, 7. Oktober 2006 bis 28. Januar 2007), München 2006, S. 32–47, S. 39 f.  



































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Abb. 5: Die Schwestern auf dem Söller am Hafen/Nacht im Hafen, 1820. St. Petersburg, Eremitage.

Grundüberlegung scheint zwar auf dieses Werk beziehbar, ist jedoch nicht mehr ohne Einschränkung auf das Gesamtwerk Friedrichs anzuwenden: Um bei der Beantwortung der Frage der mimetischen Nähe oder Ferne ein Stück weiterzukommen, sei auf das Osloer Blatt mit drei Kiefernstudien verwiesen. Bei diesem Blatt wird die Bedeutung der Beobachtung im Werkprozess Friedrichs direkt physisch erfahrbar: So zeichnete Friedrich besagte drei Kiefern an ein und demselben Tag, dem 13. April 1807 (Abb. 6).35 Oben links beginnend,  

35 Vgl. Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 496 f., Nr. 531.  







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Abb. 6: Caspar David Friedrich, Kiefernstudien, 13. April 1807, Bleistift. Oslo, Nationalmuseum.

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werden die drei in der Natur gleich großen Objekte Stück für Stück, Nadel für Nadel näher ans Auge herangeholt und die Feinteiligkeiten der Beobachtung entsprechend immer größer. Das stilisiert ins Blatt hineingezeichnete Auge markiert dabei die Position des Künstlers in Bezug auf das zu erfassende Objekt.36 Die Intensität der Naturbeobachtung geht mit der vorsichtigen Handhabung des Stiftes einher. Nicht in einem Schwung, sondern stückweise tastend rückt die Hand mit dem Bleistift auf dem Papier voran.37 Es werden keine langen Linien gezogen, die den Gegenstand grob skizzieren würden, sondern die Linie erzeugt ihrerseits die Umrissform des Gegenstandes. Das ist insofern ein ungewöhnliches, wenn auch nicht gänzlich neues Verfahren, weil die Objekte damit nicht nur etwas erhalten, was sie in Wirklichkeit nicht besitzen, nämlich Kontur, sondern weil sie zugleich auch substantiell erst durch eben diese Linie erzeugt werden. Außerdem werden, und das hat Christina Grummt zweifelsfrei nachgewiesen, nicht nur Kompositbäume von einzelnen Zeichnungen in die Gemälde übertragen. Es werden darüber hinaus, wenn auch nur in winzigen Details, Modifikationen zwischen den Naturstudien und den Gemälden vorgenommen, also aus den Naturstudien übernommene Elemente in den Gemälden gelängt.38 So hat die erwähnte Kiefernstudie von 1807 eben auch zum Vorbild gedient für die kleinen Kiefern, die in Friedrichs Tetschener Altar von 1807 zu sehen sind (Abb. 7 und 8).39 Jedoch hat schon Börsch-Supan darauf hingewiesen, dass die Kiefer in der Zeichnung gegenüber dem Gemälde etwas geduckter, niedriger erscheint.40 Friedrich hat also – und das wäre mit Dutzenden anderer Beispiele durch das neue Werkverzeichnis von Grummt zusätzlich belegbar – tatsächlich mitunter die Bäume gelängt, hat Nadeln hinzugefügt.41 In anderen Fällen, wie beim Einsamen Baum, geschieht es gerade umgekehrt. Es werden Elemente wie das Storchennest weggenommen und der Baum dadurch insgesamt gekürzt.42  





36 Vgl. ebd., S. 496 f., Nr. 531. 37 Vgl. ebd., S. 32. 38 Beispiele für größere Abweichungen zwischen Gemälden, die partiell auf Elementen der Naturstudien beruhen, ebd., S. 31; für die Vertikalisierungen vgl. ebd., S. 32. 39 Vgl. ebd., S. 496 f., Nr. 531; vgl. auch Börsch-Supan u. Jähnig: Caspar David Friedrich (Anm. 25), S. 300, Nr. 167. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 32. 42 Vgl. Börsch-Supan u. Jähnig: Caspar David Friedrich (Anm. 25), S. 378, Nr. 298; Grummt: Die Zeichnungen (Anm. 1), S. 451, Nr. 481.  







































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Abb. 7: Caspar David Friedrich, Tetschener Altar, 1807–08, Öl auf Leinwand. Dresden, Gemäldegalerie.

Sicherlich sind das Beobachtungen an kleinen Details. Aber es ist eben entscheidend, dass Friedrich die gestalterische Vorgabe der Zeichnung für das Gemälde – öfters als bislang in der Forschung angenommen – abwandelt und eben nicht immer minutiös mimetisch, sondern gelegentlich durchaus großzügig das Naturvorbild von der Zeichnung auf das Gemälde überträgt. Die Aussage, es handele  



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Abb. 8: Caspar David Friedrich, Tetschener Altar (Detail).

„sich bei Friedrich geradezu um einen Authentizitätszwang, der die Wahrheit des auf der Welt Erscheinenden offenbar aus religiöser Überzeugung verbürgen muss“, ist daher mit Einschränkungen zu versehen.43

43 Busch: Friedrichs Bildverständnis (Anm. 34), S. 40.  



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Es wäre jedoch verfehlt, wenn diese fiktionale Ergänzungsstrategie zu einem Kennzeichen für Friedrichs Prämodernität gemacht würde. Denn die Zahl der Landschaftsmaler, die einen wesentlich freieren Umgang mit den Vorgaben der Natur in ihren Gemälden pflegen, ist Legion. Hier würden etwa die Landschaften von Jakob Philipp Hackert einen reichen Fundus abgeben. Es scheint vielmehr die Kombination von zweierlei zu sein, das bei Friedrich als Besonderheit auffällt: zum einen besagte Treue zu einer Natur, die aber immerhin in Teilbereichen fiktional ergänzt werden kann, zum anderen eine besondere Perspektivität, die vor allem Johannes Grave und Hilmar Frank beschäftigt hat:44 Johannes Grave hat in seiner Studie von 2001 der einfachen Übertragung philosophischer Denkkategorien auf Friedrichs Eismeer,45 eines seiner berühmtesten Bilder von 1823, widersprochen: Doch die Bildstruktur und Ikonographie des Eismeers lassen den ausgelösten ‚Mechanismus‘ nicht an sein eigentliches Ziel gelangen. Auf den zweiten Blick offenbart sich nicht nur die Hilflosigkeit des Zuschauers, dessen Standort in dem vom Bild beschriebenen Raum imaginiert wird, sondern auch das Problem, dass sich der konkrete Betrachter wegen der perspektivischen Uneindeutigkeiten nicht in gewohnter Weise zum Bild hin positionieren kann. Der Betrachter sieht nun sich in Frage gestellt; das Dargestellte, der Schiffbruch, wird zweitrangig.46

Es liegt auf der Hand, dass diese Bezugnahme auf das betrachtende Subjekt einen auf Mehrdeutigkeit angelegten Bildgehalt zugrunde legen muss. Hilmar Frank schlägt eine ähnliche Richtung in seinem 2004 erschienenen Buch zur Perspektivität bei Friedrich vor. Auch er unterstreicht die Standortgebundenheit von Friedrichs Kunst und betont, dass es bei der Werkbetrachtung nach seiner Auffassung auch jeweils andere Punkte geben müsse, von denen aus das Dargestellte beobachtet werden kann.47 Frank beschreibt den Fluchtpunkt als eine visuelle Metapher,48 die er wie folgt erläutert: Es ist eine Grundeinsicht des perspektivischen Denkens, daß jede Perspektive nur eine Teilwahrheit erlangt, daß sie gleichermaßen berechtigt wie begrenzt ist, daß daher die Perspektiven einander ergänzen und folglich dort, wo es zum Konflikt der Perspektiven kommt, nicht davon die Rede sein kann, alle Relevanz sei auf EINER Seite zu finden.49

44 Vgl. Johannes Grave: Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen. Friedrichs „Eismeer“ als Antwort auf einen zentralen Begriff der zeitgenössischen Ästhetik. Weimar 2001; Hilmar Frank: Aussichten ins Unermeßliche. Perspektivität und Sinnoffenheit bei Caspar David Friedrich. Berlin 2004. 45 Vgl. Börsch-Supan u. Jähnig: Caspar David Friedrich (Anm. 25), S. 386 f., Nr. 311. 46 Vgl. Grave: Caspar David Friedrich und die Theorie des Erhabenen (Anm. 44), S. 127. 47 Vgl. Frank: Aussichten ins Unermeßliche (Anm. 44), S. 4. 48 Vgl. ebd., S. 6. 49 Ebd., S. 88.  



















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Frank führt weiter zu Friedrich aus: Mit der Tiefenperspektive ins Offene findet er zu jener Raumauffassung, welche die Setzungen des Glaubens nicht mehr buchstäblich vollzieht, sondern dem Betrachter des Bildes suggeriert – oder bloß anheimstellt […].50  

Dieses Herausnehmen der Bilddeutung aus dem Gemälde und ihre Überantwortung an den Künstler oder Betrachter ist demnach eindeutiger Befund. Oder noch anders ausgedrückt: Die möglichst eindeutige (symbolische) Ausdeutung der wie Embleme herausgelesenen Inhalte im Bild dominiert die Interpretation so stark, dass nicht mehr darauf geachtet wird, dass aufgrund eines absichtlich durch Friedrich verunklärten perspektivischen Betrachterstandortes eine eindeutige Sinnfestschreibung erst außerhalb des Bildes durch den Betrachter erfolgen kann. Dass dieses Relativitätsdenken durch den subjektiven perspektivischen Standort des Betrachters vor dem Bild unmittelbar bestimmt ist, würde sich in die – von Friedrich abgelehnten – Jenenser frühromantischen Kategorien einfügen, in den „ganzen Kosmos der frühromantischen Fragmenterfahrung des Ich vom Verlust der Ganzheit und der Sehnsucht nach universalem Zusammenhang“.51 Indes scheint das perspektivische, auf einen subjektiven Betrachter bezogene Sehen weit früher in das 18. Jahrhundert zurückzugehen, wie zu Anfang dieses Beitrags ausgeführt.52 Es lässt sich demnach eine lange und intensive Tradition der Kritik am illusionsgebundenen Bild feststellen, die bei Friedrich zumindest im Zusammenhang mit seiner Kritik am Erhabenen nachweisbar ist und gut zu seinem zutiefst lutherischen Denken samt dessen Ablehnung äußerer Bilder, die immer auch täuschende Bilder sind, zugunsten des inneren Bildes passen würde.53 Die entscheidende Rolle des betrachtenden Subjekts wird auch in einer anderen Quelle formuliert, die Hilmar Frank erstmals auf Caspar David Friedrich bezogen hat.54 In der Allgemeinen Geschichtswissenschaft von Johann Martin Chladenius von 1752 beschreibt der Autor das gleichberechtigte Nebeneinander verschiedener Perspektiven auf ein und dieselbe Sache:  





Es gibt einen Grund, warum wir die Sache so, und nicht anders erkennen: und dieses ist der Sehe-Punkt von derselben Sache […]. Aus dem Begriff des Sehe-Punkts folget, daß Personen,

50 Ebd., S. 92. 51 Busch: Caspar David Friedrich (Anm. 2), S. 13. 52 Zudem hat Friedrich bekanntlich den Jenaer Idealismus eher abgelehnt, so dass ein anderer Zusammenhang gesucht werden sollte. 53 Hierzu Johannes Grave: Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik. Zürich 2011, besonders S. 33 ff. 54 Vgl. Frank: Aussichten ins Unermeßliche (Anm. 44), S. 6.  













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die eine Sache aus verschiedenen Sehe-Punkten ansehen, auch verschiedene Vorstellungen von der Sache haben müssen […].55

Chladenius, den Reinhart Koselleck zu einem Kronzeugen des auf das Subjekt bezogenen Geschichtsmodells um 1800 macht,56 also für den historischen Relativismus und damit für die Zeitabhängigkeit jedweder Geschichtsbetrachtung in Anspruch nimmt, könnte als Erklärungsmodell auch bei Friedrich greifen – ohne dass wir freilich wissen, ob Friedrich Chladenius gelesen hat. Zusammenfassend für die auf den letzten Seiten angestellten Überlegungen ließe sich festhalten, dass Friedrich die mimetische Darstellung der Dinge, insbesondere der Naturdinge als Gottes Schöpfung, zunächst deswegen so stringent verfolgte, weil er damit nicht zuletzt auch eine Kritik der perspektivischen Illusion vornehmen wollte. Daher erklärt sich die minutiöse Darstellung selbst der kleinsten Fichtennadeln und Kiefernzweige. Gleichwohl hat er nicht gezögert, Einzelszenen aus den verschiedensten Kontexten und Lokalitäten im Bild zu synthetisieren. Soweit zu dem in der Forschung längst bekannten Verfahren. Dass aber beides, strengste Naturtreue einerseits und fiktionales Kompositverfahren andererseits, in den Gemälden gleichzeitig und nebeneinander besteht, ist – soweit ich die Forschung überblicke – zwar vielfach beobachtet, aber bisher nicht befriedigend erklärt worden. Friedrichs in den Quellen fassbare Kritik an einem durch das Bild vorgegebenen Illusionismus, also an dem klassisch-perspektivischen, sprich dreidimensionalen Bildraum, wie er seit der Renaissance in der Kunstgeschichte entwickelt worden war, ist jedoch evident. Es ist wahrscheinlich, dass Friedrichs Protestantismus, genauer sein Luthertum, ihn sowohl einerseits eine Skepsis gegenüber dem illusionsgebundenen Bildraum wie auch andererseits eine fast manische Bildtreue gegenüber dem mimetischen Detail der Naturdinge entwickeln ließ. Dass daraus eine Perspektive entstand, die das Auge des Künstlers und des Betrachters zur entscheidenden Instanz machte, das hat in der lutherischen Auffassung seine Ursache, dass keinerlei Instanz, keine Kirche, keine weltliche Macht zwischen dem einzelnen Gläubigen und dem Gotteswerk stehen dürfe, die interpretatorisch vermitteln und beeinflussen könnte. Andererseits sind aber auch epistemologische Gründe mit der subjektiven Perspektive verbunden, wie sie Chladenius beschreibt und wie sie sich im 18. Jahrhundert allmählich durchsetzt. Es gibt also verschiedene „SehePunkt[e] von ein und derselben Sache“ und, daraus resultierend, Personen, die  







55 Johann Martin Chladenius: Allgemeine Geschichtswissenschaft. Leipzig 1752, Neudruck Wien, Köln, Graz 1985, S. 100 ff. 56 Vgl. ebd.  



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eine Sache aus verschiedenen Sehe-Punkten ansehen und somit auch verschiedene Vorstellungen von ihr haben. Von daher gibt es bei den Friedrichschen Bildern – zumindest aus theologischer und auch aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive – wohl keine Alternative zu einer mehrdeutig angelegten Interpretation. Die Schwestern auf dem Söller sind bei aller Dislokation der dargestellten Orte eben deshalb ‚lesbar‘, weil (nur) ein lutherischer Bildbetrachter in der Lage ist, diese Diskrepanz der vielen, in einem Bild versammelten Orte wahrzunehmen und in seiner eigenen subjektiven Betrachtung in ein schlüssiges Ganzes zu verwandeln. Die Bindung der Illusion an das „sentiment“ wird bei Friedrich umgedeutet, indem er die Illusion nicht mehr als trügerische Vorgabe des Bildes konstruiert, also wie beim traditionellen perspektivischen Bildraum mit einem einzigen Fluchtpunkt, sondern an dem Scheincharakter des Bildes generell keinen Zweifel mehr lässt. Der perspektivische Fluchtpunkt wird so aus dem Bild in den gläubigen Rezipienten hineingelegt, in den durchaus distanziert vor dem Bild stehenden Künstler oder den Betrachtenden, der die Perspektive auf sich selbst zu beziehen und damit zu vollenden hat.  



Reinhard Wegner

Augenblicke Autonomie und Selbstreferenzialität sprachlicher Formen beim Betrachten von Bildern In Clemens Brentanos Beschreibung des Mönchs am Meer von Caspar David Friedrich aus dem Jahre 1810 heißt es: [D]as, was ich in dem Bilde selbst finden sollte, fand ich erst zwischen mir und dem Bilde, nehmlich einen Anspruch, den mein Herz an das Bild machte, und einen Abbruch, den mir das Bild that; und so ward ich selbst der Kapuziner, das Bild ward die Düne, das aber, wo hinaus ich mit Sehnsucht blicken sollte, die See, fehlte ganz.1

Mit dem Hinzufügen einer dritten Instanz neben dem Bild und seinem Betrachter, nämlich der Distanz zwischen beiden, beschreibt Brentano einen Perspektivwechsel, der entscheidend für die Bildbetrachtung um 1800 ist. Dieses „zwischen mir und dem Bilde“ verändert sowohl das im Bild Dargestellte („die See, fehlte ganz“) wie auch den Status des Bildes. Eine Aufgabe zukünftiger Romantikforschung aus der Sicht der Kunstgeschichte könnte also sein, das Verhältnis vom Betrachter zum Bild, von betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt, noch stärker in den Blick zu nehmen. Damit rücken Fragen der Wahrnehmung, der Zeitlichkeit von Sehen und Erkennen, aber auch die Wechselseitigkeit von Produktion und Rezeption in den Fokus. Das Bild entsteht im Auge des Betrachters neu, es wird möglicherweise erst unter den Bedingungen der Wahrnehmung erzeugt. Bekanntlich hat Heinrich von Kleist in den oben zitierten Text Brentanos korrigierend eingegriffen. Die entsprechende Passage enthält die einprägsame Rede von den abgeschnittenen Augenlidern: „[U]nd da es [sc. das Bild], in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit, nichts als den Rahmen, zum Vordergrund hat, so ist es wenn man es betrachtet, als ob Einem die Augenlider weggeschnitten wären.“2 Der Rahmen konstituiert den Raum zwischen Bild und Betrachter, die Landschaft selbst ist uferlos. Aus diesem Spannungsverhältnis von externer und interner Bildbetrachtung entfaltet sich nach 1800 ein weites Panorama von Dar-

1 Clemens Brentano: Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft. In: Berliner Abendblätter, 12. Blatt, Den 13ten October 1810, S. 47 f. 2 Ebd.  





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stellungsstrategien, bei denen nicht nur die vieldiskutierten Grenzen des Bildes, sondern auch die Grenzen zum Bild formuliert werden. Im Folgenden sollen einige Aspekte dieses „zwischen mir und dem Bilde“ benannt werden, um auf die Bedeutung von Selbstreferenzialität und Reflexion der Bildbetrachtung für die romantische Malerei zu verweisen. Dabei geht es zum einen um die Präsenz von Bildern, zum andern aber auch um die Wahrnehmungsstrategien in und von Texten, denn Brentano artikuliert hier eine aus der romantischen Dichtung heraus entwickelte Vorstellung vom Bild. Eine wichtige Aufgabe wird es sein, die sich überlagernden Darstellungs- und Wahrnehmungsstrategien im Akt der Bildbetrachtung und im Akt des Lesens in ihrer gegenseitigen Bezugnahme zu untersuchen.3 Ein anschauliches Beispiel für eine neue Form der Wahrnehmung liefert das Landschaftsbild. Die unbestimmte Sphäre zwischen Betrachter und Bild, die räumliche Nähe suggeriert und doch Distanz erzeugt, gerät nach 1800 immer mehr in das Blickfeld der Landschaftsmaler. Dabei zeigt es sich, dass der Bildvordergrund, also jener Bereich, der die größte Nähe zwischen Betrachter und Bildraum bezeichnet, die kritische Zone markiert. Er ist zugleich Einstieg in die Landschaft und bestimmt doch die Grenze zwischen dem konkreten und dem illusionistischen Raum. Frühe Reflexe dieser Dichotomie des Bildraumes finden sich in den Ölstudien und Landschaftsdarstellungen des englischen Malers Thomas Jones aus den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Er erklärt den unmittelbaren Bildvordergrund zu einer den Blick versperrenden ästhetischen Grenze. Während sein ebenfalls in Italien tätiger, aber ungleich erfolgreicherer Zeitgenosse Jakob Philipp Hackert noch mit größter Sorgfalt die Vordergründe seiner Bilder mit präzisen Pflanzenstudien ausstattet, verzichtet Jones, ebenso wie einer der großen Konkurrenten Hackerts in Italien, Giovanni Battista Lusieri in seinen späteren Veduten, häufig auf konkrete Naturdarstellungen. Lusieris breitformatige Ansichten des Golfs von Neapel, der Tempel von Paestum oder der Gegenden bei Caserta bestechen durch außerordentlich genaue Schilderungen der weiten Landschaft. Im Widerspruch dazu bleiben die Vordergründe nur mit wenigen skizzenhaften Andeutungen auf dem ansonsten weißen Papier völlig unbearbeitet. (Abb. 1 und 2) Dieser bewusst inszenierte Bruch des Darstellungsmodus kann nicht mit einem zufällig hier beendeten und vielleicht später wieder aufzunehmenden Malprozess erklärt werden. Vielmehr kündigt sich hier ein grundlegender Wandel im Verständnis des Bildes an. Der Künstler erzeugt nicht mehr die Illusion eines Bild3 Für die Bildbetrachtung mit Bezug auf die Romantik sei hier vor allem auf die einschlägigen Arbeiten von Johannes Grave verwiesen, namentlich seinen Band: Caspar David Friedrich. München, London, New York 2012. Für die Literaturwissenschaft immer noch wegweisend: Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976.

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Abb. 1: Jakob Philipp Hackert, Ansicht von Caserta, 1782, Gouache, 48 x 70 cm. Caserta, Palazzo Reale.

Abb. 2: Giovanni Battista Lusieri, Ansicht von Caserta, Privatbesitz.

raumes, der nach den Gesetzmäßigkeiten der Perspektiv-Lehren konstruiert wird. Das unbearbeitete Papier erhält den Status einer eigenen Bildfläche, die den Bruch zwischen Bild- und Bedeutungsträger scharf markiert. Das Auge des Betrachters muss erst jene Grenze zwischen ihm und dem imaginierten Raum überwinden, bevor es über die gemalte Landschaft schweift. Exemplarisch für eine Vielzahl von Studien des frühen 19. Jahrhunderts sei ein Blatt von Johann Christoph Erhard genannt, das von einer Anhöhe aus die Ansicht auf die Tiberlandschaft bei Ponte Molle zeigt. (Abb. 3)

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Abb. 3: Johann Christoph Erhard, Blick auf den Ponte Molle, 1820, Aquarell über Bleistift, 20,7 x 30,7 cm. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett.

Während das Zentrum des Bildes sehr sorgfältig ausgeführt ist, bleibt der unmittelbare Vordergrund mit wenigen ockerfarbenen Pinselstrichen über skizzenhaften Umrisslinien und den unbearbeiteten Partien im Bereich des Nahraumes leer. Als Relikt eines klassischen Kompositionsmittels erstreckt sich am linken Bildrand die schematische Ansicht eines Baumes als Repoussoir. Über die Funktion als ästhetische Grenze hinaus kommt dem unbestimmten Raum im Vordergrund auch die Aufgabe zu, das Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Produktionsprozess auf eine neue Weise darzustellen. Dem Landschaftsmaler des frühen 19. Jahrhunderts dienen die unbearbeiteten weißen Flächen nicht nur pragmatisch als Hilfsmittel zur Übertragung von der spontanen Skizze in das später zu vollendende Bild, sondern sie loten exakt diesen Grad zwischen Sehimpuls und Formgebung aus. In der Kombination von skizzenhafter Umrisszeichnung und sorgfältig ausgeführtem Naturausschnitt bezeugen die Landschaftsdarstellungen nach 1800 die Aktualität der Auseinandersetzung um Linie und Farbe, um Skizze und Bild, mithin um die Genese des künstlerischen Prozesses. Die Distanz „zwischen mir und dem Bilde“ wird als eine bewusste Variable eingeführt. Betrachterraum und Betrachtungsraum fließen ineinander und sind nicht mehr durch scharfe Grenzen getrennt. Der Landschaftsraum konstituiert

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sich als das Ergebnis eines Seh-Prozesses. Erhards Aquarell trägt der nach 1800 vielfach diskutierten Erkenntnis Rechnung, dass die Physiologie des Auges eine gleichzeitige und gleichwertige Erfassung des Raumes nicht gestattet. Vielmehr sieht man immer nur einen scharf wahrgenommenen Ausschnitt des Ganzen. Bedingt durch die besonders im Nahbereich wirksame Augenparallaxe werden die Figuren im Vordergrund aus ihrem Zusammenhang mit den dahinter liegenden Gegenständen herausgeschnitten. Die dem Betrachter nahen Bildbereiche können nur in einem weichen Übergang zum Mittelgrund und in aufgelösten Konturen wahrgenommen werden.4 Für die Künstler erhält die Diskussion um die organische Beschaffenheit und Wahrnehmungsfähigkeit des Auges in Bezug auf die illusionistischen Gestaltungsmöglichkeiten der Malerei größte Aktualität. Der geometrischen Konstruktion des Bildraumes setzen sie eine exakte Erfassung des natürlichen Raumes mit Hilfe des Fixationspunktes und unter Berücksichtigung des Gesichtskreises entgegen. Damit verlieren tradierte Muster der Raumorganisation ihre Bedeutung. Eine weitere Konsequenz folgt für die Kommunikation zwischen Werk und Betrachter: Das unvollendete Bild fordert zum Weiterdenken auf. Individuelle (subjektive) und allgemeine Darstellung lassen sich so zusammenführen. Die Wahrnehmung des einzelnen Betrachters, die ihm überlassene Vollendung des Bildes und die allgemeine Vorstellung von Landschaft treffen hier aufeinander. Das Werk wird als in sich oszillierend wahrgenommen und gewinnt dadurch eine spezifische Form der Eigenbewegung. Auf der phänomenologischen Ebene liefert das Bild die intendierten Leerstellen im Prozess seiner Wahrnehmung und Deutung gleich mit. Die Landschaftsstudien um 1800 berühren zentrale Vorstellungen der Romantiker: zum einen den Widerstreit zwischen Fixierung und Bewegung, der sich innerhalb der Einbildungskraft vollzieht, zum anderen den ständigen Wechsel zwischen Selbst- und Fremdreferenz, also eine immerwährende Bewegung zwischen Innen- und Außenwelt. Eine historische Quelle für diese Vorstellungen sind die Schriften von Karl Philipp Moritz aus den achtziger und frühen neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Moritz thematisiert das Reden über das Werk wie auch die Unzulänglichkeit von Sprache im Erkenntnisprozess. In den Reisen eines Deutschen in Italien konfrontiert er seine Leser mit Momenten selbstreflexiven Erzählens. Im ersten Band seiner Reisebeschreibung bittet er den Adressaten darum, so lange zu warten,

4 Vgl. Reinhard Wegner: Die unvollendete Landschaft. In: Markus Bertsch u. Reinhard Wegner (Hrsg.): Landschaft am „Scheidepunkt“. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800 (=Ästhetik um 1800, Bd. 7). Göttingen 2010, S. 471–484.  



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„bis allmählig sich mir die Zunge löset, und ich imstande bin, über Schönheit und über Kunst, die ersten Laute hervorzubringen, die ihres Gegenstandes würdig sind.“5 Erst im Verlauf der Schilderungen entwickelt Moritz ein sprachliches und methodisches Instrumentarium zur umfassenden Kunstbetrachtung. Damit wird der Leser Zeuge eines Prozesses der Annäherung, den der Autor als eine eigene Erfahrungsleistung suggeriert. Darüber hinaus enthalten die Reisebeschreibungen zahlreiche Perspektivwechsel sowohl räumlicher wie zeitlicher Art, die den Adressaten in die Positionen des Künstlers, des Kunstbetrachters und des Kunstgelehrten versetzen. Dass Moritz die Fragen von künstlerischer Produktion und Rezeption in diesen Jahren intensiv beschäftigen, lässt sich in einem seiner Schlüsseltexte zur Ästhetik erkennen. Im Jahre 1788 erschien Über die bildende Nachahmung des Schönen mit den für die Romantiker entscheidenden Vermittlungsstrategien zwischen Nachahmung der Natur und freier Gestaltung eines schöpferischen Geistes.6 Speziell zu Darstellungsformen der Wahrnehmung bei Moritz im Kontext des Subjektivitätsdiskurses des späteren 18. Jahrhunderts haben Claudia Kestenholz und Claudia Sedlarz wichtige Studien vorgelegt.7 Der Fokus all dieser Untersuchungen ruhte hauptsächlich auf den Strategien zur Wahrnehmung im Medium des Textes. Moritz setzte allerdings auch das Bild als ein zentrales Medium zur Wissensvermittlung und zur Auseinandersetzung mit dem Sehen selbst ein. Den Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788 sind vier Kupferstiche beigefügt, die Ansichten bekannter antiker Stätten zeigen. Die ersten drei Blätter leiten als Titelkupfer die Bände eins bis drei ein, der vierte Kupferstich befindet sich innerhalb des zweiten Bandes. Gestochen wurden alle Ansichten von dem Berliner Kupferstecher Daniel Berger nach Zeichnungen von Peter Ludwig Lütke, einem Absolventen der Akademie in Berlin, der nach seiner Rückkehr aus Italien eine Professur als Landschaftsmaler an der Akademie antrat. Moritz und Lütke besuchten während ihres Aufenthalts in Rom und Neapel einige

5 Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien in den Jahren 1786 bis 1788. In Briefen, 1. Teil. Berlin 1792, S. 147. 6 Diese kunsttheoretischen Positionen werden in mehreren Monographien und Sammelbänden erörtert, u. a. bei Alessandro Costazza: Genie und tragische Kunst. Karl Philipp Moritz und die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Bern 1999; Ute Tintemann u. Christof Wingertszahn (Hrsg.): Karl Philipp Moritz in Berlin 1789‒1793. Berlin 2005; Anthony Krupp (Hrsg.): Karl Philipp Moritz. Signaturen des Denkens. Amsterdam, New York 2010. 7 Claudia Kestenholz: Die Sicht der Dinge. Metaphorische Visualität und Subjektivitätsideal im Werk von Karl Philipp Moritz. München 1987; Claudia Sedlarz: „Rom sehen und darüber reden“. Karl Philipp Moritz’ Italienreise 1786–1788 und die literarische Darstellung eines neuen Kunstdiskurses. Berlin 2010.  





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der antiken Orte gemeinsam und entwickelten auch den Plan, eine illustrierte Reisebeschreibung von Italien zu verfassen.8 Die vier Kupferstiche folgen einem gemeinsamen Prinzip. Jedes Blatt ist etwa im Verhältnis 2 zu 1 geteilt. Der größere obere Teil enthält die hochrechteckige Darstellung einer antiken Ruine in einer Landschaft. Der untere Teil des Blattes ist mit Schraffuren versehen. In der Mitte des Feldes öffnet sich ein Oval mit der Wiedergabe einer ebenfalls antiken Stätte. Die einzelnen Blätter werden genau beschrieben. Die Beschreibung des vierten Blattes folgt nicht wie die anderen Erklärungen am Ende des dritten Bandes, sondern ist in den Text eingebaut. Es handelt sich in der oberen Darstellung um die Grotte der Egeria (Abb. 4): Herr Lütke entwarf von dieser Grotte ebenfalls an Ort und Stelle eine Zeichnung, wovon sich eine genaue Darstellung auf der hier beigefügten Kupfertafel befindet. Ich las während der Zeit in meinem Juvenal, wovon ich eine kleine Taschenausgabe bei mir trug, wie der Dichter auf die nun zerstörten marmornen Verzirungen schilt, welche dies alte ehrwürdige Denkmal entstellten, das einen weit schönern Anblick gewähren würde, wenn der grüne Rand des Ufers in der klaren Fluth sich spiegelte, und der Marmor nicht den röthlichen Felsen verdeckte.9

Diese Passage vermag einen Eindruck von der komplexen Struktur der Schilderungen des Autors zu geben. Nicht nur, dass eine Zeichnung und die gegenwärtige Beschreibung aufeinander Bezug nehmen, sondern zugleich werden auch die antike Quelle und eine andere Zeitebene, diejenige des unzerstörten Denkmals, miteinander verschränkt. Ähnlich komplex verhält es sich mit der Argumentation des Bildes. Die jeweils unterschiedlichen Formate sind auf allen vier Blättern durch eine doppelte äußere Rahmenlinie verbunden. Obere und untere Darstellung trennt eine weiße Linie, so dass Gemeinsamkeiten und Unterschiede genau markiert sind. Während das obere Bild unserer Vorstellung von einer Illustration entspricht, fixiert die untere Ansicht in der ovalen Form den abgebildeten Gegenstand durch eine zweite Bildebene im Zentrum. Der Blick ist auf die Mitte gerichtet und führt durch einen imaginierten Rahmen, der durch die Verschattungen in der Innenseite des ovalen Rahmens eine eigene Räumlichkeit bildet. Der naiven Betrachterperspektive der oberen Darstellung wird eine bewusste Relation zwischen Betrachter und betrachtetem Gegenstand gegenübergestellt. Die schraffierte Fläche bildet einen direkten Gegensatz zur Raumwirkung der oberen Ansicht und erzeugt dadurch bewusst eine zusätzliche Ebene zwischen dem Betrachter, dem

8 Sedlarz: „Rom sehen und darüber reden“ (Anm. 7), S. 57. 9 Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien (Anm. 5), 3. Teil. Berlin 1793, S. 188.  







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Abb. 4: Daniel Berger, Grotte der Egeria, Kupferstich nach Peter Ludwig Lütke, um 1790.

Medium Bild und der dargestellten Landschaft. Mit der Zentrierung auf die Mitte wird der Fluchtpunkt zum Sehpunkt. Es entsteht der Eindruck einer monofokularen Betrachtungsweise. Nur ein Ausschnitt wird wichtig. Hierauf konzentriert sich alles. Der Blick auf das Sujet und nicht mehr das Sujet selbst ist Gegenstand der Darstellung.

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Der ovalen Bildform gab Moritz bei der Illustration seiner Götterlehre den Vorzug. Wenige Monate vor dem Erscheinen seiner Reisebeschreibungen aus Italien veröffentlichte er diese für die Antikenrezeption um 1800 einflussreiche Schrift zur mythologischen Dichtung der Alten mit fünfundsechzig Kupfern nach Zeichnungen von Asmus Jakob Carstens. Das Oval war insofern berechtigt, als es sich in der Regel um die Wiedergabe antiker Szenen auf Gemmen handelte. Darüber hinaus diente die Bildform aber auch als ein Darstellungsmuster, das besonders geeignet war, die Antikenrezeption als einen Prozess der Selbstreflexion zu vergegenwärtigen. Das Bild als ein Ausdrucksmedium der Erinnerung vermag nach der Überzeugung von Moritz die innere Anverwandlung von Vergangenem zum Ausdruck zu bringen. Der poetische Anteil an dieser Rückbesinnung ist ihm wichtiger als jede Spekulation über eine historisch korrekt rekonstruierte Antike.10 Den ovalen Bildformaten entsprach der Anspruch des Autors, die Vergegenwärtigung der Antike sowohl als einen Prozess der Abstraktion wie auch als einen Prozess der subjektiven Selbstreflexion darzustellen. Darüber hinaus gewinnen seine Überlegungen zur visuellen Wahrnehmung von Gegenständen an Bedeutung. Die gebogene Linie als Umfassung des Blickfeldes beschreibt Moritz mit großer Ausführlichkeit in seiner Abhandlung über die Signatur des Schönen. Ausgangspunkt seiner weiterführenden Überlegungen zur Einbildungskraft ist die Dominanz des Optischen. Dem Sehsinn misst Moritz höchste Priorität bei. Intensiv befasst er sich mit den Wölbungen des Kopfes und den Vertiefungen der Augenhöhlen. Die ovale Bildform als eine Reproduktion der Wahrnehmung entspricht dabei der Physiologie des Auges. Nun gibt es aber in der ganzen Natur keine so sanften und reinen Bewegungen von Linien um und zueinander, als in der Bildung des Auges selbst, in dessen umschatteter Wölbung Himmel und Erde ruht, während daß es das Allerverschiedenste in seinen reinsten Verhältnissen in sich faßt. […] Wo das Auge, durch die höchste und tiefste seiner Spuren, Stirn und Wange scheidend, den denkenden Ernst vom jugendlichen, lächelnden Leichtsinn sondert; indem es in dunkler Umschattung hinter dem Schimmer der Morgenröte hervortritt, und durch die Wölbung den einander entgegenkommenden Augenbrauen sich sanft zueinander neigend, die Wiedervermählung des Getrennten in jedem untergeordneten Zuge vorbereitet, und der ganzen sich herabsenkenden Umgebung bis zu den Spitzen der Zehen, die immerwährende Spur von Scheidung und von Wölbung eindrückt.11

Betrachtet man die vier Kupferstiche zu den Reisen eines Deutschen in Italien, so scheinen diese Überlegungen zum Bildformat, wie sie in den theoretischen Schrif10 Ulrike Münter: Gebannter Bilderrausch. Bild und Text in Karl Philipp Moritz’ Götterlehre. In: Tintemann u. Wingertszahn: Karl Philipp Moritz in Berlin (Anm. 6), S. 39–56. 11 Karl Philipp Moritz: Die Signatur des Schönen. In: Ders.: Werke, Bd. 2: Reisen, Schriften zur Kunst und Mythologie. Hrsg. v. Horst Günther. Frankfurt a. M. 1981, S. 585 ff.  











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ten von Moritz und in den Illustrationen zur Götterlehre zum Ausdruck kommen, eine Rolle zu spielen. Es geht um die Vergegenwärtigung der Antike im Wechsel der Darstellungsmodi. Subjektive Wahrnehmung und unterschiedliche optische Bedingungen werden dem Betrachter vor Augen geführt. Allen vier Blättern ist die Trennung von Nah- und Fernsicht in den oberen und unteren Bildfeldern gemeinsam. Die ovalen Durchblicke sind auf die Ferne ausgelegt. Sie zeigen in komprimierter und verkleinerter Form zugleich die größere Distanz zwischen Betrachter und Gegenstand. Dem räumlichen Bruch zwischen Vorder- und Mittelgrund in den unteren Darstellungen steht eine kontinuierliche Raumentwicklung in den oberen Ausschnitten entgegen. Dies wird besonders in den ersten beiden Tafeln deutlich. Im Titelkupfer zum ersten Band laden die Treppen am unteren Bildrand den Betrachter regelrecht zum Betreten der Szenerie ein. Im zweiten Blatt übernehmen die Steinplatten vorne links diese Funktion. Während im oberen Register der Betrachter selbst im Bild ist, provozieren die ovalen Darstellungen einen bewussten Bruch des Raumkontinuums. Moritz reflektiert mit dieser Gegenüberstellung das Verhältnis vom Betrachter zum Bild, von betrachtendem Subjekt und betrachtetem Objekt auf neue Weise. Damit rückt mit dem Erkenntnisinteresse an der Antike auch das Vermittlungsproblem in den Fokus. Der Verzicht auf die perspektivische Konstruktion von Landschaftsräumen hat die Neubestimmung des Bildraumes zur Folge, also jenes Raumes, der sich als Fläche innerhalb des Bildrahmens befindet. Die für das frühe 19. Jahrhundert maßgeblichen Referenzen (Sehwinkel und Gesichtskreis) veränderten allerdings nicht nur den Status des Betrachters, sondern auch den Status des Bildes. Das bislang unbelastete Verhältnis von Rahmen und Binnenbild geriet in die Krise. Damit setzte das ein, was man heute ‚Bild-Diskurs‘ nennt. Moritz greift, wie seine Illustrationen zu den Reisen eines Deutschen in Italien beweisen, sehr früh in diesen Diskurs ein. Für die Auseinandersetzung der Romantiker mit dem Bild bietet Moritz bereits in seinem kleinen Aufsatz Grundlinien zu einer Gedankenperspektive zentrale Argumente für eine Neubestimmung des nicht mehr mimetisch Abbildbaren.12 Darin beschreibt der Dichter das Verhältnis von Nähe und Ferne unter den besonderen Bedingungen eines Bildes, also einer planen Fläche. Deshalb suggeriert die Kleinheit der Wiedergabe eine Ferne, die de facto im Medium des Bildes nicht besteht. Die Fähigkeiten des Malers, nächste Nähe, weiteste Ferne oder höchste Höhe darzustellen, beruht auf der Beobachtung, dass sich alles im Bild sozusagen von selbst zusammendrängt. Ein bislang noch nicht in den Blick  

12 Karl Philipp Moritz: Grundlinien zu einer Gedankenperspektive. In: Magazin zur Erfahrungsseelenkunde als ein Lesebuch für Gelehrte und Ungelehrte, Bd. 7. Berlin 1789, S. 81 f.  





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genommener Vergleich zwischen diesem Text von Moritz und den zehn Jahre später erschienenen Gemäldegesprächen von August Wilhelm Schlegel lässt eine Fülle von Gedanken in der Programmschrift der Romantiker erkennen, die bei Moritz bereits formuliert sind.13 In der Zeit um 1800 entwickeln die Künstler neue Darstellungsformen des Bildes. Die Aufwertung der Landschaftsskizze gegenüber den fertigen Gemälden und die Bedeutung der Serien (z. B. Runges Zeiten), die das relationale Moment der Wahrnehmung betonen, sind Indizien dafür, dass die Kunst um 1800 bewusst auf jene Prozessualität setzt, die zur Anschauung bringt, dass die Wiedergabe von Wirklichkeit nicht mehr als bloße Repräsentation verstanden werden kann. Vielmehr liefert das Bild selbst Anschauungen eines fortlaufenden Prozesses der Wirklichkeitsversicherung und -strukturierung. Deren Interpretation ist uns mittels der kunsthistorischen Methodik möglich.14 Schon Künstler wie Caspar David Friedrich, Carl Blechen oder Adolph Menzel übersetzten die Vorstellung Kants, dass sich die Wahrnehmung der Zeit als eine Erfahrung des Subjekts vermittelt und nicht in der Beschaffenheit der Gegenstände liegt, in Anschauung. Die Kunst um 1800 stellt das Bild in Frage und thematisiert das Anschauen. Sie begreift die Bilder als Kondensate eines Anschauens, das selbst schon das Denken führt und sich in den ihm eigenen Möglichkeiten an Lösungen und Weltsichten herantastet. Romantische Skizzenblätter sind Dokumente eines solchen Aufarbeitens der Anschauung. Die Expertise der Kunstgeschichte, die Bilder derart nicht nur als Ikonen, sondern als Resultate eines Prozesses begreift, den das Bild oder besser noch eine Bildfolge dokumentiert, wird es erlauben, einer Wissenschaft und einer auf dieser aufbauenden Kultur Methoden an die Hand zu geben, mit denen nicht erst das Resultat, sondern schon der Prozess der Ins-Bild-Setzung bewertbar wird. Das kantische Prinzip der Konstitution der Gegenstandswelt durch die Anschauungsformen ist in seiner Diagnose auf die Bestimmung nicht nur der Anschaulichkeit, sondern des Anschauens selbst zu erweitern. Als eine Perspektive gegenwärtiger Romantikforschung könnten deshalb die unterschiedlichen Strategien zur Visualisierung von Erkenntnis 

13 Bei Moritz heißt es: „Die Gegenstände nähern sich in der Entfernung immer mehr der bloßen Idee von den Gegenständen; das Gesicht nähert sich immer mehr der Einbildungskraft, je weiter der Gesichtskreis wird. Daher sind wir im Stande, uns die Gegend wie ein Gemälde, und ein Gemälde wie die Gegend zu denken.“ (ebd., S. 81). Schlegel überträgt diesen Gedanken: „Seit ich mich mit diesen Dingen beschäftige, sehe ich eine wirkliche Gegend mehr als Gemählde, und ein Landschaftsstück suche ich mir zu einer wahren Ansicht zu machen.“ August Wilhelm Schlegel: Die Gemählde. Ein Gespräch von W. In: Athenaeum, Bd. 2, 1. Stück. Berlin 1799, S. 62. 14 Gottfried Willems: Anschaulichkeit: Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989.  





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sen und die Entwicklung der Anschaulichkeit von Selbstreferenzialität untersucht werden. Dabei ist es notwendig, zwischen ‚Anschauung‘ und ‚Anschaulichkeit‘ zu trennen. Es soll nicht darum gehen, die im philosophisch-ästhetischen Diskurs verankerte Auseinandersetzung um die Anschauung als einem Vermögen des Subjekts, mittels der Wahrnehmung eine Sicht der Welt zu generieren, fortzuführen, sondern diese Perspektive um den Aspekt der Anschaulichkeit im Sinne einer präkonzeptionellen, durch Visualisierungsmuster geführten Denkbestimmung zu erweitern. Die Anschaulichkeit setzt das Bild als ein Medium voraus, das diskursiv vermittelbare Phänomene zum Ausdruck bringt. Es wird deshalb konkret zu untersuchen sein, mit welchen Strategien Bilder und bildhafte Darstellungsformen operieren, um exakt jene Leerstelle zwischen dem Ich und dem betrachteten Gegenstand zu füllen. Das Bild zeigt nicht mehr das Gesehene, sondern das Sehen. Die Dynamisierung der Wahrnehmung ist eine Grundvoraussetzung für die Bestimmung des „inneren Sinnes“, wie es Immanuel Kant in der Kritik der reinen Vernunft erläutert: Also geschieht jeder Übergang aus einem Zustande in den andern in einer Zeit, die zwischen zween Augenblicken enthalten ist, deren der erste den Zustand bestimmt, aus welchem das Ding herausgeht, der zweite den, in welchen es gelangt. Beide also sind Grenzen der Zeit einer Veränderung, mithin des Zwischenzustandes zwischen beiden Zuständen, und gehören als solche mit zu der ganzen Veränderung. […] Aller Zuwachs des empirischen Erkenntnisses, und jeder Fortschritt der Wahrnehmung ist nichts, als eine Erweiterung der Bestimmung des innern Sinnes, d. i. ein Fortgang in der Zeit, die Gegenstände mögen sein, welche sie wollen, Erscheinungen, oder reine Anschauungen.15

Diese von Kant formulierte Bestimmung des inneren Sinnes ist an eine zeitliche Dimension gebunden, exakter: an die Zeit „zwischen zween Augenblicken“. Wir finden eine vergleichbare Vorstellung in Goethes Beschreibung des Laokoon im ersten Band der Propyläen: Um die Intention des Laokoon recht zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung, mit geschlossenen Augen davor, man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte sagen, wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixierter Blitz, eine Welle, versteinert im Augenblicke, da sie gegen das Ufer anströmt.16

15 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B 253–255. In: Ders.: Werke: in zehn Bänden, Bd. 3. Hrsg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1968, S. 240 f. 16 Johann Wolfgang Goethe: Über Laokoon (=Propyläen. Ersten Bandes Erstes Stück, 1798). In: Ders.: Werke. Hrsg. im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abteilung I–IV, 133 Bände. Weimar 1887–1919 [=WA], Bd. I, 47, S. 107.  









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Wenn das Betrachten des Bildes als ein Akt zu verstehen ist, der eine Relation zwischen mir und dem Bild erzeugt, dann ist das Lesen die adäquate Form der Relation zwischen mir und dem Text.17 Die Literatur um 1800 bietet eine Fülle von Reflexionen über das Verhältnis des Lesers zum Text. Der Vorgang des Lesens bringt eine neue Qualität in dieses Verhältnis. Während ein Bild simultan erfasst werden kann, kommt es beim Lesen auf die fortlaufende Zeit an. Als besonders prekär schildert Goethe in den Wahlverwandtschaften Simultaneität und Sukzessivität als eine neue Zeiterfahrung im Umgang mit dem Text in jener Passage, die Eduards Vorliebe, der Gesellschaft vorzulesen, zum Ausdruck bringt. In früherer Zeit, bei’m Vorlesen von Gedichten, Schauspielen, Erzählungen, war es die natürliche Folge der lebhaften Absicht, die der Vorlesende so gut als der Dichter, der Schauspieler, der Erzählende hat, zu überraschen, Pausen zu machen, Erwartungen zu erregen; da es denn freilich dieser beabsichtigten Wirkung sehr zuwider ist, wenn ihm ein Dritter wissentlich mit den Augen vorspringt. […] Wenn mir jemand in’s Buch sieht, so ist mir immer als wenn ich in zwei Stücke gerissen würde.18

Auch hier kommt es wieder auf die exakte Wortbedeutung an. Der Begriff „vorlesen“ kann sowohl als sprachlicher Akt wie auch als zeitliche Folge verstanden werden. Die Simultaneität des Bildes und die Sukzessivität des Textes werden bis ins Extrem getrieben. Goethe spezifiziert später in dem Aufsatz Bedenken und Ergebung diese Gedanken und folgert, dass eine Zusammenführung dieser Gegensätze nur als Idee Bestand hat: Daher ist in der Idee Simultanes und Successives innigst verbunden, auf dem Standpunct der Erfahrung hingegen immer getrennt, und eine Naturwirkung die wir der Idee gemäß als simultan und successiv zugleich denken sollen, scheint uns in eine Art Wahnsinn zu versetzen.19

Die martialischen Metaphern von den abgeschnittenen Augenlidern beim Betrachten des Mönchs am Meer oder von dem in zwei Stücke gerissenen Leser veranschaulichen jene gewaltigen, zerstörerischen Kräfte, die im Prozess der Wahrnehmung freigesetzt werden. Wie das Sehen als ein eigenständiger Vorgang, so gerät auch der Lese-Akt selbst in das Blickfeld romantischer Literatur. In den Teplitzer Fragmenten räsoniert Novalis über das Verhältnis des Schriftstellers zum Lesen und zieht dabei eine klare Trennlinie zwischen der Autorität des Schriftzeichens und der Freiheit des Lesers: „Der Leser setzt den Accent willkührlich – er  

17 Wolfgang Iser: Der Lesevorgang. In: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. München 1994, S. 253–276. 18 Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandtschaften. In: WA I, 20, S. 45 f. 19 Johann Wolfgang Goethe: Bedenken und Ergebung. In: WA II, 11, S. 57.  







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macht eigentlich aus einem Buche, was er will. […] Es giebt kein allgemeingeltendes Lesen, im gewöhnlichen Sinn. Lesen ist eine freye Operation. Wie und was ich lesen soll, kann mir keiner vorschreiben.“20 Damit benennt Novalis nicht nur die Freiheit der Lektüre gegen jedwede Auflage, er benennt vor allem auch die Unmöglichkeit genauer Vorgaben. Versteht man aber das Verb „vorschreiben“ wie das Vorlesen bei Goethe als eine zeitliche Operation, dann bekommt der Satz eine andere Wendung. Daraus lassen sich weitgehende Folgen für das Textverständnis um 1800 ableiten. Die konkrete Lektüre wird in der ihr eigenen Gesetzmäßigkeit und der gleichzeitigen Vergegenwärtigung der Gesetzmäßigkeit dem reflexiven Nachvollzug zugänglich.21 Die Distanz zwischen dem Bild und seinem Betrachter, auf die Brentano mit Bezug auf Friedrichs Mönch am Meer aufmerksam gemacht hat, findet hier ihre Entsprechung in der Distanz zwischen dem Text und seinem Leser. So wie das Bild nicht mehr nur das Gesehene, sondern das Sehen beschreibt, so offenbart der Text nicht nur das Geschriebene, sondern das Schreiben. Ein mediales Problem offenbart sich im Werk und als Werk selbst. Es wurde bereits auf das prekäre Verhältnis von Bildraum, Bildfläche und Betrachterstandpunkt in den Werken der Künstler um 1800 hingewiesen. Zeitgenössische Romane und Erzählungen reflektieren vielfach die räumliche Konfiguration zwischen dem erzählenden Ich und seiner Außenwelt.22 Das von Schmerzen erfüllte Sehen und die Distanz, die sich in der Beschreibung Brentanos von 1810 „zwischen mir und dem Bilde“ einstellte, finden sich als Denkfigur bereits zehn Jahre zuvor in seinem Roman Godwi. Der Erzähler berichtet über ein „allgemeines Gespräch über das Romantische“: „Alles, was zwischen unserm Auge und einem entfernten zu Sehenden als Mittler steht, uns den entfernten Gegenstand nähert, ihm aber zugleich etwas von dem seinigen mitgiebt, ist romantisch“. Godwi setzt wenig später hinzu: „[…] das Romantische ist also ein Perspectiv oder vielmehr die Farbe des Glases und die Bestimmung des Gegenstandes durch die Form des Glases.“23

20 Novalis: Schriften, Bd. 2: Das philosophische Werk I. Abt. VI: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen, Teplitzer Fragmente. Hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Stuttgart 1960, S. 609. 21 Eine ausführliche Studie zur medialen Reflexion romantischer Texte und zur Verknüpfung von konkreter Textform mit ihrer rezeptiven Wahrnehmung bei: Rita M. Lennartz: Inszenierung der Lektüre. Das Zusammenspiel von Buchgestaltung, Narration und Metaphorik in Brentanos „Godwi“. Paderborn u. a. 2010. 22 Anja Oesterhelt: Perspektive und Totaleindruck. Höhepunkt und Ende der Multiperspektivität in Christoph Martin Wielands „Aristipp“ und Clemens Brentanos „Godwi“. Paderborn 2010. 23 Clemens Brentano: Godwi oder das steinerne Bild der Mutter. Ein verwilderter Roman von Maria. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 16. Hrsg. v. Jürgen Behrens, Wolfgang Frühwald u. Detlev Lüders. Stuttgart u. a. 1978, S. 314.  











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In diesen Passagen artikuliert Brentano bereits die in der Beschreibung des Gemäldes von Friedrich wieder aufgegriffene Idee eines Mittlers zwischen dem Auge und dem entfernten Gegenstand. Dieser Mittler verändert den Gegenstand, indem er „etwas von dem seinigen mitgiebt“. Der Text wird als ein Beleg für die subjektiv gebrochene Wirklichkeit gelesen. Diese räumliche Bedingtheit zwischen dem Auge des Betrachters und dem von ihm betrachteten Gegenstand zieht sich als ein Leitmotiv durch den gesamten Roman. Mit dem ersten Brief wird der Leser bereits in den räumlichen Zwang eingeführt. Hu! es ist hier gar nicht heimisch, ein jeder Federstrich hallt wieder, wenn der Sturm eine Pause macht. Es ist kühl, mein Licht flackert auf einem Leuchter, der aus einem in Silber gefaßten Hirschhorne besteht. In dem Gemache, in dem ich sitze, herrscht eine eigene altfränkische Natur, es ist, als sei ein Stück des funfzehnten Jahrhunderts bey Erbauung des Schlosses Eichenwehen eingemauert worden, und die Welt sey draußen einstweilen weiter gegangen. Alles, was mich umgiebt, mißhandelt mich, und greift so derb zu, wie ein FehdeHandschuh. Die Fenster klirren und rasseln, und der Wind macht ein so sonderbares Geheule durch die Winkel des Hofes, daß ich schon einigemal hinaussah und glaubte, es führen ein halb Dutzend Rüstwagen im Galopp das Burgtor herein. Diesem äußern Sturme hast du meinen Brief zu danken, er stürzt sich zwischen mir und meiner Umgebung wie ein brausender Waldstrom hin, und alle Betrachtungen liegen am jenseitigen Ufer. So muß ich dann meine Zuflucht in mich zurück, in mein Herz nehmen, wo du noch immer in der Stellung der Abschiedsstunde gegen mir über in unserm Garten sitzest und mir gute Lehren giebst. […] Das Blatt Postpapier vor mir und ich, wir sind wohl die leichtesten Wesen in dem ganzen Umkreise, den ich überschielen kann, denn um mich sehen könnte ich um alles in der Welt nicht; von allen Seiten bin ich eingeschlossen, die Ahnherren schließen ein Bataillon carré um mich.24  



Brentanos Text enthält eine Vielzahl von Situationsbeschreibungen, in denen auf engstem Raum die Rezeption sinnlicher Wahrnehmung und Eigenwahrnehmung im Medium des Textes, des Bildes und des „sonderbaren Geheules“ gegeneinander in Stellung gebracht und bis an die Grenzen körperlichen Schmerzes zelebriert werden. Daraus lassen sich neue Erkenntnisse zum Bilddiskurs und zur Textkritik des frühen 19. Jahrhunderts gewinnen. Die wechselseitigen Bezugnahmen auf Text- und Bildwahrnehmungen um 1800 eröffnen der Romantikforschung neue Perspektiven. Rezeptions- und Produktionsverfahren als voneinander abhängige Prozesse lassen den dialogischen Charakter des bildnerischen wie des literarischen Werks in beider komplexen Strukturen und unterschiedlichen Strategien präziser erkennen und darstellen.

24 Ebd. S. 15, 17.  

Michelle Facos

Scandinavian Landscape Painting A Survey of an Uncharted Field Scandinavian Romantic painting has attracted little scholarly attention for a variety of historical and ideological reasons. Surprisingly, in the past 30 years, there has been no scholarly overview of Romantic art in Scandinavia, nor of Romantic developments in the individual Scandinavian countries, and no Scandinavian art historian has ever produced a broader study of Romantic art. In fact, between 1945 and the 1980s, Scandinavian art historians tended to focus on areas that were standard elsewhere – ancient Rome, Renaissance and Baroque Italy, seventeenth-century Holland. Indigenous architecture, particularly medieval church architecture, did attract a steady stream of scholars (generously funded by the Swedish Lutheran Church), but sculpture and painting, with the exception of major figures such as Edvard Munch and developments in the twentieth century, were largely ignored. A decisive reason for this is the peripheral location of Scandinavia and the understandable desire of Scandinavian scholars to be part of the mainstream.1 Since Scandinavian art has, until recently, rarely been included in period surveys of art, foreign scholars have overlooked it as well. The turning point for Scandinavian art came in 1982, when the hugely successful and influential exhibition “Northern Light: Nordic Painting at the Turn of the Century” toured the United States and inspired a similar exhibition in London, generating sufficient interest among collectors to justify both Christie’s and Sotheby’s auction houses holding Scandinavian art sales between 1988 and 1991.2 At that time, a number of Scandinavian art historians, distinguished for their scholarship in other fields, turned to the study of Scandinavian art, but almost exclusively the National Romantic era (1880–1910) popularized by “North 



1 This center-periphery quandary has until recently also inhibited scholarship of art from the Balkans and Central and Eastern Europe. The difficulty before 1990 of arranging extended research stays in ex-Soviet block countries, combined with the relative difficulty of, and the lack of opportunities to learn, Slavic languages, further inhibited the study of art from these areas. 2 “Northern Light” began in Washington, D.C., then toured to Houston, Minneapolis, and New York. In 1984, Roald Nasgaard mounted “The Mystic North: Symbolist Landscape Painting in Northern Europe and North America, 1890–1940” at Toronto’s Art Gallery of Ontario, and in 1986, Volvo funded “Dreams of a summer night: Scandinavian painting at the turn of the century” at London’s Hayward Gallery.

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ern Light”.3 Few scholars to date, however, have ventured further back in time. The only important exception is Danish Biedermeier painting, referred to in Denmark as the ‘Golden Age’, which has attracted significant scholarly attention at home and abroad.4 Although often considered as a single conceptual unit, the Scandinavian countries differ widely from each other, and the differences were even more pronounced during the Romantic period (1750–1850). In 1750, Denmark and Sweden were relatively affluent monarchies, each with its own royal academy of art, formed according to the model established in 1648 in France.5 These academies ensured a high degree of competence, but also required students to conform to strict norms regarding subject matter, composition, and technique. In the Romantic era, Danish culture had strong ties to Germany and Swedish culture to France. But because Denmark had a much wealthier aristocracy than Sweden, art patronage in Denmark was more highly developed. In Sweden, art patronage was virtually non-existent until the end of the nineteenth century, and at that time those who only recently had become wealthy in the first wave of industrialization, notably Pontus Fürstenberg in Göteborg, became the main collectors. Earlier, artists had often traveled to Paris in search of patronage. Thus, despite its sovereignty, Sweden was a poor, undeveloped country in the Romantic era, as were its neighbors, Finland and Norway. In 1750, Norway was governed by Denmark and Finland by Sweden, but by the end of the Napoleonic Wars in 1815, Norway was under Swedish and Finland under Russian rule. As a result of this situation, and the fact that much of Finland, Norway and Sweden were heavily forested lands with populations confined to

3 For instance, Rembrandt scholars Görel Cavalli-Björkman and Björn Fredlund turned to Carl Larsson, while Baroque specialists Hans-Henrik Brummer (Italian Baroque) and Hans-Olof Boström (German Baroque) addressed a wide-range of turn-of-the-century artists. 4 The reigning expert on ‘Danish Golden Age’ art is Kaspar Monrad, who organized the exhibition “The Golden Age of Danish Art” held in 1983 at the Los Angeles County Museum of Art and in 1984 at the National Gallery in London. In 1996 the Hirschprung Collection in Copenhagen exhibited the paintings of the short-lived Wilhelm Bendz (1804–1832) and in 2010, The National Galleries of Scotland organized “Christen Købke: Danish master of light”. There have also been a series of stimulating comparative exhibitions: In 1999, “Baltic Light: early open-air painting in Denmark and Germany” was on show at the National Gallery of Canada in Ottawa and in 2001 an exhibition comparing the centuries-apart golden ages of Denmark and the Netherlands was held at the Rijksmuseum, Amsterdam and the Statens Museum for Kunst in Copenhagen. 5 See Nikolaus Pevsner: Academies of Art Past and Present. New York 1940; Ludvig Looström: Den Svenska konstakademien under första århundradet af hennes tillvaro 1735–1835. Stockholm 1888; Anneli Fuch and Emma Salling (Eds.): Det kongelige Akademi for de Skoenne Kunstner. Copenhagen 2004.

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subsistence farming, opportunities for artists were negligible. Therefore, compared to England, France, and the German states, relatively few paintings were produced by Scandinavian artists during the Romantic era. The Scandinavian art produced prior to 1850 and studied by Scandinavian scholars was primarily created by artists who made their careers abroad, such as Alexander Roslin (1718–1793), an expatriate Swedish Rococo painter who enjoyed success in Paris, and Johan Christian Dahl (1788–1857), a Norwegian student of Caspar David Friedrich (1774–1840) who moved to Dresden in 1818. Dahl is unquestionably the most important Scandinavian Romantic painter. Oslo’s national gallery honored him in 1988 with an exhibition celebrating the bicentennial of his birthday, as did the Neue Pinakothek, München; in 1987 Marie Bang published her three-volume Dahl biography and catalogue raisonné; since then, there have been several books and exhibitions focusing on Dahl.6 Bang’s biography contains numerous details about Dahl’s life but little consideration of Dahl as a Romantic or Dahl as a Norwegian expatriate artist in Biedermeier Dresden. Outside Scandiavia, Dahl scholarship seems to have been hindered by the very long shadow cast by his mentor, Friedrich, with the result that Dahl is often judged a less-original follower. Swedish art historian Torsten Gunnarsson considers the Danish painter Johannes Flintoe (1787–1870) an important predecessor of Dahl because Flintoe visited the Norwegian wilderness earlier, even if Dahl preceded him in painting it.7 Although by 1826 Dahl had painted numerous images of the rugged Norwegian mountain landscape, he visited Norway for the first time in that year. Flintoe, who worked primarily as a theater scenography painter, made the first of his three Norwegian trips in 1819. Flintoe’s landscapes, however, are not particularly Romantic. The canvasses are quite small and the images convey an overwhelming sense of order and balance; in terms of style, they belong more to Neoclassicism and Biedermeier than to Romanticism. Compared with Dahl, whose close connection to Friedrich made him of greater interest to scholars, the important Norwegian Romantic landscape painter Thomas Fearnley (1802–1842) is relatively unfamiliar. The Norwegian museum

6 Marit Lange: Johan Christian Dahl 1788–1857. Oslo 1988; Marit Lange: Johan Christian Dahl 1788–1857: life and works, 3 vol., Oslo 1987. See also Kaspar Monrad: Det danske landskab: de danske malere på J.C. Dahls tid. Rosendal 2009; Wiliam Gelius and Stig Miss (Eds.): J.C. Dahl i Danmark. Copenhagen 2003; Johan Christian Dahl, der Freund Caspar David Friedrichs. Schleswig 2002; Flemming Friborg: Nature piece by piece: J.C. Dahl and the Danish Golden Age. Copenhagen 1999. 7 Torsten Gunnarsson: Nordic Landscape Painting in the Nineteenth Century. New Haven 1998, pp. 87 f.  



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Stiftelsen Modums Blaafarværk (45 kilometers from Oslo) held a Fearnley exhibition in 1986, but otherwise he has been neglected by art historians. In 1829–1830 Fearnley spent 18 months in Dresden, where he met Dahl and Friedrich before going to Munich, where he stayed for the remainder of his career. In his paintings, Fearnley described the Norwegian wilderness in great detail, a trait characteristic of classical landscape painting, but their overall mood and lack of human presence foster contemplation in a manner characteristic of Romanticism. Fearnley specialized in paintings of the mountainous Norwegian landscape at a time when adventure and health tourism were gaining currency and a fascination with pre-industrial civilization arose. Fearnley’s Slindebirken (1839, Nasjonalmuseet, Oslo) recalls Friedrich’s Two Men Contemplating the Moon (1825–1830, Metropolitan Museum of Art, New York), but instead of the close-up view offered by Friedrich, Fearnley takes a few steps back in order to emphasize the expanse of the landscape, dominated by symmetry and calm. The golden tones and distanced viewpoint of Slindebirken create a contemplative and less intense view of nature than in paintings by Friedrich. Sweden’s great Romantic landscape painter Marcus Larson (1825–1864) is also relatively unknown; the only solo exhibition he has had was held in 1997 at Länsmuseet Gävleborg, a provincial museum north of Stockholm, and the catalogue, a meager 22 pages, provides little information about the artist and no interpretation of his works. Larson studied in Stockholm and Copenhagen, as well as in Düsseldorf with Andreas Achenbach (1815–1910). One of Larson’s paintings, Wilderness with Waterfall (present location unknown) was exhibited at the Paris Exposition universelle of 1855 and won a prize. During the last ten years of his life Larson traveled extensively in Scandinavia and as far east as St Petersburg, then heading westward to London, where he died of tuberculosis. If one compares landscapes by Larson and Achenbach such as Larson’s Waterfall in Småland (1856, Nationalmuseum, Stockholm) and Achenbach’s The Old Sawmill Beside the Stream (1857, Museum Schloss Wilhelmshöhe, Kassel), one notices a significant difference between the calm, ordered nature of Achenbach and the stormy, even dangerous drama of Larson. Achenbach’s landscape is on the borderline between classical academic landscape and Naturalism. Its details are carefully described and the viewer can easily imagine that the artist actually viewed such a scene. As in the landscapes of the ‘father’ of classical landscape painting, Nicolas Poussin (1594–1665) such as Burial of Phocion (1648, Metropolitan Museum of Art, New York), Achenbach’s scene is relatively symmetrical, with human activity in the foreground, and a path and river that gently lead the viewer’s gaze towards the background, and are marked by a handling of light and shadow that emphasizes this structure. In Larson’s painting, in contrast, humans play a minor role – their minute size indicates their insignificance. Larson utilized a dramatic contrast  



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between light and dark in order to create an overwrought and threatening mood with a pronounced atmosphere of danger and instability. Fallen trees, large stones strewn about, no bridge, no secure transit over the turbulent river – these elements combine to convey a feeling of danger and fear which is typically Romantic. Although Axel Gauffin wrote a comprehensive biography of Larson in 1906, any interest in this fascinating artist one would have expected it to generate unfortunately did not materialize. Neil Kent’s 1992 book The Soul of the North: a social architectural and cultural history of the Nordic countries, 1740–1940, entirely omits a discussion of Romantic painting. The only works included by Kent that could be considered Romantic are Nicolai Abildgaard’s Wounded Philoctetes (1774, Statens Museum for Kunst, Copenhagen) and Dahl’s Birch Tree in a Storm (1849, Billedgallerie, Bergen) but neither is discussed in any detail. Indeed, the index to Kent’s book does not even contain any variant of the word Romantic, although Rococo and Realism are listed. Gunnarsson, whose career focused on Scandinavian landscape painting, is the only scholar in the past three decades who has conducted significant research on Scandinavian art from the Romantic period. Still, Gunnarsson uses the term ‘Romantic’ primarily in connection with the late nineteenth-century movement National Romanticism. In Nordic Landscape Painting in the Nineteenth Century (Yale, 1998), Gunnarsson makes a number of observations that could have led to fruitful disscussions had they been pursued. For instance, Gunnarsson writes:  

The Romantic desire to redefine the barren and desolate, to see them as possessing an intrinsic value with evident moral overtones, can be regarded as an expression of the ancient contest for cultural superiority between South and North. As a contrast to the refined values of the classical tradition, the culture and nature of the North could now be proclaimed in all its primeval purity.8

Unfortunately, Gunnarsson does not pursue the important and relevant question of Romanticism’s point of departure, but instead refers to the well-known NorthSouth dichotomy described by the Roman historian Tacitus in his seminal and often-cited first century travelogue Germania. Although Gunnarsson avoids discussing the concepts Romantic and Romanticism, he makes several provocative and promising observations, whose implications are left undeveloped. For instance, Gunnarsson notes that while Anders Fredrik Skjöldebrand is nowadays known (at least in scholarly Scandinavian circles) as a politician, he was the first Swedish artist to paint the Swedish wilderness as an independent subject – in 1799. Skjöldebrand made a series of trips to Lapland at the end of the 1790s,  

8 Ibid., p. 3.  

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during which he executed hundreds of highly detailed sketches of this heretofore unexplored part of Scandinavia. These were compiled and published in four volumes (1801–1802).9 Skjöldebrand stated that his motivation was a religious one: he asserted that this area of Sweden had been left untouched by human civilization since its moment of creation, and therefore constituted a rare example of divine creation in its pristine, original form. At the same time, one cannot help being suspicious about whether this was his only motive. As a military officer in state employment he also served a colonialist purpose by researching and surveying the resource-rich Lapland and its native inhabitants, the Saami, entities that came under the control of the Swedish state during the nineteenth century. It is significant with regard to assessing Skjöldebrand’s landscapes in terms of contemporary art norms that he was in fact an amateur artist and worked in watercolor. Not only was watercolor a practical choice of medium, since its pigments dry faster than oil pigments and paper takes less space in luggage than canvases, but also because watercolor was considered a medium for creating studies rather than finished paintings; as a result, they were not judged according to the same strict thematic, technical, and compositional standards governing landscapes painted in oil. Watercolor was well-suited, practically and ideologically, for the documentary travelogue Skjöldebrand created. According to Gunnarsson, the Swedish Romantic landscape tradition began with Elias Martin (1739–1818). Although Martin was primarily a landscape painter, one can hardly consider the majority of his landscapes Romantic. They are generally either topographical-documentary (in the military tradition followed also by Skjöldebrand) or conform to art academy rules governing classical landscape painting. This convention includes dark masses (trees, rocks) framing a central foreground scene of human activity, and a path or stream that gently leads the viewer’s eye towards the background, which is dominated by a misty, blue atmosphere indicating great distance. Skebo Mill (n.d., Nationalmuseum, Stockholm), for instance, is typical of Martin’s academic-classical style, learned first at the Royal Academy of Art in Stockholm and then in the 1760s in Paris under the tutelage of Joseph Vernet (1714–1789). Martin conveyed his enthusiasm for landscape to his students at the Royal Academy of Art in Stockholm, and Carl Johan Fahlcrantz (1774–1861), the so-

9 Voyage Pittoresque au Cap du Nord was published in Stockholm, but in French. This was relatively unusual at the time, and suggests Skjöldebrand’s concern for asserting the erudite nature of his publication, perhaps also with the idea of making the information available to a wider audience. His decision may also have been affected by Napoleon’s seemingly unstoppable military advance at the time, which may well have been envisioned as leading to an eventual French domination of Europe, and French becoming Europe’s lingua franca.

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called father of Swedish landscape painting, was among them. The majority of Fahlcrantz’s landscapes, such as Landscape Near Mora Church (1808, Nationalmuseum, Stockholm), is typically academic in composition, subject, and technique. A small group, however, such as View from Uppsala. Moonlit Landscape (1820, Nationalmuseum, Stockholm), possesses elements associated with Romanticism, such as a full moon, graves, mountains, and the absence of living creatures. Such an evocative, moody image is typically Romantic. Temperamentally too, Fahlcrantz had a rebellious Romantic character: instead of using the travel scholarship he won from the Academy for a trip to Rome or Paris as was customary, he used it to explore Sweden. This choice was greatly admired by the National Romantic generation of artists, which emerged in the late 1880s. For them, as for Fahlcrantz, an artist should paint the landscape (s)he knows best in an manner uncorrupted by foreign influences. Fahlcrantz exerted a crucial influence on the National Romantic generation by conveying to it his enthusiasm for the Swedish landscape.10 Although Gunnarsson describes the painting Storm Brewing Behind a Farmhouse in Zealand (c. 1793, Statens Museum for Kunst, Copenhagen) by Danish painter Jens Juel (1745–1802) as realistic, he also notes that this and similar paintings had a significant influence on younger, Romantic painters such as Dankvart Dreyer (1816–1852), Johan Lundbye (1818–1848), and P.C. Skovgaard (1817–1875).11 One may assume, therefore, that Gunnarsson considers Storm Brewing as Romantic to at least some degree, although he does not explain his judgment. Nor does he explain why these younger artists should be considered Romantic. Under the rubric ‘Romantic’, Gunnarsson distinguishes between Danish landscape painters who focused on the everyday poetry of nature and Swedish and Norwegian landscape painters who evidenced a greater interest in a wild and threatening nature.12 This, of course, was less the result of a conscious decision than of concentrating on depictions of one’s native landscape. The topography of Denmark is flat and possessed few wilderness tracts, while such tracts dominated the terrain of its neighbors to the north, with Norway being extremely mountainous, and Sweden partly so. Pehr Hilleström (1732–1816) is one of Scandinavia’s most interesting eighteenth-century painters, and his sublime genre pictures can be considered protoRomantic. The strong contrast they show between darkness and artificial light conveys feelings of mystery and uncertainty, and the difficult and dangerous 10 For more on Swedish National Romanticism see Michelle Facos: Nationalism and the Nordic Imagination. Swedish Art of the 1890s. New York 1998. 11 Gunnarsson, Nordic Landscape Painting (note 7), p. 7. 12 Ibid., p. 5.  





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conditions for workers represented in Falun Copper Mine (n.d., Nationalmuseum Stockholm) generate feelings of fear. Since 1929, when a dissertation on Hilleström was completed at Uppsala University, Hilleström has virtually vanished from the sight of art historians. The dissertation by Sixten Rönnow is titled Pehr Hilleström and his Quarry and Mine Paintings: an Art Historical Contribution to an Understanding of the Iconography of Labor Paintings (Pehr Hilleström och hans bruks- och bergverksmålningar: ett konsthistoriskt bidrag till kännedomen om arbetsbildens ikonografi), a theme about work that was particularly relevant in the Sweden of the 1920s. At that time the Social Democratic Party established its political hegemony. It is entirely logical, in retrospect, that interest in Hilleström emerged again in the 1970s, a decade of union activity and social unrest in Sweden; the Nationalmuseum in Stockholm held a retrospective of Hilleström’s work in 1979. Despite the fact that Hilleström was King Gustav III’s favorite painter and the Director of the Royal Academy of Art, he is today all but forgotten. An important exception to the general dearth of scholarship on Romantic painting in Scandinavia is Danish Golden Age (Danske Guldalders) art. This prominent and highly successful trend dominated the period 1820–1850. Much has been written about it, particularly since the ‘rediscovery’ of Scandinavian art in the 1980s. But there is of course the question to what extent Golden Age art can be considered Romantic. On the one hand, it was a logical development from Neoclassical private commissions: paintings are relatively small, the compositions symmetrical, and feelings of order and harmony govern. Similar too is the predominance in the Golden Age painting of themes relating to national history and, occasionally, antiquity. At the same time, Golden Age paintings depict unproblematic situations and do not try to provide models of virtuous behavior, as was often the case in Neoclassicism. Imaginative or disturbing subjects, although the hallmark of Romantic painting, are almost entirely absent from Golden Age paintings. The popularity of everyday (genre) scenes is, generally speaking, more common in Golden Age than in Romantic painting. Even when subjects are similar, the emotional tenor is generally quite different. If one compares Corvette ‘Galathea’ in a Storm in the North Sea (1839, Statens Museum for Kunst, Copenhagen) by the Golden Age master Christoffer Eckersberg, with the Romantic Raft of the Medusa (1818–1819, Louvre, Paris) by Théodore Géricault, it is clear from both the scale and the subject that Eckersberg’s painting is not Romantic. But what happens when one compares View from the Roman Campagna (1835, Göteborgs Konstmuseum) by Danish Golden Age painter Martinus Rørbye (1803–1848) with Friedrich’s Wanderer Above the Sea of Fog (1818, Kunsthalle, Hamburg)? Thus, with the exception of Danish Golden Age art, there has been little research to date on Scandinavian painting of the Romantic era, either in Scandi-

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navia or abroad. Indeed, during the last three decades there have been only five exhibitions or monographs dedicated to Scandinavian artists from the Romantic period. It is perhaps time to finally begin exploring the rich field of Scandinavian Romantic painting.

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Romantik und Historie Aspekte des Geschichtlichen in der Musik Von musikalischer Romantik zu sprechen ist, wie es scheint, in den letzten Jahren in Verruf geraten.1 Haben sich Epochennamen generell als unzuverlässig erwiesen, so gilt das auch für die Romantik. Auch wenn, von E. T. A. Hoffmann im frühen 19. Jahrhundert2 bis zu Walter Niemann3 im frühen 20. Jahrhundert, immer wieder von Romantik bzw. Spät- oder Neuromantik die Rede ist, fällt es nicht leicht, so disparate musikalische Phänomene wie Schumanns Klavierstücke, Mendelssohns Oratorien, Wagners Musikdramen, Liszts Orgelwerke oder Brahms’ Kammermusik als Zeugnisse eines gemeinsamen romantischen Zeitgeistes auszumachen. Schaute man – was im Folgenden allerdings ausgespart bleiben muss – auch noch auf die außerdeutsche Musik, würden die Schwierigkeiten kaum geringer. Schon immer strittig waren die Grenzen der romantischen Epoche. Weil man hierzulande schon im 19. Jahrhundert Komponisten wie Haydn, Mozart und Beethoven zu Zentralgestirnen einer musikalischen Klassik erhob,4 konnte das Zeitalter der Romantik erst danach, also im zweiten oder dritten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, beginnen – auch wenn somit Komponisten wie Carl Maria von Weber oder Franz Schubert, deren Zugehörigkeit zur musikalischen Romantik nie bezweifelt wurde, schon tot waren, als die Epoche recht eigentlich begann. Beendet wurde die Romantik, jedenfalls nach einem Vorschlag von Carl Dahlhaus, Ende der 1880er Jahre mit den ersten Hauptwerken von Komponisten wie  



















1 Im einschlägigen Neuen Handbuch der Musikwissenschaft (Carl Dahlhaus/Hermann Danuser [Hrsg.], 31 Bde. Laaber 1980–1995) wird vom 15. Jahrhundert an lediglich nach Jahrhunderten gezählt; Epochenbegriffe fehlen. Auch Richard Taruskin hat den entsprechenden Band der Reihe The New Oxford History of Western Music mit Music in the Nineteenth Century (Oxford 2011) betitelt. Anders verhält es sich offenbar mit der literarischen Romantik, die als Epoche mit spezifischen Merkmalen unstrittig zu sein scheint. Vgl. etwa Helmut Schanze (Hrsg.): Literarische Romantik. Stuttgart 2008. 2 Es dürfte genügen, an Hoffmanns Rezension von Beethovens Fünfter Symphonie zu erinnern: E. T. A. Hoffmann: Schriften zur Musik. Aufsätze und Rezensionen. Hrsg. v. Friedrich Schnapp. München 1977, S. 34–51, hier vor allem S. 34–37. 3 Walter Niemann: Die Musik der Gegenwart und der letzten Vergangenheit bis zu den Romantikern, Klassizisten und Neudeutschen. Stuttgart, Berlin 1820/1922. Die 1. Auflage erschien 1913. 4 Ludwig Finscher: Zum Begriff der Klassik in der Musik. In: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft 11 (1966), S. 9–34.  















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Gustav Mahler und Richard Strauss, die eine Epoche der musikalischen Moderne konstituierten, der dann, mit den radikalen Veränderungen Schönbergs und seiner Schule, die Neue Musik folgte.5 Doch mahnt ein näherer Blick auf die Vertreter sowohl der Moderne wie der Neuen Musik zur Vorsicht; die Einbindung aller genannten Komponisten (eine Person wie Max Reger wäre zu ergänzen) in das „lange“ 19. Jahrhundert ist nicht zu übersehen,6 und ob die Veränderungen, die sie in ihren Werken realisierten, es immer rechtfertigen, gleich von neuen Epochen zu sprechen, steht keineswegs fest. Ich habe nicht vor, in diesem Text Epochengrenzen oder -namen zu diskutieren. Vielmehr möchte ich auf Kontinuitäten hinweisen, die bei einer näheren Betrachtung des Umgangs mit der Geschichte in der Musik dieses langen 19. Jahrhunderts zum Vorschein kommen, Kontinuitäten, deren Ursprung allerdings schon im 18. Jahrhundert zu suchen sind, dort nämlich, wo nach allgemeinem Verständnis die Neuzeit oder, emphatischer formuliert, die Moderne im Sinne einer durch die Aufklärung vorbereiteten Epoche der Individualität, des Fortschritts, der Reflexivität, einer neuen Zeiterfahrung und damit, nicht zuletzt, eines neuen Umgangs mit der Geschichte ihren Ausgang nimmt.7 Die Vorstellung, schon um etwa 1770 habe auch in der Musik eine Moderne begonnen, ist zwar nicht mehr ganz neu (wie Tobias Janz gezeigt hat8), hat sich aber noch keineswegs überall im Fach durchgesetzt. Hier war vielmehr seit dem 2. Weltkrieg die musikalische Moderne durch die Schönberg-Schule besetzt, die zumal in Deutschland als Repräsentantin der Musikgeschichte ihrer Zeit in einem Maße verabsolutiert wurde, das andere Moderne-Konzepte kaum oder nur in reduzierter Form an die Oberfläche dringen ließ.9 Als Vorläufer dieser Moderne  







5 Carl Dahlhaus: Die Musik des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden, Laaber 1980, vor allem S. 277 ff. 6 Hinsichtlich Gustav Mahler, der zu den ‚Modernen‘ zählt, wäre zu verweisen auf Walter Werbeck: Mahlers kompositorische Herkunft: Das lange 19. Jahrhundert und die Kontinuität der Romantik. In: Bernd Sponheuer u. Wolfram Steinbeck (Hrsg.): Mahler Handbuch. Stuttgart 2010, S. 76–90. Und bei einem Komponisten wie Schönberg hat Willi Reich die rückwärtsgewandte Haltung mit dem Titel seiner Monographie Arnold Schönberg oder Der konservative Revolutionär (München 1974; erste Ausgabe Wien u. a. 1968) unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. 7 Vgl. Harald Tausch (Hrsg.): Historismus und Moderne. Würzburg 1996, darin vor allem die Einleitung (S. 7–18), sowie, für den Bereich der Musik: Tobias Janz: Musikhistoriographie und Moderne. In: Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft 24 (2009), S. 312–330. 8 Ebd. (Janz: Musikhistoriographie und Moderne). 9 Vgl. etwa noch die Konzeption von: Hermann Danuser: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Laaber 1984. Zwar möchte der Verfasser, wie es in der Einleitung heißt (S. 1), keineswegs „die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts von einem verabsolutierten Standpunkt der Avantgarde aus“ schreiben. Gleichwohl steht für ihn fest, die Musik dieses Jahrhunderts sei „zu einem substantiellen Teil Historie der Neuen Musik“, und diese „Neue Musik“ – „von den ‚Revolutionen‘ Schön 

















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und von ihr durch eine geschichtliche Zäsur getrennt, rückte auch die Musik des 19. Jahrhunderts in den Fokus musikhistorischer Forschung. Freilich dominierte, jedenfalls hierzulande, ein nicht selten durchaus selektiver Zugriff. Die Bedeutung der romantischen Musik des 19. Jahrhunderts ebenso wie der wachsende Einfluss alter Stile, Formen und Gattungen auf die Musik und Musikkultur der Zeit lagen für die ältere Musikhistoriographie nicht zuletzt in der Funktion einer Etappe, und zwar entweder auf dem Weg zur Moderne nach 1900 oder zu einem allumfassenden Historismus nach 1950. Dass die Einbindung der Geschichte selbst schon Zeichen einer Modernität der Musik war, die längst begonnen hatte, konnte daher lange nicht in den Blick geraten. Den Beginn einer so verstandenen musikalischen Moderne markieren die Auftritte von Komponisten – stellvertretend wären die Namen Haydn, Mozart und Beethoven zu nennen –, die sich vor allem in ihren Instrumentalwerken über bislang gültige strukturelle wie soziologische Normen in bislang nicht gekannter Art und Weise hinwegsetzen. Resultat ist eine Musik, die nicht mehr in Funktionen aufgeht, sondern die zum Gegenstand ästhetischer Betrachtungen werden konnte, kurz: die, als schöne Kunst sui generis, zu denken aufgibt. Selbst Produkt umfassender Reflexivität, zwingt sie auch ihre Hörer zur Reflexion. Und dass sich das Publikum dieser Aufgabe stellte, statt eine Musik derartiger Komplexion zu ignorieren und sich auf leichtere Ware zu konzentrieren, ist neu. Hier hatten Aufklärung und Genieästhetik vorgearbeitet. Zum ästhetischen Ideal dieser Moderne avanciert die Dialektik von Einheit und Mannigfaltigkeit. Man kann sie strukturell verstehen, wie es die Verfasser der Kompositionslehren tun: Einheit verbürgt entweder der Text oder, in der Instrumentalmusik, ein als solches erkennbares Thema, das auf mannigfache Weise melodisch, harmonisch, rhythmisch oder gegebenenfalls auch klanglich eingekleidet werden kann. Man kann dieses Postulat aber, mit Heinz Schlaffer, auch allgemeiner fassen und davon sprechen, dass in den modernen Kunstprodukten des 18. Jahrhunderts im Geiste Herders und Winckelmanns einer ästhetischen Einheit die historische Vielfalt gegenüber tritt.10 Unmittelbar deutlich wird das schon bei Haydn, wenn er beispielsweise in den Finalsätzen früher Streichquartette mit komplizierten Fugen experimentierte und damit die Gattung konsequent von ihrer ursprünglichen Funktion eines Divertimentos, einer musikalischen Zerstreuung also, entfernte. In dem schließlich gefundenen Stil sind historische Polyphonie und zeitgemäße Homophonie auf eine Weise  



bergs und Stravinskijs um 1910 bis zur seriellen und postseriellen Avantgarde“ – bildet denn auch unübersehbar den roten Faden der Darstellung. 10 Hannelore Schlaffer u. Heinz Schlaffer: Studien zum ästhetischen Historismus. Frankfurt a. M. 1975, darin die Einleitung, S. 7–11.  





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verschmolzen, die man später als klassisch rühmte.11 Sie findet sich aber nicht nur in der Kammermusik, die schon immer eine bevorzugte Sache der Kenner gewesen war, sondern sie dringt auch in andere Gattungen ein: in die monologische Klaviersonate ebenso wie in die öffentliche Sinfonie, ja sogar ins eigentlich ganz der Unterhaltung dienende Musiktheater, wie Mozarts Zauberflöte mit der Integration von Fuge (in der Ouvertüre) und barocker Choralbearbeitung (der Gesang der „Geharnischten Männer“ im 2. Finale) eindrucksvoll belegt. Die musikalische Geschichte, mit der hier gearbeitet wird, war einerseits, als Teil der Kompositionslehre, immer auch unreflektierte Gegenwart, stellte aber zugleich auch etwas Vergangenes dar, kodifiziert in satztechnischen, rational aufbereiteten Kompendien. Und weil Gattungen wie die Solosonate, das Streichquartett oder die Konzertsinfonie noch keine ausgeprägten Traditionen besaßen, den Komponisten also Freiräume für Experimente boten, kann von einem Traditionsbruch kaum schon die Rede sein. Dennoch ist es bemerkenswert, mit welcher Konsequenz Komponisten wie Haydn und Mozart bereits ihre Musik mit alten Techniken ausstatteten – und damit einen Prozess in Gang setzen, wie er sich wirkmächtiger kaum denken ließ.12 Der moderne Stil jedenfalls, den sie inaugurierten, schloss von Anfang an den freien Umgang mit Elementen der Geschichte ein. So entstand eine Tonkunst, der man die ästhetischen Qualitäten des Originalen, des Unnachahmlichen verlieh, deren Kunstgrad jegliche ältere, an die Orte von Kammer, Kirche und Theater gebundene Funktionalität verblassen ließ13 und deren Komplexion nicht abschreckte, sondern zu wiederholtem Hören zwang, einem Hören, das dafür mit nachgerade religiösen Erfahrungen belohnte.14 Eine solche Kunst bildete erstmals einen Kanon, dessen ästhetische, kompositionstechnische und institutionelle Konsequenzen für alle folgenden Zeiten verbindlich blieben. Zu diesen Konsequenzen aber zählte auch das Verhältnis zur Geschichte. Beethovens Bach-Erlebnis, seine produktive Anverwandlung älterer Gestaltungs 



11 Vgl. Ludwig Finscher: Studien zur Geschichte des Streichquartetts 1: Die Entstehung des klassischen Streichquartetts. Von den Vorformen zur Grundlegung durch Joseph Haydn. Kassel u. a. 1974, S. 218–237 (zu Haydns op. 20) sowie S. 238–275 (zum „klassischen Streichquartett“ in op. 33). 12 Zu Haydn vgl. ebd., zu Mozart etwa: Silke Leopold: Händels Geist in Mozarts Händen. In: Mozart-Jahrbuch (1994), S. 89–111. 13 Vgl. dazu Dörte Schmidt: Kammermusik mit Bläsern und der Umbau des Gattungssystems. In: Sven Hiemke (Hrsg.): Beethoven Handbuch. Kassel u. a. 2009, S. 496–545, hier S. 500–508. 14 Zu den sakralen Konnotationen von Musik schon um 1800 vgl. Wilhelm Seidel: Absolute Musik und Kunstreligion um 1800. In: Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Musik und Religion. Laaber 1995, S. 89–114.  



















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prinzipien in den späten Klaviersonaten oder Streichquartetten15 setzte sich in vergleichbaren Erfahrungen späterer Komponisten fort, gleich ob sie an Bach oder an noch ältere Vorbilder wie Palestrina anknüpften. Das Bewusstsein von der Geschichtlichkeit der Musik macht das Alte nicht obsolet, es wird vielmehr zur aktuellen Verfügungsmasse des Komponisten. Geschichte und Gegenwart bedingen einander. Fortan stand dem freien, reflexiv schaffenden Künstler,16 wie Hegel in seiner Ästhetik formulierte, jeder Stoff zu Dienste,17 und dazu gehörten auch die älteren Kunstformen. Die Geburtsstunde derart historischen Komponierens aber schlug bei den musikalischen Klassikern – eben Haydn, Mozart und Beethoven –, die man angesichts der von ihnen ausgehenden Konsequenzen auch als die ersten Romantiker apostrophieren könnte.18 Alle weiteren Aspekte des Geschichtlichen, die für die Musik der deutschen Romantik angeführt werden können, beruhen wesentlich auf den Standards, für die die vorangegangenen Klassiker gesorgt hatten. Entschieden hatten sie eine ganz neue Musik vorangetrieben, die weit über die üblichen Kriterien von Angemessenheit und Funktionalität hinausgingen. Von einer weiteren Entmachtung tradierter Werte in ihrem Gefolge konnte allerdings keine Rede sein. Denn weil diese Komponisten die Musik als Tonkunst recht eigentlich etabliert hatten, wurde ihr Werk bald schon kanonisiert und in den Rang einer Klassik erhoben, mit der die Musik das nachholte, was ihr an antiker Klassik fehlte, und dies mit dem Vorteil, dass über die Mustergültigkeit, die Vorbildlichkeit dieser so aktuellen musikalischen Klassik zumal für die Komposition von Instrumentalmusik keinerlei Zweifel herrschte. Als Vorbild aber taugte diese Musik auch in ihrem Zugriff auf die Geschichte, und das um so eher, je mehr sie selbst im zeitlichen  



15 Martin Zenck: Die Bach-Rezeption des späten Beethoven. Zum Verhältnis von Musikhistoriographie und Rezeptionsgeschichtsschreibung der ,Klassik‘ (=Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 24). Stuttgart 1986. 16 Wie ihn Beethoven exemplarisch und mit weitreichenden Konsequenzen repräsentierte. Martin Geck sprach jüngst in diesem Sinne „von der immensen Bewusstheit des Künstlers Beethoven“. Vgl. Martin Geck: Beethoven und seine Welt. In: Sven Hiemke (Hrsg.): Beethoven Handbuch (wie Anm. 13), S. 2–55, hier S. 3. 17 Das Hegel-Zitat und weitere grundlegende Ausführungen zum musikalischen Historismus bei: Carl Dahlhaus u. Friedhelm Krummacher: Artikel ‚Historismus‘. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 4. Hrsg. v. Ludwig Finscher. 2. neubearb. Aufl., Kassel u. a. 1996, Sp. 335–352, hier speziell Sp. 347. 18 Nicht von ungefähr lassen Carl Dahlhaus und Norbert Miller ihre zweibändige Darstellung Europäische Romantik in der Musik (Stuttgart 1999 und 2007) bereits 1770 beginnen und sprechen, wie schon Friedrich Blume (Artikel ‚Klassik‘. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 7. Hrsg. v. Friedrich Blume. Kassel u. a. 1958, Sp. 1027–1090, hier Sp. 1031), von einer „klassischromantischen Stilepoche“ der Musik.  





















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Abstand zur Historie zählte. Darin liegt ein gewichtiger Unterschied zwischen dem musikalischen Denken des frühen 19. und des späten 18. Jahrhunderts. Zur gloriosen Vergangenheit der Klassiker fühlte man sich um so mehr hingezogen, je stärker die Gegenwart als Krise erschien: als Krise angesichts politischer Restauration mit ihren Repressalien, als geistige Krise, ausgelöst durch die negativen Folgen der Aufklärung, hinter die sich manche zurücksehnten, aber auch als Krise des Komponierens nach Beethoven, in der viele Musiker sich zu befinden wähnten. Wollte man die Forderung nach Originalität, nach Unnachahmlichkeit, wie sie gerade Beethovens Werken eignete, durch neue Mittel erfüllen, schien man an Grenzen zu stoßen, die Beethovens weitgespanntes, in bislang unerhörtes Terrain vorstoßendes Werk gezogen hatte. Daher lag es um so näher, zu diesem Zweck Anleihen bei der Geschichte zu machen. Weil das auch schon die Vorbilder getan hatten, und weil grundsätzlich alte Techniken in Werken von Rang als selbstverständlich akzeptiert waren, wurden die historischen Farben nun stärker aufgetragen. Und es sind nicht nur die einfältigen Komponisten, denen Robert Schumann zur Beachtung alter Musik mit dem Hinweis rät, „der Rückschritt wäre vielleicht ein Vorschritt“.19 Auch er selbst veröffentlichte altmodische Klavierfugen,20 und andere taten es ihm nach; an die Orgelmusik etwa von Mendelssohn wäre zu erinnern, vor allem aber an die geradezu erstaunliche Karriere der unbegleiteten a-cappella-Vokalmusik. Die Alten, an denen man sich orientierte, hatte man gefunden auf der Suche nach Meistern der Geschichte, die als Vorbilder taugten, ohne das inzwischen erreichte strukturelle wie ästhetische Niveau zu gefährden. Zu den Klassikern traten die sogenannten „Altklassiker“: Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel sowie Palestrina, der Schöpfer einer wahren Kirchenmusik: unbegleitet, rein vokal, und aus Folgen feierlicher, getragener Harmonien bestehend.21 Dagegen avancierte Bach zum Großmeister des instrumentalen Kontrapunkts, vor allem in Gestalt der Fuge wie der Bearbeitung protestantischer Kirchenchoräle, während Händel, teils zusammen mit Bach, als Klassiker des Oratoriums galt. Fugen, Orgelwerke, Choräle bzw. Choralbearbeitungen ebenso wie a-cappellaChormusik und viele Oratorien, die im 19. Jahrhundert entstanden, lassen sich in der Regel recht zwanglos mit diesen Altklassikern in Verbindung bringen.  

19 Robert Schumann: Rückblick auf das Leipziger Musikleben im Winter 1837–1838. In: Ders.: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Bd. 2. Hrsg. v. Heinrich Simon. Leipzig 1889, S. 165–171, hier S. 168. 20 Zum Beispiel: Sechs Fugen über den Namen BACH, op. 60, Vier Fugen, op. 72, oder die Sieben Klavierstücke in Fughettenform, op. 126. 21 Noch immer ein Klassiker: E. T. A. Hoffmann: Alte und neue Kirchenmusik. In: Ders.: Schriften zur Musik (wie Anm. 2), S. 209–235.  





















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Mit der Historisierung der Musik wuchs ihre Stilisierung zu einer Gegenwelt, einem noch unberührten Paradies im Kontrast zur sich immer schneller drehenden realen Welt: ein Topos, auf den im Fin de Siècle noch Komponisten wie Gustav Mahler22 und Hans Pfitzner zurückgreifen sollten. Doch lässt sich die steigende Anzahl von Werken mit historischen Farben keineswegs allein als Symptom einer Krise verstehen. Mit solchen Produktionen reagieren die Musiker auch auf einen wachsenden Markt, der derartige Werke verlangte, weil sie durch zahllose Formate vor allem bürgerlichen Musizierens nachgefragt wurden. Allerdings darf man die Attraktivität alter Musik, soweit sie mehr sein wollte als bloße Stilkopie oder Übung, nicht überschätzen. In der repräsentativsten Form öffentlicher Musikpflege, dem großen Konzert, spielte sie keine wesentliche Rolle; hier bildeten im wesentlichen Haydn, Mozart und vor allem Beethoven die Schicht des Alten, ergänzt durch die zeitgenössische Produktion in Gestalt regelmäßig wechselnder Novitäten. Deren Geltungsdauer war begrenzt, gleich, ob die Komponisten mehr oder weniger auf historisches Material zurückgriffen.23 Historisch gefärbte Musik etablierte sich also in verschiedenen Ausprägungen: als bloße Studie oder als Werk mit mehr oder weniger deutlich aufgetragener Patina. Davon unberührt bleiben die inzwischen zur Normalsprache geronnenen Instrumentalformen mit ihren wechselnden Anteilen alter Schreibarten. Auch die Funktionen des Alten differieren, sie reichen von der Bewältigung einer kompositorischen Krise über die romantische Sehnsucht nach einem vergangenen Paradies bis zur Befriedigung eines Marktes. Strukturelle, ästhetische und ökonomische Motive überlagern sich. Und im sogenannten „Historischen Konzert“ treffen Geschichte und Gegenwart aufeinander: Das Alte ist zugleich das Veraltete wie das Aktuelle, und gerade aus dieser Dialektik bezieht es einen guten Teil seines ästhetischen Reizes.24 Gelegentlich ist versucht worden, das Alte vor allem auf dem Gebiet der geistlichen Musik zu verorten und ihr die moderne Symphonie als zeitgenössische Hochkunst gegenüberzustellen. Gewiss bestehen hier graduelle Differenzen; weil die Kirchenmusik selbst von Haydn, Mozart und Beethoven nie den Status ihrer Instrumentalmusik erlangt hatte, erwies sich die Suche nach älteren Mustern als

22 Vgl. etwa Constantin Floros: Gustav Mahler 1: Die geistige Welt Gustav Mahlers in systematischer Darstellung. 2. Aufl., Wiesbaden 1987, hier vor allem Kapitel 4: „Ästhetik“, S. 135–183. 23 Dazu vgl. Rebecca Grotjahn: Die Sinfonie im deutschen Kulturgebiet 1850 bis 1875 (=Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert, 7). Sinzig 1998. 24 Vgl. Dahlhaus u. Krummacher: Historismus (wie Anm. 17), Sp. 340 f.; Monika Lichtenfeld: Zur Geschichte, Idee und Ästhetik des historischen Konzerts. In: Walter Wiora (Hrsg.): Die Ausbreitung des Historismus über die Musik. Aufsätze und Diskussionen (=Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 14). Regensburg 1969, S. 41–51.  

















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unvermeidlich. Doch angesichts der Randständigkeit vor allem liturgischer Musik hieße es die Bedeutung der Historie für die Musikkultur zu unterschätzen, wollte man sie allein auf diesen Sektor abschieben. Auch die nicht-geistliche Musik, zumal die Instrumentalmusik, war, und das in wachsendem Maße, historisch gefärbt – was die Trennung in einen Kanon und in musikalische Verbrauchsware nicht hinderte. Die Konzertrepertoires spiegeln in aller Deutlichkeit das offenbar problemlose Nebeneinander von unvergänglicher Klassizität bzw. gelegentlich auch Altklassizität einerseits und einer Tagesproduktion, die der Geschichte und damit dem raschen Verfall anheimgegeben war: eine Konstellation, die wiederholt als das zentrale Problem eines musikalischen Historismus bezeichnet worden ist und die bis heute fortwirkt. Dieses Nebeneinander von Klassizität und Geschichtlichkeit ist immer wieder als eine polare Spannung interpretiert worden. Auf der einen Seite stand die Überzeugung von der Existenz einer Natur der Musik – sei es ästhetisch, etwa als Ausprägung eines spezifischen Kunstschönen oder, zumal angesichts des hohen Rangs der Instrumentalmusik, als Sprache des Unsagbaren, Unbegrifflichen, jenseits aller Wortsprache, sei es in den materialen Voraussetzungen, den Tönen und ihrer Verbindung durch Melodie, Harmonie und Rhythmus. Auf der anderen Seite ist die Überzeugung von der Geschichtlichkeit allen Seins und damit auch aller Kunst anzusiedeln. Dieselbe Polarität eignet der von der Rezeptionsgeschichte pointierten Differenz zwischen Genesis und Geltung von Kunstwerken. Die Genese sei eine Angelegenheit der Geschichte, die Geltung dagegen sei der Geschichte enthoben. Doch schließt die Entscheidung, die Historizität der Entstehung eines Kunstwerks zu akzeptieren, keineswegs die Überzeugung von der Geschichtlichkeit aller Kunst ebenso wie aller Formen der Kunstbetrachtung und Kunstwirkung ein. Auch die Geltung von Werken unterlag, wie die Geschichte lehrt, durchaus der Mode bzw. der persönlichen Einschätzung. Anders die skizzierten Elemente einer musikalischen Natur: Über sie war man sich auch dann einig, wenn man sich gelegentlich über den Umgang mit ihnen stritt. Einen Historismus allein als Relativismus hat auch die musikalische Romantik nicht gekannt. Das gehört zu ihren Konstanten, die sich bis heute gehalten haben. Es fiel deshalb der Musikhistorik des 19. Jahrhunderts nicht schwer, den Glauben an unwandelbare Prinzipien einerseits mit einer zunehmend differenzierten historischen Forschung andererseits zu vereinbaren. Dabei sahen auch Ambros, Winterfeld, Spitta oder Riemann in der Geschichte nicht nur die Klassiker, sondern auch unterschiedliche musikalische Altklassiker am Werke.25 Deren  



25 Dazu allgemein: Bernhard Meier: Zur Musikhistoriographie des 19. Jahrhunderts. In: Wiora (Hrsg.): Die Ausbreitung des Historismus über die Musik (wie Anm. 24), S. 169–206. Zu Spitta vgl.  



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Verehrung gegenüber stand etwa die Überzeugung, strukturell habe sich die Musik in ihren horizontalen und vertikalen Ordnungen ebenso wie in den Ausprägungen formaler Prinzipien im Laufe ihrer Geschichte immer weiter, teils sogar über die Klassiker hinaus, vervollkommnet; ältere Organisationsformen, so genau sie etwa Hugo Riemann zu beschreiben wusste, seien in neueren gewissermaßen aufgehoben. Die Vorstellung von der „Aufhebung“ historischer Entwicklungsstufen der Musik in aktuellen Kompositionen signalisiert den Einfluss der Hegelschen Philosophie auch auf die Musikhistorik.26 Dass Hegels Bedeutung für das Denken von Geschichte als eines prozessualen und teleologischen Geschehens kaum überschätzt werden kann, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Dieses Denken aber prägte auch die Musik der Zeit. Komposition und Rezeption ambitionierter Werke, auch das Denken über Musik waren nach Hegel anders als vor ihm. Die für Hegel so charakteristische Verknüpfung von System- und Geschichtsphilosophie kam zunächst der Musikhistorie entgegen. Denn hier waren schon in Darstellungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, etwa aus der Feder von Johann Nikolaus Forkel oder Raphael Georg Kiesewetter, Kategorien von Entwicklung und Fortschritt mit der Überzeugung von einer Vernunft verbunden, die im Laufe der Musikhistorie immer stärker zu sich selbst komme. Hier sowie an Hegel knüpfte August Wilhelm Ambros an, wenn er in der Musikhistorie einen „Kunstgeist“27 walten sah, welcher der Geschichte Sinn gab – freilich wird aus Ambros’ Lobpreis der Vokalkompositionen frankoflämischer Meister des 15. und frühen 16. Jahrhunderts als nie mehr übertroffener Gipfelpunkte einer musikalischen Renaissance deutlich, dass der musikalische Kunstgeist keineswegs erst in der Jetztzeit ganz zu sich gefunden hatte. Einer konsequenten Übertragung der Hegelschen Geschichtskonstruktion auf die Musikhistorik standen die hier bevorzugten Phasen wechselnder Klassizitäten im Wege. Dennoch drang das Fortschrittsdenken auch in die romantische Musik ein, wurde vermutlich sogar maßgeblich für die Konstituierung einer romantischen  



Wolfgang Sandberger: Das Bach-Bild Philipp Spittas. Ein Beitrag zur Geschichte der Bach-Rezeption im 19. Jahrhundert (=Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft, 39). Stuttgart 1997; zu Riemann vgl. Wilhelm Seidel: Ältere und neuere Musik: Über Hugo Riemanns Bild der Musikgeschichte. In: Giselher Schubert (Hrsg.): Alte Musik im 20. Jahrhundert. Wandlungen und Formen ihrer Rezeption (=Frankfurter Studien. Veröffentlichungen des Paul-Hindemith-Institutes, Bd. 5). Mainz 1995, S. 30–38. 26 Dazu Adolf Nowak: Hegels Musikästhetik (=Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 25). Regensburg 1971. 27 Dahlhaus u. Krummacher, Historismus (wie Anm. 17), Sp. 339 f.  











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Epoche der Musik.28 Als fortschrittlich, verglichen mit den Klassikern, gebärdeten sich seit der Jahrhundertmitte vor allem die Komponisten einer als „neudeutsch“ apostrophierten Gruppe, an erster Stelle Franz Liszt und Richard Wagner. Sie stilisierten sich zu einer musikalischen Avantgarde, und sie begründeten dies nicht etwa primär materiell – mit einer von ihnen erweiterten musikalischen Sprache –, sondern historisch, mit dem Verweis auf die Geschichte der Künste im allgemeinen und der Tonkunst im besonderen. Hier sahen sie jeweils einen Logos am Werk, der zu spezifischen, durch die Geschichte diktierten Konsequenzen für das Komponieren zwang.29 Liszt und Wagner zielten, wenn auch mit verschiedenen Argumenten und durchaus ungleichen Konsequenzen, auf eine Verbindung der Künste, und beide griffen, weil sie um die durchaus revolutionären Konsequenzen ihres Tuns wussten, weit in die Geschichte zurück, um ihre Konzeptionen zu legitimieren.30 Geschichte war beiden kein Fluchtpunkt romantischer Sehnsucht, keine Retrospektive in restaurativer Absicht. Vielmehr wies allein sie den Weg nach vorn, hinaus aus Krisen, in die eine nur noch zurückblickende Musikkultur geführt hatte, gefangen in von den Klassikern wie Altklassikern abstrahierten Normen und Regeln und deshalb unfähig zu wirklicher Innovation. Kein Wunder, dass diese Konzepte auf erbitterten Widerstand der Konservativen stießen. Beide Parteien argumentierten historisch, und beide griffen, wie ihre politischen Verwandten, auf die Geschichte zurück: die einen, weil sie hier die großen nachahmenswerten Muster sahen, welche die richtigen Wege, auf denen weiterhin zu gehen war, bereits gebahnt hatten, die anderen, weil sie davon überzeugt waren, selbst erst den richtigen Weg der Geschichte entnommen zu haben. Man könnte durchaus von einer neuen Aufklärung sprechen, auch die Parallele zur älteren Querelle des anciens et des modernes liegt nahe. Denn die Fortschrittler stritten gegen einen Klassizismus, demzufolge die Götter Haydn, Mozart  



28 Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit. Laaber 1982, vor allem Teil 1: „Musikkritik und künstlerisches Bewußtsein“, S. 64–115. 29 Dazu Robert Determann: Begriff und Ästhetik der ,Neudeutschen Schule‘. Ein Beitrag zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts (=Sammlung musikwissenschaftlicher Abhandlungen, 81). Baden-Baden 1989. Zusammenfassend auch Detlef Altenburg: Artikel ‚Neudeutsche Schule‘. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sachteil, Bd. 7. Hrsg. v. Ludwig Finscher (wie Anm. 17), Kassel u. a. 1997, Sp. 66–75. 30 Wagner ging zur historischen Legitimierung seines neuen „Musikdramas“ letztlich zurück bis zur Antike, während Liszt die von ihm propagierte Programmmusik bis ins frühe 18. Jahrhundert zurückverfolgte. Vgl. Ulrich Müller: Richard Wagner und die Antike. In: Ulrich Müller u. Peter Wapnewski (Hrsg.): Richard-Wagner-Handbuch. Stuttgart 1986, S. 7–18; zu Liszt vgl. Detlef Altenburg: Eine Theorie der Musik der Zukunft. Zur Funktion des Programms im symphonischen Werk von Franz Liszt. In: Wolfgang Suppan (Hrsg.): Liszt-Studien I. Graz 1977, S. 9–25.  

















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und Beethoven unwandelbare, ewig gültige Gesetze gegeben hatten. Dagegen erklärten Liszt, vor allem aber Wagner zentrale ästhetische, strukturelle und gattungskonstituierende Normen der Musik bzw. des Musiklebens, ja sogar der Künste überhaupt für obsolet, von der Geschichte erledigt und propagierten einen Aufbruch aus Degeneration und Verfall, heraus aus einer Krise des Verhältnisses zwischen Kunst und Publikum. In ihrer Radikalität machten sie vor den Klassikern nicht Halt: Sie wurden zu freilich wichtigen Etappen auf dem Weg ins Paradies einer neudeutschen Moderne reduziert. Von einem totalen Relativismus freilich waren Liszt wie Wagner weit entfernt, kaum anders als die Historiker oder Philosophen ihrer Zeit. Wie deren Geschichtssysteme unverändert metaphysisch grundiert waren, so glaubten auch die musikalischen Avantgardisten an einen Logos der Musikgeschichte, und grundlegenden ästhetischen Normen hingen sie noch immer an: Das Kunstschöne war ebensowenig aufgegeben wie der Topos der Unsagbarkeit von Instrumentalmusik, die unmittelbar an das Gefühl appelliert; auch teilten Liszt und Wagner die Vorstellung, Werke von Rang vermittelten religiöse Erlebnisse.31 Anders freilich ihr Umgang mit der Geschichte, auch mit dem Alten im eigenen Werk.32 Entschieden kritisierten sie die Vorstellung, der Gehalt von Musik liege allein in deren Strukturen,33 mit der Konsequenz, dass auch die Integration alter Stile und Formen der Musik Sinn verleihen könne, als wäre die historische Rekonstruktion zugleich lebendige Gegenwart. Statt dessen lehre die Geschichte, dass die Musik letztlich nur in einem multimedialen Verband (etwa dem Wagnerschen Gesamtkunstwerk) Sinn erhalten und damit als Kunst ausschließlich zusammen mit anderen Künsten weiterbestehen könne. Wenn also Liszt oder Wagner in ihren Werken alte Stile oder Techniken verwenden, dann primär als Zitate und zugleich als Couleur du temps (um in der Sprache der Ästhetik der historischen Oper zu

31 Zur Kunstreligion um 1800 vgl. oben Anm. 14, zu Wagner vgl. Heinz von Loesch: Kunst als Religion und Religion als Kunst. Zur Kunst- und Religionsphilosophie Richard Wagners. In: de la Motte-Haber (Hrsg.): Musik und Religion (wie Anm. 14), S. 115–136. 32 Die neudeutschen Komponisten trachteten freilich zugleich danach, sich von den konservativen ,Romantikern‘ abzusetzen – und dies durchaus erfolgreich, wie der von Martin Geck beschriebene „Realismus-Diskurs“ in der Musikästhetik zeigt; vgl. Martin Geck: Zwischen Romantik und Restauration. Musik im Realismus-Diskurs der Jahre 1848 bis 1871. Stuttgart u. a. 2001. Die Position von Wagner und Liszt als Romantiker ist deshalb nicht unumstritten – auch wenn unverändert die Neigung besteht, sie als solche zu bezeichnen. 33 Diese These vertrat am nachdrücklichsten und wirkmächtigsten Eduard Hanslick. Vgl. Werner Abegg: Musikästhetik und Musikkritik bei Eduard Hanslick (=Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts, 44). Regensburg 1974. Neuerdings auch Markus Gärtner: Eduard Hanslick versus Franz Liszt. Aspekte einer grundlegenden Kontroverse (=Studien und Materialien zur Musikwissenschaft, 39). Hildesheim u. a. 2005  















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sprechen). Wagners Fugen in Die Meistersinger von Nürnberg oder die Choralidiome in Parsifal atmen jedenfalls einen ganz anderen Geist als Brahms’ Passacaglien am Ende seiner Haydn-Variationen op. 56 oder im Finale der 4. Symphonie. Etwa 50 Jahre später, in den Jahrzehnten um die Jahrhundertwende, sollte es in der deutschen Musik zu einer ganz ähnlichen Konstellation kommen: Wiederum zeitigten krisenhafte Zuspitzungen radikale Konsequenzen und in ihrem Gefolge polemische Auseinandersetzungen. Und wiederum spielten historisch fundierte Strategien eine maßgebliche Rolle. Arnold Schönberg argumentierte nach 1910 mit der geschichtlichen Entwicklung der horizontalen wie vertikalen Tonbeziehungen, um seine Abkehr von jahrhundertelang gültigen Kategorien des Tonsatzes einsichtig zu machen. Wie schon Liszt und Wagner diente auch ihm die Musikgeschichte als maßgebliche Instanz kompositorischen Handelns. Und wie seine Vorgänger sah er sich selbst als geniale Speerspitze des Fortschritts, der Maßnahmen ergriff, zu denen ihn die Geschichte gleichsam zwang.34 Ganz anders, aber kaum weniger radikal hatte knapp 20 Jahre zuvor Richard Strauss einen Teil des musikästhetischen Erbes des 19. Jahrhundert abgelegt, als er sich von der metaphysischen Überhöhung der Tonkunst und ihrer Schöpfer, die Wagner in seinem „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal auf die Spitze getrieben hatte (und die, wie erwähnt, auch noch für Schönberg verbindlich war), lossagte35 und damit, jedenfalls in den Augen eines seiner scharfsinnigsten Kritiker, Theodor W. Adorno,36 die Musik zu nichts mehr als einer bloßen Ware degradierte. Anders als Schönberg, aber wiederum ähnlich wie Liszt und Wagner zuvor handelte Strauss in einem Akt neuerlicher Aufklärung, nun aber wider die Erhebung Wagners zum Klassiker und für die Befreiung aus einer Krise nachwagnerischen Komponierens. Der Begriff ‚Aufklärung‘ liegt darüber hinaus auch deshalb nahe, weil Strauss seine historischen Motive weniger aus der Musik als aus der christlichen Religion ableitete, deren Zeit ihm abgelaufen schien und die er für eine gefährliche Einschränkung kompositorischer Gegenstände mitverantwortlich machte. Auch in puncto Gattungsästhetik trennten Schönberg und Strauss Welten: Schönberg bediente noch, zumindest partiell, das klassische Erbe, wäh 







34 Vgl. Manuel Gervink: Arnold Schönberg und seine Zeit. Laaber 2000, S. 225–231. Die Intentionen Schönbergs wurden prägnant zusammengefasst durch seinen Schüler Anton Webern in dessen Vortragsreihe: Der Weg zur neuen Musik. Hrsg. v. Willi Reich. Wien 1960, S. 9–44. 35 Dazu Charles Youmans: Richard Strauss’s Orchestral Music and the German Intellectual Tradition. The Philosophical Roots of Musical Modernism, Part I. Bloomington, Indianapolis 2005, S. 29–142. 36 Zu Adornos ambivalenter Haltung gegenüber Strauss vgl. dessen Essay: Richard Strauss. Zum hundertsten Geburtstag: 11. Juni 1964. In: Theodor W. Adorno: Musikalische Schriften III (=Gesammelte Schriften, 16). Frankfurt a. M. 1978, S. 565–606.  











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rend Strauss sich als Opernkomponist ganz auf die Seite Wagners schlug. Ungeachtet dieser tiefgreifenden Differenzen hing Strauss, wie Schönberg, noch immer dem romantischen Erbe einer werkgebundenen Ästhetik an, in der Kategorien wie Originalität, Innovation, aber auch die Idee von dem Publikum mitzuteilenden musikalischen Inhalten eine wesentliche Rolle spielten. Blickt man auf die historistischen Elemente dieser Revolutionen am Jahrhundertende, so drängen sich die Parallelen zu den Strategien der Avantgardisten 50 Jahre zuvor deutlich auf: Einerseits wird, hier wie dort, mit dem Blick auf die Geschichtlichkeit vergangener musikalischer oder religiöser Seinsweisen argumentiert, andererseits eint alle Beteiligten die Überzeugung von der Existenz überzeitlicher Werte, welche die Natur der Musik ausmachten. Lediglich die Argumente und die Ziele differieren. Auch wenn die hier skizzierten Aspekte des Geschichtlichen in der Musik der Romantik durchaus differieren, so hängen sie doch eng zusammen. Die Romantik in der Musik erweist sich als eine wesentlich historisch kontaminierte Kulturpraxis. Im Umgang mit der Geschichte ist zudem die Musik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts mit derjenigen mindestens des frühen 20. Jahrhunderts eng verbunden. Damit bietet sich die Chance, die problematische Trennung zwischen den Epochen der musikalischen Klassik und Romantik zu überwinden – ohne dass einer zäsurlosen Einheit das Wort geredet werden soll. Zu fragen wäre allerdings noch immer nach den Gründen für die erstaunliche Kontinuität des Begriffs von musikalischer Romantik, jenseits allen politischen wie gesellschaftlichen Wandels. Oder handelt es sich lediglich um ein Identität vorspiegelndes Etikett, das einer Kunst aufgeklebt wurde, die, wie ihr wechselvoller Umgang mit der Geschichte verrät, weniger eine Epoche der Romantik, sondern allenfalls wechselnde ‚Romantiken‘ repräsentiert?  



Philosophie und Wissenschaftsreflexion

Paul Ziche

Wirklichkeit als „Duft“ und „Anklang“ Romantik, Realismus und Idealismus um 1800

I „Gränzenloser Realismus“ und „neue Mythologie“ – Realismus im romantischen Programm  

Eine der überraschendsten Ideen des Gesprächs über die Poesie im 1800 erschienenen dritten Band des Athenäums liegt in der engen Verbindung, die Friedrich Schlegel zwischen einer „neuen Mythologie“ und einem „gränzenlose[n] Realismus“ projektiert.1 Beide Konzepte sind offensichtlich programmatisch gemeint, und beide beleuchten und modifizieren einander wechselseitig: Genausowenig wie ein solcher Realismus eine nüchtern-reduktive Faktengläubigkeit meinen wird, kann die neue Mythologie schlichtweg zum Mysterienkult werden. Vielmehr möchte Schlegel diese beiden Aspekte, die Unfassbarkeit des Mysteriums einerseits und die epistemische Gewissheit des Faktischen andererseits, kombinieren. Die Teilnehmer des Gesprächs sollen „Schritt vor Schritt bis zur Gewissheit der allerheiligsten Mysterien“ geführt werden,2 wobei er gezielt ein positiv besetztes epistemisches Prädikat, dasjenige der Gewissheit, mit der transzendenten Heiligkeit der Mysterien koppelt. Ein solches Konzept von Realismus, das sich bewusst an Mysterien und Mythologie anschließt, widerspricht heutigen Erwartungen, die eine realistische Haltung weitgehend am Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntnis orientieren und realistische Nüchternheit einem idealistischen Enthusiasmus gegenüberstellen. Umgekehrt bietet eine Analyse des systematischen Ortes, der begrifflichen Voraussetzungen und Implikationen eines solchen Realismus einen Zugang zu der Frage, wie im Zeitalter der Romantik die Suche nach umfassenden Orientierungssystemen – seien diese philosophisch, poetologisch oder religiös motiviert – umgesetzt wurde in eine Diskussion der relevanten Phänomene von Wirklichkeit und der diesen angepassten Erkenntnisformen. Es wird sich dabei zeigen, dass diese Diskussion in überraschendem Maße offen geführt wurde; feste  

1 Das Gespräch wird zitiert nach Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: Athenäum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm Schlegel und Friedrich Schlegel, Bd. 3. Stück 1 [1800]. Nachdruck Darmstadt 1992, S. 58–128, hier S. 97–99. 2 Ebd., S. 98.  







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Fronten wurden immer wieder gesucht und benannt, hierfür jedoch mussten bereits bestehende Diskursformationen überschritten und neue Begrifflichkeiten entwickelt werden. Schlegels Realismus ist unmittelbar, wenn auch in kaum transparent explizierter Weise, mit dem philosophischen Idealismus seiner Zeit verbunden. Schlegel sieht es als die wesentliche Aufgabe der neuen Mythologie an, Antwort zu geben auf ein existentielles Bedürfnis, nämlich das „Phänomen aller Phänomene, daß die Menschheit aus allen Kräften ringt, ihr Centrum zu finden.“3 Als letztlich einzigen Kandidaten hierfür bietet er den philosophischen Idealismus an, der genau ein solches Ringen bei der Suche nach einem Zentrum dokumentiere und zugleich, für alle endlichen Vernunftwesen, ein solches Zentrum im menschlichen Subjekt aufzuzeigen beanspruche. Auf der Grundlage dieses idealistischen Ausgangspunktes, so Schlegel, „muß und wird sich aus seinem Schooß ein neuer eben so gränzenloser Realismus erheben“.4 Diese Aussage kann in mehrfacher Weise gelesen werden: als Programm einer Vermittlung von Idealismus und Realismus, die gemeinsam in einer neuen Form von Philosophie vereinigt werden sollen; als eine Abfolge unterschiedlicher Positionen, in der ein Realismus den ursprünglichen Idealismus ablöst; als radikale Widerlegung des Idealismus durch den nachfolgenden Realismus. In der jüngeren Literatur wird betont, dass die Romantik in ihrem Verhältnis zur zeitgleichen Philosophie des Idealismus keineswegs als gleichsinnige Fortsetzung desselben – sei dieser Kantianisch oder Fichteanisch aufgefasst – verstanden werden kann.5 Zahlreiche Formen der Vereinigung realistischer und idealistischer Positionen lassen sich ausmachen:6 Fichtes eigenes Insistieren, seine  



3 Ebd., S. 98. 4 Ebd., S. 99. 5 Die von Dieter Henrich und seinen Mitarbeitern initiierte „Konstellationsforschung“ wurde ausdrücklich „im Bewußtsein eines philosophischen Widerspiels zwischen Kantianismus und Idealismus aufgenommen“ (Henrich, Dieter: Weitere Überlegungen zum Programm der Konstellationsforschung. In: Martin Mulsow u. Marcelo Stamm (Hrsg.): Konstellationsforschung. Frankfurt a. M. 2005, S. 207–218, hier S. 215. Eine eingehende Rekonstruktion der realistischen Konstellation erfolgt hierbei nicht). – Vgl. weiter Manfred Frank zur Rolle des „Ur-Seyns“ und der Wirklichkeit, wodurch die Frühromantik sich vom absoluten Idealismus absetzt, sowie zur Abgrenzung von einer „Grundsatzphilosophie“: Manfred Frank: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt a. M. 1997. Teil III; ders.: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 2007, v. a. Kap. 2, 3. Vgl. weiter z. B. Frederick C. Beiser: The Romantic Imperative. The Concept of Early German Romanticism. Cambridge, Mass., London 2003. 6 Vgl. Valentin Pluder: Die Vermittlung von Idealismus und Realismus in der Klassischen Deutschen Philosophie. Eine Studie zu Jacobi, Kant, Fichte, Schelling und Hegel. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013. Diese bislang eingehendste Darstellung zu den Debatten zwischen Idealisten und Realisten geht allerdings lediglich anhand eines Vertreters, Friedrich Heinrich Jacobi, auf die    



















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Philosophie sei ein „Ideal-Realismus“; Kants Nachdruck auf dem empirischrealistischen und zugleich transzendental-idealistischen Charakter seiner Kritik der reinen Vernunft, den er in der zweiten Auflage von 1787 deutlich herausarbeitet;7 das romantische Programm einer Verbindung der Philosophien von Fichte und Spinoza als den idealtypischen Protagonisten eines Idealismus bzw. Realismus.8 Insofern die These einer Vereinigung von Realismus und Idealismus davon ausgeht, dass bereits feststehe, welche Philosopheme als idealistisch bzw. als realistisch zu betrachten seien, ist jedoch eine weitere Nuancierung erforderlich. Zwar war die Zuordnung von Personen zu einem idealistischen oder einem realistischen Lager ein beliebtes Instrument polemischer Debatten. Jedoch stand der großen Aggressivität und polemischen Schärfe der Debatten kein ebenso scharfes begriffliches Instrumentarium gegenüber – viele der Vorwürfe, die zwischen den beiden Lagern ausgetauscht wurden, sind symmetrisch und wurden im gleichen Wortlaut gegen beide Parteien gewandt. Ein Blick auf Schlegels Definition des Realismus als eines philosophischen Systems neben anderen, wie er sie 1805/6 als Anhang zu seinen Vorlesungen über Propädeutik und Logik präsentiert, illustriert sehr deutlich, wie vielfältig die Assoziationen und Folgerungen waren, die man mit einem „Realismus“ verbinden konnte:9  

Position der Realisten ein; zudem schwankt die Analyse der Beziehung, in die Realismus und Idealismus gesetzt werden, zwischen einer „Vermittlung“ – so der Titel – und einer demgegenüber begrifflich schwächer bestimmten Form von „Verquickung“. – Vgl. auch die Materialien und Analysen in Walter Jaeschke (Hrsg.): Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer ersten Philosophie (1799–1807). 2 Bde. Hamburg 1993. – Speziell zu Schlegel vgl. auch Nobuyuki Kobayashi: Die Idee der neuen Mythologie beim jungen Friedrich Schlegel. In: Lothar Knatz u. Tanehisa Otabe (Hrsg.): Ästhetische Subjektivität: Romantik & Moderne. Würzburg 2005. S. 167–179, mit zahlreichen Verweisen auf Herder. Hier wird vielfach mit sehr eindeutigen Zuweisungen gearbeitet, die der Komplexität der Debatten um 1800 nicht durchgehend gerecht werden (so wenn der Idealismus der Philosophie, der Realismus der Poesie zugeordnet wird; aus der Synthese, durch ein Schweben in der Mitte, entstehe dann die spezifisch „romantische“ Poesie). 7 Sebastian Maly (Kant über die symbolische Erkenntnis Gottes. Berlin, Boston 2012) zeigt auf, daß auch Kants Überlegungen zur symbolischen Erkenntnis als Suche nach einem „Mittelweg“ zwischen (in heutiger Religionsphilosophie so benanntem) Realismus und Anti-Realismus aufgefasst werden können; vgl. das Kapitel über „Die analoge Erkenntnis und Rede von Gott ist ein Mittelweg zwischen einem naiven religiösen Realismus und einem theologischen Anti-Realismus“, S. 426–435. 8 Hierzu vgl. z. B. Beiser: Romantic Imperative (Anm. 5). 9 Die Bedeutung Schlegels für Debatten zum Realismus wird illustriert durch Franz Joseph Molitor: Der Wendepunkt des Antiken und Modernen. Oder Versuch den Realismus mit dem Idealismus zu versöhnen. Frankfurt a. M. 1805 (mit Isaac von Sinclair ist dieser Text einer der  

















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Es beruht dieses System auf der Behauptung und Annahme eines einzigen, allumfassenden, unveränderlichen, unendlichen Wesens, dessen Erkenntnis nicht in der Erfahrung, nicht aus sinnlichen Eindrücken und Wahrnehmungen geschöpft, sondern einzig und allein durch die reine Vernunft erlangt werden könne, welche Erkenntnis durch die reine Vernunft das einzige unmittelbare und vollkommen Gewisse sei.10

Diese Lesart ist deutlich von religiösen Motiven geleitet: Die Annahme, dass die Wirklichkeit in ein einziges, umfassendes Wesen zusammenzufassen sei, eröffnet den Raum für ein unendliches, sich dem menschlichen Denken und Handeln entziehendes Wesen. Dennoch sei dies eine „höchst verkehrte und gefährliche Denkart“, da sie konsequenterweise zu einem Pantheismus und Fatalismus führe, mithin direkt diejenigen Probleme aufrufe, die immer wieder mit der Philosophie Spinozas verbunden wurden (immerhin, so Schlegel, habe Spinoza mit seinem Realismus noch die beste Moral verbunden, die unter diesen Voraussetzungen denkbar ist). Erkenntnistheoretisch betrachtet, führt ein solcher Realismus, Schlegel zufolge, konsequenterweise zur „religiösen Schwärmerei“.11 Wenn man annimmt, ein einziger Grundbegriff enthalte alles, was über die Welt insgesamt auszusagen ist, so wird „alles weitere Entwickeln, Ausbilden und Mitteilen dieser einen Urwahrheit als zwecklos und überflüssig erkannt“,12 weitere gedankliche Anstrengung ist so fruchtlos wie überheblich. Übertragen in eine Terminologie, die an die philosophischen Kritiken Schellings und Hegels im Kritischen Journal der Philosophie erinnert, muss sich gerade der Realist mit der Irrealität des Endlichen abfinden: „Der Realist trennt das Endliche und Unendliche durchaus, leugnet aber die Realität des erstern. Tugend und Vollkommenheit ist für ihn nichts anders, als die höchste einzig wahre Realität.“13 Eine konstruktive Vereinigung von Endlichem und Unendlichem wird unmöglich gemacht, die Gottesvorstellung, welche die ursprüngliche Definition von „Realismus“ zu leiten schien, wird ungreifbar, Nihilismus und Atheismus sind die notwendigen Folgen.14 Die De-

wichtigsten Figuren der frühidealistischen Konstellation gewidmet): Der „Centralpunkt meines Systems“ sei „in den Schriften von Friedrich Schlegel zu finden“ (S. 6). 10 Friedrich Schlegel: Anhang zur Logik. Kritik der philosophischen Systeme [Köln 1805–1806]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 13. Hrsg. v. Jean-Jacques Anstett. Paderborn u. a. 1964. S. 323–384, hier S. 357 f. 11 Ebd., S. 361. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 361 – Übereinstimmungen zwischen Schlegels und Hegels Jacobi-Kritik diskutiert Jure Zovko: Friedrich Schlegel als Philosoph. Paderborn u. a. 2010, Kap. 6. 14 Schlegel: Anhang (Anm. 10), S. 362.  

























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finition des Realismus durch die Annahme einer einzigen, allumfassenden und lediglich durch die reine Vernunft zu erfassenden Existenz scheint zunächst kompatibel mit einer idealistischen Position. Die kritische Absetzung des Idealismus vom Realismus erfolgt bei Schlegel über die fatalistisch-deterministische Implikation eines solchen Realismus, demgegenüber der Idealismus für Schlegel durch „Freiheit, Tätigkeit, lebendige Beweglichkeit“ definiert ist,15 im radikalen Gegensatz zu jeglichem Mechanismus. Damit stellt sich, anschließend an Schlegels Überlegungen im Gespräch über die Poesie, die Frage, wie die Romantik tatsächlich als Epoche ebenso eines Idealismus wie eines Realismus aufgefasst werden kann. Diese Aufgabenstellung lässt sich auch an Personenkonstellationen festmachen: Autoren wie Herder, Jacobi oder auch Jean Paul sind typische Vertreter anti-idealistisch realistischer Auffassungen, aber in vielfältiger Weise auch affirmativ mit einem romantischen Diskurs verbunden.16 Dennoch werden Idealismus und Realismus hier nicht als bereits feststehende Denkformen vereinigt. Die Großkonzepte, mit denen ganze philosophische Systeme belegt werden, werden nicht additiv zusammengefügt und auch nicht einfach dialektisch gegeneinander abgesetzt. Neue Formen von Erkenntnis und neue Wirklichkeitskonzepte müssen eingeführt werden, um diesen für existentiell bedeutsam erachteten Debatten – hier ist Schlegels Analyse von 1800 in der Tat repräsentativ – beizukommen.  



II Mit „Herrn Kant auf dem Canape“ – Freundschaftliches Gespräch und polemische Auseinandersetzung  

Der Begriff „Realismus“ ist um 1800 als philosophischer Fachterminus bereits seit Jahrhunderten etabliert. Der Universalienstreit des Mittelalters wird als Debatte zwischen einer realistischen (durch die reales getragenen) und einer nominalistischen Position ausgetragen. In der unmittelbar an Kant anschließenden Diskussi-

15 Ebd., S. 371. 16 „Romantischer Realismus“ wird zur literaturwissenschaftlichen Kategorie für Entwicklungen des 19. Jahrhunderts (vgl. z. B. Donald Fanger: Dostoevsky and Romantic Realism. A Study of Dostoevsky in Relation to Balzac, Dickens, and Gogol. Cambridge, Mass. 1965). Inwieweit diese Terminologie wiederum abhängig ist von der Sondergeschichte, die der philosophische Realismus in Gestalt eines stark theologisch und metaphysisch geprägten „new realism“ im 19. und 20. Jahrhundert in den Vereinigten Staaten durchlief, wäre zu prüfen (eine Schlüsselpublikation: Edwin B. Holt u. a.: The New Realism. Cooperative Studies in Philosophy. New York 1912).  







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on erhält dieser Begriff jedoch eine neuartige Funktion. Er steht nicht mehr für eine Position innerhalb einer spezialisierten philosophischen Debatte, sondern markiert eine umfassende philosophische Haltung neben und in kritischer Auseinandersetzung mit anderen. Die Terminologie hinsichtlich dieser umfassenden Konzepte ist um 1800 in Bewegung; auch heute ganz selbstverständliche Begriffe wie „Empirismus“ oder „Rationalismus“ erhalten erst in dieser Zeit ihre Funktion. Besonders auffällig ist die terminologische Unentschiedenheit, mit welcher der Begriff des Realismus eingeführt wird: Mindestens genauso verbreitet wie „Realismus“ ist „Dogmatismus“.17 Die Dynamik der Diskussion um den Realismus ist um 1800 geprägt von der regelmäßigen Wiederkehr bestimmter Diskurselemente. Deutlich ist bereits, dass die verwendeten übergreifenden Begriffe nicht trennscharf voneinander abgegrenzt sind. Die Debatten verlaufen zudem vielfach symmetrisch: Dem Schlegelschen Vorwurf, der Realismus münde konsequenterweise in Nihilismus und Atheismus, steht der umgekehrte Vorwurf gegenüber, der subjektbezogene Ansatz des Idealismus begründe eine Selbstüberschätzung des Individuums, die direkt zu Egoismus, Solipsismus, Atheismus und Nihilismus führe.18 Der Symmetrie des Schlagabtauschs entspricht eine oftmals groteske Verkennung der tatsächlichen Fronten: Wenn Johann Georg Heinrich Feder sich wünscht, mit „Herrn Kant auf dem Canape“19 gesellig über philosophische Themen zu sprechen, sieht er nicht, wie sehr der von ihm selbst in einer Rezension der ersten Auflage von Kants Kritik der reinen Vernunft erhobene Vorwurf, Kant leiste dem Idealismus Vorschub,20 Kant getroffen, ihn jedenfalls dazu veranlasst hat, sich

17 Vgl. Tobias Trappe: Artikel ‚Realismus I.‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8. Hrsg. v. Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel u. a. Basel 1992, Sp. 148–156. – Von „Dogmatismus“ spricht beispielsweise durchgehend Johann Gottfried Fichte: Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre [1797/1798]. In: J.G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, 4. Stuttgart-Bad Cannstatt 1970, S. 169–281. 18 Vgl. z. B. Zovko: Friedrich Schlegel (Anm. 13), S. 83 zu Jacobis Romanfigur Woldemar, die von Schlegel als Egoist kritisiert wird; in besonders geistreicher Form zur Pointe zugespitzt wird die Kritik am Idealismus als einer Form des Solipsismus in Jean Pauls Clavis Fichtiana: Der Protagonist Leibgeber, ein sich selbst als Fichteaner verstehender Fichte-Kritiker, eignet sich kurzerhand „auch die paar Bände, die Fichte geschrieben“, zu, „weil ich ihn erst setzen oder machen muß, eh’ er eintunken kann“ (Jean Paul: Clavis Fichtiana seu Leibgeberiana (Anhang zum I. komischen Anhang des Titans). In: Jean Paul: Sämtliche Werke. Abt. I, Bd. 3. Hrsg. v. Norbert Miller. München, Wien 1999, S. 1011–1056, hier S. 1037 f.), also mit seiner Feder Gedanken zu Papier bringen kann. 19 Johann Georg Heinrich Feder: Ueber Raum und Caussalität zur Prüfung der Kantischen Philosophie. Göttingen 1787, S. XXII. 20 Johann Georg Heinrich Feder u. Christian Garve: Rezension zu Kant: Kritik der reinen Vernunft [1782]. In: Rezensionen zur Kantischen Philosophie 1781–1787. Bebra 1991, S. 10–17. – Vgl. auch  

























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rasch und mit allem Nachdruck gegen diesen Vorwurf zu erklären.21 Wenn Friedrich Heinrich Jacobi in einem offenen Brief an Fichte dessen Philosophie mit einem „Strickstrumpf“ vergleicht, also einer Wollsocke, wenig später auch mit dem „Nürrenberger, so genannten, Grillenspiel“, so wirken diese Vorwürfe, bei aller witzigen Prägnanz, abgeschmackt. Jacobi verbindet sie aber zugleich mit der Bekundung größter Hochachtung für Fichte als dem „wahren Meßias der speculativen Vernunft“.22 Jacobi liefert den besten Ausgangspunkt für eine Rekonstruktion der realistischen Debatten um 1800.23 Bereits 1787, noch vor der Publikation der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, kontrastiert er den transzendentalen Idealismus Kants mit der Position, die „wir Realisten“ einnähmen, und geht hiermit davon aus, dass eine solche Gruppe von Realisten bereits besteht. Jacobi ergänzt sein Gespräch David Hume über den Glauben, oder Idealismus und Realismus um eine „Beylage“, die „Ueber den transscendentalen Idealismus“ betitelt ist. Mit ausführlichen Zitaten aus Kants erster Kritik will Jacobi hier demonstrieren, dass Kants Philosophie in der Tat zu einem Idealismus leite, den Jacobi direkt in die Präsentation der gegenteiligen Position überführt: Also was wir Realisten würkliche Gegenstände, von unseren Vorstellungen unabhängige Dinge nennen, das sind dem transscendentalen Idealisten nur innerliche Wesen, die gar nichts von dem Dinge, das etwa ausser uns seyn, oder worauf die Erscheinung sich beziehen mag, darstellen, sondern von allem würklich objectiven ganz leere blos subjective Bestimmungen des Gemüths.24

Gegenstände sind dem transzendentalen Idealismus zufolge „nichts als Vorstellungen“. Dies ist nicht in Übereinstimmung zu bringen mit der Annahme, dass wir, um überhaupt Erkenntnis haben zu können, in irgendeiner Weise durch Gegenstände affiziert werden müssen. Konsequent transzendental-idealistisch gedacht, ist es der „Verstand […], welcher das Object zu der Erscheinung hin-

Brigitte Sassen (Hrsg.): Kant’s Early Critics: The Empiricist Critique of the Theoretical Philosophy. Cambridge 2000. 21 Vgl. Kants eingehende Antwort im Anhang zu Immanuel Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können [1783]. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. IV. Berlin 1911, S. 253–383, hier S. 372–380. 22 Friedrich Heinrich Jacobi: Jacobi an Fichte [1799]. In: Ders.: Werke: Gesamtausgabe, Bd. 2, 1. Hrsg. von Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 191– 258, hier S. 203–206, 194. 23 Eine ausführliche Diskussion bei Pluder: Vermittlung (Anm. 6). 24 Jacobi: David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus. Ein Gespräch [1787]. In: Ders.: Werke (Anm. 22), S. 5–112, hier S. 107, Hervorhebungen im Original.  

















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zuthut“,25 ein Eindruck von außen kann demzufolge nicht gedacht werden. Ohne solche Eindrücke aber ist für Jacobi bereits das Konzept der Sinnlichkeit nicht begreiflich und geht jeglicher Maßstab für Wissen verloren: Der Idealist muss sich, ungeachtet seines Anspruchs auf die Begründung absolut gesicherten Wissens, auf die „durchgängige absolute Unwissenheit“26 festlegen lassen. Jacobi spricht bereits im Namen einer ganzen Gruppe von Realisten. Eine solche lässt sich in der Tat nachweisen. Autoren aus unterschiedlichen Fachgebieten – Theologen, Philosophen, Dichter und Theoretiker der Ästhetik – tragen den realistischen Ansatz und sind vielfältig durch Querverweise, Korrespondenzen und persönlichen Austausch verbunden. Eine vollständige Rekonstruktion dieser realistischen Strömung kann hier nicht geleistet werden; zu den prominentesten Protagonisten gehören, neben Jacobi, Christoph Gottfried Bardili, Karl Leonhard Reinhold, Johann Gottfried Herder und Jean Paul.27 Bardili und Reinhold, beide Zielscheibe der Kritik idealistischer Autoren wie Schelling und Hegel, illustrieren deutlich die realistische Forderung, das Denken müsse sich notwendig abhängig wissen von der natürlichen Wirklichkeit. So stellt Bardili, dessen „rationaler Realismus“ wesentlich durch Reinhold in dessen Beyträgen in den Jahren nach 1800 präsentiert wird, der Philosophie Kants eine an Leibniz orientierte Auffassung gegenüber, derzufolge Kausalität „nicht eine bloße Form des Gemüths, oder ein bloßes Resultat dieser Form, sondern etwas Reelles in den Dingen an sich“ ist: „Nach dieser Philosophie machen wir nicht die Natur; sondern wir entdecken und erkennen sie; wir schreiben ihr nicht die Gesetze unseres Verstandes vor, sondern wir lernen sie, vermittelst der Gesetze unsers Verstandes, kennen, weil diese Gesetze zugleich die Gesetze der Natur sind.“28 Ganz analog formuliert Reinhold in seinen Beyträgen von 1802: „Das  



25 Ebd., S. 108. 26 Ebd., S. 112. 27 Konkrete Beispiele für eine Zusammenarbeit finden sich in der Veröffentlichung von Texten von Jacobi und Bardili in Reinholds Beyträgen oder in den Briefen von Jacobi, die Koeppen in Ueber Schellings Lehre aufnimmt. Jacobis eigene Schriften, mit ihrer Collage unterschiedlichster Textgattungen, können auch hier als Vorbild dienen. – Für einen ersten Überblick über die Gruppe der Realisten vgl. Paul Ziche: Editorischer Bericht. In: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transscendentalen Idealismus. In: Ders.: Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I, 9, 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, S. 3–60. Siehe weiter Pierluigi Valenza: Wege des Realismus – Herder, Reinhold und Bardili im Vergleich. In: Marion Heinz (Hrsg.): Herders ‚Metakritik‘. Analysen und Interpretationen. Stuttgart-Bad Cannstatt 2013, S. 127–148. 28 Christoph Gottfried Bardili: Philosophische Elementarlehre mit beständiger Rücksicht auf die ältere Literatur. Heft 1. Landshut 1802, S. 34, Hervorhebung im Original. Zu Bardili vgl. Rebecca Paimann: Das Denken als Denken. Die Philosophie des Christoph Gottfried Bardili. Stuttgart-Bad Cannstatt 2009.    













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bloße Denken, als bloßes Denken, widerspricht sich selbst. Denn das Denken, als Denken, kann nur in seiner Anwendung, als solcher, gedacht werden; und in dieser ist es, als diese, die Manifestation Gottes in der Natur.“29 Das Symmetrieproblem in der Gegenüberstellung und Abgrenzung von Realismus und Idealismus spiegelt sich in der Form einer grundsätzlichen Unentschlossenheit bereits innerhalb mancher Texte der Realisten. So enthält die von Feder und Christian Garve verfasste Göttinger Rezension der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft eine auffallende Unentschiedenheit. Einerseits erhebt sie den Vorwurf, dass Kant kein Kriterium anbiete, aufgrund dessen man zwischen Erkenntnis und bloßen Visionen und Phantasien unterscheiden könne, da diese ja „unter sich selbst aufs ordentlichste verbunden vorkommen können“, andererseits wird gegen die Extravaganzen von Dogmatismus und Skeptizismus eine „Mittelstraße“ gefordert, diejenige der „natürlichsten Denkart“, derzufolge wir uns an die „stärkste und dauerhafteste Empfindung, oder den stärksten und dauerhaftesten Schein, als an unsere äusserste Realität“ halten müssen.30 Die Stellung der Empfindung ist hier unklar: Einerseits soll eine starke Empfindung Realität garantieren, andererseits kann sich auch das Irreale in der Empfindung als stabil präsentieren. In der weiteren Diskussion um den Realismus findet sich die bereits in Feders Suche nach einem Mittelweg angedeutete Tendenz, von einer detaillierten KantExegese wegzugehen und stets mehr in die Richtung einer Common-sense-Philosophie zu steuern.31 Ein Beispiel für eine noch sehr nahe an Kant orientierte Diskussion findet sich in Erhard Georg Friedrich Wredes Antilogie des Realismus und Idealismus von 1791,32 einem Werk, das ausdrücklich der „nähern Prüfung“ und damit auch der philosophiehistorischen Einordnung der Prinzipien der Kantischen und Leibnizischen „Denksysteme“ gewidmet ist. Das Ausgangsproblem sieht Wrede in der Frage, wie Vernunft und Welt eigentlich in Kontakt kommen könnten; genauer: Die oft genug zu konstatierende „Widerspänstigkeit der Vorstellungen“33 zeigt, dass hierin eine fundamentale Schwierigkeit liegt. Diese wird

29 Karl Leonhard Reinhold: Neue Darstellung der Elemente des rationalen Realismus. In: Karl Leonhard Reinhold (Hrsg.): Beyträge zur leichtern Uebersicht des Zustandes der Philosophie beym Anfange des 19. Jahrhunderts. Heft 3. Hamburg 1802, S. 128–162, hier S. 160. 30 Feder u. Garve: Rezension (Anm. 20), S. 14, 16 f. 31 Die Anknüpfung an vor-kantische Formen von Philosophie verdient in dieser Hinsicht weitere Analyse. 32 Erhard Georg Friedrich Wrede: Antilogie des Realismus und Idealismus. Zur nähern Prüfung der ersten Grundsäzze des Leibnizischen und Kantischen Denksystems. Halle 1791. Wrede wirkte als Prediger in Jasenitz in Pommern. 33 Ebd., S. 3.  













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bestätigt durch die Schwierigkeit, im Rahmen einer idealistischen Auffassung die Möglichkeit von Irrtum begreiflich zu machen. Wrede fragt hierzu: „wie die Vernunft a priori, sofern es doch wahr ist, daß sie blos ihre Natur äussert, irren kann?“34 Insgesamt genießt bei Wrede der Realismus den Vorzug, nicht nur, weil dieser in der Entwicklung des menschlichen Denkens das ursprüngliche System sei, sondern vor allem auch, weil „das gegenwärtige Jahrhundert Zeuge [ist], daß er für Freiheit, Sittlichkeit, und irdische Glückseligkeit […] so sehr wohlthätig gewesen“.35 Wredes Text kombiniert Fragen der theoretischen Philosophie mit einem großen Interesse an praktisch-philosophischen Themen. Die Kombination dieser beiden Motive kennzeichnet auch spätere Beiträge zur Debatte. Joseph Rückert, der in Jena Philosophie studiert hatte, plädiert 1801 direkt für einen Realismus, der als eine „durchaus praktische Philosophie“ aufzufassen sei;36 Schelling wird sich in einer Rezension im Kritischen Journal der Philosophie in aller Schärfe gegen diesen Text wenden.37 Auch Rückert geht von der bei ihm als „erster Lehrsatz“ formulierten Frage aus: „Wie ist es möglich, dass ein Freies mit einem Nothwendigen (außer ihm) harmoniere?“38 In der Folge unterscheidet er zwischen „Wissen“ und „Realität seines [des Menschen] Wissens“, hierbei eine Ebene jenseits des Wissens behauptend, die mit den existentiellen Bedürfnissen des Menschen zusammenhänge, das, „was ihm [dem Menschen] Noth thut“, „sein Heiligstes“,39 sei. Diese Ebene verweist auf eine Grundlage jenseits des Wissens, die auch für „solche Daten und Handlungen, die kein Wissen seyn dürften“, eine „Regel der Wahrheit“ abgeben könne. Die „Regel einer Harmonie“ könne selbst kein Wissen mehr sein,40 der Begründungsdiskurs, innerhalb dessen man sich der Gewissheit des erreichten Wissens zu vergewissern sucht, muss auf ein Jenseits des Wissens rekurrieren. Dieses kann dann nur noch „auf praktischem Wege“ erreicht werden.41 Hiermit gewinnt Rückert zugleich ein Kriterium, mittels dessen er eine rein innerwissenschaftlich fundierte Philosophie zurückweisen möchte:

34 Ebd., S. 4. 35 Ebd., S. 7. 36 Joseph Rückert: Der Realismus, oder Grundsätze zu einer durchaus praktischen Philosophie. Leipzig 1801. 37 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Rückert und Weiss, oder die Philosophie zu der es keines Denkens und Wissens bedarf [1802]. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Gesammelte Werke. Hrsg. v. der Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 4. Hamburg 1968, S. 239–255. 38 Rückert: Realismus (Anm. 36), S. 3. 39 Ebd., S. 5 f. 40 Ebd., S. 7. 41 Ebd., S. 9.    





     







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Da Realität alles Wissens jenseits alles Wissens liegt, und Wahrheit eine Aufgabe ist, die nicht durch Wissen gelöst werden kann, so ist eine Philosophie, die als Wissenschaft vollendet, nicht Philosophie.42

Das Reale wird nicht hervorgebracht; „das Freie“ muss vielmehr danach streben, „ein Bild jenes Nothwendigen, Realen, zu werden“.43 Deutlich ist Rückerts Argumentation von einer scharfen Kritik am Idealismus Fichtes und Kants getragen: Dieser „löset sich in ein System absoluter Willkühr auf“.44 Als Begleitstück zu Rückerts Text erschienen die Winke über eine durchaus praktische Philosophie von Christian Weiß, ebenfalls von 1801 und ebenfalls von Schelling scharf kritisiert. Weiß zieht ausdrücklich Konsequenzen aus Rückerts „praktischer Richtung“:45 Diese Form der Philosophie behebe nämlich die Probleme, die aus einer einseitigen Orientierung auf den Verstand und auf theoretische Erkenntnis resultierten, und mache Philosophie und Wissenschaft auch denjenigen zugänglich, die nicht im Medium des abstrakten Verstandes zu operieren vermöchten. Es ist deutlich, wo Schellings Kritik ansetzen kann: Er wirft Weiß vor, hiermit auf Philosophie überhaupt Verzicht zu tun. Es geht in den Debatten um den Realismus mithin nicht nur um die Frage, wie sich unterschiedliche Formen von Philosophie zueinander verhalten; diese Frage kann nicht unabhängig von der Frage behandelt werden, was Philosophie überhaupt sei: Die philosophischen Systeme werden nicht als Teile oder Versatzstücke innerhalb eines größeren Ganzen aufgefasst, sondern beanspruchen stets, die ganze Philosophie zu sein. Eine stark polemisch akzentuierte Zusammenfassung der realistischen Vorwürfe gegen den Idealismus bietet Friedrich Koeppen in einem Angriff auf Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts;46 zugleich illustriert sein Buch die Formierung einer realistischen Gruppe: Koeppen publiziert im Anhang drei Briefe Jacobis, die wiederum ausdrücklich auf Herder und Jean Paul verweisen.47 Koeppen wirft den Idealisten vor, die Notwendigkeit zu übersehen,

42 Ebd., S. 11. 43 Ebd., S. 23. 44 Ebd., S. 119. 45 Christian Weiß: Winke über eine durchaus praktische Philosophie. Als Vorläufer derselben. Leipzig 1801. 46 Friedrich Koeppen: Schellings Lehre oder das Ganze der Philosophie des absoluten Nichts. Nebst drey Briefen verwandten Inhalts von Friedr. Heinr. Jacobi. Hamburg 1802. – Koeppen studierte in Jena bei Fichte und Reinhold, war dann in Göttingen tätig und kam, auf Vermittlung von Jacobi, 1807 an die Universität Landshut. Die erste Sammelausgabe der Werke Jacobis wurde von ihm mitherausgegeben. 47 Ebd., S. 213.      





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am Anfang des menschlichen Seins und damit auch des Denkens ein „Wunder“ anzunehmen: „Wir Menschen stehen als erschaffene Wesen unter dem Geheimniß der Schöpfung aus dem Nichts, des Wunders der Endlichkeit.“48 Auffallenderweise wird hier nicht die Unendlichkeit als wundersam aufgefasst, sondern genau die Endlichkeit, die Wirklichkeit der Schöpfung. Dies lässt sich direkt übersetzen in ein Argument zu Begründungsstrukturen: Jede Argumentationskette benötige einen Anfang jenseits des Denkens, ein unendliches Fortschreiten innerhalb des Bereichs des Denkens führe lediglich zu einer unendlichen Iteration und könne keine Letztbegründung leisten. Jeder Versuch, sich des Anfangs der Begründung konstruktiv zu versichern, führt, wie Koeppen im Blick vor allem auf Schelling darlegt, notwendig zu einer „Menge Negationen“: „In ihr [der absoluten Konstruktion] ist kein Anfang, kein Ende, kein Maaß, keine Zeit, kein Raum, keine Bewegung, keine Ruhe; überhaupt keine Diversität, sondern absolute Identität.“49 Nur mittels eines „Salto mortale“ hinein in die „endliche Konstruktion“ – wieder ein symmetrisches Argument, denn „salto mortale“ war Jacobis eigene Umschreibung für die Art und Weise, wie er mit der Philosophie Spinozas umgehen könne – sei die „Genesis der Schellingschen Philosophie“ zu begreifen. Das allem Beweisen Vorausgehende lasse sich nicht wieder beweisen; hier haben „Sinn“, „Vernunft“ und „Persönlichkeit“ ihren Ort.50 Überführt in die Terminologie von Vermögen und Modi des Fürwahrhaltens: Der „Glaube“ ist der einzig mögliche Ursprung des menschlichen Wissens und muss als solcher der Konstruktion gegenübergestellt werden.51 Hiermit werden die erkenntnisnotwendigen Vermögen dicht an die sinnliche Wahrnehmung gerückt: „Wahrnehmen, Wiedererkennen und Begreifen, in steigenden Verhältnissen, macht die ganze Fülle unsers intellectuellen Vermögens aus.“52 Alle Parteien sind sich einig in der Abweisung deduktiver Beweisketten als Grundlage für Erkenntnis.53 Vielfach versuchen die Parteien, einander gegenseitig in kritischer Absicht auf Stereotypen des deduzierenden Denkens festzulegen: Jacobis Strickstrumpf ist nichts anderes als die Karikatur einer Philosophieund Wissenschaftsauffassung, in der Jacobi eine immer wiederholte Verschlingung des einen Fadens oder der einen Kette des Denkens erblickt (wieder hat Jean  



48 Ebd., S. 11. 49 Ebd., S. 15. 50 Ebd., S. 186 f. 51 Ebd., S. 189 f. 52 Ebd., S. 12. 53 Vgl. hierzu z. B. auch die angegebenen Texte von Manfred Frank mit ihrer Kritik an einer Grundsatzphilosophie sowie Beiser: Romantic Imperative (Anm. 5), zu Schlegels Ablehnung einer Letztbegründung.      













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Paul ein schönes Bild für die Fruchtlosigkeit bloßen Wiederholens: „gegen Philosophie und die Nymphe Echo behält niemand das letzte Wort“54). Der Vorwurf der leeren Wiederholung des Immergleichen wird auch umgekehrt, etwa von Schelling und Hegel, gegen die Realisten gewendet. Auch hier bleibt die symmetrische Interpretierbarkeit noch deutlich: Sowohl die Annahme einer vernunfttranszendenten Anfänglichkeit bei den Realisten als auch das idealistische Hinterfragen und damit Zurücknehmen eines ersten Anfangs im Realen durch die stete Forderung der notwendigen Denkbarkeit des Anfangs können als a-logischer Verzicht auf Letztbegründung aufgefasst werden. Eindeutiger scheint die Verschiedenheit der Positionen anhand der jeweils typischen Erkenntnisvermögen und der Modi des Fürwahrhaltens auszufallen: Einem Vertrauen auf das Wahrnehmen und den Glauben auf der einen Seite stehen die an Kant und Fichte geschulten absoluten Erkenntnisansprüche auf der anderen Seite gegenüber. Auch diese Vermögenskennzeichnungen allerdings sind in Bewegung. „Sinn“ ist ebenso vieldeutig wie „Glauben“, und gerade die Realisten führen zahlreiche neue Vermögen ein, die anknüpfen an Vermögen der Sinnlichkeit, diese aber zugleich aufwerten – „Sinn“, mit den Konnotationen sinnlicher Wahrnehmung einerseits, hermeneutischen Verstehens und umfassender Sinnstiftung andererseits, kann hierfür wiederum als Beispiel dienen.55  

III Wirklichkeit als „Duft“ und „Anklang“. Neue Formen der Wirklichkeitssicherung Die Symmetrie der Debatten, die Schärfe, mit der diese ausgetragen wurden, und die Offenheit der zentralen Begriffsbestimmungen illustrieren deutlich, dass hier die Rolle von Philosophie insgesamt zur Diskussion steht: Es geht um die Frage, wie man überhaupt Großformen von Philosophie charakterisieren und voneinander abgrenzen kann und wie diese dann über die Philosophie selbst hinausreichen und das menschliche Leben insgesamt bestimmen können. Bereits hierin liegt eine Affinität mit typisch romantischen Projekten; das Problem der Charak-

54 Jean Paul: Clavis (Anm. 18), S. 1013. Zur Kritik an Schlegel vgl. ebd., S. 1030. 55 Besonders produktiv im Einführen neuer Vermögen ist Johann Gottfried Herder. Zu seinem Verständnis von „Sinn“, das zwischen „sinnlicher Gewißheit“, in der jedoch „ein Universum“ ruhe, und einer „Gesamtdarstellung“ jedes Sinnes, die zugleich eine „Haltung“ erkennen lasse, ausgespannt ist, vgl. Johann Gottfried Herder: Verstand und Erfahrung. Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft [1799]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. Bernhard Suphan, Bd. 21. Berlin 1881, Kap. 6: „Vom Idealismus und Realismus“.  









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teristik und insbesondere das der charakteristischen Signatur ganzer Epochen ist, wie bereits die Abhandlung über die Epochen der Dichtkunst innerhalb des Gesprächs über die Poesie illustriert, wesentliches Element der romantischen Programmatik. Für derartige Abgrenzungsfragen stehen jedoch, wie erneut die Symmetrie der Debatten zeigt, noch kein gefestigtes Vokabular und kein Inventar etablierter Argumente und Denkformen zur Verfügung. Einige Schlussfolgerungen lassen sich aufgrund der zitierten exemplarischen Texte direkt ziehen. Für die Realisten stehen nicht die Naturwissenschaften Modell, Paradigma des Reellen ist nicht das von der Naturwissenschaft erfasste Einzelding oder -ereignis, ebenso wenig wie das Naturgesetz. Zugleich ist deutlich, dass die Realisten viel schneller geneigt sind, pragmatische Erkenntnisansprüche zu akzeptieren und die Begrenztheit menschlichen Wissens zu betonen. Das Ideal der strikten Wissenschaftlichkeit und der absoluten Verbindlichkeit wird, im Anschluss an Kants Projekt einer apriorischen Fundierung von Erkenntnis, von den Idealisten gepflegt; Gefühl, Ästhetik, Religionserfahrung motivieren das realistische Projekt. ‚Realismus‘ soll gerade nicht das kalte Licht der Nüchternheit scheinen lassen, er steht im Gegenteil als Garant für die Möglichkeit des Irrtums ein und erlaubt dem Gefühl, mitzusprechen. Welche Denkoptionen bieten sich angesichts dieser Ausgangskonstellation? Diese Frage leitet zurück zur Programmatik des Gesprächs über die Poesie. Gesucht werden muss nach Begriffen und Denkweisen, die es gestatten, die bloße Gegenüberstellung von Denkverzicht und leerlaufendem Raisonnieren, von jenseitiger Anfänglichkeit und ewigem Hinauszögern des Anfangs, von Idealismus und Realismus zu übergreifen. Schlegel verzichtet auf die Aufstellung eines eigenen Systems; die von ihm angezielte Form von Realismus kann keinesfalls in die Gestalt eines Systems gebracht werden.56 Seine eigene Umschreibung der Form von Verbindung, der „Harmonie des Ideellen und Reellen“, die zwischen dem Realismus und dem Idealismus möglich werden muss, ist denn auch in systemfernen Begriffen formuliert: „dieser neue Realismus“ müsse, aufgrund seiner Herkunft aus dem Idealismus „gleichsam auf idealischem Grund und Boden schweben“ und deshalb als Poesie erscheinen.57 Die Metapher ist luftig

56 Schlegel: Gespräch (Anm. 1), S. 99. 57 Ebd., S. 99. – Noch dichter verbunden werden Poesie und Realismus bei Novalis; vgl. die Formulierung in Novalis’ Neuen Fragmenten: „Die Poesie ist das ächt absolut Reelle. Dies ist der Kern meiner Philosophie. Je poëtischer, je wahrer“ (Novalis: Schriften, Bd. 2. Hrsg. v. Richard Samuel. Stuttgart u. a. 1981, S. 647). – Zur Metapher des „Schwebens“ bei Fichte vgl. Wolfgang Janke: Fichte. Sein und Reflexion – Grundlagen der kritischen Vernunft. Berlin 1970; Lore Hühn: Das Schweben der Einbildungskraft. Eine frühromantische Metapher in Rücksicht auf Fichte. In:  

















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gewählt, und Schlegel baut die Idee einer schwebend-luftigen Verbindung direkt weiter aus: Die Harmonie wird ihm zufolge durch die „Fantasie“ erreicht. Hiermit muss sehr viel mehr gemeint sein als lediglich das kreative Schaffen neuer Einfälle oder das Ersinnen von Fiktionen. Deutlich wird dies durch den Autor, auf den Schlegel sich hier beruft, nämlich Spinoza. Für Schlegel lässt sich das gesamte System des Spinoza unter dem Gesichtspunkt der Phantasie zusammenfassen: Bei Spinoza finde man „den Anfang und das Ende aller Fantasie, den allgemeinen Grund und Boden, auf dem Euer Einzelnes ruht“. Diese Formulierung lässt zunächst offen, ob dieser „Anfang und Ende“ noch von der Art der Phantasie ist oder ob es hierin vielmehr um eine Beendigung der Phantasie geht. Schlegel selbst denkt offensichtlich an eine positive Weiterführung der Phantasie, wobei er dies über seine Wertschätzung des „Gefühls“ einführt: „Von der Art wie die Fantasie des Spinosa, so ist auch sein Gefühl“. Schlegel umschreibt die Rolle des Gefühls und damit der Phantasie in Fortsetzung der Metapher des Schwebens, in der dem Darüberschweben die Rolle des „allgemeinen Grund[es] und Boden[s]“ zukommt, den er in der Phantasie zu finden dachte: „[E]in klarer Duft schwebt unsichtbar sichtbar über dem Ganzen, überall findet die ewige Sehnsucht einen Anklang aus den Tiefen des einfachen Werks, welches in stiller Größe den Geist der ursprünglichen Liebe athmet.“58 In dieser Formulierung sind programmatisch mehrere Grundgedanken zusammengebracht, um die das Denken Schlegels und der Romantiker in dieser Zeit kreist: die ironische Verklammerung von Gegensätzen; die klassizistische Formel von der stillen Größe; die Topoi der Sehnsucht und Ewigkeit, nicht als unerfüllter Progress, sondern als begründender Dauerzustand. Essentiell sind die Konzepte, die das zusammenhalten: „Anklang“, „Duft“, der Hauch des Atems. Einheit wird nicht durch ein Aufsummieren noch durch ein Ausgleichen der Gegensätze erreicht; Harmonie bildet sich in einem Eintauchen in ein umfassendes Medium, das in sensorischen und emotional-organischen Metaphern umschrieben wird. Zugleich ist der Zusammenhang, der zwischen „Grund und Boden“ und den Einzeldingen gestiftet wird, nicht einer der Ableitung aus ersten Prinzipien. Ein scheinbar untergeordnetes Vermögen, dasjenige der Phantasie, trägt unter Berufung auf Spinoza die Gesamtheit eines idealistisch-realistisch verstandenen Denkens und Poetisierens. Spinoza wird nicht als Systematiker gelesen, der im mos geometricus das Konzept einer einheitlichen Substanz konsequent umsetzt, sondern als ein Denker des Gefühls. „Phantasie“ selbst ist kein Terminus der PhiFichte-Studien 12 (1997), S. 127–151; Christoph Asmuth: „Das Schweben ist der Quell aller Realität“. Platner, Fichte, Schlegel und Novalis über die produktive Einbildungskraft. In: e-journal Philosophie der Psychologie (www.jp.philo.at/texte/AsmuthC1.pdf; 6.10.2012). 58 Schlegel: Gespräch (Anm. 1), S. 100 f.  







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losophie Spinozas, wohl aber „imaginatio“, die Spinoza in der Tat aufwertet: Die imaginatio selbst verdankt sich einer „virtuti suae naturae“, einer positiven Tugend der menschlichen Natur, und enthält keinerlei Irrtum; nicht die Wahrheit, sondern vielmehr die Falschheit der Phantasiebilder bedürfe eines Nachweises.59 In der poetologischen Umsetzung spricht Schlegel diese Aufwertung des eben nur scheinbar Randständigen explizit aus: Er sieht in der bei Spinoza zu findenden Fundierung von Phantasie eine „große Aehnlichkeit mit jenem großen Witz der romantischen Poesie, der nicht in einzelnen Einfällen, sondern in der Construction des Ganzen sich zeigt“.60 Was herkömmlicherweise dem Einzelfall vorbehalten blieb, wird nun in denkbar umfassender Weise ausgeweitet. Das zugrunde liegende Methodenkonzept kann weder deduktiv – selbst in ihrer Steigerung zum „großen Witz“ können keine Grundsätze erreicht werden, aufgrund derer eine strikte Ableitung möglich wäre – noch induktiv sein: Ein witziger Einfall ist stets mehr als eine Einzelbeobachtung, die im Interesse einer induktiven Argumentation stets vermehrt werden kann. Witz und Phantasie werden hier direkt mit philosophischen Fachbegriffen, insbesondere dem der Konstruktion verbunden. Genau entsprechende Schritte und eine genau entsprechende Begrifflichkeit finden sich bei den Idealisten, die ebenfalls nach einem neuen „Organ“ der Philosophie suchen und dieses am deutlichsten eben in der Methode der „Konstruktion“ finden, die Schelling ab 1802 ausarbeitet. Das Ideal der Subsumtion, der Ableitung aus vorausgesetzten ersten Denkinhalten, wird hier ebenfalls abgewiesen. Nicht mehr die Konstruktion einzelner Phänomene ist wesentlich, sondern das Eintragen aller einzelnen Phänomene in einen universellen Horizont, der eine Begründung leistet, indem er sie insgesamt umfaßt.61 Konstruktion  



59 Vgl. v. a. Spinozas Ethica, 2 p 17 s (Benedictus de Spinoza: Ethica Ordine Geometrica demonstrata. In: Spinoza Opera – Werke, Bd. 2. Hrsg. v. Konrad Blumenstock. Darmstadt 1980, S. 84– 557, hier S. 198 f.). Zudem ist die imaginatio, wie v. a. Buch 3 der Ethica zeigt, engstens mit den Affekten des Menschen verbunden. – In der zeitgenössischen Diskussion vgl. z. B. Jacobis terminologischen Vorschlag, im Zusammenhang mit einer Erörterung der Philosophie Spinozas statt von Bewusstsein von einem „sentiment de l’être“ zu sprechen (Friedrich Heinrich Jacobi: Ueber die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn [1785]. In: Werke (Anm. 22), Bd. 1, 1. Hamburg, Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. S. 1–268, hier S. 105). Vgl. auch Beth Lord: Between Imagination and Reason. Kant and Spinoza on Fictions. In: Richard T. Gray u. a. (Hrsg.): Inventions of the Imagination. Romanticism and Beyond. Seattle, London 2001, S. 36–53. 60 Schlegel: Gespräch (Anm. 1), S. 102. – Zu Schlegels Verständnis von „Witz“ vgl. Gerhard Neumann: Ideenparadiese. Untersuchungen zur Aphoristik von Lichtenberg, Novalis, Friedrich Schlegel und Goethe. München 1976, S. 456–468; Neumann betont die synthetische Funktion des Witzes und hält fest, dass „Witz“ „beinahe mit ‚Sinn‘“ bedeutungsidentisch sei. 61 Vgl. dazu, mit weiteren Literaturangaben, Paul Ziche: Die „reinen Vernunftwissenschaften“: Mathematik und „Philosophie im Allgemeinen“. In: Ders. u. Gian Franco Frigo (Hrsg.): „Die  







































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bedeutet demzufolge eine Transzendierung des Einzeldinges hin auf einen allgemeinen Kontext, in dem es enthalten ist, innerhalb dessen es bestimmt wird, ohne aber daraus ableitbar zu sein. Die Symmetrie der Debatten bleibt auch hier auffallend. Gerade die philosophisch scheinbar untergeordneten Vermögen wie „Witz“, „Phantasie“ oder der gefühlskonnotierte „Duft“ erfahren eine Aufwertung, in der diese Vermögen in strukturelle Übereinstimmung gebracht werden mit den philosophisch ambitioniertesten Konzepten der idealistischen Philosophie. Wieder werden, im Moment des Aufkommens solcher Ordnungsbegriffe selbst, die Grenzen zwischen Idealismus und Realismus sofort unterlaufen. Eine Gegenüberstellung zwischen „Fakten“ und „Einbildungskraft“ wird damit unmöglich,62 nicht nur für die Idealisten und Romantiker, sondern, wie die aufgewiesenen Symmetrien zeigen, für die Debattenkonstellationen um 1800 insgesamt. Ein großes Verdienst romantischer und idealistischer Autoren liegt darin, diese Symmetrie und die daraus resultierenden Schwierigkeiten der Grenzziehung bemerkt und eigens kommentiert zu haben. Fichte und Schlegel halten übereinstimmend fest, dass eine dogmatische (ihr Ausdruck für ‚realistische‘) und idealistische Position einander nicht argumentativ widerlegen können, und Schlegel entwickelt in diesem Zusammenhang eine Typologie von Debattenformen, die deutlich an den zeitgenössischen Diskussionen zwischen Realisten und Idealisten orientiert ist.63 Wollte man doch einen Unterschied machen, müsste man, so Fichte und Schlegel, andere Strategien suchen. Fichte verschiebt die argumentative Analyse auf eine Charaktereigenschaft oder einen existentiellen Entschluss („Was für eine Philosophie man wähle, hängt sonach davon ab, was man für ein Mensch ist“).64 Schlegel übernimmt diesen Gedanken, dass es letztlich um ein Bekenntnis zu einer Philosophieform gehen müsse, nicht um eine beweisbare Bewertung. Grundlage hierfür müsse jedoch erst eine Darstellung „des Dogmatismus in seiner weitesten Ausdehnung“ sein, „wobey man die besten Dogmatiker benutz-

bessere Richtung der Wissenschaften“. Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ als Wissenschafts- und Universitätsprogramm. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, S. 89–114. 62 So z. B. noch bei Lorraine Daston: Wunder, Beweise und Tatsachen. Zur Geschichte der Rationalität. Frankfurt a. M. 2001, S. 108: „Zwischen 1780 und 1820 ändert sich diese Konfiguration dramatisch. Sehr verkürzt gesagt: Die Fakten erhärteten sich, die Einbildungskraft lief aus dem Ruder, und Kunst und Wissenschaft wichen in Zielen und kollektivem Persönlichkeitsprofil voneinander ab.“ 63 Fichte: Versuch (Anm. 17), S. 191–195; Friedrich Schlegel: Transcendentalphilosophie [Jena 1800–1801]. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 12. Hrsg. v. Jean-Jacques Anstett. Paderborn u. a. 1964, S. 1–105, hier S. 73. Beide erklären hieraus auch die polemische Schärfe der Debatten. 64 Fichte: Versuch (Anm. 17), S. 195.  























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te“.65 Die romantische Sensibilität für Gesprächsformen trägt wesentlich zur Konstitution der verschiedenen Denkformen bei, wie sie in stärker polemischer Absicht gleichzeitig auch „wir Realisten“ aufstellten, wobei für Schlegel genau in diesem Konstitutionsprozess bereits die Überwindung der polarisierenden Gegenüberstellungen angelegt ist.

65 Schlegel: Transcendentalphilosophie (Anm. 63), S. 73 f.; vgl. auch ders.: Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern [Köln 1804–1805], ebd., S. 107–480. – Zum Realismus S. 153–162.  











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Die Frühromantik als Bestandteil der klassischen deutschen Philosophie Die Frühromantik ist gewiss noch immer ein Stiefkind der Forschung zur klassischen Epoche der deutschen Philosophie nach Kant. Es ist keineswegs selbstverständlich, dass ihre Repräsentanten in einem Atemzug mit den ‚großen Drei‘ – Fichte, Schelling und Hegel – genannt werden.1 Dies liegt zum einen wohl noch immer an tiefsitzenden Vorurteilen gegenüber der Romantik, die vielen eher literaturgeschichtlich als philosophiehistorisch von Bedeutung zu sein scheint. Bestärkt wird diese Auffassung dadurch, dass die ‚romantischen‘ Philosophen, an erster Stelle Novalis, Friedrich Schlegel und Schleiermacher, keine ausgearbeiteten Hauptwerke (und nicht einmal Grundrisse wie Hegel) hinterlassen haben, die ihre philosophischen Bemühungen konzentriert zusammenfassen. Der Zugang ist sperrig. Er verlangt – wozu im gegenwärtigen, auf ‚Verschlankung‘ der Studiengänge und ‚effizienzorientierte‘ Forschung ausgerichteten akademischen Betrieb immer weniger Raum bleibt – ein langwieriges und umfassendes, entwicklungsgeschichtlich orientiertes Studium disparater Textsorten (Druckschriften, Entwürfe, Notizen, Briefe), aus denen ein Gesamtbild erst mühsam zu rekonstruieren ist. Zum anderen ist das Bild der Epoche, in der die Frühromantiker zu verorten sind, in mehrfacher Hinsicht getrübt. Die Verengung des Blickes auf Fichte, Schelling und Hegel hat die Vielfalt gleichzeitiger, aufeinander reagierender und konkurrierender Entwürfe in der nachkantischen Philosophie weitgehend ausgeblendet. Eine für die Diskussionen zentrale Figur wie Friedrich Heinrich Jacobi ist erst spät und bisher insgesamt eher unzureichend wahrgenommen worden, von weitgehend vergessenen Autoren wie Karl Heinrich Heydenreich einmal ganz abgesehen. Dies hat dazu geführt, dass die nachkantische Philosophie insgesamt als einheitliche Entwicklungsgeschichte einander ablösender Systeme gedeutet wurde, wahlweise „von Kant bis Hegel“2 oder bis zur „Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings“.3 Innerhalb solcher Sichtweisen  







1 Eine umfassende Korrektur sowohl des Bildes der Epoche insgesamt als auch der Bewertung der Romantik versuchen Walter Jaeschke u. Andreas Arndt: Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. München 2012. 2 Vgl. Richard Kroner: Von Kant bis Hegel. 2 Bde. Tübingen 1921–1924. 3 Walter Schulz: Die Vollendung des deutschen Idealismus in der Spätphilosophie Schellings. Stuttgart 1955.

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fallen auch die Frühromantiker unter den Tisch. Sie – und andere Autoren – erscheinen als bloße Fußnoten zur Entwicklung des ‚deutschen Idealismus‘. Dass dieses Etikett für die Epoche irreführend ist, wird gleich noch gezeigt werden. Hier ist vor allem festzuhalten, dass die Weite und Vielfalt der an Kant anschließenden Philosophie jede reduktionistische Sicht verbietet und auch allen Konstruktionen einer einlinigen Entwicklung entgegensteht. Angemessen wäre vielmehr ein ‚agonaler‘ Ansatz, der die Streitsachen in den Mittelpunkt stellt4 und die Vielstimmigkeit im Widerstreit über die Grundlegung einer Philosophie nach Kant zu Gehör bringt. Im Folgenden muss ich mich auf einige thetische Anmerkungen beschränken. Sie betreffen zunächst die Charakterisierung der Epoche selbst als ‚deutschen Idealismus‘(I); die Frage nach der Subjektivität (II); einige grundlegende Auffassungen zur Einordnung der Frühromantik in diese Epoche (III); die Bedeutung der Berufung auf Poesie im philosophischen Diskurs (IV); das Verhältnis der Frühromantik zu Fichte (V) und schließlich die Bedeutung der Frühromantik im Hinblick auf das Denken der Epoche (VI).  



I Die Einordnung der frühromantischen Philosophie innerhalb ihrer Epoche hängt entscheidend von der Sicht auf diese Epoche selbst ab. Das wäre eine triviale Feststellung, wenn nicht das Bild dieser Epoche strittig wäre. Der Titel meiner Ausführungen signalisiert, dass ich jedenfalls ihre noch immer geläufige Etikettierung als ‚Idealismus‘ – sei er nun deutsch oder nicht – vermeiden möchte, da sie das Selbstverständnis und die Problemlage der nachkantischen Philosophie nicht trifft. Bereits Kant bezeichnete den „kritischen Idealismus“ zugleich auch als „empirischen Realismus“,5 und auch Fichte will im theoretischen Teil der Wissenschaftslehre einen „Mittelweg zwischen Idealismus und Realismus“ aufzeigen.6 Gleiches lässt sich von Schelling und Hegel sagen; letzterer erklärte bündig: „Der Gegensatz von idealistischer und realistischer Philosophie ist […] ohne Bedeutung.“7  



4 Vgl. Walter Jaeschke (Hrsg.): Philosophisch-literarische Streitsachen. 4 Doppelbde. Hamburg 1990–1995. 5 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft [=KrV] B 274 ff.; KrV A 371. Vgl. Andreas Arndt: Ontologischer Monismus und Dualismus. In: Andreas Arndt u. Walter Jaeschke (Hrsg.): Materialismus und Spiritualismus. Hamburg 2000, S. 1–34. 6 Johann Gottlieb Fichte: Werke, Bd. 1. Hrsg. v. Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1971, S. 173. 7 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Lehre vom Sein (1832). In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 21. Hamburg 1968 ff., S. 142. – Die gelungene Vereinigung von Realismus und Idealismus bezeichnet  















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Wenn nicht eine Steigerung des Idealismus, sondern die Überwindung der Alternative von Idealismus und Realismus das Programm der nachkantischen Epoche ist, dann kann es hier auch weder eine Vollendung des Idealismus noch „Auswege aus dem Deutschen Idealismus“8 geben, wie Manfred Frank ein Buch betitelt hat, in dem er die Frühromantiker einer solchen Suche nach Auswegen zuschlägt. Tatsächlich reihen sich die Frühromantiker in das skizzierte Programm ein. Schon am Beginn der Fichte-Studien erklärt etwa Friedrich von Hardenberg (Novalis), es gehe ihm um das Absolute als das „Ursprünglich Idealreale oder idealreale“;9 dementsprechend heißt es dann im Allgemeinen Brouillon: „Idealisierung des Realism – und Realisierung des Idealism führt auf Wahrheit“.10 Bei Schleiermacher und Schlegel sieht es nicht anders aus. Ich zitiere aus einem Brief Schleiermachers vom März 1801:  

Die Vereinigung des Idealismus und des Realismus ist das, worauf mein ganzes Streben gerichtet ist, und ich habe darauf nach Vermögen hingedeutet in den Reden sowohl als in den Monologen; aber freilich liegt der Grund davon sehr tief, und es wird nicht leicht sein, beiden Parteien den Sinn dafür zu öffnen. Schlegel, der schon so viel dahin Abzielendes gesagt hat, wird nicht verstanden.11

Hierbei könnte Schleiermacher an Schlegels berühmte Rede über die Mythologie in dem Gespräch über die Poesie gedacht haben, das 1800 im Athenaeum erschien; es heißt dort: „Der Idealismus in jeder Form muß auf eine oder die andre Art aus sich herausgehn, um in sich zurückkehren zu können, und zu bleiben was er ist. Deswegen muß und wird sich aus seinem Schooß ein neuer eben so gränzenloser Realismus erheben“.12 Das sind Deklarationen, gewiss. Gleichwohl können und sollten sie zu der Einsicht verhelfen, dass die frühromantische Philosophie sich nicht abseits der Bewegung der nachkantischen

der junge Schelling (Ueber das Verhältniß der Naturphilosophie zur Philosophie überhaupt, 1802) als „absoluten Idealismus“ (Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Sämmtliche Werke, Bd. I/5. Hrsg. v. Karl Friedrich August Schelling. Stuttgart, Augsburg 1856 ff., S. 112), aber das ist eben eine Bezeichnung für die Identität des Idealismus und Realismus. – Vgl. auch Walter Jaeschke: Zur Genealogie des Deutschen Idealismus. Konstitutionsgeschichtliche Bemerkungen in methodologischer Absicht. In: Materialismus und Spiritualismus (Anm. 4), S. 219–234. 8 Manfred Frank: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M. 2007. 9 Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Stuttgart 1967 ff. [im Folgenden: NS], Bd. 2, S. 114. 10 NS, Bd. 3, S. 384 f. 11 An Friedrich Heinrich Christian Schwarz, 28. März 1801. In: Friedrich Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe. Berlin, New York 1980 ff. [im Folgenden: KGA], Abt. V, Bd. 5, S. 73. 12 Friedrich Schlegel: Schriften zur Kritischen Philosophie 1795–1805. Hrsg. v. Andreas Arndt u. Jure Zovko. Hamburg 2007, S. 98 f.  



































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Philosophie konstituiert und entfaltet, sondern auf deren Grundlage und im Zentrum ihrer Problematik.

II Die Frage nach der Vereinigung von Idealismus und Realismus betrifft nicht zuletzt auch die Frage nach dem Status von Subjektivität. Bei Kant steht der empirische Realismus in einer Spannung zum kritischen bzw. transzendentalen Idealismus. Es handelt sich um einen uneingestandenen Dualismus, den Kant auf der Begründungsebene der Transzendentalphilosophie unbedingt vermeiden will. Hier macht er das reine Selbstbewusstsein zum „höchsten Punkt“13 der theoretischen Philosophie, die Vergewisserung dieses Selbstbewusstseins kann jedoch wiederum nur auf empirischem Wege erfolgen. Der Satz „Ich denke“, so schreibt Kant, drücke eine „unbestimmte empirische Anschauung, d.i. Wahrnehmung“ aus.14 In diesen Formulierungen schlägt der Dualismus auf die transzendentale Begründungsebene zurück. Daran, dass zwischen dem Begründungsproblem des transzendentalen Idealismus bei Kant in seiner Theorie des Selbstbewusstseins und dem Problem empirischer Realitätsgewissheit ein Zusammenhang besteht, ist deshalb besonders zu erinnern, weil die Diskussionen im Anschluss an Kant schlicht unverständlich werden, wenn sie subjektivitätstheoretisch auf das Problem des Selbstbewusstseins reduziert werden.15 Dass die von Kant auf den Weg gebrachte Transzendentalphilosophie nach ihm mit einem Spinozismus kombiniert und somit ein Einheitspunkt jenseits des Gegensatzes von Subjektivität und Objektivität (und das heißt auch: jenseits des Gegensatzes von Selbst- und Weltbewusstsein) ins Auge gefasst wurde, ist, so muss betont werden, Konsequenz der Kantischen Problemstellung selbst und kein Rückfall in vorkritisches Denken. So begründet, entgegen dem ersten Anschein, die Frühromantik alles andere als eine Entfesselung der Subjektivität. Novalis’ berühmte Sentenz, dass das Weltall in uns sei und deshalb „der geheimnißvolle Weg“ nach innen anzutreten sei,16 ist nur die halbe Wahrheit. Die Reise nach innen ist der Versuch, „sich seines transcendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ich’s zugleich zu

13 KrV B 134. 14 KrV B 422. 15 Vgl. Walter Jaeschke: Artikel ‚Selbstbewußtsein. II. Neuzeit‘. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9. Hrsg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Darmstadt 1995, Sp. 352–371. 16 NS, Bd. 2, S. 418 f.  









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seyn.“17 Sie führt zu einer Trennung und Entgegensetzung im Ich selbst, die wir nicht überspringen können. Das Ich, das wir in uns finden, ist damit gar nicht das Unendliche, denn als solches wäre es vielmehr absolute Einheit. Das heißt wenigstens, dass das Ich nicht unmittelbar zugänglich wird. Die Bemächtigung des Ich ist, wie Novalis betont, Aufgabe der Bildung. Bildung ist in der Sprache der Frühromantiker poiesis, nach außen gerichtete Tätigkeit. Der Regress, der Rückgang in sich, schlägt daher um in den unendlichen Progress, in das tätige Aus-sich-Herausgehen: „Der erste Schritt wird Blick nach Innen, absondernde Beschauung unsres Selbst. Wer hier stehn bleibt, geräth nur halb. Der zweyte Schritt muß wirksamer Blick nach Außen, selbstthätige, gehaltne Beobachtung der Außenwelt seyn“.18 In diesem Hinausgehen in die Welt der Dinge kommt der Realismus zum Zuge, der notwendiges Komplement des Selbstbezugs ist. Gleiches ließe sich bei Friedrich Schlegel zeigen. Fichte mit seinem Ausgang bei der tätigen Subjektivität gilt ihm zunächst nur als Korrektiv gegen die „Objektivitätswut“ seiner Studien zum Klassischen Altertum;19 umgekehrt aber fehlt Fichte in den Augen Schlegels das Element wahrhafter Objektivität, vor allem der Objektivität der Geschichte.20 Und auch für Schleiermacher gilt, dass Selbstbewusstsein zugleich Weltbewusstsein sein müsse; ihm zufolge ist das Bewusstsein Gottes als des transzendentalen Grundes „als Bestandtheil unseres Selbstbewußtseins sowol als unseres äußeren Bewußtseins“21 gegeben. In ihm sind empirischer Realismus (im Sinne Kants) und praktischer Idealismus (im Sinne Fichtes) vereinigt, denn das ‚Gesetztsein‘ der Dinge in uns ist Realismus, während das Setzen unseres Seins in die Dinge Idealismus ist.

17 Ebd., S. 424 f. 18 Ebd., S. 422 f. 19 Friedrich Schlegel: Werke. Kritische Ausgabe. Paderborn u. a. 1958 ff. [im Folgenden: KFSA], Bd. 2, S. 155 (Lyceum-Fragmente); vgl. an Christian Gottfried Körner, 21. September 1796. In: KFSA, Bd. 23, S. 332: „Ich bin sehr fleissig gewesen, habe mich aber fast nur mit den Neuern beschäftigt. Ich treibe es mit grossem Eifer und bin in sehr unklassischen oder antiklassischen Schriftstellern vergraben. Ich war auf dem besten Wege von der Welt mich im Studium der Antiken zu petrifizieren. Doch hoffe ich, war es noch Zeit genug, um die Biegsamkeit des Geistes zu retten.“ 20 Vgl. an Christian Gottfried Körner, 21. September 1796: „Fichte sehe ich ziemlich oft […]. Es ist merkwürdig, wie er von allem, was er nicht ist, so ganz und gar keine Ahndung hat. – Das erstemahl, da ich ein Gespräch mit ihm hatte, sagte er mir: er wolle lieber Erbsen zählen, als Geschichte studieren. Ueberhaupt ist er wohl in jeder Wissenschaft schwach und fremd, die ein Objekt hat.“ (KFSA, Bd. 23, S. 333) 21 Schleiermacher: KGA Abt. II, Bd. 10, 1, S. 143.    







   





















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III Die frühromantische Philosophie trat erst post festum als eigenständige und gleichberechtigte Formation innerhalb ihrer Epoche in den Blick. Rudolf Haym mit seinem Werk Die Romantische Schule und Wilhelm Dilthey mit seinem Leben Schleiermachers – beide Bücher sind 1870 erschienen – leiteten die Historisierung dieser Epoche ein. Vor allem Dilthey wandte sich dabei gegen die Fixierung auf Kant, Fichte, Schelling und Hegel und forderte ein neues Bild der Epoche, das auf „einem vergleichenden Studium dieser ganzen Gruppe von Systemen“ unter Einschluss der Frühromantik beruhen sollte.22 Das geschah freilich bald eher im Zeichen des ‚deutschen Geistes‘ und verdeckte zunehmend den aufklärerischprogressiven, revolutionären Impetus der Frühromantik gegenüber der späteren, der ‚enttäuschten Romantik‘ nach 1805/06. Die Korrektur dieses Bildes setzte erst im 20. Jahrhundert ein. Hier sind zunächst zwei Forscher zu nennen: Walter Benjamin und Josef Körner. Walter Benjamin promovierte 1919 mit einer Arbeit über den Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, die trotz aller heute offenkundigen Unzulänglichkeiten seiner Textbasis noch immer die gewagteste, aber auch gelungenste philosophische Synthese des frühromantischen Geistes darstellt. Wer die systematischen Gehalte der Frühromantik in ihrer Stärke zur Kenntnis nehmen will, kommt an diesem Buch nicht vorbei. Der zweite Forscher ist der Prager Germanist und Philosoph Josef Körner. In einer Vielzahl von Editionen hat Körner unsere Kenntnis der Frühromantik und besonders der Theorie Friedrich Schlegels entscheidend erweitert und ihren Perspektivenreichtum erschlossen. Körner hatte einen Blick für die Zusammenhänge der Epoche; er zog die Linien von Schlegels Hermeneutik zu Schleiermacher und von Schlegels dialektischer Transzendentalphilosophie zu den Dialektik-Konzeptionen von Schleiermacher und Hegel. Die Forschung ist ihm hierin erst Jahrzehnte später gefolgt. Körner wirkte auch der dumpfen Verengung auf einen nationalen Rahmen entgegen. In seinem Buch Die Botschaft der deutschen Romantik an Europa (1929) schreibt er ihr die Entdeckung der Geschichte als Menschheitsgeschichte, als Geistesgeschichte in weltbürgerlicher Absicht zu. Aber erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde – nicht zuletzt durch Helmut Schanzes bahnbrechendes Buch Romantik und Aufklärung (Nürnberg 1966) – die Frühromantik als eine dem Zeitgeist dieser Jahre kongeniale ‚andere Romantik‘ breit rezipiert, freilich – zumindest in Deutschland – weniger in der Philosophie als in den Literaturwissenschaften. Noch 1985 konnte Jürgen Habermas in seinem Buch Der philosophische Diskurs der Moderne schreiben, Friedrich Schlegels Absicht sei es gewesen,  













22 Wilhelm Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 1. Berlin 1870, S. 350 f.  





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mit Hilfe einer „autonom gewordene[n], von Beimengungen der theoretischen und praktischen Vernunft gereinigte[n] Poesie […] das Tor zur Welt der mythischen Ursprungsmächte“ zu öffnen.23 Wie verfehlt diese Ansicht ist, zeigt sich auch in der zeitgeschichtlichen Perspektive. Die Frühromantiker teilten den Enthusiasmus vieler Zeitgenossen angesichts der Französischen Revolution. Dies gilt für Novalis24 und auch für Schleiermacher.25 Friedrich Schlegel geht hier am weitesten, wie nicht nur das berühmte „Tendenzen“-Fragment im Athenaeum zeigt: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre, und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.“26 Noch in seinen Wiener Vorlesungen über die Geschichte der alten und neuen Literatur (1812) parallelisiert er die philosophische Bewegung in Deutschland mit der Französischen Revolution: „so nahm in Deutschland […] die absolute Vernunft ihre Richtung ganz nach innen, statt der bürgerlichen Revolutionen, in metaphysischem Kampfe Systeme erzeugend und wieder zerstörend“.27 In gleicher Weise hatte sich Hegel geäußert: „Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist“.28

IV Weder idealistisch noch in einem bornierten Sinne deutsch, sondern integraler Bestandteil der nachkantischen Klassischen Deutschen Philosophie – so ließe  

23 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 1985, S. 112. 24 Vgl. die Reminiszenz in dem Gedicht Am Sonnabend Abend. In: NS, Bd. 1, S. 387 f. und den dazugehörigen Kommentar S. 618. 25 „Ich scheue mich gar nicht“, so schreibt Schleiermacher an seinen Vater, „Ihnen zu gestehen, daß ich die französische Revolution im Ganzen genommen sehr liebe, freilich […] ohne Alles, was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei gethan haben, und was, wenn es sich auch in der Reihe der Dinge als unvermeidlich darstellen läßt, doch nicht als gut gebilligt werden kann – mit zu loben, und noch viel mehr ohne den unseligen Schwindel einer Nachahmung davon zu wünschen, und alles über den Leisten schlagen zu wollen – ich habe sie eben ehrlich und unpartheiisch geliebt“. Zwar mißbilligt Schleiermacher die Hinrichtung des Königs, aber nur deshalb, weil er ihn für unschuldig hält, nicht deshalb, weil er als König nicht hingerichtet werden dürfe (14.2.1793. In: KGA Abt. V, Bd. 1, S. 280 f.). 26 KFSA, Bd. 2, S. 198. 27 KFSA, Bd. 6, S. 411. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Theorie-Werkausgabe, Bd. 20. Frankfurt a. M. 1970, S. 314.  



































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sich das bisher Gesagte zusammenfassen. Der Anerkennung der philosophischen Leistungen der Frühromantik stand und steht (bis hin zu Habermas) jedoch die Auffassung entgegen, sie sei weniger philosophisch von Bedeutung als vielmehr poetologisch, und das auch nur in einem spezifischen Sinne. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst hat Hegel dieses Urteil mit Blick auf Friedrich Schlegel begründet; es heißt dort: Aus dieser Richtung und besonders den Gesinnungen und Doktrinen Friedrich von Schlegels entwickelte sich ferner in mannigfacher Gestalt die sogenannte Ironie. Ihren tieferen Grund fand dieselbe, nach einer ihrer Seiten hin, in der Fichteschen Philosophie, insofern die Prinzipien dieser Philosophie auf die Kunst angewendet wurden.29

Nun haben alle Protagonisten der Frühromantik (wie übrigens auch Schelling) das Projekt einer „Revolution aller Wissenschaften und Künste“ und demgemäß auch die Durchdringung von Wissenschaft und Kunst, Philosophie und Poesie verfolgt. Das bedeutet aber gerade nicht, dass dieses Projekt sich in der Poesie erschöpfen könnte. Gerade für Friedrich Schlegel gilt, dass Poesie – der DiotimaRede in Platons Symposion entsprechend (205b.c.) – ein umfassenderes Bedeutungsspektrum hat als „Dichtung“, nämlich als Poiesis bzw. „Bildung“ zu verstehen ist.30 Für Schlegel ist Bildung das wahrhafte Seiende, οντως ον, das sich geschichtlich realisiert.31 Das geschichtliche Weltverhältnis des Menschen ist das unendliche Nach- und Fortbilden an und in einer vorgebildeten, aber nie vollendeten Welt. Vor dem Hintergrund dieser geschichtlichen Poiesis ist auch das Konzept der „Universalpoesie“ zu verstehen, wie es in dem bekannten Athenaeum-Fragment 116 entwickelt wird. Dass alles Poesie ist bzw. poetisiert werden kann, verweist wiederum darauf, dass Bildung das wahrhaft Seiende sei: Poesie und poiesis (Bildung, herstellendes Tun) substituieren sich wechselseitig in dem Maße, wie auch Poesie und Philosophie sich durchdringen: „Die ganze Geschichte der modernen Poesie ist ein fortlaufender Kommentar zu dem kurzen Text der Philosophie: Alle Kunst soll Wissenschaft, und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt sein.“32  



29 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik. Hrsg. v. Friedrich Bassenge. Berlin, Weimar 1965, S. 72. 30 Vgl. Andreas Arndt: Poesie und Poiesis. Anmerkungen zu Hölderlin, Schlegel und Hegel. In: Bärbel Frischmann (Hrsg.): Sprache – Dichtung – Philosophie. Heidegger und der Deutsche Idealismus. Freiburg, München 2010, S. 61–75. 31 Zum Bildungsbegriff vgl. KFSA, Bd. 12, S. 33.38–43.57 f.; KFSA, Bd. 18, S. 376 (Nr. 673) und S. 293 (Nr. 1174). 32 Lyceum-Fragment 115; KFSA, Bd. 2, S. 161.  



























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Auch für Friedrich von Hardenberg wurde, besonders für die Zeit nach dem Tod seiner Braut Sophie von Kühn, vielfach eine Orientierung auf die Poesie als Überstieg über die Philosophie angenommen.33 Tatsächlich ist die Poesie für Novalis „Medium der Verganzung“,34 d. h. der Konstruktion eines Zusammenhangs des Wissens (im Sinne der Poiesis). Die Poesie setzt die Philosophie dort fort, wo die begrifflichen Erkenntnismittel nach Hardenbergs Auffassung versagen, nämlich beim „Leben“: „Wie die Philosophie […] das Ganze zum Organ des Individuums, und das Individuum zum Organ des Ganzen macht – So die Poësie, in Ansehung des Lebens“.35 In diesem Sinne ist für Hardenberg „gleichsam Poësie der Schlüssel der Philosophie, ihr Zweck und ihre Bedeutung.“ Die Poesie, von der hier die Rede ist, ist aber nicht jede Dichtung, sondern „transcendentale Poësie […] aus Philosophie und Poësie gemischt.“36 Es handelt sich hierbei um eine philosophisch begründete und reflektierte Poesie: „Die Poësie ist der Held der Philosophie. Die Philosophie erhebt die Poësie zum Grundsatz. Sie lehrt uns den Werth der Poësie kennen. Philosophie ist die Theorie der Poësie. Sie zeigt uns was die Poesie sey, daß sie Eins und alles sey“.37 Das Poetisieren als „Verganzen“ (Totalisieren) ist somit eine Praxis der Philosophie. Sie unterscheidet sich von der gewöhnlichen Poesie ausdrücklich dadurch, dass sie eine Totalsynthese anstrebt; ihr Subjekt ist deshalb ausdrücklich nicht der Poet, sondern der „philosophische Poët“.38 Für Schleiermacher schließlich ist die Kunst – im Sinne der Rede von den schönen Künsten – Bestandteil des ethischen Prozesses als Prozess der Beseelung der menschlichen Natur durch die Vernunft. Die Kunst gehört zum individuellen Symbolisieren qua Gefühl und steht damit systematisch in größtmöglicher Nähe zur Religion. Die ethische Dimension der Kunst besteht darin, „daß jedes Gefühl in Darstellung übergehe: Alle Menschen sind Künstler“.39 Hiermit wird Schlegels Programm der „Universalpoesie“ aufgenommen, ohne dass dabei der Kunst im engeren Sinne eine privilegierte Erkenntnisrolle zugeschrieben würde.  







33 Cf. kritisch dazu Hermann Kurzke: Novalis. München 1988, S. 8 ff. – Die Annahme eines Bruchs wird detailliert zurückgewiesen in der auch in anderen Hinsichten bemerkenswerten, leider nicht gedruckten Arbeit von Christian Gmelin: Lebenskunst. Über die Romantisierung von Mensch und Natur bei Friedrich von Hardenberg. Magisterarbeit FU Berlin 2006. 34 Jonas Maatsch: „Naturgeschichte der Philosopheme“. Frühromantische Wissensordnungen im Kontext. Heidelberg 2008, S. 152. – Der Ausdruck „Verganzung“ wird NS 2, S. 270 gebraucht. 35 NS, Bd. 2, S. 533; auch das Folgende. 36 Ebd., S. 536. 37 Ebd., 590 f. 38 NS, Bd. 3, S. 415. 39 Ebd., S. 184.  























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Fazit: Die Poesie ist, bezogen auf den philosophischen Diskurs der Frühromantik, nicht beschränkt auf die schönen Künste und in diesem weiteren Verständnis ein philosophisch begründetes und legitimiertes Verfahren der Universalisierung bzw. Totalisierung des theoretischen und praktischen Verhaltens zur ‚Welt‘. Sofern der so verstandenen Poesie eine über das Begriffliche hinausgehende Erkenntnisleistung zugeschrieben wird, geht es sachlich um die Bestimmung der Grenzen der Vernunft im Gefolge der Kantischen Philosophie:

V Bereits die Spätaufklärer hatten die Frühromantiker – namentlich Friedrich Schlegel und Schleiermacher – als Anhänger der ‚neuesten‘ Philosophie verbucht, d. h. als Anhänger Fichtes. Sie erschienen so überwiegend als unselbständige Adepten, deren vermeintliche Originalität eher darin bestand, Fichte bisweilen gründlich missverstanden zu haben. Vor allem Friedrich Schlegel galt (und gilt) weithin als Anhänger der Fichteschen Philosophie, wozu seine Deklarationen, etwa im bereits zitierten „Tendenzen“-Fragment im Athenaeum, sicherlich beigetragen haben: „Die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters.“40 Nun wäre es natürlich absurd, zu bestreiten, dass die Auseinandersetzung mit Fichte für Schlegel von großer Bedeutung ist. Tatsächlich erfolgt diese Auseinandersetzung jedoch auf dem Boden einer Position, die Schlegel bereits vor der Bekanntschaft mit Fichtes Philosophie in den Grundzügen entwickelt und deren Referenzpunkt, neben Platon, vor allem Kant ist. Rückblickend schreibt Schlegel über die Anfänge seines Philosophierens:  





Aus dem gänzlichen absoluten Skeptizismus (theoretisch und moralisch) – war das einzige, woran ich mich damals festhielt, die intellektuelle Begeisterung, als das göttlich Positive des geistigen Lebens […]. – Diese intellektuelle Begeisterung schloß sich theils an den Enthusiasmus der Platonischen Philosophie im Wesen an; in der Form aber an die Kantische Philosophie.41  



Ich habe an anderer Stelle ausführlich gezeigt, dass – vor dem Hintergrund der Aufklärungsphilosophie – Enthusiasmus und Skepsis, Platon und Kant sich bereits beim frühen Friedrich Schlegel zu einem Grundmuster verbinden, das auch  



40 KFSA, Bd. 2, S. 198. 41 Aus einem noch unveröffentlichten Heft Studien des Altertums; zitiert in Ernst Behlers Einleitung zu KFSA I, S. XCI.  



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in der Phase der im eigentlichen Sinne frühromantisch-kritischen Philosophie bis einschließlich der Jenaer Transzendentalphilosophie-Vorlesung (1800/01) uneingeschränkt in Geltung bleibt.42 Dies betrifft vor allem die Verbindung von Spekulation und Empirie durch die historische Kritik und mit ihr die (später so genannte) Historisierung des Transzendentalen. Auch wenn sich diese frühe Phase des Schlegelschen Denkweges aufgrund der schlechten Überlieferungslage insgesamt nicht detailliert rekonstruieren lässt, legen die erhaltenen Zeugnisse den Schluss nahe, dass Schlegel Fichte mit einer eigenen Position begegnet, die er in der Auseinandersetzung mit Fichte modifiziert (vor allem im Hinblick auf die Überwindung des früheren Objektivismus), jedoch nicht aufgibt. Vergleichbar differenziert muss das Verhältnis Friedrich von Hardenbergs zu Fichte bestimmt werden. Dass die Fichte-Studien schon im Ansatz auch fichtekritisch argumentieren, ist hinlänglich bekannt und hat etwa Herbert Uerlings zu der Einschätzung geführt, niemand könne „heute noch ernsthaft behaupten, Hardenberg sei Fichteaner gewesen“.43 Dem hat Bernward Loheide widersprochen; allerdings konnte er dies nur, sofern nach seiner Auffassung Hardenbergs Kritik an Fichte dessen spätere Wissenschaftslehren antizipiert.44 Wie auch immer das im einzelnen beurteilt werden mag: fest steht, dass auch Novalis mehr ist als ein bloßer Adept Fichtes. Als ein Beleg sei Hardenbergs Brief an Friedrich Schlegel vom 14.6.1797 zitiert: „Du bist erwählt gegen Fichtes Magie die aufstrebenden Selbstdenker zu schützen. […] Manchen Wink, manchen Fingerzeig, um sich in diesem furchtbaren Gewinde von Abstractionen zurechtzufinden, verdank ich lediglich Dir und der mir vorschwebenden Idee Deines freyen, kritischen Geistes.“45 Im Unterschied zu Friedrich Schlegel und Hardenberg fehlt bei Schleiermacher ein einschneidendes Fichte-Erlebnis; sein Denkweg vor der Begegnung mit Schlegel stellte sich, wie bereits Wilhelm Dilthey treffend schrieb, „als eine Combination von Kant und Spinoza“ dar.46 Auch später begegnete er Fichte durchweg kritisch, obwohl ihn das nicht davor schützte, für einen Fichteaner gehalten zu werden: Jacobi erkannte in den Reden über die Religion (1799) Fichte-

42 Andreas Arndt: Fichte und die Frühromantik (F. Schlegel, Schleiermacher). In: Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph (Hsrg): Wissen, Freiheit, Geschichte. Die Philosophie Fichtes im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 1. Amsterdam, New York 2010, S. 45–62. 43 Herbert Uerlings: Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis. Werk und Forschung. Stuttgart 1991, S. 136. 44 Bernward Loheide: Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantischen Diskurs. Amsterdam, Atlanta 2000. 45 NS, Bd. 4, S. 230. 46 Dilthey: Leben Schleiermachers (Anm. 22), S. 298.  















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sches Gedankengut, und die anonym publizierten Monologen (1800) wurden vielfach für ein Werk Fichtes gehalten. Das Verhältnis der philosophischen Frühromantik zu Fichte macht exemplarisch deutlich, dass sich die Klassische Deutsche Philosophie in ihrem vollständigen Tableau nicht als Abfolge von Schulen und Positionen entlang einer angenommenen Linie von Kant bis Hegel rekonstruieren lässt. Aber auch mit Blick auf die Konstellationen am Ursprung dieser Philosophie wird deutlich, dass die Problembestände sich nicht aus einer solchen Linie herleiten lassen. Schleiermacher etwa entwickelt seine mit der Frühromantik kompatible Grundposition in der Auseinandersetzung mit Kant und Jacobis Spinoza – ohne Kontakt zu den Jenaer Kreisen, geschweige denn zu den Tübingern.  

VI Zum Schluss sei wenigstens noch angedeutet, was denn nun das spezifische Profil der frühromantischen Philosophie innerhalb der Klassischen Deutschen Philosophie ausmacht. Die Komplexität der Positionen und auch ihre Differenzen werde ich hierbei freilich nicht einholen können; nur soviel sei bemerkt, dass die Forschung gut daran täte, sich von der Vorstellung einer einheitlichen frühromantischen Bewegung zu verabschieden. Gleichwohl lassen sich gemeinsame Problemkonstellationen benennen. (a) Da ist zuerst der Bezug auf ein Unbedingtes oder Absolutes, das sich freilich dem begreifenden Erkennen entzieht. „Wir suchen überall das Unbedingte und finden nur Dinge“, dieser Satz Hardenbergs trifft auch den Gehalt der „Sehnsucht nach dem Unendlichen“ bei Schlegel oder der Anschauung des Universums in Schleiermachers Reden. Es handelt sich dabei, anders als Hegel in Glauben und Wissen (1802) suggeriert, nicht um ein subjektives Sehnen, sondern um diejenige Problematik, die Kant in der transzendentalen Dialektik der Kritik der reinen Vernunft behandelt: das Scheitern der Vernunft in Ansehung der Bestimmung des Unbedingten. Auch für Schlegel und Hardenberg ist dies, nach dem Vorgang Kants, mit einem Selbstwiderstreit der Vernunft verbunden.47 Schleiermacher dagegen versucht, den Bezug auf das Unbedingte qua Gefühl unmittelbar in Identitätsrelationen des begrifflichen Denkens umzusetzen. In allen Konzeptionen steht der Bezug auf das Unbedingte (Unendliche/Absolute)  

47 Andreas Arndt: Widerstreit und Widerspruch. Gegensatzbeziehungen in frühromantischen Diskursen. In: Romantik/Romanticism. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus/International Yearbook of German Idealism. Berlin, New York 2008, S. 80–100.  

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für ein Totalisieren bzw. Universalisieren, das z. B. von Novalis mit „Romantisieren“ gleichgesetzt wird.48 (b) Der Bezug auf das Unbedingte wird in eine begriffliche, objektiv gerichtete Erkenntnis zurückgebogen, welche sich auf die ganze Empirie erstreckt. Dies betrifft alle der drei genannten Protagonisten der Frühromantik. Hierin kommt das realistische Moment zum Zuge. Die Frühromantik ist weder Höhenrausch des Absoluten noch Flucht in die Innerlichkeit der Subjektivität, sondern ihre Position bestimmt sich durch die fortgesetzte Dynamik eines Wechsels von Enthusiasmus und Skeptizismus (Schlegel), Innen und Außen (Novalis) bzw. Individuum und Gemeinschaft (Schleiermacher). (c) Das Totalisieren ergibt dabei – wiederum im Gefolge Kants – die systematische Perspektive für das objektive Erkennen. Die Idee eines im Unbedingten begründeten systematischen Zusammenhangs unseres Wissens und Tuns ist leitend für die Systematisierung des realen Wissens. Sehr deutlich bringt Schleiermacher dies in seinen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre (1803) auf den Punkt: „Von einem […] systematischen Realen, muß nun unfehlbar auch die ideale Darstellung systematisch ausfallen, wenn sie anders getreu sein, und die Idee nicht verlassen will, unter welcher das Reale, worauf sie sich bezieht, wenn gleich nur problematisch ist angeschaut worden.“49 Im Unterschied zu Kant wird die Systematizität nicht nur der (unerreichbaren) Vernunft-Einheit, sondern mit der älteren Tradition des Systembegriffs der Realität selbst zugeschrieben. Schon 1793 schrieb auch Schlegel: „Es giebt nur Ein wirkliches System – die große Verborgene, die ewige Natur, oder die Wahrheit.“50 Da weder die Vernunft-Einheit begrifflich erfasst und systematisch abschließend dargestellt noch die Empirie erschöpft werden kann, entsteht die bekannte, von Schlegel wie Hardenberg fast gleichlautend beschriebene Paradoxie des „Systems der Systemlosigkeit“. Sie ist indessen mehr als bloß eine geistreiche Paradoxie, sondern beschreibt den Prozesscharakter der sich fortschreitend nicht nur suchenden, sondern im wirklichen, objektiv gültigen Wissen auch fortschreitend sich realisierenden Vernunft.51  











48 Vgl. NS, Bd. 3, S. 256, Nr. 87: „R OMANTIK . Absolutisierung – Universalisierung – Classification des individuellen Moments, der individuellen Situation etc. ist das eigentliche Wesen des Romantisierens. vid. Meister. Mährchen.“ Schleiermacher: „das absolut Gemeinschaftliche soll wieder ein Individuelles werden; das Individuelle soll wieder in eine Gemeinschaft treten.“ (Friedrich Schleiermacher: Entwürfe zu einem System der Sittenlehre. Hrsg. v. Otto Braun. Leipzig 1913, S. 91) Ebenso Friedrich Schlegel, nach dem das Individuum als „Bild der einen unendlichen Substanz“ selbst unendlich ist, weil es „das Unendliche darstellen soll“ (KFSA 12, S. 39). 49 Schleiermacher: KGA Abt. I, Bd. 4, S. 268. 50 An August Wilhelm Schlegel, 28. August 1793. In: KFSA, Bd. 23, S. 129 f. 51 Vgl. dazu Andreas Arndt: Friedrich Schlegels dialektischer Systembegriff. In: Christian Danz u. Jürgen Stolzenberg (Hrsg.): System und Systemkritik um 1800. Hamburg 2011, S. 287–300.  



























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(d) Dies führt auf einen Punkt, an dem eine m.E. entscheidende Leistung der Frühromantik festzumachen ist: das Geschichtlichwerden der Vernunft in einem umfassenden Sinne. Und zwar handelt es sich hier weder um eine bloß pragmatische Geschichte des menschlichen Geistes (Fichte) noch um eine Geschichte des Selbstbewusstseins (Schelling), sondern um die systematische Verschränkung von Universalgeschichte und Geschichte der Vernunft. Schlegel ist hier am radikalsten, wenn er mit der Historisierung des Transzendentalen – die mit der allgemeinen Historie zusammenfällt – eine historische Konstitution der Vernunft ins Auge fasst. In der Durchführung dieser Problematiken, und damit möchte ich schließen, erweist sich die frühromantische Philosophie, wie es dem Selbstverständnis ihrer Protagonisten entspricht, als avantgardistisch. Sie ist dies in dem Sinne, dass sie in – teilweise auch widersprüchlichen und nicht zu Ende geführten – theoretischen Experimenten die durch die skizzierte Problemlage eröffneten Möglichkeiten durchspielt. Die dabei aufscheinenden Perspektiven werden in der Bewegung der Klassischen Deutschen Philosophie vielfach erst sehr viel später eingeholt. Besonders Friedrich Schlegel antizipiert, trotz aller Unterschiede nicht nur im Detail, Hegelsche Denkfiguren in seinen Konzepten zur Dialektik (seit 1796) und zur Historisierung des Transzendentalen. Solche avantgardistische Rolle frühromantischer Philosophie tritt aber meines Erachtens nicht dort hervor, wo vermeintlich die Phantasie an die Macht gebracht, d. h. das Poetisieren entgrenzt wird, sondern dort, wo sich auch scheinbare Paradoxien noch in einem begrifflichen Rahmen rekonstruieren und als notwendig erweisen lassen.  











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Hegels Kritik an der Romantik „Hegels Kritik an der Romantik“ – im strengen Sinne ist dieser Titel natürlich ein Anachronismus. ‚Die Romantik‘, als eine vergleichsweise festgefügte, überzeugend von anderen Strömungen abgrenzbare Gestalt des Geistes im Deutschland der Jahre um und nach 1800 (nur in dieser Begrenzung wird hier von ihr die Rede sein) ist ihm noch unbekannt. ‚Die Zeit der Romantik‘ – darunter hat er, wie wohl die Mehrzahl seiner Zeitgenossen, die Zeit des Minnesangs, der ritterlichen Abenteuer verstanden. Was wir heute – historisch nicht ganz korrekt – als ‚Hegels Kritik der Romantik‘ ansprechen, sind seine Stellungnahmen zu einigen wenigen philosophischen und literarischen Produktionen, die erst für uns ‚die Romantik‘ – oder genauer: einen vergleichsweise kleinen, wenn auch prägnanten Aspekt der Romantik – bilden. Außerdem drängt sich unter diesem Titel stets noch etwas anderes in den Blick: Hegels nicht gerade störungsfreie persönliche Beziehungen zum ‚Romantikerkreis‘, insbesondere zu Friedrich Schlegel und auch zu Schleiermacher. Hegel kommt ja zu Beginn des Jahres 1801 nach Jena, also zu einer Zeit, in der sich der Kreis der ‚Jenaer Romantik‘ aufzulösen beginnt, und er wird durch seinen (damaligen) Freund Schelling in diese teils in der Sache begründeten, teils – und wohl überwiegend – persönlich gefärbten Querelen hineingezogen. Davon soll hier aber nicht die Rede sein, und auch nicht von den späteren jahrzehntelangen politisch und religiös zugleich motivierten Spannungen mit Friedrich Schlegel, in denen beide Seiten ihr reich bestücktes Arsenal an Verbaliniurien trefflich ausgeschöpft haben. Nicht umsonst hat ja August Wilhelm Schlegel in seinen Spottversen vom Kampf beider gegeneinander gesprochen und die Deutschen „von der Saar bis an den Pregel“ (wenig später hätte man gesagt: „von der Maas bis an die Memel“) aufgefordert, ihren wenig ritterlichen Kampf – nicht etwa zu beenden, sondern zu bestaunen.1  

















I Das ‚romantische Denken‘ Von all diesem, sage ich, soll hier nicht die Rede sein. Vor allem aber soll nicht in einem engen Sinne nur von negativer Kritik die Rede sein, sondern von Hegels Ambivalenz gegenüber derjenigen Denkform, die man – in seinen Augen, wenn  

1 Siehe Günther Nicolin (Hrsg.): Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen. Hamburg 1970, S. 362 f.  



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auch nicht mit seinen Worten – als das ‚romantische Denken‘ bezeichnen könnte. Allerdings wird es sinnvoll sein, sich zugleich der Wortbedeutung zu vergewissern, in der Hegel vom Romantischen spricht; denn die beiden Bedeutungen berühren sich doch an einem Punkt. In seinen Vorlesungen über die Ästhetik führt Hegel den Begriff der „romantischen Kunst“ ein, und deshalb ist es ratsam, von diesem Begriff auszugehen, auch wenn die „romantische Kunst“ im Sinne Hegels nicht die ‚Kunst der Romantik‘ in unserem Sinne ist und dieser Weg deshalb als Abschweifung erscheinen mag. Doch letztlich kulminiert diese (die romantische Kunst insgesamt durchziehende) Bewegung in der geschichtlichen Gestalt, die wir „die Romantik“ nennen – wenn auch nicht allein in ihr –, und die ‚romantische Denkform‘ ist ohne die ihr vorausgehende Entwicklung der ‚romantischen Kunst‘ gar nicht verständlich. Die romantische Kunst ist für Hegel die gesamte Kunst nach der klassischen Kunst Griechenlands einschließlich ihrer Ausstrahlungen nach Rom, auch wenn dies zumeist ungesagt bleibt. Damit scheint zunächst nicht mehr bezeichnet zu sein als ein kaum noch überschaubares Konglomerat unterschiedlichster Stilrichtungen und Sujets. Neben dieser negativen Abgrenzung gegen die klassische Kunst gibt es aber auch noch einen ‚roten Faden‘, der die Epochen der romantischen Kunst miteinander verknotet: Sie ist die Kunst der christlichen Zeit oder, mit dem – zwar nicht missverständlichen, aber doch fast stets missverstandenen – Terminus der geschichtsphilosophischen Vorlesungen zu sprechen: Sie ist die Kunst der „germanischen“, also der aus der Völkerwanderung hervorgegangenen Welt.2 Die romantische Kunst ist aber nicht notwendig im engeren Sinne religiöse Kunst, sondern sie ist diejenige Kunst, die in der von der christlichen Religion dominierten nach-antiken Kultur des Abendlandes als Komplement zur Religion auftritt. In der langen ersten Phase dieser Kunst, bis ins hohe Mittelalter und an die Schwelle der Neuzeit, ist sie freilich eng mit der Religion verbunden; die Religion dominierte damals ja das gesamte Leben. Motivisch äußert sich diese religiöse Verankerung der romantischen Kunst (zunächst) in ihrer Restriktion auf den explizit religiösen Themenkreis: auf die Erlösungsgeschichte Christi, die religiöse Liebe – insbesondere Mariae – und den Geist der Gemeine, d. h. auf Darstellungen von Märtyrern, Heiligenlegenden und Wunderberichten. Diese enge religiöse Rückbindung ist jedoch nicht konstitutiv für die romantische Kunst überhaupt, sondern nur für ihren ersten Themenkreis. Grundlegend  















2 Eine kleine Nebenbemerkung sei mir gestattet: Die romantische Kunst ist die Kunst, die den Gegenstand der Sammlungen des Berliner Bode-Museums bildet: Das Bode-Museum ist das Museum für „romantische Kunst“ im Hegelschen Sinne, freilich nur für die bildende romantische Kunst.

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für sie ist vielmehr etwas anderes: Die romantische Kunst ist eine Kunst des Geistigen. Sie ist nicht, wie die klassische Kunst, der Schönheit gewidmet, der Verwirklichung der Einheit des Geistigen und Natürlichen in der schönen Gestalt, wie wir sie in der klassischen Kunst, in den Statuen der griechischen Antike bewundern, sondern sie ist der Darstellung des Geistigen gewidmet, der Überlegenheit des Geistigen über die Natur, der Darstellung der Innerlichkeit, also eigentlich der Darstellung eines Nicht-Darstellbaren und letztlich einer aus der Innerlichkeit geborenen intellektuellen Welt. Deshalb kommt es in der romantischen Kunst zu einer für das Verhältnis von Kunst und Religion folgenschweren Entwicklung. Der ‚romantische‘, christliche Rückzug des Geistes in sich selbst, seine Befreiung zu sich selbst, hat Folgen für die künstlerische Darstellung nicht allein des Menschen, sondern ebenso der nicht-menschlichen Natur. Bereits im Mittelalter, nur kurz nach der Zeit, in der die christliche Religion mit dem Bilderstreit des 8. und 9. Jahrhunderts ihr Verhältnis zur bildenden Kunst festlegt, löst sich ein neuer Themenkreis der Poesie von der Bindung an explizit religiöse Motive ab. Diesem, zu Hegels Zeit im eigentlichen Sinne als ‚romantisch‘ bezeichneten Kreis, der ‚Sphäre des Rittertums‘, widmet Hegel allerdings nur wenig Aufmerksamkeit; er beschreibt eigentlich nicht eine Kunstform, sondern – unter den Leitbegriffen ‚Ehre‘, ‚Liebe‘ und ‚Treue‘ – nur eine Bewusstseinsform. Seit dem 15. Jahrhundert, mit der Renaissance, beschleunigt sich diese Emanzipation insbesondere der Malerei von der Bindung an einen ihr vorgegebenen religiösen Inhalt, und sie ergreift zunehmend auch die anderen Künste: Die Kunst durchbricht den von der religiösen Vorstellung gezogenen engen Rahmen; sie wendet sich einer Wirklichkeit zu, die nicht bloß die Wirklichkeit der religiösen Vorstellung ist. Das Bewusstsein der Innerlichkeit, der Selbstgewissheit des Geistigen, bewegt sich zuvor nur innerhalb des von der religiösen Vorstellung abgesteckten Rahmens; nur innerhalb dieses Rahmens begegnen ihm die für seine Selbstgewissheit relevanten Gegenstände. Nun aber wird die Selbstgewissheit des Geistes, die zunächst nicht unmittelbar erfahren, sondern nur im vorgestellten Gegenstand angeschaut werden konnte, auch außerhalb des von der Religion gezogenen Rahmens und ohne die religiöse Vermittlung erfahrbar. Das Weltliche beginnt „von seiner Seite her sein Recht der Geltung in Anspruch zu nehmen und durchzusetzen. […] Wir können diesen Uebergang dadurch bezeichnen, daß wir sagen, die subjektive Einzelnheit werde jetzt als Einzelnheit unabhängig von der Vermittlung mit Gott, für sich selber frei“3 – wobei dies freilich ein  







3 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik. In: Georg Wilhelm Friedrich Hegel’s Werke [=W]. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten. Berlin 1832–1845, Bd. X, zweite Abtheilung. Hrsg. v. Heinrich Gustav Hotho. Berlin 1837, S. 166.  

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Prozess ist, der sich über die Jahrhunderte, vom Quattrocento bis weit ins 16. Jahrhundert hinzieht. Der aus dieser Befreiung entspringende dritte Themenkreis der „romantischen Kunst“ bildet das letzte Stadium einer Entwicklung, die mit dem religiösen Kreis beginnt und kraft der immanenten Dynamik dieses Themenkreises mit der Loslösung von ihm endet: Die „Welt“ befreit sich nun zunehmend von der Dominanz der Religion; sie stellt sich „auf ihre eigene Füße“4 – nicht ohne Folgen für die Kunst: Indem die Entwicklung der Subjektivität in sich voranschreitet, zur Unendlichkeit der Subjektivität in sich, kann diese sich nicht mehr mit dem Äußeren vermitteln: „Stoff und Subjektivität sind getrennt, und der Fortgang ist ihre Einbildung, bis sie wieder auseinander fallen.“5 Diese Entwicklung beginnt bereits innerhalb des zweiten Themenkreises der romantischen Kunst, und sie setzt sich im dritten verstärkt und beschleunigt fort. Einerseits befreit die Ablösung vom religiösen Themenkreis den Blick der Kunst für das nicht immer schon durch die religiöse Vorstellung transfigurierte Menschliche, aber auch für die ‚Landschaft‘ und für die Prosa des Alltäglichen. Doch andererseits: Die innere Welt des Subjekts und die äußere Welt sind getrennt; die „Seite des äußeren Daseyns ist der Zufälligkeit überantwortet und den Abenteuern der Phantasie preisgegeben, deren Willkür ebenso das Vorhandene, wie es vorhanden ist, widerspiegeln als auch die Gestalten der Außenwelt durcheinanderwürfeln und fratzenhaft verziehen kann“.6 Als den Schlusspunkt dieser ambivalenten Entwicklung sieht Hegel die Kunst seiner Gegenwart, auch und – was die ‚fratzenhaften Verzerrungen‘ betrifft – insbesondere die (für uns) romantische Kunst: In ihr steht die Subjektivität des Künstlers virtuos über ihrem Stoffe und ihrer Produktion, „indem sie nicht mehr von den gegebenen Bedingungen eines an sich selbst schon bestimmten Kreises des Inhalts wie der Form beherrscht ist, sondern sowohl den Inhalt als die Gestaltungsweise desselben ganz in ihrer Gewalt und Wahl behält“.7 Und da die Gegenstände der Kunst einer substantiellen geistigen Einheit angehören, ist es letztlich gleichgültig, wie sie dargestellt werden – als „Kreis unmittelbarer Wirklichkeit“, „wie sie sind“, oder als „Abenteuer der Phantasie“ oder – könnte man das Argument verlängern – abstrakt. Denn nicht mehr der Gegenstand ist von Interesse, sondern nur noch die Art seiner Behandlung: die Technik des Malens oder Komponierens oder Erzählens und überhaupt „die subjektive Auffassung und Ausführung des Kunst 













4 Ebd., S. 192. 5 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrieben von Heinrich Gustav Hotho. Hrsg. v. Annemarie Gethmann-Siefert. Hamburg 1998 (Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, Bd. 2), S. 198. 6 Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik (Anm. 3), W X/1. Berlin 1835, S. 105. 7 Hegel: Vorlesungen über die Aesthetik (Anm. 3) W X/2, S. 228.  



   







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werks“.8 Stoff und Subjektivität sind getrennt, die Einheit des Inneren und Äußeren „kommt nicht in der Kunst zustande“ – erst in der ‚Festigkeit des reinen Gedankens‘ kann ihre wahrhafte Einheit stattfinden.9  

II Intermezzo: Der subjektivitätsgeschichtliche Hintergrund In einem kurzen Zwischenschritt möchte ich nun zunächst diese Entwicklung, die Hegel in seinem Rückblick auf die wechselvolle Geschichte der romantischen Kunst so anschaulich und prägnant zugleich darstellt, etwas enger an ihre begrifflichen Grundlagen zurückbinden: Hegel zeichnet die Entwicklung der romantischen Kunst als Subjektivitätsgeschichte, und zwar als Geschichte der Vertiefung der Subjektivität in sich. Und er zeichnet diese allgemeine, auch die anderen Bereiche seiner Geistesphilosophie übergreifende Geschichte nirgends so anschaulich wie in den Vorlesungen über die Ästhetik. Sie beginnt keineswegs mit dem Aufkommen der christlichen Religion, und sie ist auch nicht an die explizit religiösen Inhalte gebunden. Die christliche Religion und ihre Deutung der Welt bilden in ihr vielmehr nur eine, wenn auch fraglos eine wichtige Etappe; sie ist ja nichts, was gleichsam aus einer jenseitigen Welt in das Diesseits hineinstrahlte, sondern sie hat ihrerseits subjektivitätsgeschichtliche Voraussetzungen, durch die sie geformt wird – und auch Folgen. Man kann sich von solchen ‚Geschichten‘ natürlich durch die stereotype Wiederholung der Bemerkung zu befreien suchen, dass die Zeit der ‚großen Erzählungen‘ vorbei sei. ‚Große Erzählungen‘ gibt es bekanntlich mannigfach, von mythologischen Schilderungen vorzeitlicher Ereignisse über die Märchen aus Tausendundeiner Nacht bis zu Grimms Märchen und ihren modernen Gegenstücken. Doch sollte es eigentlich nicht so schwer sein, den Unterschied zwischen solchen Erzählungen und Analysen geschichtlicher Entwicklungen in den Blick zu bekommen. Die Geschichte, die Hegel hier rekonstruiert, ist die Geschichte der Ausbildung und Vertiefung der Subjektivität in sich, von ihren Anfängen in der nachklassischen Epoche Griechenlands bis in seine eigene Zeit – in die Zeit der ‚Romantik‘. Sie ist die Geschichte der fortschreitenden Herauslösung der Subjektivität aus den substantiellen Bindungen der Sippe oder des Volkes, aus der Unterwerfung unter die Orakel; sie ist die Geschichte der Ausbildung der Persona 



8 Ebd., S. 220. 9 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (Anm. 5), S. 198.  





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lität: des Gedankens der Person als einer Verantwortungs- und Entscheidungsinstanz, ihrer Freiheit, letztlich ihrer Autonomie, ihres ‚höchsten Rechts‘ und des Bewusstseins ihres unendlichen Werts. Eben damit ist sie aber auch die Geschichte der Lösung der Subjektivität aus allen vorgegebenen Bindungen und zugleich die Geschichte der Abwertung alles Äußeren, der Erhebung über alles der Subjektivität Entgegenstehende, sei es nun die äußere, natürliche Welt, die ihr inneres Leben verliert, von ihr entzaubert und zum bloßen Objekt verdinglicht wird, sei es die im traditionell weiten Sinne ‚moralische‘ Welt vorgegebener rechtlicher Verpflichtungen oder sittlicher Bindungen. Hegel rekonstruiert diese Geschichte der Vertiefung der Subjektivität in sich gleichsam leidenschaftslos, aus der Beobachterperspektive, als eine Geschichte, die von keinem identifizierbaren, für sie verantwortlichen Subjekt in Gang gesetzt wird, der niemand ein Ziel gesetzt hat, und zudem als eine Geschichte, in deren Ablauf niemand eingreifen, die also nicht von außen willentlich gesteuert werden kann. Mit jedem ihrer Schritte vollzieht sie einen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“,10 und sie kulminiert im bislang letzten Stadium, das Hegel durch die Begriffskonstellation charakterisiert sieht, die ich hier als ‚romantische Denkform‘ bezeichnet habe – auch wenn sie über die Romantik im engeren Sinne weit hinausreicht. Charakteristisch für sie ist die beschriebene Vertiefung der Subjektivität in sich, die Selbstgewissheit der Subjektivität, alle Wahrheit zu sein und ein ‚höchstes Recht‘ zu haben – und damit zeichnet sich die ‚romantische Denkform‘, das ‚romantische Subjekt‘, in Hegels Augen als eine weit fortgeschrittene Gestalt der Subjektivitätsgeschichte aus. In seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen formuliert er ja geradezu: „das Tiefste des Geistes ist die Subjektivität die wir gesehen haben, Tieferes giebt es nicht“.11 Es mag wohl Schöneres geben, aber nicht Tieferes. Dies ist aber nur die eine, dem Betrachter zunächst zugewandte, einnehmende Seite, doch ist nicht zu übersehen, dass diese ‚Geschichte der Subjektivität‘ keineswegs eine unproblematische ‚Erfolgsgeschichte‘ ist. Hegel weiß sehr genau um die Gefahren, die auf diesem Wege der fortschreitenden Selbstgewissheit lauern. Deshalb markiert er auch die Phasen des Misslingens, die Punkte, an denen ihr Fortgang zunehmend gefährliche Konstellationen heraufbeschwört – wo er zur inneren Leerheit der auf die Spitze getriebenen formellen Subjektivität und zur Unfähigkeit ihrer Vermittlung mit ‚der Welt‘ führt: Denn  



10 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung 1831. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 18. Hrsg. v. Walter Jaeschke. Hamburg 1995, S. 153. 11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel:Vorlesungen über die Philosophie des Rechts. In: Gesammelte Werke, Bd 26, 3. Hrsg. v. Klaus Grotsch. Hamburg 2015, S. 1238 (Nachschrift v. Griesheim, Originalpaginierung 352).  





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der Subjektivität, die ihrer Freiheit und ihrer selbst als der Wahrheit gewiss ist, gelingt es nicht mehr, sich mit ihrem Anderen zu vermitteln – und dies hat Rückwirkungen auf sie selber: Das Ich, das triumphierend über den Trümmern der Welt schwebt, wird seines Triumphs nicht mehr froh. Die fratzenhafte Verzerrung, in die das von allen Bindungen befreite und nur noch auf sich selbst fixierte Subjekt die äußere Wirklichkeit hineintreibt, holt sie schließlich selber ein – in der sogenannten ‚Schwarzen Romantik‘, die ja erstmals die Probleme des aufs äußerste zugespitzten, sich fragwürdig werdenden, ja sich gespenstisch verdoppelnden und an seiner Subjektivität leidenden Subjekts thematisiert. Der große Vorzug, dass die Kunst nun nicht mehr – wie zu Beginn der ‚romantischen Kunst‘ – auf einen bestimmten Gegenstandsbereich fixiert ist, sondern, hiervon befreit, sich alles zum Gegenstand machen und sich darin genießen kann, schlägt um in den Nachteil, dass ihr die Gegenständlichkeit überhaupt gleichgültig wird: dass das Subjekt an ihr keinen Widerpart mehr finden kann und mit dem Verlust der Objektivität schließlich sich selbst verliert. Das principium individuationis erscheint ihm nun als das Urübel, das man überwinden müsse, und deshalb sucht es seine ‚höchste Lust‘ im Unbewussten. In der Kunst verschärft sich dieses Verhältnis aber nicht zum Widerspruch, weil dem unendlichen Recht des Subjekts kein anderes Recht entgegensteht; die Gegenstände, die dem sich als unendlich wissenden Subjekt gegenüberstehen, sind und bleiben ein Rechtloses. Die Subjektivität hat das ‚höchste Recht‘, nichts neben sich anzuerkennen, und sie nimmt es in Anspruch – sogar noch dort, wo sie sich im von ihr geschaffenen Kunstwerk selbst verleugnet und alle Spuren von Subjektivität, etwa auch von künstlerischer Zweckhaftigkeit der Gestaltung, peinlich zu tilgen und ihre Rettung im Zufall sucht. Die Einheit des Inneren und Äußeren „kommt nicht in der Kunst zustande“12 – und eben wegen dieses Mangels an Einheit kommt es in der Kunst weder zum „härtesten Widerspruch“ noch zur Versöhnung. Doch wie sich dieses „zur letzten Abstraction zugespitzte Selbst“ über alle Gegenständlichkeit erhebt, so erhebt es sich auch über die verbindlichen Grundlagen des menschlichen Gemeinschaftslebens – es kennt ja keine Verbindlichkeit und erkennt keine Verbindlichkeit mehr an, der es unterworfen wäre. Um es mit einer prägnanten Wendung und mit einer biblischen Anspielung aus Hegels Phänomenologie des Geistes zu sagen: Dieses Subjekt „erkennt keinen Inhalt für es als absolut, denn es ist absolute Negativität alles Bestimmten“, es hat „die Majestät der absoluten Avtarkie, zu binden und zu lösen“. So ist es teils die „schöne Seele“, die kraftlos in sich verglimmt, teils die „moralische Geniali 











12 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (Anm. 5).  

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tät, welche die innere Stimme ihres unmittelbaren Wissens als göttliche Stimme weiß“13 – und so darf es nicht überraschen, wenn es dieser Überzeugung entsprechend und mit den vorhersehbaren desaströsen Konsequenzen handelt. Angesichts dieser Charakteristik – und ich glaube hinzufügen zu können: angesichts dieser sehr scharf gesehenen Charakteristik der (keineswegs nur romantisch tingierten) Selbstgewissheit der Subjektivität! – verwundert es nicht, dass Hegel sie als eine extrem fragile, nicht wirklich lebensfähige, sondern gleichsam implodierende Gestalt zeichnet. In seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen führt er, aus durchaus aktuellem Anlass, dazu aus:  





Ist so den Menschen alle objective Haltung entschwunden, so ist eine der Erscheinungen, daß der Mensch die unendliche Sehnsucht nach einem Objectiven hat, das ganz entschwunden ist. Diese Sehnsucht kann dahin bringen, sich zum Knechte zu machen, zum vollkommen Abhängigen, um nur dieser Qual der Leerheit, der Negativität zu entrinnen. Dahin gehört die Erscheinung, daß Menschen katholisch wurden; indem sie nehmlich ihr Innres gehaltlos finden, wurden sie getrieben durch die Sehnsucht nach einem Festen, einem Halt, einer Autorität, wenn es auch die Festigkeit nicht ist des Gedankens.14

„Die Festigkeit des Gedankens“: Von ihr ist auch vorhin schon die Rede gewesen, und ich darf an die beiden Sätze erinnern, weil die Aussage des zweiten Satzes jetzt einen prägnanteren Klang gewinnen wird: Die Einheit des Inneren und Äußeren „kommt nicht in der Kunst zustande. Die Innerlichkeit erhebt sich zum reinen Gedanken, wo erst die wahrhafte Einheit stattfinden kann.“ Hier zeigt sich die Ambivalenz in Hegels Urteil über die ‚romantische Subjektivität‘ (wobei hier, ich habe es schon angedeutet, auch solche Formen einfließen, die für uns nicht unter den Begriff des Romantischen fallen – etwa auch die ‚Empfindsamkeit‘ und sogar der Autonomiebegriff der vorangegangenen Ansätze der Klassischen Deutschen Philosophie): Die Vertiefung der Subjektivität in sich und ihr Leiden an sich sind zwei zusammengehörige Seiten. Fraglos ist die Vertiefung als ein „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ zu werten und deshalb auch zu begrüßen. Doch wenn die Erhebung in die Innerlichkeit des Gedankens nicht gelingt, so ist mit solcher Vertiefung zugleich die Gefahr der Selbstisolierung – gegenüber der Welt der Gegenstände und der Welt des sittlichen Lebens – gegeben, und wenn diese Selbstisolierung eintritt, so hat sie die „Qual der Leerheit“ zur Folge. Und aus dieser führt ein Weg zu einem Bewusstsein, das bis „zur Verrüktheit zerrüttet“ ist oder „in sehnsüchtiger Schwindsucht“ zerfließt,  

   

13 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9. Hrsg. v. Wolfgang Bonsiepen u. Reinhard Heede. Hamburg 1980, S. 347, 349, 352. 14 Hegel: Vorlesungen über die Philosophie des Rechts (Anm. 11), Bd. 26, 2, S. 915 (Nachschrift Hotho, Originalpaginierung 206).  







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ein anderer zur Katastrophe des Freitods oder des politischen Mordes, und ein dritter, der diese beiden Wege vermeiden möchte, zurück zu derjenigen Festigkeit, die nicht die des Gedankens, sondern die der Tradition und der Institution ist. Aber auch damit ist die Romantik verlassen und die Vertiefung der Subjektivität in sich preisgegeben.

III Das Recht des ‚romantischen Subjekts‘ und sein Unrecht Es ist, denke ich, deutlich geworden: Die insbesondere in der ‚romantischen Denkform‘ sichtbar werdende Vertiefung der Subjektivität in sich ist nichts Zufälliges; sie ist das Resultat eines die Jahrhunderte, ja die Jahrtausende übergreifenden Prozesses. Und obwohl sie zu begrüßen ist, weil sie stets einen „Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit“ vollzieht, ist doch nicht zu übersehen, dass sie auch in Probleme führt: zur inneren Leerheit der auf die Spitze getriebenen Subjektivität und zur Unfähigkeit ihrer Vermittlung mit ‚der Welt‘ – der Welt der Gegenstände oder der sittlichen Welt –, und im letzteren Fall zum „härtesten Widerspruch“, aus dem nur die Erhebung in den Gedanken herausführen kann. In Hegels Perspektive ist allein die Erhebung in den Gedanken dazu in der Lage, das durch die Vertiefung der Subjektivität in sich nahegelegte Selbstmissverständnis zu korrigieren, sie sei ‚alle Wahrheit‘ – ein Missverständnis, das sie zutiefst überfordert und beschädigt. Die Erhebung in den Gedanken führt jedoch zu der Einsicht, dass diese auf die Spitze getriebene – romantische – Subjektivität in Wahrheit gar nichts Isoliertes ist, sondern ein Moment in einer den Einzelnen übergreifenden Entwicklung des Geistes – und streng genommen verdient erst diese, die einzelnen Subjekte übergreifende Entwicklung den Titel ‚Subjektivität‘. Diese Einsicht, die Hegel dem Selbstmissverständnis des ‚romantischen Subjekts‘, dem Misslingen der Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen als die ‚Wahrheit‘ entgegenstellt, ließe sich von verschiedenen Seiten her verdeutlichen – etwa vom Begriff des Denkens her, das eben weit mehr als eine bloße Leistung des individuellen Subjekts ist. Ich möchte aber nur noch kurz auf den Bereich zu sprechen kommen, in dem das Selbstmissverständnis des romantischen Subjekts besonders missliche Folgen nach sich zieht und augenfällig wird: auf den Bereich des Rechts und der Sittlichkeit (im Hegelschen Sinne), und insbesondere auf den Abschnitt über die „Moralität“ in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, der insgesamt gegen das ‚romantische‘ Selbstmissverständnis der Subjektivität, gegen die Verwechselung der besonderen mit der allgemeinen Subjektivität geschrieben ist – eine Verwechselung, die Hegel para 















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digmatisch bei dem frühen Friedrich Schlegel anprangert. Nun wäre es leicht, sich dadurch aus der Affäre zu ziehen, dass man dem Subjekt das von ihm in Anspruch genommene ‚höchste Recht‘ bestreitet. Aber auch in dieser insgesamt polemisch angespannten Partie bekräftigt Hegel ausdrücklich das „Recht der Besonderheit des Subjects, sich befriedigt zu finden“; er bezeichnet die Anerkennung dieses Rechts sogar als „den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Alterthums und der modernen Zeit“ – und er konkretisiert es darüber hinaus noch durch den Hinweis auf einige Gestaltungen dieses Rechts: Wichtig wird es etwa für „die Liebe, das Romantische“.15 Und kurz darauf unterstreicht Hegel nochmals mit Nachdruck: „Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjects“. Diesen Satz hätte der frühe Friedrich Schlegel ebenfalls aussprechen können, und Hegel widerruft ihn auch keineswegs. Und dennoch: Die Fortsetzung dieses Satzes relativiert seinen Beginn: Dieses Recht sei zwar das „höchste Recht“ des Subjekts, „aber durch seine subjective Bestimmung, zugleich formell, und das Recht des Vernünftigen als des Objectiven an das Subject bleibt dagegen fest stehen“.16 Hegel stellt also dem „höchsten Recht des Subjects“ das „Recht der Objectivität“ entgegen: Das Subjekt, das aus seiner Innerlichkeit herausgeht und in dieser Welt handelt (und dieses Handeln kann eben auch im Schreiben von Romanen bestehen), muss sich ihren Gesetzen unterwerfen und dieses „Recht der Objectivität“ anerkennen. Auch die Bestimmung und Realisierung des Begriffs des Guten hat nicht erst auf das einzelne Subjekt gewartet, um nach dessen Gutdünken inszeniert zu werden. Mit ‚der Romantik‘ – die in diesem Aspekt für ihn insbesondere durch Friedrich Schlegel, daneben auch durch den frühen Schleiermacher vertreten wird – insistiert Hegel auf der Vertiefung der Subjektivität in sich und auf dem „höchsten Recht“, das ihr deshalb zuzubilligen ist. Gegen sie erinnert er aber an das „Recht der Objectivität“, das er von den Genannten ignoriert sieht. Das entscheidende Defizit der Romantik sieht Hegel somit in ihrer Unfähigkeit, diese beiden gleichermaßen berechtigten Rechtsansprüche in angemessener Weise miteinander zu vermitteln: weder – objektivitätsvergessen – nur das Recht des Subjekts vor Augen zu haben, was unausweichlich zur Zerstörung des Subjekts führt, das sich an dieses Recht klammert, noch – subjektivitätsvergessen – den falschen Ausweg aus dieser Situation zu wählen und sich der nächstbesten Objektivität in die Arme zu werfen. Im Fortbestehen dieser Extreme, im Scheitern dieser Vermittlung liegt  













15 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Berlin 1821, § 124. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 14, 1. Hrsg. v. Klaus Grotsch. Hamburg 2009, S. 109–111. 16 Ebd., § 132, S. 115–117, hier S. 115.  











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für Hegel die Signatur der Romantik. Doch der Widerspruch zwischen dem „höchsten Recht des Subjects“ und dem „Recht der Objectivität“ muss aufgelöst werden, und zwar so, daß beide Rechtsansprüche anerkannt werden. Nun könnte man den Verdacht haben, dass Hegel mit seinem Rekurs auf das „Recht der Objectivität“ das zuvor so eindringlich und nachdrücklich beschworene „höchste Recht“ des Subjekts – kaum, dass der Schwur verklungen ist – sogleich wieder außer Kraft setze. Deshalb ist sehr genau zu sehen, welcher „Objectivität“ er welches „Recht“ zuschreibt. Doch – wie kann es dem in sich unendlichen Subjekt als dem Prinzip allen Rechts gegenüber ein „Objectives“ geben, das nicht nur ein in manchen schwierigen Lebenslagen vielleicht hilfreiches, aber dennoch an sich rechtloses „Objectives“ ist, sondern ein „Objectives“, das sogar nicht nur ein „Recht“ überhaupt hat, sondern ein Recht, das gegen das „höchste Recht des Subjects“ bestehen bleibt? Ist damit nicht die gesamte Geschichte der sich als unendlich wissenden Subjektivität als Irrweg entlarvt – so, wie es den Verwaltern des ersehnten Objektiven, von dem vorhin die Rede war, gar nicht unlieb wäre und ja auch unablässig eingeschärft wird? Zumindest eines ist klar: Hier stehen sich – für Hegel – nicht allein Forderungen gegenüber, sondern es steht ein Recht gegen ein anderes Recht, das „höchste Recht des Subjects“ gegen ein „Recht des Objectiven“, und nicht nur das eine, sondern auch das andere bleibt „fest stehen“; keines hat dem anderen zu weichen, und es ist gleichsam das „höchste Unrecht“ des Subjekts, dieses „Recht des Objectiven“ zu missachten. Mit diesem Widerspruch des einen Rechts gegen das andere ist eine andere Situation eingetreten als in der Kunst, da deren Gegenstände der Subjektivität gegenüber rechtlos sind. Deshalb hieß es dort auch, die Einheit des Inneren und Äußeren komme „nicht in der Kunst zustande“ – und weiter: „Die Innerlichkeit erhebt sich zum reinen Gedanken, wo erst die wahrhafte Einheit stattfinden kann.“17 Doch wie ist diese wahre Einheit des Inneren und des Äußeren durch den Gedanken auszusprechen? Auch wenn es nun für alle Kundigen längst klar ist, wie die Auflösung dieses Konflikts zwischen dem „Recht des Subjects“ und dem „Recht des Objectiven“ auszusehen hat: Der gute Brauch verlangt es, dass ich den Gedankengang dieses Beitrags bis zum – guten – Ende weiterführe. Der erste Schritt hierzu geschieht durch die Frage, was denn eigentlich dieses mit einem so hohen Recht ausgestattete „Objective“ sei – doch wohl ein anderes als dasjenige, das vorhin als Ziel der Sehnsucht des an seiner Subjektivität kranken Subjekts genannt wurde. Hegel selbst gibt den entscheidenden Hinweis, indem er näher von dem „Recht des Vernünftigen als des Objectiven an das Subject“ spricht. Das „Objective“ also ist  

















17 Vorlesungen über die Philosophie der Kunst (Anm. 5).  



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‚das Vernünftige‘, jenes in der Wirklichkeit vorhandene, seiende Vernünftige, das der subjektiven Vernunft gegenübersteht. Insoweit aber ist der Widerspruch des einen Rechts mit dem anderen auch nur zum Widerspruch der subjektiven und der objektiven Vernunft weiterbestimmt – und eben diese Behauptung einer seienden, vorhandenen, objektiven Vernunft ist der subjektiven Vernunft bekanntlich häufig – wenn ich dies einmal so sagen darf – ein Dorn im Auge. Und – um im einmal gewählten Bild zu bleiben – dieser Dorn lässt sich nur durch eine Einsicht entfernen: durch die Einsicht, dass dieses Objektive nichts dem Subjekt Fremdes ist, kein stählernes Gehäuse, an dessen Gitterstäben es sich wund scheuern müsste, sondern nichts anderes als die Objektivation seiner selbst als der subjektiven Vernunft (und nicht etwa der Endlichkeit und Einzelheit des Subjekts). Hegel spricht dies in der Wendung aus, das „Objective“ sei das zum Guten fortbestimmte „Daseyn der Freyheit“, oder nochmals etwas anders: Es ist „der an und für sich seyende Wille als das Objective“18 – also die im traditionellen, weiten Sinne ‚moralische‘ Welt vorgegebener rechtlicher Verpflichtungen oder sittlicher Bindungen, oder mit Hegel: die Welt der Sittlichkeit. Im Konflikt des „höchsten Rechts“ des Subjekts mit dem „Recht des Objectiven“ stellt Hegel sich also weder auf die Seite des – einseitigen – Subjekts (was ihm seine Kritiker allerdings bis heute zum Vorwurf machen), noch stellt er sich einfach auf die Seite einer dem Subjekt bloß entgegenstehenden „Objectivität“ (was seine Kritiker geflissentlich ignorieren), sondern er klagt die Vermittlung dieser beiden Seiten ein, und dies nicht etwa in einer bloß moralischen Perspektive, sondern weil sie durch den Begriff gefordert sei und vor allem: weil die Missachtung dieser Forderung in fragilen Zuständen resultiere, aus denen man sich – wenn es nicht zur Schädigung und zum Verlust des Lebens kommen soll –, nur noch durch die Flucht in die – wiederum vermittlungslose – Objektivität der Geistesknechtschaft retten könne: wodurch aber eben das, was die Romantik auch in seinen Augen auszeichnet, verraten wird. Er insistiert darauf, dass diejenige „Objectivität“, die ein Recht gegen das Subjekt hat, selber ein Produkt der Freiheit sei, eine Form der Manifestation seiner Freiheit. Und wenn das Recht einer solchen Objektivität dem „höchsten Recht“ des Subjekts gegenübersteht, so ist hierdurch das „höchste Recht“ des Subjekts keineswegs verletzt – im Gegenteil: Es ist gleichsam sein eigenes Recht, das ihm hier entgegentritt. Dadurch wird das Subjekt aus der Isolation befreit, in die es sich durch ein – durch seine Geschichte nahegelegtes – Missverständnis seiner selbst manövriert hat, als ob die Tiefe seiner formellen Unendlichkeit schon seine wahre, ihm ein „höchstes Recht“ verleihende Tiefe wäre – ein Selbstmissverständnis, welches das Subjekt  





























18 Grundlinien der Philosophie des Rechts § 145 (Anm. 15), S. 137 f.  







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überfordert und beschädigt. Die Unendlichkeit, die es mit Recht beansprucht, kommt ihm nicht in seiner Entgegensetzung gegen alle Objektivität zu, sondern sie kommt ihm als demjenigen zu, das diese Objektivität der Sittlichkeit selbst erst setzt und sich als das Setzende dieses an sich Vorhandenen und Berechtigten auch weiß und sich dadurch mit ihm vermittelt. Erst mit diesem Wissen weiß es auch wirklich von seiner Unendlichkeit und von seinem „höchsten Recht“.

Thomas Stamm-Kuhlmann

Romantische Medizin und Naturforschung Ideentransfer rund um die Ostsee Anknüpfungspunkte für eine Greifswalder Romantikforschung ergeben sich zum einen (kollektiv‑)biographisch aus den Kontakten, die Caspar David Friedrich unterhielt, zum anderen aus der geographischen Lage der Hansestadt. Ich will mithin der Frage nachspüren, ob sich rund um die Ostsee persönliche Kontakte ergeben haben, die es rechtfertigen, besondere Forschungsanstrengungen in Bezug auf die Romantik zu unternehmen. Diese Kontakte sollen den Bereich der Medizin und Naturforschung betreffen, der in einem Gesamtkonzept der Romantik nicht fehlen darf. Meine Äußerungen sind die eines Forschers, dem immer wieder, im Laufe seiner Beschäftigung mit den Jahrzehnten vor und nach 1800, Personen des romantischen Spektrums begegnet sind, ohne dass er sich dabei auf die Geschichte der Medizin oder der Naturwissenschaften spezialisiert hätte. Ich möchte meinen Beitrag in vier Punkte gliedern: eine kurze Zusammenfassung dessen, was wir über romantische Medizin und Naturforschung wissen (I), eine Skizze des nordischen und gleichzeitig deutschen Romantikers Heinrich Steffens sowie seines Kollegen Hans Christian Ørsted (II), eine Skizze zu Carl Gustav Carus als dem Freund und Gönner Caspar David Friedrichs (III), einige Überlegungen zu den Beiträgen von Steffens und Carus zur romantischen Anthropologie (IV).

I Romantische Naturforschung – ich beziehe künftig die Medizin hier mit ein – ist nicht in einer Gegnerschaft gegen die sich schrittweise entwickelnde empirische Forschung zu verstehen. Der Ruf, den sich Carl Gustav Carus in der Forschung erworben hat, gründet auf seiner gewissenhaften Mikroskopier- und Zeichenarbeit, die sich in seinen großen Handbüchern niedergeschlagen hat.1 Und wenn  



1 Betreffend seinen Versuch einer Darstellung des Nervensystems und insbesondre des Gehirns nach ihrer Bedeutung, Entwickelung und Vollendung im thierischen Organismus, der 1814 in Leipzig herausgekommen ist, hat Carus hervorgehoben: „Nicht genug, daß ich neben meinen wieder aufgenommenen Vorlesungen die anatomischen Untersuchungen über Hirnbau eifrig fortsetzte und die Präparate sauber zeichnete, ich radierte und ätzte auch die sechs Tafeln, welche den Text erläutern sollten, selbst.“ Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, Bd. 1.  

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wir auch die Verdammungsurteile gegen die Romantik kennen, wie sie ab ca. 1830 gesprochen worden sind, so sehe ich doch nicht, dass die Romantiker eine verketzerte Sekte gewesen wären. Vielmehr waren sie durchaus in ihrem Fach integriert, was die entsprechenden Briefwechsel und Besuche belegen können. Immerhin hat der alte Göttinger Meister der Anatomie, Johann Friedrich Blumenbach, sich die Mühe gemacht, den dreißig Jahre jüngeren Carus in Dresden zu besuchen,2 wurde Carus auf Veranlassung Georges Cuviers mit einer goldenen Medaille des Institut de France geehrt3 und ist Carl Gustav Carus 1862, als die Kämpfe um die Naturphilosophie längst ausgestanden waren, noch zum Präsidenten der Leopoldina gewählt worden. Was zumindest die besseren unter den Romantikern in der Naturwissenschaft anstrebten, war nicht eine Abschaffung der Empirie, sondern vielmehr ein Darüber-hinaus: Dem Messen und Beobachten sollten andere Kräfte, eben das Gefühl und die Künste, zu Hilfe kommen. Einer Überschätzung des Geistes aber sollte entgegengehalten werden, dass die Natur gleiche Aufmerksamkeit verdiene, da Geist und Natur identisch seien.4 In den Worten von Carl Gustav Carus hieß das: Gewiß ist es, daß nur die innige, feste Überzeugung, der wahre Glaube daran, daß die Natur wie die Vernunft gleich göttlich, unendlich und herrlich sind und in beiden fortwährend Offenbarung des göttlichen Wesens geschehe, ja nur in ihnen zugleich geschehen könne, gegen jene ungerechte Geringschätzung des Lebens uns bewahrt.5

Die der Natur geschuldete Aufmerksamkeit aber sollte sich in den strengen Formen der Wissenschaft äußern. Dahinter stand allerdings ein großer philosophischer Anspruch. Um 1800 hatte sich das Gefühl verbreitet, dass zwar im Sammeln und Zergliedern beträchtliche Fortschritte gemacht worden seien, es bei aller Systematik aber an einem Verständnis des inneren Zusammenhanges mangele. Andererseits wurden die Studenten der Medizin mit einer Menge sehr abstrakter Begriffe traktiert, bevor sie überhaupt Erfahrung am Mikroskop gesammelt hatten. Dem System Linnés aber, so sagte Carl Gustav Carus in der Rückschau, fehlte es

Nach der zweibändigen Originalausgabe von 1865/66 neu hrsg. v. Elmar Jansen. Weimar 1969, S. 120. 2 Vgl. ebd., S. 236. 3 Vgl. ebd., S. 469. 4 Vgl. Dietrich von Engelhardt: Naturwissenschaft und Medizin im romantischen Umfeld. In: Karin Tebben: 200 Jahre Heidelberger Romantik (=Heidelberger Jahrbücher, 51). Heidelberg 2008, S. 499–516, hier S. 502. 5 Carus: Denkwürdigkeiten 1 (Anm. 1), S. 257.  

   











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an einem höhern innewohnenden geistigen Prinzip völlig, es war ein nach scharfsinnig aufgefundenen Verstandesmerkmalen zu Nutzen und zur Erleichterung der Lernenden aufgeführtes großes Gebäude, aber es war weit entfernt davon, in sich selbst als ein belebendes und belebtes Ganzes zu erscheinen. Zu diesem wurde es eigentlich zuerst, als der bereits von vielen Philosophen des Altertums geahnte Gedanke von der innern notwendigen und unerläßlichen Verbindung des Weltgebäudes zu einem einzigen unendlichen organischen Ganzen, mit einem Worte, der Gedanke von der Weltseele, durch Schellings damals groß und lichtvoll hervortretenden Geist zuerst wieder in die Wissenschaft eindrang.6

Und hier haben wir auch die Wahrnehmung von der Romantik als einem Generationsprojekt, das nur als eine Bewegung erfasst werden kann: Auf merkwürdige Weise klang dieser Gedanke gleichzeitig in vielen Geistern wider, wie es denn immer zu gehen pflegt, wenn die Menschheit im Kreißen liegt und eine neue große Idee in ihr hervorzutreten berufen ist; und so fehlte es denn durchaus nicht, daß sehr bald die Folgen desselben in der Behandlung der Naturwissenschaften sich geltend machten.7

Carus, geboren 1789, hat Schelling erst im August 1820 in Karlsbad getroffen,8 als er sich schon beruflich etabliert hatte; zu diesem Zeitpunkt hatte er Schelling längst gelesen und in sich aufgenommen. Zu einer wahren Pilgerfahrt war dagegen die Reise zu Schelling nach Jena für den 1773 in Stavanger als Sohn eines holsteinischen Chirurgen geborenen Heinrich Steffens geworden. Steffens hatte in Kopenhagen und Kiel studiert und 1798 mit einem Reisestipendium den Weg nach Deutschland eingeschlagen. Kaum mag ein begeisterter Deutscher erwartungsvoller Italien oder in neuern Zeiten Griechenland und den Orient besuchen, als ich in meiner damaligen Stimmung Deutschland. […] Ich suchte eine frische Zukunft, an welcher ich Theil nehmen, mit welcher ich leben wollte; sie sollte mein ganzes Dasein aufnehmen und in Thätigkeit setzen. Sie sollte jede Kraft aufregen und für mich, wie für die Welt, eine neue Zeit entwickelnd vorbereiten.9

Obwohl man daheim von Steffens erwartete, dass er sich als Mineraloge wohl unmittelbar nach Freiberg zu Abraham Gottlob Werner begeben würde, meinte er doch, „es wäre mir unmöglich gewesen, dem eigentlichen Sitze der geistigen Bestrebungen in Deutschland vorbeizugehen. Die kleine Stadt in dem anmuthi-

6 Ebd., S. 66. 7 Ebd., S. 65 f. 8 Ebd., S. 245. 9 Heinrich Steffens: Was ich erlebte. Aus der Erinnerung niedergeschrieben. Neudruck des vierten Bandes der Erstausgabe Breslau 1841. Stuttgart 1995, S. 3 f.    









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gen Thale war mir sehr reizend, ja heilig erschien sie mir, und nach wenigen Tagen“10 war Steffens in Jena eingerichtet. Steffens erlebte dann, wie Schelling, der selbst gerade erst angekommen war, sich in Jena mit einer Probevorlesung habilitierte. Er sprach von der Idee einer Naturphilosophie, von der Nothwendigkeit, die Natur aus ihrer Einheit zu fassen, von dem Licht, welches sich über alle Gegenstände werfen würde, wenn man sie aus dem Standpunkte der Einheit der Vernunft zu betrachten wagte.11

Bei einem Besuch am nächsten Tag entstand für Steffens das Gefühl einer großen Verbundenheit. „Es war durch die Übereinstimmung mit Schelling eine Zuversicht entstanden, die, ich will es bekennen, fast an Übermuth grenzte.“12 In seinen 1806 erschienenen Grundzügen der philosophischen Naturwissenschaft hat Steffens dann die Bedeutung Schellings für seinen Wissenschaftsansatz folgendermaßen charakterisiert: Das eigenthümliche Verdienst S c h e l l i n g s ist […] das Bestreben, die ewige Wahrheit, als nie erlöschende innere Sonne aller Wissenschaft und alles Erkennens in der Geschichte auf immer zu begründen […] und die wahre Würde seiner Individualität offenbart sich in dem rastlosen, seiner trefflichen Natur früh eingeprägten Triebe, alle Abweichungen der Zeit, und Alles, was, weil es kein eigenes Leben hat, für sich stehend, Irrthum, Tod und Wahn ist, zur Urquelle zurückzuführen, das Endliche aber, welcher Art es auch sey, als Produkt einer bloß in der Beziehung existirenden Reflexion, oder als Schein-Realität einer sinnlichen Anschauung, in so fern es als ein An sich ein falsches Leben heucheln will, als ewiges Opfer der Wahrheit zu weihen.13

II Heinrich Steffens, als der erste Schelling-Enthusiast, der hier vorgestellt werden soll, hatte in Kopenhagen ein vielseitiges Studium der Naturwissenschaften begonnen. Seine Abhandlung Über Mineralogie und das mineralogische Studium machte ihn so bekannt, dass er sich bei seiner ersten Reise nach Jena bereits als eingeführter Wissenschaftler vorstellen konnte. Noch in Kopenhagen hatte er sich auch am literarischen und am Theaterleben beteiligt. Nachdem er von Jena nach Freiberg weitergezogen war und Silvester von 1800 auf 1801 in der Gesellschaft

10 Ebd., S. 20. 11 Ebd., S. 76. 12 Ebd., S. 77. 13 Heinrich Steffens: Grundzüge der philosophischen Naturwissenschaft zum Behuf seiner Vorlesungen. Berlin 1806, S. XIX.      

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Goethes, Schillers, Schellings und des Mediziners Hufeland gefeiert hatte,14 kehrte er zunächst nach Kopenhagen zurück. Seine dortigen öffentlichen Vorlesungen über Natur, Geschichte, Philosophie, Kunst und Glaube im Winter 1802/03 und 1803/04 „trugen“, so ist das Urteil der Forschung, „wesentlich zur Ausbreitung der Romantik in Dänemark bei“.15 Zu den Motiven, wieder in die Heimat zu gehen, zählte er später auch den Wunsch nach näherem Kontakt mit Hans Christian Ørsted, den er in Deutschland kennengelernt hatte, und dessen Bildung „ganz von der Natur-Philosophie aus[ging]“.16 Auf seiner Professur in Halle seit 1804 und ab 1811 in Breslau trat Steffens als politischer Gegner Napoleons hervor, galt während der Demagogenverfolgung als Parteigänger der preußischen Regierung, verteidigte die Altlutheraner, veröffentlichte 1839 eine zweibändige Christliche Religionsphilosophie und wurde schließlich, ähnlich wie Schelling, durch Friedrich Wilhelm IV. an die Universität Berlin gebracht. Steffens hat wichtige Beiträge zur Zeitschrift für spekulative Physik geliefert, die Schelling von 1800 an herausgegeben hat. Allerdings hat Schelling, über den „Missbrauch“ seiner Ideen verärgert, mit dem Jahr 1807 alle Publikationen zu den Naturwissenschaften eingestellt.17 Zu den Schellingianern, die sich zustimmend zum Werk von Steffens geäußert haben, zählte 1806 und 1811 Ørsted, der inzwischen Professor der Physik in Kopenhagen geworden war.18 Erst als Schelling bereits seine Beschäftigung mit der Naturforschung eingestellt hatte, publizierte Ørsted 1820 von Kopenhagen aus den berühmten Versuch, mit dem er den Zusammenhang von Magnetismus und Elektrizität nachgewiesen hat.19 Eine Kompassnadel wurde abgelenkt, sobald ein „elektrischer Conflict“ hergestellt wurde; zu diesem Zeitpunkt sprach man noch nicht von elektrischem Strom. Manche sehen diese Entdeckung, wiewohl der Zufall dabei eine Rolle spielte, als den größten Triumph einer von der Natur-

14 Steffens: Was ich erlebte (Anm. 9), S. 411 f. 15 Dietrich von Engelhardt: Artikel ‚Steffens, Henrik‘. In: Deutsche Biographische Enzyklopädie, Bd. 9. München 1998, S. 465. 16 Steffens: Was ich erlebte (Anm. 9), S. 432. 17 Vgl. Dietrich von Engelhardt: Zum Wissenschaftsbegriff der Romantik – Physik und Metaphysik, Kunst und Leben bei Carl Gustav Carus. In: Petra Kuhlmann-Hodick u. Bernhard Maaz (Hrsg.): Carl Gustav Carus – Wahrnehmung und Konstruktion: Essays. Berlin 2009, S. 19–29, hier S. 20. 18 Vgl. Ernst P. Hamm: Steffens, Orsted, and the Chemical Construction of the Earth. In: Robert Michael Brain, Robert S. Cohen u. Ole Knudsen (Hrsg.): Hans Christian Orsted and the Romantic Legacy in Science (=Boston Studies in the Philosophy of Science, 241). Dordrecht 2007, S. 159–175, hier 171. 19 Zur Entdeckung des Elektromagnetismus. Abhandlungen von Hans Christian Oersted und Thomas Johann Seebeck 1820–1821 (Ostwald’s Klassiker der exakten Wissenschaften Nr. 63). Leipzig 1895, S. 3–8.  



























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philosophie angeleiteten experimentellen Naturwissenschaft an.20 Ein Jahr später folgte ihr der Aufsatz Über den Magnetismus der galvanischen Kette des in Reval geborenen Mitglieds der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Thomas Johann Seebeck.21 Seebeck hatte von 1802 bis 1810 in Jena gelebt und natürlich auch Schelling getroffen. Da es uns hier besonders darum gehen muss, das personelle Netzwerk22 der Romantiker nachzuzeichnen, sei an dieser Stelle erwähnt, dass 1804 in Halle Friedrich Schleiermacher einer der Kollegen von Steffens geworden ist. Hierüber berichtete Steffens später: Wir schlossen uns ganz und unbedingt an einander, und ich habe es nie auf eine entschiedenere Weise erfahren, daß eine unbedingte Hingebung die Selbständigkeit fördert, nicht unterdrückt. So hatten mich Goethe, Schelling, Tieck ganz gewonnen, wie jetzt Schleiermacher. […] Allerdings war seine Darstellung dialektisch-negativ, aber die Realität eines Positiven, Allumfassenden, alle Negation in der Einheit Verklärenden, durchdrang ihn.

Schleiermacher sei in Steffens’ naturwissenschaftliche Ansichten eingedrungen, wenigstens in sofern diese in der größern Allgemeinheit sich aussprachen. […] Seine ethischen Vorträge und meine philosophischen schienen den Zuhörern aufs innigste verbunden, sie ergänzten sich. Aber auch wir tauschten, was wir wußten, wechselseitig ein, und wenn Schleiermacher meine physikalischen Vorträge hörte, so schloß er mir die griechische Philosophie auf, und durch ihn lernte ich Plato kennen.23

Steffens, der gleich Carus in den empirischen Naturwissenschaften gut vernetzt war und 1821 zum außerordentlichen Mitglied der Königlich Dänischen Gesellschaft der Wissenschaften ernannt wurde, hat in Halle nicht nur über Mineralogie und Geognosie Vorlesungen gehalten, sondern auch über Naturphilosophie,

20 Vgl. Wolfgang Bonsiepen: Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel. Mathematische versus spekulative Naturphilosophie. Frankfurt a. M. 1997, S. 323, mit weiterführender Literatur. 21 Vgl. Zur Entdeckung des Elektromagnetismus (Anm. 19). 22 Überlegungen zu informellen Verbindungen zwischen Intellektuellen und ihrer Bedeutung für die Forschung finden sich in: Thomas Stamm-Kuhlmann: Zeitschriften und Almanache als Mittel der Netzwerkbildung. In: Rückert-Studien Band XIII (2000/2001), S. 139–155; ders.: Gelehrtenkontakte zwischen Kooperation und Konkurrenz: Deutschland und Schweden 1750–1850. In: Martin Krieger u. Joachim Krüger (Hrsg.): Regna firmat pietas. Festschrift zum 60. Geburtstag von Jens E. Olesen. Greifswald 2010, S. 379–398. 23 Steffens: Was ich erlebte (Anm. 9), Neudruck des fünften Bandes der Erstausgabe Breslau 1842. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, S. 143 f.  















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Physiologie und Experimentalphysik.24 In seinen Lebenserinnerungen weist er den Vorwurf zurück, eine phantastische Art der Naturforschung gelehrt zu haben. In Halle verschwanden die Extravaganzen einer bloß willkürlich combinirenden Natur-Philosophie. Die Wirklichkeit behielt ihr Recht, und ich weiß mich keiner damaligen Schüler zu besinnen, die zu den ausschweifend träumerischen Natur-Philosophen gerechnet werden konnten.25

III Wie manifestiert sich nun die Überzeugung vom notwendigen inneren Zusammenhang aller Dinge bei einem Naturforscher und Arzt wie Carl Gustav Carus? Carus hat sich dazu 1831 in seinen Neun Briefen über Landschaftsmalerei geäußert. Über diese Briefe hat er selbst später geschrieben: Es trat in diesen Briefen eine eigentümliche Vermählung von Wissenschaft und Kunst hervor, und dies ist es auch jedenfalls, wodurch ihnen eine bleibende Stelle in der Literatur erhalten werden wird. Das, was um jene Zeit Schelling durch den Begriff der Weltseele auszusprechen suchte, es war recht eigentlich der Kardinalpunkt, um welchen sich diese Gedankenzüge bewegten. Erst wenn man in der weiten großen Natur der Oberfläche des Planeten das lebendige geistige Prinzip erkannt oder mindestens geahnt hat, bekommt ja alle Szenerie der Landschaft einen höhern und mächtigern Sinn […] ich verstand nun noch bestimmter als früher, warum dann, wenn ich z. B. das Wesen der Pflanze im einzelnen und in ihren verschiedenartigsten Gattungen zu erforschen bemüht gewesen war, der Anblick von Wiesen und Wäldern – als massenhafteste Zusammenstellung unzähliger einzelner Pflanzen – gerade mit um so tieferm poetischem Gefühl mich durchdrang.26  





Bald nachdem er als Professor der Geburtshilfe nach Dresden berufen worden war, hatte Carus von ihm selbst gemalte Bilder auf der jährlichen Dresdner Kunstausstellung gezeigt.27 Ab 1818 war er mit Caspar David Friedrich bekannt geworden; diesen habe „ein gewisser freier Naturalismus in meinen Bildern, wie er eben nur aus unzähligen Naturstudien vollkommen hervorzugehen pflegt, sehr erfreut“.28 Von jener Zeit an, so berichtet Carus, habe ihn die vergleichende Anatomie, der er seine berufliche Etablierung verdankte, weniger gefesselt. „Was 24 25 26 27 28

Ebd., S. 157. Ebd., S. 155. Carus: Denkwürdigkeiten 1 (Anm. 1), S. 145 f. Ebd., S. 142. Ebd., S. 168.    



   





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sollte uns die Kenntnis vom Bau des Wurms ohne Beziehung auf Höheres?“ will er damals gefragt haben.29 Die zunehmende melancholische Verdunklung der Seele Friedrichs hat später die freundschaftliche Beziehung von Carus zu Friedrich in eine bloße ärztliche Fürsorge verwandelt.30 Neben Caspar David Friedrich war Carus auch mit dem norwegischen Maler Johann Christian Clausen Dahl befreundet, den er den „vollkommensten Gegensatz, den man sich nur denken kann“, zu Friedrich genannt hat.31 Recht bald lässt sich verstehen, welchen Rang die Malerei in der Biografie von Carus einnimmt. Er hat einzelne Werke durchaus verkauft, insofern war ihm die Tätigkeit schon ernsthaft, und er scheute sich nicht, sich auf dem Kunstmarkt zu behaupten.32 In erster Linie aber bedeutete ihm die Malerei Erholung und seelischen Ausgleich, gerade in Zeiten extremer beruflicher Belastung. Während er im Sommer 1813 in Leipzig als Direktor eines französischen Lazaretts angestellt war, tröstete er sich über die Verwüstung und die Vergeudung von Menschenleben, indem er malte oder im Leipziger Rosental „Studien nach alten Baumstämmen, Laubmassen und üppigen Pflanzengruppen“ anfertigte.33 Diese Art von Entlastung hat er sich auch in späteren Lebenskrisen wiederholt verschafft. Man kann nun die Frage nach dem Verhältnis von Naturwissenschaft und bildender Kunst in zwei Richtungen stellen. Was bedeutet die Kunst für die Naturwissenschaft und die Naturwissenschaft für die Kunst? Es ließe sich sagen, dass die Beschäftigung mit der bildenden Kunst dahin gewirkt hat, Carus deren Grenzen erfahrbar zu machen. So schreibt er einmal nach einem Ritt durch die Nadelwälder im Tal der Priesnitz: Im Landschaftlichen empfinde ich nämlich längst, wie mich Beschäftigung mit der Kunst und Studium vieler Kunstwerke mehr und mehr dahin geleitet haben, die Natur an sich als ein Bild erfassen zu lernen und in ihr selbst eine Schönheit zu erkennen, welche so unendlich, so bis in die äußersten Tiefen unergründlich ist, daß nichts von wirklichen Bildern ihr irgend verglichen werden könnte.34

Der Unterschied zwischen Erdichtetem und Wirklichem gleiche dem zwischen Menschlichem und Göttlichem.35 Insofern müsse man sich bemühen, immer

29 Ebd., S. 236. 30 Vgl. ebd., S. 498. 31 Vgl. ebd., S. 235. 32 Vgl. ebd., S. 476: Carus arbeitete ein Bild auf Bestellung des Staatsrats Joukowsky für den russischen Thronfolger. 33 Vgl. ebd., S. 106. 34 Ebd., S. 465. 35 Vgl. ebd., S. 466.  

   









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wieder die Wirklichkeit der Natur zu studieren, und dürfe davon nicht ablassen, sonst werde man das dahinterstehende Ideal nicht erkennen. Das erklärt, warum nach seiner Meinung die Naturwissenschaft herangezogen werden muss, um die Leistungen des Künstlers zu verbessern. Goethe habe so gehandelt, um ein gutes Gedicht über die Wolken schreiben zu können. Daß dieses Gedicht über die Wolken entstehen konnte, dazu bedurfte es langer, ernster, atmosphärischer Studien, es mußte hier beobachtet, beurteilt, gesondert werden, bis nicht nur die Kenntnis der Wolkenbildung, wie sie einfache sinnliche Anschauung gewährt, sondern die Erkenntnis, welche allein Frucht wissenschaftlicher Forschung ist, erreicht war. Nach all diesem faßte nun das geistige Auge alle gesonderten Strahlen des Phänomens zusammen und spiegelte den Kern des Ganzen in künstlerischer Apotheose zurück. – In diesem Sinne gefaßt, erscheint dann die Kunst als Gipfel der Wissenschaft, sie wird, indem sie die Geheimnisse der Wissenschaft klar erschaut und anmutig umhüllt, im wahren Sinne mystisch oder, wie Goethe sie auch genannt hat, orphisch.36  

Die Idealität in der Natur zeigt sich in ihrer Gesetzmäßigkeit. Deswegen sind Carus solche Maler ein Gräuel, die Erscheinungen malen, die den Naturgesetzen widersprechen, wenn sie also den Himmel mit allen Farben schmücken, die er nach Sonnenuntergang zeigt, und im Vordergrund den hellsten Sonnenschein malen, wenn noch andere, bei Darstellung wirklicher Gegenden, Gebirgslinien so verändern, daß von den eigentümlichen charaktervollen Formen kaum eine Spur mehr bleibt […],

und das allein aus einer „gewisse[n] Liederlichkeit“ heraus.37 Solchen schlampigen Gemälden gegenüber sind Carus die Zeichnungen von Geognosten, die ohne jede künstlerische Ambition angefertigt worden sind, wesentlich lieber.38 In diesen Ansichten ist ihm 1851 Ørsted gefolgt. In seinem zweibändigen Werk Geist in der Natur setzt sich Ørsted mit dem Verhältnis der Wissenschaften zu den verschiedenen Künsten auseinander. Seine Beispiele stammen aus der Dichtung, wobei er die Bibel als Dichtung behandelt und deswegen in einem höheren Sinn als wahr beibehalten kann, und der Musik. Ein Dichter sollte der Naturwissenschaft möglichst nicht widersprechen, denn: Die Naturwissenschaft kann offenbar dem Dichter nicht verbieten, falsche Meinungen nicht zu gebrauchen; aber sie kann ihm sagen, daß je mehr wahre naturwissenschaftliche Bildung – etwas anderes als strenge Naturwissenschaft – verbreitet wird, desto mehr wer 



36 Carl Gustav Carus: Briefe und Aufsätze über Landschaftsmalerei. Leipzig, Weimar 1982, S. 61 f. 37 Ebd., S. 80. 38 Vgl. ebd., S. 81.  







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den jene falschen Meinungen den Eindruck seines Werkes schwächen oder vernichten. Dieß kann mitunter dem Eindruck, den das Werk hervorbringt, schaden.39

Ein Komponist schließlich sei ein Künstler, der „durch ein glückliches Gefühl auf einmal entdeckt und schafft, was viele Menschen mittelst ihres Verstandes in vielen Jahren nicht haben auffinden können“,40 nämlich die den musikalischen Harmonien komplexer Kunstwerke zugrundeliegenden mathematischen Verhältnisse. Ein großer Komponist war für Ørsted jemand, der auf geniale Weise eine Abkürzung zur Erkenntnis der „Offenbarung einer ewig lebenden und wirkenden Vernunft“41 gefunden hatte.

IV Eine Gemeinsamkeit von Carus und Steffens ist es, dass beide eine Rassenlehre entwickelt haben. Die Anthropologie von Carus ist dabei die besser ausgearbeitete. Doch beider Ansatz ist ähnlich. Zunächst wird die Erdkugel betrachtet und in Zonen eingeteilt. Diesen Zonen entsprechen bestimmte Prinzipien, die bei Steffens mit der Chemie, bei Carus mit dem Sonnenlicht zu tun haben. Aus diesen Prinzipien, welche die Erdzonen regieren, werden sodann bestimmte Charaktereigenschaften der Menschen abgeleitet, die sie bewohnen. Als Voraussetzung muss man wissen, dass durch Blumenbach eine Einteilung in fünf Hauptrassen des Homo sapiens weitgehend üblich geworden war. In seinen Grundzügen der Philosophischen Naturwissenschaft von 1806 meint Steffens: Das erscheinende Temperament ist eine Abweichung von dem Normaltemperament, welches nur in der Totalität der Menschenorganisation zu schauen ist. Ein jedes Temperament ist gleich ewig und innerlich gesund, und keines hat einen Vorzug vor dem andern. Wie in den Temperamenten (den temperierten Elementen) das organische Uebergewicht der Individualität über die Universalität dargestellt wird, so giebt es auch ein relatives Uebergewicht der Elemente über die Temperamente, also ein Uebergerwicht der totalen Spannung in der Menschengattung selbst. Dieses wird durch die Racen angeschauet.42

39 Hans Christian Ørsted: Der Geist in der Natur, Bd. 2: Naturwissenschaft und Geistesbildung. Deutsche Originalausgabe des Verfassers. München 1851, S. 14. 40 Ebd., S. 22. 41 Ebd. 42 Steffens: Grundzüge (Anm. 13), S. 195 f.  











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Vier Rassen sind durch Einseitigkeiten gekennzeichnet: die Negerrasse, die mongolische, die malayische und die amerikanische. Ihnen entsprechen die vier Himmelsrichtungen. Eine Rasse aber ist „temperiert“, deswegen der Reflexion und der geschichtlichen Höherentwicklung fähig, nämlich die kaukasische.43 Mit ihr verglichen sind, Steffens zufolge, die anderen nur vegetativ oder auf dem Niveau der Instinkte lebend.44 Die Rassensystematik von Carus gliedert vier verschiedene „Racen oder Stämme“ – die Begriffe werden von ihm gleichbedeutend gebraucht – nach ihrem Verbreitungsraum und dessen Stellung zum Sonnenlauf. Das erscheint wiederum nur dem kurios, der die Carussche Auffassung vom „Erdleben“,45 das heißt sein Verständnis unseres Planeten als Organismus, nicht kennt. Aus den vier Grundzuständen von Tag, Nacht, Morgen- und Abenddämmerung gewinnt Carus seine Gliederungspunkte. Das Verhältnis des Planeten zur Sonne müsse „als Urphänomen jeder planetarischen Existenz“ anerkannt werden – Carus hat Goethesche Terminologie nie ohne Überlegung benutzt. Es könne „schlechterdings nicht ohne wichtigen Einfluss bleiben auf die Existenz aller Lebendigen auf diesem Planeten“.46 Der Viergliederung entsprechend, von der Carus behauptet, dass sie inzwischen auch mit anderen Argumenten der Physiologie vertreten werde, soll es nun auf unserer Erde vier Menschenrassen geben: Die Nachtvölker – das ist der äthiopische Stamm, die Tagvölker, das sind, in den Worten von Carus,  





die kaukasischen, europäischen und in Asien bis zu den Hindus verbreiteten höhern Stämme, alle von mehr oder minder weisser Färbung, die östlichen Dämmerungsvölker – das sind die weitverbreiteten Völker des mongolischen Stammes, von welchem zugleich die malayischen Stämme abgeleitet werden können, und die westlichen Dämmerungsvölker, Volksstämme, welche der Dämmerung des Unterganges entsprechen, in denen abermals eine mittlere Organisation und eine bald dunkler bald hellere röthliche Färbung vorherrscht, wohin denn die Völker gehören, deren Mitte der Toltekanische und aztekische Stamm ausmachte, welcher einerseits bis zu appallachianischen Stämmen, andererseits bis zu den Patagoniern und Feuerländern sich ausdehnt.47  

In der 1849 zum Gedenken an Goethes hundertsten Geburtstag verfassten Schrift Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitstämme für höhere geistige Entwicklung verfolgt Carus den Zweck, zu beweisen, dass man eine Hierarchie

43 Vgl. ebd., S. 197. 44 Vgl. ebd., S. 196. 45 Vgl. Carl Gustav Carus: Zwölf Briefe über das Erdleben. Stuttgart 1841. 46 Carl Gustav Carus: Über ungleiche Befähigung der verschiedenen Menschheitstämme für höhere geistige Entwicklung. Leipzig 1849, S. 11. 47 Ebd., S. 15.    





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der verschiedenen Menschheitstämme aufstellen kann. Dieser Beweis wird zunächst an Messungen des Schädelvolumens, sodann an historischem Material – beziehungsweise dessen Fehlen – erbracht. Man ahnt jetzt schon, was kommt: Natürlich stehen die Tagvölker an der Spitze, die wiederum in zwölf Völkerzweige untergliedert werden, unter denen die Germanen und Kelten am besten zu den „höheren Geistestätigkeiten“48 befähigt seien, was durch das größere Volumen ihrer vorderen Hirnhälften angelegt sei. Ein Individuum aber stelle den höchsten Menschentypus dar, den es bei den Deutschen je gegeben habe. Das sei niemand anders als der jetzt zu ehrende Goethe. „In ihm“, sagt Carus,  



dessen Individualität nicht nur einen vollkommnen Prototyp aus den Tagvölkern, und zwar aus einem ihrer edelsten Zweige, d.i. dem Zweige der Germanen, darstellte, vereinigte sich der Inbegriff einer gesunden vollkräftigen Natur mit der angebornen Verehrung der Kunst, und der glückliche Verein beider gab seinem Geiste jene edle Ruhe und Klarheit, welche, je mehr sie von seinem Volke erkannt werden können, um so mehr ihm die Bedeutung sichern müssen, massgebend zu sein für die rechte ächtmenschliche Mitte zwischen ursprünglicher ungezähmter Natur und sich überbietender gezwungener Künstlichkeit des Empfindens und Lebens.49

Anthropologie wurde in Europa seit den Reisen von James Cook mit wachsendem Eifer getrieben. Mal überwog der historische, mal der anatomische Zugang. In späteren Jahren hat Carus die Grundzüge seines naturwissenschaftlichen Denkens auf zwei Prinzipien gebracht: dass „alles Organische von der Form der Sphäre ausgehen muß (denn sie ist ja die noch am reinsten ungeteilte und mußte schon deshalb notwendig zur Urgestalt alles Organischen werden)“50 sowie dass der „eigentliche […] Charakter aller wahren und lebendigen Entstehung […] in einer stetigen Teilung zu suchen ist.“51 Das Künstliche, vom Menschen Gemachte, entsteht durch Zusammensetzung und ist mechanisch; das Natürliche wächst durch Teilung und ist organisch. Die Romantiker haben viel von Evolution gesprochen. Ganz wichtig ist, dass sie damit nur die Entfaltung dessen meinten, was im Keim schon angelegt war. Geradezu verboten haben sie sich den Gedanken, dass die Evolution darin bestehen könnte, dass eine Form in die andere überginge. Dazu schrieb Carus in seiner Physiologie von 1838:

48 Ebd., S. 21. 49 Ebd., S. 101. 50 Carl Gustav Carus: Grundzüge allgemeiner Naturbetrachtung (Libelli, Bd. XIX). Darmstadt 1954, S. 43. 51 Ebd., S. 41.    







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Endlich aber und hauptsächlich darf es nicht gedacht werden, daß der Mensch entstanden sei, indem sich ein Thier (ein Affe etwa, mit dem man sonst den Menschen zusammenordnete) in seiner Entwicklung gesteigert und so Mensch geworden sei. – Man muß nie vergessen, daß der Mensch eine durchaus neue, allen anderen epitellurischen Geschöpfen fremde Bildung sei; daß er zwar wohl in seiner Entstehung durch vorhergängige Bildung tausendfältig anderer epitellurischer Geschöpfe vorbereitet, aber selbst nur als ein neues Bestimmtes aus dem absolut Unbestimmten, aus dem Aether hervorgegangen sein könnte.52  

In dieser, aus der hervorgehobenen Stellung des Menschen im Kosmos resultierenden, Unmöglichkeit, ihn einfach in die Kette der Naturbildungen einzureihen, liegt eine Begrenzung. Ganz gleich aber, ob wir darin eine für die Romantik typische Prägung erkennen können, dem Transfer romantischer Ideen zwischen Künstlern und Naturforschern, vor allem auch rund um die Ostsee, lohnt es sich weiter nachzuspüren.

52 Carl Gustav Carus: System der Physiologie. Theil 1. Das Allgemeine der Physiologie, die physiologische Geschichte der Menschheit und die physiologische Geschichte des Menschen. Dresden 1838, S. 112 f.  



Jure Zovko

Zur Aktualität von Friedrich Schlegels Kritikkonzeption für die Geisteswissenschaften Die Hauptintention dieses Beitrags ist es, zu ergründen, ob sich Friedrich Schlegels Konzept der hermeneutischen Kritik im Sinne einer universellen Kunst des Verstehens auf den gesamten Bereich der Geisteswissenschaften anwenden ließe. Das Interpretandum wird in den Geisteswissenschaften – gemäß dem Schlegelschen hermeneutischen Anliegen – vom Standpunkt des Sach- und Wahrheitsgehaltes geprüft, beurteilt und bewertet. Im Sinne dieser für alle Humaniora geltenden Immanenz der Kritik empfand Schlegel Kants abstraktes Konzept der Kritik als unbefriedigend und suchte die Lösung eher bei Lessing und dessen Auffassung von Kritik. Zweifellos wird in den Disziplinen des Verstehens und Auslegens gern und oft kritisiert, während gleichwohl ein Dissens darüber besteht, was unter Kritik zu verstehen sei. Schlegels vielfältige Konzeption dürfte in gewisser Hinsicht zur Vertiefung dieses Begriffes beitragen. Kritik hatte für den jungen Schlegel offensichtlich eine universal-hermeneutische Dimension, wie dies aus seinem Lessing-Essay Vom Wesen der Kritik (1804) ersichtlich ist: „[D]ie Kritik [ist] der gemeinschaftliche Träger, auf dem das ganze Gebäude der Erkenntnis und der Sprache ruht.“1 Schlegel war äußerst skeptisch hinsichtlich der universellen Anwendbarkeit der Kritik in der Form, wie sie die philosophischen Protagonisten des 18. Jahrhunderts, namentlich Kant, vertreten haben. Kants Ansicht, dass sich der Kritik „alles unterwerfen muss“,2 weil das Zeitalter der Aufklärung dies fordere, bleibt nach Schlegel so lange unrealisierbar, wie unter ‚Kritik‘ eine abstrakte Tätigkeit der Vernunft verstanden wird. Die von Kant befürwortete Kritik der Vernunft legt Schlegels Auffassung zufolge zu wenig Wert auf Förderung der Poesie, Kunst und Kultur bzw. auf Verfeinerung des Kunstgefühls. In seinem Beitrag Vom Wesen der Kritik schreibt er: „Für die Kritik […] ist […] nicht viel gewonnen, solange man den Kunstsinn nur erklären will, statt dass man ihn allseitig üben, anwenden und bilden sollte“.3 Schlegels Ergänzungsvorschlag zur Kantischen Konzeption ist eine an Lessings Literatur 



1 Friedrich Schlegel wird zitiert nach der Kritischen Friedrich-Schlegel-Ausgabe [=KFSA]. Hrsg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Paderborn 1958 ff; hier: Bd. 3, S. 55. 2 Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, (KrV), A XI, Anm. 3 KFSA, Bd. 3, 57.  







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und Kulturkritik sowie an die philologische Kritik Friedrich August Wolfs anschließende universal-philosophische Kunst des Verstehens: Auch das ist ausgemacht, daß Lessing ein unübertrefflich einziger, ja beinah vollkommener Kunstkenner der Poesie war. Hier scheinen das Ideal und der Begriff des Individuums fast ineinander verschmolzen zu sein. Beide werden nicht selten verwechselt, als völlig identisch. Man sagt oft nur: ein Lessing, um einen vollendeten poetischen Kritiker zu bezeichnen. So redet nicht bloß jedermann, so drückt sich auch ein Kant, ein Wolf aus; Häupter der philosophischen und der philologischen Kritik, welchen man daher den Sinn für Virtuosität in jeder Art von Kritik nicht absprechen wird […].4  















Das primäre Ziel der hermeneutischen Kritik, wie sie von Schlegel fragmentarisch entworfen wurde, ist es, den Sach- und Wahrheitsgehalt des Interpretandums zu erforschen, zu analysieren und vom Standpunkt der Relevanz aus zu beurteilen. Die Stärkung des Urteilsvermögens sollte primäre Verpflichtung der hermeneutischen Kritik sein, vor allem in unserer Zeit, da ein relativistischer Indifferentismus bzw. Perspektivismus in der Auslegungspraxis der Geisteswissenschaften üblich und maßgebend geworden ist und fast schon routinemäßig dafür plädiert wird, Texte bzw. Kunstwerke möglichst differenziert und aus neuen Perspektiven auszulegen bzw. zahlreiche unterschiedliche Interpretationsmöglichkeiten als gleichberechtigt und gleich angemessen gelten zu lassen. Die moderne Hermeneutik hat seit Gadamer, so scheint es mir, die Frage nach der Methode des richtigen und zuverlässigen Verstehens verabschiedet und ist statt dessen zu einem Förderinstrument des Pluralismus äquivalenter Interpretationen geworden. Indes lassen sich mehrere Interpretationsalternativen schlechterdings nicht als hermeneutisch gleichberechtigt oder äquivalent akzeptieren; der Interpret muss letztendlich beurteilen, welche Deutung vom hermeneutischen Standpunkt der Sinnerschließung aus plausibel, akzeptabel bzw. optimal ist. Deshalb wird immer wieder eine ‚Disziplinierung‘ der Hermeneutik durch die verantwortliche Urteilskraft gefordert sein, die anspruchsvolle Texte resp. Kunstwerke gegen interpretative Beliebigkeit absichert und dem Verstehen zugänglich macht. Die hermeneutische Kritik sollte als kritische Reflexionsinstanz die Errungenschaften und Objektivationen des Geistes in ihrem Wahrheitsgehalt, d. h. sub ratione veritatis, ergründen und würdigen. Schlegels Ergänzungsvorschlag zur abstrakten Konzeption der Kritik bei Kant, die bloß formale Rahmenbedingungen des Verstehens thematisiert, impliziert ein stringentes Urteil über den Sach- und den Wahrheitsgehalt eines Kunst 

4 KFSA, Bd. 2, 104.  

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werks bzw. eines Interpretandums im weiteren Sinne des Wortes. Im Unterschied zu Kants abstrakt abgeleiteten Kategorien schwebt ihm vor, eine „Deduktion der kritischen Kategorien“ durchzuführen, deren Endzweck darin besteht, die Bedingung des Verstehens von Werken plausibel zu machen. Als Priorität dieser Deduktion werden die Kategorien „Sinn“, „Geist“ „Buchstabe“, „Einheit“, „Bedeutung“, „Beziehung“ und „Zusammenhang“ genannt, die als allgemeine Rahmenbedingungen der ästhetischen Urteilsfähigkeit fungieren sollen. Dabei wird besonderer Nachdruck auf die Kategorie „Sinn“ gelegt, die „in der Mitte zwischen Geist und Buchstaben“ angesetzt wird.5 Der primäre Zweck der hermeneutischen Kritik bei der Explikation eines Werkes wird darin gesehen, das kreative Wechselverhältnis von dessen Geist und Buchstabe zu ergründen. Zum Ausgangspunkt der Erörterung der Schlegelschen Theorie des Verstehens und der mit ihr zusammenhängenden Auffassung von Kritik wird hier sein nachgelassenes Fragment zur Literatur und Poesie aus dem Jahre 1797, in dem die bekannte hermeneutische Frage des „Besserverstehens“ aufgeworfen wird. Das betreffende Fragment lautet: Kritik ist eigentlich nichts als Vergleichung d[es] Geistes und des Buchstabens eines Werkes, welches als Unendliches als Absolutum und Individuum behandelt wird. Kritisiren heißt, einen Autor besser verstehen als er s.[ich] selbst verstanden hat.6

In diesem Fragment ist nicht nur Schlegels hermeneutische Kritik als universelle Kunst des Verstehens in nuce konzipiert, sondern auch ein Ansatz zu seiner eigenen Transzendentalphilosophie entworfen, die das Transzendentale historisieren soll. Aus Schlegels nachgelassenen Heften Zur Philologie ist ersichtlich, dass er – entsprechend seiner Idee der „Philosophie der Philologie“ – auch das Begriffspaar „Geist“ und „Buchstabe“ aus der Praxis der philologischen Altertumswissenschaft entnommen hat.7 Schlegel bemüht sich, Kants formalistischen Begriff der Kritik durch den der altphilologischen Praxis etwa Christian Gottlob Heynes und Friedrich August Wolfs zu ergänzen und zu vertiefen. Das aus philologischer Praxis abgeleitete und philosophisch geprägte Konzept der Kritik erhält eine neue universal-hermeneutische Bedeutung im Sinne einer ars critica. Schlegels Zeitgenosse Schleiermacher hat sich in der Zeit, in der sich die Transformation der Praktiken der philologischen Hilfsdisziplinen in eine Theorie des Verstehens vollzieht, für den Terminus „Hermeneutik“ entschieden, da dieser in der Theologie üblich war, während Schlegel „Kritik“ für die universelle Kunst des  



5 KFSA, Bd. 16, S. 132, Nr. 567. 6 KFSA, Bd. 16, S. 168, Fr. 992. 7 Dazu vgl. Jure Zovko: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 23–36.  











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Verstehens präferiert hat. Die Idee der Kritik als Kunst der Vollendung eines Kunstwerks, die Schlegel in der umstrittenen Schrift von Friedrich August Wolf Prolegomena ad Homerum (1795) entdeckt hat, war auch von besonderem Belang für die Ausarbeitung seiner eigenen Kritik als universeller Kunst des Verstehens und Bewertens. Wolfs These, dass die antiken Kritiker, die sich ‚Diaskeuasten‘ nannten, aus den mündlich tradierten Homerischen Rhapsodien die Kunstepen Ilias und Odyssee hervorgebracht hätten, lieferte Schlegel gewissermaßen einen Prototypen und Orientierungspunkt für die Tätigkeit des Kritikers. Die klassische Diaskeuastik bleibt das Vorbild zur Ausarbeitung einer universal-hermeneutischen Kritik, deren Aufgabe es ist, die „Werke zu bilden, freil[ich] auch umzubilden, zu behandeln, zu diaskeuasiren zu kritisiren“.8 Schlegel gibt beiden Termini, „Kritik“ und „Hermeneutik“, einen neuen, philosophisch-ästhetischen Sinn: Ihr Zweck wird nun darin gesehen, den schöpferischen Vorgang bei der Entstehung eines Kunstwerkes zur Sprache zu bringen und die Bemühung des Künstlers, das Undarstellbare auszudrücken, hermeneutisch zu reflektieren. In diesem Sinne kann er auf das Besserverstehen als Konstituens der hermeneutischen Tätigkeit nicht verzichten. Die primäre Intention des von Schlegel gefassten Besserverstehens ist es, das dem Werk immanente Ideal zu ergründen.9 Den „Geist eines Werkes“ bezeichnet Schlegel in den nachgelassenen Fragmenten zur Literatur und Poesie als „immer etwas Unbestimmtes also Unbedingtes“,10 das in der künstlerischen Kreativität und Produktion seine Bestimmung erhält. In der Lucinde wird „der Geist des Menschen“ als etwas Proteusartiges gefasst: Er „verwandelt sich und will nicht Rede stehn vor sich selbst“.11 In den Vorlesungen zur Transzendentalphilosophie (1800/01) wird die Methode der Philosophie als der Geist und das System als der Buchstabe gekennzeichnet.12 Unter dem Begriff „Buchstabe“ wird die vorübergehende Bestimmung und Individualisierung des Geistes im konkreten Kunstwerk verstanden: „Buchstabe ist fixirter Geist“13. Dieser Vergleich von Geist und Buchstabe eines Werkes soll dabei helfen zu ermitteln, inwiefern das immanente Ideal des Werkes verwirklicht wird. Im Gespräch über die Poesie wird der Versuch unternommen, mit Hilfe von „Geist“ und „Buchstabe“ den Vorgang der künstlerischen Produktion paradigmatisch zu erörtern: „Wo irgend lebendiger Geist in einem gebildeten Buchstaben gebunden

8 KFSA, Bd. 18, S. 125, Nr. 24. 9 Vgl. KFSA, Bd. 16, S. 179, Nr. 1149: „Die κρ[Kritik] vergleicht das Werk mit s.[einem] eignen Ideal“. 10 KFSA, Bd. 16, S. 122, Nr. 443. 11 KFSA, Bd. 5, S. 59. 12 Vgl. KFSA, Bd. 12, S. 18. 13 KFSA, Bd. 18, S. 297, Nr. 1229.  









   



















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erscheint, da ist Kunst“.14 Interpretation wird folglich metaphorisch als Befreiung des „gebundenen“ Geistes gedeutet: „Lesen heißt, gebundnen Geist frei machen.“15 Eine ähnliche Ansicht vertritt viel später Hans Robert Jauß, wenn er Lektüre metaphorisch als „Erlösung“ des Textes aus der Materie des Wortes versteht. Der Text wird unter anderem mit der Partitur verglichen, die auf ihre Aktualisierung in der Ausführung wartet.16 Der Interpret erweist sich dabei als Vermittler, der im Medium der Kritik das Gedeutete der Prüfung öffnet. Auch Gadamer meint in seinem 1976 veröffentlichten Aufsatz Rhetorik und Hermeneutik, dass im hermeneutischen Gespräch mit einem Text „das tote Wort […] zu lebendigem Sprechen auferweckt werden“ müsse.17 Mit der Lektüre eines bestimmten Textes kommt die Frage nach der sachgerechten Interpretation ins Spiel. Einen besonderen Anlass für Überlegungen, wie mit einem Text verantwortlich umzugehen sei, bietet die vieldiskutierte Schriftkritik in Platons Dialog Phaidros. Theuths Sage von der Erfindung der Schrift schließt Platon mit der Feststellung ab, dass der Text, logoi gegramenoi, einen substantiellen Nachteil hat, weil er sich vor Missverständnissen und absichtlichen Fehldeutungen nicht schützen kann: „Und wird die Schrift (graphê) beleidigt oder unverdienterweise beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe (boêthou); denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen“.18 Schleiermacher rekurriert in seinen Vorlesungen über die Dialektik auf diesen vieldiskutierten Platonischen Topos, indem er auf den wesentlichen Unterschied zwischen einem zu interpretierendenText und einem anwesenden Gesprächspartner verweist: Das Buch könne „sich nicht verantworten“, während die Person, mit der man diskutiert, dies jederzeit tun kann. Deshalb bleibt es die hermeneutische Verantwortung jeden Lesers und Interpreten, in sachgerechten Verstehensbemühungen mit dem Werk wie mit einem Dialogpartner umzugehen, „sich ganz auf den Standpunct und in die Seele des Verfassers hineinzuversetzen“ und den Text so zu behandeln, dass der Verfasser, „wäre er selbst gegenwärtig, nichts gegen […] Einwendungen sagen können“ würde.19

14 KFSA, Bd. 2, S. 290. 15 KFSA, Bd. 18, S. 297, Nr. 1229. 16 Vgl. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft. In: Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik: Theorie und Praxis. München 1975, S. 126–162, hier S. 129. 17 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Rhetorik und Hermeneutik. In: Ders.: Gesammelte Werke, 2. Aufl. Tübingen 1993, S. 276–291, hier S. 290. 18 Platon: Phaidros 274 b–278 e, hier 275 e. 19 Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Kritische Gesamtausgabe, Bd. 10: Vorlesungen über die Dialektik. Teilband 2. Hrsg. v. Andreas Arndt. Berlin 2002, S. 403.  























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Das komplexe Verhältnis von Geist und Buchstabe, wie es Schlegel konzipiert hat, bleibt im Grunde genommen das Rätsel der Auslegung. Die interpretierende Lektüre versteht Schlegel als Kunst des „symphilosophierenden“ Gesprächs mit dem Text bzw. dem Kunstwerk, in welchem die Potentialität des Interpretandums ergründet und analysiert wird. Schlegel geht davon aus, dass jeder „synthetische Schriftsteller“ bereits beim Abfassen seiner Schrift mit seinem potentiellen Leser „in das heilige Verhältnis der innigsten Symphilosophie“ tritt, wie es im LyceumFragment 112 heißt.20 Kritik und Kritisieren werden ferner, ebenso wie das mit ihnen zusammenhängende „Besserverstehen“, als ein „symphilosophierendes“ Gespräch mit dem Werk gefasst, wobei jedes „Kunsturteil […] selbst ein Kunstwerk“ sein soll.21 Schlegels Behauptung, dass „Texte für das Studium oder die Symphilosophie da stehen“,22 geht davon aus, dass Texte und Kunstwerke nicht bloß als Objekte potentieller wissenschaftlicher Untersuchung und philologischer Analyse betrachtet und aufgefasst werden sollten, sondern als potentielle Dialogpartner, mit denen ein fruchtbares Gespräch geführt werden soll. Besonders wünschenswerte und ergiebige ‚Gesprächspartner‘ sind klassische Werke, die Bedeutung über die eigene Epoche hinaus haben. Die zu erschließende Interaktion von Geist und Buchstabe bleibt bei solchen Werken unerschöpflich, sie können, nach Schlegels Urteil, „ewig wieder kritisirt und interpretirt“ und doch „nie ganz verstanden“ werden, wie es in einem der nachgelassenen Fragmente aus dem Jahre 1797 heißt.23 Die Bezugnahme der Kritik auf klassische Werke ist keineswegs als eine bloße „Kompilation der Meinungen und Systeme“24 aufzufassen, sondern impliziert die behutsame und feinsinnige Erschließung der ursprünglichen Intention des Verfassers und der Absicht des Werkes: Es ist nichts schwerer, als das Denken eines andern bis in die feinere Eigentümlichkeit seines Ganzen nachkonstruieren, wahrnehmen und charakterisieren zu können. […] Und doch kann man nur dann sagen, daß man ein Werk, einen Geist verstehe, wenn man den Gang und Gliederbau nachkonstruieren kann. Dieses gründliche Verstehen nun, welches […] Charakterisieren heißt, ist das eigentliche Geschäft und innere Wesen der Kritik.25

Schlegel ist sich dessen bewusst, dass die Erforschung und Auswertung der philosophischen und kulturellen Überlieferung Kompetenz und kultivierte Ur-

20 21 22 23 24 25

KFSA, Bd. 2, S. 161. Ebd., S. 162; Nr. 117. Ebd., S. 177, Nr. 82. KFSA, Bd. 16, S. 141, Nr. 671. KFSA, Bd. 3, S. 60. KFSA, Bd. 3, S. 60.  

























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teilskraft des Interpreten voraussetzt. Nicht nur das, er behauptet zudem, dass die Kunsterfahrung erst im hermeneutischen Verstehen zum Gegenstand des Wissens bzw. zur allgemeinen Kultur erhoben werden kann. In einer nachgelassenen Notiz aus der Lyceums-Zeit heißt es: „Freilich wird alles, was man von der Kunst erfahren hat, erst durch φσ [Philosophie] zum Wissen“.26 Erst wenn man in langer hermeneutischer Erfahrung gelernt hat, „das Verstehen zu verstehen“, so Schlegel im Abschluss des Lessing-Aufsatzes, kann die hermeneutische Kritik allmählich zur Kulturwissenschaft transformiert werden. Dabei ist es wichtig, vor Augen zu haben, dass das Verstehen keine abstrakte, sondern vorzugsweise eine integrative Tätigkeit ist, in welcher das vom Geiste Hervorgebrachte zur Bildung der eigenen Identität, des eigenen Selbst verwendet wird. Die hermeneutische Reflexion qua Kritik impliziert „eine freimütige und sorgfältige Prüfung“ des von menschlichem Geist Geschaffenen, und zwar „so weit sich überhaupt […] die redenden Künste und die Sprachen erstrecken“.27 Im Hinblick auf die hermeneutische Erklärung der Kunstwerke in der modernen Ästhetik äußert Schlegel seine Unzufriedenheit in nachgelassenen Notizen zur Literatur und Poesie: Die moderne Aesthetik bestand lange Zeit bloß aus psychologisch[er] Erklärung aesthetischer Phänomene. Es liegt darin wenigstens eine Indicazion für d[en] Imperativ daß die Kunst Wissenschaft werden soll. ‒ Man sollte vielmehr für aesthet[ische] Aufgaben die Mittel der Auflösung wissenschaftlich suchen.28

Wie umfassend und anspruchsvoll Schlegel die Verpflichtung des Kritikers definiert, ersieht man aus einer Aufzeichnung aus den Fragmenten zur Literatur und Poesie (1797): Der gute Kritiker und Charakteristiker muß treu, gewissenhaft vielseitig beobachten wie der Physiker, scharf messen wie der Mathematiker, sorgfältig rubricieren wie der Botaniker, zergliedern wie d.[er] Anatom, scheiden wie der Chemiker, empfinden wie der Musiker, nachahmen wie ein Schauspieler, praktisch umfassen wie ein Liebender, überschauen wie ein Philosoph, cyclisch studieren wie ein Bildner, strenge wie ein Richter, religiös wie ein Antiquar, den Moment verstehn wie ein Politiker.29

In diesem Fragment wird freilich auch gesagt, dass hermeneutische Kritik als Kunst des Verstehens universell angewendet werden solle, wobei vielfältige Aspekte der Kreativität und Rezeptivität des menschlichen Geistes zum Ausdruck kommen. Vor allem die praktische Dimension des Prüfens und Urteilens soll 26 27 28 29

KFSA, Bd. 16, S. 101, Nr. 193. KFSA, Bd. 3, S. 52. KFSA, Bd. 16, S. 94, Nr. 110. KFSA, Bd. 16, S. 138, Nr. 635.    



















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berücksichtigt und ausgeübt werden, weil von ihr das Gelingen des Verstehens und die erfolgreiche Ausübung der Kritik abhängt. Schlegels Ansicht, dass die primäre Aufgabe der Kritik darin bestehe, unseren Blick zu schärfen und die Urteilskraft zu kultivieren, findet sich mutatis mutandis auch bei modernen Literaturkritikern. In der 1963 publizierten redaktionellen Einleitung des Times Literary Supplement schrieben die Herausgeber: Alles was der Literaturkritiker vermag, ist die Stärkung des Urteilsvermögens, selbst in einer Zeit wie der gegenwärtigen, wo der Unterschied zwischen dem Besten und Nächstbesten nicht sehr bestimmt und kaum erwähnenswert ist. Der Kritiker in der zeitgenössischen Welt braucht Geduld, Aufrichtigkeit, Flexibilität und Geistesgegenwart.30

Das aporetische Verhältnis zwischen dem hermeneutischen Urteil über das Interpretandum und der hermeneutischen Wissenschaft, die das Verstehen generell thematisieren soll, beschreibt Schlegel in seiner Rezension der vier ersten Bände von Niethammers Philosophischem Journal. Mit der provozierenden Frage: „Wie sollte es ein Wissenschaftsurteil geben, wo es noch keine Wissenschaft gibt?“,31 versucht er eine hermeneutische Notwendigkeit zum Ausdruck zu bringen, dass nämlich die Erforschung und Auswertung der philosophischen und kulturellen Überlieferung Kompetenz und kultivierte Urteilskraft des Interpreten sowie gewisse interpretatorische Grundlinien voraussetzt. Dazu wird auch das Bedürfnis nach Herausbildung einer universellen Kunst des Verstehens zur Sprache gebracht. Man muss nach Schlegels Ansicht im Bereich der hermeneutisch-kritischen Praxis Erfahrungen sammeln, bevor man sein eigenes Kunsturteil fällt. Jedes Kunsturteil ist ein Beitrag zur Erweiterung und Vertiefung der menschlichen Bildung. Durch die Bildung, heißt es in den Ideen-Fragmenten, „wird der Mensch, der es ganz ist, überall menschlich und von Menschheit durchdrungen“.32 Die Bildung erweist sich als das Verbleibende und Zuverlässige, worauf man sich stützen kann. Sie ist das Einzige, „was gegen Schwärmerei sichert“33. Wenn sich Antinomien „zwischen mehren Theilen d[er] menschl.[ichen] Bildung“ ergeben, wird unter ihnen nicht notgedrungen eine harmonische Versöhnung angestrebt, sondern es wird vielmehr darin die bereichernde Möglichkeit zu einer dialogi-

30 The Critical Moment. Eine Sondernummer des Times Literary Supplement. Übersetzt von Lothar Fietz. Von Oxford bis Harvard. Methoden und Ergebnisse angelsächsischer Literaturkritik. Pfullingen 1964, S. 17. 31 KFSA, Bd. 8, S. 30. 32 KFSA, Bd. 2, S. 262, Nr. 65. Vgl. auch ebd., S. 266, Nr. 98: „Denke Dir ein Endliches ins Unendliche gebildet, so denkst du einen Menschen“. 33 KFSA, Bd. 18, S. 518, Nr. 13.  





















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schen „Wechselbestimmung“ gesehen.34 Schlegels Diktum aus dem Nachlass, „κρ [Kritik] ist das allgemeine Bildungsmittel“,35 wird im Gespräch über die Poesie ausführlicher entfaltet und ausgearbeitet. Allein die „hohe Wissenschaft echter Kritik“ vermag einen bildungsinteressierten Menschen zu lehren, wie er sich selbst bilden muß in sich selbst, und vor allem soll sie ihn lehren, auch jede andre selbständige Gestalt der Poesie in ihrer klassischen Kraft und Fülle zu fassen, daß die Blüte und der Kern fremder Geister Nahrung und Same werde für seine eigne Fantasie.36

Klassische Werke studiert man einerseits um der Vertiefung und Vervollkommnung der eigenen Bildung willen, andererseits bieten sie dem Interpreten Inspiration für die eigene künstlerische Tätigkeit und Kreativität. Der geläufig erhobene Vorwurf, dass die traditionelle Hermeneutik in ihrer neuzeitlichen Entwicklung „dem Siegeszug der Aufklärung gefolgt“ sei und sich am Wahrheitsanspruch bzw. am Ideal der Interpretation orientiert habe,37 dürfte vom philosophisch-kritischen Standpunkt als verfehlte Ansicht des herrschenden postmodernen Zeitgeistes abgelehnt werden. Solange keine Differenz mehr zwischen dem Missverstehen und dem zureichenden Verstehen eines Textes bzw. eines Kunstwerkes besteht und ipso facto die unterschiedlichsten Interpretationen als äquivalent anerkannt werden, ist auch die normative und veritative ‚Disziplinierung‘ der Interpretation in den Geisteswissenschaften immer wieder erforderlich. Vom hermeneutischen Standpunkt aus betrachtet, ist eine Interpretation nur legitim, wenn sie kohärent ist und den impliziten Sinnzusammenhang des Textes optimal zu erfassen trachtet. Die primäre Aufgabe der hermeneutischen Auslegung bleibt folglich die verantwortliche Bemühung, das vom Verfasser Intendierte, soweit es im Text artikuliert worden ist, approximativ zu erschließen. Dieses Anliegen setzt eine Korrespondenztheorie der Wahrheit voraus. Die Frage nach der Norm der Auslegung im Sinne eines Ideals bzw. des Prinzips der ‚hermeneutischen Billigkeit‘, dem Auslegungen sich mehr oder weniger anzunähern haben, lässt sich aus der hermeneutischen Diskussion, aus der Frage nach dem Verstehen und Bewerten von Texten und Kunstwerken, nicht mehr ausklammern. Die Komplexität der klassischen Werke bleibt immer wieder Anlass für die berechtigte Frage, ob und inwieweit man für eine Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten offen bleiben soll so, wie Friedrich Schlegel in seinem epochalen

34 Vgl. KFSA, Bd. 18, S. 301, Nr. 1286. 35 Ebd., S. 374, Nr. 646. 36 KFSA, Bd. 2, S. 284. 37 Gianni Vattimo: Jenseits der Interpretation. Die Bedeutung der Hermeneutik für die Philosophie. Frankfurt a. M. 1997, S. 69.  

















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Aufsatz Über Goethes Meister die Pluralität der Interpretationsmöglichkeiten im Blick hatte, „weil jedes vortreffliche Werk, von welcher Art es auch sei, mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß“.38 In einer nachgelassenen Notiz aus der Zeit der Verfassung des Meister-Aufsatzes unterscheidet Schlegel zwischen der Intention des Autors und der des Werks: „Die Frage was der Verfasser will, läßt sich beendigen, die, was das Werk sei, nicht“.39 Dabei darf man nicht außer Acht lassen, dass nach Schlegels Vorstellung alle angebotenen Interpretationen kritisch geprüft, gründlich untersucht und im Sinne einer normbildenden Interpretation korrekt bewertet werden müssen, damit nicht unser „Auslegen ein Einlegen des Erwünschten, oder des Zweckmäßigen“ wird.40 Bei mehreren alternativen Deutungen muss der Interpret letztendlich beurteilen, welche vom hermeneutischen Standpunkt der Sinnerschließung plausibel und optimal ist. Angesichts der Komplexität der klassischen Texte und Kunstwerke bleibt es immer eine hermeneutische Herausforderung, den Wahrheitsgehalt dieser Schöpfungen des menschlichen Geistes zu erfragen und zu beurteilen.41 Eine solche am Wahrheitsanspruch des Werkes orientierte Hermeneutik bleibt auch nach Veröffentlichung so manchen als opus summum bezeichneten hermeneutischen Werkes aus dem letzten Jahrzehnt ein Desiderat der Forschung.42 Eine gelungene Kunst des herme-

38 KFSA, Bd. 2, S. 140. 39 KFSA, Bd. 18, S. 318, Nr. 1515. 40 KFSA, Bd. 2, S. 169. 41 Dieses Interpretationsprinzip hat vornehmlich Wolfgang Wieland in seinen Studien zu den Klassikern der Philosophie mit Erfolg angewendet: vgl. Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. 2. Aufl. Göttingen 1999, S. 332: „Wer den Wahrheitsanspruch eines Autors ernst nimmt, arbeitet lediglich mit der Hypothese, daß das, was der Text zu sagen hat, möglicherweise wahr ist, mithin den von ihm intendierten Sachverhalt zu treffen fähig ist.“ 42 Vgl. dazu die Rezension vom Verf.: Günter Figal: Gegenständlichkeit. Das Hermeneutische und die Philosophie. Tübingen 2006. In: Theologische Literaturzeitung 135 (2010) S. 72–74. Nach Figals Ansicht sind die vortrefflichen Werke „Gegenstände“ par excellence, die immer wieder neue Anstöße zur unerschöpflichen interpretativen Tätigkeit bieten. In Anschluss an Platons Philebos (16 c) wird der Text als etwas Ganzes, Geordnetes aufgefasst, das wiederum in keiner Darstellung als solcher aufgeht, sondern sich gleichzeitig entzieht: Jeder Text stelle ein dialektisches Verhältnis zwischen paras und apeiron dar; er ist einerseits geordnet, strukturiert, in seiner Grenze festgelegt, und anderseits unabgeschlossen und zugleich unbegrenzt. Der nach der makellosen Interpretation suchende Leser bleibt enttäuscht, dass Figal einerseits den Begriff „Text“ gemäß der ursprünglichen Bedeutung des Wortes logos als „textus, Gewebe, Geflecht“, „Ordnung der Rede“ deutet (68), andererseits aber bei der Darlegung seiner Konzeption der Interpretation als einer zu erfüllenden „Texterwartung“ auf das unabdingbare Kohärenzkriterium völlig verzichtet. Dagegen besteht ein starkes Interesse am perspektivischen Charakter des Interpretierens, der für die Explikation der „Gegenständlichkeit“ durchaus Grundvoraussetzung bleibt, was Figals hermeneutisches Werk in die Nähe der postmodernistischen Vernebelung rückt.  



















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neuein erfordert eine holistisch-kohärente Wissens- und Verstehensprüfung im Zeichen der Korrespondenztheorie der Wahrheit. Ein Beispiel gelungener, progressiv gefasster, approximativer Hermeneutik bietet Friedrich Schlegel im klassischen 116. Athenaeums-Fragment, in welchem er die wichtigsten Merkmale romantischer Weltanschauung zusammengefasst hat: „Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie“. Progressivität impliziert einen Fortschritt, der niemals vollendet oder abgeschlossen ist, sondern stets durch Kritik bedächtig und behutsam geprüft, bewertet und revidiert bzw. fortwährend für neue Formen und Inhalte offengehalten werden muss. Diese progressive Universalität des Verstehens, die Schlegel vertreten hat, sieht die vornehmste Aufgabe der Humaniora in der Ästhetisierung unserer Lebenswelt. Die Quintessenz der progressiven „Universalpoesie“ besteht darin, dass sie „nur werden, nie vollendet sein kann. Sie kann durch keine Theorie erschöpft werden, und nur eine divinatorische Kritik dürfte es wagen, ihr Ideal charakterisieren zu wollen.“43 Im Hinblick auf die Interpretation und die kritische Bewertung der traditionellen Werke bzw. Philosopheme kann Schlegel auf die Idee des Fortschrittes nicht verzichten. In dem 1797 im Lyceum veröffentlichten Lessing-Aufsatz schreibt er: So lange wir noch an Bildung wachsen, besteht ja ein Teil, und gewiß nicht der unwesentlichste, unsers Fortschreitens eben darin, daß wir immer wieder zu den alten Gegenständen, die es wert sind, zurückkehren, und alles Neue, was wir mehr sind oder mehr wissen, auf sie anwenden, die vorigen Gesichtspunkte und Resultate berichtigen, und uns neue Aussichten eröffnen.44

Damit erfüllen die Geisteswissenschaften ihre Verpflichtung, als verantwortliche Kritik gegenüber dem tradierten Gedankengut aufzutreten, das immer neue Impulse und Anregungen zum originellen Denken bieten kann: Der gewöhnlichen Behauptung: es sei schon alles gesagt; die so scheinbar ist, daß sie von sich selbst gilt […] muß man daher in Rücksicht auf Gegenstände dieser Art vorzüglich, ja vielleicht in Rücksicht auf alle, von denen immer die Rede sein wird, die gerade widersprechende Behauptung entgegensetzen: Es sei eigentlich noch nichts gesagt; nämlich so, daß es nicht nötig wäre, mehr, und nicht möglich, etwas Besseres zu sagen.45

In seiner Rezension von Adam Müllers Vorlesungen über die deutsche Wissenschaft und Literatur (1808) schreibt Schlegel, dass sich sein Konzept der phi-

43 KFSA, Bd. 2, S. 183. 44 KFSA, Bd. 2, S. 100 f. 45 Ebd., S. 101.  











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losophischen Kritik qua „verbindende[s] Mittelglied zwischen dem Leben und der literärischen Welt“ durchgesetzt habe: Denn eben weil die Kritik kein geschlossener Lehrbegriff, sondern von unbestimmter und ganz freier Art ist, versteht sich von selbst, daß nicht Einer allein sie ganz umfassen, oder einen unabänderlichen Kanon derselben aufstellen kann; sondern daß sie von mehreren auf verschiedene Weise geübt, und nach allen Seiten hin ausgebildet werden muß.46

Ernst Gombrichs Metapher vom ‚unschuldigen Auge‘ findet sich in gewisser Weise bereits bei Schlegel. In den nachgelassenen Notizen Zur Philologie I schreibt er: „Der poetische Kritiker muß gleichfalls Philolog seyn. Schärfung des Sinnes und Auges“.47 Das unschuldige Auge soll die Interpretation des Kunstwerkes von konventionellen Schemata befreien bzw. die bestehenden Denk- und Empfindungsvoraussetzungen kritisch prüfen und in Frage stellen. Das ‚unschuldige Auge‘ soll die Rolle der wissenschaftlichen Ratio übernehmen, indem es vorliegende Interpretationen und Lösungsvorschläge ständig überprüft, korrigiert und neue Deutungshypothesen erprobt. Gombrich hat diesen heuristischen Prozess mit dem Öffnen eines komplizierten Schlosses verglichen, zu dem es keinen Schlüssel gibt. In Kunst und Illusion schreibt er über das heuristische Suchen nach dem adäquaten Schlüssel des Verstehens: „Und was man ein Bilde ‚lesen‘ nennt, könnte man vielleicht besser definieren als eine Prüfung der in ihm enthaltenen Möglichkeiten – ein Suchen nach etwas, was ‚paßt‘, wie ein Schlüssel in ein Schloß“.48 Das heuristische Sondieren der Deutungsmöglichkeiten verfährt nach den Kriterien der Widerspruchsfreiheit und holistischen Kohärenz, wobei mit neuen Problemen und Hypothesen grundsätzlich gerechnet wird. Die vorübergehend gültigen Lösungen müssen hinsichtlich der Norm der Interpretation, nämlich der Intention des Verfassers, immer wieder überprüft und korrigiert werden. Ein solches Konzept verantwortlicher Interpretation ist seit Begründung der Hermeneutik durch Matthias Flacius Illyricus in seinem Clavis Scripturae Sacrae49 vertreten worden. Das erste, worauf es Flacius in der Auslegung einer Schrift ankommt, ist die Erfassung ihres Skopus, d. h. ihrer Absicht und Tendenz. Skopus ist der eigentliche „clavis“, der Schlüssel des Verstehens. Er wird mit einem Ariadnefaden verglichen, der dem Interpreten dabei hilft, sich im Labyrinth des  



46 KFSA, Bd. 3, S. 148 f. 47 KFSA, Bd. 16, S. 45. Nr. 126. 48 Vgl. Ernst Gombrich: Kunst und Illusion. Zur Psychologie der bildlichen Darstellung. Berlin 2004, S. 190. 49 Matthias Flacius Illyricus: Clavis Scripturae Sacrae seu de Sermone Sacrarum literarum. Basel 1567.    











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Interpretandums zurechtzufinden, denn alle längeren Schriften, sogar wenn sie als kompakte Einheit in durchsichtiger Sprache verfasst sind, erschweren dem Leser das Verständnis.50 Der Interpret soll sich dabei nach dem heuristischen Prinzip richten, dass das Interpretandum, also das jeweils zu Deutende, sinngemäß aus seinem Kontext, d. h. seinem Explanans, aufzuschließen ist. Im Laufe der Explanation wird dann deutlich, wie sich einerseits die einzelnen Glieder (membra) des Textes in eine sinnvolle Einheit bzw. innere Ordnung (dispositio) einrücken lassen und wie andererseits der Kontext den Sinn einzelner Textstellen und Wortbedeutungen bestimmt und plausibel macht. Dieser explanatorische Grundsatz, wonach die Bedeutung der einzelnen Stellen „aus der Absicht und Komposition des ganzen Werkes“ ermittelt werden bzw. der Sinngehalt des ganzen Werkes in der „Kongruenz der einzelnen Teile“ liegt, macht den Kern der Hermeneutik als Methode der Textauslegung aus. Dieses Interpretationsverfahren ist in beachtenswerten Werken, namentlich von Eric D. Hirsch, Wolfgang Wieland, Hans Ineichen, Nicolas Rescher, eingehend dargestellt und bedachtsam ausgeführt worden: Verständnis- und Auslegungsvorschläge von Texten sollten als „Hypothesenbildung“ aufgefasst und hinsichtlich ihrer Plausibilität behutsam geprüft werden.51 Die Aufgabe der Textauslegung bestehe darin, „die wahrscheinlichste Auslegungshypothese zu ermitteln“, mit dem Text selbst in Einklang zu bringen und ihre Plausibilität mittels eines zirkelhaften Verfahrens der Komplementarität von Verständnis der einzelnen Textelemente und des ganzen Textes zu prüfen. Dabei erweist sich der vom Verfasser gemeinte Sinn eines Textes als „Norm der Auslegung“ resp. als „Ideal […] dem sich Auslegungen mehr oder weniger annähern.“52 Die beanspruchte Approximativität erfordert eine zu wiederholende, kritische Analyse, ob und inwieweit die Befunde der Interpretation vom Interpretandum abweichen. Die Metapher des Schlüssels ist inzwischen in der hermeneutischen Literatur ein Topos geworden. Emilio Betti meint, dass man bei der Interpretation der Kunstwerke nach dem „richtigen Schlüssel“ suchen soll,  

welcher dem Text und Sinn der dramatischen Dichtung bzw. des musikalischen Kunstwerks entspricht. Die wirklich begabten Orchesterdirigenten und Theaterregisseure erkennt man

50 Matthias Flacius Illyricus: De ratione cognoscendi sacras literas. Über den Erkenntnisgrund der Heiligen Schrift. Übersetzt, eingeleitet u. mit Anm. versehen von Lutz Geldsetzer. Düsseldorf 1968, S. 40 f. 51 Eric D. Hirsch: Prinzipien der Interpretation. Übersetzt von Adelaide Anne Spät. München 1972; Hans Ineichen: Philosophische Hermeneutik. Freiburg im Breisgau 1991; Nicholas Rescher: Objectivity. The Obligations of Impersonal Reason. Notre Dame 1997; Wolfgang Wieland: Platon und die Formen des Wissens. 2. Aufl. Göttingen 1999, S. 332 ff. 52 Ineichen: Philosophische Hermeneutik (Anm. 51), S. 66 ff.  















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denn auch an der ihnen eigenen Fähigkeit, ein Bild zu verwirklichen, das – nach dem gefundenen Schlüssel – dem Sinn des Werkes des Komponisten bzw. des Dramatikers gleichsam als Ebenbild entspricht.53  



Ludwig Wittgenstein weist der Autor-Vorrede die Funktion eines Schlüssels zur Erschließung des Textes zu.54 Odo Marquard vertritt die Ansicht, dass sich die Hermeneutik als Antwort auf die Frage nach der Frage, worauf der Text eine Antwort ist, grundsätzlich von der „code-knackenden Wissenschaft“ unterscheiden solle, weil sie immer auf „Verständnisreichtum vorgegebener Verständnisse“ rekurrieren kann, während die code-knackende Wissenschaft bei der Entschlüsselung verschlüsselter Sprachen in der Regel beim Nullpunkt beginnt.55

53 Emilio Betti: Zur Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, Tübingen 1988, S. 63. 54 Vgl. Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen. Eine Auswahl aus dem Nachlaß. Hrsg. v. Georg Henrik von Wright. Frankfurt a. M. 1977, S. 23. 55 Odo Marquard: Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik die Antwort ist. In: Ders.: Zukunft braucht Herkunft. Philosophische Essays. Stuttgart 2003, S. 72–101, hier 90 ff.  









Literaturen

Günter Oesterle

Eigenarten romantischer Geselligkeit I Die Vorgabe: Geselligkeit der Aufklärung aus sozial-ethisch-ästhetischer Perspektive Es dürfte nicht schwerfallen, zum Thema Geselligkeit im 18. und 19. Jahrhundert eine ansehnliche Bibliothek zusammenzustellen. In dieser imaginierten Bibliothek würden die primären und sekundären Schriften zur romantischen Geselligkeit allenfalls einige Regale füllen. Die Vorstellung freier, autonomer Geselligkeit, wie sie Friedrich Schleiermacher in seinem inzwischen als „Grunddokument der frühromantischen Geselligkeitskonzeption“ benannten Versuch einer Theorie des geselligen Betragens entwickelte,1 war derart exklusiv, dass es nicht ohne Weiteres anschlussfähig an das die gesellige Kultur des 19. Jahrhunderts prägende Vereinswesen schien. Da lag es näher, in der Forschung eine Kontinuität von den Lesegesellschaften der Aufklärung zum Vereinswesen des 19. Jahrhunderts herzustellen.2 Auch war die zu Beginn des 18. Jahrhunderts einsetzende Verschiebung von einer Staats- zur Privatklugheit und die daraus folgende (Er‑)Findung eines kommunikativen und sozial-ethischen ‚Stils des Miteinander‘ derart faszinierend, dass sich die Forschung zur Geselligkeit verständlicherweise der Aufklärung und den damit aufgeworfenen naturrechtlichen, ethischen, anthropologischen, ästhetischen, verhaltens- und kulturtheoretischen Implikationen zuwandte. Das „Gesellige“ avancierte zum Schlüsselbegriff des 18. Jahrhunderts. Seine „nicht am hierarchisch strukturierten“ „‚Haus‘ oder Staat“ orientierte Lebensweise, die – für die damalige Zeit ungewöhnlich – „nicht auf Verhältnissen der Abhängigkeit“ beruhte,3 eröff 













1 Helmut J. Schneider: Die unsichtbare Kirche der Schriftsteller: Geselligkeit und Bildung zwischen Aufklärung und Frühromantik (Lessing, Friedrich Schlegel, Herder). In: Anja Ernst u. Paul Geyer (Hrsg.): Die Romantik: ein Gründungsmythos der europäischen Moderne. Göttingen 2010, S. 145–168, hier S. 147. 2 Vgl. Otto Dann (Hrsg.): Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Deutschland. München 1984; Thomas Nipperdey: Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung. In: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte. Göttingen 1976, S. 176–205; Etienne François (Hrsg.): Geselligkeit, Vereinswesen und bürgerliche Gesellschaft in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, 1750–1850. Paris 1986; Lothar Gall: Adel, Verein und städtisches Bürgertum. In: Elisabeth Fehrenbach (Hrsg.): Adel und Bürgertum in Deutschland 1770–1848. München 1994, S. 29–43. 3 Wolfram Mauser: Geselligkeit. Zu Chance und Scheitern einer sozialethischen Utopie um 1750. In: Karl Eibl (Hrsg.): Entwicklungsschwellen im 18. Jahrhundert. Hamburg 1990, S. 5–36, hier S. 8.  















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nete einen Projektionsraum für Theorien, utopische Projekte und kulturpraktische Versuche. Verschiedene Ansätze zu einer theoretischen Fundierung der Geselligkeit als appetitus societatis oder als imbecillitas, d.i. Kompensation für eine angeborene menschliche Schwäche oder einfach als „Seinsweise der Vernunftnatur“,4 wurden begleitet von praxeologischen Erprobungen. Von den „moralischen Wochenschriften“ bis zur „Popularphilosophie“ und den Benehmensbüchern der Zeit stand „Geselligkeit“ für die Ausrichtung einer „Lebensführung“, die, wenn auch in noch so beengtem oder marginalisiertem Assoziationsrahmen, die praktische Erprobung einer Balance von Selbstbehauptung und Empathie versprach. Anstelle der höfischen Verstellungskunst schuf das sich etablierende Geselligkeitskonzept der Aufklärung „Vertrauen“ und „Zuverlässigkeit im Sozialen“.5 Das Postulat, das eine der moralischen Wochenschriften mit dem Titel Der Gesellige aufstellte: „Wir wollen eine wahre Republik in dem geselligen Leben errichten“,6 bündelte ein sozialethisches, utopisches Versprechen, indem „Gleichheit statt Rangabstufung, Freiwilligkeit statt Anordnung, Verdienstbewußtsein statt Gratifikation, Vernünftigkeit statt Willkür, Vertrauen statt Angst, Empathie statt Affekt“7 herrschen sollte. Geselligkeit als Etablierung eines neuen Lebensstils, in dem an die Stelle der Standardisierung und Reglementierung des Verhaltens eine selbstbestimmtere, freiere Form der Gemeinsinnspflege trat, konnte nicht ohne Folgen für andere Bereiche sein. Die „neuen Modi der Selbstformung“8 transformierten den Wissenserwerb, indem dieser an die Art und Form der Mitteilung gebunden wurde, und medialisierten und ästhetisierten auf diese Weise die Formen des kommunikativen Miteinanders. Der ‚neue Lebensstil‘ half mit, einen neuen Form- und Schreibstil zu schaffen. Er erweiterte sich zu einem Weltverhalten, das sich mit dem neuartigen Phänomen des Geschmacks zu verbinden wusste. Es konnte nicht ausbleiben, dass dieser aus der Verbindung von Geschmack und Gelehrsamkeit resultierende Lebensstil der Geselligkeit auch politisch-soziale Hoffnungen beförderte: das Versprechen eines „Elitekompromisses“ zwischen den beiden Führungsgruppen Adel und Bürgertum.9 Nachdem der Popularphilosoph Christian Garve das Bündnis von Gelehrsamkeit und Geschmack als „unfehlbar[en]“ Weg des „Menschen zur Gesellig-

4 Wolfgang Adam: Freundschaft und Geselligkeit im 18. Jahrhundert. In: Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Porträt des 18. Jahrhunderts. Leipzig 2000, S. 9–34, hier S. 22. 5 Mauser: Geselligkeit (Anm. 3), S. 18. 6 Ebd., S. 26. 7 Ebd., S. 25. 8 Markus Fauser: Geselligkeit, Bibliothek, Lesekultur – Konzepte und Perspektiven der Forschung. In: Wolfgang Adam u. Markus Fauser (Hrsg.): Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert. Göttingen 2005, S. 13–26, hier S. 21. 9 Vgl. Gall: Adel (Anm. 2).  







   













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keit“10 ausgewiesen hatte, beendete er seine Abhandlung mit zwei Hoffnungen, erstens, dass „der wahrhaft große Mann“ die unterschiedlichen Sozialisationslebensstile – sei es das „bürgerliche Air“ oder die „Hofsitte“, sei es den militärischen oder den Kaufmannsgeist – „abzustreifen in der Lage sei“ und auf diese Weise zu den „Vollkommenheiten des Menschen und […] den Verdiensten eines Weltbürgers“11 vorstoßen könne. Was vorerst nur bei einzelnen Individuen denkbar und möglich sei, werde in einer zukünftigen glückliche(re)n Epoche „der Geist der Zeit bei den ganzen Ständen bewirken“12.  



II Romantische Geselligkeitsspezialitäten Nach dieser komplexen, theoretisch vielfach fundierten, zugleich programmatisch vorgetragenen Geselligkeitskonzeption der Aufklärung dürfte es nicht leicht gewesen sein, eine eigenständige Komponente romantischer Geselligkeit zu entwickeln. Ein Großteil der Forschung stellt die romantische Geselligkeit in eine Kontinuität zur Aufklärung.13 Sie gesteht allenfalls zu, dass die Romantiker die „gesellige Ausbildung“ „aus den Eingrenzungen einer zunehmend in ihren eigenen Konventionen erstarkenden Populäraufklärung herauslöst“.14 In der Tat stehen Friedrich Schlegel und Friedrich Schleiermacher mit ihren Forderungen nach einer urbanen Mitteilungsfähigkeit, einem eleganten, ungezwungenen Stil in der Tradition der Aufklärung. So heißt es z. B. in Schlegels Studium-Aufsatz: „Nur durch Geselligkeit wird die rohe Eigentümlichkeit gereinigt und gemildert, erwärmt und erheitert […] die äußere Gestalt berichtigt und bestimmt, gerundet und geschärft“.15 Auch ist die von Andreas Arndt vorgenommene historisierende Klärung der Begriffe ‚Gesellschaft‘ und ‚Gemeinschaft‘ beim frühen Schleiermacher in  

10 Christian Garve: Über die Maxime Rochefoucaults: das bürgerliche Air verliehrt sich zuweilen bei der Armee, niemals am Hofe. In: Ders.: Popularphilosophische Schriften. Hrsg. v. Kurt Wölfel. Stuttgart 1974, S. 295–452, hier S. 447 [711]. 11 Ebd. S. 451 f. 12 Ebd. S. 450 [714]. 13 Gerhard Kurz: Empfindsame Geselligkeit. Die Bedeutung von „Freundschaft“ und „Liebe“ in Jacobis Werk. In: Herbert Anton (Hrsg.): Düsseldorf in der deutschen Geistesgeschichte. Düsseldorf 1984, S. 109–118. 14 Harro Segeberg: Phasen der Romantik. In: Helmut Schanze (Hrsg.): Romantik-Handbuch. 2. Aufl. Tübingen 2003, S. 31–78, hier S. 41. 15 Friedrich Schlegel: Über das Studium der griechischen Poesie. In: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe [=KFSA], Abt. I, Bd. 1. Studien des klassischen Altertums. Hrsg. v. Ernst Behler. Paderborn 1979, S. 216–367, hier S. 361.  























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Differenz zur heutzutage gängigen, durch Ferdinand Tönnies geprägten Vorstellung von größter Bedeutung: Für Tönnies, Litt und andere bezeichnet die ‚Gemeinschaft‘ eine fundamentale, der sozialen und politischen Vergesellschaftung vorausliegende Sphäre naturwüchsiger, organizistisch verstandener Gemeinsamkeit. Für Schleiermacher dagegen ist die unmittelbare Wechselwirkung der freien Geselligkeit nicht der Bodensatz der Vergesellschaftung, sondern das Produkt geschichtlicher Entwicklung von Humanität. In diesem Sinne steht der Versuch einer Theorie des geselligen Betragens – wie die Frühromantik insgesamt – in der Kontinuität aufklärerischen Denkens.16  



So klar sich diese Kontinuitätslinie von der Aufklärung zur Romantik auszeichnen lässt, so deutlich sind die Diskontinuitäten zu erkennen. Schon der Titelwechsel von Schleiermachers Versuch von der „guten Lebensführung“ zum „geselligen Betragen“ betont den Abstand zu den Benehmenslehren der Aufklärung.17 Schleiermachers Versuch ist denn auch als eine Kritik an zwei repräsentativ zu nennenden Geselligkeitskonzepten der Aufklärung, an Kant und Knigge, zu verstehen. Schleiermacher schreibt für das von den beiden Schlegels herausgegebene Organ Athenäum eine kritische Rezension von Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798). Eine Notiz aus den Vorarbeiten dazu verdeutlicht seinen zentralen Einwand, dass Kant Geselligkeit nur unter dem Zeichen von Höflichkeit und Vermeidung direkter Kritik, als „erlaubten moralischen Schein“ durchgehen lasse, statt umgekehrt die „gute Lebensart“ als einen Widerstreit des Wesens mit dem Schein zu fassen.18 Die Notiz lautet: Kant sehe „in den geselligen Vollkommenheiten nur schlechten Schein und schätzt sie nur als solchen“.19 Dieser Kritik an der Rücknahme von wahrer Kritik im Namen der Schicklichkeit korrespondiert eine andere kritisch-polemische Notiz, die sich auf die Aussparungstechniken von nicht konsensfähigen Themen durch Benehmenslehren der Aufklärung wie z. B. die von Knigge bezieht. Die Notiz lautet: „Knigge behandelt die absoluten Widersprüche wie einen Handel, wo jeder etwas abläßt“.20 Beide Einwände  

16 Andreas Arndt: Geselligkeit und Gesellschaft. Die Geburt der Dialektik aus dem Geist der Konversation in Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“. In: Hartwig Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons. Berlin, New York 1997, S. 45–61, hier S. 54. 17 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens. In: Ders.: Kritische Gesamtausgabe [=KGA]. I. Abt., Bd. 2. Schriften aus der Berliner Zeit 1796–1799. Hrsg. v. Günter Meckenstrock. Berlin 1984, S. L, S. 165–184. 18 Ders.: Vermischte Gedanken und Einfälle (Gedanken I). In: KGA I, 2, S. 1–49, hier S. 26, Nr. 92. 19 KGA I, 2, S. 39, Nr. 172. 20 KGA I, 2, S. 27, Nr. 96.  





















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Schleiermachers geben einen Hinweis auf die Besonderheit romantischer Geselligkeit. Vorab sei als Hypothese formuliert: Das romantische Geselligkeitsprojekt zeichnet sich dadurch aus, dass es die Grenzen der Geselligkeitskonzeption der Aufklärung reflektiert und die romantische Grenzerweiterung theoretisch und praktisch erprobt. Die romantischen Grenzerweiterungsversuche lassen sich an drei für das Geselligkeitsmodell der Aufklärung konstitutiven Aspekten erläutern und spezifizieren: a. die Grenzen der Schicklichkeit; b. die Grenzen konversationeller Aussparung und c. die Grenze des konversationellen Gebots, nicht „weitschweifig“ zu reden.

1 Die Grenzen der Schicklichkeit Die Forschung hatte es nicht schwer, nachzuweisen, dass das zitierte egalitärrepublikanische Geselligkeitsprogramm der moralischen Wochenschriften nur im Rahmen einer Anerkennung der Unantastbarkeit der Ständehierarchie formulierbar war.21 Die sozial-ethisch eingeforderte Freundlichkeit, Munterkeit und gute Aufführung22 verlangte eine Abwehr von Streit,23 von „Harlekinspossen“ sowie eine Vermeidung von sprachlicher Direktheit, die als pöbelhaft und frech24 eingestuft wurde. Konsequenterweise wurden von der Salonnière Sozialtechniken der Ab- und Umlenkung entwickelt, deren Ziel es war, nach diesem gefälligen Muster der Vermeidung von Querelen ein Gespräch im Gange zu halten.25 Die Romantiker verstießen in Auftritt, Habitus und Redeweise gegen dieses Verbot der Schicklichkeit. Einige Beispiele: Von Schleiermacher wird berichtet, er sei „ungemäßigt und scharf in seinen Worten“26 gewesen; der

21 Wolfgang Martens: Geselligkeit im „Geselligen“ (1748–50). In: Ortrud Gutjahr, Wilhelm Kühlmann u. Wolf Wucherpfennig (Hrsg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Würzburg 1993, S. 173–185, hier S. 181. 22 Ebd., S. 173. 23 Vgl. Rolf Lessenich: Kulturelle Veränderungen und unvermeidbare Verletzungen der Grenzen des tolerablen Streits zwischen Klassizismus und Romantik 1660–1830. In: Uwe Baumann, Arnold Becker u. Astrid Steiner-Weber (Hrsg.): Streitkultur. Okzidentale Traditionen des Streitens in Literatur, Geschichte und Kunst. Göttingen 2008, S. 317–326. 24 Martens: Geselligkeit (Anm. 21), S. 177. 25 Vgl. Anke Detken: Mme de Staël und Zacharias Werner: Formen der Geselligkeit in Cappet und Berlin und ihr Einfluß auf den Stellenwert eines deutschen Schriftstellers in Deutschland und Frankreich. In: Roberto Simonowski, Horst Falk u. Thomas Schmidt (Hrsg.): Europa – ein Salon? Göttingen 1999, S. 232–250, hier S. 242. 26 Hermann Patsch: Der Popo der Mereau. Ein unbekanntes Gedicht Friedrich Schlegels. In: Athenäum (2009), S. 155–165, hier S. 156.  





















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beamtete Jurist E. T. A. Hoffmann wird wegen deftiger Karikaturen strafversetzt; in Berlin machen die skandalträchtigen Konflikte mit den Spätaufklärern im Salon des Verlegers Sanders von sich reden. Die Romantiker setzen an die Stelle von Höflichkeit den provozierenden Denkanstoß. Sie rehabilitierten den Streit.27 Die bisherige Ausrichtung auf Konsens wird ersetzt durch pointierte Exklusivität. Caroline Böhmer-Schlegel betont: „wir sind stolze Bettler“, und folgert daraus: „eine Bande zusammen machen, einen geheimen Orden, der die Ordnung der Dinge umkehrt“.28 Die frechen und provozierenden Vorgehens- und Verfahrensweisen rechtfertigen die Romantiker durch den Zwang zur Notwehr gegen die von ihnen als „Inhumanität“29 begriffenen, verordneten „größere[n] Teegesellschaften“, „kalten Abendmahlzeiten“, die – so Tieck in der Einleitung zum Phantasus – den „Tod aller Geselligkeit und Gastfreiheit“ bedeute.30 Der vom Popularphilosophen Garve geforderte urbane „Freimut“ wird von den Romantikern gezielt gesteigert. So schreibt Novalis an Friedrich Schlegel am 1. August 1794: „Zum Starstechen ist die Zeit noch nicht. Aber immer ein Zirkel – zum Freidenken gehört Freiheit, zur Freiheit gehört Freidenken – zum Zerhauen ist der Knoten – langsames Nisteln hilft nichts.“31 Hinter diesen starken Worten „zum Freidenken“ verbirgt sich eine spezifisch romantische Geselligkeitsanforderung, nämlich die, individuelle Originalität und Manier zu steigern und nicht, wie in aufklärerischen Vorgaben guten Benehmens, zu zügeln und zu dämpfen. Daraus ergibt sich eine Lizenz für die „freye[] Verschiedenheit der Meinungen“.32 An die Stelle eines auf umfassendes Verstehen gegründeten empfindsamen Freundschaftsmodells tritt eine romantische, „differentiell gefaßte Identitätsvorstellung“,33 die „diametral entgegengesetzt[e]“ Überzeugungen34 zulässt sowie das unverstehbare Geheimnis des Anderen respektiert. Es ist nicht zu übersehen, dass mit der Exklusivität dieses romantischen Geselligkeitskonzepts  

















27 Detken: Mme de Staël (Anm. 25), S. 245. 28 Zit. n. Inge Hoffmann-Axthelm: Geisterfamilie. Studien zur Geselligkeit der Frühromantik. Frankfurt a. M. 1973, S. 104, Anm. 52. 29 Vgl. Schleiermacher: Versuch (Anm. 17), S. 184. 30 Ludwig Tieck: Einleitung. In: Ders.: Phantasus. Hrsg. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985, S. 64. 31 Max Preitz (Hrsg.): Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft in ihren Briefen. Darmstadt 1957, S. 53. 32 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher an August Wilhelm Schlegel, 15. Januar 1798. In: KGA V, 2, S. 249. 33 Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Bildung, Bürgertum und bildungsbürgerliche Kultur um 1800. Stuttgart 1979, S. 386. 34 Friedrich Schlegel an Novalis Ende Juli 1794. In: KFSA, III. Abteilung, Bd. 23, S. 204 f.  































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auch dessen Riskanz enorm wächst.35 Zugleich aber werden die Spielräume und artistischen Möglichkeiten extrem gesteigert: Geselligkeit tendiert auf diese Weise in der Romantik dazu, zu einem Kunstwerk gemacht zu werden.36 Ein derartiger, die Unergründlichkeit und den Kunstwerkcharakter romantischer Geselligkeit betonender Umriss eröffnet die Möglichkeit, die Funktionsstelle anzugeben, die die Romantik innerhalb der Berliner Salons um 1800 – vornehmlich im ersten Salon Rahel Varnhagens – einnimmt. Das ist ein Desiderat. Bislang kursieren vage Vorstellungen, in denen Klassisches und Romantisches kurzgeschlossen werden, etwa bei George L. Mosse: Jüdische intellektuelle Frauen „entwickelten in den Salons erstmals eine Wahrnehmung des neuhumanistischklassizistisch-frühromantischen Bildungsdenkens als Radikalisierung universalistischer Aufklärungsorientierung“.37 Eine hervorragend recherchierte Studie zu Rahels erstem Salon in Berlin kann diese Hyopthese korrigieren und präzisieren, indem sie neben der identifikatorischen Vorliebe für Schillers Ästhetische Erziehung ein berlinisches Salonmilieu ausmacht, das der frivolen Lebens- und Redensart des Ancien Régime weitgehend entspricht.38 Wo bleibt aber dann das romantische Element? Der Zufall hat uns ein geselliges Protokoll überliefert, das als Fingerzeig darauf dienen kann, welche Rolle romantische Unergründlichkeit und Tendenz als Bindeglied zwischen französischem „galanten Stil der bureaux d’esprit“39 und Schillers ästhetischer Erziehung spielen könnte. Jedenfalls ist es verblüffend, wie virtuos und treffsicher nicht-romantische Habitués wie Friedrich Gentz den romantischen Diskurs zitieren und auf die Salonnière Rahel Varnhagen anzuwenden wissen. Während der aufsehenerregenden Vorlesung, die August Wilhelm Schlegel in Berlin 1802/03 hält, schreibt oder kritzelt der Zuhörer Gentz auf die Mitschrift seiner Nebensitzerin Rahel folgendes Räsonnement über die romantische „Unergründlichkeit“ Rahels:  





R.: […] Sie haben wohl Humb. gesagt, ich wäre unschuldig? Gentz: So simpel fertigt man Sie nicht ab. […] Wir waren beide darüber einig, daß in Ihnen etwas unergründliches liegt. […] Aber es gibt in der Unergründlichkeit Potenzen. Die Ihrige ist eine so hohe, daß man seinen Gedanken hundertmal umkehren, das Gefundene immer wieder zum Reflexion-Mittel brau-

35 Vgl. Günter Oesterle u. Thorsten Valk (Hrsg.): Riskante Geselligkeit. Spielarten des Sozialen um 1800. Würzburg 2015 (im Druck). 36 Vgl. Schleiermacher: Versuch (Anm. 17), S. 167. 37 George L. Mosse: Das deutsch-jüdische Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. In: Werner Conze u. Jürgen Kocka (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert (=Teil 2 v. Bildungsgüter und Bildungswissen. Hrsg. v. Reinhart Koselleck). Stuttgart 1990, S. 168–180, hier S. 179 f. 38 Ursula Isselstein: Die Titel der Dinge sind das Fürchterlichste! Rahel Levins „Erster Salon“. In: Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik (Anm. 16), S. 171–212. 39 Ebd., S. 193.  





















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chen, und doch nie zu einem letzten Resultat gelangen kann. Sie sind gar kein Resultat sondern eine bloße ewige Tendenz. Sie existieren eigentlich gar nicht!40

Gentz stilisiert Rahel ironisch zu einem romantischen Programm. Zugleich trifft er in diesem subtilen Spiel einen wahren Kern. Rahel inszeniert ihre „Unergründlichkeit“ in der Tat dadurch, dass sie – obgleich sie um die Veröffentlichungswürdigkeit ihrer Briefe weiß und obgleich sie Kenntnis davon hat, dass ihre Bonmots, ihre Aphorismen und Redewendungen von anderen aufgeschrieben und gesammelt werden, – zumindest bis in die zwanziger Jahre eine Veröffentlichung ihrer Arbeiten abwehrt. Eine vom Habitué und Diplomaten Brinkmann protokollierte Gesprächsnotiz mit Mme de Staël kann schlaglichtartig den Unterschied der französischen und der deutsch-jüdischen Salonnière beleuchten: Mme de Staël antwortet auf Brinckmanns Vergleich der beiden Damen: „Ah! Sie vergleichen sie also mit mir? Das ist nicht schlecht. Hat sie etwas geschrieben?“41  



2 Die Grenzen konversationeller Aussparung in der Aufklärung Ein Echo auf die zitierte kritische Notiz Schleiermachers über Knigges Betragenslehre findet sich in Ludwig Tiecks Phantasus. Da wird nämlich in ähnlicher Abgrenzungsstrategie von der Aufklärung Distanz genommen, nämlich von dem „in hergebrachter Liebenswürdigkeit“ antrainierten Verhalten, „immer das eine ermüdende Bild eines negativen wohlerzogenen Menschen darzustellen.“42 Schon in den moralischen Wochenschriften war es verpönt, „zu disputieren“ und „über Berufsgeschäfte zu sprechen“.43 Sich als ‚Experte in Geselligkeit‘ zu exponieren, verstieß gegen das konversationelle Gebot, für alle Anwesenden verständlich und nachvollziehbar zu sprechen. Konsequenterweise wurden nicht nur Klatsch, sondern auch Intimitäten und Expertenwissen aller Art aus dem The-

40 Renata Buzzo Màrgari: Schriftliche Konversation im Hörsaal: „Rahels und Anderer Bemerkungen in A. W. Schlegels Vorlesungen zu Berlin 1802“. In: Barbara Hahn u. Ursula Isselstein (Hrsg.): Rahel Levin Varnhagen. Die Wiederentdeckung einer Schriftstellerin (=Lili Beiheft 149). Göttingen 1987, S. 104–126, hier S. 107. 41 Karl August von Varnhagen: Denkwürdigkeiten, Bd. 8, S. 602 f. Das Zitat verdanke ich Peter Seibert: Der literarische Salon. Literatur und Geselligkeit zwischen Aufklärung und Vormärz. Stuttgart 1993, S. 226, Anm. 95. Die Bedeutung des Wechsels zwischen Mündlichem und Schriftlichem in der Romantik wird der nächste Abschnitt zu klären versuchen. 42 Tieck: Phantasus (Anm. 30), S. 90. 43 Martens: Geselligkeit (Anm. 21), S. 183.  





















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menkreis der geselligen Konversation ausgeklammert.44 Eine derartige Aussparungstechnik führt aus Sicht romantischer Intellektueller zu einer reduktiven, unproduktiven, themen- und formeinschränkenden Ausrichtung, die Mediokrität und Banalität fördert. So stößt Ramdohrs Vorschlag auf romantische Ablehnung.45 Die romantischen Geselligkeitsvirtuosen entwickeln eine Reihe von Gegenstrategien, um diesem Dilemma eines die Entfaltung der eigenen Originalität hemmenden, spielraumeinengenden Auftretens zu entgehen. Eine der prekärsten Strategien schlägt Schleiermacher vor. Um das Grundprinzip diskursiv-egalitärer Geselligkeit nicht zu verletzen, sich aber auch nicht dem reduktiven Verfahren auszuliefern, greift Schleiermacher zu einem – von ihm selbst als prekär angesehenen – Mittel der Doppelsprache: einer innerhalb des Small Talk für den esoterisch interessierten Hörer möglichen zweiten Auslegung. Schleiermacher verweist auf die nicht unheikle Tradition der Persiflage.46 Diese überraschende Einführung solcher mit den Mitteln der Exoterik und Esoterik arbeitenden Sprechtechniken sollte nachhaltige Folgen in der Zeit der ‚Befreiungskriege‘ haben: Denn diese Technik der doppelten Lesart, die eine gemischte Gesellschaft von Kennern und Nichtkennern ‚aufmischen‘ sollte, wurde nun als politisches Mittel „verdeckender Schreibweise“ genutzt.47 Die romantischen Geselligkeitsvirtuosen versuchten zweitens, den populärphilosophischen stilistischen Ansatz zu umgehen, Belehrung und Unterhaltung durch eine ‚mittlere Stillage‘ zu gewährleisten. Die Pflege eines „mittleren Stils“ mit dem Schreibziel – so die moralische Wochenschrift Der Patriot –, „daß er weder für die Gelehrten zu schlecht und niedrig, noch für die Ungelehrten zu hoch und unbegreiflich, sondern vielmehr jedermann verständlich“48 sei, führte meist dazu, wie Johann Peter Hebel kritisch anmerkte, „bald für diese, bald für jene Klasse und Kulturstufe [ködernd] etwas hinzuwerfen“.49 Als Remedium gegen die Ausbreitung eines mediokren „mittleren Stils“ arbeiten die romantischen Geselligkeitspoeten an einem raffinierten Wechselspiel  







44 Friedrich Wilhelm von Ramdohr: Kunst der schönen geselligen Unterhaltung. In: Ders.: Studien zur Kenntnis der schönen Natur, der schönen Künste, der Sitten und der Staatsverfassung, auf einer Reise nach Dänemark. Hannover 1792. 45 Vgl. etwa Dorothea Schlegel: Moralische Erzählungen von Ramdohr. In: Athenäum. Eine Zeitschrift v. August Wilhelm Schlegel u. Friedrich Schlegel, Bd. 3, 2tes Stück. Berlin 1800, S. 238– 243. 46 KGA I, 2, S. 182. 47 Vgl. Wilhelm Dilthey: Schleiermachers politische Gesinnung. In: Preußische Jahrbücher 10 (1862), S. 234–277, hier S. 260. 48 Gert Ueding: Art. ‚Populärphilosophie‘. In: Ders.: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 6. Tübingen 2003, S. 1553. 49 Johann Peter Hebel an Theodor Engelmann. 1. Dezember 1809. In: Ders.: Briefe. Gesamtausgabe, Bd. 1. Hrsg., eingel. u. erl. v. Wilhelm Zentner. Karlsruhe 1975, S. 449.  



















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zwischen Mündlichem und Schriftlichem, mit dem Ziel, auf der einen Seite die Banalitätsgefahr des Mündlichen durch schriftliche Präzision zu vermeiden, auf der anderen Seite die Leichtigkeit und Elastizität des Mündlichen auch im Schriftlichen durch dessen Simulation zu erhalten.50 Während Goethe zur Werkvollendung eine Geselligkeitsabstinenz verordnete,51 glaubte Friedrich Schlegel, auch bei der Werkproduktionskonzentration auf das gesellige Inzitament nicht verzichten zu dürfen. In der Einleitung zum Gespräch über die Poesie heißt es daher: Das Spiel der Mitteilung und der Annäherung ist das Geschäft und die Kraft des Lebens, absolute Vollendung ist nur im Tode. Darum darf es dem Dichter nicht genügen, den Ausdruck seiner eigentümlichen Poesie, wie sie ihm angeboren und angebildet wurde, in bleibenden Werken zu hinterlassen. Er muß streben, seine Poesie und seine Ansicht der Poesie ewig zu erweitern […]. Er kann es […] durch Mitteilung […]. Die Liebe bedarf der Gegenliebe. Ja für den wahren Dichter kann selbst der Verkehr mit denen, die nur auf der bunten Oberfläche spielen, heilsam und lehrreich sein. Er ist ein geselliges Wesen.52

3 Die Grenze des konversationellen Gebots, nicht „weitschweifig“ zu reden In der romantischen Literatur finden sich zwei prominente Beispiele für unsere These, dass die Romantiker die konventionellen Vorgaben der Aufklärung kennen, reflektieren, ernst nehmen und zugleich gezielt und bedacht verletzen und überschreiten. Diese beiden Beispiele finden sich in der Einleitung zu Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800) und zu Beginn von Karl Wilhelm Ferdinand Solgers Philosophischen Gesprächen (1817). Beide Schriften simulieren eine Gesprächssituation, und beide setzen ein mit einer kritischen Reflexion auf „einen gewissen Mangel bei dieser Unterhaltung“. Im „viel hin und her“ Geredeten sei zwar „manches Gute und Schöne gesagt“ worden, gleichwohl, so das Resumé, bleibe der Eindruck der Mitteilung „verworren“.53 In ähnlicher Weise setzt das von Solger verfasste erste Philosophische Gespräch ein: Ein Freund äußert seine Verwunderung über des Erzählers sichtbare Zurückhaltung bei einer

50 Schneider: Die unsichtbare Kirche (Anm. 1), S. 158. 51 Johann Wolfgang Goethe an Eckermann. 14. November 1823. In: Heinz Schlaffer (Hrsg.): Johann Peter Eckermann. Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. München 1986, S. 66. 52 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. In: KFSA, I. Abt., Bd. 2. Hrsg. u. eingel. v. Hans Eichner. Paderborn u. a. 1967, S. 284–290, hier S. 286. 53 KFSA I, 2, S. 287.  

















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Eigenarten romantischer Geselligkeit

Mittagsgesellschaft: „Warum warst du heut so still […]. Ich habe mich über dich gewundert, da so wichtige Dinge besprochen, und die trefflichsten Sachen darüber gesagt wurden, daß du so wenig deine Meinung dazu gabest!“ Die Antwort geht in dieselbe kritische Richtung wie in der Einleitung in Schlegels Gespräch über die Poesie: „Die Unterhaltung kam mir abgebrochen und zerstückelt vor [… S]chon öfter ist es mir begegnet, daß ich in der Gesellschaft das Beste versäumte, und erst nachher, wenn ich mich davon erholte, mit Einem oder wenigen in das schönste Gespräch gerieth.“54 Um diesem Manko abzuhelfen, verabreden die Gesprächsteilnehmer in Schlegels und Solgers Gesprächssimulation die Verschriftlichung verschiedener Ansichten. Das konversationelle Verbot der Weitschweifigkeit55 wird damit zurückgenommen. Zugleich wird ein zweites Gesprächsgebot außer Kraft gesetzt, wenn es nun bei Schlegel heißt: „Der Streit […] würde dann erst recht arg werden; und das müsse er auch, denn eher sei keine Hoffnung zum ewigen Frieden“.56

III Vorläufige kritische Einschätzung Die Eigenarten romantischer Geselligkeit, so die These dieser Untersuchung, heben sich besonders markant ab, wenn man sie auf der Folie eines im 18. Jahrhundert elaborierten Diskurses der Geselligkeit der Aufklärung analysiert. Die herausgearbeiteten Unterschiede, romantischen Forcierungen und Überschreitungen der von den Geselligkeitsexperten der Aufklärung geforderten Grenzen verfolgen freilich nicht das Ziel, Kontinuitäten zwischen dem Geselligkeitsmodell der Aufklärung und dem Geselligkeitsprojekt der Romantik zu verdunkeln. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts kann das permanente Bemühen festgestellt werden, die Gelehrsamkeit von Pedanterie zu befreien und folgerichtig der wissenschaftlichen Mitteilung eine auch ästhetisch adäquate Form zu geben. Trotz der romantischen Kritik an dem am Durchschnittlichen orientierten Verfahren und Stil der Popularphilosophie der Aufklärung ist das programmatische Ziel der romantischen Schriftsteller/innen nicht weniger an der Popularität ihrer Vortrags- und  

54 Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Philosophische Gespräche. Neudruck. Hrsg. v. Wolfhart Henckmann. Darmstadt 1972, S. 1. Vgl. Olaf Briese: Geselligkeit, Unterhaltung, Vergnügen und die Gebildeten ihrer Verächter. Das Beispiel Berlin. In: Anna Ananieva, Dorothea Böck u. Hedwig Pompe (Hrsg.): Geselliges Vergnügen. Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert. Bielefeld 2011, S. 283–300. 55 Vgl. Herbert Neumaier: Der Konversationston in der frühen Biedermeierzeit 1815–1830. München 1974, S. 17. 56 Schlegel: Gespräch. In: KFSA I, 2, S. 287.  









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Günter Oesterle

Schreibweise ausgerichtet. Gleichbleibend ist die Geselligkeit Mittel und Medium, das angestrebte elegantia-Ideal zu erreichen. Das lange 18. Jahrhundert der Geselligkeit ist von einer weiteren Kontinuität geprägt: Die damals in dieser Form einmaligen Vorgaben des Geselligkeitskonzepts – wechselseitige Anerkennung ohne Abhängigkeit – versprachen Freiräume, die naheliegenderweise mit Illusionen und Hoffnungen vornehmlich im Blick auf eine Ausweitung auf andere gesellschaftspolitische Bereiche beschickt wurden. Auch hier neigen die romantischen Intellektuellen dazu, die utopischen Vorstellungen der Aufklärer zu überbieten. Friedrich Schlegels in den Ideen geäußerte Pathosformel sei als ein Beispiel genannt. „Wo die Künstler eine Familie bilden, da sind Urversammlungen der Menschheit.“57 Distanz zu Familie und Staat eröffnet zu Beginn des 18. Jahrhunderts Spielräume der Geselligkeit; der Freundschaftskult in der Mitte des 18. Jahrhunderts schwächt schon die freimütige Geselligkeitskultur;58 am Ende des 18. Jahrhunderts bedrohen Versuche einer Refamiliarisierung oder die Ausgriffe auf religiös konnotierte ‚Gemeinde‘-Vorstellungen das Geselligkeitsprojekt.59 Die romantische Forderung, in der Geselligkeit seine Manier und Originalität maximal entfalten zu können, hat in der Forschung gelegentlich dazu geführt, die gesamtgesellschaftlich erzielten emanzipatorischen Effekte vornehmlich im Blick auf Frauenemanzipation zu überschätzen.60 Korrekturen waren nur allzu berechtigt.61 Auch hier lässt sich eine von Skepsis diktierte Langzeitbeobachtung formulieren. Sie lautet: Je provokanter der republikanische Geist der Geselligkeit eingefordert wurde, desto strenger wurde er auf ebendiesen engen Bereich begrenzt. In den romantischen Zirkeln sind Frauen zum Beispiel als Beraterinnen in Fragen der Lebensführung und Literaturkritik gefragt,62 als Produzentinnen auf dem freien Markt aber weiterhin verpönt. Eine skeptische, das Für und Wider abwägende Einschätzung dürfte auch gegenüber den romantischen Überschreitungen der von den Aufklärungsexperten in Sachen Geselligkeit gezogenen Vorsichtsmaßnahmen angemessen sein. Die romantischen Grenzgänge erweitern  











57 Friedrich Schlegel: Ideen, Nr. 122. In: KFSA I, 2, S. 268. 58 Gaus: Geselligkeit und Gesellige (Anm. 33), S. 289 und S. 335. 59 Vgl. die Distanz von Varnhagen gegenüber der religiös konnotierten Vorstellung von Geselligkeit beim späten Schleiermacher: Konrad Feilchenfeldt: Rahel Varnhagens ,Geselligkeit‘ aus der Sicht Varnhagens. Mit einem Seitenblick auf Schleiermacher. In: Schultz (Hrsg.): Salons der Romantik (Anm. 16), S. 147–169. 60 Vgl. Gisela Dischner u. Richard Faber (Hrsg.): Romantische Utopie. Utopische Romantik. Hildesheim 1979. 61 Konrad Feilchenfeldt: Rahel Varnhagens Ruhm und Nachruhm. In: Rahel-Bibliothek. Rahel Varnhagen. Gesammelte Werke, Bd. 10. Hrsg. v. Konrad Feilchenfeldt, Uwe Schweikert u. Rahel E. Steiner. München 1983, S. 128–178. 62 Isselstein: Die Titel der Dinge (Anm. 38), S. 196.  





















Eigenarten romantischer Geselligkeit

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zwar die artistischen Spielräume und steigern die Geselligkeit zu virtuosen Kunststücken, sie erhöhen aber zugleich die Riskanz des gesamten Geselligkeitskonzepts. So hilfreich zur ersten Orientierung die drei Generalthesen zur Geselligkeit im 18. Jahrhundert sein dürften, so sehr bedarf eine jede ihrer historischen Eingrenzung und Korrektur: Jürgen Habermas’ Beobachtung der Einübung in herrschaftsfreies Räsonnement im Raum der Geselligkeit unterschätzt durch das unterlegte Öffentlichkeitspathos die Begrenztheit und Widersprüchlichkeit solcher labilen Geselligkeitsgebilde.63 Reinhart Koselleck überschätzt wiederum die realpolitische Wirksamkeit der eher schwach vertretenen, sektenartigen politisch-evolutionären Ambitionen im Freiraum der Geselligkeit,64 und Niklas Luhmanns These, die geselligen Freiräume der Oberschichten seien erkauft worden durch gesellschaftspolitische Bedeutungslosigkeit,65 übersieht die Langzeitwirkung des in diesen Zirkeln Erprobten.66  

63 Vgl. die Kritik an Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) durch Gaus: Geselligkeit und Gesellige (Anm. 33), S. 20. 64 Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Freiburg 1959. 65 Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten: Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 72–161, hier S. 122 und S. 161. 66 Günter Oesterle: Diabolik und Diplomatie. Freundschaftsnetzwerke in Berlin um 1800. In: Natalie Binczek u. Georg Stanitzek (Hrsg.): Strong ties/Weak ties. Freundschaftssemantik und Netzwerktheorie. Heidelberg 2010, S. 93–110.  

















Marie-Louise Svane

Der Orient auf der Bühne Byrons Sardanapal als romantisches Drama und als Melodrama

I Vom Kanon zur Kulturgeschichte Gibt es einen Kanon romantischer Literatur? Diese Frage beinhaltet wahrscheinlich schon ihre verneinende Antwort, aber ich möchte sie dennoch an den Anfang stellen, um deutlich zu machen, worum es geht, wenn wir nach dem Stand der Romantik-Forschung und nach neuen Wegen in der Romantik-Forschung fragen. Denn die Romantik, die wir wissenschaftlich untersuchen – das wissen wir sehr wohl – ist kein fest umrissenes Untersuchungsobjekt, und jedweder Versuch, einen romantischen Kanon auf einer bestimmten geographischen oder zeitlichen Skala einzugrenzen, wird zu Problemen führen. Unser Forschungsgebiet ist vielmehr ein überaus vielschichtiges Spektrum von Texten, Ideen und Standpunkten, deren wechselhafte Facetten und Repräsentanten immer dann auf der Bildfläche der Literaturwissenschaft auftauchen, wenn die Debatte einen neuen Fokus findet oder neuen Aufschwung nimmt. Wenn die Forschung neue Wege beschreitet, erscheint der Kanon in einem ganz anderen Licht, und neue Hauptpersonen werden vom Lichtkegel erfasst. Das Beispiel Byron illustriert das ziemlich gut. Lord Byron ist unumstritten auf der ganzen Welt berühmt. Er war der meistgefeierte romantische Autor seiner Zeit und steht in der britischen wie auch der europäischen Literaturgeschichte immer noch an exponierter Stelle. Trotzdem lag, als amerikanische und europäische Wissenschaftler in den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihre bahnbrechenden neuen Überlegungen zum romantischen Kanon veröffentlichten, seine schriftstellerische Tätigkeit nicht unmittelbar im Brennpunkt des Interesses. Für die Sprachphilosophen der Yale University wie Harold Bloom, Hillis Miller, Paul de Man oder Cynthia Chase wie auch für die dekonstruktive Kritik, die in den neunziger Jahren in den USA und in Europa tonangebend wurde, war Byron kein besonders bemerkenswerter oder seelenverwandter Autor. Stattdessen erregten andere englische und deutsche romantische Texte die Aufmerksamkeit dieser sprachphilosophischen Schule und bildeten einen guten Resonanzboden für deren dekonstruktive Hermeneutik. Byron war allzu dramatisch, allzu direkt und weltlich mit seinem politischen Protest; seine zügellosen Desperado-Helden und die gefühlvoll meditierenden Naturwanderer in den deutschen und englischen Gedichten, die das Interesse der neunziger Jahre auf sich zogen, gehören zwei unterschiedlichen Welten an.  



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Byrons literarisches Schaffen rückte langsam wieder ins Blickfeld, nicht zuletzt weil in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren Analyseansätze des New Historicism, der Gender- und Kulturtheorie in immer neuen Kombinationen erprobt wurden. Dabei gab es durchaus schon in der Periode zuvor Publikationen zu seiner schriftstellerischen Tätigkeit, sowohl unter psychoanalytischen als auch rhetorischen Gesichtspunkten. So veröffentlichte zum Beispiel Jerome Christensen im Jahr 1993 eine bemerkenswerte lacanianische Analyse des SardanapalTextes, der auch den Gegenstand des vorliegenden Artikels bildet.1 Und besonders Jerome McGann, der Herausgeber von Byrons Complete Poetical Works und einer Reihe von Byron-Studien, hat in seinen Essays laufend Kommentare zur Byron-Diskussion abgegeben, und zwar ausgehend von seinem Interesse, die Romantik in Hinsicht auf Byron „neu zu durchdenken“.2 Ich habe in diesem Beitrag nicht vor, die Romantik in Hinsicht auf Byron ‚neu zu durchdenken‘, aber ich will dennoch versuchen, neue Spuren in der ByronForschung und bei der Analyse des romantischen Dramas herauszustellen. Bei meiner Beschäftigung mit Byrons Schauspiel Sardanapal greife ich auf eine Reihe der wichtigen analytischen Sichtweisen zurück, die in der Romantikforschung der neunziger Jahre herausgearbeitet wurden. Ich richte mein Augenmerk folglich auf die rhetorischen und gendersemantischen Schichten in Byrons Drama, in dem es um die Problematik der Macht der Hauptperson des Stückes geht. Ich untersuche, wie die Formen der Sprache und genderspezifische Attitüden mit der Geschichte des Machtmenschen Sardanapal verknüpft werden. Und ich stelle die Frage, warum Byron zur Bearbeitung dieser Problematik ein spezielles historisches Szenarium benutzt, das sich im Vergleich zur damaligen Zeit fern und fremdartig ausnimmt. Was die neuere kulturhistorische Byron-Forschung anlangt, so wird sie besonders mit Hinblick auf diese letzte Frage interessant. In diesen Untersuchungen tun sich Byrons Texte vor den breiteren politischen und kulturellen Kontexten seiner Zeit auf, mit denen er interagierte – etwa wenn er sich entschied, in einem bestimmten Genre zu schreiben (hier: eine Mischung von klassischer Tragödie und romantischem Melodrama), wenn er seine Dramenfiguren in ein bestimmtes geographisches Umfeld platzierte (hier: den Orient) und wenn seine Stücke das 19. Jahrhundert hindurch für ein Publikum in den Schauspielhäusern Londons aufgeführt wurden. Auch auf dieses Zusammenspiel zwischen Theaterbühne und  



1 Jerome Christensen: Byrons’s Sardanapalus and the Triumph of Liberalism. In: Cynthia Chase (Hrsg.): Romanticism. London u. a. 1993, S. 211–239. Siehe auch Jerome Christensen: Lord Byron’s Strength. Romantic Writing and Commercial Society. Baltimore u. a. 1995. 2 Jerome McGann: Byron and Romanticism. Hrsg. v. James Soderholm. Cambridge u. a. 2002; sowie Jerome McGann: Rethinking Romanticism. In: ELH 59 (1992), S. 735–754.  









Der Orient auf der Bühne

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der historisch-politischen Bühne und die daraus resultierenden Folgen möchte ich in meiner Analyse von Sardanapal3 eingehen.

II Die romantische Bühne Wie funktioniert romantische Dramaturgie? Das heißt, wie ist das Verhältnis zwischen der Inszenierung einer bestimmten Bühnenfassung durch den Regisseur, dem Agieren der Schauspieler auf der Bühne und der Reaktion des Publikums im Theatersaal? Ich möchte hier zwei Kommentare aus der jüngeren Theatergeschichte anführen, nämlich Frederick Burwicks Romantic Drama, Acting and Reacting aus dem Jahr 20094 und Jeffrey Cox’ Einleitung zu The Broadway Anthology of Romantic Drama aus dem Jahr 2003.5 Burwick betont den Blick des romantischen Dramas auf den doppelten Aspekt der Bühnenillusion, nämlich auf der einen Seite das imaginative Beteiligtsein des Publikums an der Bühnenhandlung und auf der anderen Seite seine reflexive Bewertung der schauspielerischen Leistungen auf der Bühne. Burwick spricht von einem ständigen identifikatorischen Wechsel zwischen Selbst und Anderem, der die gesamte dramatische Aufführung über anhält, nämlich zwischen Schauspieler und Rolle und zwischen Zuschauern und den Personen auf der Bühne. „Das Erlebnis ist paradox“, schreibt er, „denn die Alterität (oder das Anderssein) löst sich nie voll und ganz in Identität auf, Teilnahme schlägt um in Verfremdung, Anziehung in Abstoßung, Einschluß in Abstand.“6 Burwick führt zeitgenössische Schilderungen an, wie die großen romantischen Schauspieler der damaligen Zeit, zum Beispiel Edmund Kean und John Philip Kemble, es verstanden, sich diese Doppelheit in ihrer Sprechweise mit Übergängen zwischen Pathos und Distanz zunutze zu machen. Aber auch die Autoren spielten mit der Theaterillusion und hoben sie gezielt heraus. Das Paradebeispiel ist Ludwig Tieck mit seinen frühen absurden Possen wie Ritter Blaubart oder Der Gestiefelte Kater, in denen er Publikum auf der Bühne platziert und die Grenzen zwischen der Fiktion des Schauspiels und der Wirklichkeit des Theaters mit allen möglichen Gags und Paradoxien einreißt. Ein derartiges Fiktionsbewußtsein findet sich ebenso bei Byron, auch wenn er es nicht so

3 Hier zitiert nach der Erstausgabe: Lord Byron: Sardanapalus. A Tragedy. The Two Foscari, A Tragedy. Cain, A Mystery. London 1821. 4 Frederick Burwick: Romantic Drama, Acting and Reacting. Cambridge 2009. 5 Jeffrey N. Cox: Introduction. In: Ders. u. Michael Gamer (Hrsg.): The Broadway Anthology of Romantic Drama. Peterborough 2003, S. VII–XXIV. 6 Burwick: Romantic Drama (Anm. 4), S. 16.  





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massiv ausnutzt und es eher herunterspielt bzw. tarnt. Byron schreibt in erster Linie nicht, wie Tieck, um die Altklugheit des Bürgertums auf den Kopf zu stellen oder die Literatur ihrem Nullpunkt anzunähern. Ihm geht es vielmehr um unsichere Identitäten und um knifflige Zusammenhänge zwischen Sex, Gender und politischer Autorität. Jeffrey Cox’ Kommentar geht in eine andere, eher kulturhistorische Richtung. Er weitet den Fokus aus und betont, dass man die damalige Theaterszene nur dann verstehen kann, wenn man das Zusammenspiel zwischen den hochkulturellen und den populären Bühnengenres betrachtet, nicht zuletzt den modernen Melodramen, die in beträchtlichem Maße zum Gesamtbild des Theaterlebens beitrugen. In Verbindung mit Byrons hochliterarischem orientalischem Drama Sardanapal ist es übrigens interessant festzustellen, dass das französische wie auch das englische Melodrama des frühen 19. Jahrhunderts – neben grausigen und phantastischen, für die Bühne umgearbeiteten Geschichten – eine Vorliebe gerade für orientalische Stoffe hatte. Derartige Stoffe ließen sich effektvoll auf der Bühne visualisieren, und sie konnten den Sinn des Publikums für das Sensationelle und Exotische anstacheln, nicht zuletzt hinsichtlich Erotik und Entsetzen. Das orientalische Melodrama mit seinen Phantasien von Haremsdamen und grausamen Despoten hatte seinen festen Platz im Repertoire der Theater und erhielt am Anfang des Jahrhunderts noch einen besonderen Ableger, als nämlich das sogenannte militärische Melodrama populär wurde. Das militärische Melodrama war in hohem Grad eine französisch-englische Erfindung und Produkt der Konkurrenz dieser beiden europäischen Großmächte um Kolonien, die zu Kriegen und Auseinandersetzungen führte, das erste bedeutende Mal 1798 bei Napoleons Invasion in Ägypten. Hintergrund der englisch-französischen Konfrontation auf ägyptischem Territorium war der Streit um den Zugang nach Indien und dem ganzen Orient, und angesichts dieses politischen Kontextes kann man argumentieren, dass das militärische Melodrama des 19. Jahrhunderts sozusagen historisch-logisch das orientalische Thema in sich trug. Das typische Muster für die englischen Bühnenwerke war eine glorifizierende Geschichte über den britischen Einsatz in Indien oder Ägypten, wobei oft eine rührselige Intrige gesponnen wurde, die mit militärischen Unternehmungen verflochten war, bei denen die britische Armee mit Bravour eine Reiterschlacht oder einen Sturmangriff absolvierte – und dies begleitet von Spezialeffekten wie Kanonenfeuer, brennenden Festungsmauern usw. Häufig war ein Handlungsstrang mit einem edlen britischen Offizier oder General eingeflochten, der ein Haremsmädchen aus den Händen eines grausamen orientalischen Despoten befreite. Die Wirkungsmittel und Effekte des militärischen Melodramas waren zu gleichen Teilen Exotik und imperiale Propaganda, wobei  







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die Kolonialkriege dem britischen Publikum als Einsatz im Dienste der Zivilisation dargeboten wurden. Bei Byrons orientalischem Schauspiel handelt es sich – wie ich noch zeigen werde – selbstverständlich nicht um eine Glorifizierung des britischen Imperialismus, ganz im Gegenteil. Aber es verfügt über zahlreiche Gemeinsamkeiten mit den militärischen Bühnenwerken, die das Publikum kannte. So gibt es einen orientalischen Despoten und seine Haremssklavinnen, es gibt Kriegsszenen, und es gibt eine schauerliche Abschlußszene mit dem Selbstmord des Königs auf einem Scheiterhaufen und einen brennenden Palast. Sämtliche Spezialeffekte des Melodramas kamen zum Einsatz, als Sardanapal 1834 nach Byrons Tod im Royal Theatre an der Drury Lane und bei späteren Inszenierungen aufgeführt wurde. Für mich ist u. a. interessant, und dieser Frage will ich im Folgenden nachgehen, inwiefern von einer gegenseitigen Beeinflussung zwischen dem hochliterarischen Theatergenre und dem populären Melodrama, also zwischen Byrons orientalischer Tragödie und dem zeitgenössischen orientalischen Melodrama, die Rede sein kann. Dies sind Genres, die sich im Prinzip das Publikum teilen, denn während das klassische Repertoire in den großen staatlichen Schauspielhäusern an der Drury Lane und im Covent Garden aufgeführt wurde, liefen die Melodramen in den kleinen privaten Theatern. Aber wie Jeffrey Cox bemerkt, gab es fließende Übergänge: Die großen Theater nahmen auch Melodramen in ihr Programm auf, und die kleinen Bühnen lockten Publikum aus allen Gesellschaftskreisen an.  





III Sardanapal – die groteske Tragödie  

Als erstes kann man die Frage nach dem Genre stellen. Im Vorwort zu seinem Schauspiel behauptet Byron, dass es seine Absicht gewesen wäre, eine Tragödie im klassischen Stil zu schreiben,7 eine Behauptung, die von verschiedenen Kritikern der Gegenwart als ein heimlicher Scherz aufgefasst wurde, und dies aufgrund der überaus deutlichen Abweichungen – um nicht zu sagen Deformierungen, die Byron dem klassischen Tragödienmuster in seinem Stück faktisch zufügt. Die amerikanische Literaturkritikerin Barbara Judson sagt z. B., dass er „with its miscegenation of high and low, tragedy and burlesque, politics and pleasure“ das  



7 Byron: Sardanapalus (Anm. 3), S. 5: „In this tragedy it has been my intention to follow the account of Diodorus Siculus, reducing it, however, to such dramatic regularity as best I could, and trying to approach the unities. I therefore suppose the rebellion to explode and succeed in one day by a sudden conspiracy, instead of the long war of the history.“  

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Decorum der Tragödie entweihe.8 Andere sind der Meinung, dass in Sardanapals Charakter komische und tragische Züge ineinander verschmelzen,9 und laut Margaret J. Howell räumt Byron selber das Komische der Figur ein, wenn er in einem Brief an den Verleger John Murray schreibt: „Sardanapalus is almost a comic character; but for that matter, so is Richard the Third.“10 Mit anderen Worten, das hybride Genre und das Groteske stehen im Blickpunkt und machen, wie die zeitgenössische Genrediskussion zeigt,11 Sardanapal insofern eher zu einem romantischen als zu einem klassischen Stück. Aber das Interessante ist doch, was Byron deformiert, wogegen sich seine Deformierungstaktik richtet. Eine schnelle Nacherzählung der Handlung soll verdeutlichen, worum es geht und in welchem Kontext die angesprochene Taktik funktioniert. Doch vorweg: Sardanapal ist eine altorientalische Königsfigur, der letzte assyrische König und in direkter Linie von Nimrod und Semiramis abstammend, Herrscher über das assyrische Reich bis zu dessen Untergang im Jahr 627 v. Chr. Byron bezog den Stoff aus einer Darstellung des griechischen Geschichtsschreibers Diodorus Sicilus (80–20 v. Chr.). Und ohne hier im Detail auf Byrons Geschichtsauffassung einzugehen, kann man sagen, dass der Stoff modern war. Die Zeit vor und nach der Französischen Revolution war voller Faszination über die Idee des Aufstiegs, der Größe und des Untergangs der Zivilisationen. Edward Gibbons Werk The Decline and Fall of the Roman Empire kam 1776 heraus, Constantin Volneys Ruines de la Civilisation erschien 1791, und Walter Scotts historische Waverley-Romane, Adam Oehlenschlägers nordische Trauerspiele und viele andere Themen in der Literatur handeln vom Zusammenbruch alter Systeme und dem Anbruch neuer Zeiten. Der plotsteuernde Konflikt besteht zwischen dem genußsüchtigen König Sardanapal auf der einen Seite, der seine von seinen Vorvätern geerbte politische  



8 Barbara Judson: Tragicomedy, Bisexuality, and Byronism; or, Jokes and Their Relation to Sardanapalus. In: Texas Studies in Literature and Language 45 (2003) H. 3, S. 245–261, hier S. 246. 9 Martyn Corbett: Lugging Byron out of the Library. In: Studies in Romanticism 31 (1992), S. 361–372, hier S. 368. 10 Margaret Howell: Byron Tonight. A poet’s plays on the nineteenth century stage. Windlesham 1982, S. 79. 11 In der zeitgenössischen Genrediskussion nahmen die Kritik an der klassischen Tragödie und die Hervorhebung des Shakespeareschen Dramas eine zentrale Stellung ein. Die Wiederentdeckung Shakespeares wurde dabei als vordringlich für ein neues romantisches Drama angesehen. Coleridge und Hazlitt hielten Vorlesungen zu Shakespeare ab, aus der Feder von Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang von Goethe, August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck stammen Vorreden zu seinen Werken und Übersetzungen. Victor Hugo führte seinen Begriff „romantisches Drama“ unter Hinweis auf die Vermischung von Sublimem und Groteskem in Shakespeares Dramatik ein (in Préface de Cromwell, 1827).  









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Autorität durch einen antiautoritären Hedonismus ersetzt hat, und auf der anderen Seite dem Staatskörper, der nach straffer Führung verlangt, so dass beim Einsetzen der Bühnenhandlung aufgrund von Sardanapals Autoritätsverweigerung Tür und Tor für einen Staatsstreich und eine feindliche Machtübernahme geöffnet sind. Die Handlung besteht aus Appellen der Minister an Sardanapal, sich als verantwortungsbewußter politischer Führer zu zeigen. Von ihm als König des Landes wird erwartet, dass er sich an die Spitze einer Schlacht stellt, durch die der schwelende Aufruhr verhindert werden soll. Als er am Ende seine Rolle annimmt und seine militärische Führung demonstriert, ist es zu spät. Die Stadt ist umzingelt und die Armee besiegt. Da wählt Sardanapal die einzige noch mögliche heroische Handlung, nämlich die ostentative Selbstzerstörung, die im Schlußtableau des Stückes inszeniert wird, wo Sardanapal zusammen mit seinem getreuen Sklavenmädchen Myrrha den Scheiterhaufen besteigt. Ich habe hier einzelne Worte kursiv hervorgehoben, denn meiner Meinung nach kann man die Handlung nicht nacherzählen, ohne Wörter wie Rolle, Tableau und inszenieren zu verwenden, und allein daran ist schon ersichtlich, dass es in dem Stück um die Theatralität in den wechselseitigen politischen Beziehungen geht und der Staat als eine Bühne für das Schauspiel und das Rollenspiel der handelnden Personen dargestellt wird. Der doppelbödige Kreis von Identifikationen und Rollenbewußtsein, den Frederick Burwick dem romantischen Drama zugesprochen hat, ist auch bei Byron als ein Teil seines Themas zu finden. Sardanapal wird als ein ‚Performer‘ geschildert, der in wechselnde Rollen schlüpft und seine Performance als König mit dem grausigen grand spectacle im Schlußakt beendet. Byron sucht in seinem Stück den Zusammenhang zwischen Rollen, Macht und Sexualität zu erproben, wobei seine starke Herausstellung des Rollenthemas mit sich bringt, dass die Beziehungen zwischen Macht, Sex und Gender zu keinem Zeitpunkt als unabänderlich verstanden werden können. Es handelt sich bei ihnen, wie ich zeigen möchte, um Positionen, die nicht starr miteinander verbunden sind und die quer zu Normen und zum Decorum ausgetauscht werden können. Ich möchte dieses Bedeutungsspiel zwischen Darstellung, Gender und Macht im Folgenden anhand einiger Episoden aus dem Stück kommentieren.

IV Drag-queen, Lustprinzip und Liberalismus Sardanapal ist eine Drag-queen, was bei seinem ersten Auftritt im ersten Akt alles andere als dezent angedeutet wird. Byron nennt in seiner Regieanweisung das ganze Register von Parade, Gebaren und Kostümierung in Frauenkleidern. Er schreibt: „Enter SARDANAPALUS effeminately dressed, his Head crowned with Flowers, and his Robe negligently flowing, attended with a Train of Women and

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young Slaves.“12 Sardanapal ist in jeglicher Hinsicht eine Pervertierung des klassischen Tragödienhelden und des klassischen Ethos. Mit seinen Orgien und wüsten Gelagen und mit seinem Mangel an militärischer Disziplin ist er ein Schandfleck am assyrischen Hof. Seine Diener, vor allem sein Schwager Salemenes, versuchen vergeblich, ihn dazu zu bringen, die Macht in seine Hände zu nehmen und die erforderliche Gerichtsbarkeit auszuüben, um die staatliche Ordnung aufrechtzuerhalten. In der Sekundärliteratur kann man lesen, dass die Figur des Sardanapal auch ein Seitenhieb gegen den Sittenverfall am englischen Hof unter George IV. sei,13 aber es ist klar, dass Byron mehr will als nur eine Satire über die in seinen Augen korrupten europäischen Regierungen der Restaurationszeit. Byron zeichnet hier einen orientalischen Despoten, der es ablehnt, auf der Basis von Macht, Krieg und Unterdrückung zu herrschen und statt dessen das Lustprinzip zur Richtschnur seines politischen Programms erklärt. Hier rüttelt er am Klischee des orientalischen Despoten, das er früher selber verwendet hatte. In seinen populären Turkish Tales aus dem zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatte Byron die orientalischen Despoten stets als Tyrannen gezeichnet, bei denen rücksichtslose Gewalt und Sinneslust zusammenfielen. Hier aber experimentiert er nun allem Anschein nach damit, die beiden Aspekte voneinander zu trennen, um zu untersuchen, wie die politische Führung auf einem anderen Prinzip als Macht und Unterdrückung aufbauen kann. Sardanapal versteht sich selbst als Menschenfreund. Er will nicht über andere gebieten, er will nicht wie seine Vorfahren Nimrod und Semiramis andere Völker erobern und seinem Regime unterwerfen, sondern allen die volle Freiheit lassen, damit sie ihren eigenen Lüsten nachgehen können. Die Konstellation von Liberalität und politischer Führung war ein Thema, das Byron auch persönlich erfüllte, sowohl während seines Aufenthalts in Italien bei seinem Engagement für die italienische Freiheitsbewegung als auch bei seiner späteren aktiven Teilnahme als Stratege im griechischen Unabhängigkeitskrieg. Aber im Stück gibt es auch andere Anspielungen auf große politische Ereignisse der damaligen Zeit sowie auf ethische Fragen nach der Legitimität der Macht. Die Napoleonischen Befreiungskriege, die zu Eroberung und Unterwerfung eskalierten, waren auf dem europäischen Kontinent noch in frischer Erinnerung und fanden in Byrons Schaffen mehrfach ihren Widerhall. Byron hatte sich auch schon während seines italienischen Exils in unterschiedlichem Zusammenhang vom Spiel der Kolonialmächte und besonders der britischen Kolonialpolitik in Indien distanziert. Er betrachtete die Anerkennung der Mission der anglika-

12 Lord Byron: Sardanapalus (Anm. 3), S. 7. 13 Vgl. Judson: Tragicomedy, Bisexuality, and Byronism (Anm. 8), S. 250.  







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nischen Kirche in Indien durch die britische Regierung als heuchlerische Legitimierung eines zynischen Imperialismus. Diese Themen waren für Byron aktuell, und auf sie konnte er durch seine orientalische Tragödie anspielen, ohne sofort von der Zensur gestoppt zu werden. – Einem heutigen Leser mag es auffällig erscheinen, dass Byron niemals ein demokratisches Gesellschaftsmodell zur Sprache bringt, aber als aristokratischer Rebell, der er war, richtet er sein Augenmerk ausschließlich auf die Rolle des Führers im politischen Prozess und präsentiert und diskutiert sie als eine Alternative zwischen autoritärem Regime und liberalistischem Laissez faire. Das implizite Problem in Sardanapals Politik des Gewährenlassens kommt in einem frühen Wortwechsel zwischen Sardanapal und Salemenes zum Ausdruck, wo Salemenes den König ein weiteres Mal auffordert, seine Macht gegen die aufkommende politische Intrige einzusetzen. Sardanapal sagt (I,II): „By the god Baal! / The man would make me tyrant.“ Woraufhin Salemenes antwortet:  

Thinkst thou there are no tyranny but that / Of Blood and Chains? The despotism of vice / The weakness and the wickedness of luxury – / the negligence – the apathy – the evils / Of sensual sloth – produce ten thousand tyrants […].14  







V Agnorisis im Spiegel Byron läßt Salemenes Recht behalten. Sardanapal muß einsehen, dass das Lustprinzip als tragendes Regierungsprinzip unzureichend ist und dass es Verantwortungslosigkeit gegenüber dem Staat in sich einschließt – ein Fehlverhalten, das zu sinkender Moral in der Armee und damit zu einer Gefährdung für das Fortbestehen des Königshauses geführt hat. Sardanapal ändert sich, er übernimmt die öffentlichen Pflichten als Landesherr und zieht ins Feld, um im Kampf gegen die Aufrührer an der Spitze seiner Truppen zu stehen. Bei dieser agnorisis erkennt Sardanapal seinen Irrtum und wird nach seinem Charakterwandel zum tragischen Helden. – An dieser Stelle könnte man den Literaturhistorikern Recht geben, die auf Byrons Sympathien für die Klassik verweisen und dazu sein Vorwort zu dem Bühnenstück anführen. Doch dem ist entgegenzuhalten, dass genau in der Szene, in der die vermeintliche Kehrtwende vollzogen wird und Sardanapal seine wahre Pflicht als Heerführer auf sich nimmt, auch Sardanapals Rollenspiel deutlicher als an allen anderen Stellen des Dramas herausgearbeitet wird. Ich denke selbstverständlich an die Spiegelszene im 3. Akt, wo Sardanapal seinen Dienern befiehlt,  



14 Lord Byron: Sardanapalus (Anm. 3), S. 11.  



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seine Rüstung und sein Schwert zu holen und sein Pferd zu bringen. Da sind zunächst all die kleinen komödienhaften Wankelmütigkeiten hinsichtlich der Ausrüstung: sein Schild ist zu schwer, der Helm ist zu schwer und häßlich, er will seinen Paradehelm haben, der mit einem glitzernden Diadem besetzt ist, oder überhaupt nichts auf dem Kopf tragen. Von beidem wird ihm abgeraten, da er so eine hervorragende Zielscheibe für den Feind abgeben würde. Sardanapal denkt an sein Äußeres, daran, wie er aussieht. Der Wesenszug des Transvestiten geht anscheinend mit hinüber in die neue Rolle. Sardanapal präsentiert das Klischee einer Frau, die sich erst mehrere Male umzieht, bevor sie zu einem Rendezvous geht. Und dieses Klischee wird noch gesteigert, wenn er am Ende einen Spiegel verlangt, um sein martialisches Aussehen bewundern zu können. Durch eine Reihe derartiger Details wird seine Verwandlung zum Krieger und Helden bloßgestellt, auch wenn im Hauptstrang der Handlung daran festgehalten wird, dass die Wandlung vollzogen ist, und seine früheren KritikerInnen, Salemenes und seine Geliebte Myrrha, an seine neue Persönlichkeit glauben und seinen mutigen Einsatz auf dem Schlachtfeld bewundern. Aber auch hier sind es Erwiderungen und Wendungen, die Mißtöne in den Lobpreis bringen, wie zum Beispiel, als Myrrha seinen Kampfesmut mit den Worten rühmt, dass er sich mit gleicher Inbrunst ins Kampfgetümmel stürzt wie ein Liebhaber, der zum Bett seiner Geliebten eilt. So hat die Umwandlung von einem verächtlichen „she-king“, wie seine Gegner ihn genannt haben, zu einem männlichen und potenten Krieger etwas Show-artiges oder Entblößendes an sich. Wie mehrere Kommentatoren bemerken, verwechselt Sardanapal politische Führung mit Sexualität oder vermischt diese beiden Größen auf kompromittierende Weise, ähnlich wie im Hinblick auf sein sexuelles Geschlecht keine klare Trennlinie zwischen männlich und weiblich gezogen wird – selbst dann nicht, als die Handlung Sardanapal mit der genormten Rolle des potenten männlichen Regenten in Übereinklang gebracht hat.15  

VI Travestiekunst und imperiale Selbstinszenierung Travestiekunst und Gendersemiotik sind in Byrons Bühnenstück allgegenwärtig, und sie hängen mit dem Thema zusammen, das ich bislang nur kurz angespro15 Judson: Tragicomedy, Bisexuality, and Byronism (Anm. 8); Susan J. Wolfson: A Problem Few Dare Imitate: ,Sardanapalus’ and effeminate character. In: ELH 58 (1991) H. 4, S. 867–896; Daniela Garofalo: Political Seductions: The Show of War in Byron’s Sardanapalus. In: Criticism 44 (2002) H. 1, S. 43–63.  





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chen habe, nämlich seine implizite Kritik am britischen Imperialismus, der ja Teil seiner politischen Gegenwart ist. An dem einen Ende der Geschlechterskala haben wir den femininen friedliebenden König Sardanapal, den she-king, an dem anderen haben wir die gegensätzliche Abnormität, nämlich die eroberungssüchtige Königin Semiramis, die man-queen, die imperialistische Vorfahrin des assyrischen Königsgeschlechts, die Persien in Besitz genommen und einen Eroberungsfeldzug gegen Indien geführt hat. Für Sardanapal ist sie ein „human monster“, und ihre Inkarnation von imperialistischer Macht ist um so monströser, als sie eine Frau ist. In einem Alptraum vor der entscheidenden Schlacht trifft Sardanapal mit ihr zusammen und gerät dabei in ihre abscheuliche inzestuöse Umklammerung. Mit anderen Worten, die Pervertierung der Macht definiert sich immer durch ihre Weiblichkeit. Egal, ob es zuviel davon gibt wie bei Sardanapal, dessen militärische Macht in der Spiegelszene als Rolle und Show entlarvt wird (er agiert wie eine Frau). Oder ob es zu wenig davon gibt wie bei Semiramis, deren imperiale Aggression ebenso pervers ist wie ihre weibliche Abnormität (sie agiert wie ein Mann). Zweifelsohne wird die Verbindung zwischen imperialistischer Macht und eitlem (weibischem) Rollenspiel in der Spiegelszene noch zugespitzt. Sardanapal treibt seine Dienerschaft an, den Spiegel zu bringen, und beauftragt den erstaunten Laufburschen: „Hol den Spiegel! Ja, den Spiegel aus blankem Messing, die Kriegsbeute aus Indien.“16 Das heißt, Sardanapal spiegelt sich in Semiramis’ imperialem Werk, von dem er sich zu einem früheren Zeitpunkt im Stück distanziert hat. Die genaue Bedeutung dieses Zusammenhangs läßt sich nicht endgültig erschließen. Aber man kann die Szene wohl dahingehend deuten, dass der imperiale Größenwahn, will heißen: die zeitgenössische britische Politik in Indien, auf politischer Heuchelei und einer Eitelkeit beruht, die nur durch ihre theatralische Selbstinszenierung überzeugt – und die als genau solche auch aufgedeckt werden soll. Die Spiegelszene ist in den neuesten Studien zu Sardanapal untersucht worden. Die Scheiterhaufenszene dagegen ist erstaunlicherweise nicht so gründlich behandelt worden – mit einer kürzlich erschienenen Ausnahme, auf die ich noch eingehen will. Für mich ist dieser Umstand erstaunlich, weil das Finale die Kulmination der theatralischen Show des Stückes und deshalb – wie ich hier in Übereinstimmung mit anderen Kommentatoren gezeigt habe – ganz entscheidend ist. Die Scheiterhaufenszene ist grauenvoll und gewaltig und gewaltig theatralisch – auch innerhalb des eigenen Bedeutungsrahmens des Stückes ein melodramatisches grand spectacle. Sardanapal tritt als sein eigener Regisseur auf, er inszeniert den Anblick, der sich den in den Palast einfallenden Feinden bieten  









16 Lord Byron: Sardanapalus (Anm. 3), S. 88.  



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soll – so wie auch Byron die Szene entwirft, die das Publikum mit Schauder und Entsetzen überwältigen soll. Sardanapal gibt in einer längeren Szene genaue Anweisungen, wie und mit welchen visuellen Effekten der Scheiterhaufen über dem Thron errichtet werden soll, und beschwört in seinem letzten Monolog nichts geringeres als die Ewigkeit als Augenzeuge bei seinem und Myrrhas Flammentod (V,I):  

and the light of this / Most royal of funeral pyres shall be / Not a mere pillar forme’d of cloud and flame […] but a light / to lesson ages […] Time shall […] Sweep empire after empire, like this first / Of empires, into nothing; but even then / Shall spare this deed of mine, and hold it up / A problem few dare imitate, and none / Despise – but, it may be, avoid the life / which led to such a consummation.17  

VII Sardanapal als Show und Vorstellung Die Regisseure, die Byrons Schauspiel auf die Bühne brachten, übersahen nicht die Möglichkeiten, die in dieser im wahrsten Sinne des Wortes glühenden Abschlußszene ruhen. Byrons Text enthält, wie alle dramatischen Texte, die natürliche Doppelheit, als Text gelesen werden zu können und zugleich eine Vielzahl von Dialogen und Regieanweisungen zu sein, die eine Aufführung implizieren bzw. ermöglichen. Byron hatte nicht unbedingt eine Aufführung im Sinn, als er sein Drama verfaßte, wenn man seinen dahingeworfenen Bemerkungen Glauben schenken darf, aber die Theatergeschichte holte den Autor ein, und so wurde Sardanapal nach Byrons Tod 1824 in einer Linie mit seinen anderen Theaterstücken (Marino Faliero, The Two Foscari, Cain) aufgeführt. Aus dieser Perspektive sollte die Analyse von Sardanapal auch seine Aufführungsgeschichte einschließen, oder – salopp gesagt – die Bedeutung des Stückes generiert sich nicht nur aus dem Text, sondern auch aus der Aufführung und als große Begebenheit der Kulturgeschichte. Außerdem kann man behaupten, dass das Schauspiel mit seiner zentralen Thematisierung des Performativen und der Selbstinszenierung seiner Hauptfigur das Interesse für seine eigene Performanz als Theaterstück befördert. Die Aufführungsgeschichte von Sardanapal ist die Geschichte eines im Verlaufe des 19. Jahrhunderts wachsenden Publikumserfolgs und verstärkter kommerzieller Bemühungen der Produzenten, die bei ihren Inszenierungen auf bühnentechnische Effekte setzten, nicht zuletzt im grand spectacle des letzten Akts mit seinen lodernden Flammen und dem einstürzenden Palast. Proportional  





17 Ebd., S. 163 f.  



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hierzu wurde Byrons viereinhalbstündige Version auf gut zwei Stunden zusammengekürzt. Berühmte Aufführungen waren, neben der von 1834 im Londoner Royal Theatre an der Drury Lane, die Inszenierung durch Charles Keans 1853 im The Royal Princess᾿ Theatre, bei der die archäologisch genaue Bühnenausstattung große Bewunderung hervorrief, sowie nicht zuletzt die große Inszenierung im New Yorker Booth’s Theatre von 1876 im Rahmen der Feierlichkeiten zum hundertjährigen Gründungsjubiläum der Stadt. Der Theaterhistoriker Andrew Stauffer schreibt: „In Sardanapalus, the great conflagration is literally the showstopper, and this special effect became more elaborate and realistic with each revival until it reached a kind of culmination in the 1876 New York production“.18 Nach der Premiere, so führt er aus, äußerte der Theaterrezensent des New York Herald in seiner Kritik: „[T]he play was hacked to pieces […]. What we had, from beginning to end, was spectacle and ballet. It was ‘The Black Crook’ or ‘White Fawn’ [vermutlich zwei bekannte Melodramen oder Pantomimen – M.-L.S.] woven together with fragments of Byron’s rhetoric“.19 Aber auch wenn diese Besprechung kritisch ausfiel, so war die Inszenierung doch ein Publikumserfolg. Das Stück lief 116 Mal und war so bekannt und wurde so lebhaft diskutiert, dass es im darauffolgenden Jahr zu einigen Sardanapal-Parodien auf kleineren Bühnen kam. Byrons Schauspiel hat also eine Aufführungsgeschichte, die – so scheint mir – zeigt, wie die damalige dramatische Kunst generell in eine umfassendere Medien- und Publikumssituation eingelagert ist, und die auch zeigt, wie die kulturelle Bedeutung, Dekodierung und Wirkung eines Bühnenstückes wie Sardanapal in diesem größeren Kontext gesehen werden kann. Es ist deutlich zu erkennen, dass Sardanapal im Laufe der Zeit von einer starken melodramatischen Konvention vereinnahmt wird und dass das Publikum das Stück durch die Anziehungskraft und die Wirkungsmittel des Melodramas wahrnimmt. Aber man kann meiner Meinung nach auch mit ebenso großer Berechtigung behaupten, dass Byron selbst die melodramatische Karte ausspielt und sie mit den anderen raffinierteren, Macht, Geschlecht und Performanz betreffenden Trümpfen mischt. Der Schrecken und Schauder der Abschlußszene ist demnach von Anfang an so von Byron gewollt, und Byron war eindeutig darauf aus, seine Zuschauer in lustvollem Grauen an den Anblick des Flammentodes und eines in Trümmer fallenden Imperiums zu fesseln. Dieses Ende ist so melodramatisch, wie es nur sein kann.  





18 Andrew M. Stauffer: Sardanapalus, Spectacle, and the Empire State. In: Matthew J. A. Green u. Piya Pal-Lapinski (Hrsg.): Byron and the Politics of Freedom and Terror. Basingstoke u. a. 2011, S. 36. 19 Ebd., S. 37.  





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Aber liest und dekodiert man Byrons orientalisches Drama in seinem vollständigen Zusammenhang, dann sagt es etwas vollkommen anderes als die populären Melodramen, die den britischen Einsatz im Nahen wie im Fernen Osten schilderten. Diese Stücke feierten und legitimierten das britische Imperium mit Appellen an die Volksidentifikation. Byron zeigt im Gegensatz dazu den performativen Charakter der imperialen Identität, seine Krise und seinen Zusammenbruch. Es fällt auf, dass sich le grand spectacle in der Abschlussszene von Sardanapalus und eine entsprechende Szene in William Barrymores El Hyder aus dem Jahr 1818, einem zeittypischen Militärstück, zum Verwechseln ähneln. Barrymores Melodrama handelt von einem Sieg des englischen Militärs im indischen Mysore. In der Schlussszene stürmen britischen Soldaten unter gewaltigen Explosionen und fallenden Mauern die brennende Festung des Despoten von Mysore. In Sardanapal steht der Palast um den letzten Despoten herum in Flammen. Ersteres glorifiziert den britischen Imperialismus, letzteres dagegen stellt die selbstinszenierte Heuchelei des Imperialismus bloß. Doch mit der gattungsbedingten Ähnlichkeit ging Byron das Risiko ein, (das ihn dann auch in gewissem Sinn einholte,) dass das Medium die Botschaft wurde. Aus dem Dänischen übersetzt von Dr. Hartmut Mittelstädt

Angela Esterhammer

Improvisation, Speculation, and Mediality The Late-Romantic Information Age In 1824, two prominent London periodicals, the New Monthly Magazine and the weekly Literary Gazette, carried a report from a foreign correspondent about a sensational performance that had taken place in Paris shortly before. The young poet Eugène de Pradel had fulfilled his promise to improvise an entire versedrama before a large audience that responded to this virtuoso spectacle with enthusiastic applause: It is now some time since M. Eugene Pradel, a young poet of talent and peculiar facility, announced that he should improvise in French verse before a public company. This advertisement was generally considered as a mere joke:—Improvise French verse,—conquer the difficulties of prosody—of rhyme, extempore, and before a numerous auditory!—the project appeared prodigious and presumptuous. The trial was, however, made last month; and the most unbelieving were convinced that M. Pradel was not only no charlatan, but possessed the extraordinary faculty of improvisation. The subject, drawn by chance from lots in an urn, was Columbus, which he adopted without a moment’s hesitation; and announced that he should endeavour to describe the misfortunes of that grand homme, loaded with irons, on his return from America. […] These lines excited an unanimous burst of enthusiastic approbation; and the applause was continued to the end of the improvisation, which was sustained with equal force and beauty to the last.1

This review appeared in the market-leading English literary magazine just at a point when the phenomenon of publicly improvised oral poetry reached a peak of popularity in London, Paris, and major German cities. The performance genre it describes is typical of the 1820s, in other words, but so is the magazine article itself, with its enthusiastic mediation of Continental happenings to English readers and its ambitious attempt to capture a spontaneously improvised drama – in other words a unique, ephemeral, im-mediate spectacle – in the form of a printed text. The review seeks to accomplish this feat of remediation from live performance into print by describing the theatrical setting, summarizing the plot of the improvised tragedy, and quoting two passages of French verse uttered by Pradel that were presumably recorded by a stenographer on the spot. In the early nineteenth century, many performances of extemporized poetry were reviewed internationally in magazine and newspaper articles that included elaborate summaries of the  



1 New Monthly Magazine 12 (1 September 1824), p. 400.  



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content and extensive quotations from the improvised text. Frequently, improvised poetry was published in book form following the performance – and the resulting books were again reviewed in literary magazines. But there are telling differences between witnessing such a performance and reading a review of it: while the audience participates in a public spectacle in a crowded theatre, where the relentless pressure of time governs the compositional process and the listening experience, the printed review offers an experience of solitary reading where one can stop, skip, leave, return, and re-read at any time. Magazine and newspaper readers thus experience the ephemeral performance in a totally different form, as remediation into print achieves the transmission across space and preservation over time that might today be accomplished by simulcasting or recording. There is, in effect, more than one kind of improvisation at work in this magazine item. While Pradel improvises his poem, the reviewer improvises a way of capturing Pradel’s innovative performance in print, and the New Monthly Magazine as a whole rises to the challenge of keeping its readership informed about a diverse and dynamic cultural sphere. The improvisational process involved in reacting nimbly to a topic drawn (as the reviewer notes) “by chance” and the pressure of being continually subject to the immediate approval or disapproval of the public are conditions shared by the performer and the journalist. Both the improvvisatore and the New Monthly Magazine, moreover, operate within a climate of speculation, engaging in ventures that can bring notable success or spectacular failure, as Pradel demonstrates by his “prodigious and presumptuous” promise “to improvise publicly, in French, something very extraordinary, – a Tragedy in five acts, and a grand Opera in three acts.”2 I would like to propose that the conditions of speculation, improvisation, cultural mobility, and medial reflection – as demonstrated here by Eugène de Pradel’s performance and by the internationally networked magazines that record and disseminate this ephemeral performance genre – may prove to be especially useful paradigms for studying British culture during the 1820s. Although English literary history traditionally extends the Romantic period to the politically significant date 1830 or 1832, literary-cultural activity after about 1820 differs dramatically from the preceding decades and demands interpretative paradigms other than those of high Romanticism. “Standard histories of English poetry do not very well know what to make of the 1820s” writes Herbert Tucker, going on to describe this decade as “a no-man’s land that no one is fighting for”.3 Virgil Nemoianu  







2 New Monthly Magazine 12 (1 May 1824), p. 208. 3 Herbert F. Tucker: House Arrest: The Domestication of English Poetry in the 1820s. In: New Literary History 25 (1994), pp. 521–548, here pp. 521–522.  







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even laments that “the 1820s and 1830s seem an embarrassment to the historian of English literature”.4 In his revealingly titled books The Taming of Romanticism: European Literature and the Age of Biedermeier (1984) and The Triumph of Imperfection: The Silver Age of Sociocultural Moderation in Europe, 1815–1848 (2006), Nemoianu influentially describes the culture of this era throughout Europe as dominated by loss, mediocrity, and “toned-down romanticism”.5 Recent studies and new approaches in book, theatre, and media history, however, challenge the notion of a toned-down, Biedermeier-dominated late Romanticism. Instead, they generate a profile of the 1820s as an era of proliferating information and medial transformation. Technological advances in steam printing and mechanized paper production had a substantial impact on the formats, genres, and above all the sheer amount of print material being produced and marketed. Researchers have begun to explore the multi-media cultural production that proliferated during the 1820s: magazines, newspapers, and other periodical forms; annuals or gift books, almanacs, and Taschenbücher; panoramas, dioramas, cosmoramas, and other experiments with light and movement; melodrama, burletta, and pantomime; public lectures, exhibits, and museums. Jonathan Crary puts forward the radical thesis that the “new valuation of visual experience” during the 1820s and 1830s “produced a new kind of observer” whom he conceives of in a Foucauldian manner as “an effect of an irreducibly heterogeneous system of discursive, social, technological, and institutional relations”.6 In parallel with Crary’s “new kind of observer”, literary critics and sociologists are studying the rise of new kinds of readers and major changes in the reading experience. Andrew Piper takes an important step toward a new understanding of late-Romantic mediality in his recent study Dreaming in Books: The Making of the Bibliographic Imagination in the Romantic Age (2009), where he shows how early-nineteenth-century printed books in Germany, France, Britain, and America altered readers’ ways of communicating, interpreting, and processing information. Piper emphasizes the “intermediality” of the Romantic book, its “engagement with a variety of non-print, non-book, and non-text practices and sites”.7 He also points to the under-recognized “transnationalism”

4 Virgil Nemoianu: The Taming of Romanticism: European Literature and the Age of Biedermeier. Cambridge MA 1984, p. 41. 5 Virgil Nemoianu: The Triumph of Imperfection: The Silver Age of Sociocultural Moderation in Europe, 1815–1848. Columbia 2006, p. ix. 6 Jonathan Crary: Techniques of the Observer: On Vision and Modernity in the Nineteenth Century. Cambridge MA 1990, pp. 14, 3, 6. 7 Andrew Piper: Dreaming in Books: The Making of the Bibliographic Imagination in the Romantic Age. Chicago 2009, p. 16.  





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of Romantic print culture, by which he means “similar trends taking place across different national spaces”.8 The transnational aspects of European culture during the 1820s – manifested, for instance, in the pan-European wave of enthusiasm for improvvisatori and by the international networks maintained by magazines and newspapers – deserve much more study in order to counter the still widespread assumption that post-Napoleonic culture developed along firmly domestic and nationalistic lines. What also demands to be explored in much more depth is the intensive reflection on mediality that takes place within the periodicals, performances, and fictional texts of the 1820s. The recent volume of essays edited by Clifford Siskin and William Warner, entitled This is Enlightenment (2010), generally contends that the Enlightenment and Romantic eras lacked a modern “media concept”. Yet increasingly compelling arguments are being made – even by contributors to Siskin and Warner’s collection – for the significance of media studies to Romantic-era thought. John Guillory, for instance, points out that the concept of mediation (Vermittlung) deriving from German idealist philosophy, particularly from Hegel, is crucial to the twentieth-century convergence of “medium” with “communication” and thus forms the basis of modern concepts of media and mediation.9 And even if the term “media” was not yet used in its modern sense, journalists and essayists of the 1820s frequently engage very explicitly in what we now call “media studies”. Through elaborate surveys, they keep track of the domestic, international, urban, and provincial circulation of newspapers and magazines, they speculate on who is reading which kinds of printed material, and they reflect in reviews and documentary articles on the evolution of performance genres and the venues in which they are presented. In English, moreover, the striking frequency and flexibility with which the word ‘performance’ is used during the early nineteenth century suggests that it might be considered the Romantic-era equivalent of a media concept. Around 1800, ‘performance’ had an equally broad but different range of meaning compared to its modern usage. Notably, it could refer to works in what we now call different media – for instance, to a painting, a novel, an essay, an exhibit, a sermon, or a building. To take a fairly typical example, during the first half of 1824 the London Magazine featured an item on the virtuoso performance of the young pianist Franz Liszt,10 reviewed a painting at the annual Royal Academy  









8 Ibid., p. 6. 9 John Guillory: Enlightening Mediation. In: Clifford Siskin and William Warner (Eds.): This Is Enlightenment. Chicago 2010, pp. 37–63, here pp. 52–54. 10 London Magazine 9 (January–June 1824), p. 675.  







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exhibition as “a first-rate performance”,11 dismissed an expensively published travel narrative as “a performance [that] amounts to nothing”,12 critiqued a longwinded multi-volume description of Sicily as a “voluminous performance”13 and praised Schiller’s History of the Revolt of the Netherlands not only as a “performance” but (again transmedially) as a series of “living pictures”.14 This flexible use of the word ‘performance’ has the effect of directing attention toward the production and the reception of aesthetic objects. Whatever its medium, calling the work a performance suggests that it is an act of self-presentation on the part of its creator and simultaneously acknowledges the presence and significance of an audience. In addition to this emphasis on the performance-character of all aesthetic production, the 1820s media environment is characterized by a dense network of interactions between print media and performances, using ‘performance’ in the somewhat more restricted sense of theatrical presentations, exhibitions, lectures, and other live or staged events. Successful fiction and poetry was regularly and rapidly adapted for the stage; conversely, print media undertook extensive redaction of theatrical performances in the form of reviews, advertisements, printed play-texts, and song-sheets of music performed in the theatre. Such acts of remediation juxtapose the experiential character of live performance with the anticipatory or retrospective representation of the same performance in textual form. The conjunction of performance – a medium that implies presence and ephemerality – with print – a medium that implies distance and permanence – creates a dialectic between visuality and text, embodiment and distance, immediacy and deferral. It also brings about an awareness of how writers and performers interact with readers and audiences differently in different media. As printed books and digital media do today, print and performance media during the 1820s evolved a semi-competitive, semi-cooperative relationship as both sought to adapt rapidly to market conditions and consumer demand. In the course of this active dialogue between print and performance, both types of media adopt and adapt one another’s conventions and practices. As literary magazines and fictional texts reproduce the content or themes of performances, they also imitate performative modes of communication. During the 1820s periodical writers often become performers by adopting increasingly elaborate fictitious identities. Blackwood’s Edinburgh Magazine, above all, initiated and  





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Ibid., p. 666. Ibid., p. 474. Ibid., p. 389. Ibid., p. 58.        



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popularized this trend, which was avidly imitated by other upstart magazines in London and elsewhere. Contributors to Blackwood’s not only wrote under pseudonyms but developed these pseudonyms into elaborate ‘pseudo-persons’ with birthdates, physical characteristics, idiolects, and distinctive dispositions. Each of these pseudonymous personalities was available for use (and usurpation) by different real-world writers; the personalities could be imported from one magazine into another; they were not simply used as signatures but also represented as full-fledged dramatis personae who interacted with one another and with real people inside or outside the magazine. The creation of elaborate, idiosyncratic first-person narrators who purport to inhabit the same space as real-world readers is also a hallmark of fiction and poetry during the 1820s, as evidenced by Byron’s mock-epic Don Juan and novels by Walter Scott, James Hogg, and John Galt. What is notable about these fictional narrators is their simultaneous insistence on authenticity and on theatricality, a paradox often enacted in bizarre metafictional border-crossings between the world within the novel and the actual world of print culture in Edinburgh or London. Print and performance media also imitate one another in developing interactive relationships with readers or audiences. Readers gain an active role in the production of literary magazines by contributing poetry, articles, and letters to the editor, and many magazines respond directly to their readers by including a regular section entitled “Notes to Contributors” at the beginning or end of every issue. Editors use this section as a strikingly public channel for private communications with individual contributors, accepting or rejecting readers’ submissions and offering serious or sarcastic suggestions for improvement. The popularity of serial publication (i.e., fiction published in monthly instalments) gives rise to another form of feedback from readers as they begin to try to influence the outcome of stories between one instalment and the next. This rapprochement of readers and writers in periodical culture is closely related to the periodicals’ intense awareness of their economic dependence on the market. “We must look to the public for support”, admits the late-Romantic writer William Hazlitt in 1823. “We exist in the bustle of the world, and cannot escape from the notice of our contemporaries. We must please to live, and therefore should live to please”.15 While Hazlitt regards this need to adapt to the market as an opportunity for creativity and healthy experimentation, James Mill, writing almost simultaneously in the Westminster Review, is much more negative about the dependence of periodicals on readers’ opinions and “the applause of the

15 William Hazlitt: The Periodical Press. In: The Complete Works of William Hazlitt. Ed. P. P. Howe. Vol. 16: Contributions to the Edinburgh Review. London 1931, pp. 211–239, here p. 220.  



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moment”;16 Mill fears that this market dependence cannot be reconciled with the traditional responsibility of literature to educate the public and correct its taste. Whether they respond to these conditions positively or negatively, 1820s magazines and literary texts display an awareness of the need to adapt nimbly to changing conditions and a concomitant fascination with improvisational modes of thinking and writing. As I suggested at the outset, one way in which this fascination manifests itself is in print culture’s engagement with improvisation as a performance phenomenon. The popularity of improvising poets hit its peak in the mid-1820s, when widely publicized international tours by Italian improvvisatori such as Tommaso Sgricci generated imitators who extemporized poetry in other languages – Eugène de Pradel in French, Oskar Ludwig Bernhard Wolff in German, Willem de Clercq in Dutch, Theodore Hook in English. Magazines such as London’s New Monthly, the Parisian L’Étoile, and the Morgenblatt für gebildete Stände increased their reviewing and documentary coverage of improvisational performances, while writers and publishers seized the moment to produce poetry and novels inspired by the figure of the improviser. The career of the popular English poet Letitia Elizabeth Landon, for instance, was launched in 1824 with a debut publication entitled The Improvisatrice and Other Poems. In print as in performance, improvisation becomes the figure for a new relation to time, contingency, and audience demand. This improvisational mode takes on ideological relevance in an age of rapid developments in technology, media, and urban culture, when the spontaneous adaptability represented by the improviser becomes a key to successful relationships with audiences and interventions in the market. The market-consciousness of the 1820s has other crucial implications that can be brought into focus, I would suggest, using the intertwined concepts of speculation, specularity, and the speculative. Although the word ‘speculation’ is notably prevalent and provocatively ambivalent during the 1820s, it has as yet barely been noticed as a critical principle. According to the Oxford English Dictionary, by the late eighteenth century ‘speculation’ had already acquired a range of somewhat contradictory meanings, from “visual observation” and “profound study or contemplation” to “hypothetical reasoning” and “mere conjecture”. After 1800, ‘speculation’ also begins to refer to financial activity “of a venturesome or risky nature, but offering the chance of great or unusual gain” (OED). During the post-Napoleonic years this multivalent term occurs with increasing frequency in the context of a booming investment economy and the ensuing  

16 James Mill: Periodical Literature. In: Westminster Review 1 (1824), pp. 206–249, here p. 207.  



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financial crisis of the mid-1820s. Post-war prosperity combined with a lowering of interest rates on traditional Bank of England bonds prompted investors to seek higher-risk and higher-return investments in such ventures as canals, railways, mining companies, and foreign government bonds, especially in South and Central America. The financial crisis that collapsed an inflated British stock market in 1825 has been well documented in print-culture studies because it caused the failure of major publishers, changing the landscape of the British book trade in ways that had permanent effects on publishing and reading practices. Yet little attention has been paid to the role of speculation itself – financial, intellectual, imaginative, and visual – as a defining condition of 1820s culture. The word ‘speculation’ becomes demonstrably more frequent in English texts over the period from 1750 to 1850 and reaches a peak around 1830, suggesting that literature and print media are processing the psychosocial effects of the roller-coaster economy with reflections on risk-taking, individual agency, and the volatility of public opinion. Speculation takes a variety of forms in the literary field, including daring experiments with genre and bizarre intersections between real and fictional worlds. ‘Speculative fiction’ in the modern sense of science fiction, futuristic fiction, and alternative histories also has its origins in this decade, for instance with Mary Shelley’s apocalyptic The Last Man (1826) or Walter Scott’s Redgauntlet (1824), a historical novel about a ‘historical’ event that never took place. In other fictional genres, the narrator self-consciously assumes the position of a speculator in the sense of a spectator or observer who comments on social behaviour in a pseudo-anthropological style, as in the high-society novels written by Theodore Hook (who was, not insignificantly, a renowned improvvisatore). Still other texts, such as John Galt’s novel Sir Andrew Wylie (1822), depict protagonists as speculators seeking to increase their own standing in the socio-economic marketplace through careful observation, risk-taking, and capitalizing on opportunities. Literary speculation during the 1820s also involved ‘book-making’ in the usually pejorative sense of repackaging previously published material in new formats in order to make unjustified profits, a practice of which writers (up to and including Goethe) were frequently accused by critics and reviewers.17 Anthologies of poetry and quotations, texts that first appeared in serial format in magazines and were then reissued as novels, and book series that reprinted popular fiction titles all flourished during the 1820s. So, for that matter, did forgery – as illustrated by the notorious Walladmor, a novel produced on commission by the German writer G. W. H. Häring (Willibald Alexis) for the purpose of being fraudulently marketed at the Leipzig book fair of 1824 as a  





17 Piper: Dreaming in Books (note 7), p. 31.  



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German translation of the latest novel by Walter Scott. Whether in fictional worlds or in the real-world literary marketplace, speculation manifests itself in risktaking behaviour, in attempts to capitalize on market opportunities, and in a palpable awareness that value is ephemeral and vulnerable to volatile forces beyond the control of the individual writer or protagonist. Despite the recent increase in attention to the 1820s within English literary studies, we still lack paradigms and critical approaches that would define the distinctiveness and significance of this era rather than see it as a belated, imperfect echo of High Romanticism. I am suggesting that such paradigms might be found in the decade’s obsession with speculation, improvisation, and performance – with the full range of meanings that each of those terms carries – as well as in the international and intermedial mobility of information. Whereas the 1820s have traditionally been neglected by literary history as a superficial, market-driven, purely transitional age, such a reorientation in perspective might allow this decade to emerge as an era that, precisely because it is self-consciously market-driven, reveals the emergence of modern media relations. The apparently ephemeral forms of expression typical of the 1820s – periodicals and literary magazines, non-traditional stage performances and spectacles, popular novels and serialized fiction – experiment with the boundaries between verbal and visual experience, highlight the effects of media and mediation, and concede more active roles to the reader or viewer. The late-Romantic decade might thus be re-defined and re-interpreted as an ‘age of information’ as well as an ‘age-information’, a time when literature thematizes and reflects on rapid changes in the conditions of communication.  







Joachim Schiedermair

Medien des Ewigen Zur Schnittstelle von idealistischer Ästhetik, Phrenologie und Literatur (Hegel, Otto, Goldschmidt)1

I Skopisches Begehren Geoffrey Batchen hat den Begriff ‚skopisches Begehren‘2 geprägt, um die Besessenheit zu charakterisieren, mit der sich das 18. und 19. Jahrhundert für optische und visuelle Phänomene interessierte. Spuren dieser Besessenheit finden sich in dem genannten Zeitraum allenthalben – in der Gartentheorie, in den Kunstformen der Attitüde und des tableau vivant, im Melodrama, in den optischen Spielereien des Claude-Glases, des Panoramas (patentiert 1787), des Kaleidoskops (erfunden 1817) und des Stereoskops (erfunden 1838), aber auch in ganzen Diskursfeldern, wie der Definition von Weiblichkeit, Natur oder Erkenntnis.3 In meinem Beitrag möchte ich zwei weitere Phänomene des skopischen Paradigmas im Zeitalter der Romantik skizzieren: die Phrenologie und die Porträttheorie. Phrenologie ist die Lehre von der notwendigen Verbindung zwischen der Form des Kraniums und des Charakters einer Person, so dass man das eine am anderen ablesen kann. Als Wissenschaft hatte sie ihre Blütezeit an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Sie ist ein Spezialdiskurs der Physiognomik, weshalb ich die beiden Begriffe über weite Strecken synonym behandeln werde. Hatte die Physiognomik – etwa in Lavaters Physiognomischen Fragmenten (1775) – alle „Züge, Umrisse, alle passive und active Bewegung, alle Lagen und Stellungen des menschlichen Körpers; alles, wodurch der leidende oder handelnde Mensch unmittelbar bemerkt werden kann, wodurch er seine Person  









1 Es handelt sich bei diesem Beitrag um eine Übersetzung mit kleineren Erweiterungen des folgenden ursprünglich norwegischen Aufsatzes: Joachim Schiedermair: Hodeskallens estetikk: mellom idealistik estetikk og frenologi. In: Tijdschrift voor Skandinavistiek 28 (2007) H. 1, S. 41–62. 2 Geoffrey Batchen: Burning with Desire. The Conception of Photography. Cambridge (Mass.), London 1997. 3 Eine Auswahl dieser Phänomene behandeln die beiden sehr informativen Anthologien: Erik Østerud (Hrsg.): Den optiske fordring. Pejlinger i den visuelle kultur omkring Henrik Ibsens forfatterskab. Århus 1997. – Elin Andersen u. Karen Klitgaard Povlsen (Hrsg.): Tableau. Det sublime øjeblik. Århus 2001. – Zum Konnex von Weiblichkeit und Visualiät siehe: Joachim Schiedermair: (V)erklärte Gesichter. Zum Porträtdiskurs in der Literatur des dänisch-norwegischen Idealismus. Würzburg 2009.  





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zeigt“,4 zum Gegenstand, so begrenzt die Phrenologie das Repertoire relevanter Zeichen auf die Ausbeulungen des Schädels. In der Überzeugung, dass sich das Innere im Äußeren wahrheitsgemäß ausdrückt, überschneidet sie sich mit der Forderung, die die idealistische Ästhetik an gelungene Kunst stellt. Am deutlichsten wird die Überlappung, wenn man sich auf die Porträtkunst beschränkt, weil sie denselben Gegenstand wie die Phrenologie behandelt. Was die Malerei verwirklichen soll, hat sich in der Ausformung des Schädelknochens zumindest teilweise bereits realisiert. Im Folgenden soll die dänische Variante dieses Schnittpunktes von Naturwissenschaft und idealistischer Ästhetik skizziert werden. Das Ziel dieser Untersuchung ist jedoch literaturwissenschaftlich; mit Hilfe der Phrenologie- und Porträttheorie soll die Logik einer Erzählung mit dem Titel Fotografierne og Mefistofeles (dt.: Die Fotografien und Mefistofeles) rekonstruiert werden, in der ihr Autor Meïr Aaron Goldschmidt – einer der Zentralfiguren des dänischen literarischen Feldes im 19. Jahrhundert – die ikonischen Voraussetzungen der Physiognomik kritisch behandelt. Insofern lässt sich mein Beitrag als ein Plädoyer für eine Romantik-Forschung lesen, die sich gerade am Schnittpunkt der Disziplinen ansiedelt, um am Rande der (geographischen, temporalen, thematischen) Zentren nach neuen Perspektiven zu suchen, und als Plädoyer für eine Literaturwissenschaft, die ihren Gegenstand selbstbewusst als Reflexionshandeln begreift, als Schauplatz der Kultur, auf dem „die Vor- und Nachgeschichte von Begriffen, Theorien und Konzepten zur Sprache [kommt], die konfliktreiche Genese kultureller Deutungsmuster ebenso wie deren Durchsetzung in der sozialen Interaktion“,5 wie es Sigrid Weigel so passend ausgedrückt hat.  





II Phrenologie Das große Interesse an der Schädellehre war im 19. Jahrhundert ein internationales Phänomen mit Zentren in Frankreich, England, den USA und kleineren Ablegern in Dänemark und Schweden.6 Ihren Ausgangspunkt nahm sie in Wien, wo  

4 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe. Eine Auswahl mit 101 Abbildungen. Hrsg. v. Christoph Siegrist. Stuttgart 1984, S. 22. 5 Sigrid Weigel: Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München 2004, S. 64. 6 Eine Übersicht bietet: Roger Cooter: The Cultural Meaning of Popular Science. Phrenology and the Organization of Consent in Nineteenth-Century Britain. Cambridge 1984. – John D. Davies: Phrenology Fad and Science. A 19th Century American Crusade. New Haven 1955. – Sten Lindroth: Frenologens hämnd. Gustaf Magnus Schwartz om Berzelius. In: Lychnos (1973/74), S. 235–239. –  











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der Arzt am Hospital für Wahnsinnige, Franz Joseph Gall (1758–1828), 1791 eine erste umfassende Schrift zur Kraniologie (Schädellehre) oder Organologie herausgab.7 Der zweite Ausdruck bezieht sich auf die Segmentierung des Gehirns in verschiedene Bereiche, die Gall Organe nannte; wie die Organe des Körpers je für sich begrenzt sind und je eine charakteristische Funktion im Körperganzen ausführen, so nahm Gall an, dass sich auch das Gehirn aus abgrenzbaren Teilen zusammensetzt, die bei der Bildung des Charakters eine je spezifische Aufgabe zu erfüllen haben. Den Namen Phrenologie führte erst sein Mitarbeiter Johann Kasper Spurzheim (1776–1832) ein. Die Wortneuschöpfung referiert auf das griechische phrén (Seele oder Verstand), womit sich Spurzheim von einem materialistischen Verständnis der Kraniologie absetzen wollte. Nicht der Schädel gebe den Charakter vor, vielmehr sei der Knochen auf eine Weise geformt, dass er einen vorgegebenen Charakter behausen könne. Der Schädel sei also das Epiphänomen, das sich nach der Seele richte. Dabei fällt bereits auf, dass die Begriffe Seele und Charakter in der Phrenologie identisch benutzt werden, was einen anthropologischen Dualismus von materiellem Körper und geistigen Eigenschaften impliziert, wobei das Gehirn die Rolle eines Mediums des Geistes spielt (Medium im dreifachen Sinne von Schrift, Übermittler und Mittelteil). 1802 verbietet die österreichische Regierung, dass Weiteres zur Phrenologie publiziert und gelehrt werde. Begründet wurde das Verbot damit, dass die Schädellehre eine Gefahr für die Religion darstelle, wie sich Gall ausdrückt. In Gefahr war wohl weniger der österreichische Katholizismus, als vielmehr die Freiheit des menschlichen Willens. Zwar wehren sich Gall und Spurzheim dagegen, dass man aus ihren Thesen einen Determinismus ableiten müsse, doch so eindeutig liegt die Sache selbst bei den Verteidigern der Phrenologie nicht.8 Wie dem auch sei, 1805 begeben sie sich auf eine phrenologische ‚Tournee‘, die sie unter anderem auch nach Kopenhagen führt, wo sie von September bis November einige privat organisierte Vorträge halten. Schließlich lassen sie sich in Paris nieder, wo man der Phrenologie mit großem Interesse begegnet. Und von dort aus verbreitet sie

Sigrid Oehler-Klein: Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts. Zur Rezeptionsgeschichte einer medizinisch-biologisch begründeten Theorie der Physiognomik und Psychologie. Stuttgart, New York 1990. 7 Der Name der Schrift ist „Des Herrn Dr. F. J. Gall Schreiben über seinen bereits geendigten Prodromus über die Verrichtung des Gehirns der Menschen und Thiere an Herrn Jos. Fr. v. Retzer“. Sie kam 1798 in der Zeitschrift Neuer deutscher Mercur heraus. 8 Carl Otto, der dänische Vertreter der Phrenologie, von dem im Folgenden berichtet wird, meinte z. B., dass die Väter der Schädellehre in Sachen Willensfreiheit ihren eigenen phrenologischen Grundsätzen widersprächen: Carl Otto: Phrænologien eller Galls og Spurzheims Hjerne- og Organlære i fuldstændig Oversigt og i senere Fremskridt med Bidrag til dens nøiere Kundskap og Stadfæstelse. Kopenhagen 1825, S. 346–347.  



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sich rasch nach England und in die USA. Überall werden phrenologische Gesellschaften und Zeitschriften gegründet, Schädelsammlungen angelegt und Polemiken geführt. Ein schönes Beispiel für Letzteres liefert das folgende Gedicht aus dem Jahr 1821. Es stammt von George Combe, dem führenden britischen Phrenologen. Ihm wurde einmal der Abguss eines Schädels zur Untersuchung zugesandt, doch er durchschaute schnell den Versuch, ihn und seine Wissenschaft lächerlich zu machen. Es handelte sich nämlich um kein echtes Kranium, sondern um den Abguss eines Kohlkopfs. Leider liegt mir das Gedicht nur in einer dänischen Übersetzung vor: Der var en Mand i Edinburg, Tænk, hvilken Kløgt han fik! I Kjøkkenhaven gik han ned, Og kasted rundt sit Blik!

Es war ein Mann in Edinburgh, Denk Dir, welche Idee er hatte! In den Küchengarten ging er hinaus Und ließ seinen Blick schweifen

Og da han kasted Blikken rundt, Der Hviderødder var! „De Hov’der“ henrykt raabte han, „Med mit, skam! Lighed har!“

Und als er seinen Blick schweifen ließ Bemerkte er die Weißkohlköpfe! „Diese Köpfe da“, rief er entzückt, „sind – meiner Treu – dem meinen ähnlich!“

„Saa stor en Lighed sandelig, Att ingen Dødelig Kan skjælne Hvideroden der Fra Hovedet paa mig!“

„Wahrlich, so groß ist die Ähnlichkeit, Dass kein Sterblicher Den Weißkohl da unterscheiden kann Von meinem Kopf!“

Han rev en Hviderod da op, En Skal afstøbte sig, Til Combe sendtes den, „den var Af N. N. en Copie!“

Dann riss er einen Weißkohl aus, Fertigte einen Schädelabguss davon an, Den er Combe sandt, „dieser ist Von N. N. eine Kopie!“

Og paa min Ære! saa det var! Copien, truffen vel! Thi den og Spasen ene gikk Ud over Manden selv!9

Und meiner Ehre! So war es! Die Kopie, sie traf so gut! Denn sie und der Spaß gingen einzig und allein Über den Mann selbst hinaus!







Obwohl Gall und Spurzheim ihre Thesen bereits Ende 1805 auf einer Vorlesungstournee in Kopenhagen vorstellten, fasste die Phrenologie erst mit Carl Otto dauerhaft Fuß in der dänischen Hauptstadt und damit im sogenannten dänischen guldalderen (Goldalter; ca. 1800–1850). Otto war Professor für Pharmakologie und Rechtsmedizin in Kopenhagen und über die Maßen produktiv. Er publizierte u. a. Lehrbücher in den Fächern, die er unterrichtete, und eine Unzahl Artikel in  

9 George Combe, zitiert nach ebd., S. 32 f.  



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dänischen, französischen, deutschen und amerikanischen Büchern und Zeitschriften. Er hat selbst mehrere Zeitschriften herausgegeben, darunter Ny Hygæa (1823–1826), die sowohl belletristische wie populäre medizinische Artikel enthalten sollte. Mehr Erfolg hatte er mit der rein medizinischen Fortsetzung Hygæa und der Bibliotek for Læger (Bibliothek für Ärzte; 1828–46) und mit Tidskrift for Frenologie (Zeitschrift für Phrenologie), die er von 1827 bis 1829 in Quartalsheften herausgab und, soweit ich sehe, komplett selbst schrieb. Die Phrenologie stellte er erstmals 1822–23 in einer Vorlesungsreihe vor und legte 1825 mit Phrænologien eller Galls og Spurzheims Hjerne- og Organlære i fuldstændig Oversigt og i sine senere Fremskridt med Bidrag til dens nøiere Kundskab og Stadfæstelse (Phrenologie oder Galls und Spurzheims Hirn- und Organlehre in vollständiger Übersicht und in ihren späteren Fortschritten mit Beiträgen zu ihrer genaueren Kenntnis und Beglaubigung) ein dänisches Kompendium vor, mit dem sich seine Landsleute in ihrer Muttersprache über die Grundlagen und den Stand der Phrenologie informieren konnten. In seinen Memoiren10 berichtet er mit Stolz davon, dass sich das Buch gut verkaufte, und von dem Lob, das er unter anderem von dem Philosophieprofessor Frederik Christian Sibbern – einem der Protagonisten romantischer Philosophie in Dänemark – bekam.11 Im Hauptteil des Buches stellt Otto die verschiedenen Organe in einmal mehr, einmal weniger ausführlichen Kapiteln vor. Sein Inhaltsverzeichnis zeigt den Aufbau und die Zusammengehörigkeit der 35 Organe, eine Tafel am Ende des Buches ihre Lage (Abb. 1). Der Aufbau des Schemas folgt dem Aufbau des Hirns, das selbst als Aufstieg von den niederen Neigungen und Trieben (Tilbøieligheder og Drifter, Nr. 1–9) über die Gefühle (Følelser, Nr. 10–21) zu den intellektuellen Fähigkeiten (De intellectuelle Evner, Nr. 22–35) geordnet ist. Die ersten 13 Organe hat der Mensch mit dem Tier gemeinsam, die restlichen 22 sind nur ihm eigen. Zuunterst und damit ganz hinten unten im Gehirn steckt der Sexualtrieb (Nr. 1), wohingegen ganz vorne an der Stirn die höchsten Gaben, Reflexion (Sammenligningsevnen – Nr. 34) und kausales Denken (Causalitet – Nr. 35) liegen. Generell kann man also sagen, dass Menschen mit einer ausgeprägten Stirn eher geistig veranlagt sind, wohingegen Menschen mit starkem Hinterkopf ihren tierischen Trieben ausgeliefert sind. Die Nähe der Organe ist durch den Zusammenhang der jeweiligen Charakterzüge gekennzeichnet. So liegt etwa die Kindesliebe (Nr. 2)  























10 Carl Otto: Af mit Liv, min Tid og min Kreds. En autobiografisk Skildring. Hrsg. mit einer Nachschrift von Edgar Collin. Gedruckt als Manuskript für Freunde und Brüder. Kopenhagen 1879. 11 Otto verweist auf Sibberns Aand og Legeme (in Otto: Af mit Liv [Anm. 10], S. 208). Damit ist wahrscheinlich Om Forholdet imellem Sjæl og Legeme, saavel i Almindelighed som i phrenologisk, pathognomisk, physiognomisk og ethisk Henseende i Særdeleshed (Kopenhagen 1849) gemeint.  



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Abb. 1: Carl Otto, Schädel mit phrenologischer Einteilung der Organe, 1825.

direkt über dem Geschlechtstrieb (Nr. 1). Auch die Lust am Besitz (Nr. 8) liegt direkt neben der Lust am Verbergen (Nr. 9), beides essentielle Begabungen für einen Dieb oder Betrüger. Schon hierin deutet sich an, dass nicht die Organe an sich den Charakter bestimmen, sondern ihr Zusammenwirken und ihre relative  





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Größe zueinander. Deshalb kann Otto auch die feinsten Abstimmungen in der Beschreibung des Charakters wagen: Alle Dichter etwa haben ein stark ausgeprägtes Organ für Idealität (Nr. 20). Besitzt der Autor dazu ein ausgeprägtes Organ für das Wunderbare (Nr. 18) wird er Ingemannsche12 Lieder schreiben; zeichnet er sich durch einen übermäßig entwickelten Zerstörungstrieb (Nr. 6) aus, so produziert er shakespearsche Tragödien, u.s.w. Otto legt besonderes Gewicht darauf, dass es sich bei der Phrenologie um eine empirische Wissenschaft handelt. Bei der Ausarbeitung des 35-stelligen Systems sei einzig Beobachtung und Erfahrung ausschlaggebend gewesen. Die extremen Beispiele, in denen sich ein Charakterzug besonders deutlich zeigt, sind deshalb von besonderer Bedeutung, egal ob es sich um Genies oder Triebtäter handelt. Die Leserichtung ist für das empirische Vorgehen unerheblich. Entweder ist ein Charakter besonders auffällig und von ihm ausgehend wird nach der Kopfform gefragt; Oehlenschläger oder Klopstock sind zweifellos Dichter, und deshalb muss man bei ihnen nach Schädelerhebungen an den Schläfen (Organ für Idealität Nr. 20) suchen, der Kindsmörderin fehlt es offensichtlich an Kindesliebe (Nr. 2), und deshalb ist mit einer Abplattung am Hinterkopf auf Höhe der Ohren zu rechnen. Es kann aber auch der Schädel besonders eindeutig sein, so dass man von ihm ausgehend eine Hypothese über das Verhalten der Person aufstellen kann. In dem methodischen Gewicht, das die extremen Beispiele besitzen, ist das Interesse an pathologischen Fällen, an Wahnsinnigen, Mördern, Giftmischern begründet, das sich durch die gesamte phrenologische Literatur bis zu Cesare Lombrosos berüchtigtem L’Homme criminel (1887) zieht. Auch Ottos Studien profitierten von seiner Stellung als Anstaltsarzt des Tugt-, Rasp- og Forbedringshuset (Zucht-, Raspel- und Verbesserungshaus) auf Christianshavn, die er von 1826 bis 1845 innehatte und die er nach einem Angriff eines Gefangenen aufgab. Eine kuriose Folge des empirischen Eifers waren die Schädelsammlungen, die nach dem Tod der Sammler meist in den Bestand volkskundlicher Museen wanderten. Die größten Abguss- und Schädelsammlungen befanden sich in Paris (Gall) und Dresden (Carl Gustav Carus), doch auch in Stockholm (Gustaf Magnus Schwartz) und Kopenhagen (Carl Otto). Selbstverständlich war das Spektrum der ausgeprägten Organe in diesen Sammlungen limitiert, denn es standen ja fast ausschließlich die Schädel von geköpften Kriminellen zur Verfügung. Deshalb war Otto besonders am Haupt des Mörders Petri Claudius Worm interessiert. Denn hier hatte man es nicht mit einem hinterkopflastigen, tierischen Täter aus der  









12 Bernhard Severin Ingemann (1789–1862) ging u. a. durch seine historischen Romane in die dänische Literaturgeschichte ein; er gilt als derjenige, der als erster die Hofmannsche Phantastik in Skandinavien produktiv rezipierte. Viele seiner religiösen Gedichte sind noch heute im Gesangbuch der dänischen Kirche vertreten.  

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Unterschicht zu tun, sondern mit einem adretten 21-Jährigen aus guter Familie „med melankoli og fantasi, poetisk begavelse og religiøst instinkt“13 (mit Melancholie und Phantasie, poetischer Begabung und religiösem Instinkt) – also mit einem ‚klugen Kopf‘. Doch Worm verfügte, dass sein Schädel nicht in die Hände von Otto fallen dürfe. Dieser setzte sich über diesen Wunsch hinweg und ließ den Kopf in einer Nacht zwei Wochen nach der Hinrichtung ausgraben. Seine Leute wurden jedoch überrascht, ein Tumult entstand, weil der sympathische Mörder inzwischen zum Liebling des Volkes geworden war und man den Verdacht hegte, man wollte die Leiche stehlen, um sie heimlich in geweihter Erde zu bestatten. Der Polizeidirektor Kierulf vermutete Otto hinter dem Unternehmen und schützte ihn, sodass der Diebstahl (Waren die Organe 8 und 9 etwa besonders ausgeprägt bei Otto?) ohne rechtliche Konsequenzen blieb. „Hovedet er nu i mit frenologiske Museum“ (Der Kopf ist nun in meinem phrenologischen Museum) schreibt Otto in seinen Memoiren, „og i Kataloget over dette har jeg givet en fuldstændig Beskrivelse af dets frenologiske Organisation og Overensstemmelse med Hjerne-Organlæren […] sammenholdt med Morderens af Visbys Bog bekjendte Karakter og Handlinger“14 (und im Katalog habe ich eine vollständige Beschreibung seiner phrenologischen Organisation gegeben und die Übereinstimmung mit der HirnOrganlehre […] mit dem Charakter und den Taten des Mörders, wie sie aus Visbys Buch bekannt sind, verglichen).15 Die Phrenologie war also ein wissenschaftlicher Versuch, Menschenkenntnis zu systematisieren, mit dem letzten Ziel einer Kultursemiotik. Otto betont die vielfältigen Applikationsmöglichkeiten der Phrenologie. Von der Schädelbefragung führe ein direkter Weg zur Erklärung und Beschreibung der Religions-, Philosophie-, Rechts-, und Kunstvielfalt.16 Die Phrenologie war aber auch eine modische Spielerei.17 Man veranstaltete phrenologische Salons, bei denen die  

13 Worms Geschichte fasst Peter Tudvad zusammen. – Peter Tudvad: Kierkegaards København. Kopenhagen 2004, S. 68 f. u. 123–125. 14 Otto: Af mit Liv (Anm. 10), S. 207. 15 Gemeint ist das Buch, das Worms Beichtvater Visby nach der Hinrichtung herausgab. – Carl Holger Visby: Dagbog over mine Besøg hos Petri Claudi Ferdinand Emil Worm. Kopenhagen 1838. 16 Otto: Phrænologien (Anm. 8), S. 339–340. 17 Die phrenologische Mode überschneidet sich mit der Begeisterung für Lavaters Physiognomische Fragmente. Sie zirkulierten im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts besonders in Frankreich in zahlreichen Bearbeitungen zu populärem Gebrauch. So gab es etwa einen Lavater portatif oder Le Lavater des Dames, ou l’art de connaître les femmes sur leur physiognomie. – Michael Niehaus: Physiognomie und Literatur im 19. Jahrhundert. In: Rüdiger Campe u. Manfred Schneider (Hrsg.): Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen. Freiburg im Breisgau 1996, S. 411–430, hier S. 417. – S. a.: Hans-Rüdiger van Biesbrock: Die literarische Mode der Physiologien in Frankreich (1840–1842). Frankfurt a. M., Bern, Las Vegas 1978.  





























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Anwesenden untersucht wurden und mit Büsten verglichen wurden, auf die das Gallsche System aufgezeichnet war (Abb. 2). Auch die Abbildung in Svensk Familj-Journalen aus dem Jahr 1864 zeugt von einem breiten populären Interesse (Abb. 3). Hier werden die Zuständigkeiten der jeweiligen Organe mnemotechnisch geschickt in Bildern dargestellt. Auch auf Schnupftabakdosen findet man Abbildungen solcher Seelenkarten. Viel spricht dafür, dass man sie wie Spickzettel einsetzte, wenn man Bekanntschaft mit einem Fremden schloss. Denn nicht jeder hatte die Anordnung der 27 bis 35 Organe in gleichem Maße präsent wie Carl Otto, der schreibt:  



Abb. 2: O᾿Neil & Son, Büsten einer Frau und eines Mann mit gravierten phrenologischen Zentren, Edinburgh 1824, Gips, Staatliches Museum für Völkerkunde, Dresden.

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Abb. 3: Bebilderter phrenologischer Schädel, 1864.

Paa Dampskibe og i Koupeerne paa Jernbanerne indlod jeg mig aldrig med medreisende før jeg havde seet, hvorledes det stod sig med deres Godmodigheds-Organ, og jeg tog aldrig feil ved at følge Resultatet. Ogsaa har min Hustru aldrig fæstet Tjenestetyende uden først at lade mig se og undertiden beføle deres Hoveder, og Erfaringen stadfæstede mit Udsagn.18 Auf Dampfschiffen und in Eisenbahncoupes ließ ich mich nie mit Mitreisenden ein, bevor ich gesehen hatte, wie es um ihr Gutmütigkeitsorgan bestellt war, und ich tat nie fehl daran, dem Resultat zu folgen. Auch hat meine Frau nie Dienerschaft angestellt, ohne mich zuvor ihre Köpfe sehen zu lassen und sie manchmal zu befühlen, und die Erfahrung hat meine Aussage bestätigt.

18 Otto: Af mit Liv (Anm. 10), S. 209.  



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III Porträttheorie Dass die Phrenologie ein Interesse an der Porträtmalerei hatte, liegt nahe: Wie schon erwähnt hatte die Empirie ihre praktischen Grenzen in den zur Verfügung stehenden Untersuchungsobjekten; da nur die Schädel von geköpften Schwerverbrechern herangezogen werden konnten, gab es zwar keinen Mangel an ausgeprägten Hinterköpfen, aber an die Schädel der Stirnmenschen, an Goethes oder Michelangelos Kranien, war nicht zu kommen. Deshalb bezieht sich Otto wie seine Kollegen an vielen Stellen auf Porträts bekannter Persönlichkeiten oder verweist auf Galls Werk, in dem sie abgebildet sind. In der Verwendung von Scherenschnitten, Büsten oder Porträts unterscheiden sich Phrenologie und Physiognomik also nicht,19 weshalb ich mich im Folgenden auf einen Aufsatz von Gottfried Boehm beziehen kann, der das Verhältnis von Porträtkunst und Physiognomik in Lavaters Physiognomische[n] Fragmente[n] (1775–78) behandelt. Boehm argumentiert, dass die Anliegen von Physiognomik und Porträtmalerei völlig auseinander gehen. Lavater verfehle die Intention der Individualporträts, wenn er eine Charaktersemiotik auf sie appliziert. Behandelt er das Gesicht als Schriftstück, Nase, Augen, Stirn und Ohren als diakritische Zeichen, dann verweisen sie gerade nicht auf den Einzelnen als Individuum (also als Unteilbaren), sondern als Exemplar eines Typus – des Gelehrten, des Schwärmers, des törichten Menschen, des Künstlers, des Deutschen, des Türken, des Mohren. Der neuzeitlichen Porträtmalerei dagegen gehe es darum, „die Unvertretbarkeit eines Einzelnen mit ihren Mitteln zu formulieren“,20 indem sie ihn als eine Vielzahl von Eigenschaften darstellt, die um eine handelnde Mitte organisiert sind. Diese Handlungsfähigkeit garantiere eine gewisse Freiheit von den dargestellten Eigenschaften und öffne die Zukunft der Person auf Unvorhersehbares: „An jedem Punkt seiner Bahn“, schreibt Boehm, hat das Individuum „die Freiheit zur Umkehr, die Freiheit, anders zu sein“.21 Der Physiognom Lavater dagegen möchte den Abgebildeten durchschauen, d. h. er möchte  



19 An anderen Stellen gibt es entscheidende Differenzen. Geht Lavater genialisch und intuitiv urteilend vor, sieht sich Otto als Vertreter der Medizin und damit der sachlichen Wissenschaftlichkeit. Otto kritisiert auch das holistische Verständnis Lavaters, der von der Einheitlichkeit der Zeichen ausgeht. Das Auge zeige dasselbe wie die Nase. Otto betont dagegen, dass nicht die einzelnen Teile an sich bedeutungstragend seien, sondern nur durch ihre relative Größe und ihr Verhältnis zueinander. Ottos Kritik findet man z. B. in: Carl Otto: Phrenologien i sin practiske Anvendelse, især som Physiognomik. In: Tidskrift for Phrenologien. Erster Band (1827), S. 183–240. 20 Gottfried Boehm: ‚Mit durchdringendem Blick‘. Die Porträtkunst und Lavaters Physiognomik. In: Juerg Albrecht (Hrsg.): Horizonte. Beiträge zu Kunst und Kunstwissenschaft. 50 Jahre Schweizerisches Institut für Kunstwissenschaft. Zürich 2001, S. 81–90, hier S. 87. 21 Ebd., S. 89.  











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gerade die Offenheit des Menschen auf eine noch nicht entschiedene Zukunft eliminieren. Kein Wunder, hat er doch den Anspruch, die zeitlose Schrift des ewigen Gottes im Buch der Natur zu lesen. Boehm kann die Physiognomik deshalb auch „ein fortwährendes Gericht“ nennen. Der Physiognom nimmt den jüngsten Tag vorweg. Diese Charakterisierung ist sicher richtig und trifft in noch stärkerem Maße die Phrenologie und ihre in Aussicht gestellte juristische Nutzbarmachung: So versprachen ihre Befürworter eine vorbauende Kriminologie, die die potentiellen Straftäter noch vor ihren Verbrechen in Verwahrung nehmen könnte. Doch Boehms Beurteilung des Porträts kann ich nur in Grenzen zustimmen. Er beschreibt die tatsächliche Wirkung der Gattung und ihrer kulturgeschichtlichen Leistung: Das Porträt, wie wir es heute kennen,22 ist zweifellos sowohl Produkt wie Werkzeug des Autonomisierungsnarrativs des 18. und 19. Jahrhunderts. Zu einer anderen Einschätzung kommt man jedoch, wenn man nicht auf die Porträts selbst sieht, sondern auf die zeitgenössische Porträtästhetik, in der die Hoffnungen, die an das Porträt herangetragen wurden, eine rationale Form finden, bzw. in der sich das skopische Begehren der Zeit zu erkennen gibt. Wo sich die Ästhetiken des 19. Jahrhunderts über die Funktion des Porträts im Kanon der Künste äußern, ist eine erstaunliche Ähnlichkeit zu Physiognomik und Phrenologie zu entdecken. Liest man etwa, was Johan Ludvig Heiberg23 – der zentrale Hegelianer Dänemarks – über das Porträt sagt, stößt man auf dieselbe Analogie zum göttlichen Gericht, mit der Boehm so treffend das Anliegen der Physiognomik beschrieben hat.  



Kunstneren maa forstaae at holde Dommedag over dem [= de menneskelige Individer], og at lade Legemerne opstaae som forklarede Billeder. Han maa vide, at det ikke er Legemet, han maler, men Sjælen, thi Menneskets Billede er den synlige Sjæl […]. Portraitmaleren maa sætte sig ud over den gamle Fordom, at Sjælen er usynlig, og dernæst maa han fremfor Alle troe paa dens Udødelighed, og endelig maa han formaae at vise sin Tro af sine Gjerninger.24

22 Zur Geschichte des Porträts: Rudolf Preimesberger, Hannah Baader u. Nicola Suthor (Hrsg.): Porträt (=Geschichte der klassischen Bildgattungen in Quellentexten und Kommentaren, Bd. 2). Berlin 1999. – Gottfried Boehm: Bildnis und Individuum. Über den Ursprung der Porträtmalerei in der italienischen Renaissance. München 1985. 23 Zur Person Heibergs siehe die umfassende Übersicht: Jon Stewart (Hrsg.): Johan Ludvig Heiberg. Philosopher, Littérateur, Dramaturge and Political Thinker (=Danish Golden Age Studies, 5). Copenhagen 2008. 24 Johan Ludvig Heiberg: Om Malerkunsten i dens Forhold til de andre skjønne Kunster. In: Ders.: Prosaiske Skrifter, Bd. 2: Philosophiske Afhandlinger og Critiker. Kopenhagen 1861, S. 249– 350, hier S. 339.  









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Der Künstler muss es verstehen, Gerichtstag über sie [= die menschlichen Individuen] zu halten und die Körper als verklärte Bilder auferstehen zu lassen. Er muss wissen, dass er nicht den Körper malt, sondern die Seele, denn des Menschen Bild ist die sichtbare Seele […]. Der Porträtmaler muss sich über das alte Vorurteil hinwegsetzen, dass die Seele unsichtbar ist, und dann muss er vor allen anderen an ihre Unsterblichkeit glauben, und schließlich muss er das Können besitzen, seinen Glauben an seinen Taten zu zeigen.

Der Porträtmaler soll also ein göttliches Gericht über den Darzustellenden halten, und ihn sub specie eternitatis beurteilen. Heiberg bedient sich hier einer christlichen Ausdrucksweise, obwohl der dahinter liegend Gedanke dualistisch-neuplatonisch ist. Das Gericht ist bei ihm nicht eine ethische Angelegenheit, sondern eine Lösung der Seele (des Ewigen) vom Körper (als dem Ort des Zeitlichen). Dies sei ganz allgemein die Aufgabe der Kunst im Idealismus. Sie solle das Veränderliche, das Zeitliche als Ewiges zeigen, oder wie Heiberg es ausdrückt: Hvad der i vort virkelige Liv kun er et Savn, en Længsel, en Drøm, det skjænker Kunsten os som virkeligt, som opfyldt, idet den stiller os vore Idealer, d. e. vore Ønsker, for Øiet, og tillader os, umiddelbart at beskue og nyde dem. Men Gjenstanden for de Ønsker, som fortjene at kaldes Menneskehedens, er det Uforanderlige, det Evige.25  

Was in unserem wirklichen Leben nur ein Mangelempfinden, eine Sehnsucht, ein Traum ist, das schenkt uns die Kunst als wirklich, als erfüllt, indem sie uns unsere Ideale, d. h. unsere Wünsche, vor Augen stellt und uns erlaubt, sie unmittelbar zu betrachten und zu genießen. Doch der Gegenstand derjenigen Wünsche, die es verdienen, Menschheitswünsche genannt zu werden, ist das Unveränderliche, das Ewige.  

Kunst hat somit einen epistemologischen Zweck; sie soll das Ewige in einer sinnlichen Form kommunizieren. Für das Porträt bedeutet diese Forderung allerdings ein ästhetisches Dilemma. Will ein Bildnis als Kunst ernst genommen werden, darf es die Natur nicht einfach kopieren. Hegel schreibt pointiert, dass es Porträts gibt, welche „bis zur Ekelhaftigkeit ähnlich sind“,26 und er zitiert Kant, der sagt, dass Naturnachahmung (etwa die Imitation des bezaubernden Nachtigallenschlags) kein Kunstwerk, sondern nur ein Kunststück sei. Doch auf der anderen Seite muss ein Porträt dem Dargestellten ähneln, sonst wäre es nicht das Bild eines bestimmten, sondern irgendeines Menschen. Deshalb sei die Porträttheorie dazu gezwungen, ein inneres, unveränderliches Wesen anzunehmen, das der Künstler erkennen und auf Kosten der äußeren Ähnlichkeit herausarbeiten soll.

25 Ebd., S. 274. 26 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke, Bd. 13. Vorlesungen über die Ästhetik I. Hrsg. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1986, S. 67.  







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Dies wiederum bedeute zwangsläufig eine Abstraktion von den äußeren Körpermerkmalen. Die Offenheit des Individuums, auch anders sein zu können, als es sich im Moment zeigt, die Freiheit also, die Boehm – zu Recht – als konstitutiv für das autonome Porträt sieht, kommt in diesem ästhetischen Konzept nicht vor. Die gerade genannte Abstraktion von den Akzidenzien trifft auch auf das Vorgehen von Phrenologie und Physiognomik zu. Lavater scheidet explizit die Pathognomik (also das Interpretieren von Gestik und Mimik) aus der Physiognomik aus, weil ihre Zeichen zu zeitgebunden sind, und nichts über das unveränderliche Wesen der Person, sondern nur etwas über ihre momentane Befindlichkeit aussagen können. Die Phrenologen gehen nur einen Schritt weiter und weisen darauf hin,27 dass auch Haut und Haar, Muskeln und Fleisch zu sehr äußeren, veränderlichen Einwirkungen ausgesetzt seien, weshalb sie ihre Konzentration auf den ‚ewigen‘ Schädel beschränken, der nach dem Tod und unter Abzug aller Verwesung eine Art irdische Ewigkeit besitzt. Alle drei Herangehensweisen werden demnach von einem Begehren nach dem Ewigen angetrieben, das sich a) als Erkenntnis generiert, weshalb sie b) eine Abstraktion vom tatsächlich existierenden, die Zukunft durch Entscheidungen gestaltenden und damit sich selbst wandelnden Menschen in Kauf nehmen. Gemeinsam ist ihnen auch c), dass sie alle das Ziel über visuelle Techniken erreichen wollen. Der Unterschied liegt nur in der Methode. Was der Künstler genialisch im Rekurs auf ein inneres, geistiges Wesen entdecken soll, meint die Phrenologie empirisch am Knochen nachweisen zu können. Doch auch dieser Unterschied minimiert sich, wenn man sich erinnert, wie die Phrenologie dem Materialismusvorwurf begegnet ist. Sie sieht den Schädelknochen als Epiphänomen des Geistes, auf den sich auch die idealistische Ästhetik bezieht.  



27 Zur Nähe von Phrenologie und Lavaters Physiognomik schreibt Christoph Siegrist: „Lavaters Insistieren auf dem Schädelumriß erklärt seine Vorliebe für die Silhouette, wo jeder augenblicklich-spontane Ausdruck zugunsten der reinen Umrisslinie getilgt erscheint. An dieser lassen sich auch am einfachsten Messungen vornehmen: Lavater hat empirische Verfahren gegenüber der intuitiven Schau zwar vernachlässigt, aber nicht gänzlich ausgeschlossen, wie seine Erfindung eines Stirnmessinstruments […] beweist. Diesen Weg der empirischen Schädelmessung zur Charakterbestimmung hat wenig später Franz Joseph Gall mit seiner Phrenologie eingeschlagen.“ – Christoph Siegrist: Nachwort. In: Lavater: Physiognomische Fragmente (Anm. 4), S. 377–394, hier S. 383.  







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IV Goldschmidt Nach der Skizze dieser beiden Verfahren möchte ich nun in einem dritten Schritt noch einen zeitgenössischen kritischen Kommentar vorstellen und in seiner Logik rekonstruieren. Die Novelle Fotografierne og Mefistofeles (Die Fotografien und Mefistofeles) von Meïr Aaron Goldschmidt stammt aus dem Jahr 1863.28 In der Rahmenerzählung sitzen einige Mitglieder einer skandinavischen Künstlerklicke in Rom beim Wein beieinander. Einer der Anwesenden erwähnt, dass ihm etwas Besonderes passiert sei, was zum Erzählanlass der Binnengeschichte wird. „Det er hændt mig Noget, men hverken med Levende eller Døde. […] Det, som Noget er hændt mig med, er Fotografier“ (28 – Mir ist etwas zugestoßen, aber weder mit Lebenden noch Toten. […] Das, was mir passiert ist, ist mir mit Fotografien passiert). Und er legt Gewicht darauf, dass die ‚Geschichte‘ noch nicht fertig ist (28). Zunächst beschreibt er die Fotografien ausführlich, doch nicht als Bilder, sondern als Personen, die beieinander stehen, ohne miteinander in Kontakt zu treten. Da taucht Mefisto auf und bietet jedem Bild/jeder Person an, einen Wunsch zu erfüllen; er nimmt jedoch alle Abstrakta, wie Zufriedenheit oder Tugend, aus. Es müsse „noget Bestemt og Tydelig“ (etwas Bestimmtes und Deutliches) sein, „noget Endeligt, som en Filosof vilde sige“ (39 – etwas Endliches, wie ein Philosoph sagen würde). Alle nennen ihre Wünsche und bekommen von Mefisto einen Zettel überreicht, auf dem der jeweilige Preis genannt ist. Doch egal, was sich die Fotografien wünschten – den richtigen Geliebten oder einen wahren Freund, ein großes Kunstwerk zu schaffen, in Zukunft vom Teufel verschont zu werden – die Erfüllung des Begehrens kostet immer das Leben. Selbst auf dem Zettel des Zögerers, der nicht weiß, was er begehren soll, steht als Preis seiner Unentschlossenheit „Livet“ (das Leben). Der Erzähler beendet seine Geschichte mit der Quintessenz, „at hvad vi ville, koster Livet, og ikke at ville koster ogsaa Livet, og da det altid er samme Pris, som betales, kunne vi ligesaa godt ville det Største, som vor Natur er istand til at fatte og begære“ (45 – dass, was wir auch wollen, es das Leben kostet, und nicht zu wollen, kostet auch das Leben, und da es immer derselbe Preis ist, der bezahlt wird, können wir genauso gut das Größte wollen, das unsere Natur im Stand ist zu fassen oder zu begehren). Doch dann nimmt Goldschmidt wieder den Faden der Rahmenerzählung auf. Und sie wiederholt den Aufbau der Binnengeschichte. Nun wird nämlich der Erzähler genauso ausführlich beschrieben, wie er selbst zuvor die Fotografien beschrieben hatte. Als sein Objekt des Begehrens wird eine der Frauen, die auf den Porträtfo 









28 Der Text ist Teil des Novellenkreises Hvorledes man fortæller i Rom. Zitiert wird nach: Meïr Aaron Goldschmidt: Poetiske Skrifter, Bd. 6. Hrsg. von seinem Sohn. Kopenhagen 1897, S. 25–47.  



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tografien abgebildet waren, genannt. Das Ende der Novelle legt nahe, dass er versuchen wird, sie zu gewinnen, dass er mit anderen Worten sein Leben wagen wird. Doch wie für die Binnenerzählung gilt auch für den Rahmen: „Historien er ikke ferdig“ (28 – Die Geschichte ist nicht fertig). Dass diese Geschichte etwas über die Gattung Porträt zu sagen hat, liegt auf der Hand. Es handelt sich bei den Fotografien um acht Visitenkarten, die mit Porträts bedruckt waren – eine Erfindung, die 1853 patentiert wurde –, und die nach den Gepflogenheiten des Bürgertums in dafür vorgesehenen Schalen oder Körben im Salon ausgelegt wurden. Der Besucher konnte so sehen, mit wem die Gastgeber sonst Umgang pflegten. Diese Bildpraxis,29 die der gegenseitigen sozialen Taxierung und Inszenierung diente, unterscheidet sich stark von der ästhetischen Bildpraxis des gemalten Porträts, die – wie oben kurz ausgeführt – auf zweckentbundene Erkenntnis des Anderen zielen sollte. Die Erkenntnis verlangt eine Abstraktion vom Augenblick, doch ob die Fotografie aufgrund ihrer Produktionsweise zu einer solchen Überwindung des Momentanen überhaupt fähig sei, war eine der großen ästhetischen Streitfragen der Zeit.30 Auch im Gespräch der Künstlergruppe taucht sie auf. „Fotografien […] griber Øieblikket, som smutter fra os Andre, og holder det fast som i en Jernnæve. Men bagefter ses det tidt, at vi ikke ere, hvad vi vare i Øjeblikket“ (Die Fotografien […] packen den Augenblick, der uns anderen entschlüpft, und halten ihn wie in einer Eisenfaust fest. Aber später bemerkt man oft, dass wir nicht sind, was wir in dem Augenblick waren), meint einer aus der Clique (29). Doch Goldschmidt entscheidet zugunsten der Erkenntnisleistung des neuen Mediums: Ein Fotograf könne unter bestimmten Umständen eine Person so stellen, „at det Væsentlige i hendes Personlighed kommer frem“ (dass das Wesentliche in ihrer Persönlichkeit hervorkommt), er könne das Mechanische der fotografischen Produktion „til Tjener for det Aandige“ (zum Diener des Geistigen) machen (33). Ich möchte festhalten, dass Goldschmidt mit diesen wenigen Worten die entscheidenden Bausteine platziert hat, die oben für die Gattung Porträt herausgearbeitet wurden: der Gegensatz von unveränderlichem Wesen und momentaner Erscheinung, das Begehren nach Ewigem als Anlass der Bildbetrachtung (Verknüpfung von Bild und Ewigkeit) und die zur Erkenntnis des Anderen notwendige Abstraktion vom Zeitgebundenen.  









29 Zur Praxis der bebilderten Visitenkarte s.: Jean Sagne: Porträts aller Art. Die Entwicklung des Fotoateliers. In: Michel Frizot (Hrsg.): Neue Geschichte der Fotografie. Köln 1998, S. 103–122, hier S. 109–114. – Susanne Regener: Atelierfotografi: Demokratisering og standardisering af ansigtet. In: Susanne Regener u. a. (Hrsg.): Synets Medier. Aarhus 1991, S. 45–71, hier S. 55–58. 30 Zur ästhetischen Streitfrage vgl.: Gerhard Plumpe: Der tote Blick. Zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus. München 1990, bes. S. 42–52 u. S. 97–164.  















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Auch zum Problemkomplex von Physiognomik und Phrenologie äußert sich Goldschmidt in der Novelle, wenn auch nicht so offensichtlich. In der Beschreibung der Visitenkartenbilder folgt der Erzähler nämlich physiognomischen Lesemustern. Ich gebe nur drei Beispiele. Bei einer Frau verrät „Øjets Straale og Mundens Bue“ (der Strahl des Auges und Bogen des Munds) eine Tiefe der Liebe und Hingabe (31); über eine Opernsängerin wird gesagt, at „der var et Træk ved Næsen, […] der viste, at […] hun ikke [kunde] synge ret egentlig sjælfuldt og sympathetisk“ (38 – dass es einen Zug um die Nase gab, […] der zeigte, dass […] sie nicht recht eigentlich seelenvoll und sympathetisch singen [konnte]); und die braunen Augen einer Witwe „havde en Form og vare aabnede paa den Maade, der som oftest betegner fanatiske Folk“ (38 – eine Form hatten und auf die Weise geöffnet waren, die häufig fanatische Menschen bezeichnen). Dazu kommt, dass der Erzähler das Credo der Physiognomen explizit als seinen Lese-Kode ausweist: „at Naturen ved den ydre Form, den har givet os, ogsaa har betegnet visse Egenskaber, Anlæg eller Mangler, der hefte ved vort Legeme saavelsom ved vor Sjæl, og som faa Indflydelse paa al vor Gjerning“ (33 – dass die Natur an der äußeren Form, die sie uns gegeben hat, auch gewisse Eigenschaften, Anlagen oder Mängel bezeichnet hat, die an unserem Körper wie unserer Seele haften und die Einfluss auf alle unsere Handlungen bekommen). Wem diese textinternen Belege nicht genügen, um an einen Bezug des Textes zur Physiognomik zu glauben, den wird ein weiterer Text Goldschmidts überzeugen. 1859, also vier Jahre vor Fotografierne og Mefistofeles gibt er eine 80-seitige Schrift mit dem Titel Om Physiognomiken31 (Über Physiognomik) heraus, und weist sich damit als ein Verfechter dieser ‚Wissenschaft‘ (3) aus. In unserem Zusammenhang muss vielleicht erwähnt werden, dass er dort die Physiognomik der Phrenologie vorzieht, weil ihm die Beschränkung auf den Schädel zu eng ist.32 Das heißt aber nicht, dass er die Schädellehre komplett ablehnt. Überraschend ist z. B., dass Goldschmidt, der sein Leben lang unter den Bedingungen litt, denen Juden in Dänemark ausgesetzt waren, nicht vor einer Rassenhierarchie zurückschreckt, die auf der Schädelgröße basiert, und dass er aus diesem quantitativen Argument einen Herrschaftsanspruch ableitet: „I Gjennemsnit staae altsaa Negrene lavest; men Negren med det større Hoved vil forholdsvis, ibland sine Landsmænd, rage frem med aandige Evner og være værdig til Herredømmet eller egne sig til at forøge sin Stammes Cultur“ (43 – Im Durchschnitt stehen also die Neger am tiefsten; aber die Neger mit den größten Köpfen werden im Verhältnis zu ihren Landsleuten durch geisti 









31 Meïr Aaron Goldschmidt: Om Physiognomiken. Med Tegninger. Kopenhagen 1859. 32 Darin folgt er dem Dresdner Mediziner Carl Gustav Carus, aus dessen Symbolik der menschlichen Gestalt (1846) er eifrig zitiert. Dort weitet Carus die Phrenologie, die er früher vertrat, auf eine umfassende Morphologie des Menschen aus.

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ge Fähigkeiten hervorragen und der Herrschaft [über sie] würdig sein oder sich dazu eignen die Kultur ihres Stammes zu vergrößern). Was aber sagt dann die Novelle über die Physiognomik aus? Man muss festhalten, dass es in der Logik des Textes unmöglich ist, zwischen Visitenkartenbild und physiognomischer Beschreibung zu unterscheiden. Damit wird das Porträt als die phrenologische Lesart einer Person definiert. Anders formuliert: Die Abstraktionsleistung eines gelungenen Porträts ist identisch mit dem physiognomisch-phrenologischem Entziffern der wesensrelevanten Zeichen einer Person. Goldschmidts Visitenkartenbilder markieren somit dieselbe Überschneidung zwischen Porträtästhetik und Physiognomik, die oben herausgearbeitet wurde. Zur Kritik an den beiden Verfahren (und damit auch an Goldschmidts eigener physiognomischer Schrift) wird Fotografierne og Mefistofeles, wenn man beachtet, dass die Photographie auch eine bestimmte Existenzweise symbolisiert. Denn der Erzähler spricht ja nicht einfach über Fotografien, sondern über Menschen, deren Existenz etwas Fotografisches besitzt: „De levde, skjønt de vare Fotografier“ (30 – Sie lebten, obwohl sie Fotografien waren). Die Fotografie steht für eine Existenz, die man weder zu den Lebenden noch zu den Toten rechnen kann. Da in Goldschmidts Text die Konzepte Fotografie, Porträt und Physiognomik amalgamieren, bezieht sich die Charakteristik des Fotografischen auch auf die anderen beiden visuellen Verfahren, so dass auch sie mit dem sonderbaren Status zwischen Leben und Tod identifiziert werden. Goldschmidts Kritik gilt also derselben Anthropologie, die auch Ottos und Heibergs Schriften zugrunde liegt. Sie definieren die Identität eines Menschen als einen ewigen und unveränderlichen Wesenskern, einer Reihe von unverlierbaren Eigenschaften. Alles andere – Handlung, sozialer Stand, Mode usw. – ist zeitgebundene Zugabe, die die Identität im besten Fall wahrheitsgemäß, im schlimmsten Fall verzerrt nach außen darstellt. Von der Porträtmalerei konnte deshalb auch eine ganz besondere Verheißung ausgehen. Man traute ihr zu, Identität klar wiedergeben zu können. Bei Heiberg war das Porträt die Vorwegnahme des Zustands der Seligkeit, die Vision einer Person, die von allem Vergänglichen und Erdenschweren befreit ist. Doch bei Goldschmidt hat diese Vorstellung allen Glanz verloren. In seinen Augen gleicht Heibergs Zustand der Seligkeit eher einem Limbus, einer Existenz zwischen Leben und Tod. Ich erinnere an die Formulierung, dass die Fotografien „hverken […] Levende eller Døde“ (28 – weder […] Lebende noch Tote) seien. Aus ihr kann man schließen, dass in Goldschmidts Anthropologie die Handlungsfähigkeit des Menschen einen wichtigeren Platz einnimmt. Ist das Individuum bei Otto und Heiberg seine Eigenschaften, so hat es bei Goldschmidt die Fähigkeiten, sich zu seinen Eigenschaften zu verhalten. Es handelt sich dabei zweifellos um eine von Kierkegaard inspirierte Deutung der Existenz. In der Logik der Novelle beginnt das Leben erst in dem Moment, da die Fotografien ihre ewige Identität  







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aufs Spiel setzen, oder um es mit Mefisto zu sagen: in dem Moment, da sie etwas „Endeligt“ (39 – Endliches) wählen und damit ihrem eigenen Bild unähnlich werden. Die Möglichkeit der Wahl, und damit die Freiheit sich zu seinen Eigenschaften zu verhalten, sie auszuleben, von ihnen loszukommen, an ihnen zu verzweifeln, ist in gleichem Maße Teil des Menschen wie diese Eigenschaften selbst. Deshalb kann er auch nie endgültig dargestellt werden, weder im Porträt noch im Schädel, bzw. in seiner phrenologischen Zeichnung. Die Novelle wird damit zu einem Einspruch gegen das einleitend genannte skopische Begehren. Bei Goldschmidt gilt der Satz: Die eigene Identität ist nicht ein fertiges Bild, egal ob es nach ästhetischen oder biologischen Regeln konstruiert wurde, sondern eine Geschichte, „men Historien er ikke færdig“ (28 – aber die Geschichte ist nicht fertig) – wie der Binnenerzähler der Novelle betont.  





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Produktive Insolvenz Zur poetologischen Potenzierung romantischer Ökonomie bei Carl Jonas Love Almqvist und Søren Kierkegaard

I Kredit, Vertrauen und „Nationalwort“ – Adam Müllers romantische Ökonomie  

Die Vorstellungen von der produktiven Kraft oder von der zerstörerischen Wirkung von Staatskrediten bestimmen keineswegs nur die heutigen globalen Finanzdebatten, sondern trieben schon im frühen 19. Jahrhundert seltsame Blüten. Dies lässt sich auch den zahlreichen Studien entnehmen, die in den letzten Jahrzehnten zum ökonomischen Diskurs in der deutschen Romantik publiziert worden sind.1 Dabei hat man immer wieder auf die nachhaltigen Konsequenzen aufmerksam zu machen versucht, welche die (sogar durch einen Parlamentsbeschluss unterstützte) Weigerung der Bank von England ausgelöst hat, Papierin Münzgeld zu wechseln.2 Vor allem die Tatsache, dass diese Entscheidung keine Konsequenzen nach sich zog, wurde im frühen 19. Jahrhundert als ein Skandalon empfunden, das zu einem Überdenken der vorher grundlegenden Repräsentationsmodelle in der ökonomischen Theorie führte. Im Anschluss an diese Zäsur setzen sich in der ökonomischen Theorie Beschreibungsmodelle durch, welche zu zeigen versuchten, dass und in welchem  



1 Vgl. dazu den ausführlichen Forschungsüberblick in Reinhard Saller: Schöne Ökonomie. Die poetische Reflexion der Ökonomie in frühromantischer Literatur. Würzburg 2007, insb. S. 54–84. Grundlegend zum Wechselverhältnis von ökonomischen und literarischen Diskursen und entsprechenden Poetologien in der Romantik vgl. Jochen Hörisch: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt a. M. 1996; Joseph Vogl: Ökonomie und Zirkulation um 1800. In: Weimarer Beiträge 43 (1997) H. 1, S. 69–78; Joseph Vogl: Romantische Ökonomie. Regierung und Regulation um 1800. In: Etienne François u. a. (Hrsg.): Marianne-Germania. Deutsch-französischer Kulturtransfer im europäischen Kontext 1789–1914. Leipzig 1998, S. 471–489; Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002. Spezifisch zum Zusammenhang von Kreditdenken und romantischer Poetologie vgl. Thomas Wirz: Vom Geist der Speculation. Hermeneutik und ökonomischer Kredit in Weimar. In: Athenäum 8 (1998), S. 9–32; Ethel Matala de Mazza: Allegorie des Lebens. Adam Müllers Geldtheorie. In: Dies.: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg im Breisgau 1999, S. 331–339. 2 Vgl. Vogl: Ökonomie und Zirkulation um 1800 (Anm. 1); ders.: Romantische Ökonomie (Anm. 1).  

















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Ausmaß ökonomische Prozesse durch ein komplexes System von autoregulativen Dynamiken bestimmt werden, deren Funktionsweise auf schwer zu beschreibenden und noch häufig als ‚magisch‘ oder ‚wundersam‘ beschriebenen Effekten von internen feedback-Schleifen und Rückkopplungen beruhen. Dabei wird ebenfalls schon früh auf die Verselbständigung der zirkulierenden Geldzeichen hingewiesen, die als Medien eine signifikante Eigenwirkung entfalten. Man beginnt mit anderen Worten zu realisieren, dass sich der Wert des Geldes über ein System sich gegenseitig stützender Werte – der individuellen Zahlungskraft und -bereitschaft der einzelnen Käufer – stets neu definiert. Das Leitsystem Ökonomie zeichnet sich – eben weil es sich auf autopoietische Effekte stützt – dabei insgesamt durch Instabilität und Undurchsichtigkeit aus.3 Der Entschluss der Bank von England legt darüber hinaus die paradoxe Funktionsweise einer neuen Form von Ökonomie offen, die sich in der in sich widersprüchlichen Struktur der Banknote selbst manifestiert, die um als Banknote Anerkennung zu finden eben Volldeckung einfordern muss, diese über den Beschluss der Bank aber gleichzeitig ausschließt. Die Insolvenz der Bank wird in dem Augenblick produktiv, in dem sich die Händler auf die Logik eines endlosen Aufschubs einlassen, in dem sie buchstäblich mit Krediten Wert schöpfen, die allein durch die fortlaufende Zirkulation des auf diesen Kredit gründenden Papiergeldes gestützt werden. Angesichts des Interesses für selbstregulative Dynamiken, das vor allem die ästhetischen Überlegungen in der deutschen Frühromantik prägt, kann es nicht wirklich überraschen, dass der oben geschilderte Paradigmenwechsel in der Beschreibung ökonomischer Dynamiken sehr aufmerksam von Autoren und Philosophen verfolgt wurde. Dabei hat sich vor allem Adam Müller darum bemüht, die Vorgaben aus der ökonomischen Theorie für weitreichende politische Überlegungen zu nutzen, die um die Idee des Staatskredits kreisen. Grundlage von Müllers Geld-Reflexionen in Die Elemente der Staatskunst (1809) und den Versuchen einer neuen Theorie des Geldes (1816) bildet die Aufmerksamkeit für die Begehrensstruktur, die an die spezifische Temporalität der oben skizzierten Form von Ökonomie geknüpft ist. Da die entsprechenden ökonomischen Überlegungen von der Idee ausgehen, dass der Erlös von Gewinnen nie direkt ausgeschüttet wird, sondern stets neu investiert wird, um noch größere Gewinne zu realisieren,  







3 Genau diese Effekte haben dazu geführt, dass das über abstrakte Zeichenprozesse regulierte System der Ökonomie auch in konstruktiven wie in dekonstruktiven Theoriemodellen große Beachtung fand. Vgl. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1996; Jacques Derrida: Falschgeld. Zeit geben, Bd. 1. München 1993; Nadja Gernalzick: Kredit und Kultur. Ökonomie und Geldbegriff bei Jacques Derrida und in der amerikanischen Literaturtheorie der Postmoderne. Heidelberg 2000.  



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arbeiten sie mit einer Verschiebungslogik, die das Begehren nach dem Gewinn nie zu erfüllen, sondern zu steigern versucht, indem die Aussicht auf Gewinn konsequent in die Zukunft verlegt wird. Genau diese Form einer libidinösen Energetik versucht Müller mit der Idee des Staatskredites auf das Gemeinwesen selbst zu beziehen. Nach Ethel Matala de Mazzas Darstellung kreisen Müllers Überlegungen folglich um ein vom Staat gegebenes und mit dem Geld zum sozialen Wert werdendes „Kredit-Versprechen“, das sie in Anlehnung an Müllers Ausführungen als „staatlich gegebene[s] und mit dem Geld zum sozialen Wert werdende[s] Wort“ definiert.4 Die alte Analogie von Geld und Sprache wird von Müller dabei sozusagen sprechakttheoretisch gewendet und auf die performative Macht eines Versprechens bezogen, dessen Funktion eben allein in der Handlung des Versprechens selbst besteht. Der Staatskredit wird von Müller also als ein Versprechen begriffen, das sich nicht erfüllt, sondern fortdauernd weiterwirkt und beständig auf eine noch einzulösende Zukunft verweist: Ein schriftlich gegebenes Wort, ob als Assignation, Banknote, Drei-Procent-Stock, wird man freilich, der Ordnung und Gleichmäßigkeit halber, auf jenen Maßstab des Metallgeldes beziehen; es könnte aber dessen ungeachtet hundert Jahre circulieren, ohne ein einziges Mal in Metallgeld realisirt zu werden.5

Schon anhand dieses kurzen Zitates lässt sich illustrieren, auf welche Weise sich rhetorische, mediale und ökonomische Überlegungen bei Müller überschneiden. Die Logik des über hundert Jahre aufgeschobenen Versprechens wird an das Medium des Papiergeldes geknüpft, das keinen Wert an sich verkörpert, sondern allein von der Aussicht auf einen zukünftig zu realisierenden Wert lebt. Die Verklärung des Kredits zu einem solchen Versprechen wird von Müller für weitere spekulative Überlegungen genutzt, die schließlich in die Behauptung münden, dass allein Kredit und Papiergeld das wahre Wesen des Geldes verkörpern: „In der Lehre vom Credit wird jenes höhere, einzig wahre Geld, von dem das Metallgeld nur ein unvollkommener Repräsentant ist, sichtbar, nehmlich als NationalWort.“6 Die Definition des Kredits als „National-Wort“ und „Glaubens-CreditWortgeld“7 weist auf eine weitere Stufe in der Argumentation hin. Müller versucht, das Versprechen, an das die gesamte Logik des Kredits geknüpft ist, auf die Vorstellung der Nation zu beziehen. In diesem Sinne trägt der Staatskredit letztendlich dazu bei, ein abstraktes Vertrauen in die nationale Gemeinschaft zu 4 5 6 7

Matala de Mazza: Der verfasste Körper (Anm. 1), S. 332. Adam Müller: Die Elemente der Staatskunst, Bd. 1. Hrsg. v. Jakob Baxa. Jena 1922, S. 353. Ebd., S. 359. Adam Müller: Versuche einer neuen Theorie des Geldes. Hrsg. v. Helene Lieser. Jena 1922, S. 147.  











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medialisieren, um dieser Gemeinschaft schließlich sogar die Möglichkeit zu bieten, sich überhaupt als politischer Köper zu konstituieren. Dabei schreckt Müller nicht einmal davor zurück, auf die Etymologie des ‚Kredits‘ (abgeleitet vom lateinischen credere ‚glauben‘) zurückzugreifen, um diese kapitale Nationalgemeinschaft entsprechend religiös zu überhöhen: Das Versprechen der Wortdeckung, das die Zirkulation der monetären Ströme in einem gegebenen Wort autoritativ absichert – einem ‚schriftlich gegebenen Wort‘ also, das nicht vernommen, sondern geglaubt werden muss – führt daher unmittelbar zur christlichen Glaubensgemeinschaft zurück, die Müller in die naturale Gemeinschaft seines organischen Staates überführt.8  



Auch Thomas Wirz macht auf diese spannungsreiche Verschränkung von Theologie, Nationalökonomie und Autoritätsglauben bei Müller aufmerksam: Müller sucht die blasphemische Zuspitzung der Begriffe, um den Nationalökonom mit der Würde und welterklärenden Kompetenz des Theologen auszustatten. Sobald sich der Geist Gottes in den Warentausch geflüchtet hat, verwaltet dessen Theoretiker die freigewordene Autorität.9

Müllers haltlos anmutender Versuch, die paradoxe Dynamik der Geldökonomie zu zähmen und für eine nationale Rhetorik zu vereinnahmen, wurde auch in Skandinavien rezipiert.10 In der folgenden Darstellung werde ich mich auf zwei kurze Texte zweier Autoren konzentrieren, die spät und auf sehr unterschiedliche Art und Weise auf seine Überlegungen zu reagieren scheinen. Dabei drehen sie Müllers Argumentationsstrategie regelrecht um. Denn während Müller sich der Rhetorik des Versprechens bedient, um ökonomische Prozesse zu erklären, greifen der Schwede Carl Jonas Love Almqvist und der Däne Søren Kierkegaard umgekehrt auf seine ökonomischen Überlegungen zurück, um über die komplexe Rhetorik ihres eigenen Schreibens zu reflektieren. Genau aufgrund dieser modifizierenden oder verzerrenden Art der Rezeption bieten ihre Texte einen guten

8 Matala de Mazza: Der verfasste Körper (Anm. 1), S. 336. In ihren entsprechenden Ausführungen lehnt sich Matala de Mazza eng an Werner Hamachers Faust-Lektüre und damit indirekt an einen weiteren Intertext an, der auch für die skandinavische Müller-Rezeption von entscheidender Bedeutung gewesen sein dürfte. Vgl. Werner Hamacher: Faust, Geld. In: Athenäum 4 (1994), S. 131–184. 9 Wirz: Hermeneutik und ökonomischer Kredit (Anm. 1), S. 13. 10 Vgl. jüngst dazu Jonas Asklund: Legitimitet og likviditet. Om kungamaktens värde i Carl Frederik Dahlgrens Mollbergs epistlar. In: Klaus Müller-Wille u. Joachim Schiedermair (Hrsg.): Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im nordischen Idealismus. Tübingen, Basel 2013, S. 26–48.  











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Ausgangspunkt, um anhand zweier konkreter Fallbeispiele über neuere Perspektiven einer europäischen Romantikforschung zu spekulieren.

II Kredit, Betrug und kalkulierter Bankrott – Carl Jonas Love Almqvists Was ist das Geld? (1839)  

Das erste Beispiel stammt von Carl Jonas Love Almqvist, der mit dem zwischen 1833 und 1851 erschienenen Sammelwerk Törnrosens bok (Dornrosenbuch) einen der umfangreichsten Versuche präsentiert, Friedrich Schlegels poetologische Überlegungen zur Arabeske in die Praxis umzusetzen.11 Almqvists Projekt umfasst insgesamt 14 Duodez- und drei Imperialoktavbände, in deren Rahmen er nicht nur eine Vielzahl von unterschiedlichen literarischen Gattungen, sondern auch philosophische und journalistische Essays publiziert. Die einzelnen Texte werden in der Regel durch Gespräche einer Erzählrunde eingeleitet und abgeschlossen. Dieser Erzählrahmen garantiert nicht nur die Einheit des Werkes, sondern wird vor allem für kunsttheoretische Reflexionen genutzt, in welchen die Gesprächspartner die den einzelnen Texten inhärente Poetologie entfalten, weiterentwickeln oder kritisch beleuchten. Der Essay Hvad är penningen? (Was ist das Geld?) erscheint 1839 im zwölften Band der Duodezausgabe des Dornrosenbuches. In diesem Band mutiert die Erzählerrunde zu einer fiktiven Akademie, in deren Rahmen sich die Teilnehmer auch über wissenschaftliche Themen austauschen wollen. Der Bezug auf den Publikationsrahmen ist wichtig, da auch Hvad är penningen? von Rahmengesprächen begleitet wird, in denen auf den Inhalt des Textes Bezug genommen wird. Vor allem aber ist wichtig, dass die ökonomische Reflexion in diesem Fall in einem Kontext erscheint, der durch kunst- und zeichentheoretische Reflexionen geprägt ist. Das erwähnte Rahmengespräch setzt mit allgemeinen Reflexionen über die Bedeutung des Geldes ein und endet mit der Formulierung und öffentlichen Ausschreibung der Preisfrage „Hvad är penningen?“. Der eigentliche theoretische Essay, der diesem Gespräch folgt, wird in der Fiktion als anonym eingesandte Antwort an die Akademie vorgestellt und mit dem zusätzlichen Titel „Penningen 11 Im folgenden Abschnitt greife ich auf eine Darstellung aus meiner Dissertation zurück, die hier in einen größeren Kontext eingebettet und nochmals kritisch reflektiert werden soll. In dieser Arbeit finden sich auch Präsentationen des Dornrosenbuches und der umfassenden schwedischen Forschung zu Almqvist. Vgl. Klaus Müller-Wille: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist. Tübingen, Basel 2005, insb. S. 434–451.  

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såsom medel till bildande af rikedom“ („Das Geld als Mittel zur Bildung von Reichtum“) versehen. Dieser Essay gehört zu den wenigen theoretischen Phantasien der fiktiven Akademie, die auch außerhalb des Dornrosenbuches auf Resonanz stießen. 1924 wird er ins Deutsche übersetzt und immerhin in der Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik veröffentlicht.12 Schon im Rahmengespräch wird die Relevanz der Thematik mit Bezug auf den gespenstischen Zug des Geldes umrissen: Das Zahlungsmittel sei „eines der größten Rätsel der Welt“ („en af verldens största gåtor“), „eine Kanaille“ („en kanalje“), „ein Schurke“ (en „usling“).13 Dahinter verberge sich „eine geheimnisvolle, noch nicht erforschte Kraft“ („en hemlig, ännu outredd kraft“), „ein dunkler und unbekannter Dämon, der mit Hilfe der Münze sein wunderbares Spiel treibe“ („[en] dunkel och okänd demon […], som genom myntet spelar sitt underbara spel“).14 Um diese Einschätzung zu untermauern, rekurriert der fiktive Vorsitzende der Akademie schon sehr früh auf den Topos vom Geld-Sprach-Vergleich: „Ich will die Macht des Geldes als eine Argyrokratie bezeichnen, geheim, kaum erforschbar, genauso wie es in anderer Bedeutung die Macht des Wortes, die Logokratie, ist.“15 Insgesamt wird das Geld von den Akademiemitgliedern tatsächlich weniger in seiner Funktion als ein Werte repräsentierendes Instrument des Handels denn als referenzloses Medium eines effektiven Kommunikationsnetzes angesehen, das genau die nationalen Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen unterwandert, die noch an die Vorstellung von Repräsentation gebundenen sind. Dies wird etwa durch das folgende Zitat unterstrichen, indem die Figuren merkwürdigerweise schon mit der Metapher des elektronischen Handels operieren: Det är ett elektriskt system, som har sina utgreningar dynamiskt liggande inne i alla de mekaniska yttre statsformer, dem Europa har för sina ögon, men som mindre betyda än den fantasmagoriska dynamik, hvilken leder trådarne och på de mest oväntade punkter gifver gnistor och slag.16

12 [Carl Jonas Love Almqvist]: Ein Zeugnis der schwedischen Romantik über das Wesen des Geldes. Hrsg. v. Gustav Seidler-Schmid. In: Zeitschrift für Volkswirtschaft und Sozialpolitik NF 4 (1924) H. 1–3, S. 318–342. 13 ASV 9, S. 43. Die Sigle ASV 9 verweist hier und im Folgenden auf Carl Jonas Love Almqvist: Hvad är Penningen. In: C.J.L. Almqvist Samlade verk, Bd. 9. Törnrosens bok. Duodesupplagan, Bd. XII–XIV. Hrsg. v. Bertil Romberg. Stockholm 1997, S. 33–72. Die Übersetzungen aus dem Schwedischen stammen von mir, KMW. 14 Alle nicht angeführten Zitate stammen aus ASV 9, S. 36. 15 „Jag vill benämna penningmakten en Argyrokrati, hemlig, knappt utforskelig, likasom i annan mening Ordets makt, Logokratien, är.“ (ASV 9, S. 42). 16 Ebd.  











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Es handelt sich um ein elektrisches System, das mit seinen Verzweigungen dynamisch in alle mechanisch äußerlichen Staatsformen eingreift, die Europa jetzt vor Augen hat, die aber weit weniger bedeuten als diese phantasmagorische Dynamik, welche die Verzweigungen durchläuft und welche an den am wenigsten erwarteten Punkten Funken und Stromschläge produziert.

Der fiktive Autor des Essays, der beauftragt wurde, über diese phantasmagorische Dynamik des Geldes Auskunft zu geben, entwirft ein weitaus positiveres Bild vom Geld. Er entwickelt zunächst eine Eloge auf das Papiergeld, das an keine realen Werte mehr gebunden sei. Seine Argumentation zielt dabei vor allem auf die Optimierung der marktwirtschaftlichen Funktion des Geldes. Das leichter verfügund transportierbare Papiergeld führe zur Ausweitung des Handels und so zu höheren Gewinnausschüttungen. Da das Papiergeld keinen Wert an sich darstelle, sondern diesen erst in der Zirkulation gewinne, werde es nicht aus dem Handel gezogen und gehortet, sondern stets neu investiert. Diese bekannten Argumente werden vom fiktiven Autor des Essays überzeichnet und mit philosophischen und theologischen Begründungen vermengt. Grundlegend ist seine Vorstellung, dass selbst das Papiergeld verschwinden und durch eine reine Geldidee ersetzt werden könne. Aus der vollständigen Entsubstantialisierung des monetären Repräsentamens könne eine äquivalent infinite Beschleunigung der Geldzirkulation resultieren, die wiederum ein größtmögliches Anwachsen des Handelsvolumens und damit optimale Profite für die einzelnen Händler nach sich ziehe: Skulle både penningen och handelsartikeln kunna förvandlas till tankar, så blefve omsättningarnes antal det största möjliga, följaktligen vinsten den största. […] Det är då handelsartikeln sjelf är penning (bankier-rörelse), och denna penning är tanke.17 Könnten sowohl das Geld als auch die Handelsartikel zu reinen Gedanken verwandelt werden, so würde die Anzahl der Transaktionen die größtmögliche, und folgerichtig auch der Gewinn der größte sein. […] Das trifft dann zu, wenn der Handelsartikel selbst Geld ist (BankiersBewegungen), und dieses Geld nur Gedanke ist.

Als eigentliche Währung dieser Form von Ökonomie wird – und erneut erstaunt die Aktualität von Almqvists Argumentation – das Vertrauen benannt:18  



17 ASV 9, S. 55. 18 Zur aktuellen Forschung rund um den Begriff des Vertrauens sowie zum Versuch, die Bedeutung der entsprechenden Überlegungen für die ökonomischen Theorien der Romantik zu umreißen, vgl. Klaus Müller-Wille u. Joachim Schiedermair: Wechselkurse des Vertrauens. Zur Einführung. In: Wechselkurse des Vertrauens (Anm. 10), S. IX–XXIII.  



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Men den enskilde kan göra penningen, hvarmed han rörer sig, till en ren tanke, derigenom att han i stället för den metalliska valuta, hvarpå sedlar annars utgifvas, skapar för sig en opinion om full pålitlighet, […]. Han kan då genom kombinerade köp och försäljningar till milliontal, utan någon metallisk valuta, mångdubbla antalet af omsättningar ända till oräknelighet, och derigenom i samma mån åt sig bilda rikedom. Det är i egenskapen af en sådan idé penningen visar sig vara en demon af i det närmaste gränslös kraft.19 Aber der einzelne kann das Geld, womit er arbeitet, zu einem reinen Gedanken machen, indem er statt der metallischen Valuta, auf welcher die Notenausgabe sonst beruht, die Überzeugung von seiner vollen Verlässlichkeit schafft, […]. Er kann so durch die Kombination von Millionen von Käufen und Verkäufen ohne alle metallische Valuta die Anzahl seiner Umsätze unendlich vervielfältigen und sich im selben Grade Reichtum bilden. In der Eigenschaft einer solchen Idee zeigt sich das Geld als Dämon von nahezu unbegrenzter Kraft.

Statt das Geheimnis des Geldes zu enträtseln, wird sein dämonischer Charakter im Essay bewusst akzentuiert und schließlich nicht nur ökonomisch, sondern auch theologisch gerechtfertigt. Ausgangspunkt für den abschließenden theologischen Exkurs des fiktiven Autors ist wiederum eine gewagte These: Wenn das Geld tatsächlich als Idee behandelt werden würde, dann würde selbst bei vollkommen desaströsen Finanzgeschäften niemand zu Schaden kommen: Man påstår väl, att någon X måste hafva lidit; men för att ådagalägga detta, kommer man icke längre i bevisningen, än till den slutsattsen, att, såvida det är ett obestridligt faktum, det kanalen kostat sina nio millioner, och dessa nödvändigt någonstädes till sluts måste tagas eller hafva tagits, så följer lika nödvändigt, det utgiften måste drabba eller hafva drabbat någon X. Slutsattsen är skenbarligen riktig, men likväl till hälften falsk. Man inser icke, att när penningen behandlas såsom idé […], så kommer den gjorda utgiften slutligen att tagas ingenstädes.20 Wohl behauptet man, dass irgendein Herr X Schaden gelitten habe; aber um dies zu zeigen, kommt man in der Beweisführung nicht weiter als bis zu dem Schlusse: da es ein unbestrittenes Faktum ist, dass der Kanal seine 9 Millionen gekostet hat und dieselben notwendig irgendwoher genommen werden oder genommen worden sein müssen, so folgt ebenso notwendig, dass die Ausgabe irgendeinen X treffen muss oder musste. Dieser Schluss ist scheinbar richtig und doch zur Hälfte falsch. Man will nicht einsehen, dass, wenn das Geld als Idee behandelt […] wird, die gemachte Ausgabe schließlich nirgends weggenommen ist.  

In Abwägung der mit dem ungedeckten Geld verbundenen Gefahren und seines gesellschaftlichen Nutzens wird John Laws desaströses Finanzexperiment des frühen 18. Jahrhunderts der Finanzierung des Götakanals durch Baltzar von Pla 

19 ASV 9, S. 55–56. 20 ASV 9, S. 61.    

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ten gegenübergestellt. Das größte Staatsprojekt Schwedens in der Regierungszeit Karls XIV. Johan Bernadottes mündete anfänglich in einen vieldiskutierten Bankrott, der sich nach Ansicht unseres Essayisten in Wirklichkeit als mysteriöser Gewinn entpuppen sollte: Man säger: Götha kanal betalades mest genom bankens sedlar, af hvilka för denna orsak en så stor emission måste göras, att slutligen en realisation blef följden, hvarvid pappersmyntet förklarades långt under sitt primitiva af staten försäkrade värde. Emedan staten således nekade att gifva full metallisk valuta efter hvarje sedels namn, så skildes det nominella värdet ifrån det reella. Detta är otvifvelaktigt en bankrutt. Men om skillnaden emellan ett pappersmynts reella och nominella värde under en längre period af år uppkommer, och sker så småningom, att alla varors värden hinna lämpa sig efter och noga följa den Curva, som pappersmyntet i sitt fallande beskrifver, så skall man erfara det besynnerliga, att ingen lider faktiskt på detta slags bankrutt […].21 Man sagt: Der Götha-Kanal wurde hauptsächlich mit den Noten der Bank bezahlt, deren Emission daher außerordentlich groß wurde; die Folge war schließlich eine Realisation, bei der der Wert der Papiermünze tief unter dem ursprünglich vom Staat garantierten festgesetzt wurde. Da der Staat sich weigerte, volle metallische Valuta auf den Namen jeder Note auszuzahlen, gingen der nominelle und der reelle Wert auseinander. Das ist zweifelsohne ein Bankrott. Aber wenn der Unterschied zwischen dem nominellen und reellen Wert der Papiermünze während einer längeren Reihe von Jahren entsteht, also nach und nach entsteht, so dass die Werte aller Waren Zeit haben, sich danach einzustellen und genau der Kurve zu folgen, die die Papiermünze in ihrem Fall beschreibt, dann wird man die merkwürdige Tatsache erfahren, dass niemand an dieser Art von Bankrott Schaden nimmt.

Man denke an das oben erwähnte Vorgehen der Bank von England. Der skandalösen Weigerung, Papier- gegen Metallgeld auszuzahlen, folgt das Erstaunen darüber, dass sich der anfänglich devaluierte Wert des Geldes über dynamische Prozesse selbst zu regulieren und zu stabilisieren beginnt. Was andere Zeitgenossen zu Recht als Katastrophe, als ein Schwinden fester Werte, empfunden haben, wird im Zitat als Überwindung der rein mathematischen Rationalität der Ökonomie gefeiert. Mit seinen Ausführungen zum Bankrott stellt der fiktive Autor von „Penningen såsom medel till bildande af rikedom“, der sich bis zu diesem Zeitpunkt ganz im Rahmen der eingangs vorgestellten ökonomischen Theorien bewegt hat, genau die Frage nach der Kredit- oder Vertrauenswürdigkeit der staatlichen Instanz, die von vornherein darauf spekulieren kann, dass die Kredite ungedeckt bleiben. Wie lässt sich ein solcher Kredit noch von Falschgeld unterscheiden, das in betrügerischer Absicht ausgegeben wird? Der fiktive Autor zieht genau an

21 ASV 9, S. 61–62.  

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dieser Stelle eine folgenschwere Konsequenz und lässt sich schlichtweg auf eine euphemistische Definition von ‚Betrug‘ und ‚Betrügen‘ ein: Enligt menniskornas fallenhet, sedan fallet, att i allting se så mycket ondt som möjligt, skall man naturligtvis gerna för denna sak vilja begagna det värsta uttryck, man kan finna: ordet bedraga. Man skall då säga: det jordiska lifvet är ett bedrägeri. Det är så också, så till vida, att vi ofta bedragas i våra jordiska uträkningar, bekommande i stället något him-melskt, som vi icke förmådde ana; men sedan få vi lika ofta äfven ett jordiskt derjemte, så att detta underbara bedrägeri, detta löftesbrott, slutar med att hålla tiodubbelt emot hvad det först lofvade.22 Der menschlichen Neigung gemäß, seit dem Sündenfall in allem so viel Böses wie möglich zu sehen, wird man natürlich gerne auch für diese Sache den härtesten Ausdruck wählen wollen: das Wort betrügen. Man wird dann sagen: das irdische Leben ist eine Betrügerei. Und dem ist so, soweit wir uns in unseren irdischen Berechnungen betrogen sehen und statt dessen etwas Himmlisches bekommen, das wir nicht zu ahnen vermochten; aber dann bekommen wir genauso häufig etwas Irdisches dazu, so dass dieser wunderbare Betrug, dieser Wortbruch damit endet, dass er das verzehnfacht einlöst, was er zunächst versprochen hat.

Wenn ökonomische Gleichungen nicht aufgehen, spricht man in der Regel von Bankrott und folgerichtig gipfelt die Argumentation des Textes in der bewusst paradoxen Behauptung, dass sich das geheimnisvolle Wesen der Monetärökonomie genau mit diesen Begriffen auf den Punkt bringen lasse. Eine kuriose Definition des Bankrottes erlaubt es dem fiktiven Autor dabei, an seiner Apologie der Geldwirtschaft festzuhalten: Menskliga civilisationen har fortgått i en oafbruten kedja, hvars länkar ej sällan bestått i bankrutter. Kanske låter detta begripligare och mindre stötande, om vi säga: civilisationens problem har ofta gått ut på att betala realier med ideer.23 Die menschliche Bildung hat sich in einer ununterbrochenen Kette bewegt, deren Glieder nicht selten in Bankrotten bestanden. Vielleicht klingt dies einleuchtender und weniger scharf, wenn wir sagen: das Problem der Zivilisation lief häufig darauf hinaus, Realien mit Ideen zu bezahlen.

Nicht nur aufgrund der Motive von Papiergeld und Staatskredit, sondern vor allem aufgrund der theologischen Überfrachtung der entsprechenden modernen ökonomischen Reflexionen erinnert Almqvists Argumentation stark an Adam Müller. Dennoch lassen sich deutliche Unterschiede benennen: Müllers ökonomische Visionen zeichnen sich durch den Versuch aus, die komplexe Dynamik des Geldes, die sich auf ein Netzwerk von differenziellen Werten und flottierenden Signifikanten abstützt, durch die sprachliche Struktur des Versprechens auto-

22 ASV 9, S. 64–65. 23 ASV 9, S. 64.    

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ritativ zu regulieren: Der Glaube an eine zukünftige Akkumulation von Volkskapital wird über den fortlaufenden Aufschub der Gewinnausschüttung ständig perpetuiert. Dagegen läuft die Bankrottlehre, die in „Penningen såsom medel till bildande af rikedom“ entwickelt wird und mit der Almqvist offensichtlich auf die Staatsbankrotte im Skandinavien des frühen 19. Jahrhunderts reagiert, auf eine Dekonstruktion genau dieses Versprechens hinaus. Die Logik des Versprechens wird im Gegenteil durch gezielte Praktiken des Betrugs und der Blendung ersetzt, die kurioserweise aber ähnliche Effekte zeitigen wie das ‚Kredit-Versprechen‘ und das ‚National-Wort‘. Von hier aus ließe sich die poetologische Relevanz des durch verschiedene Erzählinstanzen mehrfach gerahmten Artikels entfalten, der – wie schon eingangs erwähnt – nicht von ungefähr im Kontext eines literarischen Werkes erscheint. Bevor ich diesen Aspekt im abschließenden Teil dieses Artikels vertiefen werde, möchte ich noch auf einen zweiten skandinavischen Autor eingehen, der Müllers theoretische Vorlagen auf eine ganz ähnliche Art und Weise verdreht.  





III Kredit, Potlatch und Ökonomie des Spektakels – Søren Kierkegaards Vexel-Driften  

Unter den Essays, die Søren Kierkegaard unter dem Pseudonym Victor Eremita im Rahmen von Enten-Eller (Entweder-Oder; 1843) publiziert und die er dem Ästhetiker A zuschreibt, befindet sich auch der kurze Text „Vexel-Driften. Forsøg til en social Klogskabslære“ („Die Wechselwirtschaft. Versuch einer sozialen Weisheitslehre“), der schon im Titel auf eine ökonomische Thematik aufmerksam macht. Wie Almqvist und Müller diskutiert auch A die Idee der produktiven Auswirkungen eines Staatskredites. Das entsprechende Szenario nimmt bei ihm allerdings deutlich satirische Züge an: Man vil forbedre Statens Finanser ved Besparelser. Kan der tænkes noget Kjedsommeligere. Istedenfor at forøge Gjælden, vil man afbetale den. Efter hvad jeg kjender til de politiske Forhold, vil det være Danmark let at aabne et Laan paa 15 Millioner. Hvorfor tænker Ingen derpaa. At et Menneske er Geni og ikke betaler sin Gjæld, det hører man dog af og til, hvorfor skulde en Stat ikke kunne gjøre det Samme, naar der blot er Enighed? Man aabne da et Laan paa 15 Millioner, man anvende det ikke til Afbetaling, men til offentlig Forlystelse.24

24 SKS 2, S. 276–277. Die Sigle SKS 2 verweist hier und im Folgenden auf Søren Kierkegaard: Vexel-Driften. Forsøg til en social Klogskabslære. In: Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 2. EntenEller. Erster Teil. Hrsg. v. Niels Jørgen Cappelørn u. a. in Verbindung mit dem Søren Kierkegaard  





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Man will die Finanzen des Staates durch Ersparungen verbessern. Kann es etwas Langweiligeres geben? Statt die Schuld zu vermehren, will man sie abzahlen. So wie ich die politischen Verhältnisse kenne, dürfte es für Dänemark ein Leichtes sein, einen Lohn von 15 Millionen Kronen aufzunehmen. Wieso denkt niemand daran? Dass ein Mensch so genial ist und seine Schulden nicht bezahlt, das hört man doch ab und zu, wieso sollte das ein Staat nicht tun, wenn darüber Einigkeit herrscht? Man eröffnet dann einen Kredit von 15 Millionen, und man wendet ihn nicht für die Tilgung der Schulden an, sondern für öffentliches Vergnügen.  



Auch wenn sich A mit seiner Idee eher an der märchenhaften Utopie des Schlaraffenlandes als an realpolitischen Verhältnissen zu orientieren scheint, knüpft er mit seinen Vorstellungen durchaus an das anökonomische Grundprinzip an, das die um dynamische Preisentwicklungen kreisende Kreditwirtschaft im Gegensatz zu einer Tauschwirtschaft verkörpert, die sich an berechenbaren und fest verankerten Werten orientiert. Allerdings macht er auch klar, dass er dieses anökonomische Prinzip steigern möchte, bis es in eine allgemeine Verausgabung – einen gemeinschaftlichen Potlatch – mündet, welcher die Idee des Eigentums und der daran geknüpften Ökonomien grundlegend subvertieren würde:25  



Lader os feire det tusindaarige Rige med Fryd og Gammen. Som der nu overalt staaer Bøsser, hvori man kan lægge Penge, saa skulde der da overalt staae Skaale, hvori der laae Penge. Alt vilde blive gratis; man gik gratis i Theatret, gratis til de offentlige Fruentimmer, man kjørte gratis til Dyrehaugen, man blev begraven gratis, gratis blev der holdt Tale over Een; jeg siger gratis; thi naar man altid har Penge ved Haanden, saa er paa en Maade Alt gratis. Ingen maatte eie fast Eiendom.26 Lass uns das tausendjährige Reich mit Freude und Spaß feiern. Genauso wie heute überall Sparbüchsen stehen, in die man Geld legen kann, so würden dann überall Schalen stehen, in denen Geld liegt. Alles wäre gratis; man ginge gratis ins Theater, gratis zu den öffentlichen Frauenzimmern, man führe gratis zum Vergnügungspark, man würde gratis begraben werden; die Trauerrede wäre gratis; ich sage gratis, da wenn man immer Geld bei der Hand hätte, so wäre alles auf seine Weise gratis. Keiner müsste über festen Besitz verfügen.

Auch wenn es sich um einen satirischen Text handelt, haben wir es mit einer auf eine konkrete historische Zäsur bezogenen Realsatire zu tun. Denn Kierkegaard

Forskningscenteret. Kopenhagen 1997, S. 271–289. Übersetzungen aus dem Dänischen stammen von mir, KMW. 25 In ihrem anökonomischen Impetus erinnern Kierkegaards Überlegungen vielleicht am ehesten an Batailles Konzept der Verschwendung. Vgl. Georges Bataille: Die Aufhebung der Ökonomie. München 2001; Gerd Bergfleth: Die Verschwendung. Einführung in Georges Batailles Antiökonomie, München 1985. 26 SKS 2, S. 277.  



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lässt A auf einen tiefen Einschnitt im Kopenhagener Vergnügungsleben rekurrieren. 1843, also just im Erscheinungsjahr von Enten-Eller, öffnet nämlich der Kopenhagener Tivoli seine Tore. Das besondere und aufsehenerweckende an diesem Unternehmen war nicht nur die Tatsache, dass der Park ein für die damaligen Kopenhagener Verhältnisse extrem großes Publikum anzog,27 sondern auch die Art, wie der Gründer des Tivoli sein Unternehmen über Aktienkredite finanziert. Am Tivoli wird mit anderen Worten der Übergang zu einer Ökonomie des Spektakels evident, die sich völlig von den rahmenden Vorstellungen des Nutzens oder des Gebrauchswertes emanzipiert und sich allein über das Vergnügen und den Thrill definiert, der nicht nur die Vergnügungsindustrie bestimmt, sondern auch die Börsengeschäfte, die rund um diese Industrie getätigt werden.28 Dabei enden auch A’s wilde Überlegungen in der erstaunlichen Feststellung, dass der allgemeine Staatskredit nicht unbedingt in einen Bankrott münden müsse. Die öffentliche Spendierlaune des dänischen Staates könnte nämlich dazu führen, dass „alles Großes nach Kopenhagen strömen würde, die größten Künstler, Schauspieler und Tänzerinnen“ („alt Stort vilde strømme til Kjøbenhavn, de største Kunstnere, Skuespillere og Dandserinder“29). Im Schlepptau dieser Künstler aber würden die Reichen sich in der Stadt niederlassen und längerfristig zu einem wirtschaftlichen Aufschwung beitragen, der den Kredit nicht nur ausgleichen, sondern übertreffen wird. Insgesamt zeigt A’s Reflexion über den Staatskredit auf, wie sich Müllers hehre Fiktion eines ‚Kredit-Versprechens‘ oder eines ‚National-Wortes‘ in den 1840er Jahren als Farce wiederholt. In A’s Phantastereien hilft der Staatskredit nicht mehr einer Nation sich über das Versprechen einer zukünftigen Gewinnausschüttung als Einheit zu formieren, sondern er bietet die Plattform für ein gestaltloses Massenpublikum bzw. für eine Gesellschaft und eine Ökonomie des Spektakels, die sich allein am Versprechen einer fortdauernden Zerstreuung orientiert.

27 Bedenkt man, das 10.000 der 100.000 Stadtbewohner bei der Eröffnung präsent waren, so kann man sich vorstellen, was für eine Zäsur diese Eröffnung im kulturellen Leben des Landes darstellte. 28 Ausführlich zu dieser Verschränkung von Ökonomie und Populärkultur vgl. Urs Staehli: Spektakuläre Spekulation. Das Populäre der Ökonomie. Frankfurt a. M. 2007. 29 SKS 2, S. 277.  



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IV Hineintäuschen in das Wahre – Ehrliche Scharlatanerei und gefälschte Begriffsklärungen  

Ich komme zu einer ersten Zusammenfassung: Adam Müller versucht, die kontingente Eigendynamik einer neuen Form von Ökonomie über die Idee des ‚National-Wortes‘ zu regulieren und entsprechend für eine dynamisch oder organisch gedachte Verfassung des Staatskörpers in Anspruch zu nehmen. Dagegen scheinen sowohl Almqvist wie auch Kierkegaard die Grenzen von Müllers Ökonomie ausloten zu wollen. Beide gehen dabei von der schlichten Tatsache aus, dass komplexe ökonomische Prozesse Effekte zeitigen, die kaum vorhersehbar oder regulierbar sind.30 Almqvist nutzt den Bezug auf die Eigendynamik des monetären Zeichensystems, um Müllers Idee des ‚Nationalversprechens‘ satirisch zu unterlaufen und durch die Vorstellung eines kalkulierten ‚Nationalbetrugs‘ zu ersetzen. Dagegen mündet Kierkegaards Argumentation in den Versuch, Müllers Überlegungen zum Verhältnis von Kredit und Nation im Hinblick auf eine Neuformation des politischen Körpers zu überdenken. Dabei lässt er sich erstaunlich früh auf eine Reflexion über die Gesellschaft des Spektakels ein, die man mit Kierkegaard als eine neue, eng mit der Populärkultur verknüpfte Form eines politischen Imaginären definieren könnte, das über die gespenstischen Effekte komplexer ökonomischer Mechanismen reguliert wird. Interessanterweise finden sich sowohl bei Almqvist als auch bei Kierkegaard Belege, die zeigen, wie sie diese ökonomischen Reflexionen für poetologische Überlegungen fruchtbar zu machen versuchen. Besonders deutlich wird dies bei Almqvist, der 1839 einen weiteren wichtigen Essay publiziert, der um das Phänomen des Betrugs kreist. Die zunächst in der Zeitschrift Dagligt Allehanda publizierte Folge von sechs Artikeln, die Almqvist später unter dem gesammelten Titel „Om poesi i sak“ („Über die Poesie in der Sache“) veröffentlichen wird, hat in der Forschung viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, da sie als Indiz für seine Abwendung von einer romantischen und seine Hinwendung zu einer realistischen Poetik gelesen wurde.31 Folgt man der zentralen Argumentation des Arti-

30 Damit reagieren sie nicht zuletzt auf die lebhaften Debatten, welche im Schatten des dänischen Staatsbankrottes in der zeitgenössischen skandinavischen Ökonomie über die Auswirkungen von Staatskrediten geführt wurden. 31 Vgl. stellvertretend Kurt Aspelin: „Poesi i sak“. Estetisk teori och konstnärlig praxis under folklivsskildringarnas skede. Studier i C.J.L. Almqvists författarskap åren kring 1840. Stockholm 1980.

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kels, in dem sich Almqvist vehement gegen das Allegorisieren und Symbolisieren ausspricht, dann spricht viel für diese These: Man har nu en gång hunnit derhän, att man ledsnat vid det oupphörliga representerandet (symboliserandet, allegoriserandet, liknelse-målandet). Man vill en gång hafva det, hvarom i sekler talats. Man föraktar namn nu: må denna dystra grundsanning tagas och läggas på hjertat; ty det kan omöjligen längre hjelpas; det är så. Namnföraktet består icke deruti, att man vill eller tror sig kunna undvara namn (hvilket vore orimligt), utan deruti, att man vill drifva namnen ifrån det sjelftagna främsta rummet, dit de i sanningens rike icke höra.32 Man ist nun dort angelangt, dass man des unaufhörlichen Repräsentierens (des Symbolisierens, Allegorisierens, des Malens von Gleichnissen) müde geworden ist. Man möchte einmal das haben, worüber Jahrhunderte lang gesprochen wurde. Man verachtet heute Namen: Möge man diesen düsteren Grundsatz nehmen und beherzigen; denn dieser Verachtung kann nicht mehr abgeholfen werden, sie ist da. Die Verachtung des Namens besteht nicht darin, dass man Namen einfach umgehen will oder zu umgehen können glaubt (welches unangemessen wäre), sondern darin, dass man die Namen aus der selbsternannten vordersten Reihe zu vertreiben versucht, wohin sie im Reich der Wahrheit nicht gehören.

Angesichts der Vehemenz, mit der sich Almqvist hier gegen jede Form eines indirekten und vermittelten Sprach- und Zeichengebrauchs ausspricht, überrascht es schon, dass er sich im weiteren Verlauf des Artikels wieder auf eine euphorische Apologie des Betrugs und betrügerischer künstlerischer Techniken einlässt. Ins Zentrum der entsprechenden ästhetischen Reflexion rückt der Begriff des ‚Scharlatans‘. Dabei differenziert Almqvist zwischen der Scharlatanerie der ‚Wahrheit‘ und derjenigen der ‚Gründlichkeit‘. Die Differenz wird an zwei Musikertypen veranschaulicht. Während der eine sich bewusst als Dilettant ausgibt und in seinem anspruchslosen Spiel tatsächlich Kunst produzieren kann, wird der gründliche, geschulte Musiker, der nicht eine Note fehlerhaft spielt, angesichts seiner uninspirierten Spielweise des eigentlichen Kunstbetrugs bezichtigt. Was für das Musikspiel gilt, wird in einer unmerklichen und plötzlichen Wendung auch für das Spiel mit der Sprache in Anspruch genommen: Ty den som tror och påstår sig tala sanning, under det han ljuger (vår tids soi-disanta grundlige), invecklar sig mer och mer. Den deremot, som ljuger, och säger, eller åtminstone ej nekar, att han ljuger, invecklar sig icke: han är ytlig, men eger behaget af uppriktighet.33

32 ASV 26, S. 247. Die Sigle ASV 26 verweist hier und im Folgenden auf Carl Jonas Love Almqvist: Om Poesi i sak. In: C.J.L. Almqvist Samlade verk, Bd. 26. Monografi. Hrsg. v. Bertil Romberg. Stockholm 1995, S. 245–279. Der Text wird somit nach seiner leicht abgewandelten zweiten Fassung von 1844 zitiert. 33 ASV 26, S. 258.  







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Denn der, der glaubt und von sich behauptet, die Wahrheit zu reden, während er lügt (die angeblich Gründlichen unserer Zeit), der verwickelt sich mehr und mehr [in Widersprüche]. Der dagegen, der lügt und sagt, oder zumindest nicht abstreitet, dass er lügt, verwickelt sich nicht [in Widersprüche]; er ist rein äußerlich, aber besitzt den Reiz der Aufrichtigkeit.

Natürlich ist eine Argumentation, die darauf hinausläuft, dass nur der, der bekennt, dass er lügt, aufrichtig ist, zutiefst paradox. Die Paradoxie wird von Almqvist sogar nochmals gesteigert. Sie gipfelt nämlich in der Behauptung, dass die ‚gründliche Scharlatanerie‘ vor allem in dem Reden über dieselbe zum Ausdruck komme: Denna persons friponneri fotar sig på eget sjelfbedrägeri: det gör oss derföre ondt, så outsägligt ondt, att kalla honom det han är, och namnet behöfs också icke. Vi höra honom med hjertligaste glädje börja tala: ingen yttrar sig så fullkomligt emot allt slags charlataneri, som han; och ingen besitter det sjelf i fullkomligare mått […]. Det finnes icke till i hans medvetande, men för öfrigt i hela hans person: ingen enda åtbörd, intet ögonkast, ingen vändning i gången och med händerna består af annat.34 Die Freizügigkeit, mit der sich diese Person präsentiert, gründet sich auf einen Selbstbetrug: Es tut uns deshalb leid, so unendlich leid, sie als das zu bezeichnen, was sie ist, und der Name ist eigentlich auch nicht nötig. Wir hören sie mit der größten Freude zu reden anfangen, niemand äußert sich so vollkommen gegen jede Art der Scharlatanerie wie sie; und keiner besitzt sie in vollkommenerem Ausmaß […]. Die Scharlatanerie existiert nicht in ihrem Bewusstsein, aber sonst in der ganzen Person: Nicht eine Geste, nicht ein Blick, keine Wendung des Ganges oder der Hände besteht aus etwas anderem als Scharlatanerie.

Spätestens angesichts dieser zugespitzten Form eines autodekonstruktiven Sprachgebrauchs, der sich durch die reflektierte Distanzierung von der Scharlatanerie selbst der Scharlatanerie überführt, gerät die Differenz zwischen ‚wahrhaftiger‘ und ‚gründlicher Scharlatanerie‘ sowie das ganze Programm der ‚Poesie in der Sache‘, das zu Beginn des Artikels verkündet wird, ins Wanken.35 Der Artikel führt vor, dass es jenseits des Selbstbetruges keinen ‚eigentlichen‘, ‚direkten‘ und ‚unmittelbaren‘ Sprachgebrauch gibt bzw. dass die Rede wider einen vermittelten Gebrauch von Zeichen, Symbolen, Allegorien und Gleichnissen selbst auf einem indirekten und in sich gebrochenen Sprachgebrauch beruht.

34 Ebd. 35 Auf die Paradoxien des Artikels hat schon Kurt Aspelin aufmerksam gemacht: „Det är en genial improvisation, lika full med ironier och paradoxala formuleringar som fattig på systematiskt utförda resonemang.“ – „Es handelt sich um eine geniale Improvisation, die ebenso voll von Ironie und paradoxalen Formulierungen ist wie arm an einem systematisch ausgeführten Programm.“ Zitiert nach Aspelin: „Poesi i sak“ (Anm. 31), S. 10.  







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In diesem Zusammenhang ging es mir vor allen Dingen darum zu zeigen, auf welche Weise Almqvist seine ökonomischen Überlegungen zum Betrug ästhetisch produktiv zu machen versucht. In seinem Plädoyer für einen ‚Poesie der Sache‘ und gegen eine ‚Poesie des Namens‘ betätigt er sich als durchtriebener „Falschnamenmünzer“, der genau mit den produktiven Effekten seiner betrügerischen Rede umzugehen weiß.36 Interessanterweise lässt sich Kierkegaard in einem handschriftlichen Entwurf „Christelig Revision“ („Christliche Revision“) auf ganz ähnliche Argumentationsfiguren ein, mit denen auch er die sprachliche Produktivität des Betrugs zu umreißen scheint. Ausgangspunkt des entsprechenden Eintrags in dem vermutlich um 1854 entstandenen Journal NB 32 bildet die Analogie von Geld und Begriffen: „Was in der endlichen Welt Geld ist, das sind in der geistigen die Begriffe“ („Hvad i Endelighedens Verden Penge er, er aandeligt, Begreberne“37). Genau diese Begriffe seien nun von Generation zu Generation einer beständigen Verfälschung und Abweichung ausgesetzt, so dass man sie heute nur noch als Falschgeld bezeichnen könne. Die Welt sei entsprechend auf einen Revisor angewiesen, der die Begriffe überprüfe und falsche von echten Münzen, falsche von echten Scheinen zu trennen verstehe.38 Diese philologische Kärrnerarbeit dürfe man – so Kierkegaard – auf keinem Fall der „ganzen Quatsch-Kompanie von Priestern und Professoren“ („det hele Sludder-Compagnie af Præster og Professorer“39) überlassen. Aber auch auf einen Apostel könne man nicht hoffen, da die Qualität edler reiner Einfalt in diesem Kontext nicht weiterhelfe. Vielmehr sei man auf einen Revisor angewiesen, der sich durch ein durch und durch zwiespältiges oder sogar zwielichtiges Wissen auszeichne:  



36 Zum Begriff des „Falschnamenmünzers“ wie zu dem damit verknüpften ökonomisch-poetologischen Reflexionen Jean Pauls, dessen Schriften fraglos einen großen Einfluss auf Almqvist ausgeübt haben, vgl. Caroline Pross: Falschnamenmünzer. Zur Figuration der Autorschaft und Textualität im Bildfeld der Ökonomie bei Jean Paul. Frankfurt a. M. 1997. 37 SKS 26, S. 204. Die Sigle SKS 26 verweist hier und im Folgenden auf Søren Kierkegaard: Christelig Revision. In: Søren Kierkegaards Skrifter, Bd. 26. Journalerne NB 31-NB 36. Hrsg. v. Niels Jørgen Cappelørn u. a. in Verbindung mit dem Søren Kierkegaard Forskningscenteret. Kopenhagen 2009, S. 204–206. 38 Zu der entsprechenden Tradition des Münzvergleiches in der philologischen Tradition vgl. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann: ,Was in der Welt der Endlichkeit das Geld ist, sind geistlich die Begriffe‘. Søren Kierkegaards monetärer Diskurs über das Erkennen der religiösen Wahrheit. In: Wechselkurse des Vertrauens (Anm. 10), S. 88–118. Der Artikel, dem ich die Kenntnis von Christelig Revision verdanke, bietet einen guten Überblick über die vielfältige Verwendung der ökonomischen Metaphorik bei Kierkegaard. 39 SKS 26, S. 205.  















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Det Revisoren behøver er netop hvad Apostelen egl. ikke har Brug for: Intellectualitet, en eminent Intellectualitet, videre et uhyre Kjendskab til alle mulige Gavtyvestreger og Falsationer, fast som var han selv den durchdrevneste af alle Gavtyve – hans Forretning er jo just i Retning af at ‚kjende‘ Falsknerierne.40  

Das, was der Revisor braucht, ist genau das, für das der Apostel eigentlich gar keine Verwendung hat: Intellektualität, eine eminente Intellektualität, darüber hinaus eine ungeheure Kenntnis aller möglicher Gaunereien und Fälschungen, so als ob er selbst der durchtriebendste aller Gauner wäre – seine Tätigkeit besteht ja genau darin, Fälschungen zu ‚erkennen‘.  

Um die Tätigkeit des nach Begriffsfälschungen fahndenden Revisors näher zu umreißen, wählt Kierkegaard schließlich ein Bild, das sich selbst genau durch die Zwiespältigkeit auszeichnet, welche die Arbeit des Revisors kennzeichnen soll: Jeg har bestandigt kun eet Billede, men det er saa betegnende. Tænk, at Banken i London blev opmærksom paa, at der circulerede falske Sedler – og som vare saa godt gjorte, at det var til at fortvivle over, at sikkre sig at kjende dem, og sikkre sig fremtidigen mod Eftergjørelse. Trods hvad Talenter der kunde være mellem Bankens eller Politiets Personale – der var dog kun Een, som just i denne Retning var ubetinget Talent – men det var en af de dømte Personer, en Forbryder.41  





Ich habe beständig nur ein Bild vor Augen, aber das ist so bezeichnend. Denk, wenn die Bank in London darauf aufmerksam würde, dass falsche Scheine zirkulieren –und dass diese Scheine so gut gemacht seien, dass es zum Verzweifeln wäre, sie sicher zu erkennen und sich auch zukünftig vor Nachahmung sichern zu können. Trotz aller Talente, die sich dort unter dem Personal der Bank oder der Polizei befinden hätten können – war dort doch nur einer, der in dieser Hinsicht wirklich ein uneingeschränktes Talent besaß – aber das war eine der verurteilten Personen, ein Verbrecher.  





Ich komme nochmals zu einer Zusammenfassung: Während Adam Müller in seiner Geldtheorie auf die Rhetorik zurückgreift, um die Eigendynamik der monetären Zeichen autoritativ zu rahmen, scheinen Almqvist und Kierkegaard umgekehrt auf die seltsamen Effekte der Ökonomie zu rekurrieren, um eine zutiefst paradoxe sprachlich-rhetorische Dynamik zu entfalten. D.h. sie versuchen die autoritative Rahmung ihrer Texte zu zersetzen, indem sie die unterschiedlichen narrativen Instanzen widersprüchlich als der Wahrheit verpflichtete Falschmünzer, betrügerische Begriffsrevisoren oder wahrhaftige Scharlatane inszenieren. All das könnte vorschnell zu der Schlussfolgerung einladen, dass sie sich mit ihren Texten an einer Zersetzung hermeneutischer Lesepraktiken beteiligen, die schon in der Frühromantik mit indirektem Rekurs auf die dynamischen Prozesse

40 Ebd. 41 Ebd.

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der Ökonomie als ‚Ironie‘ definiert wurde.42 Eine solche Konklusion würde allerdings verkennen, wie bewusst Almqvist und Kierkegaard nicht nur mit den Vorgaben Adam Müllers, sondern auch mit den Ironie-Konzepten der Frühromantiker spielen. Immerhin deutet sich bei beiden Autoren an, dass sie den Bezug auf die ökonomischen Diskurse rund um Kredit, Glaubwürdigkeit und Vertrauen für eine potenzierte Form des rhetorischen Betrugs zu nutzen versuchen, der schlicht Kredit beim Leser beantragt, um den Sprachskeptizismus und die unabschließbaren Reflexionsschleifen der romantischen Ironie zu überwinden und sich ins Wahre hineintäuschen zu lassen.43

42 Ausführlich zum Zusammenhang von regulierter Nationalökonomie und Hermenutik in Weimar um 1800 vgl. Wirz: Hermeneutik und ökonomischer Kredit (Anm. 1). Zum subversiven Bezug auf die deregulierte Marktwirtschaft in der Frühromantik vgl. Christa Karpenstein-Eßbach: Romantische Ironie und das Denken der Marktwirtschaft. In: Vera Alexander u. Monika Fludernik (Hrsg.): Romantik. Trier 2000, S. 167–180. 43 Zur wichtigen und durch und durch paradoxen Gedankenfigur des ‚Hineintäuschen in das Wahre‘ bei Kierkegaard vgl. Mariele Nientied: Kierkegaard und Wittgenstein. ‚Hineintäuschen in das Wahre‘. Berlin 2003. Möglicherweise ließen sich auch Stanley Cavells Überlegungen zur „Stimme als Pfand“, mit denen er den Sprachskeptizismus der Dekonstruktion zu überwinden versucht, im Zusammenhang mit Almqvists und Kierkegaards Überlegungen zu Kredit und Sprache produktiv machen. Vgl. dazu Elisabeth Bronfen: Stanley Cavell zur Einführung. Hamburg 2009, S. 47–117.  





Eckhard Schumacher

Frühromantik und Gegenwartsliteratur Progressive Universalpoesie um 2000 „Wir waren Frühromantiker, eine Bewegung, jung, eine Wahrheit, und ganz schnell vorbei“, fasst der Schriftsteller Rainald Goetz in einer Poetikvorlesung im Frühjahr 2012 die „popliterarischen Jahre“ Ende der 1990er zusammen und bringt so, durchaus überraschend, auch das Schlagwort ‚Popliteratur‘ auf den in diesem Zusammenhang springenden Punkt: „Popliteratur war kollektivistisch, gegenwärtig und herrlich egoman, flashy, swishy, und natürlich überall ganz schnell sehr stark verhasst, sogar bei den Protagonisten selbst […].“1 Unter dem Titel „Leben und Schreiben“ eröffnet Goetz auf diese Weise nicht nur eine ungewöhnliche Perspektivierung der sogenannten Popliteratur der späten 1990er Jahre. In pointierter Form skizziert er zugleich ein Konzept von Frühromantik, das auch für eine Sichtung gegenwärtiger Perspektiven der Romantikforschung bemerkenswert erscheint. So fällt auf, dass Goetz hier nicht nur auf die üblicherweise mit der Frühromantik assoziierten Topoi rekurriert. Er lenkt die Aufmerksamkeit vielmehr auf andere, nicht weniger signifikante Aspekte, die er als gemeinsame Nenner von Frühromantik und Popliteratur präsentiert – auf das Provokationspotenzial, die Gegenwartsfixierung, die kurze Dauer und eine spezifische Form der Kopplung von Leben und Schreiben, hier begriffen als „Augenblick der Nähe zu ganz vielen fundamental Anderen“.2 Angesichts dieser – wie auch immer ironisch gebrochenen – Selbsthistorisierung, die wie selbstverständlich die Frühromantik als Bezugspunkt für das gegenwärtige Schreiben anführt, wäre auch über den konkreten Fall hinaus zu fragen, wie in Überlegungen zur Gegenwartsliteratur mit Verweisen auf die Romantik operiert wird, welche Rolle Romantik für die Konstruktion von Traditionslinien, Verweisketten und literaturgeschichtlichen Zusammenhängen spielt und wie das, was unter dem Stichwort ‚Romantik‘ verstanden werden kann, auch durch derartige Bezugnahmen neu konfiguriert wird. Diese Fragen, deren Reichweite nicht auf die Rekonstruktion einer neuen Phase der Romantik-Rezeption beschränkt bleibt, können hier nicht beantwortet, nur als solche skizziert werden. Der Blick auf eine konkrete Konstellation kann aber vielleicht verdeutli 





1 Rainald Goetz: Leben und Schreiben. Der Existenzauftrag der Schrift, Antrittsvorlesung zur Heiner-Müller-Gastprofessur an der Freien Universität Berlin, 12.05.2012. Zitiert nach der Videoaufzeichnung: http://www.youtube.com/watch?v=tJk2_Yopxcw (Stand 09.06.2015). 2 Ebd.

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chen, dass eine solche Perspektivverschiebung auf das Feld der Gegenwartsliteratur auch für die Romantikforschung gewinnbringend sein könnte. Bemerkenswert ist die Selbstverortung von Goetz – „Wir waren Frühromantiker“ – auch insofern, als ihr Zuschreibungen seitens der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft korrespondieren, die zwar nur selten den Zusammenhang der ‚Popliteratur‘, umso regelmäßiger aber Goetz’ literarische Texte in ein Verhältnis zur Romantik setzen. Dies geschieht seit den 1980er Jahren aus unterschiedlichen Perspektiven und kann auf eine historisch-systematische Analogisierung abzielen, auf eine literaturgeschichtliche Nobilitierung oder auch auf eine polemische Diskreditierung. Selbst wenn nicht jeder Verweis auf die Romantik in diesem Zusammenhang überzeugen kann, gerade weil Verzerrungen und Verkürzungen den Diskurs ebenso prägen wie hellsichtige Entdeckungen und weiterführende Analysen, verspricht eine genauere Untersuchung derartiger Bezugnahmen nicht nur im Blick auf die Gegenwartsliteratur aufschlussreich zu sein, in diesem Fall auf Texte von Goetz, sondern auch im Blick auf gegenwärtige Konzepte der Romantik. Unabhängig von der je spezifischen Wertung und Zielsetzung etablieren die Rekurse auf die Romantik einen Zusammenhang, der selbst dann noch Verknüpfungen sichtbar macht, wenn Goetz’ Texte dezidiert von denen der Romantiker unterschieden werden. Schon das 1988 erschienene Buch Kontrolliert,3 eine Auseinandersetzung mit dem Terror des Jahres 1977, wird in einer Rezension als „romantisches Gedicht“ klassifiziert, in dem das „romantische Ich“ wiederkehre und in dem es Goetz „nicht um die RAF, sondern um die deutsche Romantik“ gehe.4 Zehn Jahre später ziehen die Bücher, die Goetz im Rahmen seiner fünfbändigen ‚Geschichte der Gegenwart‘ unter dem Gesamttitel Heute Morgen publiziert,5 fast durchgehend die Zuschreibung Romantik auf sich. Wie im Fall des 1998 erschienenen Stücks Jeff Koons,6 anhand dessen der Autor als „Neu-Romantiker“ identifiziert wird,7 werden die Verbindungen auch mit Blick auf die zwei Jahre später veröffentlichte Erzählung Dekonspiratione festgestellt,8 allerdings auf durchaus gegenläufige  



3 Rainald Goetz: Kontrolliert. Frankfurt a. M. 1988. 4 Willi Winkler: Niemand, nichts, nur ich. Rainald Goetz schreibt seinen zweiten Roman, es geht aber nicht um die RAF, sondern um die deutsche Romantik. In: Die Zeit 07.10.1988. 5 Vgl. ausführlicher dazu Eckhard Schumacher: ,Jetzt, ja, nochmal. Jetzt.‘ Rainald Goetz’ Geschichte der Gegenwart. In: Ders.: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003, S. 111–154. 6 Rainald Goetz: Jeff Koons. Frankfurt a. M. 1998. 7 Verena Auffermann: Neue Romantik. Christian Pade inszeniert in Frankfurt ‚Jeff Koons‘. In: Süddeutsche Zeitung 22.02.2001. 8 Rainald Goetz: Dekonspiratione. Frankfurt a. M. 2000.  









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Weise: Während einerseits das „Ich“ als „Romantiker“ beschrieben wird,9 erscheint aus anderer Perspektive der Autor von Dekonspiratione als „Oberflächenexperte, der sich konsequent von der romantischen Sprache der Ironie verabschiedet hat“.10 Eindeutiger verläuft die Zuordnung im Fall der 1998 erschienenen Erzählung Rave, deren „Geschichten aus dem Leben im Inneren der Nacht“,11 fokussiert auf die Techno-Szene der 1990er Jahre, zwar wiederum ganz unterschiedlich beurteilt, aber unabhängig von der Beurteilung häufig auf romantische Vorbilder und Paradigmen bezogen werden. Im Vergleich mit anderer „Rave-Literatur“ skeptisch als „romantische Überschreibung“ klassifiziert,12 im Vergleich mit Novalis’ Hymnen an die Nacht mit literaturwissenschaftlicher Emphase als „ergiebiger Ausgangspunkt für einen Text- und Epochenvergleich“ vorgestellt,13 wird Rave an anderer Stelle als „eigenartig rein ausgeprägter frühromantischer Roman“ identifiziert, dessen „naheliegendes Vorbild“ Schlegels Lucinde sei, als „Probe auf das Exempel der progressiven Techno-Universalpoesie“, die ebenso wie andere Texte von Goetz eigentlich nur wiederholt, was der Kritikerpoet Friedrich Schlegel […] 1798 im Athenäum über die romantische Poesie schrieb: ‚Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennte Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen, und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will, und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig, und das Leben und die Kunst poetisch machen.‘14

Neben dem Verweis auf die romantische Ironie ist es vor allem der Rekurs auf Schlegels Konzept der progressiven Universalpoesie, hier mit dem einschlägigen Ausschnitt aus dem 116. Athenäums-Fragment belegt,15 der sich wie ein roter

9 Christoph Bartmann: „Dekonspiratione“ [Büchermarkt-Rezension], 25.10.2000. http://www. dradio.de/dlf/sendungen/buechermarkt/164844/ (Stand: 09.06.2015). 10 Eberhard Rathgeb: Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung. Wie man Banalitäten beschreibt: Rainald Goetz verließ erst heute Morgen die Party. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 21.03.2000. 11 Rainald Goetz: Rave. Frankfurt a. M. 1998, Klappentext. 12 Jörg Sundermeier: Rave around the Tickerlady. Wie kommt der Techno in die Belletristik? In: de-bug 09 (2007), H. 115, S. 29. Online verfügbar: http://www.de-bug.de/share/debug115.pdf (Stand 09.06.2015). 13 Andreas Wicke: Nacht und Diskurs. Novalis’ Hymnen an die Nacht (1800) und Rainald Goetz’ Nachtlebenerzählung Rave (1998). In: Der Deutschunterricht (2002) H. 5, S. 75–79, hier S. 75. 14 Stephan Wackwitz: Popmusik, Literatur und die Erzeugung schwerer Zeichen [=Literatur. Eine Kolumne]. In: Merkur 598 (Januar 1999), S. 55–61, hier S. 59. 15 Vgl. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2. Hrsg. v. Hans Eichner. Paderborn u. a. 1967, S. 182 f.  



















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Eckhard Schumacher

Faden durch die Goetz-Rezeption in Literaturkritik und Literaturwissenschaft zieht und sich auch in der Rezeption des aktuellen, noch nicht abgeschlossenen mehrbändigen Buchprojekts Schlucht fortsetzt. Nach Erscheinen der diesem Projekt zugeordneten Bücher loslabern und Klage16 konstatiert die Kritik „romantische Rückzugsphantasien“,17 loslabern wird einer „neuen romantischen Universalpoesie“ zugeordnet,18 angesichts von Passagen aus Klage, zunächst als Blog und anschließend als Buch publiziert, entdeckt die Kritik „Denkwege, die in der Tradition der Jenaer Romantik stehen“ und „Überzeugungen“, die „an den großen Theoretiker der romantischen Ironie Friedrich Schlegel und den frühverblichenen Verfechter der poetischen Weltwiederverzauberung Friedrich von Hardenberg aka Novalis“ anschließen.19 An dieser Rezension, veröffentlicht in der Popkulturzeitschrift Spex, fällt auf, dass die Verbindung zur Romantik nicht nur explizit als Qualitätsmerkmal begriffen wird. Insofern betont wird, diese „Überzeugungen“ und „Denkwege“ markierten „zugleich die gar nicht scharf genug zu ziehende Differenz zwischen dem Grenzgänger Goetz und all dem, was man sich mit leise Verachtung ausdrückender, hochgezogener Braue angewöhnt hat, ‚Popliteratur‘ zu nennen“,20 fungiert der Traditionsverweis zudem auch als Abgrenzungskriterium im Feld der Gegenwartsliteratur. Dabei ergeben sich nicht zuletzt dadurch irritierende Komplikationen, dass gerade dort eine scharfe Grenzlinie gezogen wird, wo Goetz selbst zumindest punktuell – „Wir waren Frühromantiker“ – einen Differenzen überbrückenden Zusammenhang realisiert sieht. Diese Komplikationen lassen sich nicht dadurch lösen, dass man sie auf möglicherweise ungenaue oder nur unzureichend begründete Verknüpfungen zwischen Frühromantik und Gegenwartsliteratur reduziert. Ein Blick auf die hier verhandelten Texte und die sie supplementierenden Paratexte zeigt vielmehr, dass diese Komplikationen geradezu systematisch erzeugt werden, durch Autoren, die den Romantikbezug häufig selbst in ihre Texte integrieren, und durch Texte, die nicht immer trennscharf von ihren vermeintlichen Paratexten unterschieden werden können und es darüber  



16 Rainald Goetz: Klage. Frankfurt a. M. 2008; ders.: loslabern. Frankfurt a. M. 2009. 17 Andreas Bernard: Simultandolmetscher des Jetzt. Schriftsteller Rainald Goetz, 17.05.2010. http://www.sueddeutsche.de/kultur/schriftsteller-rainald-goetz-simultandolmetscher-des-jetzt1.42886 (Stand 09.06.2015). 18 Lutz Hagestedt: Hochkulturarroganz und Seriositätsidee. Rainald Goetz als Beobachter des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher. In: Mariann Skog-Södersved u. a. (Hrsg.): Sprache und Kultur im Spiegel der Rezension.Frankfurt a. M. 2010, S. 151–167, hier S. 157. 19 Thomas Hübener: Zur Klage der Nation. Rainald Goetz. In: Spex 09–10/2008, H. 316, S. 114– 119, hier S. 118. 20 Ebd.  















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hinaus gelegentlich geradezu offensiv darauf anzulegen scheinen, die Paradigmen ‚romantische Ironie‘ und ‚progressive Universalpoesie‘ aufzurufen. Schon knapp drei Jahre vor der oben zitierten Selbstbeschreibung als „Frühromantiker“ hat Goetz in loslabern eine Einlassung auf Christian Krachts Roman Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten mit einer – wie auch immer fiktionalisierten – Erinnerung daran verknüpft, dass Kracht Ende der 1990er Jahre „alle damals relevanten Schreiber aus der Popecke um sich versammelte“ und „quasi im Schwung der aktuellen Stimmung die Romantikerbewegung des ausgehenden, fin-de-siècle-haft hysterisch aufgedrehten 20. Jahrhunderts aus dem Berliner Boden stampfte“.21 Dadurch hat Kracht, so der Berichterstatter in loslabern, nicht nur „den von ihm herausgegebenen Band Mesopotamia“ ermöglicht, an dem auf Anfrage von Kracht auch das in loslabern berichterstattende ‚Ich‘ beteiligt war,22 sondern zudem auch verschiedene „Romantikertreffen im Umfeld der Jahrtausendwende“, die in loslabern als ein „Vorgriff auf Utopia und Paradisien“ rekapituliert werden. Ein „Vorgriff“, der, dies wird auch hier explizit hervorgehoben, nur „für einen kurzen Augenblick“ funktionieren konnte: „Dann spannte Schlegel dem Eichendorff die vierte Frau oder den ersten Heine aus, Wackenroder hatte mit Novalis eine Sonderstellung ausprobiert, Hoffmann Lottmann eingespannt, Nietzsche Thomas Mann zerstört etc., und es wurde schwierig, klar […]“.23 Es wäre wenig zielführend, solche komischen, auch Albernheit zelebrierenden Darstellungen der angeführten „Romantikerbewegung“ von Goetz’ vermeintlich ernsthaft romantischen ‚Denkwegen‘ abzulösen oder sie als Argument gegen diese Verknüpfung anzuführen. Es ließe sich vielmehr zeigen, dass die grundsätzliche Infragestellung des Romantikbezugs, die nicht nur an dieser Stelle durch komisch-groteske Verzerrungen oder ironische Wendungen zumindest als Möglichkeit eröffnet wird, diesen nicht unterläuft, sondern vielmehr geradezu systematisch grundiert. Auf andere, aber vergleichbare und vielfach in die skizzierten Zusammenhänge verwickelte Weise gilt dies auch für Christian Kracht, der nicht nur regelmäßig der Popliteratur zugeordnet, sondern ebenfalls auffallend häufig mit Romantik in Verbindung gebracht wird und dieser Lesart in seinen Texten selbst durchaus, wenn auch meist eher implizit und indirekt, zuarbeitet. Zuletzt war dies in der Diskussion um den Roman Imperium zu beobachten, in dem Kracht nicht nur seinen Protagonisten, eine Fiktionalisierung des historischen ‚Sonnenanbeters‘  



21 Goetz: loslabern (Anm. 16), S. 44. 22 Das ‚Ich‘ in loslabern verweist hier direkt auf den Autor des Berichts, der am besagten Buch beteiligt war, vgl. Rainald Goetz: Samstag, 5. Juni 1999. In: Christian Kracht (Hrsg.): Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends. Stuttgart 1999, S. 146–171. 23 Goetz: loslabern (Anm. 16), S. 44.  











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August Engelhardt, sondern scheinbar beiläufig auch Adolf Hitler als „Romantiker“ apostrophierte.24 In einer polemischen Einlassung, die den Autor als „Türsteher der rechten Gedanken“ zu diskreditieren versuchte und damit zum Ausgangspunkt für eine weit ausgreifende Debatte wurde, nahm ein Kritiker diese Zuschreibung auf, indem er die Fragen aufwarf, was „Hitler zum Romantiker“ mache und was „die Romantik für Kracht“ bedeute.25 Die bedenkenswerte Annahme, es gehe „diesem sehr genauen Schriftsteller“ mit diesen provokativen Apostrophierungen darum, „die Widerstandsfähigkeit seiner Gegenwart zu testen“, wurde dann in den etwas schlichter angelegten Verdacht überführt, es handele sich um einen Versuch, „die Romantik von ihrem bösen Ende und Erbe zu befreien“.26 Unter der im gegebenen Zusammenhang signifikanten Überschrift „Die blaue Blume der Romantik“ entgegnete der Verleger dem Kritiker, der Roman erzähle „das exakte Gegenteil – eine Parabel über die Abgründe, Verirrungen und Gefahren, die in romantischen deutschen Selbstermächtigungen seit dem 19. Jahrhundert angelegt sind“, so dass „plötzlich klar“ werde, „worin die dunkle Seite der deutschen Romantik auch gipfelte, neben all den anderen harmlosen und schönen Blüten, die sie bis in die Kultur der Gegenwart getrieben hat und treibt“.27 Der Diskurs über die Romantik mit Blick auf Kracht und die „Kultur der Gegenwart“ war eröffnet, offen für Fortsetzungen, die in schneller Folge erschienen. Dabei verschob sich im Verlauf der Debatte der Blick von den explizit im Roman angelegten Romantik-Verweisen hin zu Krachts Schreibverfahren, die als Wiederaufnahme des Prinzips der romantischen Ironie identifiziert wurden. „Kracht benutzt hier einen schönen romantischen Kniff. Er lässt die Ironie ironisch werden, sie wendet sich gegen sich selbst“, argumentiert ein Kritiker und schließt daraus, die „Ironisierung der Ironie“ mache das Buch zu einem „Vexierbild“.28 Dass diese Perspektivierung – wiederum unabhängig von der mit ihr verbundenen Wertung – für eine Lektüre des Buchs fruchtbar sein kann, bestätigt sowohl der Vorschlag, den Autor in der „Hölle der Ironie“ zu verorten,29 als auch der Versuch – von Ralph Pordzik in einem Essay zu „Struktu 









24 Christian Kracht: Imperium. Köln 2012, S. 18. 25 Georg Diez: Die Methode Kracht. In: Der Spiegel 7/2012, S. 100–103, hier S. 101. u. 103. 26 Ebd., S. 101 f. 27 Helge Malchow: Die blaue Blume der Romantik. In: Der Spiegel 8/2012, S. 126–128, hier S. 127 f. 28 Thomas Assheuer: Ironie? Lachhaft. Viele Kritiker halten Christian Krachts Roman ‚Imperium‘ für schöne Spielerei. Das ist ein Irrtum. In: Die Zeit 23.02.2012. 29 Antonia Baum: Hölle der Ironie. In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 19.02.2012; auch unabhängig von Bezügen zur Romantik werden Krachts Texte häufig mit Verfahren der Ironie in Verbindung gebracht; vgl. dazu etwa den Abschnitt „Die Ironie-These“ in Lutz Hagestedt: ,Die absolute Freiheit und der Schrecken‘. Erinnerungskultur und Gegenwartsbezug bei Christian  















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ren parasitärer Ironie in Christian Krachts ‚Imperium‘“ entwickelt –, Kracht gleich ganz grundsätzlich in die Reflexionsschleifen der Romantik zu verwickeln:  

Seine Werke bilden mit ihrer Neuauflage ästhetischer Reflexion über den Nutzen der Ironie diesen Prozess zugleich allegorisch ab. Gegen die historische und kontextuelle Bedingtheit der rhetorischen Ironie nehmen sie ihren epistemologischen Ausgang von der Unbedingtheit der romantischen Ironie, die als Prozess unabschließbarer Reflexion von Dargestelltem und Darstellendem konfiguriert ist. Als Beispiele für die Arbeit an der Ironie zweiter Ordnung erinnern sie damit noch in ihrer Wiederholung des Konflikts ironisch an jenen tiefen Ernst, der sein Entstehen ursprünglich bestimmt hat: ‚Alle höchsten Wahrheiten jeder Art sind durchaus trivial und eben darum ist nichts notwendiger als sie immer neu, und wo möglich immer paradoxer auszudrücken, damit es nicht vergessen wird, dass sie noch da sind, und dass sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können.‘30

Hier bleibt der Verweis auf Schlegels Konzept der progressiven Universalpoesie nicht auf das vielfach zitierte 116. Athenäums-Fragment beschränkt, er rekurriert zugleich auf Schlegels Essay Über die Unverständlichkeit, dem das angeführte Zitat entnommen ist und in dem Schlegel seine Überlegungen zur „Ironie der Ironie“ entfaltet.31 So wird Kracht nicht nur ein „schöner romantischer Kniff“ zugestanden, seine Texte und seine Schreibverfahren werden vielmehr auf eine Weise in die romantische „Ironie der Ironie“ und die anhängenden Forschungsdiskussionen eingebunden, dass sich in der vervielfältigten Reflexion letztlich auch die Differenzen zwischen romantischer Ironie und der „Neuauflage“ bzw. „Wiederholung“ durch Kracht zu verflüchtigen scheinen. Auch wenn eine Entdifferenzierung in dieser Hinsicht wenig wünschenswert sein mag, eröffnet die Lektüre doch gerade in der Engführung von Schlegel und Kracht überraschende Einsichten, die einmal mehr auch den Blick auf die heutige Diskussion des Konzepts der romantischen Ironie fokussieren. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, als auch die Problematisierung, Infragestellung und Verabschiedung der Ironie, für die sich Kracht einige Jahre zuvor wiederholt engagiert hat, wie eine Neuauflage einer romantischen Konstellation erscheint, die wiederum auf Schlegels Überlegungen zur „Ironie der Ironie“ in Über die Unverständlichkeit verweist. „Irony is over, bye bye“ war, markiert als ein Zitat von Jarvis Cocker, auf der Rückseite der bereits angeführten, 1999 von Kracht herausgegebenen Anthologie

Kracht. In: Johannes Birgfeld u. Claude D. Conter (Hrsg.): Christian Kracht. Zu Leben und Werk. Köln 2009, S. 131–149, hier S. 141 f. 30 Ralph Pordzik: Wenn die Ironie wild wird. Strukturen parasitärer Ironie in Christian Krachts ‚Imperium‘. In: Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 23 (2013), S. 574–591, hier S. 577. 31 Vgl. Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 2. (Anm. 15) S. 363–372, hier S. 369.  

















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Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends zu lesen.32 Der im gleichen Jahr erschienene Gesprächsband Tristesse Royale, an dem Christian Kracht beteiligt war und der schnell ins Zentrum der Popliteratur-Debatten rückte, liest sich in dieser Hinsicht wie ein Supplement zum Ende der Ironie, das dieses zugleich systematisch unterminiert. Das Buch stellt die Transkription einer Gesprächsrunde dar, situiert in der Executive Lounge des Hotel Adlon in Berlin, in der in vielfachen Wendungen die „komplette Ironisierung“ der Gesellschaft beklagt wird.33 Die Suche nach Auswegen gestaltet sich schwierig. So wie die „selbstironisierende Affirmation des Medienechos“ und der „Vormarsch der ironischen Selbstbespiegelung“,34 die die Gesprächsrunde als Probleme der Gegenwartskultur ausmacht, strukturell durchaus auch die Runde selbst betreffen, ist Tristesse Royale darüber hinaus nicht zuletzt durch jene ironischen Schreibweisen und Haltungen gekennzeichnet, die verabschiedet werden sollen. Dass dies wiederum auch im Gespräch reflektiert wird – „mit unserem Tun haben wir uns doch alle vollkommen der Ironie unterworfen“35 –, ist insofern nur konsequent und verweist einmal mehr auf jene Problematik, die Schlegel 200 Jahre zuvor am Fall der „Ironie der Ironie“ entwickelt hatte.36 Wenn Tristesse Royale das Ende der Ironie so in mehrfachen Anläufen avisiert, es aber aufgrund der Performanz des Textes wie auch aufgrund einiger im Text herausgestellter Eigenheiten des Begriffs der Ironie nicht erreicht, kann auch ein Rückgriff auf Schlegel die anfallenden Probleme nicht lösen. Sie lassen sich aber durchaus relativieren und auf diese Weise zumindest als Probleme präzisieren. „Im allgemeinen“, schreibt Schlegel im Frühjahr 1800, „ist das wohl die gründlichste Ironie der Ironie, daß man sie doch eben auch überdrüssig wird, wenn sie uns überall und immer wieder geboten wird.“37 Skeptisch stellt Schlegel fest, dass die Ironie an „die Tagesordnung“ gekommen ist und eine „Menge großer und kleiner Ironien jeder Art aufgeschossen ist“, die es notwendig erschei 





32 Vgl. Kracht (Hrsg.): Mesopotamia (Anm. 22), Umschlagseite U4; das Zitat verweist auf den Song ,The Day after the Revolution‘ der britischen Band Pulp, vgl. Pulp: This is Hardcore, Island Records 1998. Jarvis Cocker, Sänger der Band, murmelt am Ende des Songs: „Irony is over, bye bye.“ 33 Joachim Bessing: Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett mit Joachim Bessing, Christian Kracht, Eckhart Nickel, Alexander v. Schönburg und Benjamin v. Stuckrad-Barre. Berlin 1999, S. 144. 34 Ebd., S. 31. 35 Ebd., S. 146. 36 Vgl. dazu auch Eckhard Schumacher: Das Ende der Ironie (um 1800/um 2000). In: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1/2003, S.18–30. 37 Schlegel: Über die Unverständlichkeit (Anm. 31), S. 368. Vgl. ausführlicher dazu und zu Schlegels Essay Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Frankfurt a. M. 2000, S. 157–255.  



   









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nen lässt, „einige der vorzüglichsten Arten“ anzuführen, um „die Übersicht vom ganzen System der Ironie zu erleichtern“.38 Die „Ironie der Ironie“, die er als letztes Beispiel in seiner Auflistung der „vorzüglichsten Arten“ der Ironie anführt, entsteht, folgt man Schlegel, „auf mehr als einem Wege“: Wenn man ohne Ironie von der Ironie redet, wie es soeben der Fall war; wenn man mit Ironie von einer Ironie redet, ohne zu merken, daß man sich zu eben der Zeit in einer andren viel auffallenderen Ironie befindet; wenn man nicht wieder aus der Ironie herauskommen kann, wie es in diesem Versuch über die Unverständlichkeit zu sein scheint.39

So wie sich die Bestimmungen, die über den Status des Textes gemacht werden, weiter vervielfältigen, ohne dass ein gesicherter Standpunkt festgelegt werden könnte, entzieht sich hier auch Ironie der Ironie der Kontrolle. Sie entsteht, „wenn die Ironie wild wird, und sich gar nicht mehr regieren läßt“,40 und das kann, folgt man dem Text, immer passieren, wenn Ironie im Spiel ist. Sowohl gezielt unironisches Reden wie auch ironische Äußerungen über die Ironie produzieren neue Konstellationen von Ironie, so dass auch ein Reden über die Ironie dem ausgesetzt bleibt, was Schlegel als Eigenheiten der Ironie beschreibt. „Welche Götter werden uns von allen diesen Ironien erretten können?“, fragt Schlegel, begibt sich auf die Suche nach einer Ironie, „welche die Eigenschaft hätte, alle jene großen und kleinen Ironien zu verschlucken und zu verschlingen, daß nichts mehr davon zu sehen wäre“, und gesteht, dass er „eben dazu in der meinigen eine merkliche Disposition fühle“.41 Im Verlauf der Erläuterung der Ironie der Ironie ist allerdings längst fraglich, wie man angesichts einer als nicht kontrollierbar dargestellten Ironie diese noch mit einem Possessivpronomen belegen kann, und entsprechend ist auch diese Lösung des Problems nicht endgültig: „Aber auch das“, schreibt Schlegel weiter, „würde nur auf kurze Zeit helfen können. Ich fürchte, wenn ich anders, was das Schicksal in Winken zu sagen scheint, richtig verstehe, es würde bald eine neue Generation von kleinen Ironien entstehn […]“.42 Mit Blick auf die skizzierten Diskussionen zur Wiederkehr bzw. Neuauflage der Ironie und weiterer Paradigmen der Romantik im Kontext der Gegenwartsliteratur erscheint es vielversprechend, diese nicht nur, aber durchaus auch ironischen Überlegungen Friedrich Schlegels aufzunehmen, fortzuführen und auch sie aus Sicht der Gegenwartsliteratur einer erneuten Lektüre zu unterziehen.

38 39 40 41 42

Schlegel: Über die Unverständlichkeit (Anm. 31), S. 368 f. Ebd., S. 369. Ebd. Ebd., S. 370. Ebd.  







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Eckhard Schumacher

Ansätze dafür liegen, wie skizziert, bereits vor. Genauere Untersuchungen stehen noch aus, und es spricht einiges dafür, dass man – mit Blick auf die Gegenwartsliteratur wie auf die Frühromantik – dabei die warnenden Worte im Blick behalten sollte, die Schlegel ihnen schon im Jahr 1800 mit auf den Weg gegeben hat:  



Mit der Ironie ist durchaus nicht zu scherzen. Sie kann unglaublich lange nachwirken. Einige der absichtlichsten Künstler der vorigen Zeit habe ich in Verdacht, daß sie noch Jahrhunderte nach ihrem Tode mit ihren gläubigsten Verehrern und Anhängern Ironie treiben. Shakespeare hat so unendlich viele Tiefen, Tücken und Absichten; sollte er nicht auch die Absicht gehabt haben, verfängliche Schlingen in seine Werke für die geistreichsten Künstler der Nachwelt zu verbergen, um sie zu täuschen, daß sie ehe sie sichs versehen, glauben müssen, sie seien auch ungefähr so wie Shakespeare.43

43 Ebd.

Edoardo Costadura

Französische Romantik als „Gegen-Moderne“? Auch eine Erwiderung auf Antoine Compagnon, am Beispiel Chateaubriands

Il faut du courage pour être romantique, car il faut hasarder. Le classique prudent, au contraire, ne s’avance jamais sans être soutenu, en cachette, par quelque vers d’Homère, ou par une remarque philosophique de Cicéron, dans son traité de Senectute. Il me semble qu’il faut du courage à l’écrivain presque autant qu’au guerrier ; l’un ne doit pas plus songer aux journalistes que l’autre à l’hôpital.1  

Es bedarf des Mutes, um Romantiker zu sein, denn man muss zu wagen imstande sein. Der vorsichtige Klassiker hingegen, wagt sich nie hervor ohne Rückendeckung durch den einen oder anderen Vers von Homer oder eine philosophische Betrachtung Ciceros aus dessen Traktat De Senectute. Mir scheint, dass der Schriftsteller ebenso viel Mut braucht wie der Krieger; der eine darf genauso wenig an die Journalisten wie der andere ans Krankenhaus denken.

In Frankreich ist die Romantik in den letzten drei Jahrzehnten mehrfach als Gründungsort der Moderne gedeutet worden.2 Dabei hat man meist das ästhetisch Vorausweisende hervorgehoben. Bereits Paul Bénichou hatte jedoch in einer Reihe von epochemachenden Untersuchungen die ideologische Komplexität der französischen Romantik umfassend dargestellt.3 Er versäumte es auch nicht, die Widersprüche der ersten aristokratisch geprägten gegenrevolutionären Phase herauszustellen, welche er in den weiteren Kontext einer Krise stellte, die das

1 In: Stendhal (Henri Beyle): Racine et Shakespeare (1818‒1825) et autres textes de théorie romantique. Einrichtung des Textes, Anmerkung u. Vorwort v. Michel Crouzet. Paris 2006, S. 297; soweit nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von E.C. 2 Vgl. unter anderem Alain Vaillant: La crise de la littérature. Romantisme et modernité. Grenoble 2005; sowie Claude Millet: Le Romantisme. Du bouleversement des lettres dans la France postrévolutionnaire. Paris 2007. 3 Paul Bénichou: Le sacre de l᾿écrivain: 1750‒1830. Essai sur l᾿avènement d᾿un pouvoir spirituel laïque dans la France moderne. Paris 1973; ders.: Le Temps des prophètes. Doctrines de l’âge romantique. Paris 1977; ders.: Les mages romantiques. Paris 1988; ders.: L᾿école du désenchantement: Sainte-Beuve, Nodier, Musset, Nerval, Gautier. Paris 1992. Diese vier Monographien sind mittlerweile in zwei Bände zusammengefasst worden: Ders.: Romantismes français. Paris 2004.  

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aufklärerische Gedankengut und die anti-aufklärerische religiöse Reaktion gleichermaßen erfasste. Ohne sich auf die Analysen Bénichous explizit zu berufen, sie aber voraussetzend und vereinfachend, hat Antoine Compagnon jüngst den Versuch unternommen, die Moderne und mithin ihre romantische Keimzelle als Anti- bzw. Gegen-Moderne zu deuten.4 Diese Grundthese möchte ich vornehmlich am Beispiel Chateaubriands und (punktuell) Stendhals diskutieren. Für Compagnon sind die Anti-Modernes jene Modernes, die die Moderne von innen heraus kritisieren und hinterfragen. Sie wollen die Moderne nicht rückgängig machen, jedoch Widerstand gegen sie leisten bzw. sich ihr verweigern. Das erklärt nicht zuletzt die für sie charakteristische melancholische Grundstimmung. Recht schnell stellt sich heraus, dass diese Schriftsteller und Denker für Compagnon im Grunde die wahren Modernen sind („les vrais modernes“).5 Die These wird damit pointierter: Die wahre Moderne ist die Anti- bzw. Gegen-Moderne; wirklich modern ist nur jener, der sich gegen die oder quer zur Moderne stellt. Ihr Prototyp ist Baudelaire, der den Begriff der Moderne erfunden haben soll, um ihm (oder ihr) besser widerstehen zu können. Was bedeutet aber „der Moderne widerstehen“? Was meint das Bild vom „Modernen wider Willen“? Auch hierzu deckt Compagnon rasch seine Karten auf: Anti- bzw. gegen-modern zu sein bedeutet für ihn, gegen die Politisierung der Literatur zu sein. Da (angeblich) jegliche Politisierung der Lebensinhalte von links kommt, beziehen die Antimodernes zwangsläufig gegen die Linke – la gauche – Stellung. Daraus folge, dass „nahezu die gesamte Literatur“ („presque toute la littérature“),6 ja die gesamte französische Höhenkammliteratur „linksresistent“ („résistante à la gauche“) und mithin politisch rechts sei.7 Sogar Rimbaud zählt laut Compagnon zu den Anti-Modernen.8 Die Antimodernes hätten stets vor der Diktatur des Politischen, d. h. eines von der progressiven linken Ideologie gepachteten Diskurses, in der Literatur Zuflucht gesucht und meist auch gefunden. Insofern könne nur ihre Literatur frei, d. h. ästhetisch wertvoll (weil autonom) sein. Damit ist der argumentative Kreis geschlossen: Die AntiModernen sind die „eigentlichen Begründer der Moderne“.9 Compagnon propagiert so den Mythos, wonach die Linke nach 1789 in Frankreich politisch dominant gewesen, literarisch aber gescheitert sei. Spiegelbildlich dazu sei die Rechte im politischen Kampf unterlegen, im Ästhetischen jedoch  







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Antoine Compagnon: Les antimodernes: de Joseph de Maistre à Roland Barthes. Paris 2005. Ebd., S. 8. Ebd., S. 11. Ebd., S. 40. Ebd., S. 12. Ebd., S. 19 („les véritables fondateurs de la modernité“).          

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tonangebend gewesen. Das erinnert an Frank Schirrmachers Positionen von 1990, als er, gemeinsam mit Karl Heinz Bohrer, das Ende der Ideologien dekretierte und daraus schlussfolgerte, dass die deutsche Gegenwartsliteratur sich endlich entpolitisieren, d. h. vom Diktat des Engagements lossagen solle.10 (Zwanzig Jahre später hat Schirrmacher mit ähnlichem Nachdruck, und in derselben Zeitung, die gegenteilige Position vorgetragen.)11 Da nun die Moderne, zumal als Gegen-Moderne, mit der Französischen Revolution und der sogleich einsetzenden Gegen-Revolution aus der Taufe gehoben wurde, liegt es auf der Hand, dass hier zuallererst die Romantik gemeint ist. Die ersten Antimodernes sind laut Compagnon Joseph de Maistre, eine Art französischer monarchistischer Karl Kraus,12 und natürlich Chateaubriand.13 Hier wird jedoch nicht klar, ob für Compagnon nur die reaktionäre bzw. gegenrevolutionäre romantische Literatur ästhetisch werthaltig und wertbeständig ist, oder ob die gesamte Literatur der französischen Romantik reaktionär ist – ob also Romantik schlechthin nur als Gegenrevolution zu verstehen ist. Wenn auch nicht explizit, so tendiert Compagnon doch dazu, aus dem AntiModernen einen allumfassenden Begriff zu machen, wie gleich eingangs das Incipit nahelegt:  

Qui sont les antimodernes ? Balzac, Beyle, Ballanche, Baudelaire, Barbey, Bloy, Bourget, Brunetière, Barrès, Bernanos, Breton, Bataille, Blanchot, Barthes… Non pas tous les écrivains français dont le nom commence par un B, mais, dès la lettre B, un nombre imposant d’écrivains français.14  

Wer sind die Antimodernen? Balzac, Beyle, Ballanche, Baudelaire, Barbey, Bloy, Bourget, Brunetière, Barrès, Bernanos, Breton, Bataille, Blanchot, Barthes… Nicht alle französische Schriftsteller, deren Name mit B beginnt, aber doch eine beachtliche Zahl französischer Schriftsteller beginnend bei dem Buchstaben B.

10 Frank Schirrmacher: Abschied von der Literatur der Bundesrepublik. Neue Pässe, neue Identitäten, neue Lebensläufe. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2.10.1990. 11 Ders.: Eine Stimme fehlt. Plädoyer für eine Literatur, die sich wieder einmischt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.03.2011. 12 Vgl. dazu Joseph de Maistre: Œuvres. Eingerichtet, mit Anmerkungen versehen u. vorgelegt v. Pierre Glaudes. Gefolgt von einem Dictionnaire Joseph de Maistre [in Zusammenarbeit mit JeanLouis Darcel und Jean-Yves Pranchère]. Paris 2007. 13 Zu Chateaubriand als Gegenrevolutionär vgl. bereits Jacques Godechot: La contre-révolution: doctrine et action, 1789‒1804. Paris 1961; 2., aktual. Aufl. Paris 1984 (zitiert in: Hans Gangl: Chateaubriand als politischer Denker. In: Alois Eder, Hellmuth Himmel u. Alfred Kracher (Hrsg.): Marginalien zur poetischen Welt: Festschrift für Robert Mühlher zum 60. Geburtstag. Berlin 1971, S. 161‒195, hier S. 182). 14 Compagnon: Les antimodernes (Anm. 4), S. 7.  







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Den Namen Bretons wird man mit einiger Verwunderung zur Kenntnis nehmen; im Verlauf der Studie erfährt man nebenbei, dass auch der Futurist Filippo Tommaso Marinetti eigentlich ein Gegen-Moderner gewesen sein soll. Interessanter aus der Perspektive meiner Ausführungen ist die Tatsache – ein Detail freilich, aber wie man weiß, stecken der Teufel wie auch der liebe Gott im Detail –, dass ein gewisser „Beyle“ den Grundregeln der alphabetischen Reihenfolge zum Trotz sich zwischen Balzac und Ballanche geschoben hat, deutlich vor Baudelaire und Barbey d’Aurevilly, auf die er hätte folgen müssen. In der Chronologie der französischen Literaturgeschichte taucht dieser Beyle tatsächlich vor Baudelaire auf. Nur das Pseudonym, unter dem er als Schriftsteller berühmt wurde, nämlich Stendhal, hätte ihn allzuweit an das Ende der enumeración caótica geworfen, die Compagnon hier entrollt. Offensichtlich war es Compagnon wichtig, auch Stendhal eingangs unter den Anti-Modernes auftreten zu lassen, so wichtig, dass er darob die alphabetische Reihenfolge außer Acht ließ. Warum? Ich vermute, weil er ihn als Brücke brauchte – zu Baudelaire hin. Obzwar der große Beylist Michel Crouzet sich (in seiner Edition von Racine et Shakespeare)15 dagegen verwahrt, nimmt Stendhals Moderne-Begriff in vielerlei Hinsicht den von Baudelaire vorweg:  





Le romanticisme est l'art de présenter aux peuples les œuvres littéraires qui, dans l'état actuel de leurs habitudes et de leurs croyances, sont susceptibles de leur donner le plus de plaisir possible. Le classicisme, au contraire, leur présente la littérature qui donnait le plus grand plaisir possible à leurs arrière-grands-pères. Sophocle et Euripide furent éminemment romantiques ; ils donnèrent aux Grecs rassemblés au théâtre d’Athènes, les tragédies qui, d’après les habitudes morales de ce peuple, sa religion, ses préjugés sur ce qui fait la dignité de l’homme, devaient lui procurer le plus grand plaisir possible. Imiter aujourd’hui Sophocle et Euripide, et prétendre que ces imitations ne feront pas bâiller les Français du dix-neuvième siècle, c’est du classicisme.16  

Die Romantik ist die Kunst, den Völkern jene literarischen Werke zu präsentieren, die beim aktuellen Zustand ihrer Gewohnheiten und ihrer Glaubenssätze dazu angetan sind, ihnen das größtmögliche Vergnügen zu verschaffen. Der Klassizismus hingegen präsentiert ihnen die Literatur, die das größtmögliche Vergnügen ihren Urgroßvätern verschaffte. Sophokles und Euripides waren im höchsten Grade romantisch; sie gaben den Griechen, die im Theater Athens zusammenkamen, die Tragödien, die gemessen an den moralischen Gewohnheiten dieses Volkes, seiner Religion und seinen Vorstellungen die Würde des Menschen betreffend, ihm das größtmögliche Vergnügen verschaffen konnten. Sophokles und Euripides

15 Stendhal: Racine et Shakespeare (Anm. 1), S. 92. 16 Ebd., S. 295.  





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heute nachzuahmen und davon auszugehen, dass diese Nachahmungen die Franzosen des 19. Jahrhunderts nicht zum Gähnen bringen, das ist Klassizismus.

Modern ist das jeweils gerade Moderne – das also, was der je aktuellen moralischen (i.e. kulturhistorischen) Konfiguration des Menschen entspricht.17 Dieser radikale Moderne-Begriff, den Stendhal ausnahmsweise unironisch vorträgt, taucht in Baudelaires Peintre de la vie moderne erneut auf, jedoch vor dem Hintergrund eines breiteren und komplexeren Bedeutungshorizontes, der ihn ausweitet und gleichzeitig trübt. Der Text gehört zu den Inkunabeln der Moderne. Er sei hier dennoch auszugsweise wiedergegeben:  

[Le peintre de la vie moderne] cherche ce quelque chose qu᾿on nous permettra d᾿appeler la modernité ; car il ne se présente pas de meilleur mot pour exprimer l᾿idée en question. Il s᾿agit, pour lui, de dégager de la mode ce qu᾿elle peut contenir de poétique dans l᾿historique, de tirer l᾿éternel du transitoire. Si nous jetons un coup d᾿œil sur nos expositions de tableaux modernes, nous sommes frappés de la tendance générale des artistes à habiller tous les sujets de costumes anciens. […] C᾿est évidemment le signe d᾿une grande paresse ; car il est beaucoup plus commode de déclarer que tout est absolument laid dans l᾿habit d᾿une époque, que de s᾿appliquer à en extraire la beauté mystérieuse qui y peut être contenue, si minime ou si légère qu᾿elle soit. La modernité, c᾿est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l᾿art, dont l᾿autre moitié est l᾿éternel et l᾿immuable. Il y a eu une modernité pour chaque peintre ancien ; la plupart des beaux portraits qui nous restent des temps antérieurs sont revêtus des costumes de leur époque. Ils sont parfaitement harmonieux, parce que le costume, la coiffure et même le geste, le regard et le sourire […] forment un tout d᾿une complète vitalité. Cet élément transitoire, fugitif, dont les métamorphoses sont si fréquentes, vous n᾿avez pas le droit de le mépriser ou de vous en passer. En le supprimant, vous tombez forcément dans le vide d᾿une beauté abstraite et indéfinissable, comme celle de l᾿unique femme avant le premier péché.18  





[Der Maler des modernen Lebens] ist nach etwas auf der Suche, das die Modernität zu nennen man mir erlauben möge; da es nun einmal kein besseres Wort gibt für das, was mir vorschwebt. Für ihn geht es darum, der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden [recte: im Historischen] an poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen. Wenn wir einen Blick auf unsere Ausstellungen moderner Bilder werfen, so fällt uns die allgemeine Neigung der Künstler auf, alles Dargestellte in alte Kostüme zu stecken. […] Das ist offensichtlich ein Zeichen großer Trägheit; denn es ist sehr viel bequemer, alles in der Kleidung einer Epoche für absolut hässlich zu erklären, als sich darum zu bemühen, die in ihr enthaltene geheimnisvolle Schönheit zum Vorschein zu bringen, wie

17 Erich Auerbach hat nicht von ungefähr vom Stendhalschen „Lokalmoralismus“ gesprochen (vgl.: Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. 2., verbesserte und erweiterte Aufl. Tübingen, Basel 1959 ff., S. 433). 18 Charles Baudelaire: Œuvres complètes, Bd. 2. Eingerichtet, vorgelegt u. mit Anmerkungen versehen v. Claude Pichois. Paris 1976, S. 694 f.  









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gering und beiläufig sie auch sei. Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist. Für jeden Maler der Vergangenheit hat es eine Moderne gegeben; auf den meisten der schönen Bildnisse, die sich aus früheren Zeiten erhalten haben, tragen die Dargestellten die Kleidung ihrer Zeit. Sie sind völlig harmonisch, weil die Kleidung, die Haartracht, ja selbst die Gebärde, der Blick und das Lächeln […] ein Ganzes von vollkommener Lebendigkeit bilden. Keiner hat das Recht, dieses vergängliche, flüchtige Element, das einem so häufigen Wandel unterliegt, zu verachten oder beiseite zu schieben. Wenn man es unterschlägt, verfällt man unweigerlich der Leerheit einer nichtssagenden abstrakten Schönheit, ähnlich jener des ersten Weibes vor der Erbsünde.19

Compagnon, der in seiner Studie über die Anti-Modernen den Moderne-Begriff eigentümlicherweise nie klärt, stützt sich uneingestandenermaßen auf Baudelaires Moderne-Begriff, wobei er ihn aus dem Stendhalschen abzuleiten scheint, der Tatsache freilich uneingedenk, dass Beyle alles andere als ein Gegen-Moderner gewesen ist, geschweige denn ein Gegen-Revolutionär. In seiner Schrift über Les cinq paradoxes de la modernité (1990), hatte Compagnon Baudelaires Peintre de la vie moderne wie folgt resümiert:  

La modernité, comprise comme sens du présent, annule tout rapport avec le passé, conçu simplement comme une succession de modernités singulières, sans utilité pour discerner le « caractère de la beauté présente ». L’imagination étant la faculté qui rend sensible au présent, elle suppose l’oubli du passé et l’assentiment à l’immédiateté. La modernité est ainsi conscience du présent, sans passé ni futur; elle est en rapport avec l’éternité seule.20  



Die Modernität, verstanden als Sinn für die Gegenwart, annulliert jegliche Beziehung zur Vergangenheit, begriffen als schlichte Abfolge einzelner Modernitäten, und dies ohne Nutzen für die Erkenntnis des „Charakters der gegenwärtigen Schönheit“. Da die Imagination das Vermögen darstellt, sensibel für die Gegenwart zu sein, setzt sie das Vergessen der Vergangenheit und die Bejahung der Unmittelbarkeit voraus. Die Modernität ist also Bewusstsein der Gegenwart, ohne Vergangenheit und Zukunft; sie steht nur im Verhältnis zur Ewigkeit.

Baudelaire wird so gedeutet, als ob er bereits François Hartogs „régime présentiste“ vorwegnähme, d. h. einen Modus der Zeiterfahrung, in dem es nur noch eine Vergangenheit und Zukunft aus sich selbst hervorbringende Gegenwart gibt.21  

19 Charles Baudelaire: Der Maler des modernen Lebens. In: Ders.: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857‒1860. Sämtliche Werke. Briefe in acht Bänden, Bd. 5. Hrsg. v. Friedhelm Kemp u. Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München u. a. 1989, S. 213‒258, hier S. 225‒226. 20 Antoine Compagnon: Les cinq paradoxes de la modernité. Paris 1990, S. 30 f. 21 Vgl. dazu François Hartog: Régimes d’historicité. Présentisme et expériences du temps. Paris 2003, S. 126 ff.  















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Diese absolute und totalitäre Modernität, die weder Stendhal, noch vermutlich Baudelaire (trotz all seiner zivilisationskritischen Vorbehalte) gemeint hat, muss man sich wohl als negative Folie der Studie über die Antimodernes denken, die für Compagnon die Ikonen einer traditionsbewahrenden, „charmanten“ Reaktion sind. Den Ausschlag gibt also eher der Kampf gegen die Un-Kultur der Jetzt-Zeit, als die sechs „Figuren des Antimodernen“, die Compagnon in den Werken der Gewährsmänner seiner Anti-Moderne nachweist: 1) Gegen-Revolution; 2) AntiAufklärung; 3) Pessimismus; 4) Ursünde (Gegen-Moderne und Religion); 5) Erhabenes (Gegen-Moderne und Ästhetik); 6) Schmähung (Gegen-Moderne und Stil). Taugt denn nun dieser von Compagnon entworfene Schlüssel zur Deutung der romantischen Moderne? Einige Zweifel sind angebracht. Zuallererst aus dem einfachen Grunde, daß Compagnons Moderne-Begriff zu flach erscheint, sowohl historisch als auch epistemologisch. Die Romantiker haben die Moderne historisch aufgefasst – nämlich im Spannungsverhältnis zwischen einer nicht mehr vorbildhaften, jedoch weiterhin prägenden Vergangenheit und einer magnetisch anziehenden Zukunft. Innerhalb dieses Rahmens haben sie die Moderne sowohl politisch als auch gesellschaftlich, wissenschaftlich, technisch und ökonomisch verstanden. An die Stelle der sechs Figuren des Anti-Modernen würde ich vier Konstellationen der romantischen Moderne setzen, anhand deren man vielleicht das Spannungsverhältnis zwischen Romantik und Moderne wie auch die Eingeschränktheit von Compagnons Blickwinkel veranschaulichen könnte. Es handelt sich hierbei um folgende vier Problembereiche: I) Zeit vs. Geschichte; II) Literatur vs. Bourgeoisie; III) Literatur vs. Politik, Literatur und/als Freiheit, sowie IV) Romantik als Wagnis, d. h. als fortgesetzte Moderne.  





I Zeit vs. Geschichte Chateaubriands Erstlingswerk, der Essai sur les révolutions, hebt mit einer Doppelfrage an – „Qui suis-je ? et que viens-je annoncer de nouveau aux hommes ?“22 (Wer bin ich? und was verkündige ich den Menschen Neues?) –, die offensichtlich auf die im Incipit von Rousseaus Confessions formulierte Behauptung hin ausgerichtet ist („Je veux montrer à mes semblables un homme dans toute la vérité de la nature, et cet homme, ce sera moi. Moi seul. Je sens mon cœur, et je connais  







22 François-René de Chateaubriand: Essai historique, politique et moral sur les révolutions anciennes et modernes, considérées dans leurs rapports avec la révolution française. In: Ders.: Essai sur les révolutions. Génie du Christianisme. Eingerichtet, vorgelegt u. mit Anmerkungen versehen v. Maurice Regard. Paris 1978, S. 41.  

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les hommes“)23 (Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Wahrheit seiner Natur zeigen, und dieser Mensch, das bin ich. Ich allein. Ich fühle mein Herz und ich kenne die Menschen). Sie verlagert aber von Anbeginn den Standort des autobiographischen Ich von der singulären Existenz eines im Angesicht der Menschheit sich selbst analysierenden Individuums hin zum Schauplatz der Geschichte: der Geschichte Frankreichs und mithin der Geschichte der Welt. Im Essai sur les révolutions bezieht Chateaubriand noch die Stellung des Zuschauers. Aber er weiß oder scheint bereits zu ahnen, dass es ihm beschieden sein wird, einen Platz auf der Bühne einzunehmen. Vom Zuschauer zum teilnehmenden, freilich oft an den Rand gedrängten Zeitzeugen: So ließe sich dieser Werdegang nachzeichnen. Chateaubriand selbst resümiert ihn (in der Préface testamentaire) wie folgt: […] voyageur, soldat, poète, publiciste, c’est dans les bois que j’ai chanté les bois, sur les vaisseaux que j’ai peint la mer, dans les camps que j’ai parlé des armes, dans l’exil que j’ai appris l’exil, dans les cours, dans les affaires, dans les assemblées, que j’ai étudié les princes, la politique, les lois, et l’histoire.24 […] Reisender, Soldat, Poet, Publizist, in den Wäldern habe ich die Wälder besungen, an Bord von Schiffen habe ich das Meer geschildert, auf den Schlachtfeldern habe ich von den Waffen gesprochen, im Exil habe ich das Exil kennen gelernt, an den Höfen, in den politischen Geschäften und in den Versammlungen habe ich die Fürsten, die Politik, die Gesetze und die Geschichte studiert.

Reisender, d. h. Forschungsreisender, Soldat, Schriftsteller und Journalist, schließlich Staatsmann. 1768 in Saint-Malo in eine verarmte Familie des alten bretonischen Schwertadels hineingeboren („Mon sang teint la bannière de France“25 – Mein Blut färbt Frankreichs Fahne), während der Revolution 1791 aufgebrochen nach Amerika, um die Nordwestpassage zu entdecken, kämpft er 1792 in der armée des Princes, um sich dann nach England abzusetzen. Dort wird er unter schwierigen äußeren Bedingungen zum Schriftsteller und kehrt 1800 nach Frankreich zurück, wo er sehr schnell, nach der Veröffentlichung der Novelle  



23 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions. In: Ders.: Œuvres complètes, Bd. 1. Les Confessions. Autres textes autobiographiques. Hrsg. unter der Leitung v. Bernard Gagnebin u. Marcel Raymond, in Zusammenarbeit (für diesen Band) mit Robert Osmont. Paris 1959, S. 5. 24 Chateaubriand: Mémoires d’outre-tombe. Neue kritische Ausgabe, eingerichtet, vorlegt u. mit Anmerkungen versehen v. Jean-Claude Berchet. Zweite, überarb. u. korrigierte Ausgabe. 2. Aufl. Paris 2003‒2004 [=MOT; dem Kürzel folgt eine arabische Ziffer für den Band, eine römische und eine arabische Zahl für die Gliederung in Bücher und Kapitel, schließlich eine arabische Zahl für die Seite]. 25 Motto der Chateaubriands seit dem Kreuzzug von Saint-Louis (1270).  





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Atala 1801 und der Abhandlung Le Génie du Christianisme (1802) zum shootingstar der französischen Literatur avanciert. Nach einer kurzen Annäherung an Bonaparte wählt er 1804 angesichts der Hinrichtung des Herzogs von Enghien (des letzten Condé) die Opposition und geht gewissermaßen in die innere Emigration. In dieser Zeit entsteht das, was er dann rückblickend als sein literarisches Werk bezeichnen wird: die Martyrs (1809) und der Reisebericht Itinéraire de Paris à Jérusalem (1811). Nach dem Sturz Napoleons 1815 bis zur Julirevolution 1830 behauptet sich Chateaubriand als Politiker und Staatsmann (während des Spanienkriegs ist er Außenminister): das ist seine ‚dritte Karriere‘. Nach 1830 widmet er sich seinem Hauptwerk, den Mémoires d’outre-tombe (1849, postum) und arbeitet nebenher an anderen wichtigen literarischen Projekten: an seinen Œuvres complètes, der bahnbrechenden Übersetzung von Miltons Paradise lost, der Biographie des Begründers des Trappistenordens Rancé. 1848 stirbt er in Paris. Jenseits des Epos eines außergewöhnlichen Lebens steht die Exemplarität eines sich stets selbst reflektierenden Zeitzeugen im Vordergrund. Chateaubriand ist sich sehr früh seiner Stellung ‚zwischen zwei Welten‘ bewusst: Ainsi, j’ai été placé assez singulièrement dans la vie pour avoir assisté aux courses de la Quintaine et à la proclamation des Droits de l’Homme; pour avoir vu la milice bourgeoise d’un village de Bretagne et la garde nationale de France, la bannière des seigneurs de Combourg et le drapeau de la Révolution. Je suis comme le dernier témoin des mœurs féodales.26 So ist mir eine reichlich sonderbare Stellung im Leben zuteil geworden, denn ich habe den Spielen der Quintaine und der Verkündigung der Menschenrechte beigewohnt; ich habe die Bürgerwehr eines bretonischen Dorfes und die Nationalgarde Frankreichs, den Wimpel der Herren zu Combourg und die Fahne der Revolution gesehen. Ich bin sozusagen der letzte Zeuge der feudalen Sitten.

Auf der einen Seite die letzten Zeugnisse feudaler Sitten – die Quintaine,27 die Bürgermiliz von Combourg, das Banner der Herren zu Combourg –, auf der anderen die ersten Institutionen der neuen, modernen Welt: die Déclaration des Droits de l’Homme, die Fahne der Revolution etc. Auch hier kann man die Umdeutung des Rousseauschen Einzigartigkeits-Gestus beobachten:28 Das Singuläre und mithin Einzigartige im Schicksal Chateaubriands ist nicht zuvörderst  



26 MOT 1, II, 2, 165. 27 Quintaine: Pfahl bzw. Stechpuppe zur Übung im Lanzenstechen bzw. Lanzenspiel; im übertragenen Sinne bzw. metonymisch, das Lanzenstechen selbst (vgl. Trésor de la langue française, Online-Ausgabe http://atilf.atilf.fr/tlf.htm, a.v. quintaine). 28 Vgl. Rousseau: Les Confessions (Anm. 23), S. 5: „Je ne suis fait comme aucun de ceux que j’ai vus ; j’ose croire n’être fait comme aucun de ceux qui existent.“ (Ich bin beschaffen wie keiner von  





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durch seine individuelle Beschaffenheit, sondern durch seinen Standort in der Geschichte bedingt. Mit Francois Hartog kann man sagen, dass Chateaubriand zwischen zwei „régimes d’historicité“ steht und sich dessen stets bewusst ist: zwischen dem „régime ancien“ (wonach die Vergangenheit die Deutung der Gegenwart und der Zukunft bestimmt, gemäß dem Motto Historia magistra vitae) und dem „régime moderne“ (worin sich das Verhältnis umkehrt und die Vergangenheit aus der Zukunftsperspektive heraus interpretiert wird). Für Hartog steht Chateaubriand an der Nahtstelle zwischen den zwei régimes, dort, wo die Zusammenhänge zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr evident sind.29 Chateaubriand verwendet in seinen Texten häufig Metaphern und Sprachbilder zur Verdeutlichung seiner Gedanken. Auch und gerade in diesem für ihn entscheidenden Punkt entwirft er eine Metapher, die er mehrfach variiert und die bei näherem Hinsehen problematisch erscheint. Es ist die bekannte Metapher vom Zusammenfluss zweier Ströme: Je me suis rencontré entre les deux siècles comme au confluent de deux fleuves ; j’ai plongé dans leurs eaux troublées, m’éloignant à regret du vieux rivage où je suis né, nageant avec espérance vers une rive inconnue.30  

Ich fand mich zwischen zwei Jahrhunderten wie am Zusammenfluss zweier Flüsse; ich tauchte in ihre aufgewühlten Fluten ein; ich entfernte mich dabei mit Bedauern vom alten Ufer, an dem ich geboren wurde, und schwamm voller Hoffnung auf ein unbekanntes Ufer zu.

Versuchen wir, dieses Bild zu übersetzen: Der junge Chevalier de Combourg taucht in den großen Strom, der vom Fluss des 18. und dem Fluss des 19. Jahrhunderts gebildet wird31 und der wohl nichts anderes ist als der Fluss der Zeit. Anstatt dem geregelten Fließen des großen Stroms zu folgen, setzt sich die Geschichte der Welt in Chateaubriands Bild aber am anderen, unbekannten Ufer fort. Die erste Frage, die man sich stellen muss, ist: Hat Chateaubriand jemals dieses andere Ufer erreicht, auf das er „voller Hoffnung“ zusteuert? Es gibt keine Hinweise, die eine solche Annahme stützen. Wie eine frühere Fassung dieses Passus nahelegt (vgl. Préface testamentaire), ist vielmehr anzunehmen, dass der Schwimmer dazu verurteilt ist, in der Mitte des Stroms zu bleiben oder zu treiben.

denen, die ich gesehen habe; ich wage zu denken, dass ich anders beschaffen bin als all die anderen, die existieren.) 29 Hartog: Régimes d’historicité (Anm. 21), S. 27. 30 MOT 2, XLII, 17, 1027. 31 Für Hans Gangl (Chateaubriand als politischer Denker [Anm. 13], S. 180) stehen die zwei Flüsse für das Ancien Régime und die Revolution.  







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Er entfernt sich zwar vom „alten Ufer“ und steuert auf das unbekannte zu; dort sollen jedoch die „neuen Generationen“ an Land gehen: „la rive inconnue où vont aborder les générations nouvelles“.32 Nun, Chateaubriand gehört nicht zu den „générations nouvelles“. Also ist dieses neue Ufer weder für ihn bestimmt noch für ihn zu erreichen. Er treibt gewissermaßen heimatlos zwischen den zwei Ufern, das heißt auch zwischen den zwei Jahrhunderten, oder anders gesagt: zwischen den zwei Epochen oder régimes d’historicité. So weit, so gut, oder doch nicht: In einem glänzenden Aufsatz hat Bernard Degout jüngst und völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Metapher längst nicht so eindeutig ist, wie ich sie ausgelegt habe.33 Was passiert mit dem Dahintreibenden? Wo treibt er hin? Und warum können nur die neuen Generationen ans andere Ufer? Wie ist der Zusammenhang zwischen den Ufern und dem Strom zu denken? Kann man diesen Zusammenhang überhaupt denken? Chateaubriand hatte sich dieses Bildes bereits im Essai sur les révolutions bedient: Le mal, le grand mal, c’est que nous ne sommes point de notre siècle. Chaque âge est un fleuve, qui nous entraîne selon le penchant des destinées quand nous nous y abandonnons. Mais il me semble que nous sommes tous hors de son cours. Les uns (les républicains) l’ont traversé avec impétuosité, et se sont élancés sur le bord opposé. Les autres sont demeurés de ce côté-ci sans vouloir s’embarquer. Les deux partis crient et s’insultent, selon qu’ils sont sur l’une ou sur l’autre rive. Ainsi, les premiers nous transportent loin de nous dans des perfections imaginaires, en nous faisant devancer notre âge; les seconds nous retiennent en arrière, refusent de s’éclairer, et veulent rester les hommes du quatorzième siècle dans l’année 1796.34 Das Übel, das große Übel ist, dass wir nicht aus unserem Jahrhundert sind. Jedes Zeitalter ist ein Fluss, der uns mitzieht entsprechend dem Gefälle der Schicksale, wenn wir uns dem überlassen. Mir scheint aber, dass wir uns alle außerhalb seines Laufes befinden. Die einen (die Republikaner) haben ihn mit Elan überquert und haben sich auf das gegenüber liegende Ufer geworfen. Die anderen sind auf dieser Seite geblieben und haben nicht an Bord gehen wollen. Beide Parteien schreien und beschimpfen sich gegenseitig, je nach dem, auf welchem Ufer sie sich befinden. So bringen uns die ersten weit weg von uns, in imaginierte perfekte Welten, indem sie uns weit vor unserem eigenen Zeitalter voranschreiten lassen; die anderen halten uns zurück, sie verweigern sich jeglicher Aufklärung und wollen im Jahre 1796 Menschen des vierzehnten Jahrhunderts bleiben.

32 MOT 1, 1541. 33 Bernard Degout: Chateaubriand et la Restauration de l’Histoire: le divorce de l’Histoire et du Temps? In: Ivanna Rosi u. Jean-Marie Roulin (Hrsg.): Chateaubriand, penser et écrire l’Histoire. Saint-Étienne 2009, S. 135‒146. 34 Chateaubriand: Essai sur les révolutions (Anm. 22), S. 42 f.  







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An dieser Stelle ist das Bild eindeutig politisch und sogar ‚parteipolitisch‘ aufgeladen: Die Republikaner haben den Fluss überquert und besetzen das neue Ufer, während die Monarchisten am alten Ufer verharren. Hier waltet der vorrevolutionäre und voraufklärerische Obskurantismus, dort der entgrenzende und entfremdende revolutionäre Utopismus. Es handelt sich um eine aporetische, ausweglose Konstellation, deren Rahmen (namentlich der Zusammenhang zwischen Fluss und Ufer) ungeklärt bleibt. In der Ausgabe von 1826 des Essai bekräftigt Chateaubriand diese Diagnose. Das heißt, dass diese Sicht der Geschichte für ihn in der Restaurationszeit noch immer gültig war. Wie Degout tendiere ich dazu, in dieser Metapher das Unbehagen Chateaubriands an der Geschichte abzulesen sowie das Unvermögen, den Zusammenhang zwischen Zeit und Geschichte zu denken. Man kann, wie Degout, noch weiter gehen und in ihr das Auseinanderfallen von Zeit und Geschichte („divorce de l’Histoire et du Temps“) aufzeigen. Chateaubriand sieht sich nämlich als derjenige, der wie Hamlet dazu bestimmt ist, die Zeit wieder „einzurichten“.35 Dies befähigt ihn dazu, eine Schlüsselrolle im Herzen der Geschichte der Restauration und des postrevolutionären Zeitalters überhaupt zu beanspruchen – an der Schnittstelle zwischen der Geschichte, wie sie tatsächlich verlaufen ist, und der Geschichte, wie sie hätte verlaufen können bzw. müssen.36 Die Restauration hätte sich in die wiederhergestellte, wieder zusammengeflickte Kette der Zeiten einfügen können. Durch die Charte, an der Chateaubriand mitgewirkt hatte (nicht zuletzt mit einer wichtigen Schrift),37 hätte die Zeit „ihren Flug oder ihren Lauf fortsetzen“ können.38 Die Charte wurde aber nicht umgesetzt, und die Geschichte Frankreichs schlug eine andere Richtung ein – für immer. Frankreich werde  



35 Ich erinnere an den berühmten Ausspruch des Prinzen im ersten Akt des Dramas: „The time is out of joint: O cursed spite / That ever I was born to set it right!“; „Die Zeit ist aus den Fugen; Schmach und Gram, / Daß ich zur Welt, sie einzurichten, kam!“ (Übersetzung von August Wilhelm Schlegel). 36 Degout: Chateaubriand et la Restauration de l’Histoire (Anm. 33), S. 137. 37 Chateaubriand: De la Monarchie selon la Charte [1816]. In: Ders.: Grands écrits politiques, Bd. 2. Vorlage u. Anmerkungen v. Jean-Paul Clément. Paris 1993, S. 301‒522. 38 Die Erklärung von Saint-Ouen am 2. Mai 1814, mit der Ludwig XVIII. die Grundrechte und Grundfreiheiten neu begründen zu wollen schien, hatte Anlaß zu solchen Hoffnungen gegeben: „Cette déclaration, quoiqu’elle fût naturelle à l’esprit de Louis XVIII, n’appartenait néanmoins ni à lui, ni à ses conseillers ; c’était tout simplement le temps qui partait de son repos : ses ailes avaient été ployées, sa fuite suspendue depuis 1792 : il reprenait son vol ou son cours“ (MOT 1, XXII, 21, 1098). (Obwohl sie der Denkungsart von Ludwig XVIII. entsprach, gehörte diese Erklärung weder ihm noch seinen Beratern; es war schlicht die Zeit, die sich von ihrem Stillstand löste: seit 1792 waren ihre Flügel zusammengefaltet, ihre Flucht unterbrochen worden: nun setzte sie ihren Flug oder ihren Lauf wieder fort.)  















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nunmehr von Menschen regiert, die der Geschichte Europas genauso fremd gegenüberstünden wie manche Völker Zentralafrikas: L᾿univers change autour de nous, disais-je : de nouveaux peuples paraissent sur la scène du monde; d᾿anciens peuples ressuscitent au milieu des ruines, des découvertes étonnantes annoncent une révolution prochaine dans les arts de la paix et de la guerre : religion, politique, mœurs, tout prend un autre caractère. Nous apercevons-nous de ce mouvement ? Marchons-nous avec la société ? Suivons-nous le cours du temps ? Nous préparons-nous à garder notre rang dans la civilisation transformée ou croissante ? Non : les hommes qui nous conduisent sont aussi étrangers à l᾿état des choses de l᾿Europe que s᾿ils appartenaient à ces peuples dernièrement découverts dans l᾿intérieur de l᾿Afrique. Que savent-ils donc ? La bourse ! et encore ils la savent mal.39  

















Das Universum um uns herum verändert sich: neue Völker erscheinen auf der Szene der Welt, alte Völker leben wieder auf inmitten von Ruinen, erstaunliche Entdeckungen künden von einer baldigen Revolution in den Künsten des Friedens und des Krieges: Religion, Politik, Sitten, alles bekommt einen anderen Charakter. Ist uns diese Veränderung bewusst? Halten wir Schritt mit der Gesellschaft? Folgen wir dem Lauf der Zeit? Bereiten wir uns darauf vor, unseren Rang in der veränderten oder sich fortentwickelnden Zivilisation zu bewahren? Nein: Den Menschen, die uns führen, sind die Gegebenheiten in Europa genauso fremd als wenn sie jenen Völkern angehörten, die gerade im Inneren Afrikas entdeckt wurden. Also was kennen sie? Die Börse! und selbst die nur schlecht.

Ausgerechnet die Restauration erweist sich als der Moment, der das Auseinanderfallen von Zeit und Geschichte unumkehrbar gemacht hat.40 Die Restauration der légitimité hat es nicht vermocht, die Restauration der Geschichte herbeizuführen. Schuld daran sind die letzten Bourbonen, die versucht haben, die Revolution rückgängig zu machen, anstatt die Monarchie in den Lauf der Zeit einzugliedern. Ausgerechnet Chateaubriand, der die Restauration möglich gemacht hätte, haben sie zum Feind der Krone erklärt: J’étois l’homme de la Restauration possible, de la Restauration avec toutes les sortes de liberté. Cette Restauration m’a pris pour un ennemi ; elle s’est perdue.41  

Ich war der Mann der möglichen Restauration, der Restauration mit allen Arten von Freiheit. Diese Restauration hat mich zum Feind erkoren; sie ist zugrunde gegangen.

39 MOT 2, XXVIII, 12, 153. 40 Vgl. Degout: Chateaubriand et la Restauration de l’Histoire (Anm. 33), S. 144. 41 Chateaubriand: De la Restauration et de la Monarchie élective ou Réponse à l’interpellation de quelques journaux sur mon refus de servir le nouveau Gouvernement, 24. März 1831. In: Ders.: Grands écrits politiques, Bd. 2 (Anm. 37), S. 578.  











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Noch 1814 hatte Chateaubriand die Notwendigkeit – und mithin auch die Möglichkeit – einer Kongruenz zwischen Individuum und historisch bedingter Zeitlichkeit beteuert. Man sei es sich und seinem Vaterland schuldig, ein Mann bzw. ein Mensch seiner eigenen Zeit zu sein:  



[N]ous ne pouvons pas faire que le XIXe siècle soit le XVIe, le XVe, le XIVe. Tout change, tout se détruit, tout passe. On doit pour bien servir sa patrie se soumettre aux révolutions que les siècles amènent, et pour être l᾿homme de son pays il faut être l᾿homme de son temps. Hé ! qu᾿est-ce qu᾿un homme de son temps ? C᾿est un homme qui, mettant à l᾿écart ses propres opinions, préfère à tout le bonheur de sa patrie […].42  



[W]ir können nicht bewirken, dass das 19. Jahrhundert, das 16., das 15. oder das 14. ist. Alles ändert sich, alles zerstört sich, alles geht vorüber. Um seinem Vaterland gut zu dienen, muss man sich den Revolutionen, die die Jahrhunderte mit sich bringen, unterwerfen, und um zu seinem eigenen Land zu gehören, muss man zu seinem eigenen Zeitalter gehören. Ah! was heißt es, Mensch seines Zeitalters zu sein? Es heißt, seine eigenen Meinungen beiseite zu lassen, und das Glück seines Vaterlandes allem anderen voranzustellen.  

Nach der Julirevolution sei die Wunde der Zeit nicht mehr heilbar und ein solches Selbstverständnis nicht mehr denkbar. Die zwei Enden der Zeit könnten nun nicht mehr miteinander verbunden werden: Ah ! ce qui est passé est passé ! on a beau retourner en arrière, se remettre à la place que l’on a quittée, on ne retrouve rien de ce qu’on y avait laissé : hommes, idées, circonstances, tout est évanoui.43  





Ah! Was geschehen ist, ist geschehen! Man kann noch so sehr zurückgehen, sich an die Stelle wieder begeben, die man verlassen hat, man findet doch nichts von dem, was man dort hinterlassen hat: Menschen, Ideen, Umstände, alles ist verschwunden.

Die Zeit fließt weiter dahin; eine andere Geschichte hat am anderen Ufer begonnen – dort, wohin Chateaubriand nie seinen Fuß wird setzen können. Der alte Vicomte bleibt in der Mitte des Flusses. Er bleibt mithin „à contre-temps et à contre-histoire“:44 unzeitgemäßes Ich in der Geschichte, immer zeitversetzt, zu früh, zu spät in die Welt gekommen. Man kann freilich auch annehmen, dass diese Unfähigkeit, Zeit und Geschichte miteinander zu denken, daher rührt, dass Chateaubriand trotz seines scharfen Sinnes für geschichtliche Zusammenhänge und Prozesse der alten vor 

42 Chateaubriand: Réflexions politiques, XX. In: Ders.: Grands écrits politiques, Bd. 1 (Anm. 37), S. 219. 43 MOT 2, XXVIII, 17, 175. 44 Hartog: Régimes d’historicité (Anm. 21), S. 104.  









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revolutionären Vorstellung von menschlicher Geschichte als Natur- bzw. Gottesgeschichte verhaftet geblieben ist. Die Geschichte, die ausschließlich von den Menschen, und ohne Intervention Gottes, gemacht wird, kann nur scheitern und aus der Zeit fallen.

II Literatur vs. Bourgeoisie Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenkt Compagnon einem Gegenstand, den man getrost als die bevorzugte Zielscheibe der französischen Romantik schlechthin bezeichnen kann, nämlich der Bourgeoisie. In Les antimodernes findet man einige interessante Ausführungen lediglich zu einer besonders widerlichen Abart der antibürgerlichen Polemik, nämlich zum Antisemitismus Ende des 19. Jahrhunderts. Dazu werde ich nichts sagen, dafür aber zwei Autoren ins Feld führen, die einen beachtenswerten Deutungsversuch der romantischen Bourgeoisie-Feindlichkeit unternommen und dabei einen Ansatz entworfen haben, den man in seinen Grundzügen in Compagnons Studie wiederfindet. Ich meine Michael Löwy und Richard Sayre, die eines der für meine Begriffe inspirierendsten Bücher zur Romantik vorgelegt haben – nämlich Révolte et mélancolie (1993), einen Titel, den man in Compagnons Index bzw. Bibliographie vergeblich sucht. Michael Löwy und Richard Sayre konstatieren den „ungemein widersprüchlichen“ Charakter (caractère „fabuleusement contradictoire“) der Romantik:  

[…] à la fois (ou tantôt) révolutionnaire et contre-révolutionnaire, individualiste et communautaire, cosmopolite et nationaliste, réaliste et fantastique, rétrograde et utopiste, révolté et mélancolique, démocratique et aristocratique, activiste et contemplatif, républicain et monarchiste, rouge et blanc, mystique et sensuel. Contradictions qui traversent non seulement le phénomène romantique dans son ensemble, mais la vie et l’œuvre d’un seul et même auteur, et parfois un seul et même texte.45 […] sowohl (oder mal) revolutionär und anti-revolutionär, individualistisch und gemeinschaftlich, kosmopolitisch und nationalistisch, realistisch und fantastisch, rückwärtsgewandt und utopisch, rebellisch und melancholisch, demokratisch und aristokratisch, aktiv und kontemplativ, republikanisch und monarchistisch, rot und weiß, mystisch und sinnlich. Dies sind Widersprüche, die nicht nur das Phänomen der Romantik in seiner Gesamtheit durchziehen, sondern auch das Leben und Werk eines einzelnen Autors, und manchmal eines einzelnen Textes.

45 Michael Löwy u. Robert Sayre: Révolte et mélancolie. Le romantisme à contre-courant de la modernité. Paris 1992, S. 7.  

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Die Autoren schlagen vor, ‚Romantik‘ als Synonym für ‚Moderne‘ aufzufassen. Die Romantik ist demzufolge eine Weltanschauung, die sich gegen Mitte des 18. Jahrhunderts herauskristallisiert hat und bis in das 20. Jahrhundert hinein dominant geblieben ist. Im Kern und in ihren Ursprüngen stelle sie eine Antwort auf die sozialen und kulturellen Veränderungen dar, die durch die Entwicklung des Kapitalismus ausgelöst worden sind:  



Pour nous […] le phénomène doit être compris comme réponse à cette transformation plus lente et plus profonde – d’ordre économique et social – qu’est l’avènement du capitalisme, transformation qui s’amorce bien avant la Révolution.46  



Für uns muss das Phänomen begriffen werden als Antwort auf diese langsamere und tiefere Veränderung – ökonomischer und sozialer Natur–‚ die das Zutagetreten des Kapitalismus bedeutet, eine Veränderung, die sich lange vor der Revolution anbahnt.  

Das führt Löwy und Sayre zu der Annahme, dass Romantik eine – oder vielmehr die konsubstantielle Begleiterscheinung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sei, was auch heißt, dass die Romantik weder 1848, noch 1870 zu Ende gegangen sei, sondern mindestens bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein fortgedauert habe. Die These lautet: „le romantisme est par essence une réaction contre le mode de vie en société capitaliste.“47 Oder genauer:  

Selon nous, le romantisme représente une critique de la modernité, c’est-à-dire de la civilisation capitaliste moderne, au nom de valeurs et d’idéaux du passé (précapitaliste, prémoderne). On peut dire que le romantisme est, depuis son origine, éclairé par la double lumière de l’étoile de la révolte et du ‹ soleil noir de la mélancolie › (Nerval).48 Unserer Meinung nach, repräsentiert die Romantik eine Kritik der Moderne, d. h. der modernen kapitalistischen Gesellschaft, im Namen von Werten und Ideen der (vor-kapitalistischen, vor-modernen) Vergangenheit. Man kann sagen, dass die Romantik, seit ihrem Ursprung, sowohl vom Stern der Revolte als auch von der ‚schwarzen Sonne der Melancholie‘ (Nerval) erleuchtet wird.  

So wie Compagnons pauschale Interpretation der ‚wahren‘ Moderne als AntiModerne am Ziel vorbeischießt, so irreführend erscheint es freilich, die Romantik

46 Ebd., S. 29. 47 Ebd., S. 30. 48 Ebd.; Löwy und Sayre antworten somit auf die marxistische Literaturwissenschaft, die versucht hat, z. B. Balzac und andere reaktionäre Romantiker als mehr oder minder krypto-demokratische Gesellschaftskritiker zu etablieren. Vielmehr muss man den auf den ersten Blick paradoxen Zusammenhang von reaktionärer politischer Gesinnung und Gesellschaftskritik als konstitutiv für die Romantik denken (vgl. ebd., S. 21 f).    





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als Ganzes unter diesem Gegensatz ‚Literatur vs. Bourgeoisie‘ subsumieren zu wollen. Auf französischer Seite fällt zum einen Chateaubriands vergleichsweise verhaltene antibourgeoise Polemik auf. Nach meiner Kenntnis des Korpus flackern antibourgeoise Ressentiments erst in den Kapiteln der Mémoires d’outretombe auf, in welchen von der neuen classe dirigeante der Julimonarchie die Rede ist. Die schärfsten Attacken gelten ihrem Repräsentanten, Adolphe Thiers, der allerdings eher wegen seiner Rechtfertigung der Terreur als wegen seiner Standeszugehörigkeit angeprangert wird.49 Bei Stendhal halten sich Bourgeoisie-Kritik und Adels-Kritik die Waage. Beide Schichten seien gleichermaßen empfänglich für Macht- und Geldgier und (was Frankreich betrifft) gleichermaßen anfällig für die Mutter aller Laster, die Eitelkeit (vanité). Es ist bezeichnend, dass die drei männlichen Hauptfiguren der drei großen Romane (Le Rouge et le Noir, Lucien Leuwen, La Chartreuse de Parme) sich charakterlich (psychologisch-anthropologisch) ähneln, obgleich sie drei verschiedenen Gesellschaftsschichten entspringen: dem Volk, dem Großbürgertum und dem Adel. Figuren prosaischer Bürgerlichkeit findet man vielmehr bei Balzac, etwa den alten Grandet in Eugénie Grandet (1834) und den Bankier Du Tillet in der Histoire de la grandeur et de la décadence de César Birotteau (1837), oder auch bei Vigny, in dessen Drama Chatterton (1835) der Londoner Unternehmer John Bell die Karikatur des zynischen und habgierigen Kapitalisten abgibt. Bourgeoisiefeindlichkeit wird dann zu einem topischen Habitus im Kreise der zweiten bzw. dritten Generation der französischen Romantik (Gautier, Borel, Nerval etc.).

49 „J᾿ai peint à différentes époques les hommes qui, depuis 1789 jusqu᾿à ce jour, ont paru sur la scène. Ces hommes tenaient plus ou moins à l᾿ancienne race humaine. On avait une échelle de proportion pour les mesurer. On est arrivé à des générations qui n᾿appartiennent plus au passé, étudiées au microscope, elles ne semblent pas capables de vie, et pourtant elles se combinent avec des éléments dans lesquels elles se meuvent ; elles trouvent respirable un air qu᾿on ne saurait respirer. L᾿avenir inventera peut-être des formules pour calculer les lois de l᾿existence de ces êtres ; mais le présent n᾿a aucun moyen de les apprécier.“ (MOT 2, XLII, 2, 949 f.) (Zu verschiedenen Zeiten habe ich die Menschen beschrieben, die seit 1789 auf die Bühne getreten sind. Diese Menschen entsprachen mehr oder minder dem alten Menschenschlag. Man verfügte über eine Skala, um sie zu messen. Die Generationen, zu denen wir nun vorgestoßen sind, gehören nicht mehr der Vergangenheit an; wenn man sie im Mikroskop untersucht, scheinen sie lebensunfähig zu sein, und dennoch verbinden sie sich mit Elementen, in welchen sie sie frei bewegen; sie können offenbar eine Luft einatmen, die wir nicht einzuatmen imstande sind. Die Zukunft wird vielleicht die Formeln erfinden, um die Gesetze des Daseins dieser Lebewesen zu berechnen; aber die Gegenwart vermag sie nicht einzuordnen.)  





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Compagnon zielt auf denselben Komplex wie Löwy und Sayre; diese jedoch fassen die Moderne konkreter als bürgerliche Jetztzeit und komplexer als breitangelegtes Entzauberungs- und Rationalisierungsunternehmen auf.50

III Literatur vs. Politik, Literatur und/als Freiheit Für Compagnon zeichnet sich die eigentliche Moderne dadurch aus, dass sie gegen die Politik gerichtet ist – was nicht heißt, dass sie a-politisch wäre. Die Literatur selbst ist vielmehr ihr eigenes politisches Programm. Auch betreibt die Moderne die Literatur nicht als Anti-Revolution: Um mit de Maistre zu sprechen, zielt sie auf das Gegenteil einer Revolution und nicht etwa auf eine AntiRevolution. Um so unterschiedliche Schriftsteller bzw. politische Denker wie de Maistre und Chateaubriand (und Montesquieu!) unter einen Hut zu bringen, muss Compagnon freilich seinen Moderne-Begriff so weit fassen, dass er ad absurdum geführt wird. So heißt es unter anderem, dass die „Lehre“ (doctrine) der AntiModernes „erfinderisch und wahrhaft vieldeutig“ sei, mithin „die einzige gegenrevolutionäre und anti-moderne, im Idealfall republikanische und historisch monarchistisch-legitimistische Lehre“.51 Für Compagnon ist letztlich „Freiheit“ das große Losungswort der Anti-Modernes: Schreiben kommt für sie einem Akt der Freiheit gleich, und nur sie sind offenbar eines solchen Aktes fähig: „les antimodernes sont la liberté des modernes, ou les modernes plus la liberté“.52 De Maistre wollte, wie bereits angedeutet, das Gegenteil der Revolution, d. h. die Wiederherstellung der Monarchie als Theokratie. Chateaubriand hingegen hat sich nach anfänglichem Zögern (und nach einer kurzen bonapartistischen Phase zwischen 1802 und März 1804) klar für die konstitutionelle Monarchie ausgesprochen und sie theoretisiert (De la Monarchie selon la Charte).53 Ähnlich wie bei de Maistre speist sich der Begriff der Freiheit bei Chateaubriand aus zwei Traditionen, einerseits dem vor-absolutistischen französischen  



50 Die romantische Kritik an der Moderne entwickelt sich nach Löwy u. Sayre: Révolte et mélancolie (Anm. 45), S. 46–64 auf 5 Ebenen: 1) Entzauberung der Welt; 2) Quantifizierung der Welt; 3) Mechanisierung der Welt; 4) rationalistische Abstraktion; 5) Auflösung der sozialen Bindungen. 51 Ebd., S. 26 f. (une doctrine „inventive et véritablement équivoque, c’est-à-dire seule contrerévolutionnaire et antimoderne, idéalement républicaine et historiquement légitimiste“). 52 Compagnon: Les antimodernes (Anm. 4), S. 447. 53 Zu den Unterschieden zwischen de Maistre und Chateaubriand vgl. auch Maistre: Œuvres, darin Dictionnaire Joseph de Maistre (Anm. 12), s. v. „Chateaubriand“, S. 1147–1149.  

















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Feudalismus und andererseits dem christlich-neutestamentarischen Gedankengut. Anders als de Maistre jedoch versucht Chateaubriand den eigenen komplexen Freiheitsbegriff für die Gegenwart dienstbar zu machen.54 In einer konstitutionellen Monarchie hat die Aristokratie laut Chateaubriand eine zweifache Natur: Als „politischer Körper“ gehorcht sie (darin den Grundsätzen Montesquieus entsprechend) dem monarchistischen Prinzip der Ehre; für sich genommen, gehorcht sie dem Prinzip der Unabhängigkeit (indépendance), d. h. der Freiheit.55 Der Edelmann ist per definitionem der freie Mensch, auch seinem Lehnsherrn gegenüber. Überhaupt ist Freiheit für Chateaubriand grundsätzlich mit Adel verbunden:  

Je suis né gentilhomme. Selon moi, j’ai profité du hasard de mon berceau, j’ai gardé cet amour plus ferme de la liberté qui appartient principalement à l’aristocratie dont la dernière heure est sonnée.56 Ich wurde als Edelmann geboren. Meiner Ansicht nach habe ich vom Zufall meiner Wiege profitiert, ich habe mir diese unerschütterliche Liebe zur Freiheit bewahrt, die vornehmlich der Aristokratie eigen ist, deren letzte Stunde nun geschlagen hat.

Dies ist auch der Grund, weshalb der Adel den politischen Körper gleich zweifach absichert, denn er bewahrt die Traditionen des Königreichs und die politischen Freiheiten gegen die Exzesse der Demokratie (die nicht auf Freiheit, sondern auf Gleichheit fußt), aber auch gegen die Eingriffe des Absolutismus. Auch plädiert Chateaubriand für die Charta bzw. die parlamentarische Monarchie (monarchie représentative), weil dadurch einerseits der Adel in die neue Gesellschaftsordnung eingegliedert, andererseits der Wertekanon der Aristokratie – Ehre, Feinsinn, Uneigennutz, Loyalität, Treue – in die bürgerliche Lebensform überführt werden kann.57  



54 Vgl. dazu meinen Aufsatz: Edoardo Costadura: Erzählungen vom Ende – Literarische Selbstdarstellungen des Adels im modernen Europa bei Chateaubriand und Lampedusa. In: Jörn Leonhard u. Christian Wieland (Hrsg.): What Makes the Nobility Noble? Comparative Perspectives from the Sixteenth to the Twentieth Century. Göttingen 2011, S. 299–319. 55 Chateaubriand: Réflexions politiques, XV: Suite des objections des constitutionnels. Ordre de la noblesse. In: Ders.: Grands écrits politiques, Bd. 1 (Anm. 37), S. 195 f. 56 MOT 1, I, 1, 117. 57 Chateaubriand: De la monarchie selon la charte, XCI: Comment la noblesse doit entrer dans les éléments de la restauration. In: Ders.: Grands écrits politiques, Bd. 2 (Anm. 37), S. 452 ff. Während der ersten Jahre der Restauration sah Chateaubriand in der konstitutionellen Monarchie die einzige Möglichkeit, die Monarchie in Frankreich und in Europa vor dem Untergang zu bewahren; in späteren Jahren, als ihm klar wurde, dass die Republik unumgänglich war, definierte er die  



















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Dieses Vorhaben scheiterte während der Restauration. Der Hauptgrund lag nach Auffassung Chateaubriands darin, dass sowohl die französische Krone als auch der französische Adel außerstande gewesen seien, der „Bewegung der Nation“ – dem Lauf der Geschichte? – zu folgen. Trotzdem – eben weil er dem feudalen Verständnis des Ritters und Lehnsmannes treu blieb – hielt Chateaubriand den Bourbonen der branche aînée die Treue. Er reiste nach Italien und nach Prag im Dienste der Duchesse du Berry, der Witwe des zweitgeborenen Sohnes Karls X.; er träumte zeitweilig davon, Lehrer des Duc de Bordeaux (des legitimen Thronfolgers Heinrich V.) zu werden, und trat öffentlich für die Wahrung von dessen Ansprüchen auf die französischen Krone ein. Auf der anderen Seite pflegte er die Freundschaft mit einigen prominenten Republikanern: mit dem Dichter Béranger, dem Astronomen Arago, dem Historiker und Journalisten Armand Carrel. Dennoch hat Chateaubriand die Überführung des feudalen Begriffs der Freiheit in einen republikanischen vermutlich nie vollzogen. Vielmehr ist ihm das Christentum die einzige Lebens- und Denkform, innerhalb deren die genuin revolutionäre Trias „Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit“58 verwirklicht werden könne. Diese überraschende Vereinnahmung und Rechristianisierung des ‚revolutionären Evangeliums‘ bildet die Kernthese des Aufsatzes L’idée chrétienne est l’avenir du monde vom April 1834:  











Dans toutes les hypothèses, les améliorations que vous désirez, vous ne les pouvez tirer que de l᾿Evangile. Au fond des combinaisons des sectaires actuels, c᾿est toujours le plagiat, la parodie de l᾿Evangile, toujours le principe apostolique qu᾿on retrouve : ce principe est tellement entré en nous, que nous en usons comme nous appartenant ; nous nous le présumons naturel, quoiqu᾿il ne nous le soit pas ; il nous est venu de notre ancienne foi […]. Le christianisme est l᾿appréciation la plus philosophique et la plus rationnelle de Dieu et de la création ; il renferme les trois grandes lois de l᾿univers, la loi divine, la loi morale, la loi politique: la loi divine, unité de Dieu en trois essences ; la loi morale, charité ; la loi politique, c'est-à-dire la liberté, l᾿égalité, la fraternité.59  











Ganz gleich, von welcher Annahme Sie ausgehen: Sie können all die Verbesserungen, die Sie sich wünschen, nur aus dem Evangelium ziehen. In allen Gedankenspielen der heutigen Parteigänger findet man immer wieder das Plagiat, die Parodie des Evangeliums, immer das apostolische Prinzip: dieses Prinzip ist so tief in uns verankert, dass wir uns seiner bedienen

historische Funktion der monarchie représentative neu: nämlich als den institutionellen Rahmen für den geregelten Übergang von der monarchischen zur republikanischen Ordnung. 58 Die Losung der französischen Revolution ersetzt somit die Trias, die Chateaubriand in der Abhandlung De la Monarchie selon la Charte als Fundament der nachrevolutionären Gesellschaft formuliert hatte: „Religion – Moral – Gerechtigkeit“. 59 MOT 2, XLII, 16, 1020 f.  





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als gehöre es zu uns; wir nehmen es als natürlich an, obwohl es nicht natürlich ist; es ist uns durch den alten Glauben übermittelt […]. Das Christentum ist die philosophischste und rationalste Auffassung Gottes und der Schöpfung; es beinhaltet die drei großen Gesetze des Universums, das göttliche Gesetz, das moralische Gesetz, das politische Gesetz: das göttliche Gesetz, die Einheit Gottes in drei Wesenheiten; das moralische Gesetz, die Barmherzigkeit; das politische Gesetz, das heißt die Freiheit, die Gleichheit und die Brüderlichkeit.

Der Sprung von Chateaubriand zu Stendhal ist, obwohl sie Zeitgenossen sind, gewaltig. Er sei trotzdem gewagt, da Compagnon die beiden nun einmal in einem Atemzug als anti- bzw. gegenmoderne Romantiker nennt. In einer erhellenden Studie60 hat Michel Crouzet kürzlich gezeigt, dass man Stendhals Werk politisch – und zwar als nicht-gegenrevolutionär – lesen muss. Dabei empfiehlt es sich, die journalistischen Texte zusammen mit den literarischen als eine Einheit zu betrachten. Ihnen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass das nachrevolutionäre Subjekt sich zwangsläufig als citoyen definieren muss, d. h. als „einen Menschen, der nicht glücklich werden kann ohne diese Verknüpfung seiner eigenen Freiheit mit der Freiheit der Anderen“.61 Daraus ergibt sich, dass die Romantik selbst als Wagnis, als Akt der Freiheit verstanden wird – und zwar als Freiheit in allem: in der Polis wie auch in der Literatur. Entschiedener kann man Compagnons These von der Anti-Modernität Stendhals nicht widerlegen. Ganz im Gegensatz zu Chateaubriand hat Stendhal die Restauration als persönliches und kollektives Unglück erlebt, als eine Zeit der Erniedrigung, der Verletzung, der Entfremdung, des Falls bzw. des Rückfalls (auch psychologisch) in eine Vorstufe der politischen Kultur.  







IV Romantik als Wagnis, d. h. als fortgesetzte Moderne  

Laut Crouzet ist Romantik für Stendhal weder eine Lehre noch ein literarischer Kode, weder eine Schule noch eine spezifische Bewegung: Sie ist die Bewegung schlechthin („le mouvement lui-même“).62 Letztlich ist sie für ihn ein permanentes Ins-Verhältnis-Setzen von Literatur und Zeit bzw. Zeitgeschehen. Mit der Ausnahme Frankreichs, das eine Klassik hervorgebracht und kodifiziert hat, gebe es

60 Michel Crouzet: Stendhal passe du journalisme au roman ou du réalisme politique au réalisme esthétique. In: Ders.: Regards de Stendhal sur le monde moderne. Paris 2010, S. 191–276. 61 Ebd., S. 196 („un homme qui ne peut être heureux sans cette jonction de sa propre liberté avec celle des autres“). 62 Stendhal: Racine et Shakespeare (Anm. 1), S. 92.  







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nicht eine Klassik, sondern viele klassische Zeitalter die vormals selbst Romantiken waren. Alles ist (zeitlich, kulturell) relativ, alles ist historisch, d. h. historisch gebunden und bedingt, mit der Ausnahme der Bewegung, die das Prinzip jeglicher Kreativität ist. Die Grundsätze seiner Ästhetik entlehnt Stendhal den Grundsätzen des politischen Liberalismus, der somit eine literarische Übersetzung erfährt. Die eigene Ästhetik definiert er als „actualisme“, als unmittelbare Verknüpfung mit dem Zeitgenössischen, als Wahrnehmung dessen, was die gegenwärtige Epoche „benötigt“. Der Autor der Chartreuse de Parme steht hier freilich im Widerspruch zu sich selbst, da er für die eigene literarische Produktion einen Erfolg um 1880 vorausgesagt hatte. Es gibt also doch auch ein „beau durable“ (ein dauerhaft gültiges Schönes) oder zumindest Werke, die ihre ästhetische Gültigkeit bewahren, obwohl sie ihrer Entstehungsepoche entwachsen und fremd sind. Weit davon entfernt, sich der Moderne zu verweigern (wie von Compagnon behauptet), verweigert sich Stendhal vielmehr einer starren Konzeptualisierung der Moderne und des Schönen. Kunst und Literatur sind ausschließlich durch die freie, lustgenerierte und lustgenerierende Erfindung des Schöpfers bedingt. Dem (französisch) Klassischen als absolutem Modell steht die unübersehbare Vielfalt der romantischen Formalisierungsmuster gegenüber.  

V Fazit Stendhal ist im wahrsten Sinne Avantgarde. Seine zwei größten Romane sind regelrecht am Puls der Zeit geschrieben. Die Handlung von Le Rouge et le Noir reicht bis Ende 1830, und dabei erschien der Roman vor dem Sommer 1830, vor der Julirevolution. Die Handlung der Chartreuse de Parme (geschrieben 1838) verfremdet und aktualisiert die Unruhen im Herzogtum Modena (dem Nachbarstaat des Herzogtums Parma) von 1831 bis 1832 – und erfindet für das Parma des Jahres 1823 eine Revolution, die tatsächlich so stattfinden, aber erst knapp zehn Jahre nach Niederschrift des Romans ausbrechen sollte. Vermutlich ist die Romantik, wenn man überhaupt von der Romantik sprechen kann, die erste Avantgarde der Geschichte der abendländischen Literatur gewesen. Jede Avantgarde hat ihre Arrière-garde, die sich aus ehemaligen Frontkämpfern, welche sich nun auf Vergangenes besinnen, aber auch aus Mitläufern formiert. Romantik ist Moderne und Anti-Moderne zugleich, manchmal in ein und demselben Werk wie bei Chateaubriand, diesem Januskopf der europäischen Literatur. Mit den Widersprüchen seiner Zeit wie den eigenen ist der bretonische Edelmann wie kein anderer produktiv umgegangen. Auch ist es irreführend, diese konstitutive Ambivalenz zurücknehmen zu wollen. Niemand kann sich die Zeit,  

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in der er leben und wirken soll, aussuchen. Er muss mit der zurechtkommen, in die er hineingeboren wurde. Die Romantiker haben komplexe Strategien entwickelt, um in ihrer Zeit – der Moderne – zurechtzukommen, um sie zu deuten und zu gestalten. Diese Komplexität unter die einfache Formel des Antimodernismus zu zwingen, erweist sich, wie ich hoffentlich deutlich machen konnte, als irreführend.  



Anhang

Abbildungsnachweise Cover und Zur Einführung: Abb. 1: Jørgen Roed, Afskedsscene på Toldboden [Abschiedsszene am Zoll], 1834, Öl auf Leinwand, 66 x 82 cm. Privatbesitz (mit Erlaubnis des Eigentümers).  

Beitrag Johannes Grave: Abb. 1: Caspar David Friedrich, Morgennebel im Gebirge, um 1808, Öl auf Leinwand, 71 x 104 cm. Rudolstadt, Thüringer Landesmuseum Heidecksburg. Abb. 2: Philipp Otto Runge, Der Kleine Morgen, 1808, Öl auf Leinwand, 109 x 85,5 cm. Hamburger Kunsthalle. Abb. 3: Ferdinand Olivier, Mittwoch. Fußpfad auf dem Mönchsberge bey Salzburg (aus: Sieben Gegenden aus Salzburg und Berchtesgaden), um 1818–1822, Kreidelithographie, 28,2 x 32,9 cm (Blatt). München, Staatliche Graphische Sammlung. Abb. 4: Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, um 1808–1810, Öl auf Leinwand, 110 x 171,5 cm. Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie. Abb. 5: Philipp Otto Runge, Die Lehrstunde der Nachtigall (zweite Fassung), 1804/05, Öl auf Leinwand, 104,7 x 85,5 cm. Hamburger Kunsthalle.  









Beitrag Kilian Heck: Abb. 1: Caspar David Friedrich, Abtei im Eichwald, 1809–10, Öl auf Leinwand, 110,4 x 171 cm. Berlin, Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie (Bildportal der Kunstmuseen, Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Berlin). Abb. 2: Caspar David Friedrich, Abtei im Eichwald (Detail). Abb. 3: Caspar David Friedrich, Studie einer Eiche, 5. Mai 1809, Bleistift, 36 x 26,1 cm. Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum (Christina Grummt: Die Zeichnungen. Das gesamte Werk. München 2011, S. 556, Nr. 586). Abb. 4: Caspar David Friedrich, Studie von Weinlaub und Buchen vom 13./14. Juni 1809, Bleistift, 36,1 x 25,8 cm. Oslo, Nationalmuseum (Grummt 2011, S. 570, Nr. 594). Abb. 5: Caspar David Friedrich, Die Schwestern auf dem Söller am Hafen/Nacht im Hafen, 1820, Öl auf Leinwand, 74 x 52 cm. St. Petersburg, Eremitage (Mediathek Caspar-David-FriedrichInstitut Greifswald). Abb. 6: Caspar David Friedrich, Kiefernstudien, 13. April 1807, Bleistift, 36,7 x 24,1 cm. Oslo, Nationalmuseum (Grummt 2011, S. 496, Nr. 531). Abb. 7: Caspar David Friedrich, Tetschener Altar, 1807–08, Öl auf Leinwand, 115 x 110 cm. Dresden, Gemäldegalerie (Werner Hofmann: Caspar David Friedrich. München 2000, S. 49). Abb. 8: Caspar David Friedrich, Tetschener Altar (Detail).  































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Abbildungsnachweise

Beitrag Reinhard Wegner: Abb. 1: Jakob Philipp Hackert, Ansicht von Caserta, 1782, Gouache, 48 x 70 cm. Caserta, Palazzo Reale. Abb. 2: Giovanni Battista Lusieri, Ansicht von Caserta, Maße unbekannt. Privatbesitz. Abb. 3: Johann Christoph Erhard, Blick auf den Ponte Molle, 1820, Aquarell über Bleistift, 20,7 x 30,7 cm. Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett. Abb. 4: Peter Berger, Grotte der Egeria, Kupferstich nach Peter Ludwig Lütke, um 1790. In: Karl Philipp Moritz: Reisen eines Deutschen in Italien, Bd. 3, 1793, Titelkupfer.  





Beitrag Joachim Schiedermair: Abb. 1: Carl Otto, Schädel mit phrenologischer Einteilung der Organe. In: Ders.: Phrænologien eller Galls og Spurzheims Hjerne- og Organlære i fuldstændig Oversigt og i sine senere Fremskridt med Bidrag til dens nøiere Kundskab og Stadfæstelse. Kopenhagen 1825, S. 409. Abb. 2: O᾿Neil & Son, Büsten einer Frau und eines Mann mit gravierten phrenologischen Zentren, Edinburgh 1824, Gips, Staatliches Museum für Völkerkunde, Dresden. In: Jan Gerchow (Hrsg.): Ebenbilder. Kopien von Körpern – Modelle von Menschen. Ruhrlandmuseum Essen, 26. März bis 30. Juni 2002. Ostfildern-Ruit 2002, S.153. Abb. 3: Bebilderter phrenologischer Schädel. In: Svenska Familj-Journalen 3 (1864), S. 101. http://runeberg.org/famijour/1864/0105.html  









Über die Autorinnen und Autoren Andreas Arndt ist Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Leiter des Akademienvorhabens „Friedrich Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Promotion 1977 an der Universität Bielefeld, Habilitation an der Freien Universität Berlin 1987. Präsident der Internationalen Hegel-Gesellschaft seit 1992. Forschungsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie; Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Wichtige Veröffentlichungen: Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie. Bochum 1985 (2. Aufl. Berlin 2012); Dialektik und Reflexion. Hamburg 1994; Die Arbeit der Philosophie. Berlin 2003; Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant (mit Walter Jaeschke). München 2013; Friedrich Schleiermacher als Philosoph. Berlin, Boston 2013.  

Werner Busch ist Professor em. für Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Promotion 1973 in Tübingen über William Hogarth, Habilitation über deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts an der Universität Bonn. Nach einer Professur in Bochum seit 1988 Lehrstuhl in Berlin. Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, von 2003 bis 2008 Sprecher des SFB 626 „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“. Forschungsschwerpunkte: Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts, Druckgraphik und Handzeichnung, Verhältnis von Kunst und Naturwissenschaften. Wichtige letzte Veröffentlichungen: Das unklassische Bild. Von Tizian bis Constable und Turner. München 2009; Englishness. Beiträge zur englischen Kunst des 18. Jahrhunderts von Hogarth bis Romney. Berlin und München 2010; Great wits jump. Laurence Sterne und die bildende Kunst. München 2011; Die Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske, hrsg. zusammen mit Petra Maisak. Petersberg 2013. Edoardo Costadura ist ordentlicher Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Ancien élève der École Normale Supérieure (Paris, rue d’Ulm); Promotion in Französischer Literaturwissenschaft an der Universität Paris 8 Saint-Denis 1995; Habilitation in Romanischer und Vergleichender Literaturwissenschaft in Jena 2002; Privatdozent am Institut für Romanistik der Friedrich-Schiller-Universität Jena 2002–2006; Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Rennes 2 (Frankreich) 2006–2011; seit 2011 Lehrstuhlinhaber in Jena. Forschungsschwerpunkte: Europäische Romantik; Chateaubriand; französisch-italienischer Kulturtransfer (19. und 20. Jahrhundert); Adel und Literatur in der Neuzeit (Frankreich, Italien); Heimat-Diskurse in der Moderne; literarisches Übersetzen. Wichtige Veröffentlichungen: Genesi e crisi del neoclassico. Studio su Karl Philipp Moritz. Pisa 1994; D’un classicisme à l’autre. France-Italie, 1919–1939. Saint-Denis 1999; Der Edelmann am Schreibpult. Zum Selbstverständnis aristokratischer Literaten zwischen Renaissance und Revolution. Tübingen 2006; Frankreich oder Italien? Konkurrierende Paradigmen des Kulturaustausches in Weimar und Jena um 1800 (Mithrsg.). Heidelberg 2008.  

Michelle Facos ist Professorin für Kunstgeschichte an der Indiana University, Bloomington. Promotion 1989 am Institute of Fine Arts, New York University. Forschungsschwerpunkte u. a.: Europäische Kunst und Kultur des 19. Jahrhunderts, insbesondere skandinavische.  

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Über die Autorinnen und Autoren

Wichtige Veröffentlichungen: Nationalist and the Nordic Imagination: Swedish Painting in the 1890s. California 1998; Herausgeberin (gemeinsam mit Sharon Hirsh): Culture and National Identity in Fin-de-Siècle Europe. Cambridge 2003; Symbolist Art in Context. California 2009; An Introduction to Nineteenth-Century Art. New York 2011.  



Angela Esterhammer war bis 2012 Ordentliche Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und lehrt seither als Professorin für Englische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der University of Toronto. Promotion 1990 an der Princeton University. Forschungsschwerpunkte: Englische und Europäische Romantik; Performanz, Performativität und Improvisation; Medialität, Druckkultur und Gesprächskultur im 19. Jahrhundert; Komparatistik. Wichtige Veröffentlichungen: The Romantic Performative: Language and Action in British and German Romanticism. Stanford, Calif. 2000), Romanticism and Improvisation, 1750–1850. Cambridge 2008. Herausgeberin: Romantic Poetry. Amsterdam 2002; (mit Alexander Dick) Spheres of Action: Speech and Performance in Romantic Culture. Toronto 2009.  

Johannes Grave ist Professor für Historische Bildwissenschaft/Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld. Promotion 2005 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena; danach Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Basel und als stellvertretender Direktor des Deutschen Forums für Kunstgeschichte in Paris. Forschungsschwerpunkte: Kunst und Kunsttheorie um 1800; Malerei der italienischen Frührenaissance; bildtheoretische Fragen und die rezeptionsästhetische Temporalität des Bildes. Jüngste Publikationen: Caspar David Friedrich. Glaubensbild und Bildkritik. Zürich. Berlin 2011. Caspar David Friedrich. München 2012. Herausgeber (mit Arno Schubbach): Denken mit dem Bild. Philosophische Einsätze des Bildbegriffs von Platon bis Hegel. München 2010. Kilian Heck ist seit 2011 Professor für Kunstgeschichte am Caspar David Friedrich-Institut der Universität Greifswald. Seit 2013 ist er zudem Erster Vorsitzender des Verbandes Deutscher Kunsthistoriker e.V. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Sepulkralskulptur des 15. bis 17. Jahrhunderts; Politische Ikonographie der Frühen Neuzeit; Kunstgeschichte des Ostseeraumes und Ostmitteleuropas; Schloßarchitektur des 18. Jahrhunderts; Kunst und Kunsttheorie der Romantik; Carl Blechen sowie Restitutions- und Provenienzforschung. Wichtige Veröffentlichungen: Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Denkmale zur politischen Raumbildung der Neuzeit. München, Berlin 2002; Friedrichstein. Das Schloß der Grafen von Dönhoff in Ostpreußen, hrsg. zus. mit Christian Thielemann. München, Berlin 2006; Das zweite Bild im Bild. Auflösungstendenzen des perspektivischen Raumes bei Carl Blechen, erscheint 2015; Schlösser und Gutshäuser in der Ostseeregion. Komponenten einer europäischen Kulturlandschaft, hrsg. zus. mit Jana Olschewski, erscheint 2015; Frühneuzeitliche Grabdenkmale in Mecklenburg und Pommern, hrsg. zus. mit Antje Kempe, erscheint 2015. Helmut Hühn, Dr., leitet Schillers Gartenhaus und die Goethe-Gedenkstätte sowie ‒ gemeinsam mit Reinhard Wegner ‒ die Forschungsstelle Europäische Romantik der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Forschungsschwerpunkte: Europäische Diskursgeschichte von 1750 bis 1850; Ästhetik und Kunsttheorie von 1800 bis zur Gegenwart; Philosophie und Literatur um 1800; Begriffs- und Problemgeschichte; Zeitforschung.

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Über die Autorinnen und Autoren

Wichtige Publikationen: Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer, Gottfried Gabriel u. a., Basel 1971–2007; Mnemosyne. Zeit und Erinnerung in Hölderlins Denken, Stuttgart u. a. 1997; Goethes „Wahlverwandtschaften“. Werk und Forschung (Hrsg.). Berlin, New York 2010; Symbol and Intuition. Comparative Studies in Kantian and Romantic-period Aesthetics (Hrsg. mit James Vigus). London 2013; Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Hrsg. mit Michael Gamper). Hannover 2014; Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation (Hrsg. mit Jan Urbich). Berlin 2015.  



Walter Jaeschke ist Professor (em.) für Philosophie an der Ruhr-Universität Bochum und dort Direktor des Hegel-Archivs und Herausgeber der Ausgaben Hegel: Gesammelte Werke, Friedrich Heinrich Jacobi: Werke sowie Jacobi: Briefwechsel. Wichtige Veröffentlichungen: Die Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986; Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart 2003, 22010. – Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik. München 2012 (gemeinsam mit Andreas Arndt).  





Klaus Müller-Wille ist Professor für Nordische Philologie am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Promotion 2003 an der Universität Basel. Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Skandinavische Studien. Forschungsgebiete u. a.: Skandinavische Romantik (insbesondere Almqvist, Andersen, Heiberg, Kierkegaard) und skandinavische (Neo)Avantgarden. Wichtige Veröffentlichungen: Schrift, Schreiben und Wissen. Zu einer Theorie des Archivs in Texten von C.J.L. Almqvist (Tübingen, Basel 2005). Herausgeber: Hans Christian Andersen und die Heterogenität der Moderne. Tübingen 2009; (mit Joachim Schiedermair) Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im Zeitalter des nordischen Idealismus (1800–1870). Tübingen 2013.  

Günter Oesterle ist emeritierter Professor für neuere deutsche Literatur an der Justus Liebig Universität Gießen. Er war mehrere Jahre Leiter des Graduiertenkollegs „Klassizismus und Romantik“ sowie des DFG-Sonderforschungsbereichs „Erinnerungskulturen“ in Gießen. Er war Senior Fellow am FRIAS in Freiburg (2008/2009), am kulturwissenschaftlichen Forschungsinstitut in Mainz (2010) und am IFK in Wien (2011). Forschungsschwerpunkte: Die „nicht mehr schönen Künste“ (Arabeske, Groteske, Karikatur, Capriccio, Komisches, Häßliches); Intermedialität; Klassizismus und Romantik; Gedächtnistheorie und Erinnerungskulturen. Unlängst erschienene Publikationen: „Schläft ein Lied in allen Dingen“? Romantische Dingpoetik (hrsg. mit Christiane Holm). Würzburg 2011; Katastrophe und Gedächtnis (hrsg. mit Thomas Klinkert). Berlin 2013; Altersstile im 19. Jahrhundert (hrsg. mit Gerhard Neumann). Würzburg 2014.  



Joachim Schiedermair lehrt seit 2009 als Professor für Neuere skandinavische Literaturen an der Universität Greifswald. Er ist regelmäßig guest editor im European Journal of Scandinavian Studies und leitet seit 2010 das jährliche Kulturfestival Nordischer Klang (www.nordischerklang.de). Forschungsschwerpunkte: Literatur des skandinavischen Idealismus; Bild-Text-Relationen; Literatur und Säkularisierungsnarrationen.

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Über die Autorinnen und Autoren

Wichtige Veröffentlichungen: (V)erklärte Gesichter. Der Porträtdiskurs in der Literatur des dänisch-norwegischen Idealismus. Würzburg 2009; (Hrsg. mit Wilhelm Heizmann): Hoch, Ebenhoch, der Dritte. Elite als Thema skandinavischer Literatur- und Kulturwissenschaft. München 2012; (Hrsg. mit Klaus Müller-Wille): Wechselkurse des Vertrauens. Zur Konzeptualisierung von Ökonomie und Vertrauen im Zeitalter des nordischen Idealismus (1800–1870). Tübingen 2013. Eckhard Schumacher ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Literaturtheorie und Leiter des Wolfgang-Koeppen-Archivs an der Universität Greifswald. Arbeitsschwerpunkte: Literatur- und Medientheorie; Romantik; Gegenwartsliteratur; Pop. Wichtige Publikationen (Auswahl): Die Ironie der Unverständlichkeit. Frankfurt a. M. 2000; Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2003; Originalkopie. Praktiken des Sekundären (Mithrsg.). Köln 2004; Pop seit 1964 (Mithrsg.). Köln 2007; Am Anfang war …: Ursprungsfiguren und Anfangskonstruktionen der Moderne (Mithrsg.). München 2008; Text + Kritik: Wolfgang Koeppen (Mithrsg.). München 2014.  



Marie-Louise Svane ist Hochschuldozentin (dän: lektor) für Literaturwissenschaft an der Universität Kopenhagen. Aktuell arbeitet sie im Bereich der komparatistisch und kulturhistorisch perspektivierten Romantik-Forschung, zuletzt im Verbundprojekt „Der Islam und die europäische Literaturgeschichte“, in dem der europäische Orientalismus des 18. und 19. Jahrhunderts im Fokus steht. Außerdem forscht sie zur Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, zu Dramentheorie und Theaterkultur, zur Gegenwartsliteratur des Mittleren Ostens sowie zu ihrer literarischen Öffentlichkeit. Wichtige Publikationen: Romanticism in Theory (Hrsg. mit Lis Møller). Aarhus 2001; Formationer i europæisk romantik. Kopenhagen 2003 (dt.: Formationen der europäischen Romantik); Artikel in European Romanticism. An Anthology. London 2010 (Hrsg. von Stephen Prickett); Litterære livliner. Kanon, klassiker og litteratur i brug (Hrsg. mit Erik Svendsen). Kopenhagen 2011 (dt.: Literarische Lebenslinien. Kanon, Klassiker und literarische Praktiken). Thomas Stamm-Kuhlmann ist nach Forschungs- und Lehrtätigkeit an den Universitäten Kiel und München sowie am Schwerpunkt für Wissenschaftsforschung der Universität Bielefeld seit 1996 Professor für Allgemeine Geschichte der Neuesten Zeit an der Universität Greifswald. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft zur Preußischen Geschichte und Mitglied der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945–1965. Köln 1981; Die Cholera von 1831. Herausforderungen an Wissenschaft und staatliche Verwaltung. In: Sudhoffs Archiv 73 (1989), Heft 2, S. 176–189; König in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron. Berlin 1992; Tagebücher und autobiographische Aufzeichnungen des preußischen Staatskanzlers Karl August von Hardenberg. Hrsg. und eingeleitet von Thomas Stamm- Kuhlmann (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts). München 2000.  





Reinhard Wegner ist Professor für Neuere Kunstgeschichte am Institut für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Promotion 1983 Universität Heidelberg; Leiter der Forschungsstelle Europäische Romantik (gemeinsam mit Dr. Helmut Hühn). Forschungsschwerpunkte: Kunst um 1800; Architekturgeschichte; englische Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts.

Über die Autorinnen und Autoren

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Wichtige Veröffentlichungen: Deutsche Baukunst um 1800. Köln, Weimar, Wien 1999; Landschaft am Scheidepunkt. Evolutionen einer Gattung in Kunsttheorie, Kunstschaffen und Literatur um 1800 (hrsg. mit Markus Bertsch). Göttingen 2009. Herausgeber der Reihe Ästhetik um 1800. Walter Werbeck ist Professor für Musikwissenschaft am Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald. Promotion 1987 an der Universität-GesamthochschulePaderborn. Präsident der Internationalen Heinrich-Schütz-Gesellschaft. Forschungsschwerpunkte u. a.: Musik des Konfessionalismus und des 17. Jahrhunderts (insbesondere Johann Hermann Schein und Heinrich Schütz) und Musikgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhundert (insbesondere Richard Strauss). Wichtige Veröffentlichungen: Die Tondichtungen von Richard Strauss, Tutzing 1996. Herausgeber: Richard Strauss Handbuch, Stuttgart und Kassel 2014.  



Paul Ziche ist seit 2008 Professor für Geschichte der modernen Philosophie an der Universität Utrecht, Niederlande. Promotion 1995 an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Habilitation 2003 in München. 1996–2000 Assistent am Institut für Geschichte der Medizin, Naturwissenschaft und Technik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2001–2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission zur Herausgabe der Schriften von Schelling an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Philosophie des Deutschen Idealismus; Naturphilosophie; Wissenschaftsgeschichte und die Interaktion von Philosophie und Wissenschaften. Wichtige Veröffentlichungen: (Hrsg. mit Olaf Breidbach): Naturwissenschaften um 1800. Wissenschaftskultur in Jena-Weimar. Weimar 2001; (hrsg. mit Harald Korten): Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: System des transszendentalen Idealismus (1800). Historisch-kritische Ausgabe, Bd. I, 9. Stuttgart-Bad Cannstatt 2005; (hrsg. mit G. F. Frigo): „Die bessere Richtung der Wissenschaften“. Schellings „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ als Wissenschafts- und Universitätsprogramm. Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. Jure Zovko ist Ordinarius am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie an der Universität Zadar; Promotion 1989 an der Universität Freiburg im Breisgau. Seit 1990 angestellt am Institut für Philosophie der Universität Zagreb. Forschungsschwerpunkte: Hermeneutische Philosophie; Philosophie der Antike; Klassische Deutsche Philosophie. Wichtige Publikationen: Verstehen und Nichtverstehen bei Friedrich Schlegel. Zur Entstehung und Bedeutung seiner hermeneutischen Kritik. Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Essays über Platon (Zagreb 1998 kroatisch; 2. erweiterte Aufl. 2006); Kroatische Philosophie im europäischen Kontext. St. Augustin 2003; Friedrich Schlegel, Schriften zur kritischen Philosophie. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hrsg. v. Andreas Arndt u. Jure Zovko. Hamburg 2007. Philosophie und Kultur (Zagreb 2009, kroatisch); Friedrich Schlegel als Philosoph. Paderborn 2010.

Personenregister Abildgaard, Nicolai Abraham 103 Achenbach, Andreas 102 Adorno, Theodor W. 26, 28, 120 Alexis Willibald (Georg Wilhelm Heinrich Häring) 236 Almqvist, Carl Jonas Love 14, 259, 262–269, 272–277 Ambros, August Wilhelm 116 f. Arago, Dominique François Jean 308 Arnim, Achim von 60 Auerbach, Erich 293 Bach, Johann Sebastian 112–114 Ballanche, Pierre-Simon 291 Balzac, Honoré de 129, 291, 304 Barbey d’Aurevilly, Jules Amédée 291 f. Bardili, Christoph Gottfried 132 Barrès, Maurice 291 Barrymore, William 228 Barthes, Roland 270, 291 Bassenge, Friedrich 150 Bataille, Georges 291 Baudelaire, Charles 290–295 Baumgarten, Alexander Gottlieb 57 Beethoven, Ludwig van 109, 111–115, 119 Behler, Ernst 152 Bendz, Wilhelm Ferdinand 100 Benjamin, Walter 148 Béranger, Pierre-Jean de 308 Berger, Daniel 88, 90 Bernanos, Georges 291 Betti, Emilio 197 Blanchot, Maurice 291 Blechen, Carl 8, 48, 93 Bloom, Harold 215 Bloy, Léon Marie 291 Blumenbach, Johann Friedrich 172, 180 Blumenberg, Hans 26 Bode, Christoph 20 Boehm, Gottfried 249, 250, 252 Böhme, Jakob 45 Böhmer-Schlegel, Caroline (Caroline Schelling, geb. Michaelis, verw. Böhmer, gesch. Schlegel) 206

Bohrer, Karl Heinz 21, 291 Borel, Petrus (Joseph-Pierre Borel d’Hauterive) 305 Bormann, Alexander von 30 Bourget, Paul 291 Bouthillier de Rancé, Armand Jean Le 297 Brahms, Johannes 109, 120 Brentano, Clemens 45, 60, 83 f., 96 f. Breton, André 291, 292 Brinkmann, Karl Gustav 208 Brockes, Barthold Heinrich 44 Brunetière, Ferdinand 291 Byron, Georg Gordon (Lord Byron) 13, 215–228, 234 Carrel, Armand 308 Carstens, Asmus Jakob 91 Carus, Carl Gustav 12, 41 f., 171‒173, 175‒183, 245, 255 Cassirer, Ernst 33 Cavell, Stanley 277 Chase, Cynthia 215 Chateaubriand, François-René de 14, 289–291, 295–302, 305–310 Chladenius, Johann Martin 80 f. Cicero, Marcus Tullius 289 Clercq, Willem de 235 Cocker, Jarvis 285 Coleridge, Samuel Taylor 220 Combe, George 242 Compagnon, Antoine 14, 289–291, 294 f., 303 f., 306, 309 f. Cook, James 182 Crary, Jonathan 231 Cuviers, Georges 172 Dahl, Johann Christian 12, 101–103, 178 Diderot, Denis 52 Dilthey, Wilhelm 19, 148, 153 Diodorus Sicilus 219 f. Dreyer, Dankvart 105 Droysen, Johann Gustav 27 Dubos, Jean-Baptiste 66 f.

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Personenregister

Echtermeyer, Theodor 25 Eckersberg, Christoffer Wilhelm 106 Eco, Umberto 39 Eichendorff, Joseph von 283 Engelhardt, August 284 Erhard, Johann Christoph 85–87 Euripides 292 Fahlcrantz, Carl Johan 104 f. Fearnley, Thomas 101 f. Feder, Johann Georg Heinrich 130, 133 Fernow, Carl Ludwig 52, 57, 67 Fichte, Johann Gottlieb 18, 126 f., 130 f., 135, 137‒139, 141, 143 f., 147‒150, 152‒154, 156 Flacius, Matthias Illyricus 196 f. Flintoe, Johannes 101 Forkel, Johann Nikolaus 117 Frank, Manfred 126, 136, 145 Friedrich Wilhelm IV. 175 Friedrich, Caspar David 8 f., 12, 32, 37–45, 53 f., 57–62, 64–83, 93, 95–97, 101 f., 106, 171, 177 f. Fürstenberg, Pontus 100 Gabriel, Gottfried 21, 130 Gadamer, Hans-Georg 12, 186, 189 Gall, Franz Joseph 241, 243, 245, 249 Gallen-Kallela, Akseli 9 Galt, John 234, 236 Garve, Christian 130, 133, 202, 206 Gautier, Théophile 305 Genz, Friedrich 207 f. George IV. Augustus Frederick 222 Géricault, Théodore 106 Gibbon, Edward 220 Goethe, Johann Wolfgang von 8, 18, 21, 23‒26, 29, 42, 45, 52 f., 94–96, 140, 175 f., 179, 181 f., 210, 220, 236, 249 Goetz, Rainald 14, 279–283 Goldschmidt, Meïr Aaron 13 f., 239 f., 253–257 Gombrich, Ernst 196 Gustav II. Adolf 41 Gustav III. 106 Gustav IV. Adolf 41

Habermas, Jürgen 148‒150, 213 Hackert, Jakob Philipp 52 f., 79, 84 f. Hagedorn, Christian Ludwig von 52 Händel, Georg Friedrich 114 Hanslick, Eduard 119 Haydn, Joseph 109, 111–113, 115, 118 Haym, Rudolf 148 Hazlitt, William 220, 234 Hebel, Johann Peter 209 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 4, 8, 11, 13, 18, 21‒24, 26, 28 f., 32, 113, 117, 126, 128, 132, 134, 137, 143 f., 148‒150, 154, 157‒169, 176, 232, 239, 251 Heiberg, Johan Ludvig 250 f., 256 Heine, Heinrich 8, 18 f., 21, 24‒26, 29, 31, 283 Herder, Johann Gottfried von 18, 111, 127, 129, 132, 135, 137, 220 Heydenreich, Karl Heinrich 143 Heynes, Christian Gottlob 187 Hilleström, Pehr 105 f. Hitler, Adolf 284 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 23 f., 109, 114, 206, 283 Hogg, James 234 Hölderlin, Friedrich 150 Homer 188, 289 Hook, Theodore 235 f. Hotho, Gustav Heinrich 159 f. Hufeland, Christoph Wilhelm 175 Hugo, Victor 220 Hume, David 131 Ingemann, Bernhard Severin 245 Jacobi, Friedrich Heinrich 126, 128‒132, 135 f., 140, 143, 153 f. Jauß, Hans Robert 189 Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 129 f., 132, 135‒137, 275 Jones, Thomas 84 Juel, Jens Jørgensen 105 Kant, Immanuel 44, 57, 67, 93 f., 126 f., 129‒131, 133, 135, 137 f., 143 f., 146, 148 f., 152‒155, 185‒187, 204, 251 Karl X. Philipp 308

Personenregister

Karl XIV. Johan 267 Kean, Edmund 217 Keans, Charles 227 Kemble, John Philip 217 Kierkegaard, Søren Aabye 4, 14, 18, 21, 25 f., 29, 256, 259, 262, 269–272, 275–277 Kiesewetter, Raphael Georg 117 Klages, Ludwig 4 Kleist, Heinrich von 60, 83 Klinkowström, Friedrich August von 42 Klopstock, Friedrich Gottlieb 57, 62 f., 245 Knigge, Adolph Freiherr von 204, 208, 300 Købke, Christen Schiellerup 100 Koeppen, Friedrich 132, 135 f. Koethe, Friedrich August 58 Kondylis, Panajotis 17 f. Körner, Christian Gottfried 147 Körner, Josef 148 Koselleck, Reinhart 26, 213 Kracht, Christian 14, 283–286 Krause, Karl Christian Friedrich 41 Kühn, Sophie von 151 La Mettrie, Julien Offray de 18 Landon, Letitia Elizabeth 235 Langbehn, August Julius 37 Larson, Marcus 102 f. Larsson, Carl 100 Lavater, Johann Caspar 239, 246, 249, 252 Law, John 266 Leibniz, Gottfried Wilhelm 132 f. Lessing, Gotthold Ephraim 185 f. Lichtenberg, Georg Christoph 140 Linné, Carl von 172 Liszt, Franz 109, 118–120, 232 Litt, Theodor 204 Locke, John 18 Lombroso, Cesare 245 Louis Antoine Henri de Bourbon-Condé 297 Louis XVIII 300 Lovejoy, Arthur O. 5, 18 f. Luhmann, Niklas 33, 213 Lukács, Georg 30, 32 Lundbye, Johan Thomas 105 Lusieri, Giovanni Battista 84 f. Lütke, Peter Ludwig 88–90

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Mahler, Gustav 110, 115 Maistre, Joseph Marie de 14, 291, 306 f. Man, Paul de 215 Mann, Thomas 283 Marinetti, Filippo Tommaso 292 Marquard, Odo 198 Martin, Elias 104 Mayer, Hans 17, 19 Mendelssohn Bartholdy, Felix 109, 114 Mendelssohn, Moses 140 Menzel, Adolph von 93 Meyer, Johann Heinrich 25 Michelangelo Bounarroti 249 Mill, James 234 f. Miller, Hillis 215 Milton, John 297 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 306 f. Moritz, Karl Philipp 87–93 Mozart, Wolfgang Amadeus 109, 111–113, 115, 118 Müller, Adam 14, 195, 259–262, 268 f., 271 f., 276 f. Munch, Edvard 9, 99 Murray, John 220 Napoleon I. Bonaparte 104, 175, 218, 297 Nerval, Gérard de 304 f. Neumann, Gerhard 3, 140 Niethammer, Friedrich Philipp Immanuel 192 Nietzsche, Friedrich Wilhelm 283 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 43, 95 f., 138‒140, 143, 145‒147, 149, 151, 153‒155, 206, 281–283 Oehlenschläger, Adam Gottlob 220, 245 Oken, Lorenz 43 Olivier, Johann Heinrich Ferdinand 53, 56 Ørsted, Hans Christian 12, 171, 175, 179 f. Osterhammel, Jürgen 31 Otto, Carl 13, 239, 242–249, 256 Overbeck, Johann Friedrich 47 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 113 f. Pfitzner, Hans 115 Pforr, Franz 47 Platen, Baltzar von 266

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Personenregister

Platner, Ernst 139 Platon 152, 176, 189, 194 Poussin, Nicolas 102 Pradel, Eugène de 229 f., 235 Ramdohr, Friedrich Wilhelm von 209 Raulet, Gérard 32 Reger, Max 110 Reinhold, Karl Leonhard 132 f., 135 Richter, Ludwig 37 Riemann, Hugo 116 Rimbaud, Arthur 290 Roed, Jørgen 6‒8 Rørbye, Martinus 106 Roslin, Alexander 101 Rousseau, Jean-Jacques 18, 40, 295, 297 Rückert, Joseph 134 f. Ruge, Arnold 25 Runge, Johann Daniel 45 Runge, Philipp Otto 8 f., 37, 42–47, 53–55, 57–59, 61–64, 93 Sade, Donatien Alphonse François de (Marquis de Sade) 18 Sander, Johann Daniel 206 Schanze, Helmut 148 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 11 f., 19, 126, 128, 132, 134‒137, 143‒145, 148‒150, 156 f., 173‒177 Scheuchzer, Johann Jakob 44 Schiller, Friedrich 42, 66 f., 175, 207, 233 Schinkel, Karl Friedrich 8, 48 Schirrmacher, Frank 291 Schlegel, August Wilhelm 93, 126, 136, 155, 207, 220 Schlegel, Friedrich 5, 11 f., 22, 24, 26, 29, 32, 39, 43, 46, 125‒130, 138‒143, 145, 147 f., 150‒157, 166, 185‒197, 203 f., 206, 210–212, 263, 281–283, 285–288 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 42 f., 143, 145, 147‒149, 151‒155, 157, 166, 176, 187, 189, 201, 203–205, 208 f., 212 Schmitt, Carl 4, 29 f. Schönberg, Arnold 110 f., 120 f. Schubert, Franz 109 Schumann, Robert 109, 114 Schwartz, Gustaf Magnus 245

Schwarz, Friedrich Heinrich Christian, 145 Schwind, Moritz von 37 Scott, Walter 23 f., 220, 234, 236 f. Seebeck, Thomas Johann 175 f. Semler, Christian August 40, 57, 67 Sgricci, Tommaso 235 Shakespeare, William 220, 245, 288 Shelley, Mary 236 Sibbern, Frederik Christian 243 Skjöldebrand, Anders Fredrik 103 f. Skovgaard, P.C. (Peter Christian Thamsen) 105 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 22, 210 f. Sophokles 292 Spinoza, Baruch de 128, 136, 139 f., 153 f. Spitta, Julius August Philipp 116 Spurzheim, Johann Kasper 241–243 Staël-Holstein, Anne Louise Germaine de 208 Steffens, Heinrich 12, 171, 173‒177, 180 f. Stendhal (Marie-Henri Beyle) 14, 290–294, 305, 309 f. Strauss, Richard 110, 120 f. Stravinskij, Igor 111 Sulzer, Johann Georg 52 Tacitus, Publius Cornelius 103 Thiers, Louis Adolphe 305 Tieck, Ludwig 58, 176, 206, 208, 217 f., 220 Titzmann, Michael 27 f. Tönnies, Ferdinand 204 Valenciennes, Pierre-Henri de 68 Varnhagen, Rahel 207 f., 212 Vernet, Claude Joseph 104 Vigny, Alfred de 305 Visby, Carl Holger 246 Volney, Constantin 220 Wagner, Richard 109, 118–121 Weber, Carl Maria von 109 Webern, Anton 120 Weigel, Sigrid 240 Weiß, Christian 134 f. Wellek, René 18, 20 Werner, Abraham Gottlob 173 Winckelmann, Johann Joachim 111 Winterfeld, Carl von 116

Personenregister

Wittgenstein, Ludwig 20 f., 198 Wolf, Friedrich August 186‒188 Wolff, Oskar Ludwig Bernhard 235

Wordsworth, William 39 Worm, Petri Claudius 245 f. Wrede, Erhard Georg Friedrich 133 f.

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