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German Pages 267 Year 1991
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Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Band 3
Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte Ergebnisse und Perspektiven der Forschung
Herausgegeben von
Reiner Schulze
Duncker & Humblot · Berlin
Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte
Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte Herausgegeben von Prof. Dr. Reiner Schulze, Trier, Prof. Dr. Elmar Wadle, Saarbrücken, Prof. Dr. R~inhard Zimmermann, Regensburg
Band 3
Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte Ergebnisse und Perspektiven der Forschung
lIerausgegeben von
Reiner Schulze
Duncker & Humblot . Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte: Ergebnisse und Perspektiven der Forschung / hrsg. von Reiner Schulze. Berlin: Duncker und Humblot, 1991 (Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte; Bd. 3) ISBN 3-428-07123-9 NE: Schulze, Reiner [Hrsg.]; GT
Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0937-3365 ISBN 3-428-07123-9
Vorwort Rechtswissenschaft, Geschichtswissenschaft und Politische Wissenschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten in wachsendem Maße den gemeinsamen geschichtlichen Grundlagen der Rechtskultur und des politischen Denkens in Europa zugewandt. Mit der Veröffentlichung von Forschungsergebnissen aus allen beteiligten Disziplinen und als gemeinsames Forum der Diskussionen wollen die "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" diesem wissenschaftlichen Interesse Ausdruck geben und es zu verstärken helfen. Vorwort und Einführung des ersten Bandes 1 haben dieses Anliegen der Schriftenreihe bereits knapp umrissen. Im Anschluß daran will der vorliegende Band eine Reihe von Arbeitsansätzen und Ergebnissen auf diesem Forschungsfeld aus dem deutschsprachigen Raum vorstellen und zur Diskussion um die Perspektive der Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte anregen. Der Band vereint Beiträge mit unterschiedlichen methodischen Ausgangspunkten und zum Teil mit kontroversen Auffassungen. Das weite Spektrum der Themen und Standpunkte zeigt, in welch erheblichem Umfang die Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte bereits Eingang in die Arbeit der beteiligten Fachrichtungen gefunden hat. Für die Zukunft gewinnt auf dieser Grundlage die Aufgabe noch an Gewicht, die wissenschaftliche Entwicklung im deutschsprachigen Raum mit entsprechenden Ansätzen in anderen Ländern Europas zu vergleichen und zu verbinden, damit die gemeinsame europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte zunehmend auch Gegenstand gemeinsamer europäischer Forschung wird. Dazu werden die "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" - wie schon mit dem ersten Band der Reihe begonnen - durch weitere gemeinsame Bände von Autoren aus Ländern verschiedener Sprache beizutragen suchen. Ebenso notwendig wie das Gespräch zwischen Wissenschaftlern der verschiedenen europäischen Länder und der einzelnen beteiligten Disziplinen ist der Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis um die Gegenwartsbedeutung europäischer Rechts- und Verfassungsgeschichte. Besonderer Dank gilt daher
1 Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtsl-ultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hg. von Reiner Schulze, Berlin 1990.
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Vorwort
Herrn Richter am Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Prof. Dr. Manfred Zuleeg für das Nachwort, das er aus der Sicht des Rechtswissenschaftlers und des Praktikers zu diesem Band beigesteuert hat. Für alle Mitarbeiter, die an der Erstellung dieses Bandes beteiligt waren, darf ich schließlich namentlich Frau Christine Frosch, Frau Daniela Herrmann und Herrn Werner Winnen meinen Dank für ihre engagierte Mitwirkung sagen.
Trier, im März 1991
Reiner Schulze
Inhaltsübersicht
TeilA Einführung Reiner Schulze Vom lus commune bis zum Gemeinschaftsrecht - das Forschungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte....................................................... 3
TeilB Kanonisches Recht Peter Landau Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur ....... 39
Teile Privatrechtsgeschichte Reinhard Zimmermann Usus Hodiemus Pandectarum ........................................................ 61 Filippo Ranieri Eine Dogmengeschichte des europäischen Zivilrechts? Einige Thesen zum Beitrag der Rechtsgeschichte zu einer europäischen Zivilrechtswissenschaft ............................................................... 89
vrn
Inhaltsübersicht
Klaus Luig Natürliches Privatrecht Die Rolle des Privatrechts in den naturrechtlichen Gesellschaftsentwürfen des 17. und 18. Jahrhunderts ......................................... 103 Wilhelm Brauneder Vernünftiges Recht als überregionales Recht: Die Rechtsvereinheitlichung der österreichischen Zivilrechtskodiflkation 1786 - 1796 - 1811 .................................................................. 121
TeilD Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Dietmar Willoweit Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte ......... 141 Gerhard Robbers Europäische Verwaltungsgeschichte .............................................. 153 Christo! Dipper Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte Zur Europäischen Verfassungsgeschichteaus der Sicht der Geschichtswissenschaft................................................................. 173
TeilE Das 19. Jahrhundert als Forschungsaufgabe Elmar Wadle Französisches Recht und deutsche Gesetzgebung im 19. Jahrhundert. ...... 201 Alfons Bürge Der Einfluß der Pandektenwissenschaft auf das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert: Vom Vermögen zum patrimoine .................................................. 221
·Inhaltsübersicht
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TeilF Nachwort Manfred Zu leeg Nachwort .............................................................................. 247
Autorenverzeichnis ..................................... .............................. 251 Personenregister ..................................................................... 253
TeilA
Einführung
Vom Ius commune bis zum Gemeinschaftsrecht das Forschungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte Von Reiner Schulze
1. Rechtsgeschichte und europäische Rechtswissenschaft Was vor dem Anbruch der Modeme über Jahrhunderte hinweg für die Juristen in Europa eine Selbstverständlichkeit war, beginnt ihnen in unserer Zeit erst langsam wieder vertraut zu werden: die Arbeit mit gemeinsamem Recht. lus commune verband die Juristen des Mittelalters und der frühen Neuzeit seit dem Entstehen ihres Berufsstandes und vereinte die Jurisprudenz von der iberischen Halbinsel bis ins Baltikum, von Süditalien bis nach Skandinavien. Unser Jahrhundert hat gemeinsames europäisches Recht unter ganz anderen Voraussetzungen wieder entstehen lassen. Vornehmlich in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft erfaßt es zunehmend auch den Alltag der juristischen Praxis von der Rechtsprechung über die anwaltliche Tätigkeit bis zur Verwaltung. Nicht nur internationale Vereinbarungen und Zusammenschlüsse, sondern auch die Erfordernisse des Wirtschaftsverkehrs und des kulturellen Austausches wirken zudem über die Gemeinschaft der Zwölf hinaus für eine Reihe von Rechtsgebieten auf eine Annäherung der Normen oder zumindest die Entwicklung kompatibler Lösungsansätze für viele Rechtsfragen hin. Mehr und mehr wächst auch die Rechtswissenschaft in den einzelnen Ländern Europas wieder in eine mitgestaltende Rolle bei der Entwicklung europäischer Gemeinsamkeiten des Rechtes hinein (wenn auch in anderer Weise und bislang erheblich bescheidenerem Ausmaß als die vormoderne Jurisprudenz). Nicht mehr allein die Disziplinen der Rechtsvergleichung, des Völkerrechts und des Gemeinschaftsrechts sind durch diese Gestaltungsaufgabe herausgefordert. Notwendig erscheint vielmehr eine "Europäisierung der Rechtswissenschaft" 1 in der Breite aller Disziplinen, für deren Arbeitsbereiche das Bedürfnis nach wissenschaftlicher Vorbereitung und Mitgestaltung der Rechtsannäherung in Europa erwächst. Den Boden für diese "Europäisierung" der Rechtswissenschaft hat in Deutschland neben der Rechtsvergleichung und dem Völkerrecht nicht zuletzt die Rechtsgeschichte zu bereiten begonnen. Wesentliche Anstöße dazu gaben 1 Vgl. Helmut Coing: Europäisierung der Rechtswissenschaft, in: NJW 1990, S. 937 ff. 1·
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zunächst vor allem Romanisten. 2 Neben den Arbeiten Erich Genzmers3 wies Paul Koschakers "Europa und das römische Recht" in den vierziger Jahren den Weg. In den fünfziger Jahren brach sich die Zuwendung zur europäischen Rechtsgeschichte für das verhältnismäßig junge Lehrgebiet der Neueren Privatrechtsgeschichte Bahn. Die beiden grundlegenden Lehrbücher dieses Gebietes banden die deutsche Privatrechtsentwicklung in einen übergreifenden Zusammenhang ein: Nicht mehr eine eigenständige "Deutsche Rechtsgeschichte" und ein isoliert betrachtetes "Deutsches Privatrecht" sind ihr Gegenstand (wie in der Fachtradition der Germanistik in der einen oder anderen Weise von Eichhorn bis Mitteis), und nicht mehr die Verbindung des römischen Rechts mit einem eigenen, "organischen" Zusammenhang des deutschen Rechtslebens ist ihr Problem (wie zum Teil für die ältere Romanistik). Im Werk von Wesenberg (fortgeführt von Wesener) stellt vielmehr schon der Titel die neuere deutsche Privatrechtsgeschichte in den "Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung"4. Und bei Franz Wieacker steht der Begriff Privatrechtsgeschichte nicht mehr für eine nationale, sondern für eine europäische Erscheinung: "Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung"5; die - lediglich besonders "berücksichtigte" - deutsche Entwicklung ist Gegenstand des Werkes als Ausschnitt der "europäischen Rechtskultur" und der "europäischen Rechtswissenschaft"6. Diese europäische Ausrichtung der Neueren Privatrechtsgeschichte eröffnete die Möglichkeit, in der Juristenausbildung aus historischer Sicht Verständnis für Gemeinsamkeiten der europäischen Rechtskultur zu fördern, schon bevor das Entstehen des Europäischen Gemeinschaftsrechts und die entsprechende Erweiterung der Fächerkataloge weitere europäische Akzente in den Studienplänen setzten. 2 Nicht unterschätzt werden dürfen daneben allerdings die Beiträge, die Vertreter der beiden anderen herkömmlichen rechtshistorischen Teildisziplinen bereits früh zur europäischen Ausrichtung der Rechtsgeschichte allgemein und auch zur entsprechenden Fortentwicklung der Neueren Privatrechtsgeschichte leisteten. Nur beispielhaft genannt seien hier für die Kanonistik Hans Liennann: Das kanonische Recht als Grundlage europäischen Rechtsdenkens, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 6 (1957/88), S. 37 ff.; für die Germanistik Hans 1hieme: Das Naturrecht und die europäische Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl. Basel 1954. 3 Vgl. hierzu jüngst Helmut Coing: Erich Genzmer, in: Iuristen an der Universität Frankfurt am Main, hg. v. Bemhard Diestelkamp und Michael Stolleis, Baden-Baden 1989, S. 200 ff.; sowie Filippo Ranieri: Eine Dogmengeschichte des europäischen Zivilrechts?, in diesem Bd., S. 89 ff. 4 Gerhard Wesenberg: Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte im Rahmen der europäischen Rechtsentwicklung, 1.. Aufl. Lahr (Baden) 1954 (4. Aufl. Wien 1985). 5 Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 1. Aufl. Göningen 1952 (2. Aufl. 1967). 6 Vgl. Wieacker (Fn. 5), 1. Aufl., § 3 "Die Ursprünge der europäischen Rechtskultur" und 2. Teil "Die Rezeption der europäischen Rechtswissenschaft in Deutschland" sowie dementsprechend ebd., S. 8: "Die europäische Geschichte ist eine Einheit auch als Privatrechtsgeschichte; die deutsche Privatrechtsgeschichte nur ein Sonderfall, dessen große Epochen ausnahmslos nur aus dem europäischen Zusammenhang zu verstehen sind" (in der 2. Aufl. die entsprechenden Tennini und Gedanken in den Überschriften §§ 2 f. sowie S. 18).
Vom lus commune bis zum Gemeinschaftsrecht
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Entscheidende Anstöße für die Forschung gab in der Folgezeit die Gründung des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a. M. Eindrucksvoll zeigt das "Handbuch der Quellen und Literatur der Neuren Europäischen Privatrechtsgeschichte" die Spannweite der Forschungsarbeiten dieses Instituts im Bereich der europäischen Privatrechtsgeschichte7. Eine konzentrierte dogmengeschichtliche Auswertung und Fortführung der Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet von unschätzbarem Wert für die weitere rechtshistorische und rechtsvergleichende Arbeit bietet nunmehr Coings "Europäisches Privatrecht"8. An den deutschen Universitäten scheint sich die Zuwendung zu den Herausforderungen der europäischen Rechtsgeschichte für Forschung und Lehre gerade in letzter Zeit zu verstärken. Ein äußeres Kennzeichen dafür bilden neue Lehrstuhl-Bezeichnungen, die neben anderen rechtshistorischen Teildisziplinen die "Europäische Rechtsgeschichte", die "Neuere Europäische Rechtsgeschichte" oder die "Historische Rechtsvergleichung " einschließen9. Charakteristisch für die zunehmende Auseinandersetzung des Faches Rechtsgeschichte im deutschen Sprachraum insgesamt mit Fragen der europäischen Rechtsgeschichte ist darüber hinaus die Programmgestaltung der Deutschen Rechtshistorikertage (und mit dem 28. Deutschen Rechtshistorikertag in Nijmegen 1990 selbst die Auswahl des Ta~gsortes in einem europäischen Land außerhalb des deutschen Sprachgebietes)10. Überblickt man den Ertrag des neueren Forschungsinteresses an der Europäischen Rechtsgeschichte im deutschen Sprachraum, so zeigt sich nicht nur, daß sich das Forschungsfeld weit über die Privatrechtsgeschichte ausgedehnt hat. Neu hinzugetreten sind insbesondere Arbeiten zur Europäischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 11 ; und die Notwendigkeit vergleichbarer Auseinandersetzung mit der Europäischen Strafrechtsgeschichte dürfte außer Zweifel stehen. Vielmehr beziehen darüber hinaus - neben den 7 Helmut Coing (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der Neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte, München 1973-1988. Bedeutende Impulse erhielten die Forschungen zur europäischen Rechtsgeschichte durch die Zeitschrift lus commune (Bd. 1-9 hg. v. Helmut Coing; Bd. 10-13 hg. v. Dieter Simon und Walter Wilhelm, ab Bd. 14 (1987) als "Zeitschrift für Europäische Rechtsgeschichte" hg. v. Dieter Simon) sowie durch die Reihe der lus commune Sonderhefte.
8 Helmut Coing: Europäisches Privatrecht, 2 Bände, München 1985/89.
9 So der Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Europäische Rechtsgeschichte und Kirchenrecht in Regensburg; die Professur für Bürgerliches Recht, Deutsche und Neuere Europäische Rechtsgeschichte in Trier; der Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Römisches Recht und Historische Rechtsvergleichung in Regensburg. 10 Bei dem Rechtshistorikertag 1990 in Nijmegen widmete sich nicht nur die Sektion "Rechtswissenschaftliehe Beziehungen zwischen Deutschland und den Niederlanden" insgesamt unter Leitung von Roben Feenstra, sondern mehr oder weniger weitgehend jede Sektion Fragen der europäischen Rechtsgeschichte; vgl. die zur Veröffentlichung in der Schriftenreihe des Gerard Noodt Instituts Nijmegen vorgesehenen Tagungsmaterialien. 11 Dazu sogleich 5. sowie Hauptteil D dieses Bandes.
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Beiträgen der Romanistik - zunehmend auch Untersuchungen der Kanonistik und Germanistik auf herkömmlichen Forschungsgebieten dieser rechtshistorischen Teildisziplinen Fragestellungen der Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte ein. 12 Die Fortschritte bei der Erforschung der europäischen Rechtsgeschichte schärfen zugleich den Blick für die Fülle ungelöster Forschungsaufgaben, für die methodischen Probleme der neuen rechtshistorischen Teildisziplinen und für die Frage nach dem Bezug zur Rechtserfahrung in der Gegenwart. Soll die Zuwendung zur Europäischen Rechtsgeschichte nicht lediglich eine oberflächliche Strömung im Wandel der rechtshistorischen Forschungsinteressen sein, muß die Ausweitung der Arbeiten auf diesem Feld einhergehen mit vertieften Überlegungen zu derartigen Fragen nach den Grundlagen und Perspektiven der Forschung. In diesem Anliegen verbindet der vorliegende Band die Vorstellung von Forschungsergebnissen aus einem weiten Spektrum von Arbeitsgebieten mit der Erörterung von Fragen der Grundlagen und Perspektiven des Arbeitsfeides insgesamt. Die Einführung will sich darauf beschränken, einige der Forschungsaufgaben und -fragen für die verschiedenen Arbeitsgebiete vorzustellen, die in den Beiträgen des Bandes vertieft behandelt werden oder deren Untersuchung zu den Desideraten der Europäischen Rechtsgeschichte gehört. Ausgehend von den rechtshistorischen Ansätzen für das Verständnis des häufig verwandten Begriffes der "europäischen Rechtskultur" sind einzelne Arbeitsgebiete der Europäischen Rechtsgeschichte von der Auseinandersetzung mit dem kanonischen Recht als Teil des älteren lus commune bis hin zum Entstehen des europäischen Gemeinschaftsrechts zu überblicken und schließlich die konzeptionellen Fragen nach der geographischen Reichweite des Europa-Begriffs der Europäischen Rechtsgeschichte und nach dem Beitrag der Europäischen Rechtsgeschichte zur Fortentwicklung des gegenwärtigen Rechts zu umreißen.
2. Europäische Rechtskultur als rechtshistorisches Forschungsthema a) Seitdem sich in der Privatrechtsgeschichte die Konzeption der Europäischen Rechtsgeschichte herauszubilden begann, gehörte die "europäische Rechtskultur" zu den Leitbegriffen rechtshistorischer Forschungen auf diesem 12 Die Europäische Rechtsgeschichte und die - aus der einseitig nationalgeschichtlichen Ausrichtung eines Teiles der älteren Germanistik herausgetretene - Deutsche Rechtsgeschichte können sich dabei ebenso wechselseitig ergänzen und bereichern (vgl. unten 2. c) wie die Europäische Rechtsgeschichte und die Romanistik sowie die historische Kanonistik (tür die neben der Entwicklung des kirchlichen Rechts hin zur Gegenwart die Beiträge des kanonischen Rechts zur Entwicklung des weltlichen Rechts gerade in Hinblick auf dessen europäische Gemeinsamkeiten vorraniges Interesse verdienen; vgl. unten 3).
Vom Ius commune bis zum Gemeinschaftsrecht
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Felde. Der Bogen spannt sich von Wieackers grundlegendem Werk, das "Die Ursprünge der europäischen Rechtskultur"13 zum Anfang seines ersten Teiles nahm, bis hin zu Coings Auseinandersetzung mit einer "Reihe von Faktoren, die uns berechtigten, von europäischer Rechtskultur zu sprechen" 14. Der Begriff der europäischen Rechtskultur zielt dabei auf eine Identitätsbestimmung für die Gegenwart aus der Geschichte. Denn das Forschungsinteresse an der europäischen Rechtsgeschichte gründet zwar in einer Gegenwartserfahrung, nämlich den heutigen Bemühungen um die Entwicklung gemeinsamen europäischen Rechts. Aber diese Gegenwartserfahrung trifft mit einer anderen zusammen: Die Tradition nationalen Rechtsdenkens ist (noch) beherrschend; sie prägt weithin die unterschiedliche Entwicklung nationaler Rechtskulturen und das Selbstverständnis der Juristen als deutsche, französische, englische, aber noch kaum als europäische Juristen. Gegenüber dieser Tradition nationalen Rechtsdenkens verbindet sich in der rechtsgeschichtlichen Forschung mit dem Begriff der europäischen Rechtskultur das Anliegen, europäische Gemeinsamkeiten der Vergangenheit in das Bewußtsein der Gegenwart zu heben. b) Nicht nur diese Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart beinhaltet indes eine aus unserer Zeit heraus getroffene Wertung. Der Begriffsteil "Rechtskultur" enthält seinerseits eine Vorentscheidung für die Forschungskonzeption, indem er ebenso eine einseitig geistesgeschichtliche wie eine einseitig sozialgeschichtliche Festlegung des Forschungsansatzes vermeidet l5 und - um den Preis geringer theoretischer und methodischer Bestimmheit - für verschiedenartige Forschungsansätze offen ist, die über die Suche nach identischen Norminhalten l6 , über Dogmengeschichte l7 und Rechtswissen-
ff.
13 vgI. Wieacker (Fn. 5). 14 Hebnut Coing: Das Recht als Element der europäischen Kultur, in: HZ 238 (1984),
s.
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15 VgI. aus der neueren Diskussion um Theorie und Methoden der Rechtsgeschichte Peter Landau: Bemerkungen zur Methode der Rechtsgeschichte, in: ZNR 1980, s. 117 ff; Marcel Senn: Rechtshistorisches Selbstversländis im Wandel: ein Beitrag zur Wissenschaftstheorie und
Wissenschaftsgeschichte der Rechtsgeschichte, Zürich 1982; ferner die Hinweise unten Fn. 128; Claes Peterson (Hg.): Rechtsgeschichte und Theoretische Dimension, Lund 1990. 16 Hierzu zu Recht kritisch: Filippo Ranieri: Der europäische Iurist, in: Ius commune 17 (1990), S. 9 ff., insbes. S. 15. 17 Der Begriff der Dogmengeschichte - und damit deren Rolle innerhalb der Europäischen Rechtsgeschichte - bedarf indes ebenfalls weiterer Klärung; zum Diskussionsspektrum vgI. Wieacker (Fn. 5),2. Aufl. S. 16 f., insbes. Anm. 12, 14 "gegen die Geschichtlichkeit von Dogmatik"; kritisch auch Dieter Simon, in: Ius commune 15 (1988), S. 203, 204 unter Hinweis auf "Die weitgehende praktische Einflußlosigkeit und die geringe dogmatische EffIZienz ... "; a. A. Eduard Picker: Von weißen Flecken der Rechtsgeschichte oder: Hic ululant hyaenae, in: RI 5 (1986) S. 367 ff.; weiterführend unter den neueren Beiträgen insbes. die differenzierenden Erwägungen von Klaus Luig: Digesten und Dogmatik, in: RI 5 (1986), S. 290 ff.; zusammenfassend zum bisherigen Diskussionsstand Heinrich Honsell: Das rechtshistorische Argument in der modemen Zivilrechtsdogmatik, in: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Frankfurt a. M. 1987, S. 299 ff.; Ranieri, in diesem Bd., S. 89 ff.
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schaftsgeschichte hinaus das Ensemble ideeller und sozialer Komponenten der Rechtsentwicklung in den Blick treten lassen. Welche Kulturerscheinungen die Rechtsgeschichte dabei zum Gegenstand eigener Untersuchung machen muß und auf welche Ergebnisse anderer Disziplinen sie sich stützen kann, ist ebenso abhängig vom jeweiligen Untersuchungsgegenstand wie vom Forschungsstand unserer Zeit. Für das Mittelalter etwa wird vom 12. Jahrhundert an als neuer und sodann prägender Faktor der europäischen Rechtsgeschichte die wissenschaftliche Entwicklung des Rechts einschließlich der Geschichte der Rechtsfakultäten, der Juristenausbildung insgesamt sowie der literarischen Stile und Schulrichtungen - und auf dieser Grundlage die Entwicklung der gemeinrechtlichen Dogmatik zu einem herausragenden Forschungsgegenstand der Europäischen Rechtsgeschichte. Verbunden damit ist die Untersuchung der Entwicklung von Beruf und Stand der Juristen - in Hinblick auf ihre soziale Herkunft und Stellung, ihre Arbeitsweisen und ihr Selbstverständnis als Sozialgruppe, ihre Tätigkeitsbereiche in und außerhalb der Rechtsprechung. Daneben muß sich das rechtshistorische Forschungsinteresse für das Mittelalter aber auch ganz anderen Kulturerscheinungen zuwenden und wird sich etwa in Hinblick auf die ~emeineu ropäischen Züge des adligen Standesrechts oder des Lehenrechts l mit der Sozialgeschichte und der politischen Geschichte mehr als mit der Wissenschaftsgeschichte überschneiden. In anderer Weise unmreißt der Begriff der Rechtskultur für die neuere Zeit ein Untersuchungsfeld, das über die Rechtswissenschaftsgeschichte hinausführt. Nicht nur die Gesetzgebungsgeschichte 19 ist in zunehmendem Maße zu berücksichtigen, sondern etwa für das 19. Jahrhundert auch der neue interdisziplinäre Zusammenhang, in den die Rechtswissenschaft durch die Entwicklung der Staats- und Sozialwissenschaften tritt, oder die Verselbständigung der rechtspolitischen Diskussion aufgrund der gewandelten Vorstellungen über die Gestaltbarkeit des Rechts, das Wirken der Juristen in Standesorganisationen, wissenschaftlichen und politischen Vereinigungen und anderes mehr. 20 c) Ebenfalls nicht ohne Wertung und nicht unveränderlich für alle Epochen sind Aussagen darüber zu treffen, welches die Kennzeichen europäischer Rechtskultur sind. Keinesfalls dürfen derartige Aussagen für die Europäische Rechtsgeschichte indes dem Belieben spekulativer Reflektion etwa über das 18 Dazu sogleich 2 c. 19 vgl. hierzu Wilhelm Ebel: Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, hg. v. Friedrich Ebel, Göttingen 1988 (Neudruck der 2. Aufl. 1958); Reiner Schulze: Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung, in: ZRG 98 (1981) S. 157 ff. 20 Reiner Schulze: Einführung, in: ders. (Hg.): Deutsche Rechtswissenschaft und Staatslehre im Spiegel der italienischen Rechtskultur während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Berlin 1990, S. 3 ff., insbes. S. 8 ff.; Pierangelo Schiera: Deutsche Wissenschaft im Spiegel der italienischen Rechtskultur - das italienische Forschungsinteresse an den deutschen Staatswissenschaften und der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, ebd., S. 25 ff.
Vom lus commune bis zum Gemeinschaftsrecht
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"Wesen" europäischer Kultur überlassen werden. Vielmehr müssen sie sich empirisch in zweifacher Hinsicht mit den Mitteln historischer Vergleichung bestätigen lassen: Nach "innen" läßt sich erst in der Vergleichung verschiedener geographischer und geopolitischer Räume sowie ethnischer und sozialer Verbände in Europa erkennen, was gemeineuropäisch ist. Ob diese Gemeinsamkeiten in der europäischen Rechtskultur zudem deren Spezifika sind, kann indes erst die Vergleichung nach "außen" bestimmen. Aussagen über die europäische Rechtskultur lassen sich insofern nicht ohne den Blick auf die Forschungsergebnisse komparatistischer und insbesondere rechtsanthropologischer Arbeiten über außereuropäische Rechtskulturen treffen - so wie die historische Untersuchung der europäischen Rechtskultur zugleich einen Beitrag zur komparatistischen Arbeit und zur Rechtsanthropologie leisten kann21 . Als kennzeichnende Grundzüge europäischer Rechtskultur stehen so - um zunächst nur beispielhaft auf einige der Forschungsthemen für die mittelalterliche Rechtsgeschichte hinzuweisen - die Eigenständigkeit und innere Differenzierung dieses Kulturbereichs in Betracht. Die besonders weitreichende Eigenständigkeit des Rechtsbereichs insgesamt gegenüber anderen kulturellen Sektoren elWeist sich für Europa vor allem darin, "daß die Entwicklung des Rechts in unserer Kultur weitgehend unabhängig gegenüber der Religion und in gewissen Grenzen auch gegenüber der Ethik gewesen ist"22. Ein hoher Grad der Ausdifferenzierung der Rechtsnormen im Verhältnis zu anderen normativen Systemen wie denen der Theologie, Moral und Ethik23 verbindet sich dabei mit der Herausbildung einer auch gegenüber der Theologie eigenständigen Wissenschaft des Rechts und einer Spezialisierung und Professionalisierung der Kompetenz für Rechtsfragen durch das Entstehen des Juristenstandes. Ebenfalls ein Spezifikum europäischer Rechtskultur stellt eine Differenzierung innerhalb des Rechtsbereichs dar: Das weltliche Recht und das kirchliche Recht nahmen nicht nur gegenüber außerrechtlichen Normensystemen ihre eigene Entwicklung, sondern entwickelten sich auch im Verhältnis zueinander in hohem Maße eigenständig24 . Diese zwei eigenen Rechtssysteme des kirchlichen und des weltlichen Rechts25 bildeten in der gemeinrechtlichen 21 Zur neueren Rechtsanthropologie vgl. Rüdiger Schott: Rechtsethnologie, (Hg.): Ethnologie - Eine Einführung, Berlin 1983, S. 181 ff.; Uwe Wesel: Rechts in vorstaatlichen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1985; Reiner Schulze: der Kulturen - vom Nutzen der Rechtsethnologie für die Rechtsgeschichte, Iahrbuch 1990, S. 446 ff.; zur älteren deutschen Tradition ebd. S. 448 ff. 22 Coing (Fn. 14), S. 6.
in: Hans Fischer Friihformen des Das Recht fremin: Historisches
23 Zur Ausdifferenzierung des Rechts aus rechtssoziologischer Sicht Mklas Luhmann: Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, insbes. S. 217 ff.
24 Vgl. hierzu Harold J. Bennan: Law and Revolution, Tbe Formation of the Western Legal Tradition, CambridgelMass., London 1983.
25 Zu diesem Charakteristikum europäischer Rechtskultur und den wissenschaftsgeschichtlichen Gründen seiner häufigen Verkennung in der Gegenwart Peter Landau: Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskuitur, in diesem Bd., S. 39 ff.
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Jurisprudenz das "utrumque ius", das als lus commune zur herausragenden Leistung und zum entscheidenden Bindeglied der vormodernen europäischen Rechtskultur wurde. d) Im Zentrum der rechtshistorischen Auseinandersetzung mit den älteren Grundlagen der europäischen Rechtskultur muß dieses lus commune stehen. Daneben gilt es aber weitere verbindende Elemente der vormodernen europäischen Rechtskultur nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn das "gelehrte Recht" entfaltete sich seit dem hohen Mittelalter in einem kulturellen Umfeld, in dem Rechtsinhalte und Rechtsentwicklung noch weithin von älteren Denkund Verhaltensmustern geprägt waren. Insbesondere befand sich wie die Kultur insgesamt, so auch die Rechtskultur in der "alteuropäischen Gesellschaft"26 erst im Übergang zur Schriftlichkeit. Die rechtshistorische Forschung muß sich daher - ähnlich wie die Geschichtswissenschaft nach dem "Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften"27 fragt - mit den gemeinsamen Strukturmerkmalen einer zunächst vornehmlich "oralen" Rechtskultur in Europa befassen und die lange währende Konkurrenz der daraus hervorgegangenen Rechtsinhalte und Denkweisen mit dem "gelehrten Recht" im Verlaufe der "Verschriftlichung" des Rechts berücksichtigen28 . Ein altes Forschungsthema der Deutschen Rechtsgeschichte wie das "Gewohnheitsrecht" (oder, wie unlängst vorgeschlagen, die "Rechtsgewohnheit"29) ~ewinnt damit im Kontext der Europäischen Rechtsgeschichte neue Aktualität o. Erst indem neben dem "gelehrten Recht" diese anderen Seiten der europäischen Rechtskultur einbezogen werden, erschließt sich der Prozeßcharakter der ganz Europa erfassenden "Verschriftlichung" und als - eines Aussschnittes daraus der "Verwissenschaftlichung" des Rechts.
26 Vgl. zu dieser Begrimichkeit Otto Brunner: Land und Herrschaft, Baden bei Wien 1939, Aufl. Wien 1965 (Nachdruck Dannstadt 1973); den., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, 3. Aufl., Göttingen 1980; Dietrich Gemard: Periodization in European History, in: AHR 61 (1956), S. 900-913; dt.: Zum Problem der Periodisierung der Europäischen Geschichte, in: Dietrich Gemard: Alte und Neue Welt in vergleichender Geschichtsbetrachtung, Göttingen 1962, S. 40-56. 5.
27 Hanna Vol/ram: Das Mittelalter in der Typik oraler Gesellschaften, in: HZ 233 (1981), S. 571 ff. 28 Gerade diese Auseinandersetzung mit den widersprüchlichen Faktoren der "Verschriftlichung" des Rechts wird dazu beitragen können, die europäische Rechtsgeschichte als einen prägenden Bestandteil europäischer Kulturgeschichte seit dem Mittelalter zu begreifen und sie in vergleichende kulturanthropologische Betrachtungen einzubeziehen; vgl. allgemein zur Literalität als ein Hauptkennzeichen der Entwicklung von Hochkulturen J. Goody und I. Wa": Tbe Consequences ofLiteracy, in: Comparative Studies in Society and History V, 1963, S. 304 ff. 29 Vgl. Karl Kroeschell: Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 2, 7. Aufl., Opladen 1989, S. 84 ff. 30 Die Veröffentlichung der Referate der Sektion "Mittelalterliches Gewohnheitsrecht" auf dem 28. Deutschen Rechtshistorikertag in Nijmegen ist in einem der folgenden Bände der "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte" vorgesehen.
Vom Jus commune bis zum Gemeinschaftsrecht
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Neben dem kanonischen und dem römischen Recht rücken mithin "klassische" Forschungsgegentände der Germanistik in das Blickfeld der Europäischen Rechtsgeschichte - freilich nicht aus einer national geschichtlichen Perspektive, sondern als Bestandteile der vormodernen europäischen Rechtskultur . Wie sich in letzter Zeit Historiker und Kultursoziologen mit dem höfischen Leben des Mittelalters als einem prägenden Faktor europäischer Zivilisation befaßt haben31 , gilt es auch für die Europäische Rechtsgeschichte, sich im Rahmen historischer Vergleichung beispielsweise den bereits erwähnten Gemeinsamkeiten im Lehnrecht32 und in Rechtsgewohnheiten des Adels zu widmen. - Mannigfachen weiteren Verbindungen der Rechtsentwicklungen in verschiedenen Teilen Europas ist darüber hinaus neben den Gemeinsamkeiten, die die gemeinrechtliche Jurisprudenz herstellte, nachzugehen (und das Zusammenwirken dieser Verbindungen mit den Einflüssen der gemeinrechtlichen Tradition zu verfolgen). In Betracht stehen hier - um nur zwei der traditionellen und zugleich für die Europäische Rechtsgeschichte fruchtbaren Themen der Deutschen Rechtsgeschichte zu nennen - die Übernahme deutscher Stadtrechte im Osten Europas und die daraus erwachsenden Rechtsbeziehungen33 oder die französischen coutumes, die mit ihrem teilweise frühmittelalterlich-fränkischem Ursprung auf ein Forschungsfeld rechtshistorischer Germanistik zurückführen. In der frühen Neuzeit bilden sie - vermittelt vor allem über Dumoulin - einen wichtigen Ausgangspunkt für die viele Teile Europas ergreifende Zuwendung der Jurisprudenz zum einheimischen Recht und gelten für den Beginn der Modeme als eine Grundlage für die Leitbilder des Code civil von 1804 vor allem im Familienrecht - Leitbilder, die mit der Ausbreitung des französischen Rechts wiederum weit über Frankreich hinaus in Europa maßgeblich wurden34 .
3. Kanonisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte Gegenüber den Entwicklungen, die in der Tradition einer "oralen" Kultur wurzeln und den Blick über die Wissenschaftsgeschichte hinauslenken, hat das 31 Grundlegend Norben Elias: Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, 15. Aufl., Frankfurt a. M. 1990. 32 Einschließlich seiner wissenschaftlichen Darstellung durch die gemeinrechtliche Jurisprudenz auf Grundlage der libri feudorum. 33 VgJ. hierzu Dietmar Willoweit und WinJried Schich (Hg.): Studien zur Geschichte des sächsisch-magdeburgischen Rechts in Deutschland und Polen, Frankfurt a. M., 1980; sowie zuletzt Irena Kwiatkowska: Das sächsische Recht in der polnischen juristischen Literatur des 17. Jahrhunderts, in: Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung, Festschrift Rolf Lieberwirth zum 70. Geburtstag, hg. v. Gerhard Lingelbach und Beiner Lück, Frankfurt a.M. 1991, S. 119-123. 34 VgJ. f.a.m. Konrad Zweigen/Bein Kötz: Einführung in die Rechtvergleichung, Band 1,2. Aufl. Tübingen 1984, S. 101 f., 113 ff.; Bans Schlosser: Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 6. Aufl., Heidelberg 1988, S. 107 ff.
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"gelehrte Recht" unter den älteren Grundlagen der europäischen Rechtskultur zwar größere Aufmerksamkeit in den Forschungen zur europäischen Rechtsgeschichte auf sich ziehen können. Selbst innerhalb dieses Forschungsinteresses am "gelehrten Recht" zeigt sich indes eine Disproportionalität, die eher der heutigen Forschungssituation als den historischen Gegebenheiten geschuldet ist: Das ius canonicum findet weit geringere Beachtung als das ius civile. Die historische Bedeutung des kanonischen Rechts würde jedoch völlig verfehlt, wenn etwa die geringe Berücksichtigung der historischen Kanonistik im Zuge der neueren Universitätsentwicklung oder die Gewichtung der juristischen Disziplinen für das heute geltende Recht den Maßstab bildete. Für die Entwicklung der europäischen Rechtskultur im Mittelalter war das kanonische Recht im Dualismus der Rechtssysteme35 vielmehr mindestens ebenso prägend wie das weltliche Recht, wie sich beispielsweise für das Entstehen des Juristenberufes36 zeigt. Als Recht der weite Teile Europas umgreifenden römisch-katholischen Kirche trug es insbesondere schon früh zur Herausbildung von Grundzügen auch der neuzeitlichen Staatlichkeit und Verwaltung bei. Unter der Perspektive der Europäischen Rechtsgeschichte werden mithin sowohl vorliegende Forschungsergebnisse der Kanonistik, die außerhalb dieser Teildisziplin bislang zuweilen nicht hinreichend beachtet worden sind, mehr noch als bisher fruchtbar zu machen37 als auch weitere Forschungen auf diesem Gebiet anzuregen sein. Das kanonische Recht muß dabei als eine Grundlage nahezu aller Hauptgebiete des modemen Rechts in Betracht stehen. Auch die Europäische Privatrechtsgeschichte wird so neben dem römischen Recht das "Ius canonicum in iure civili" (so der Titel eines grundlegenden Werkes38 auf diesem Gebiet) noch mehr als bisher als eine Wurzel des modemen Privatrechts in den Blick nehmen müssen39 •
4. Europäische Privatrechtsgeschichte Trotz der Notwendigkeit weiterer Einbeziehung der kanonistischen Grundlagen (und auch herkömmlich germanistischer Arbeitsbereiche4O) sind die Forschungen innerhalb der Europäischen Rechtsgeschichte auf dem Gebiet der Privatrechtsgeschichte besonders weit vorangeschritten. Zeugnis davon geben
35 Oben 2. bei Fn. 23 und 24. 36 Vgl. lAndau, in diesem Bd., S. 39 ff., S. 48. 37 Dazu eine Fülle von Hinweisen ebd. 38 Udo Wolter: lus Canonicum in lure Civili, Köln 1975. 39 Vgl. programmatisch Coing, Handbuch (pn. 7), 111, Vorwort. 40 S. oben 2. c.
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neben dem "Handbuch der Quellen und Literatur"41 und dem "Europäischen Privatrecht"42 beispielsweise für das 19. Jahrhundert - auf das noch besonders einzugehen sein wird - die sechsbändige Darstellung der "Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts"43 und für einen Zentralbereich des Privatrechts nunmehr Zimmermanns "Law of Obligations"44. Die Diskussion um die Forschungsperspektiven dieses Gebietes45 wird von mehreren Beiträgen dieses Bandes fortgeführt46 . Ergänzend seien hier lediglich drei Fragenkreise beispielhaft für das Spektrum der Forschungsaufgaben auf dem Gebiet der europäischen Privatrechtsgeschichte allein schon in Hinblick auf die vormoderne Zeit genannt. Denn selbst insoweit haben die vorliegenden ertragreichen Arbeiten eher Schneisen für die weitere Forschung geschlagen. So ist erstens noch keineswegs ein vollständiges Bild der Rezeption des römischen Rechts in Europa hergestellt. Im Rahmen vergleichender Rezeptionsforschung bleiben vielmehr Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wirkungsweise des rezipierten Rechts im Verhältnis zum jeweiligen einheimischen Recht ebenso wie in den zeitgenössischen GeltungsbegrüDdungen und Rezeptionsbegriffen einer Zusammenschau zuzuführen47 . Zweitens wäre die Zuwendung zur Geschichtlichkeit des Rechts und zum jeweiligen "ius patriae" im Laufe der frühen Neuzeit aus europäischer Perspektive zu untersuchen - im Unterschied zu nationalgeschichtlichen Sichtweise des 19. Jahrhunderts also nicht als isolierte Entwicklung einzelner Länder und als Durchbruch ihres "Volksgeistes" im Recht, sondern als ein gemeineuropäischer Prozeß innerhalb der (noch) gemeineuropäischen Jurisprudenz, der beispielsweise Schottland und Frankreich ebenso ergreift wie Deutschland48 . Seine gemeinsamen Grundzüge ebenso wie die territorialen und nationalen Besonderheiten und Wechselbeziehungen zu untersuchen, ist gleichermaßen für die europäische Rechtsgeschichte wie für die nationale Rechtsgeschichte einzelner 41 Coing (Hg.) (Fn. 7). 42 Coing (Fn. 8). 43 Helmut Coing und Walter Wilhelm (Hg.): Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, 6 Bände, Frankfurt a. M. 1974-1982. 44 Reinhard Zimmennann: The Law ofObligations, Johannesburg 1990. 45 Grundlegend neben den eingangs Fn. 2 ff. bereits erwähnten Werken Helmut Coing: Die
europäische Privatrechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet, in: lus commune 1 (1967), S. 1 ff. und in ders.: Gesammelte Aufsätze fi, Frankfurt a.M. 1982, S. 67 ff. 46 Unten Hauptteil C; zum Bezug auf die Rechtsentwicklung der Gegenwart ferner noch hier unten 9. 47 Zur erforderlichen Einbeziehung Mittel-Ost-Europas und zum Problem der Übernahme gemeinen Rechts in England vgl. unten 8. 48 Vgl. beispielhaft schon 0"0 Herding: Oe jure feudali, in: Dt. Vierteljahreszeitschrift für Literatur-Wissenschaft und Geistesgeschichte 1954, S. 287 ff. für die Zuwendung zum ius patriae im Lehnrecht.
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Völker und Länder (einschließlich der deutschen Rechtsgeschichte)49 von Interesse50 . Mehr noch als bisher ist drittens der Einfluß der großen gemeineuropäischen Ideen des Naturrechts und der Aufklärung auf die Entwicklung des Privatrechts zu verfolgen51 . Keineswegs geklärt ist so für das Privatrecht die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis des frühneuzeitlichen Naturrechts zur gemeinrechtlichen Tradition. Zugespitzt läßt sich fragen, inwieweit die Konzeptionen des Naturrechts für das Privatrecht in Europa auf dem Weg in die Modeme zu grundlegenden Neuerungen der Dogmatik und Methodik führten oder inwieweit sie lediglich gemeinrechtliche Traditionen des Usus modemus Pandectarum in neue theoretische Gewänder hüllten. Weiterer Untersuchung bedarf es insbesondere, in welcher Weise die naturrechtlichen Lehren von Gemeinschaft und Individuum, Pflichtenbindung und Freiheit sich in den Begriffen des Privatrechts niederschlugen und die Ausgestaltung privatrechtlicher Institute beeinflußten52 .
5. Europäische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Nicht allein die herausragende Rolle, die das Privatrecht über lanfe Zeit in der Entwicklung der europäischen Rechtskultur eingenommen hat5 , erklärt, daß sich die Forschungen zur europäischen Rechtsgeschichte in Deutschland zunächst vor allem in diesem Bereich entfaltet haben und für andere Gebiete weit weniger fortgeschritten sind. Begründet liegt dies auch in einer verschiedentlich kritisierten54 Tradition des Faches Rechtsgeschichte, die auf das frühe 19. Jahrhundert zurückführt. Die rechtshistorische Romanistik und Germanistik widmeten sich seit dieser Zeit der wissenschaftlichen Gestaltung 49 Beispielhaft für die Berücksichtigung sowohl nationaler Rechtsentwicklungen als auch europäischer Zusammenhänge: Klaus Luig: Institutionenlehrbücher des nationalen Rechts im 17. und 18. lahrhundert, in: lus commune 3 (1970), S. 64 ff.
50 So kann - zugespitzt - Conring nicht allein in der bekannten Formel als "Vater der deutschen Rechtsgeschichte" gelten (zu Conrings wissenschaftlicher Leistung vgl. Michael Stolleis (Hg.): Hennann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk, Berlin 1983 m.w.N.), sondern gehört aus der Sicht der Europäischen Rechtsgeschichte auch - gemeinsam mit Dumolin und anderen - zu den "Vätern" einer Zuwendung der Gemeinrechtswissenschaft zu Geschichte und "ius patriae" in einem europäischen Prozeß der Fortbildung des Rechtsdenkens.
51 Hierzu in diesem Bd. Klaus Luig: Natürliches Privatrecht - Die Rolle des Privatrechts in den naturrechtlichen GesellschaftsenlwÜrfen des 17. und 18. lahrhunderts, S. 103 ff.; und Wilheim Brauneder: Vernünftiges Recht als überregionales Recht: Die Rechtsvereinheitlichung der österreichischen Zivilrechtskodifikation 1786-1796-1811, S. 121 ff. 52 Vgl. dazu Luig, in diesem Bd., S. 103 ff. 53 Vgl. Coing (Fn. 45); ders. (Fn. (4), S. I ff.
54 Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. I, München
1988, S. 50 f.; ders., : Aufgaben der Neueren Rechtsgeschichte, oder: Hic sunt leones, in: Rl 4 (1985), S. 251 ff.
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gerade eines gemeinsamen Privatrechts für Deutschland auf geschichtlicher Grundlage, während das mit den politischen Verhältnissen enger verwobene Staatsrecht insbesondere den Germanisten von Eichhorn über Beseler bis Gierke zwar nicht aus dem Blick geriet, aber doch insgesamt im Vergleich zu den beiden vorangegangenen Jahrhunderten55 eine geringere Rolle in der historischen Arbeit der Rechtswissenschaft spielte. In der Folge verfestigten das fortwirkende Verständnis des Charakters rechtswissenschaftlicher Arbeit in der Tradition der historischen Rechtsschule und davon zum Teil beeinflußte äußere Umstände wie die Fächerverbindung der Rechtsgeschichte gerade mit dem Privatrecht56 an den Lehrstühlen der deutschen Juristischen Fakultäten die vorrangige Beschäftigung der rechtsgeschichtlichen Forschung mit der Privatrechtsgeschichte, bevor späterhin aus den "klassischen" rechtshistorischen Teildisziplinen die Neuere Privatrechtsgeschichte als ein eigenes Lehrgebiet erwuchs und dieses schließlich seine europäische Ausrichtung erhielt. Für die Forschungen zur Europäischen Rechtsgeschichte findet indes eine einseitige Ausrichtung auf die Privatrechtsgeschichte weder in den Arbeitszielen dieses Forschungsfeldes noch in der neueren Entwicklung des rechtshistorischen Fächergefüges eine Grundlage. Im Vergleich zur Perspektive des 19. Jahrhunderts müßte aus dem Blickwinkel der demokratischen und sozialstaatlichen Rechtsordnungen des heutigen Europa beispielsweise den gemeinsamen Traditionen des Verfassungsrechts, insbesondere der Grundrechte, und der sozialen Pflichtenlehre neben der Geschichte des Privatrechts (und verbunden mit ihr) weitaus größeres Gewicht zukommen. Die Grundlage dafür bieten sowohl das ius publicum als Teil der europäischen Geschichte des Rechts als auch die gemeineuropäischen Grundzüge in der Entwicklung des politischen Denkens. Denn mit der sog. Aristoteles-Renaissance im hohen Mittelalter beginnt ein sich vielfach wandelnder, aber bis in die Modeme fortdauernder europäischer Diskurs über die Ordnungsprinzipien des Gemeinwesens - ein Diskurs, in dem später die Diskussionen über Fürstenethik, "Staatsräson", naturrechtliche Pflichten und Freiheiten, Menschen- und Bürgerrechte, Verfassung und Rechtsstaat Bindeglieder des politischen und rechtlichen Denkens in Europa wurden.
55 Zu dem - bisweilen unterschätzten - Beitrag der Publizistik zur Entwicklung historischen Rechtsdenkens in Deutschland seit dem 17. Jahrhundert vgl. Michael Stolleis (Hg.): Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1987; sowie ders., Geschichte des öffentlichen Rechts ... (Fn. 54), S. 231 ff. u.Ö. 56 Diese Fächerverbindung ist freilich nur Ausdruck einer Konzeption historischer Rechtswissenschaft, die sich am stärksten für das Privatrecht entfalten konnte, nicht aber die eigentliche Ursache für die Dominanz des Privatrechts in der rechtsgeschichtlichen Forschung, vgl. auch 7heo Mayer-Maly: Anmerkungen zu Versuchen über die Aufgaben der Rechtsgeschichte nachzudenken, in: RJ 4 (1985), S. 268 ff., 269.
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Ein entsprechender Wandel des rechtshistorischen Fächergefüges zeichnet sich bereits seit einiger Zeit ab. 57 Neben die großen Werke zur Neueren Privatrechtsgeschichte ist so - zunächst mit Blick auf die Rechtsentwicklung in Deutschland - eine weit gespannte Darstellung der Geschichte des öffentlichen Rechts58 getreten. Auch darüber hinaus gewinnt nicht nur die Geschichte des Staatsrechts vom Mittelalter bis zur Moderne59 , sondern auch die Geschichte des VelWaltungsrechts und des VeIWaitungshandelns60 einschließlich der wohlfahrtsstaatlichen Traditionen frühneuzeitlicher "Policey"61 in der neueren Forschung zunehmend an Gewicht. Dabei beginnen auch die europäischen Zusammenhänge - von den Diskussionen um Politik und "Policey" auf Grundlage des älteren Aristotelismus bis hin beispielsweise zur Vorbildwirkung französischen VelWaltungsrechts auf Deutschland und deutscher Staatswissenschaften auf Italien während des späten 19. Jahrhunderts - in den Blick zu treten62 . - Dieses historische Interesse trifft mit der Diskussion über "Europäisches VelWaltungsrecht"63 für unsere Zeit zusammen. Es verbindet zudem in besonderem Maße verschiedene Disziplinen, namentlich Geschichtswissenschaft, Politische Wissenschaft und Rechtswissenschaft, und hat bereits verschiedentlich in internationaler Zusammenarbeit bei der Forschung Ausdruck gefunden64 . Von vornherein kennzeichnen damit Ansätze der Interdisziplinarität und des internationalen Zusammenwirkens die europäische Verwaltungsgeschichte als neue Forschungsrichtung65 . 57 Vgl. dazu Reiner Schul1.e und Robert Mizia: VelWaltungsgeschichtsschreibung in Deutschland und Österreich, in: Die VelWaltung 1985, S. 351 ff., 353 f. 58 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts ... (Fn. 54). 59 Vgl. f.a.m. Hanns Gross: Empire and sovereignity. A History of the Public Law Literature in the Holy Roman Empire 1599-1804, Chicago 1975; Dierer Wyduckel: lus publicum: Grundlagen und Entwicklung des öffentlichen Rechts und der deutschen Staatsrechtswissenschaft, Berlin 1984; Stolleis (Hg.) (Fn. 55). 60 Vgl. die bei den großen Gesamtdarstellungen: Deutsche VelWaltungsgeschichte, hg. v. K14rt Jeserich, Hans Pohl und Georg-Chrisroph von Unruh, Stuttgart 1983-1988; Grundriß zur deutschen VelWaltungsgeschichte 1815-1945, Reihe A "Preußen" hg. v. Walrher Hubatsch, Marburg seit 1975, Reihe B "Mitteldeutschland außer Preußen", hg. von Ihomos Klein, Marburg seit 1976, Reihe C "Süddeutsche Staaten", hg. v. Walrher Hubatsch, Marburg seit 1975. 61 Hierzu grundlegend Hans Maier, Die ältere deutsche Staats- und VelWaltungslehre, 2. Aufl., München 1980. 62 Vgl. insbes. Erk Vol/anar Heyen (Hg.): Geschichte der VelWaltungswissenschaft in Europa, lus commune Sonderheft Nr. 18, Frankfurt a. M. 1982; ders. i.V.m. Guido Melis, JeanLouis Mestre, Vincenr Wrighr, Bemd Wunder (Hg.): Jahrbuch für europäische VelWaltungsgeschichte, Baden-Baden seit 1989; aus der italienischen Literatur beispielsweise Filosofia politica, Bd. 19881ll; ISAP Archivio: L'amministrazione nella storia modema, 3, Milano 1985. 63 Vgl. Meinharrl Schröder: Europäisches VelWaltungsrecht, in: Die VelWaltung 23 (1990), S. 247; Jargen Schwane: Europäisches VelWaltungsrecht, 2 Bände, Baden-Baden 1988. 64 So in den von Heyen hg. Bänden (Fn. 62); in Filosofia politica (Fn. 62); in ISAP Archivio 3 (Fn. 62); sowie in Publikationen des Institut international des Sciences Administratives USA, Brossel. 65 Zu Stand und Perspektiven Gerharrl Robbers: Europäische VelWaltungsgeschichte, in diesem Bd., S. 153 ff.
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In ähnlicher Weise zu interdisziplinärem Zusammenwirken fordert die europäische Verjassungsgeschichti 6 als Forschungsaufgabe heraus67 . Für die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern verschiedener Länder wirft sie allerdings in besonderem Maße das Problem der Verständigung über die begrifflichen Voraussetzungen der gemeinsamen Tätigkeit auf. "Verwaltung" und "Verfassung" wurden nicht nur im Verlaufe der Geschichte zu verschiedenen Zeiten, sondern werden auch heute in verschiedenen Ländern Europas68 in unterschiedlicher Weise begriffen. Als historiographische Begriffe konstituieren sie zudem in ihrer heute üblichen Verwendungsweise für die Verwaltungsgeschichte und die Verfassungsgeschichte einen Gegenstandsbereich, der weit über den Gebrauch der Termini "Verwaltung" und "Verfassung" in den historischen Quellen selbst hinausgreift69 . Vor allem aber sind die heutigen wissenschaftlichen Konzeptionen der "Verfassungsgeschichte" selbst ein verhältnismäßig junges Ergebnis wissenschaftsgeschichtlicher Entwicklungen vornehmlich im deutschen Sprachraum70 und erhielten hier ihr Gepräge vor allem durch Otto Brunner7 und die von ihm ausgelösten Diskussionen. Obgleich diese Konzeptionen der Verfassungsgeschichte inzwischen auch in anderen Ländern große Aufmerksamkeit fmden 72, besteht damit mehr noch als auf anderen Gebieten die Notwendigkeit einer Verständigung zwischen den Wissenschaftlern verschiedener Länder über das Verhältnis zu jenen Fachgebieten, die - etwa als "Geschichte der Institutionen" oder als "Geschichte des politischen Denkens" - in anderen europäischen Ländern zum Teil ähnliche Aufgaben wahrnehmen wie die Verfassungsgeschichte. In diesem europäischen Diskurs verschiedener wissenschaftlicher Ansätze wird die Forschung des deutschsprachigen Raumes auch vor der Aufgabe stehen, die Tragfähigkeit ihres bisherigen, vornehmlich auf das einzelne Land oder die 66 In diesem Bd.: Dietmar Willoweit: Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte, S. 141 ff.; Christo! Dipper: Sozialgeschichte und Verfassungsgeschichte. Zur Europäichen Verfassungsgeschichte aus der Sicht der Geschichtswissenschaft, S. 173 ff. 67 Zum engen Zusammenhang von Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte (der es durchaus gestattet, Verwaltungsgeschichte als Teil der Verfassungsgeschichte zu betrachten) vgl. Schulze u. Mizia (Fn. 57), S. 359 ff. m.w.N. 68 Für die Staaten der Europäischen Gemeinschaft vgl. JUrgen Schwarze: Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. I, Wiesbaden 1988, S. 13 ff. 69 Vgl. zur Diskussion über den Gegenstand der Verfassungsgeschichte insbes. die Beiträge von Reinhard Koselleck, Karl Kroeschell und Rolf Sprandel in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung = Der Staat, Beiheft 6 (1983). 70 Vgl. hierzu Der Staat, Beiheft 6 (1983) (Fn. 69); Hans Boldt: Einführung in die Verfassungsgeschichte, S. 15 ff.; Dietmar Willoweit: Verfassungsgeschichte, in: Görres-Gesellschaft (Hg.): Staatslexikon, Bd. 5, 7. Aufl. 1989, Freiburg u. a., Sp. 648 ff.; Dietmar Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Teilung Deutschlands, München 1990. 71 Brunner (Fn. 26); ders.,: Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht, in: HZ 209 (1969), S. 1 ff. 72 Vgl. beispielsw. für Italien Annali dell'istituto storico italo-germanico in Trento, 1987, hg. v. Pierangelo Schiera. 2 Schulze
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einzelne Nation bezogenen Verständnisses der Verfassungsgeschichte für die Auseinandersetzung mit den europäischen Zusammenhängen zu überdenken und möglichelWeise angesichts der neuen Aufgaben ihre Zielsetzungen und Methoden neu zu bestimmen73 •
6. Das Zeitalter des Nationalstaates in der Europäischen Rechtsgeschichte a) Auf allen Sachgebieten stellt das 19. Jahrhundert - oder etwas weitergefaßt die Periode zwischen der Französischen Revolution 1789 und dem Ersten Weltkrieg 1914/18 - eine besondere Herausforderung für die Europäische Rechtsgeschichte dar. Denn diese Periode führte die meisten Länder Europas nicht nur von ständischen und feudalen Verhältnissen zu einer modemen Privatrechts- und Verfassungsordnung und brachte bis heute maßgebliche Grundzüge ihrer Rechtssysteme hervor - von der ÜbelWindung des "geteilten" Eigentums, der Herausbildung einer allgemeinen, gleichen Rechtsfähigkeit und dem Wandel der privatrechtlichen Dogmatik unter dem Gedanken der Privatautonomie74 über das Entstehen ganz neuer Rechtsgebiete wie des Verwaltungsrechts, Sozialversicherungsrechts und Arbeitsrechts bis hin zu den methodischen Grundlegungen in den Diskussionen um historische Schule, Begriffsjurisprudenz, Positivismus und "soziale Zwecke" im Recht. Zugleich eröffnete der Anbruch der Modeme vielmehr auch das Zeitalter des Nationalstaates, der nationalen Rechtssysteme und der nationalen Rechtskulturen. Fast überall in Europa verband sich mit dem Gedanken des Nationalstaates der Anspruch, ein "eigenes" nationales Recht zu besitzen. Frankreich ging mit der Ausbildung des neuen nationalen Selbstbewußtseins in der Revolution und mit der KodifIkation seines neuen Rechts unter Napoleon voran. Auf unterschiedlichen Wegen folgten die anderen Länder. In Deutschland blieben zwar ebenso der Nationalstaat wie die nationale Rechtsvereinheitlichung über die Revolution von 1848/49 hinaus patriotischer Wunsch. Seine Erfüllung bereitete sich allerdings schon in den wissenschaftlichen Entwürfen der historischen Rechtsschule für das gemeine deutsche Recht und in einzelnen gesetzgeberischen Maßnahmen75 vor, bevor die ReichsgfÜndung von 1871 -
73 Hierzu Willoweit, in diesem Bd., S. 141 ff. 74 Vgl. für das Privatrecht als Überblick aus der älteren Lit. Justus W. Hedemann: Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX. Jahrhundert: ein Überblick über die Entfaltung des Privatrechts in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz, 2 Bände, Berlin 1910, Neudruck 1930/1935; Frankfurt am Main 1968; aus der neueren Lit. Coing u. Wilhelm (Fn. 43); Coing (Fn. 8), Bd. 2. 75 Insbes. Wechselordnung 1848 und Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch 1861 sowie Dresdner Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Obligationenrechts (dessen Inkraftsetzung allerdings an der Auflösung des Deutschen Bundes im folgenden Jahr scheiterte).
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verspätet gegenüber anderen europäischen Ländern - mit der politischen Einheit auch die Voraussetzung für umfassende Rechtsvereinheitlichung schuf. Mit diesem Aufstieg des Nationalstaates als Ideal und als bestimmende politische Größe in Europa zerriß der Zusammenhang der gemeineuropäischen Jurisprudenz in seiner hergebrachten Form. Äußerlich - und symbolisch - mit der Abkehr vom Lateinischen, der bis dahin gemeinsamen Wissenschaftssprache der Juristen in Europa, und inhaltlich mit den Versuchen eigener systematischer Darstellung des "ius patriae" - für Deutschland zunächst als "Teutsches Staatsrecht" und seit Georg Beyer auch als "ius Germanicum privatum" - hatte sich schon zuvor innerhalb der noch vornehmlich gemeinrechtlich ausgerichteten Jurisprudenz die "Nationalisierung" der Rechtswissenschaft angekündigt, die sich schließlich im späten 18. und im 19. Jahrhundert Bahn bricht. Die Ausgangspunkte und Wege unterscheiden sich in den Ländern Europas. Sei es auf der Grundlage eines revolutionären Nationalbewußtseins (wie in Frankreich), sei es aufgrund eines historischen Selbstverständnisses unter der Annahme, daß das nationale Recht aus der eigenen Geschichte des Rechts im jeweiligen Volk erwachse (wie in Deutschland); sei es auf dem Wege rascher Kodiftkationen oder sei es im Prozeß allmählicher wissenschaftlicher Rechtsvereinheitlichung - stets tritt für die Rechtswissenschaft das Bewußtsein eines gemeineuropäischen Zusammenhanges auf Grundlage des Ius commune hinter der Ausrichtung auf das jeweilige nationale Recht und der Einbindung in die nationale Rechtskultur zurück. Im Fortgang der Entwicklung zieht Rudolf von Jhering die Bilanz: " ... die Wissenschaft ist zur Landesjurisprudenz degradiert, die wissenschaftlichen Grenzen fallen in der Jurisprudenz mit den politischen zusammen", und er kommentiert auf dem Hintergrund der großen Tradition des Ius commune: "Eine demütigende, unwürdige Form für eine Wissenschaft" 76. Zwischen das vormoderne gemeinsame europäische Recht und die heutigen Ansätze zu gemeinschaftlichem Recht in Europa schiebt sich damit eine Zeit, in der die Blüte des Nationalstaates die europäische Geschichte des Rechts zumindest weitaus schwerer greifbar macht als für die ältere Zeit und für die Gegenwart. Diese Zwischenzeit ließ das ältere Bewußtsein des übergreifenden Zusammenhanges schwinden und führte zu dem eingangs festgestellten Sachverhalt, daß den Juristen unserer Zeit erst langsam eine europäische Gemein": samkeit wieder vertraut zu werden beginnt, wie sie jahrhundertelang eine Selbstverständlichkeit war. Sie wirft sogar die Frage auf, ob es überhaupt eine europliische Geschichte des Rechts vom Mittelalter bis zur Gegenwart unter Einschluß des 19. Jahrhunderts gibt.
76 Rudolfvon Jhering: Geist des römischen Rechts Buf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. I (1. Aufl. Leipzig 1852), hier zitiert nach der 6. Aufl. Leipzig 1907 (Neudruck Darmstadt 1968), S. 15; vgl. hierzu auch Reinhard Zimmennann: Das römisch-holländische Recht und seine Bedeutung für Europa, in: JZ 1990, S. 825 ff., 837. 2'
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Zu einer positiven Antwort auf diese Frage führen vor allem zwei Ansatzpunkte in der neueren Forschung. Zum einen zeigt eine Reihe von Arbeiten auf vielfältige Weise das Fortwirken der gemeinrechtlichen Wissenschaftstradition in den verschiedenen nationalen Rechten der Modeme: trotz zunehmender Diversifizierung der Arbeitsweisen, der literarischen Stile und der Ausbildung nicht nur bei der Übernahme von einzelnen Normen, dogmatischen Figuren und Problemlösungen, sondern auch für weite Bereiche der Systembildung, Methodik und juristischen Denkschulung77 . Zum anderen beginnt sich die Forschung neben den gemeinrechtlichen Traditionen den neuen Formen des juristischen Wissens- und Erfahrungsaustauschs im 19. Jahrhundert zuzuwenden78 • Dabei zeichnet sich ab, daß das Zeitalter des Nationalstaates - entgegen dem ersten Schein und häufig auch entgegen zeitgenössischem Selbstverständnis durchaus eine Epoche intensiven wechselseitigen Bezuges und vielfältigen Transfers juristischen Wissens zwiscl;ten den nationalen Rechtsordnungen in Europa war. Diese neuen Verbindungen wurden vor allem durch das Bemühen um die Fortentwicklung des Rechts im Zuge und in der Folge der Industrialisierung herausgefordert79 . Die vergleichbaren Problemlagen in vielen Ländern Europas - wenn auch häufig zeitverschoben - waren ihre entscheidende Voraussetzung, und das Fortwirken der älteren gemeinsamen Wissenschaftstradition begünstigte sie. Unter diesen neuen Bedingungen trat nunmehr an die Stelle der verbindenden Gemeinrechtswissenschaft vor allem die Rechtsvergleichung , die sich sachlich auf weite Bereiche der Rechtsordnungen erstreckte und zugleich zu einer Spezialdisziplin innerhalb der Rechtswissenschaft wurde80 . Für dieses Zeitalter nicht nur des Nationalstaates, sondern auch der Vergleichung, nicht nur des Verlustes älterer Gemeinsamkeiten, sondern auch des Entstehens neuer Verbindungen in Europa verlangt mithin die wechselseitige Wahrnehmung und Bezugnahme zwischen den nationalen Rechtskulturen die besondere Aufmerksamkeit der Forschung. In Hinblick auf Deutschland gehören beispielsweise ebenso der Einfluß des französischen Rechts auf die deutsche Gesetzgebung81 wie der Einfluß der deutschen Pandektenwissen-
77 Vg\. dazu in diesem Bd. insbes. Landau, S. 39 ff.; Zimme171lann, S. 61 ff.; Ranieri, S. 89 ff. m.w.N. 78 Vg\. hienu Schulze (Fn. 20). 79 Vg\. Coing (Fn. 14), S. 1 ff., 5. 80 Zur Entwicklung und Bedeutung der Rechtsvergleichung vg\. Bemhard Groß/eid: Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, Tübingen 1984, insbes. S. 37 ff.; Hein Köl7.: Neue Aufgaben der Rechtsvergleichung, Iuristische Blätter 104 (1982), S. 355; Uontin-Jean Constantinesco: Rechtsvergleichung, Band 1: Einfiihrung in die Rechtsvergleichung, Köln 1971, S. 69 ff.; Helmut Coing: Rechtsvergleichung als Grundlage von Gesetzgebung im 19. Iahrhundert, in: Ius commune 7 (1978), S. 168 ff. 81 Dazu in diesem Bd. Elmar Wadle: Französisches Recht und deutsche Gesetzgebung im 19. Iahrhundert, S. 201 ff.
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schaft auf Frankreich82 zu den Forschungsthemen Europäischer Rechtsgeschichte. b) Die Auswahl der Methoden und Schwerpunkte ist dabei - wie für jede Epoche - den besonderen Gegebenheiten der Rechtsentwicklung in jener Zeit anzupassen. So lassen es etwa Wandlungen des Rechtsverständnisses und des Rechtssystems wie der Übergang von der älteren "Jurisprudenz" zur modernen "Rechtswissenschaft" und einer davon gesonderten "Praxis"83 oder die veränderte Rolle der Gesetzgebung in der Rechtsentwicklung84 , aber beispielsweise auch sozialgeschichtliche Faktoren wie die Dominanz der Juristen in den administrativen, politischen und z. T. auch sonstigen kulturellen Führungsschichten verschiedener Länder Europas erforderlich werden, im Fortgang der Forschungen ein möglichst weites Spektrum von Literaturgattungen mit Aussagekraft über die wechselseitige Wahrnehmung der nationalen Rechtskulturen einzubeziehen. Neben der rechtswissenschaftlichen Literatur Beachtung verdienen daher auch die gängigen Handbücher und Nachschlagewerke der Praxis, die von politischen Institutionen und Interessenverbänden veranlaßten Recherchen im Vorfeld der Gesetzgebung und eine Vielzahl weiterer Quellen, aus denen sich erst Gesamtumfang und Wirkungsbreite der Bezugnahme zwischen den nationalen Rechtskulturen erschließen. 85 Verbunden mit den Einzeluntersuchungen werden zudem die zeitgenössisch verwandten Kategorien zur Beschreibung der Verbindungen zwischen den Ländern Europas im 19. Jahrhundert zu analysieren und die entsprechenden heute gebräuchlichen historiographischen Begriffe zu überdenken sein. Denn es gehört weiterhin zu den ungelösten methodischen Fragen rechtshistorischer Untersuchungen für das 19. Jahrhundert, in welcher Weise Begriffe wie "Rezeption" oder "Einfluß", "Vorbild" oder "Nachahmung", "Modell" oder "Anlehnung" auszufüllen sind, um den kulturellen Bezug zwischen zwei Ländern adäquat auszudrücken. Insbesondere ist bezweifelt worden, ob die bisher übliche Begrifflichkeit Veränderungen der übernommenen Rechtsfigur oder -norm im Kontext des anderen Rechts - und mit dieser "Transformation" auch die Fortentwicklung des Rechtes in Europa gerade
82 Dazu in diesem Bd. Alfons Barge: Der Einfluß der Pandektenwissenschaft auf das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert: Vom Vermögen zum patrimoine, S. 221 ff. 83 Vgl. zum Wandel des Wissenschaftsverständnisses Jan Schröder: Wissenschaftstheorie und Lehre der "praktischen Jurisprudenz" auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, lus commune Sonderheft 11 , Frankfurt a. M. 1979. 84 Vgl. Ebel (Fn. 19); Schulz.e (Fn. 19). 85 Zur Konzeption derartiger Untersuchung der Beziehungen zwischen nationalen Rechtskulturen im 19. Jahrhundert und zu Erfahrungen aus italienischer Sicht Aldo Mauacane: Die Rechtskultur in Deutschland und Italien nach der nationalen Einigung - Anmerkungen zu einem Forschungsprojekt, in: Schulz.e (Hg.) (Fn. 20), S. 55 ff.; Aldo Mauacane/Pierangelo Schiera (Hg.): Enciclopedia e saperc sentifico. n diritto e le scienze sociali nell'Enciclopedia giuridica italiana, Bologna 1990.
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durch die Verbindung von Bestandteilen verschiedener nationaler Rechtskulturen - hinreichend reflektiert86 . c) Nicht einfach (allein schon in sprachlicher Hinsicht), aber zum Verständnis der europäischen Rechtsgeschichte unverzichtbar ist es zudem, über die bilateralen Beziehungen hinaus den mehrseitigen, komplexeren Verbindungen zwischen den nationalen Rechtskulturen des 19. Jahrhunderts nachzugehen. Wie sich die wissenschaftlichen Anregungen eines Landes einem anderen über ein drittes vermitteln konnten, zeigt sich für die Privatrechtsgeschichte beispielsweise im "Dreieck" Deutschland-FrankreichItalien: Die italienischen Überlegungen zu einer Revision des Codice civile der unmittelbar nach der nationalen Einigung nach dem Vorbild des napoleonischen Code civil von 1804 geschaffen worden war - standen im späten 19. Jahrhundert in nicht unerheblichem Maße unter dem Eindruck der methodischen und dogmatischen Fortentwicklung des Privatrechts durch die deutsche Pandektistik im Verlaufe der vorangegangenen Zeit87 . Aber die Auffassungen der deutschen Pandektenwissenschaft erreichten Italien nicht nur - und vielleicht gar nicht einmal in erster Linie - unmittelbar "auf dem Nord-SüdWeg", sondern nahmen den Umweg über den Westen: In Frankreich hatten die methodischen und dogmatischen Anregungen der deutschen Rechtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Richtung des "germanisme" entstehen lassen88 ; und an sie lehnte sich der italienische "germanesimo" im späten 19. Jahrhundert an89 . Verfolgt man derartige Zusammenhänge unter mehreren nationalen Rechtskulturen, so wird das Bild der europäischen Rechtsgeschichte im 19. Jahrhundert weitaus farbenreicher und zugleich schärfer als bei einer Analyse der "Einflußnahmen " und "Rezeptionen" mit Blick auf lediglich jeweils zwei beteiligte Länder. In einer Reihe von Fällen wird man sogar - wie unlängst für Entwicklungen des Arbeitsrechts im späten 19. Jahrhundert vorgeschlagen - eine "internationale Verbreitung und Zirkulation von Begriffen und Theorien"90 feststellen können. d) Was die Auswahl der Forschungsschwerpunkte betrifft, darf sich die Europäische Rechtsgeschichte zudem keineswegs auf die Entwicklungen in den Zentren der großen "Rechtskreise" beschränken (wie sie üblicherweise in der rechtsgeschichtlichen und rechtsvergleichenden Literatur unterschieden wer86 Vgl. hierzu Erk Volkmar Beyen: Dislrussionsbeitrag: Zur Einflußfrage in der Staats- und Rechtswissenschaftsgeschichte, in: Schulze (Hg.) (Fn. 20), S. 75 ff.; Raffaela Gherardi: "Methodenstreit" und politisch-soziale Wissenschaften, ebd., S. 83 ff.; Pasquale Beneduce: Germanisme, la terrible accusation .... , ebd., S. 105 ff. 87 Vgl. Mazzacane: Die Rechtslrultur ... (Fn. 85) m.w.N. 88 Dazu Barge, in diesem Bd., S. 221 ff. 89 Vgl. Beneduce (Fn. 86). 90 Cristina Vano: Hypothesen zur Interpretation der "vergleichenden Methoden" im Arbeitsrecht an der Wende zum 20. Jahrhundert, in: Schulze (Hg.) (Fn. 20), S. 225 ff., 242.
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den: deutscher bzw. mitteleurop'äischer, französischer bzw. romanischer, angelsächsischer Rechtskreis usw. 91 ). Das Interesse muß sich vielmehr mindestens ebenso auf die Berührungs- und Überschneidungsgebiete, die Peripherien, richten, um hier die wechselseitigen Beeinflussungen, die "Mischungen" und die daraus hervorgehenden Impulse auch für die Zentren zu erkennen. Aus der Sicht der nationalen Rechtsgeschichte Deutschlands oder Frankreichs "am Rande" gelegen, rücken beispielsweise Belgien und die Niederlande ebenso wie die Rheinlande (in denen das ganze 19. Jahrhundert hindurch deutsche Juristen französisches Recht anwandten)92 in das Zentrum europiiischer Rechtsgeschichte. Auch ein Land wie Italien, in dem vor allem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts traditionelle Bindungen an das französische Recht und wachsende Aufmerksamkeit für die deutsche Staatsund Rechtswissenschaft zusammentrafen 93, gewinnt damit für die Europäische Rechtsgeschichte besonderes Interesse. Gerade das Beispiel des französischen Rechts in den Rheinlanden läßt erkennen, in welch hohem Maße die Rechtsordnungen zweier großer nationaler Rechtskreise in Europa während der Blütezeit des Nationalstaates kompatibel waren94 . Für viele deutsche oder französische Juristen heute kaum vorstellbar - aber in Hinblick auf den europäischen Juristen der Zukunft ermutigend zeigt sich in der Praxis des Rheinischen Rechts, daß deutsche Juristen über einen langen Zeitraum in vielen Tätigkeitsbereichen und auf allen Ebenen der Rechtsprechung (schließlich bis hin zum Reichsgericht) in großer Selbstverständlichkeit mit französischem Recht umgehen konnten. Zugleich lassen sich derartige Überlagerungszonen verschiedener nationaler Rechtskreise als "Brückenräume " für die Entwicklung der Beziehungen zwischen diesen Rechtskreisen insgesamt betrachten. Denn die mehr oder weniger weitreichende Anpassung des einen Rechts an das andere und die dabei gesammelten Erfahrungen der Juristen prädestinieren diese Räume dazu, Rechtsvorstellungen, Normen und Institutionen des einen Landes dem anderen zu vermitteln. Das an die deutschen Verhältnisse angepaßte französische Recht der Rheinlande beeinflußte so die Rechtsentwicklung in Deutschland95 und ebenso obgleich bislang sowohl von der deutschen als auch von der französischen 34); Zweigerr/KiJtz (Fn. 34). 92 Übersichten zur Geschichte des französischen Rechts in Deutschland während des 19. Jahmunderts bei Wemer Schuberr: Französisches Recht in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Köln u. Wien 1977; Hans-JUrgen Becker: Das Rheinische Recht und seine Bedeutung für die Rechtsentwicklung in Deutschland, in: JuS 1985, S. 338 ff. 93 Vgl. soeben 6 c. 94 So die Ausgangsannahme des Forschungsprojekts "Französisches Recht in Deutschland 1804-1848 - die Beziehung zweier Rechtskulturen in der Rechtspraxis" unter Leitung des Verf. 91 Schlosser (Fn.
im Sonderforschungsbereich 235 der DFG "Zwischen Maas und Rhein: Beziehungen, Begegnungen und Konflikte in einem europäischen Kemraum von der Spätsntike bis zum 19. Jahrhundert" . 95 Zshlreiche Beispiele bei Wadle, in diesem Bd., S. 201 ff.
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Forschung weniger beachtet - in Frankreich. Nicht allein die Übersetzung des bekannten Werkes von Karl Salomo Zachariae96 ins Französische97 hatte daran Anteil98 , sondern etwa auch das Wirken in Frankreich einflußreicher Rechtswissenschaftler, die während ihrer Lehrtätigkeit oder Ausbildung an der Koblenzer Rechtsschule und während ihrer forensischen Praxis in den Rheinlanden die Berührungen des französischen und des deutschen Rechtskreises in diesem Raum kennengelernt hatten99 • Betrachtet man daneben Italien als weiteres Beispiel, so bestätigt sich, daß die Fortentwicklung des Rechts im europäischen Rahmen keineswegs allein von den Zentren der großen "Rechtskreise" ausgegangen und andere Länder im wesentlichen nur als Rezipienten zu betrachten sind. So stark beispielsweise die Zuwendung zur deutschen Staats- und Rechtswissenschaft in Italien auch war, war doch in der Begegnung beider Rechtskulturen keineswegs ganz einseitig die Vorbildrolle Deutschland und die EmpfängersteIlung Italien zugewiesen. Vielmehr vermochte die italienische Rechtskultur - begünstigt gerade durch ihre verhältnismäßig große Offenheit für Anregungen des Auslands - ihrerseits anderen europäischen Ländern einschließlich Deutschland wertvolle Anregungen auf verschiedenen Gebieten zu geben. Das - noch keineswegs vollständig untersuchte - Spektrum reicht von der Entwicklung der Rechtsvergleichung und des Internationalen Privatrechts 100 bis hin zu den Anstößen in den Diskussionen um die Reform des Strafrechts, die von Italien ebenso durch seine "scuola positiva" wie durch sein Strafgesetzbuch von 1890, den "Codice Zanardelli', ausgingen 10 1
96 Handbuch des französischen Civilrechts, 1. Aufl. 2 Bde., Heidelberg 1808; 2. Aufl., 4 Bde., Heidelberg 1811-1812; 8. Aufl. von Carl Crome, Freiburg i. Br. 1894-1895. 97 Charles Aubry/Charles Rau: Cours de Droit civil francais d'apres la Methode de Zachariä, 8 Bde., 5. Aufl. Paris 1869-1883. 98 Weiterfiihrend zum deutschen Einfluß auf Frankreich jetzt Alfons Bürge: Das französische Privatrecht im 19. Jahrhundert, lus commune Sonderheft 52, Frankfurt a.M. 1991. - Aufgrund der Vermittlungsfunktion der französischen Rechtswissenschaft zwischen Deutschland und Italien (s. o. 6 c) verwundert es im übrigen nicht, daß eine Übersetzung des Werkes von Zachariae aus dem Französischen ins Italienische in der Folge dazu beitrug, von der deutschen Rechtswissenschaft entwickelte Methodik und Dogmatik über den Zwischenschritt ihrer Anwendung auf das französische Recht in den Rheinlanden schließlich der italienischen Rechtswissenschaft zu vermitteln; vgl. hierzu Beneduce (pn. 86). 99 Namentlich Francois Auguste Dufrayer und Johann Kasper Foelix; dazu Luitwin Mallmann: Französische Juristenausbildung im Rheinland 1794-1814. Die Rechtsschule von Koblenz, Köln und Wien 1987, S. 165 ff., insbes. S. 107 f.; Bürge, in diesem Bd., S. 221 ff., insbes. Kapitel 6 m.w.N. 100 Hierzu Heinz-Peter Mansel: Mancini, von Savigny und die Kodifikation des deutschen internationalen Privatrechts von 1896, in: Schulze (Hg.) (Fn. 20), S. 245 ff; Erik Jayme: Dionisio Anzilotti und das Internationale Privatrecht, ebd., S. 297 ff. 101 Näheres bei Reiner Schulze: n contributo italiano al diritto penale nel tardo Ottocento, zur VefÖff. vorges. in den Materialien der Tagung Problemi istituzionali e riforme nell'eta Crispina (LV Congresso di Storia dei Risorgimento) in Sorrento 1990.
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All dies velWeist die Europäische Rechtsgeschichte darauf, die Peripherien und die Überschneidungsräume der großen "Rechtskreise" nicht lediglich "passiv", als Wirkungsbereich der von den Zentren ausgehenden Entwicklungen, zu sehen, sondern gerade hier nach dem Entstehen von Neuem aus der fruchtbaren Verbindung verschiedener nationaler Rechtskulturen zu fragen. Thesenartig läßt sich mithin festhalten: Was sich aus der Sicht der beteiligten Nationalstaaten (und ihrer nationalen Rechtgeschichte) als "Randlage" und "Randerscheinung" darstellt, kann mit dem Perspektivenwechsel von der nationalen zur europäischen Rechtsgeschichte zu einem zentralen Forschungsthema werden. Weil die Berührungsräume nationaler Rechtskulturen es in besonderer Weise gestatten, nach strukturellen Gemeinsamkeiten und Bindegliedern verschiedener europäischer Rechte zu fragen, müssen sie die Europäische Rechtsgeschichte vorrangig befassen.
7. Das Entstehen des Gemeinschaftsrechts Der Blütezeit des Nationalstaates folgten während unseres Jahrhunderts in Europa vielfältige Bemühungen um internationale und supranationale Zusammenschlüsse. Trotz der Rückschläge für die frühen Anläufe in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und trotz der Spaltung Europas bis in unsere Tage durch den Ost-West-Konflikt führten bereits die vierziger und mehr noch die fünfziger Jahre in raschen Schritten zu einer Reihe von Vereinbarungen europäischer Staaten auf Grundlage des (in seinem Bedeutungsgehalt freilich changierenden) "Europa-Gedankens "102. Diese Entwicklung setzte sich nach dem Abschluß der Römischen Verträge von 1957 sowohl mit der ElWeiterung und dem inneren Ausbau der Europäischen Gemeinschaft als auch mit neuen, teilweise eine weitaus größere Zahl von Staaten vereinenden europäischen Zusammenschlüssen wie etwa der KSZE 103 fort. - Das Wiedererstehen gemeinsamen europäischen Rechts in diesen Entwicklungen zu verfolgen, gehört ebenso zu den Forschungsaufgaben Europäischer Rechtsgeschichte wie die Untersuchung der Rechtsentwicklungen in der vormodernen Zeit und im Zeitalter des Nationalstaates. Zwar hat die rechtshistorische Forschung dieses Feld bisher noch kaum betreten. Aber weder können politologische und fachhistorische Untersuchungen lO4 allein die rechtlichen Voraussetzungen und 102 Vgl. Louis Cartou: Communautes europeennes, 8. Aufl. Paris 1986, S. 43 ff. m.w.N.; Cdt. Europäische Organisationen, Freudenstadt 1967); zu den älteren historischen Grundlagen Rolf H. Foerster: Europa. Geschichte einer politischen Idee, München 1967. 103 Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa; zu ihren Grundlagen vgl. f.a.m. Willibald P. Pahr, Volker Rittberger, Hans Werbik (Hg.): Europäische Sicherheit. Prinzipien, Perspektiven, Konzepte, Wien 1987; Wemer link: Der Ost-West-Konflikt. Die Organisation der internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Stuttgart 1988. 104 Aus der reichhaltigen Literatur eine einführende Auswahl bei Wemer Weidenfeld (Hg.): Die Identität Europas, Bonn 1985, S. 279 ff.; unter Einbeziehung aktueller Entwicklungen vgl.
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Abläufe hinreichend erfassen noch erschließen sich die zeitgeschichtlichen Abläufe - und damit der Entwicklungscharakter des europäischen Rechts 105 hinlänglich unter den Fragestellungen der Lehre vom heute geltenden Gemeinschaftsrecht und Völkerrecht. Denn soweit diese Lehre in einer konkreten Anwendungssituation für eine Norm oder in Hinblick auf eine aktuell erforderliche Fortgestaltung des Rechts historisch argumentiert, wird sie im Regelfall doch kaum komplexeren rechtshistorischen Zusammenhängen detailliert nachgehen und insofern die Forschungsarbeit des Faches Rechtsgeschichte innerhalb der Rechtswissenschaft ersetzen können. 106 Für die rechtshistorische Forschung bilden diese Entwicklungen unseres Jahrhunderts zugleich die Nahtstellen zwischen dem reichen Schatz geschichtlicher Erfahrungen europäischer Gemeinsamkeit und der Gegenwartserfahrung des heutigen Juristen. Sie wird sich daher insbesondere mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob und inwiefern die vorangegangenen Verbindungen der Rechtsentwicklung und der Denkschulung der Juristen in Europa als Grundlage dieser neuen Gemeinsamkeiten - wie vermittelt auch immer wirksam geworden sind oder doch wirksam werden können, wenn sie stärker ins Bewußtsein treten. Insofern wird es ihr Anliegen sein, für das neu entstehende europäische Recht und Juristenbild in der Dogmatik, Methodik und "Juristenmentalität" Entwicklungslinien in die Zeit vor unser Jahrhundert zurück zu verfolgen. Eingebettet in diesen weiteren historischen Zusammenhang muß die Europäische Rechtsgeschichte die Entwicklungen der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts - wie das Entstehen und die Fortentwicklung der Institutionen und des Rechtes der Europäischen Gemeinschaft - als zeitgeschichtliche Vorgänge dem Erfahrungshorizont der Gegenwart vermitteln. Die Aufgabe f.a.m. jüngst Peter Haungs (Hg.): Europäisierung Europas? , Baden-Baden 1989; Jens Hacker u. Siegfried Mampel: Europäische Integration und deutsche Frage, Berlin 1989. Als einer der wenigen deutschen Beiträge zur Geschichte der europäischen Integration aus rechtshistorischem Arbeitszusammenhang jüngst Markus Göldner: Politische Symbole der europäischen Integration (Diss. Kiel), Frankfurt a.M. usw. 1988. 105 Von verschiedenen Ansatzpunkten her in der neueren Lehre zunehmend herausgestellt; vgl. beispielsw. Pierre PescalOre: Aspects judiciaircs de I'"acquis communautaire", Revue trimestrielle de droit europeen 1981, S. 617 ff., 625 f.; Roland Bieher u. JUrgen Schwane: Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaft, Baden-Baden 1984; J. Schwane: Entwicklungsstufen des Europäischen Gemeinschaftsrechts, in Festschrift für Kar! Carstens, Bd. 1, Köln usw. 1984, S. 259 ff.; ders., Einführung, in: ders. u. Roland Bieher (Hg.): Das europäische Wirtschaftsrecht vor den Herausforderungen der Zukunft, Baden-Baden 1985, S. 9 ff.; Ulrich Everling (Hg.): Das europäische Gemeinschaftsrecht im Spannungsvemältnis von Politik und Wirtschaft, Baden-Baden 1985; Roland Bieher u. Georg Ress (Hg.): Die Dynamik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, Baden-Baden 1987. 106 Von rechshistorischer Seite wären mithin die in der vorangegangenen Fn. genannten Ansätze zur Analyse des Entwicklungscharakters europäischen Rechts mit dem Instrumentarium (rechts)historischer Arbeit zu ergänzen. - Für das Vemältnis beider Arbeitsrichtungen stellt sich dabei auch die sogleich noch anzuschneidende Frage nach einem möglichen prinzipiellen Unterschied zwischen "applikativer" juristischer und "kontemplativer" (obgleich durchaus auch gegenwartsbestimmter) historischer wissenschaftlicher Arbeit; vgl. unten 9.
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stellt sich für die Europäische Rechtsgeschichte im Grundsatz in gleicher Weise, wie es für andere rechtshistorische Arbeitsgebiete in jüngster Zeit unter dem Gesichtspunkt der "Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte" eindringlich erörtert worden ist 107 • Die Befangenheit des Rechtshistorikers in der Zeit, die er zum Forschungsgegenstand nimmt, macht damit zwar jene besondere Sorgfalt und Behutsamkeit in der Wertung notwendig, wie sie für die Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte und die Zeitgeschichte allgemein stets zu fordern ist. Aber ebensowenig wie für die neuere deutsche Rechtsgeschichte auf Arbeiten etwa zum Entstehen des Grundgesetzes oder zu den Nachkriegsentwicklungen der Justiz und Verwaltung verzichtet werden könnte lO8 , kann die Europäische Rechtsgeschichte das Entstehen des Rechtes der Europäischen Gemeinschaft seit den fünfziger Jahren außer Betracht lassen. Auch für sie gilt es vielmehr, die Möglichkeiten "ereignisnaher" Erforschung dieser jüngsten rechtshistorischen Vorgänge - wie die Befragung von "Zeitzeugen" - wahrzunehmen und zugleich einer neuen Generation geschichtliche Ereignisse und Abläufe, die schon außerhalb des eigenen Erfahrungshorizontes liegen, zu vermitteln. Denn für den größten Teil der heute tätigen Juristen verbindet sich die Gegenwartserfahrung europäischer Institutionen und Europäischen Gemeinschaftsrechts nicht mehr mit einer bewußten Erfahrung des Entstehens und der frühen Entwicklung dieser Institutionen und dieses Rechts. Erst recht stellt sich diese Aufgabe in Hinblick auf die derzeitigen und die zukünftigen Rechtsstudenten, für die die rechtshistorischen Entwicklungen der fünfziger und sechsziger Jahre schon aus dem Rahmen der Zeitgeschichte herauszutreten und sich einem "früheren" Abschnitt der europäischen Rechtsgeschichte zuzuordnen beginnen.
8. Zwn Untersuchungsrawn der Europäischen Rechtsgeschichte a) "Von weißen Flecken der Rechtsgeschichte"l09 handelte unlängst eine rechtshistorische Kontroverse, auf deren Kernfrage nach den Ausgangspunkten und Zielen rechtshistorischer Forschung in der Gegenwart verschiedentlich in diesem Band zurückzukommen sein wird 11 o. Auf der Landkarte der Europäischen Rechtsgeschichte ließ der bisherige Überblick über 107 Grundlegend Bemhard Diestelkamp: Rechtsgeschichte als Zeitgeschichte, in: ZNR 1985, S. 191 Cf. 108 Vgl. die Übersicht über das Forschungsfeld bei Bemhard Diestellcamp: Rechts- und verfassungsgeschichtliche Probleme zur Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: JuS 1980, S. 401 Cf., 481 Cf., 790 Cf.; 1981, S. 96 Cf., 409 Cf., 488 Cf. 109 So der Titel der kritischen Stellungnahme von Picker (Fn. 17) zu Srolleis: Aufgaben der Neueren Rechtsgeschichte (Fn. 54).
llO Unten 9.; Zimmemzann: Usus hodiemus pandectarum, S. 61 Cf. und Ranieri: Eine Dogmenge schichte des europäischen Zivilrechts?, S. 89 Cf., in diesem Bd.
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Forschungsentwicklung und Forschungsaufgaben neben wachsenden Erträgen aufgrund des steigenden Forschungsinteresses während der letzten Jahrzehnte für einige Teilgebiete nicht lediglich einzelne weiße Flecken, sondern große weiße Flächen erkennen. 111 Wie dringlich ihre Ausfüllung jeweils ist, mag unter der soeben genannten Frage unterschiedlich beurteilt und nicht so sehr in dem einführenden Überblick wie in der weiteren Diskussion auf Grund der einzelnen in diesem Band und an anderer Stelle vorgelegten Arbeitskonzeptionen beantwortet werden. Nicht nur in Hinblick auf die untersuchungsbedürftigen Sachgebiete, sondern auch in räumlicher Hinsicht gilt es indes das Arbeitsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte zu überdenken und möglicherweise neu abzustecken. Denn als historiographische Begriffe bezeichnen die europäische Rechtskultur und die europäische Rechtsgeschichte nicht notwendig den geographischen Raum Europa, sondern bedürfen eigener Ausfüllung auf Grund des rechts- und kulturhistorischen Erkenntnisinteresses, auf dem ihre Verwendung beruht. Angesichts der universellen Ausbreitung europäischer Rechte in der Modeme (bis hin etwa zur Verbindung des Rechts ehemaliger Kolonialmächte mit dem customary law in großen Teilen Afrikas) scheidet dieses Erkenntnisinteresse die Europäische Rechtsgeschichte aber zumindest insofern von einer Universalgeschichte des modemen Rechts, als es für sie unter zwei Gesichtspunkten einen besonderen Bezug zu dem geographischen Raum Europa als ihrem spezifischen Untersuchungsfeld herstellt: Ausschließlich in diesem Raum haben sich die frühen Grundlagen der - später über ihn herausgreifenden - europäischen Rechtskultur ausgebildet und bis weit in die Neuzeit entfaltet. Vor allem aber stellen sich gerade für ihn jene Gegenwartsaufgaben, die die europäische Rechtskultur zum historischen Forschungsgegenstand werden ließen und das Forschungsinteresse aus unserer Zeit heraus begründen. Dementsprechend haben sich die Arbeiten, die sich während der letzten Jahrzehnte der Europäischen Rechtsgeschichte gewidmet haben, regelmäßig vornehmlich auf den geographischen Raum Europa bezogen. Dies schließt zwar keineswegs aus, daß die dabei aufgeworfenen Fragen den Blick weit darüber hinaus auf vergleichbare Problemlagen und übergreifende Verbindungen lenken. 112 Wie ergiebig dies sein kann, zeigen beispielsweise die Beiträge zu den Entwicklungsmöglichkeiten des gemeinen Rechts unter Einschluß des römisch-holländischen Rechts in Südafrika. l13 111 Zu den weiteren noch wenig erschlossenen Sachbereichen gehört vor allem die europäische Strafrechtsgeschichte. Vom älteren gemeinen Strafrecht über die Europa durchziehenden Reformbestrebungen der Aufklärung bis hin zu den lebhaften internationalen Diskussionen um die "klassische" und die "modeme" Schule, um Strafarten, Gefängniswesen und Abschaffung der Todesstrafe im 19. und 20. Iahrhundert würde in ihr eine Fülle europäischer Gemeinsamkeiten begegnen. 112 Vgl. auch oben 2. c zur Notwendigkeit des Kulturenvergleichs bei der Bestimmung der Spezifik europäischer Rechtskultur . 113 Reinhard Zimmermann: Das römisch-holländische Recht in Südafrika. Einführung in die
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Demgegenüber wäre es aber eine eigene Forschungsaufgabe - die nicht allein von dem soeben genannten, aus den europäischen Entwicklungen unserer Zeit erwachsenen Forschungsinteresse getragen werden kann -, etwa die Entwicklung der europäischen Rechtskulturen außerhalb Europas in den ehemaligen Kolonien von Amerika bis Australien im ganzen zu untersuchen. Erst recht eigener Untersuchung und Analyse - unterschieden von den Forschungsaufgaben der Europäischen Rechtsgeschichte - bedürfen die vielfältigen Prozesse der Rezeption europäischer Rechte in außereuropäischen Rechtskulturen mit jeweils eigener Geschichte und das Entstehen zahlreicher Mischsysteme europäischen und jeweiligen einheimischen Rechts (und zwar auch, um bei der Erforschung derartiger universeller Rezeptions- und Verflechtungsvorgänge eine einseitig euro zentrische Perspektive zu vermeiden). b) Es bleibt indes die Frage, ob dieser geographische Raum Europa insgesamt das Untersuchungsfeld der Europäischen Rechtsgeschichte bilden kann.
Diese Frage stellt sich insbesondere in Hinblick auf die - bislang noch verhältnismäßig geringe - Einbeziehung des Ostens und Südostens Europas in die Forschung. Soweit Hindernisse aus der Forschungssituation unserer Zeit erwachsen waren - namentlich aus der politischen Trennung West- und Osteuropas und aus der kulturellen Entfremdung mit all ihren Folgeerscheinungen bis hin zu unzulänglichen Sprachkenntnissen -, eröffnen die Veränderungen der letzten Jahre nicht nur neue Möglichkeiten der Zusammenarbeit. Sie lassen geradezu einen "Nachholbedarf" erkennen, die erhofften neuen europäischen Gemeinsamkeiten in den Zusammenhang gemeinsamer europäischer Geschichte vor der politischen Spaltung des 20. Jahrhunderts zu stellen. Für einen weiten Raum vom Baltikum über Polen und Ungarn bis in den Balkan hinein - zuweilen als Mittel-Ost-Europa zusammengefaßt - haben eine Reihe neuerer Untersuchungen der weiteren Forschung bereits den Weg gewiesen, indem sie die Zugehörigkeit zur Gemeinrechtstradition oder zumindest zu deren Ausstrahlungsbereich aufgezeigt haben. 114 Darüber hinaus wird weiteren Bindungen nach Westen, besonders an den mitteleuropäischen Raum nachzugehen sein, wie etwa - im Anschluß an eine ältere, freilich häufig nationalgeschichtlich ausgerichtete Forschungstradition - der Übernahme älterer deutscher Rechte oder für die spätere Zeit den nationenübergreifenden Recht-
Grundlagen und usus hodiernus, Dannstadt 1983; ders., in diesem Bd., S. 61 ff.; vgl. als weiteren Ansatz - obgleich nur teilweise historisch - beispielhaft Mauro Cappelletti, Monica Seccombe, Joseph Weiler (Hg.): Integration through Law, Europe and the American Federal Experience, Berlin und New York 1986/87. 114 Vgl. die Überblicksbeiträge für das Baltikum von Wemer Kunden und Barbara Dölemeyer in: Coing (Hg.): Handbuch (Fn. 7), Bd. III12, S. 2071 ff.; rur Polen von Leslaw Pauli, ebd., S. 2099 ff.; rur Ungarn von Janos ZJinsky, ebd., S. 2141 ff.; für Rumänien von Valentin Al. Georgescu, ebd., Bd. III15, S. I ff.; für Jugoslawien von Sergij Vilfan, ebd. S. 325 ff.
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sentwicklungen in der Habsburger Monarchie und deren Fortwirkungen in unserem Jahrhundert. 115 Problematisch bei der Einbeziehung des Ostens und Südostens Europas in die Forschung ist hingegen jener große Teil des Kontinents, den im Mittelalter nicht die lateinische Kirche und Wissenschaftssprache, sondern die griechisch-byzantinische Tradition geprägt haben. Der bislang vorherrschende Europa-Begriff der rechtshistorischen Forschung hat sich grundsätzlich auf den lateinischen Bereich beschränkt und den griechisch-byzantinischen Osten ausgeschlossen.11 6 Die Grundlage dafür bildete die vorrangige Ausrichtung des Forschungsinteresses auf das ältere lus commune, das sich im Mittelalter als Bestandteil der lateinischen Tradition des Westens ausgebildet hatte. Ob über diese zweifellos besonders stark ausgebildeten Gemeinsamkeiten des Westens nicht die verbindenden Elemente beider Teile Europas zu sehr hintangestellt worden sind (beeinflußt möglicherweise auch durch die nachwirkenden Gegenwartserfahrungen einer Zeit, in der beispielsweise weder Griechenland der Europäischen Gemeinschaft angehörte noch Rußland sich dem Europa-Gedanken geöffnet hatte), wird indes neu zu überdenken sein. Schon von den historischen Ausgangspunkten der Rechtsentwicklung im lateinischen und im griechisch-byzantinischen Europa deuten die gemeinsamen Grundlagen in der Antike - namentlich die christliche Tradition und das römische Recht l17 - auf eine Spezifik dieser europäischen Kulturentwicklung insgesamt gegenüber außereuropäischen Rechtskulturen. Für Rußland beispielsweise ist zudem schon in der älteren Zeit nicht nur den möglicherweise trotz der Kirchenspaltung über das kirchliche Recht vermittelten Gemeinsamkeiten nachzugehen, sondern mannigfachen weiteren Beziehungen vor allem zum mitteleuropäischen Raum1l8 . Auf Grundlage dieses älteren Zusammenhanges wird man in der Fülle neu erwachsender Verbindungen zum Westen Europas während des 18. und des 19. Jahrhunderts II 9 bei allen Unterschieden 115 Vgl. oben Fn. 33 sowie Brauneder, in diesem Bd., S. 121 ff. 116 Vgl. unlängst Coing (Pn. 14), S. 4: "Dieses lus commune und die ihm gewidmete Wissenschaft ist also ein Bestandteil dessen, was man die lateinische Kultur des Mittelalters genannt hat. Sein Bereich ist derjenige der lateinischen Kirche ... Die osteuropäischen Länder jenseits der Grenzen von Italien, Ungarn und Polen bilden einen anderen Bereich, der zwar auf den gleichen Grundlagen, nämlich dem römischen Recht und dem Christentum beruht, der aber zur griechischen Kultur von Byzanz und nicht zum Westen gehört. Wenn wir hier von Europa sprechen, so ist also dieser engere Bereich von Europa gemeint. " 117 Hierauf weist auch Coing an der soeben Fn. 116 angeführten Stelle hin. 118 Unter besonderer Berücksichtigung der Mittlerstellung der lange Zeit zu Polen-Litauen gehörenden Gebiete Rußlands und der Ukraine. - Zum Magdeburger Recht in Kiew vgl. jüngst Heiner Lilck: Magdeburger Recht in der Ukraine, in: ZNR 1990, S. 113 ff.; ders., Das Denkmal des Magdeburger Rechts in Kiew, in: Forschungen zur Rechtsarchäologie und Rechtlichen Volkskunde, hg. v. Louis Carlen, Bd. 12, Zürich 1990, S. 109 ff. 119 Vgl. für Rußland im 19. und frühen 20. Jh. den Überblick von Norben Reich in: Coing (Hg.), Handbuch (Pn. 7), Bd. IllI2, S. 2281 ff.; für die russischen Reformen der vorangegangenen Zeit beispielsw. Claes Peterson: Peter the Great's administrative and judical reforms.
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der vorangegangenen Entwicklung nicht lediglich die Begegnung zweier einander völlig fremder Kulturen sehen können, sondern eher die - im wesentlichen von Westen ausgehende - grundlegende Erneuerung eines aus der Antike überkommenen Kulturzusammenhanges. Aus dieser Perspektive stellt es für die Europäische Rechtsgeschichte eine besondere Herausforderung dar, sich beispielsweise dem Einfluß der gemeinrechtlichen Jurisprudenz und der europäischen Naturrechtslehren auf die russischen Reformbestrebungen des 18. Jahrhunderts oder der Einbeziehung Rußlands und Griechenlands in die europäischen Diskussionzusammenhänge der Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert zuzuwenden. c) Demgegenüber erscheint bereits heute die Einbindung des englischen Common law in die Forschungen zur Europäischen Rechtsgeschichte weitaus weniger problematisch als noch vor einem Jahrzehnt. Zwar weisen die Unterschiede des Common law zum kontinentaleuropäischen Civil law England (und darüber vermittelt dem angloamerikanischen Rechtskreis insgesamt) in Geschichte und Gegenwart eine Sonderstellung in der europäischen Rechtskultur zu. Die neuere Forschung 120 hat aber sowohl einen größeren Einfluß der Gemeinrechtstradition auf England als zuvor angenommen aufgezeigt als auch die weiteren verbindenden Elemente aus der neueren europäischen Rechtsgeschichte neben dem gemeinen Recht in zunehmenden Maße berücksichtigt (und insofern auch mit Blick auf England eine zu starke Ausrichtung der Europäischen Rechtsgeschichte auf die ältere Gemeinrechtstradition zu korrigieren begonnen). Damit zeichnet sich ein neues Bild der Beziehungen zwischen englischem und kontinentalem Recht ab, das bei allen Unterschieden die geschichtlichen Verbindungen und die gemeinsamen Strukturmerkmale schärfer hervortreten läßt. Maßgeblich gefördert hat diese Entwicklung der Forschung seit einigen Jahren ein Projekt unter Leitung von Helmut Coing und Knut Wolfgang Nörr. Coing und Nörr stellen die aus dem Projekt hervorgegangene Schriftenreihe in eine Tradition, "die in den beiden großen Rechtsfamilien des kontinentalen und des anglo-amerikanischen Rechts geschichtlich eher das Verbindende als das Trennende gesehen hat"121 und beziehen sich dabei namentlich auf Swedish antecendents and the progress of reception, Stockholm 1979; Mare RaeJf: The well-rdered police state. Social and institutional change through law in the Germanies and Russia 1600-1800, New Haven u. London 1983. - Für Griechenland vgI. den Überblick von Panagiotes J. Zepos, in: Coing (Hg.), Handbuch (pn. 7), Bd. UIl5, S. 473 ff.; für Bulgarien Mikhail Andreev und Fanny Milkova, ebd., S. 243 ff.
120 Grundlegend Knur Woifgang Nörr: The European Side ofthe English Law. A few Comments from a Continental Historian; Helmut Coing: Common Law and Civil Law in the Development of European Civilization - Possibilities of Comparisons; beide Beiträge in: Coing und Nörr: Englische und kontinentale Rechtsgeschichte: ein Forschungsprojekt, Berlin 1985, S. 15 ff., S. 31 ff.; ferner Mauro Cappelleni (Hg.): New Perspectives for a common Law of Europe, London usw. 1978.
121 Coing und Nörr (pn. 120), Vorwort, S. 5. Der Band eröffnet die Schriftenreihe Comparative Studies in Continental and Anglo-Arnerican Legal History.
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Heinrich Brunner und F. W. Maitland . Über die aus diesem Projekt hervorgegangenen Forschungen l22 hinaus verspricht zudem die Untersuchung von Berührungs- und Überschneidungsräumen des englischen und des kontinentalen Rechts Aufschluß über strukturelle Ähnlichkeiten und die Vereinbarkeit juristischer Lösungsansätze in den scheinbar so unvereinbaren Rechten. 123
9. Rechtsgeschichte und europäisches Recht der Gegenwart a) Der Überblick über das Forschungsfeld der europäischen Rechtsyeschichte war von dem Begriff der europäischen Rechtskultur ausgegangen. 24 In diesem Begriff hatte sich - zunächst vor allem für die Privatrechtsgeschichte - die Gegenwartserfahrung neu entstehenden europäischen Rechts mit der Zuwendung zum historischen Reichtum kultureller Gemeinsamkeiten in der Geschichte des Rechts in Europa verbunden. Im Recht der Gegenwart liegt freilich nicht nur ein Ausgangspunkt, sondern auch ein Zielpunkt des wissenschaftlichen Interesses: Indem die Europäische Rechtsgeschichte die geschichtliche Einheit in der Vielfalt der europäischen Rechtskultur vergegenwärtigt, gestaltet sie für unsere Zeit das Bewußtsein der europäischen Gemeinsamkeit aus historischer Sicht mit. Insofern ist sie sowohl gegenwartsbestimmt als auch gegenwartsgerichtet. Zur "Europäisierung" heutigen Rechtsdenkens vermag die Europäische Rechtsgeschichte dabei nicht nur auf gleiche Weise beizutragen, wie allgemein geschichtliches Bewußtsein - je nach "Zeitgeist" in größerem oder geringerem Maße - das Denken und Handeln in der Gegenwart beeinflussen kann. Ihre potentiell handlungsbeeinflussende Funktion erweitert sich vielmehr, wenn sich ihre Forschungsergebnisse über die akademische Bildung und Ausbildung den Juristen verschiedener europäischer Länder als den maßgeblichen Trägem und Mitgestaltern europäischer Rechtskultur vermitteln. Nicht zuletzt von diesem Beitrag der Europäischen Rechtsgeschichte wird die weitere Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses der Juristen europäischer Länder als europtiische Juristen l25 und die entsprechende Ausge122 So Vito Piergiovanni (Hg.): The Courts and the Development of Commercial Law, Berlin 1987; Antonio Padoa Schioppa (Hg.): The Trial Jury in England, France, Germany 17001900, Berlin 1987; John H. Baker (Hg.): Judicial Records, Law Reports, and the Growth of Case Law, Berlin 1989; Charles Donahue (Hg.): The Records of the Medieval Ecclesiastical Courts, Berlin 1989; John Banon (Hg.): Towards a General Law ofContract, Berlin 1990. 123 In diese Richtung gehen die Arbeiten von Reinhard Zimmennann, vgl. oben Fn. 113. Als vergleichende Studie zum politischen Denken ferner jetzt Eckhan Hellmuth (Hg.): The Transformation of Political Culture. England and Germany in the late eigtheenth Century, LondonlOxford 1990. 124 Vgl. oben 2. a. 125 Vgl. Ranieri (Fn. 16) m.w.N.
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staltun~ eines beruflichen Qualifikationsprofils der künftigen "Juristen für Europa" 1 6 abhängen.
b) Ob die Europäische Rechtsgeschichte - über ihren Beitrag zur "Europäisierung" des Rechtsdenkens und der Juristenausbildung hinaus - ihre rechtshistorischen Arbeiten unmittelbar in die dogmatisch-konstruktive Tätigkeit der Rechtswissenschaft einbringen kann, gehört indes zu den bislang noch nicht hinreichend erörterten Problemen des neuen Forschungsfeldes. Eine Trennung zwischen der rechtshistorischen Forschung einerseits und den juristischen Gestaltungsaufgaben rechtswissenschaftlicher Dogmatik andererseits scheint zwar in der Konsequenz der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert zu liegen: Während zuvor die historische Rcchtsschule die Rechtsgeschichte in sehr weitem Umfang in die Gestaltungsaufgaben der Rechtswissenschaft einbezogen hatte, haben sich im Verlaufe der letzten hundert Jahre die Dogmatik des geltenden Rechts und die Rechtsgeschichte mehr und mehr voneinander entfernt. Historische Forschungen haben in der dogmatischen Arbeit heute zumeist allenfalls untergeordnete Bedeutung. 127 Die Rechtsgeschichte versteht sich ihrerseits wohl überwiegend als eine historische Disziplin 128 mit "kontemplativem" Charakter, ohne unmittelbare Teilhabe an der "applikativen" Tätigkeit der Rechtswissenschaft129 (obgleich es in einer jüngst entflammten Kontroverse an entgegengesetzten und differenzierenden Meinungen nicht fehlte I30). Inwieweit sich diese Entwicklungslinie für die Europäische Rechtsgeschichte fortführen läßt, bleibt aber zu überdenken. Denn den Bedeutungsverlust der Rechtsgeschichte für die rechtswissenschaftliche Dogmatik hat in der nationalen Rechtsentwicklung der "Kodifikationseinschnitt" an der Wende zu unserem Jahrhundert zumindest begünstigt. Demgegenüber befindet sich die Europäische Rechtsgeschichte angesichts des heutigen Standes der eu126 Vgl. Dietmar Willoweit und Bemhard Großfeld: Juristen für Europa, in: JZ 1990, S. 605 ff. m.w.N.; Willoweit: Praxisbezug ohne Wissenschaft. Wider den Provinzialismus in der deutschen Juristenausbildung, in: Deutsche Universitätszeitung 1988, Nr. 15/16, S. 17; ferner jüngst Franfois Ost und Mark van Hoeclce: Für eine europäische Juristenausbildung, ebd., S. 911 f. 127 Vgl. Zum Dislrussionsstand oben Fn. 17. 128 Wieaclcer (Fn. 5), 2. Aufl., S. 15 ff., 416 ff., 425 ff.; ders., Art. Methode der Rechtsgeschichte, in: HRG Bd. 3, Berlin 1984, Sp. 518 ff., insbes. 519; Dieter Simon: Art. Rechtsgeschichte, in: Axel GlJrlit4 (Hg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, S. 314 ff.; weitere Nachw. bei Senn (Fn. 15). 129 Grundlegend Franz Wieacker: Der gegenwärtige Stand der Disziplin der neueren Privatrechtsgeschichte, in: Eranion Maridakis I, Athen 1963, S. 339 ff.; ders. (Fn. 5), 2. Aufl., S. 15 ff., im Anschluß an Emilio Beni: Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften (2. Aufl. Tübingen 1972), und in Gegensatz zu Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik (5. Aufl. Tübingen 1986, insbes. S.
XVIII).
130 Vgl. Mayer-Maly (Fn. 56), Picker und Luig (heide Fn. 17) in Auseinandersetzung mit Stolleis: Aufgaben der Neueren Rechtsgeschichte (Fn. 54), sowie den Überblick von Honsell (Fn. 17). 3 Schulze
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Reiner Schulze
ropäischen Rechtsentwicklung in einer ganz anderen Lage. Wachsendes Bedürfnis nach Rechtsannäherung oder Rechtsvereinheitlichung auf der einen Seite und Fehlen nicht nur entsprechender Kodifikationen, sondern weithin auch der politischen Möglichkeiten und rechtlichen Kompetenzen zu einer vereinheitlichenden Gesetzgebung legen den Vergleich zur nationalen Rechtsentwicklung Deutschlands eher für den Großteil des 19. Jahrhunderts als für unsere Zeit nahe. Während jener Zeit vor der nationalen Einigung aber hatte sich die Konzeption der historischen Rechtsschule als durchaus wirksam erwiesen, die Grundlagen für eine nationale Rechtsvereinheitlichung durch die wissenschaftliche Konstruktion gemeinsamen Rechts zu schaffen. In dem tiefgreifenden Wandel der Sozial- und Rechtsordnung vor und während der Industrialisierung vermochte dabei gerade die Rechtsgeschichte sowohl ein geeignetes juristisches Begriffs- und Argumentationsarsenal für die Bewältigung damals ganz neuer Problemlagen bereit zu stellen als auch einen weitgehenden Konsens über diese Begrifflichkeit unter den Juristen der verschiedenen (deutschen) Staaten zu begründen. Der Blick auf die deutschen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts deutet jedenfalls darauf hin, daß sich die Skepsis gegenüber der Möglichkeit und Notwendigkeit einer Beteiligung der Rechtsgeschichte an den dogmatischen Aufgaben der Gegenwart 131 nicht ohne weiteres vom Erfahrungshorizont des nationalen Rechts unseres Jahrhunderts auf die Probleme einer die politischen Grenzen übergreifenden, von der Gesetzgebung aber bisher nur für enge Teilbereiche vorangetriebenen europäischen Rechtsvereinheitlichung übertragen läßt. Für die europäische Rechtsentwicklung der Gegenwart muß vielmehr nicht nur die alte Frage Savignys nach dem Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 132 ihre neue Antwort aus den europäischen Verhältnissen des späten 20. Jahrhunderts fmden. Ebenso können für die damit verbundene Bewertung des von der Rechtsgeschichte zu leistenden Beitrages allein die spezifischen Befürfnisse der Rechtswissenschaft angesichts der neuen Aufgaben einer europäischen Rechtsannäherung und -vereinheitlichung maßgeblich sein. 133 c) Eine sehr weitreichende Einbeziehung der Rechtsgeschichte in die juristischen Gestaltungsaufgaben der Gegenwart hat Coing in einer Reihe von
131 Nachdrücklich Simon (Fn. 17). 132 Friedrich earl von Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814. 133 Die Antworten werden freilich für die einzelnen Rechtsgebiete unterschiedlich ausfallen müssen: Was für den Beitrag der Rechtsgeschichte (und Rechtsvergleichung) zur konstruktivdogmatischen Arbeit einer europäischen Privatrechtswissenschaft gelten mag (dazu sogleich), wird sich kaum auf das Strafrecht - das der Satz "Nulla poena sine lege· weitaus enger an die Kodifikationen bindet - übertragen lassen und stellt sich für die Europäische Verfassungsgeschichte wieder andera dar; zu deren Gegenwartsbezug vgl. Willoweit, in diesem Bd., S. 141 ff.
Vom lus commune bis zum Gemeinschaftsrecht
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Arbeiten 134 für die Europäische Privatrechtsgeschichte programmatisch vorgezeichnet. Weitgehend im Einklang damit steht die Konzeption, die auf seiten der Rechtsvergleichung Hein Kötz 135 vorgelegt hat. Es zeichnet sich hier auf längere Sicht die Perspektive eines Zusammenwirkens von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung zur wissenschaftlichen (Re-)Konstruktion eines gemeineuropäischen Zivilrechts ab. 136 Wenn man den Ansatz fortdenkt, könnten die dogmatischen Erträge dieser neuen Gemeinrechtswissenschaft den europäischen Juristen - ungeachtet unterschiedlicher nationaler Rechtsstile und Kodiflkationen - eine gemeinsame Ausstattung mit Prinzipien und Rechtsbegriffen zur Verfügung stellen. Die juristische Praxis gewönne damit eine verbindende Grundlage, auch wenn in den einzelnen Ländern unterschiedliche Zivilgesetzbücher fortgelten. Diese gemeinsame Rechtswissenschaft könnte zwar die nationale Zersplitterung des Privatrechts in Europa nicht aufheben, aber ihr umso erfolgreicher entgegenwirken, als die Kodiflkationen ohnehin schon im Rahmen der nationalen Rechtsentwicklung weithin an Bedeutung gegenüber anderen Formen der Rechtsfortbildung verloren haben 137 Dieses Programm einer neuen europäischen Gemeinrechtswissenschaft auf der Grundlage von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung steht in deutlichem Gegensatz zu dem "kontemplativen" Ansatz Wieackers 138 für die Privatrechtsgeschichte und fordert zu grundsätzlicher Auseinandersetzung nicht nur mit dem Beitrag der Europäischen Rechtsgeschichte, sondern darüber hinaus mit der Rolle der Rechtswissenschaft bei der Entwicklung gemeinsamen europäischen Privatrechts heraus. Die Auseinandersetzung wird an anderer Stelle in diesem Band aufgenommen l39 , und sie wird in den "Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte " mit möglichst weitem Meinungsspektrum fortzuführen sein. Aus der Fülle erörterungsbedürftiger Fragen sei hier lediglich noch ein methodischer Gesichtspunkt angesprochen: Der Vergleich der Aufgaben Europäischer Rechtsgeschichte bei der europäischen Rechtsvereinheitlichung mit der nationalen Rechtsvereinheitlichung im 19. Jahrhundert wäre mißverstanden, wenn die Bewältigung heutiger Aufgaben mit dem methodischen Arsenal des 19. Jahrhunderts versucht würde und sich die Europäische Rechtsgeschichte auf die Rolle einer "Neo-Pandektistik" zurückzöge. Neue Herausforderungen für die Fortentwicklung des methodischen Instrumentariums liegen vielmehr beispielsweise in dem Zusammenwirken mit der Rechtsvergleichung 134 Grundlegend Coing (Fn. 45); zuletzt den. (Fn. 8, 1). 135 Grundlegend Hein Köt7.,: Gemeineuropäisches Zivilrecht, in: Festschrift für Konrad Zweigert, Tübingen 1981, S. 481 ff. 136 Dazu und zum Folgenden Ranieri, in diesem Bd., S. 89 ff. 137 Vgl. Wieacker (Fn. 5), 2. Aufl., S. 539 ff. 138 Vgl. Fn. 129. 139 In den Beiträgen von Zimmennann, S. 61 ff. und Ranieri, S. 89 ff., in diesem Bd. 3"
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Reiner Schulze
als eigener rechtswissenschaftlicher Disziplin, in der Einbeziehung des historischen Umfeldes, auch des sozialgeschichtlichen Wandels, in seiner Wirkung auf die Dogmatik 14O oder in der Erweiterung des Blickfeldes über die Gemeinrechtstradition hinaus auf das Naturrecht und vor allem auf die verbindenden Elemente europäischer Rechtsentwicklung in der Modeme angesichts der Probleme der Industrialisierung. Neben den methodischen Erwägungen nicht übersehen werden darf schließlich ein eher pragmatisches, aber nicht zu unterschätzendes Problem: Trotz zunehmender Bemühungen um internationale Zusammenarbeit fehlt es bislang an jenem wissenschaftlichen Arbeitszusammenhang, der das Programm eines historisch und vergleichend begründeten europäischen Privatrechts tragen müßte. Die Ausgangslage läßt keinen leichten Weg erwarten: Während sich im 18. und 19. Jahrhundert die "Nationalisierung" der Rechtswissenschaft weitgehend auf Grundlage einer Segmentierung des bis dahin bestehenden gemeinrechtlichen Wissenschaftszusammenhanges vollziehen konnte, erfordert die "Europäisierung" heute die Annäherung und das Zusammenwachsen verschiedener nationaler Rechtswissenschaften, die - trotz der historischen Gemeinsamkeiten - jeweils unterschiedliche Auffassungen von der Geschichte, von den Methoden rechtswissenschaftlicher Arbeit und von der Funktion der Rechtsgeschichte entwickelt haben. Nur wenn die Ansätze zu einer Europäischen Rechtsgeschichte und die Privatrechtswissenschaft in den verschiedenen europäischen Ländern zu einem übergreifenden Diskussionsund Arbeitszusammenhang zusammenfänden, könnte aber das Programm eines europäischen Privatrechts als ein europäisches Programm des Privatrechts die erstrebte Wirksamkeit erlangen. Mit diesem Umriß einiger Fragestellungen zu den Perspektiven der Europäischen Rechtsgeschichte mag es hier sein Bewenden haben. Die Einführung hat den Stellungnahmen in den Beiträgen dieses Bandes und der dadurch herauszufordernden weiteren Diskussion nicht vorzugreifen, sondern lediglich zur Lektüre und zur Fortentwicklung der Forschungsperspektiven in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung einzuladen.
140 Vgl. zu dieser Problematik Ranieri, in diesem Bd., insbes. S. 99 ff.
TeilB
Kanonisches Recht
Der Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur Von Peter Landau
1. Einleitung Die Entwicklung Europas zu einer politischen Einheit mit gemeinsamem Recht, das man in der Begriffsbildung "Europarecht" zusammenfaßt, hat für den Rechtshistoriker die Frage neu gestellt, ob es Besonderheiten einer europäischen Rechtskultur etwa gegenüber der islamischen Rechtskultur und den Rechtskulturen Ostasiens gibt. Als eine solche Besonderheit ist sicher in erster Linie das Faktum hervorzuheben, daß es im abendländischen Europa seit dem 12. Jahrhundert zwei Rechtssysteme gab, die sich ergänzten, die aber von unterschiedlichen rechtserzeugenden Instanzen Ursprung und Geltung ableiteten: das weltliche Zivilrecht und das kanonische Recht. Das kanonische Recht war nicht dem weltlichen Recht untergeordnet als Recht einer besonderen Gemeinschaft innerhalb des Staates, und es beruhte auch nicht in seiner Geltung auf einem Anerkennungsakt einer höchsten weltlichen Autorität, vielmehr bezog es seine Legitimität aus der unumstrittenen Herrschaftsautorität der katholischen Kirche. Die Tatsache dieser doppelten Rechtsordnung ist ein Charakteristikum unserer europäischen Geschichte, das wir uns viel zu selten vergegenwärtigen. Auch im Bewußtsein historisch gebildeter Juristen ist es häufig durch ein aus dem 19. Jahrhundert stammendes Geschichtsbild verdeckt, wonach es vielmehr die beiden Rechtsordnungen des germanischen und des römischen Rechts gewesen seien, die als Ordnungen mit ganz unterschiedlichen Prinzipien zumindest seit dem späten Mittelalter in Europa in einer konfliktträchtigen Koexistenz gestanden und auf verschiedenen Gebieten sich die Herrschaft streitig gemacht hätten. In der Sicht germanistischer Rechtshistoriker des 19. Jahrhunderts wurde dieser angebliche Systemkonflikt zwischen germanischen und römischen Rechtsvorstellungen bereits in die Zeit der fränkischen Könige, also in die Geburtsstunde des Mittelalters, verlegt. "Für die Weltrechtsgeschichte, d.h. für die Rechtsgeschichte der abendländischen Kulturwelt, kommen nur zwei Rechte in Betracht: das römische Recht (mit seiner Fortentwicklung durch kanonisches und lombardisches Recht) und das
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Peter Landau
fränkische Recht." bemerkte zehn Jahre nach der Bismarckschen Reichsgründung programmatisch Rudolph Sohm l , Verfasser des Standardwerks über "Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung" und außerdem detjenige Autor, der am entschiedensten und wirkungsvollsten dem kirchlichen Recht als einer Verirrung des Christentums jede Legitimität aberkannte. 2 Aber diese Sicht der europäischen Rechtsgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit wird weder dem Verhältnis germanischer und fränkischer Rechtstraditionen zum römischen Recht noch der autonomen Entwicklung des kanonischen Rechts und ihrer erheblichen Rückwirkung auf die säkulare Rechtskultur gerecht.
2. Kanonisches Recht als autonomes Rechtssystem Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die europäische Rechtsgeschichte sehe ich zunächst darin, daß sich ein solches vom weltlichen Recht prinzipiell unabhängiges System überhaupt herausbilden und zumindest über ein Jahrtausend als gleichrangig behaupten konnte. Heute hat man vielfach Zweifel, ob es neben dem staatlichen Recht noch kirchliches Recht mit vom Staat unabhängigem Geltungsanspruch geben könne. Die in dieser Fragestellung enthaltene verfassungsrechtliche Problematik bedarf keiner Erörterung im Rahmen des heutigen Themas. Es sei aber darauf aufmerksam gemacht, daß auf der einen Seite in der Gegenwart letzte Reste der bis auf die Spätantike zurückgehenden Herausnahme des Klerus aus der weltlichen Rechtsordnung beseitigt sind, indem vor allem das privilegium lori nicht mehr als genuines Recht der Kirche in ihrer eigenen Rechtsordnung festgehalten wird. Noch der Codex luris Canonici von 1917 enthielt folgende Bestimmung: "Gerichtlich können die Kleriker nur vor dem kirchlichen Richter belangt werden, mag es sich dabei um einen Zivil- oder Strafprozeß handeln. "3 Der Codex von 1983 verzichtet auf eine entsprechende Norm: sogar das Stichwort "privilegium fori" fehlt dementsprechend im "Handbuch des Kirchenrechts" von 1983. 4 Auf der anderen Seite kann man an der während der letzten Jahre in den Ländern des früheren Ostblocks, aber auch in westlichen Ländern neu aufgeI Rudolph Sohm: Fränkisches Recht und römisches Recht, in: ZRG Genn I (1880), S. 1-84. 2 Rudolph Sohm: Kirchenrecht, Bd. I: Die geschichtlichen Grundlagen, Leipzig 1892, mit dem berühmten Schlußsatz (a.a.O., S. 7(0): "Das Wesen des Kirchenrechtes steht mit dem Wesen der Kirche in Widerspruch .• 3 CIC von 1917, can. 120, § I: ·Clerici in omnibus causis sive contentiosis sive criminalibus apud iudicem ecclesiasticum conveniri debent, nisi aliter pro locis particularibus provisum fuerit.· - Die deutsche Übersetzung bei Heriben Jone: Gesetzbuch des kanonischen Rechts, 2. Auflage, Paderborn 1950, S. ISO. 4 Joseph liSII, Huben Müller, Heribel1 SchmilZ (Hg.): Handbuch des katholischen Kirchenrechts, Regensburg 1983. Das privilegium fori wird dort nur kurz auf S. 213 in Fn. 36 erwähnt.
Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur
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flammten Diskussion über die Legitimität eines genuin kirchlichen Asylrechts erkennen, daß das Bewußtsein von der Unabhängigkeit kirchlicher Rechtsordnung offenbar auch heute nicht völlig ~eschwunden ist und etwa in "Sanctuary Movements" aktualisiert werden kann. Man ist sich bewußt, daß hier ein aus der vorchristlichen alttestamentlichen und der griechischen Welt stammender Rechtsgedanke seit der Spätantike bis in die Epoche des Naturrechts im 17. Jahrhundert nur von der christlichen Kirche und ihrer Rechtsordnung tradiert wurde. 6 Auch wenn der heutige Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG mehr aus Konzeptionen von Grotius und Pufendorf als aus dem kanonischen Recht abzuleiten ist, so sind ihrerseits die naturrechtlichen Postulate ohne den mittelalterlichen Hintergrund des kanonischen Rechts nicht verständlich. Das Asylrecht kann daher als eindrucksvolles Beispiel dafür dienen, wie ein aus der Antike stammender Rechtsgedanke in ununterbrochener Kontinuität über das Jahrtausend des Mittelalters den neuzeitlichen Rechtsordnungen vermittelt werden konnte. Es sind aber nun in erster Linie nicht so sehr einzelne Rechtsgedanken oder Rechtsinstitute, die das kanonische Recht als Modelle für die weltliche Rechtsordnung bereitgestellt hat. Man muß sich vielmehr klarmachen, daß das gesamte kanonische Recht des Mittelalters in seiner Eigenschaft als ein spätestens 1234, also in der Zeit des berühmten Gesetzbuchs Liber Extra von Papst Gregor IX., voll entwickeltes Rechtssystem für das neuzeitliche weltliche Recht Vorbild geworden ist. Natürlich ist es primär das römische Recht gewesen, dessen Rezeption oder Wiedergeburt in Kontinentaleuropa Grundlage der neuzeitlichen Rechtsordnungen war, vor allem im Zivilrecht, partiell auch im öffentlichen Recht. Neben dem römischen Recht, das als ein im wesentlichen abgeschlossenes Textcorpus dem 12. Jahrhundert überliefert wurde, steht nun aber im kanonischen Recht ein zweites Textcorpus, das Corpus Iuris Canollici, welches im 12. und 13. Jahrhundert ständig ergänzt und verändert wurde, und zwar in einem engen, in vielerlei Hinsicht noch keineswegs voll erfaßten Wechselspiel von Fallentscheidung, Gesetzgebung und wissenschaftlicher Interpretation sowie verallgemeinernder Begriffsbildung. Das kanonische Recht ist z.B. im Armenrecht für die mittelalterliche Gesellschaft in ganz Europa die zeitlich erste Rechtsordnung gewesen, in der die auch für uns heute selbstverständlichen Faktoren der Rechtsfortbildung: Gesetzgebung, Rechtsprechung und Wissenschaft - für die Zeitgenossen erfahrbar geworden sind. 7 Dieser Tatbestand ist letztlich einfach und selbst5 Als erste Orientierung zur historischen Entwicklung des kirchlichen und völkerrechtlichen Asylrechts s. Georg Flor: Asylrecht - Von den Anfangen bis heute, Berlin 1988. 6 Zur Geschichte des kirchlichen Asylrechts s. Peter Landau, Art .• Asylrecht m: Alte Kirche und Mittelalter", in: TRE IV (1979), S. 319-327. 7 Zu diesem Problemkreis vgJ. Brian Tiemey: Medieval Poor Law - A Sketch of Canonical Theory and its Application in England, Berkeley/Los Angeles 1959; s. weiterhin Gilles Couvreur: Les Pauvres ont ils des droits ? Recherches sur le vol en cas d'extreme necessite depuis la concordia de Gratien (1140) jusqu'a Guillaume d' Au xe rre (1231), Roma 1961 (= Analecta Gregoriana, Bd. 111).
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Peter Landau
verständlich, wird aber selten in den von romanistischen oder germanistischen Rechtshistorikern geschriebenen Lehrbüchern deutlich genug hervorgehoben. Das Corpus Iuris Canonici wurde wie das Corpus Iuris Civilis in ganz Europa rezipiert - insofern ist es richtig, vom Phänomen der europäischen Rezeption des kanonischen Rechts zu sprechen, wie ich z.B. 1983 in einer Tagung auf dem Mendola-Paß formuliert habe. 8 Das Corpus Iuris Canonici ist aber anders als das Corpus Iuris Civilis im Hochmittelalter überhaupt erst komponiert worden, aus einander ergänzenden Rechtssammlungen erwachsen, und es vermittelte dem mittelalterlichen Europa zum erstenmal die Erfahrung der Rechtssicherheit auf der Grundlage eines positiven Rechts.
3. Rechtssicherheit im kanonischen Recht Rechtssicherheit ist für uns heute selbstverständlicher Bestandteil der Rechtsidee, auch wenn ihr Verhältnis zur materiellen Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert unterschiedlich bestimmt wurde, was sich vor allem am Lebenswerk des wohl bedeutendsten deutschen Rechtsphilosophen des Jahrhunderts, nämlich Gustav Radbruch, ablesen läßt. Man muß sich aber vergegenwärtigen, daß in der Antike und im frühen Mittelalter Rechtssicherheit allenfalls marginal verwirklicht war. Wir wissen letztlich nicht, ob es im Reich des Hammurabi Rechtssicherheit auf der Grundlage seines Codex gab, und wir haben zwar im römischen Recht Ansätze zur Rechtssicherheit auf der Grundlage des prätorischen Edikts, aber zumindest einen Zerfall von Rechtssicherheit in der Spätantike, deren beredtester Ausdruck das Zitiergesetz Valentinialls IIl. und Theodosius' Il. 426 zu sein scheint. 9 Für das frühe Mittelalter bis ins 11. Jahrhundert ist ein Zustand von Rechtsullsicherheit charakteristisch, den wir uns mit den methodischen Mitteln des Rechtshistorikers kaum noch vergegenwärtigen können. Man überlieferte viele sich widersprechende Rechtstexte, bei denen es zweifelhaft bleibt, ob sie überhaupt Grundlage der Entscheidungspraxis waren. Hat wirklich jemals ein fränkisches Schöffengericht die Lex Salica wie ein Gesetzbuch angewandt? Gab es vielleicht statt dessen ein ungeschriebenes Herkommen oder Gewohnheitsrecht, das doch so weit lebendig und eindeutig war, daß es als gutes altes Recht die notwendigen Entscheidungsgewißheiten vermitteln konnte? Oder ist die Frage nach einer normativen Grundlage für die Rechtsordnung in der Welt des frühen Mittelalters gar nicht zu stellen, wie etwa 8 Peter Landau: Die Anfange der Verbreitung des klassischen kanonischen Rechts in Deutschland im 12. Jahrhundert und im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts, in: Chiesa diritto e ordinamento della 'Societas Christiana' nei secoli XI eXil, Milano 1986 (= Miscellanea dei Centro di Studi Medioevali, Bd. 11), S. 272-297, mit Diskussion a.a.O., 291-297. 9 Zum Zitiergesetz als erste Orientierung Gerhard Dulckeit, Frirz Schwan, Wolfgang Waldstein: Römische Rechtsgeschichte, 8. Autlage, München 1989, S. 299 f.
Einfluß des kanonischen Rechts auf die europäische Rechtskultur
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Karl Kroeschell in seinen Forschungen behauptet hat?10 Die neuere rechtshistorische Forschung hat sich solchen Fragen intensiv zugewandt, ist aber insgesamt mehr zu dem Ergebnis gekommen, daß der Mensch des frühen Mittelalters sich keineswegs in einer Situation selbstverständlichen Wissens von einer stabilen göttlichen Rechtsordnung befand, wie etwa ein frommer Moslem bis zum heutigen Tage auf der Grundlage der Scharia, sondern daß es eher tiefgreifende Rechtsullsicherheit gab. Diese Rechtsunsicherheit ist eine der Voraussetzungen dafür gewesen, daß der für den heutigen Betrachter vom Anlaß her gar nicht so einschneidende Investiturstreit zu einer ersten tiefgreifenden ideologischen Krise des Abendlandes führte, der viele andere bis zu den modemen Revolutionen folgten. 11 Der Investiturstreit bedeutete eine Krise der Autoritäten aufgrund von Diskrepanzen zwischen Rechtspraxis und überlieferten Rechtssätzen, was erst jetzt offenbar als unerträglich empfunden wurde. 12 Demgegenüber bot dann das klassische kanonische Recht des 12. und 13. Jahrhunderts zum erstenmal weitgehende Rechtssicherheit, die auch vitales Bedürfnis empfunden wurde, da man bald nach 1100 immer wieder in schwierigen Rechtsfragen Auskunft bei der höchsten Instanz, dem römischen Papst, einholte. So fragt z.B. um 1155 Erzbischof Eberhard von Salzburg bei Papst Hadrian IV., einem englischen self-made man auf dem Papstthron, an, ob unfreie Personen, sog. "servi" , für eine Eheschließung der Erlaubnis ihrer jeweiligen Herren bedürften. Der Papst lehnt ein solches Erfordernis, das bis dahin für selbstverständlich gehalten wurde, und auch in dem Kanon eines Konzils der Karolingerzeit festgehalten war, ganz entschieden ab, und zwar mit der Begründung, daß es in Christus weder Freie noch Sklaven gebe und man daher niemand von den Sakramenten der Kirche femhalten dürfe. 13 Hier wird also Recht geändert, der Widerspruch zwischen biblischer Aussage und positivrechtlicher Tradition beseitigt und das Prinzip der Eheschließungsfreiheit proklamiert; die Grundsatzentscheidung des Papstes wird bald über die dem Rechtsunterricht zugrundegelegten Sammlungen des kanonischen Rechts in ganz Europa verbreitet.
als
10 Vgl. Karl Kroeschell: "Rechtsfindung" - Die mittelalterlichen Grundlagen einer modernen Vorstellung, in: FS Hermann Heimpel, Bd. 3, Göttingen 1972, S. 498-517. 11 Zur Bedeutung des Investiturstreits in der Tradition europäischer Revolutionen s. das anregende, aber in einzelnen Aussagen auch problematische Buch von Harold Berman: Law and Revolution - The Formation of the Western Legal Tradition, CambridgelMass. 1983; hierzu meine Rezension, in: The University ofChicago Law Review 51 (1984), S. 937-943. 12 Hierzu s. den Aufsatz von Horst Fuhrmann, Pseudoisidor, Otto von Ostia (Urban 11.) und der Zitatenkampf von Gerstungen (1085), in: ZRG Kan. 68 (1982), S. 52-69; s. a. ders.: Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: lose! Fleckenstein (Hg.), Investiturstreit und Reichsverfassung, Sigmaringen 1973 (= Vorträge und Forschungen, Bd. 17), S. 175-203. 13 Zur historischen Bedeutung dieser Entscheidung Hadrians IV. vgl. Perer Landau: Hadrians IV. Dekretale "Dignum est" (X. 4.9.1) und die Eheschließung Unfreier in der Diskussion von Kanonisten und Theologen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Studia Gratiana, Bd. 12 (= Collectanea Stephan Kuttner m, 1967, S. 511-553.
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Peter Landau
Man wendet sich bald nicht nur in solchen Grundsatzfragen an den Papst, sondern auch in höchst komplizierten rechtstechnischen Fragen, etwa welche Rechte der zu einem Amt Gewählte vor seiner Bestätigung durch einen kirchlichen Oberen habe. Im Jahre 1204 begehrte der Bischof von Ely in England Auskunft über insgesamt 19 Rechtsfragen von Papst Innocenz IIl., die der Papst in einer umfassenden Rechtsauskunft erteilte, einem Brief vom 19.12.1204, der in einer modemen Edition 10 Druckseiten umfaßt. 14 Solche Texte wurden nun nicht nur in der pästlichen Kanzlei überliefert, sondern gelangten unmittelbar in universitäre Rechtssammlungen, wurden in der Rechtslehre kommentiert, so z.B. die eben erwähnte Dekretale "Pastoralis" schon 1205,15 und wurden in kirchlichen Gerichten angewandt. Das alles ist ein Novum gegenüber der Situation noch um 1100, das nur auf der Grundlage allgemeiner Rezeption anerkannter kirchlicher Rechtssammlungen und aufgrund universitärer Rechtsausbildung im kanonischen Recht möglich war. Es ist - um es noch einmal zu betonen - das Prinzip der Rechtssicherheit, das durch das klassische kanonische Recht erstmals der europäischen Rechtskultur vermittelt wurde. Damit hängt dreierlei zusammen. Zunächst die Formulierung von Recht in abstrakt generellen Normen, d.h. die Grundlegung des modemen Gesetzesbegriffs. 16 Das kanonische Recht des 12. Jahrhunderts entspricht zwar zunächst weitgehend einem case law; aber die Tendenz zur Vereinheitlichung der kirchlichen Rechtsordnung hatte zwangsläufig Regelung zentraler Fragen durch abstrakt generell formulierte Gesetze zur Folge. Solche Gesetze sind häufig auf ökumenischen Konzilien des Mittelalters ergangen, z.B. auf dem vierten Laterankonzil 1215, das etwa im Eherecht das Recht des Ehehindernisses der Verwandtschaft völlig neu regelte. Indem das kanonische Recht das rechtstechnische Mittel des Gesetzes verwandte und die Gesetze bald auch in Gesetzbüchern zusammenfaßte, wurde es im 13. Jahrhundert zum großen Vorbild fiir weltliche Gesetzbücher von Friedrich Il. von Sizilien, Alfons X. von Kastilien, aber auch Magnus Lagaböttir von Norwegen. 17 Wenn das 13. 14 Vgl. die Edition bei Christopher R. Cheney, Walter H. Sempie: Selected Leiters of Pope Innocent m. concerning England (1198-1216), London 1953, S. 69-78. Frederic William Maitland: Roman Canon Law in England, London 1898, S. 126 bezeichnete diesen Brief Innocenz'm. als "Iengthy examination paper". 15 Zum ersten Beleg einer Verwendung von "Pastoralis" bei den Kanonisten vgl. meine Feststellung in: Traditio 22 (1966), S. 476. 16 Für die Frage nach dem Beitrag des kanonischen Rechts zur Entwicklung des modernen Gesetzesbegriffs vgl. Peter Landau: L'evoluzione della nozione di 'legge' nel diriuo canonico, in: Lex et Iustitia nell'Utrumque Ius: radici antiche e prospettive attuali - Atti dei Vß. Colloquio Internazionale Romanistico-Canonistico 12.- 14. maggio 1988, Citta deI Vaticano 1989, S. 263280. 17 Als Überblick vorzüglich Amlin Wolf: Gesetzgebung und Kodifikation, in: Peter Weinrar (Hg.): Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, Zürich! München 1981 (= Zürcher Hochschulforum, Bd. 2), S. 143-171. Ders., Die Gesetzgebung der entstehenden Territorialstaaten, in: Helmut Coing (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europä-
Einfluß des kanonisch.:n Rechts auf die europäische Rechtskultur
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Jahrhundert eine Epoche großer staatlicher Gesetzbücher war, so ist diese gleichzeitige Entwicklung in ganz unterschiedlich organisierten europäischen Ländern ohne das Vorbild des kanonischen Rechts überhaupt nicht vorstellbar. Rechtssicherheit bedeutete auch zweitens, daß man die RiJcl(wirkung normativer Regelungen einschränken mußte. Für uns ist das Rückwirkungsverbot bei belastenden und in die Rechtsstellung einzelner eingreifenden Normen zu einer selbstverständlichen Grundlage des Rechtsstaats geworden. Im römischen Recht war bereits in einer Kaiserkonstitution Theodosius' II. (Cod. 1.14.7) das Prinzip formuliert worden, daß ohne spezielle Anordnung Normen keine rückwirkende Kraft haben sollten. Das päpstliche Dekretalenrecht hat dieses Prinzip aufgegriffen und wiederholt, aber um den Gedanken ergänzt, daß Rückwirkungen deshalb ausgeschlossen seien, weil derjenige, der vorher von einem Verbot nichts habe wissen können, sonst Schaden erleiden würde (X 1.2.2). Der entsprechende Text entstammt einem Brief Gregors 1. an den Bischof von Neapel von 599, ist aber in seiner rechtstheoretischen Bedeutung zuerst von einem Dekretalensammler des 12. Jahrhunderts, dem berühmten Kanonisten Bernhard von Pavia, erkannt, über ihn in das Dekretalenrecht eingeführt worden und später in den Liber Extra gelangt. 18 Das Thema des Rückwirkungsverbots ließe sich mit den im kanonischen Recht gefundenen Differenzierungen noch weiter verfolgen; so in bezug auf Einschränkungen, die dann möglich waren, wenn ein Herkommen Prinzipien göttlichen Rechts (ius divinum) widersprach. 19 Man muß aber generell festhalten, daß das klassische kanonische Recht vom Prinzip des "de iure ischen Privatrechtsgeschichte, Bd.l: Mittelalter (1100-1500), Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung, München 1973, S. 517-800. Überblick zur neueren Diskussion bei Reiner Schulze: Geschichte der neueren vorkonstitutionellen Gesetzgebung, zu Forschungsstand und Methodenfragen eines rechtshistorischen Arbeitsgebietes, in: ZRG Germ. 98 (1981), S. 157253. Grundlegend Sten Gagner: Studien zur Ideengeschichte der Gesetzgebung, Stockholml Uppsalal Göteborg 1960 (= Acta Universitatis Upsaliensis, Studia Iuridica Upsaliensis, I), v. a. S.288-366. 18 Es handelt sich dabei um den im Register Gregors I. überlieferten Brief JE 1629 an Bischof Fortunatus von Neapel. Der Text spielte im vorgratianischen kanonischen Recht keine Rolle, wurd.: aber von Bemhard von Pavia in die von ihm kompilierte Collectio Parisiensis n als einziger Beleg für den Abschnitt "De novis statutis" aufgenommen; vgl. Emil Friedberg: Die Canones-Sammlungen zwischen Gratian und Bemhard von Pavia, Leipzig 1897 (ND Graz 1958), S. 33. Von dort gelangte dieser Text über IComp. 1.1.2 in den Liber Extra von 1234 (X. 1.2.2). Der für die RückwirL:ungsCrage entscheidende Passus lautet: "Rem quae culpa caret, in damnum vocari non convenit. Quoties vero novum quid statuitur, ita solet futuris formam imponere, ut multis dispendiis praeterita non commendet. .. ne detrimentum ante prohibitionem possint ignorantes incurrere, quod eos postmodum dignum est velitos sustinere;" der Text ist ediert u. a. in: Decretalium Collectiones, ed. Emil Friedberg, Leipzig 1879 (ND Graz 1959) (= Corpus Iuris Canonici, Editio Lipsiensis secunda, pars 2), Sp. 7 C., hier Sp. 8. 19 Einen Überblick über die entsprechenden Regeln des klassischen kanonischen Rechts gibt Charles Lefebvre, in: George Le Bras, Charles Lefebvre, Jacqueline Rambaud: L'Age Classique 1140-1378. Sourees et Theorie du Droit, Paris 1965 (= Histoire du Droit et des Institutions de l'Eglise en Occident, Bd. 7), S. 437-439; s. weiterllin B. M. Frison: The Retroactivity of Law, Washington 1946 (= Canon Law Studies, Bd. 231).
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quaesito non tollendo" beherrscht war, so daß insofern Rückwirkungen stets Ausnahmecharakter haben mußten.
4. Die Entstehung des Begriffs des positiven Rechts Schließlich hängt mit dem Vorherrschen von Rechtssicherheitsgesichtspunkten auch zusammen, daß wir der Kanonistik des 12. Jahrhunderts den Begriff des positiven Rechts verdanken. Gemeinhin bringt man aufgrund eines nicht im Umgang mit den Quellen entwickelten Vorverständnisses mittelalterliches Rechtsdenken viel mehr mit dem Begriff des Naturrechts als dem des positiven Rechts in Verbindung. Als Gegensatz zum "ius naturale" verwendet der Theologe Abitlard um 1140 wohl erstmals den Begriff "ius positivum", und ein aus Dover in England stammender Kanonist der anglonormannischen Schule scheint den Begriff des positiven Rechts zuerst in die juristische Lehrbuchliteratur kurz nach 1160 eingeführt zu haben. 20 Die diesbezüglichen Zusammenhänge wurden in einem grundlegenden Aufsatz von Stephan Kuttner 1938 erhellt, der durch weitere Forschungen insbesondere auch meines Münchener Lehrstuhlvorgängers Sten Gagner weitergeführt wurde. 21 Hier möge es bei dem Hinweis sein Bewenden haben, daß die bis in die Gegenwart viel diskutierte Dichotomie: "Naturrecht oder Rechtspositivismus" ihre Wurzeln eigentlich im 12. Jahrhundert hat, auch mit dem bereits im Decretum Gratiani zu fmdenden Grundgedanken, daß es an sich einen Vorrang des Naturrechts vor dem posistiven Recht gebe. 22 Allerdings wird man sich davor hüten müssen, den mittelalterlichen Naturrechtsgedanken im Sinne einer festen überpositiven Rechtsordnung zu verstehen, so daß sich aus der Anerkennung des Naturrechts nicht einfach der Satz ergab: "Naturrecht bricht positives Recht", sondern vielmehr allenfalls Interpretationsmaßstäbe für das positive Recht aus dem Naturrecht abgeleitet wurden. 23 So hat das 20 HielZU Stephan Kuttner: Sur les origines du tenne "droit positif", in; Revue historique de droit franc;ais et etranger, 4e sero 15 (1936), S. 728-740, wieder abgedruckt in: ders., Tbe History of Ideas and Doctrines of Canon Law in the Middle Ages, London 1980, dort no. III mit "Retractations" im Anhang S. 4-5. 21 Vgl. Gagner: Gesetzgebung (Fn. 17), S. 210-228; s. außerdem Damian van den Eynde: Tbe Tenns 'ius positivum' and 'signum positivum' in Twelfth-Century Scholasticism, in: Franciscan Studies 9, 1949, S. 41-49. 22 Entscheidend ist das Dictum Gratiani am Ende von Dist. VIII, ediert in: Decreturn Magistri Gratiani, ed. Emil Friedberg, Leipzig 1879 (ND Graz 1959) (= Corpus luris Canonici, Editio Lipsiensis Secunda, pars 1), Sp. 16: "Liquido igitur apparet, quod consuetudo naturali iuri postponitur." Bedenkt man, daß dieser Satz Gratians Bestandteil eines Rechtsbuchs geltenden Rechts ist, nicht eines philosophischen Traktats, so mußte sich daraus eine Veränderung des Stellenwerts des Naturrechts gegenüber der Situation in der Antike ergeben. HielZU vgl. Peter LAndau: Quellen und Bedeutung des gratianischen Dekrets, in: Studia et Documenta Historiae et luris 52 (1986), S. 219-235, hier S. 229 mit Anm. 32. 23 Zur Naturrechtslehre bei Gratian und in der darauffolgenden Kanonistik vgl. das grundlegende Werk von Rudolf Weigand: Die Naturrechtslehre der Legisten und Dekretisten von Ime-
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kanonische Recht dazu beigetragen, daß den modemen Rechtsordnungen die Spannung zwischen Naturrecht und positivem Recht vermittelt wurde; aber es hat niemals ein System von Naturrechtssätzen entwickelt, wie dies erst von den Juristen der frühen Neuzeit seit der Spätscholastik und Hugo Grotius versucht wurde.
5. Faktoren der Rechtsfortbildung im kanonischen Recht Wenn man die Ausbildung und Zuordnung der Rechtsinstitute des kanonischen Rechts in den entscheidenden zwei Jahrhunderten von 1100 bis 1300 verfolgt, so erkennt man bald, daß sich die Rechtsfortbildung in einer Wechselwirkung zwischen der rechtsbildenden Aktivität des Papsttums und derjenigen der kanonistischen Universitätswissenschaft vollzog. In dem hier entwickelten Modell sehe ich einen weiteren entscheidenden Beitrag des kanonischen Rechts zur europäischen Rechtskultur - die Zeit des klassischen kanonischen Rechts war die eines gewissen spannungsreichen Gleichgewichts zwischen Gesetzgebung und Wissenschaft. Natürlich hat die große Rolle der kanonistischen Rechtswissenschaft ein gewisses historisches Vorbild im Verhältnis von prätorischer Rechtsfortbildung und der Autorität der Respondierjuristen im klassischen römischen Recht - und die wissenschaftliche Autorität der Glossatoren des mittelalterlichen römischen Rechts wurde zum Vorbild für die Kanonisten. Aber die enge Verbindung und Wechselwirkung von Rechtswissenschaft und Legislation ist doch in der Antike und sonst im Mittelalter ohne Vorbild; sie macht das 12. Jahrhundert zu einer spezifisch juristischen Epoche und bedeutet letilich, daß man vom Recht fortan vor allem Rationalitttt erwartete. Das kanonische Recht hat durch die Entstehungsbedingungen von Recht in seiner klassischen Periode daher eine einzigartige Rolle bei der Rationalisierung der europäischen Kultur gespielt. Dieser Bezug des kanonischen Rechts zur abendländischen Rationalität ist zuerst in der universalgeschichtlich orientierten Rechtssoziologie Max Webers erfaßt, seitdem jedoch selten bei der Betrachtung des Wegs der europäischen Geschichte genügend gewürdigt worden. 24 Das kanonische Recht war für das hohe Mittelalter ein in der Gegenwart entstandenes, kein aus grauer Vorzeit überliefertes Rechtssystem. Das Dekrerius bis Accursius und von Gratian bis Johannes Teutonicus, München 1967 (= Münchener Theologische Studien, m: Kan. Abt., Bd. 26). 24 Vgl. Max Weber: Rechtssoziologie, hg. v. Johannes Wincketmann, Neuwied 1960 (= Soziologische Texte, Bd. 2), S. 236-239. Webers erstaunlich heUsichtige Analysen wurden durch die modeme rechtshistorische Forschung im wesentlichen bestätigt. Er betont, daß das kanonische Recht von aUen heiligen Rechten am meisten an streng formaler juristischer Technik orientiert war und daß es fiir das profane Recht geradezu einer der Führer auf dem Wege zur Rationalität wurde. Weber betont auch die Singularität des Dualismus zwischen den Rechtsordnungen im Okzident, von der ich bei meinen Ausfiihrungen ausgegangen bin.
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talenrecht der Päpste wird schon seit etwa 1175 als "ius novum" bezeichnet. 25 Es entwickelt sich ein Bewußtsein von der zeitlichen Entwicklung und der sachlichen Differenz von Rechtsordnungen, so etwa bei dem Kanonisten Bernhard von Pavia am Ende des 12. Jahrhunderts, der alttestamentliche Normen in seine Rechtssammlung aufnimmt, nicht zum Zwecke der Anwendung in der Praxis, sondern ausdrücklich mit dem Hinweis, daß man eine Vergleichsmöglichkeit mit dem früheren Recht haben solle. 26 Das kanonische Recht hat in Europa die Rechtsvergleichung eingeführt und ermöglicht, deren literarische Zeugnisse uns in der Differentien-Literatur zwischen römischem und kanonischem Recht überliefert sind. 27 Ein begrifflich differenziertes und vor allem ständig verändertes System wie das des mittelalterlichen kanonischen Rechts konnte nur von Praktikern angewendet werden, die eine professionelle Schulung hatten und die sich außerdem über Rechtsneuerungen auf dem laufenden hielten. Der spezifische Charakter des kanonischen Rechts brachte es mit sich, daß es nur von Berufsrichtern angewandt werden konnte. Wir haben daher in der geistlichen Gerichtsbarkeit des hohen Mittelalters die ersten Berufsrichter, die sogenannten Offiziale, die seit Ende des 12. Jahrhunderts in einzelnen Diözesen nachweisbar sind. 28 Der Offizial ist ein beamteter Einzelrichter in Vertretung des Bischofs, von dem Kenntnisse des vereinheitlichten Kirchenrechts erwartet werden. Lange vor dem Auftreten rechtsgelehrter Richter in den weltlichen Gerichten wurde die Rechtsprechung der kirchlichen Gerichte bereits durch wissenschaftlich geschulte Offiziale ausgeübt, so daß die Gerichtsverfassung der Kirche zum Vorbild für das weltliche Gerichtswesen werden konnte. Die Gerichtsverfassung mit so grundlegenden Institutionen wie einem umfassenden Appellationsrecht,29 das die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung verbürgte, einem Illstanzellzug und der Organisation von zentralen obersten Kollegialgerichten an der päpstlichen Kurie hat zum erstenmal ein europäisches Modell einheitlicher Gerichtsorganisation entstehen lassen. Die große Kon25 Vgl. die Angaben von Lefebvre bei Le Bras, Lefebvre, Rambaud: L'Age classique (Fn. 19), S. 139 f. 26 Hierzu Peter Landau: Alttestamentliches Recht in der "Compilatio Prima" und sein Einfluß auf das kanonische Recht, in: Studia Gratiana Bd. 20 (= Melanges Gerard Fransen II) 1976, S. 111-133. 27 Vgl. Jean Ponemer: Introduction a une etude des differences entre le droit romain et le droit canonique classique, These droit Paris 1943 (Masch.). 28 Zur Gerichtsbarkeit des OffIZials bleibt grundlegend Paul Foumier: Les officialites au moyen age, Paris 1880. Einen Überblick über die Ergebnisse der Forschung in bezug auf die Verbreitung der Gerichtsbarkeit der OffIZiale in Deutschland gibt Hans Erich Feine: Kirchliche Rechtsgeschichte, 5. Auflage Köln! Graz 1972, S. 370 f. Vgl. auch Winfried Trosen: Die gelehrte Gerichtsbarkeit der Kirche, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichle, Bd.l: Mittelalter (1100-1500), Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung, München 1973, S. 467-479. 29 Vgl. Wieslaw Litewsld: Appeal in Corpus Iuris Canonici, in: Annali di sloria dei diritto 1417 (1974), S. 1452-1521.
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tinuität dieser Gerichtsverfassung wird durch die Tatsache verdeutlicht, daß heute das bereits im 13. Jahrhundert nachweisbare päpstliche Tribunal der Rota Romana der bei weitem älteste europäische Gerichtshof ist. 30
6. Kanonistische Einflüsse im Staatsrecht und Völkerrecht Wenn man nun die Frage stellt, auf welchen Rechtsgebieten das kanonische Recht die europäische Rechtsentwicklung beeinflußt hat, so wird man auf allen Hauptgebieten der heutigen Rechtsordnung Prägungen durch das kanonische Recht nachweisen können. Auch dieser Tatbestand ist im allgemeinen weniger im Bewußtsein der Juristen verankert, als die Prägung des Zivilrechts durch das römische Recht, wohl deshalb, weil man sich seit der Zeit des Absolutismus daran gewöhnt hat, die Rechtsentstehung nur auf die Autorität staatlicher Gewalt zurückzuführen. Für das Mittelalter war aber die rechtsetzende Gewalt der Kirche ganz selbstverständlich - die Kirche war ein "Staat", wie der bedeutendste englische Rechtshistoriker Frederick William Maitland formuliert hatY Das hat zur Folge, das zunächst einmal das modeme öffentliche Recht weitgehend auf dem Vorbild des kanonischen Rechts aufbauen konnte, und zwar im Staatsrecht wie im Verwaltungsrecht. Als ein besonderes Sachgebiet der Rechtsordnung mit eigenem Lehrstoff gibt es das öffentliche Recht erst seit etwa 160032 - soweit man vorher von Fragen einer Verfassungsordnung sprechen kann, konnten sie nur in der Wissenschaft des römischen oder kanonischen Rechts juristisch thematisiert werden. So ist es etwa im 13. Jahrhundert die Kanonistik, die zuerst wissenschaftlich sich mit den Fragen der deutschen Königswahl auseinandersetzt. 33 Überhaupt ist es das Wahlrecht, das zuerst bei den Kanonisten schon am Ende des 12. Jahr30 Vgl. zur Einführung den umfassend orientierenden Art. "Rote Romaine" von Charles Lefebvre, in: Dictionnaire de Droit Canonique 7 (1965), col. 742- 771. 31 Vgl. Mairland: Roman Canon Law (Fn. 14), S. 100. Die klassischen Ausfiihrungen Mairlands rechtfertigen eine ausfiihrliche Wiedergabe: "The medieval church was astate. Conveniences may forbid us to call it astate very often, but we ought to do so from time to time, for we could frame no acceptable definition of astate which would not comprehend the church. What has it not that astate should have? It has laws,lawgivers, lawcourts, lawyers. It uses physical force to compel men to obey its laws. It keeps prisons. In the thirteenth century, though with squeamish phrases, it pronounces sentence of death. It is no voluntary society. If people are not born into it, they are baptized into it when they cannot help themselves. If they attempt to leave it, they are guilty of the crimen laesae maiestatis and are likely to be burnt. It is supported by involuntary contributions, by tithe and tax. That men believe it to have a supernatural origin, does not alter the case. Kings have reigned by divine right, and republics have been founded in the name of God-given Iiberty. " 32 Grundlegend Michael Slolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600-1800, München 1988, S. 141-146. 33 Dazu das al1erdings heute vielfach veraltete Werk von Karl GOlifried Hugelmann: Die deutsche Königswahl im Corpus Iuris Canonici, Breslau 1909 (ND 1966) (= Untersuchungen zur Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 98). 4 Schulze
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hunderts zum Gegenstand von wissenschaftlichen Erörterungen und eigener Literatur in Wahlrechtstraktaten wird. 34 Das für uns heute so selbstverständliche Prinzip der freien Abstimmung und der Mehrheitsentscheidunl 5 stammt aus dem kanonischen Recht und wurde zuerst bei der Besetzung des höchsten Amts der Kirche, desjenigen des Papstes, durchgesetzt. Auch sonst gibt es für die Einflüsse des kanonischen Rechts auf das öffentliche Recht zahlreiche Belege. Im kanonischen Recht wurde der Gedanke des transpersonalen Amts und fester Amtseinkommen und damit eine wesentliche Voraussetzung für die modeme Bürokratie entwikkelt,36 wie überhaupt ein geordnetes Behördenwesen sich in der Kirche früher als im sog. Staat entwickelte. Wesentliche Grundgedanken einer Repräsentativverfassung wurden zuerst in der kanonistischen Diskussion entwickelt, z.B. in der Frage der Stellung und Zusammensetzung des ökumenischen Konzils. 37 Die Zusammenhänge von Konziliarismus und der Geschichte parlamentarischer Vertretungen beschäftigen jetzt seit Jahrzehnten die Forschung und sind keineswegs befriedigend aufgeklärt, haben aber immer wieder zu der Erkenntnis geführt, daß kanonistische Begriffe und Prinzipien auch in der Geschichte der Parlamente eine wesentliche Rolle gespielt haben. Es ist vor allem während der letzten Jahrzehnte ein Verdienst des amerikanischen Historikers Brian TIerney gewesen, die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entdeckung des Prinzips der Reprtisentativverjassung zu betonen,38 die bekanntlich antikem Staatsdenken unbekannt war und 34 Die erste juristische Monographie über das Wahlrecht schrieb der Kanonist Bemhard von Pavia zwischen 1177 und 1179; sie ist ediert bei Ernst Adolf1heodor Laspeyres (Hg.): Bemardi Papiensis Summa Decretalium, Regensburg 1860 (ND Graz 1956), S. 307-323. 35 Zur Bedeutung der Kanonistik für die Geschichte des Mehrheitsprinzips vgl. die klassische Darstellung bei DUo von Gierke: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 3: Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland, Berlin 1881 (ND Darmstadl 1954), S. 322-330; außerdem den., Über die Geschichte des Majoritätsprinzipes, in: Schmollers Jahrbuch 39 (1915), S. 7-29; Jean Gaudemet: Unanimite et majorite, in: Etudes historiques a la memoire de Noel Didier, Paris 1960, S. 149-162, wieder abgedruckt in: Den., La societe ecclesiastique dans l'Occident medieval, London 1980, no. U; in neuester Zeit auch Arthur P. Monahan: Consent, Coercion and Limit. The Medieval Origins of Parliamentary Democracy, Leiden 1987, S. 133-142.
36 Vgl. hienu jetzt Udo Woller: Amt und Officium in mittelalterlichen Quellen vom 13. bis 15. Jahrhundert, in: ZRG Kan. 74 (1988), S. 246-280, besonders S. 249-261. 37 Zu diesem Problemkreis gibt es umfangreiche Literatur, als Einführungen seien genannt: Joseph Gill: Representation in the conciliar Period, in: Church History 7 (1971), S. 177-195;
Johannes Hollnsteiner: Studien zur Geschäftsordnung am Konstanzer Konzil - ein Beitrag zur Geschichte des Parlamentarismus und der Demokratie, in: FS Heinrich Finke, Münster 1925, S. 240-256, wieder abgedrucl...t in: Remigius Bilumer (Hg.): Das Konstanzer Konzil, Darmstadt 1977 (= Wege der Forschung, Bd. 415), S. 121-142. Hasso Hofmann: Repräsentation, Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974 (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 22), S. 191-328 u. pass. Grundlegend für die Frage nach den Wuneln des Konziliarismus in der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts: Brian 7iemey: Foundations of the Conciliar Theory, the Contribution of the Medieval Canonisls from Gratian to the Greal Schism, Cambridge 1955 (= Cambridge Studies in Medieval Life and Thought, vol. 4).
38 Zusammenfassend Brian 7iemey: Medieval Canon Law and Western Constitutionalism, in: Catholic Historical Review 52 (1966), S. 1-17, auch in: ders., Church Law and Constitu-
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sich in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters herausbildete. Man könnte noch viele Gebiete anführen, wo Begriffe des kanonischen Rechts das öffentliche Recht beeinflußten; ein besonders wichtiger Bereich scheint mir die rechtliche Bindung des Verwaltungshandelns zu sein,39 also die Unterordnung des administrativen Bereichs unter Rechtsprinzipien, die wir heute zu den Selbstverständlichkeiten des Rechtsstaats zählen. Im klassischen kanonischen Recht gab es die Möglichkeit, gegen administrative Akte etwa einer Stellenbesetzung Berufung einzulegen, also außerhalb eines zivilrechtlichen Rechtsstreits. 4O Die Zusammenhänge zwischen kanonischem Recht und der Herausbildung des modernen Verwaltungsrechts sind allerdings leider trotz der Bemühungen um eine moderne Verwaltungsgeschichte noch wenig untersucht. Auch im Völkerrecht ist der Einfluß des kanonischen Rechts sehr erheblich gewesen, ja man kann sagen, daß die Antike Völkerrecht allenfalls in AnsätzeQ. kannte und viele Gedanken des modernen Völkerrechts nicht etwa zuerst von Hugo Grotius und auch nicht etwa von Francisco de Vitoria zuerst entwickelt wurden, sondern von Kanonisten des 13. Jahrhunderts wie Papst Innocenz IV. 41 Die Kanonisten entwarfen schon im 12. Jahrhundert eine Theorie des gerechten Krieges, und· zwar im Anschluß an Gratian, der in seinem Dekret einen umfangreichen Teilabschnitt (Causa 23) dieser Frage gewidmet hatte. 42 Das Prinzip des gerechten Krieges wurde bei Gratian zum erstenmal im Zusammenhang einer juristischen Abhandlung entwickelt: Kriterium für die tional Tbought in the Middle Ages, London 1979, no. XV. Neuerdings auch ders., Religion, law and the growth of constitutional thought 1150-1160, Cambridge 1982. Überblick zu der Diskussion über die Verbindungslinien zwischen mittelalterlicher Kanonistik und neuzeitlichem Konstitutionalismus: Johannes Helmrath, Das Basler Konzil 1431-1449, Forschungsstand und Probleme, Köln! Wien 1987 (= Kölner historische Abhandlungen, Bd. 32), S. 483-491; Erich Meuthen: Das Basler Konzil als Forschungsproblem der europäischen Geschichte, Opladen 1985 (= Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge-Geisteswissenschaften, G 274), S. 18 f. m.w.N. in Anm. 42. 39 Hierzu die wichtige Arbeit von Jan Hendrik Dondorp: Rechtmatigheidstoetsing, - Toetsing van pauselijke rescripten by de decretisten en decretalisten, Amsterdam 1988, zum Teil in englischer Form abgedruckt als: Review of Papal Rescripts in the Canonist's Teaching, in: ZRG Kan. 76 (1990), S. 172-253. 40 Hierzu Heribert Schmitz: Appellatio extraiudicialis. Entwicklungslinien einer kirchlichen Gerichtsbarkeit über die Verwaltung im Zeitalter der klassischen Kanonistik (1140-1348), München 1970 (= MünchenerTbeologische Studien IlI: Kan. Abt., Bd. 29). 41 Zu den kanonistischen Grundlagen des Völkerrechts bei Grotius orientiert umfassend das Buch von Peter Haggenmacher: Grotius et la doctrine de la guerre juste, Paris 1983, das ganz überwiegend der Frage der Abhängigkeit von Grotius gegenüber der mittelalterlichen Tradition gewidmet ist. 42 Zu Gratians Lehre vom gerechten Krieg vgl. Frederick H. RusselI: Tbe lust War in the Middle Ages (= Cambridge Studies in Medieval Life and Tbought 8), Cambridge 1975, besonders S. 55-85 mit dem Fazit (S. 85): "To Master Gratian we owe the introduction of the concept of the just war into modern international jurisprudence." Außerdem vgl. Georges Hubrecht: La "juste guerre" dans le decret de Gratien, in: Studia Gratiana 3 (1955), S. 159-177.
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Rechtfertigung des Krieges war für ihn Wiedergutmachung von Unrecht. Die spätere Diskussion der Kanonisten und die päpstliche Gesetzgebung behandelten immer intensiver auch Einzelfragen des Kriegsrechts, etwa diejenige der erlaubten Kriegsziele und die der Gehorsamspflicht Untergebener im Fall eines ungerechten Krieges ihrer weltlichen Herren. So hat Papst 11I1IocellZ N. in einem gewissen Widerspruch zum zeitgenössischen Lehnsrecht nicht mehr die unbedingte Gehorsamspflicht des Lehnsmanns bei einem illegitimen Krieg seines Lehnsherrn bejaht und in seinem Kommentar zum Liber Extra erklärt, daß Christen auch Eigentum und Herrschaftsrechte von Heiden achten müßten. 43 Zu den Einflüssen des kanonischen Rechts auf das Völkerrecht muß man auch die richterliche Aktivität der Päpste des Mittelalters zählen, die der eines modemen internationalen Gerichtshofs entsprach. 44 Lange vor dem erst im zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingerichteten internationalen Gerichtshof in Den Haag gab es im späten Mittelalter eine erfolgreiche päpstliche Gerichtsbarkeit in Fragen internationalen Rechts. So hat Papst Eugell IV. 1434 und 1436 wiederholt zur Frage Stellung genommen, ob die Portugiesen Feldzüge zur Besetzung der damals teilweise noch von heidnischen Völkern bewohnten Kanarischen Inseln unternehmen dürften. 45 Zur Zeit des Konstanzer Konzils versuchte man nach kanonistischen Maßstäben eine Lösung im Krieg zwischen Polen und dem Deutschen Orden zu fmden. 46 Besonders im 14. und 15. Jahrhundert konnte man bereits auf der Basis einer gefestigten kanonistischen Lehrtradition Lösungsmöglichkeiten für völkerrechtliche Streitigkeiten entwickeln. 43 Vgl. Frederiek H. RusselI: Innocent IV's Proposal to Limit Warfare, in: Proceedings of the Fourth International Congress of Medieval Canon Law, Toronto 1972, CittA deI Vaticano 1976 (= Monumenta luris Canonici, Sero C, Bd. 5), S. 383-399. Innocenz IV. entwickelte seine Lehre in seinem Dekretalenapparat zu X 3.34.8. Die Stelle lautet wörtlich (ediert in: Sinibaldus F1iscus [lnnocenz IV], Apparatus in V Libros Decretalium, Frankfurt 1570 [ND Frankfurt a.M. 1968], fol. 430 r): "Dominia, possessiones, et iurisdictiones licite sine peccato possunt esse apud infide":s, haec enim non tantum pro fidelibus, sed pro omni rationabili creatura facta sunt." Zum gesamten Bereich der Frage der Rechte Ungläubiger nach kanonischem Recht vgl. James Muldoon: Popes, Lawyers, and Infidels, Liverpool 1979. 44 Hierzu vgl. die anregenden Ausfiihrungen von Waller Ullmann: The Medieval Papal Court as an International Tribunal, in: Virginia Journal ofInternational Law 11,1971, S. 356371; auch in: ders., The Papacy and Political Ideas in the Middle Ages, London 1976, no. XVII. 45 Vgl. James Muldoon: A Fifteenth Century Application of the Theory of the Just War, in: Proceedings of the Fourth International Congress of Medieval Canon Law, Toronto 1972, CittA deI Vaticano 1976 (= Monumenta luris Canonici, Sero C, Bd. 5), S. 467-480; ferner ders., Popes, Lawyers, Infideles (Fn. 43), S. 119-131. 46 Zum Streit zwischen dem Deutschen Orden und den Vertretern Polens in Konstanz vgl. Muldoon: Popes, Lawyers, Infidels (Fn. 43), S.107-119. Der Streit betraf das Recht des Ordens, Kriege im bisher heidnischen Litauen zu führen. Die polnische Seite wurde von dem bedeutenden Kanonisten und früheren Krakauer Universitätsrektor Paul Vladimiri vertreten, der sich in Konstanz gegen die Ordensritter durchsetzen konnte. Zum Gutachten Vladimiris und seiner Bedeutung vgl. die umfassende Darstellung bei Slanisialls F. Beleh: Paulus Vladimiri and his Doctrine Concerning International Law and Politics, 2 Bd., The Hague 1965.
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7. Die Bedeutung der Kanonistik für die Strafrechtsdogmatik Ähnlich wie das Völkerrecht ist auch das Strafrecht vor allem in den dogmatischen Grundlagen des allgemeinen Teils, insbesondere der Schuldlehre, von den Kanonisten des 12. und 13. Jahrhunderts ausgeformt worden. Dieser Tatbestand ist bis heute kaum in den rechtshistorischen und strafrechtshistorischen Lehrbüchern ausreichend gewürdigt worden, obwohl das einschlägige Standardwerk, Stephan Kuttners "Kanonist ische Schuldlehre" , seit 1935 vorliegt. 47 So fehlt Kuttllers dogmengeschichtliches Hauptwerk, bisher wohl die wichtigste strafrechtshistorische Arbeit des Jahrhunderts, bei Eberhard Schmidt in seiner "Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege" - zuletzt aufgelegt 1965 - sogar im Literaturverzeichnis. 48 Es kann hier natürlich nicht auf die Beiträge der Kanonisten zu den Schuldformen, zur Irrtumslehre und zu Rechtfertigungsgründen wie Notwehr und Schuldausschließungsgründen wie Notstand, eingegangen werden. Ich beschränke mich auf einen kurzen Hinweis. Im heutigen deutschen Strafrecht hat man bekanntlich seit der Entscheidung des Großen Senats des BGH vom 18.3.1952 die Distinktion zwischen vermeidbarem und unvermeidbarem Verbotsirrtum entwickelt und sich der "Schuldtheorie" beim Verbotsirrtum angeschlossen, die heute auch im StGB in § 17 positiviert ist. Der BGH sagt 1952: "War der Irrtum unüberwindlich, die Tat ... nicht vermeidbar, kann ein Schuldvorwurf ... nicht erhoben werden. "49 Das ist nun aber keineswegs eine Erkenntnis des 20. Jahrhunderts; denn bereits das erste in Deutschland entstandene juristische Lehrbuch, die 1169 in Köln verfaßte Summa Cololliensis, ein kanonistisches Lehrbuch zu Gmtia", unterscheidet unüberwindlichen und überwindlichen Irrtum sowie unvermeidbaren und vermeidbaren Irrtum beides wird gleichgesetzt. Die Summa schreibt nämlich: "Sicut quedam ignorantia est vincibilis, et quedam invincibilis, sic furor aliquando est evitabilis, aliquando inevitabilis. "50 Die modeme Schuld theorie des Straf47 Stephan Kutmer: Kanonistische Schuldlehre von Gratian bis auf die Dekretalen Gregors IX. Citta dei Vaticano 1935 (= Studi e Testi 64). 48 Eberhard Schmidt: Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Auflage Göttingen 1965. Der Beitrag des kirchlichen Rechts zur Strafrechtsgeschichte bleibt in diesem Werk völlig ausgeblendet, die Bußbücher werden z.B. auch nur am Rande vermerkt (S. 28). Auf der gleichen Linie wie Schmidt liegt auch der soeben erschienene Überblick von: E. Kauftnann, Art. "Strafe, Strafrecht", in: Adalbert Erler, Ekkeha,.d Kauftnann (Hg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte Bd. 4: Protonotarius Apostolicus bis Strafprozeß, Berlin 1990, Sp. 2011-2029. 49 BGHSt 2, 194, hier S. 201. 50 Summa "Elegantius in iure divino seu Coloniensis", Pars vm, c. 81, ed. Gerard F"ansen, Stephan Kutmer, Bd. 3, Citta dei Vaticano 1986 (= Monumenta Iuris Canonici, Sero A, vol. I), S. 88. - Die "Summa Coloniensis", deren Name auf die Herkunft ihres Verfassers aus der Kölner Erzdiözese zurückgeht, ist das wichtigste Werk einer vermutlich in Köln um 1170 existierenden Kanonistenschule; näher zu ihr: Stephan Kutmer: Repertorium der Kanonistik (11401234), Citta dei' Vaticano 1937 (= Studi e Testi, 71) S. 170-172. Zur l-urzen Blüte einer Kölner Kanonistenschule S. a. Johannes F,.ied: Gerard Pucelle und Köln, in: ZRG Kan. 68 (1982), S.
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rechts ist demnach 800 Jahre alt - sie stammt von einem deutschen oder französischen Kanonisten aus der Zeit Kaiser Friedrich Barbarossas, der von der theologischen Begriffsbildung Abälards beeinflußt war.
8. Kanonistik und Verfahrensrecht Nicht nur das materielle Strafrecht, sondern mindestens ebenso auch das Strafverfahrensrecht wurde in seinen Strukturen durch das kanonische Recht umgestaltet. Seit Jahrzehnten wird in der Forschung über die Entstehung des Inquisitiollsverfahrens diskutiert, das sich nach 1200 im Gegensatz zum älteren Anklageprozeß entwickelt hat. Das Inquisitionsverfahren, das man nicht mit der speziellen Ketzerinquisition verwechseln darf, enthält zwei Elemente: 1. die Durchführung des Strafverfahrens kraft Amtes (Offizialmoxime), also die Abkehr von dem Satz: "Wo kein Kläger, da kein Richter", und 2. die Erforschung der materiellen Wahrheit durch den Richter (IlIstru]aionsmoxime). Letzteres ist noch heute dem angelsächsischen Strafverfahren fremd. Die strafrechtliche Standardliteratur geht davon aus, daß sich das Inquisitionsverfahren vor weltlichen Gerichten zusammen mit der Folter selbständig um 1200 auf der Grundlage der Landfriedensbewegung entwickelt habe. 51 Nach den Forschungen von Winfried Trusen, die seit 1984 in mehreren Aufsätzen dargelegt wurden, scheint mir aber nunmehr der Nachweis geführt zu sein, daß das weltliche lnquisitionsverfahren das kirchliche nachahmte, und daß zuerst innerhalb der kirchlichen Gerichtsbarkeit der Inquisitionsprozeß von Papst Innocenz 111. herausgebildet wurde, um Vergehen von Klerikern besser als im herkömmlichen Verfahrensrecht der Kirche ahnden zu können und damit das sittliche Niveau des Klerus zu heben. 52 125-135. Die Summe wurde vielleicht von dem aus Sachsen stammenden späteren Bischof Bertram von Metz (1180-1212) verfaßt; vgl. Pieler Gerbenzon: Bertram of Metz, Tbe Author of 'Elegantius in iure divino (Summa Coloniensis)'?, in: Traditio 21 (1965), S. 510 f., sowie Slephon Kulmer: Bertram ofMetz, in: Traditio 13 (1957), S. 501-505. Bertram war um 1170 Kanoniker in St. Gereon zu Köln. - Der Text der Stelle der Summa Coloniensis auch bei Kulmer: Schuldlehre (Fn. 47), S. 106, Anm. 2. 51 In diesem Sinne Eberhard Schlllidl: Geschichte (Fn. 48), S. 86-99, der die Entstehung des Inquisitionsprozesses in Zusammenhang mit der Einführung der Folter bringt und seine Ergebnisse in dem Satz zusammenfaßt: "Die Folter ist also mit dem Inquisitionsprozeß zusammen in Deutschland selbst ohne Entlehnung und Nachahmung fremder Vorbilder in Gebrauch gekommen" (a.a.O., S. 93). Eine Abhängigkeit des kirchlichen Inquisitionsverfahrens von vermeintlich froheren Institutionen im normannischen Königreich Sizilien nahm zu Anfang des Jahrhunderts der Prozessualist Richard Schmidl an - vgl. Richard Scronidl: Die Herkunft des Inquisitionsprozesses, in: FS zum fünfzigjährigen Regierungsjubiläum des Großherzogs Friedrich, Freiburg i.Br.lLeipzig 1902, S. 65-118. Für R. Schmidl war der Inquisitionsprozeß die "Kampfmaßregel, durch die der nach innerer Festigung ringende Staat der neuen Cultur dem aufwuchernden Gewerbsverbrecherthum zu begegnen sucht" (a.a.O., S. 105). 52 Vgl. Winfi"ied Trusen: Strafprozeß und Rezeption. Zu den Entwicklungen im Spätmittelalter und den Grundlagen der Carolina, in: Peler LandaulFriedrich Christian Schroeder (Hg.): Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Con-
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9. Kanonistik und Privatrecht Lassen Sie mich zum Schluß meiner Ausführungen noch auf die Bedeutung des kanonischen Rechts für das Privatrecht eingehen. Auch hier könnte man viele Einzelheiten aufzählen: z.B. die Umgestaltung des Besitzrechts53 oder die erstmalige rechtsdogmatische Erfassung des Anwartschaftrechts im sog. ius ad rem, dessen Dogmengeschichte ich 1968 untersucht habe. 54 Die wichtigsten Gebiete, in denen das kanonische Recht das Zivilrecht formte, waren jedoch das Vertragsrecht und das Eherecht. Im Vertragsrecht haben die Kanonisten vor den Legisten Ansprüche aufgrund eines "nudum pactum" anerkannt und somit den Typenzwang des römischen Rechts durch das Prinzip der Vertragsfreiheit im Sinne der Inhaltsfreiheit überwunden. Auch für diesen Bereich sei nur darauf hingewiesen, daß bereits der Verfasser des Standardkommentars (Glossa ordinaria) zum Dekret Gratians, der aus Deutschland staQlIDende Bologneser Professor Johannes Teulonicus, im Jahre 1215 schreibt: "Potest dici, quod competit actio ex nuda promissione, scilicet condictio ex canone. "55 Nicht ein germanisches Treueprinzip, daß man Versprechen halten müsse, steht am Anfang der modemen Vertragsfreiheit, sondern die im kanonischen Recht zugrundegelegte Verbindung der Rechtspflicht mit sittlichen Rechtsgrundsätzen. Was schließlich das Eherecht betrifft, so muß hier der Hinweis genügen, daß vom 9. bis zum 19. Jahrhundert das Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht eine Materie des kanonischen Rechts war und deshalb auch das modeme Gebiet des Familienrechts sich erst nach Inkrafttreten des BGB bilden konnte. Noch 1891 konnte Bernhard Windscheid in seinem Pandektenlehrbuch feststellen: "Die Begründung und Beendigung der Ehe steht heutzutage 'gemeinrechtlich nicht unter den Grundsätzen des römischen Rechts, sondern unter den Grundsätzen des Reichsgesetzes vom 6. Februar 1875 und des canonischen Rechts. "56 Bis 1900 beruhten auf dem kanonischen Recht vor allem die Ehescheidullgsgrallde. Die komplizierte Geschichte des situtio Criminalis Carolina, FrankfurtlM. 1984, S.29-118; ferner den., Der Inquisitionsprozeß. Seine historischen Grundlagen und flÜhen Fonnen, in: ZRG Kan. 74 (1988), S.168-230. Außerdem Dietrich Oehler: Zur Entstehung des strafrechtlichen Inquisitionsprozesses, in: Gedächtnisschrift f. Hilde Kaufmann, hg. v. H.J. Hirsch. G. Kaiser, H. Marquardt, 1986, S.847861. 53 Vgl. Francesco Ruffini: L'actio spolii. Studio storico-giuridico, 1889 (ND Rom 1972). 54 Vgl. Peter Landau: Zum Ursprung des 'ius ad rem' in der Kanonistik, in: Proceedings of the Third International Congress of Medieval Canon Law, Strasbourg 1968 CittA dei Vaticano 1971 (Monuments luris Canonici, Ser. C, vol. 4), S.81-102. 55lohannes Teutonic/ls: Glossa ordinaria (Edition Venedig 1584) ad C.12, q.2, c.66 v. 'promiserint'. Zur Bedeutung des kanonischen Rechts für die Beseitigung des Typenzwangs im Vertragsrecht vgl. zusammenfassend Hem.ann Dilcher: Der Typenzwang im mittelalterlichen Vertragsrecht, in: ZRG Rom. 77 (1960), S.270-303, bes. S.281-286. 56 Bemhard Windscheid: Lehrbuch des PandeL'tenrechts, Bd. n, 7. Auflage FrankfurtlM. 1891, S.763 (489).
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kanonischen Eherechts, die eigentlich schon mit dem 1. Korintherbrief des Apostels Paulus beginnt, kann hier natürlich nicht einmal skizziert werden. 57 Während der letzten Jahrzehnte sind wichtige Forschungen vor allem auf dem Gebiet der kirchlichen Ehejudikatur des späten Mittelalters durchgeführt worden, die uns ein klareres Bild vom mittelalterlichen Eherecht vermitteln. Vor allem muß man sich verdeutlichen, daß im Mittelalter Eheverfahren regelmäßig nicht etwa Scheidungs- oder Nichtigkeitsprozesse waren, wie heute in der weltlichen Gerichtsbarkeit und auch in der kirchlichen Ehegerichtsbarkeit, sondern es waren Ehefeststellungsveifahren, da man über das Bestehen einer Ehe wegen des Fehlens einer verbindlichen Eheschließungsregelung häufig in Streit geriet. Die meisten Rechtsstreitigkeiten entstanden dadurch, daß man eine Ehe anerkannt wissen wollte - denn Ehe bedeutete vor allem für die Frau soziale Sicherheit, und wegen des Fehlens jeder formalen Regelung des Eheschließungsrechts bis zum Konzil von Trient mußten sich häufig Zweifel ergeben, ob ein Zusammenleben von Partnern überhaupt als Ehe zu bewerten war. Es gibt z.B. in Canterbury von 1372-7598 Eheprozesse - davon sind 78 positive Feststellungsverfahren und nur 10 Ehenichtigkeitsprozesse im heutigen Sinne. 58 Das kirchliche Eherecht des Mittelalters war auch keineswegs eine Rechtsordnung für die Oberschicht - die meisten uns überlieferten Verfahren betrafen Parteien aus dem Handwerkerstand oder sogar aus Unterschichten. 59 Die kirchliche Ehegerichtsbarkeit war ein Gericht des kleinen Mannes bzw. einfacher Frauen; wahrscheinlich haben über lange Zeiträume besonders kirchliche Gerichte Leuten unterhalb einer Oberschicht Erfahrungen mit der Justiz vermittelt.
10. Kanonisches Recht als europäisches Erbe mittelalterlicher Kultur Die hier ausgeführte Skizze hat vielleicht gezeigt, daß der Einfluß des kanonischen Rechts so umfassend gewesen ist, daß man auch ohne spezifisches Interesse an Problemen des Kirchenrechts sich mit den Quellen des kanonischen Rechts befassen muß, wenn man sinnvoll Privatrechtsgeschichte, Strafrechtsgeschichte oder Geschichte des öffentlichen Rechts betreiben will. Man 57 Eine neue Gesamtdarstellung der Geschichte des kirchlichen Eherechts gibt Jean Gaudemel: Le mariage en Occident, Paris 1987. Es handelt sich hierbei um das erste zusammenfassende Werk auf diesem wichtigen Gebiet der Rechtsgeschichte seit den dreißiger Jahren.
58 Vgl. Richard Helmholz: Marriage Litigation in Medieval England, Cambridge 1974, s. 25. Ähnlich für Deutschland die Ergebnisse bei Rudolf Weigand: Zur mittelalterlichen kirchlichen Ehegerichtsbarkeit. Rechtsvergleichende Untersuchung, in: ZRG Kan. 67 (1981), S. 213247, hier S. 230: Nur etwa 10% der Eheprozesse betrafen Nichtigkeitsverfahren. Übereinstimmend auch für Frankreich die Feststellung bei Anne Lefebvre-Teillard: Les Officialites a la veille du Concile de Trente, Paris 1973 (= Bibliotheque d'histoire du droit et droit comain, Bd. 19), S. 108: "Les causes en nullite de mariage sont beaucoup moins nombreuses que les precedentes (sc. affaires concernant la reconaissance du mariage)." 59 Helmholz: Marriage Litigation (Pn. 58), S. 160 f.
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kann aber ferner auch die mittelalterliche Kultur nicht verstehen, wenn man die neben der Theologie wichtigste Wissenschaft dieser Epoche, die Rechtswissenschaft in ihren beiden Zweigen, nur vom Hörensagen kennt. Das Mittelalter stellt Gratian, den Begründer der Wissenschaft des kanonischen Rechts, gleichrangig neben Thomas VOll Aquill und Albertus Magnus, so ist jedenfalls die Bewertung beim größten Dichter des Mittelalters, bei Dame, im 10. Canto des "Paradiso " .60 Zum Erbe des kanonischen Rechts in der europäischen Rechtskultur gehört daher schließlich noch etwas für den heutigen Juristen sehr Wichtiges: daß er nämlich aufgrund der europäischen Tradition von Jurisprudenz die Möglichkeit hat, den eigenen Beruf als ein Bildungsmittel zu begreifen, nicht nur in Kunst, Literatur, Philosophie etc. Bildungsgüter zu sehen - um mit Savigny' zu sprechen: "der einzelne Jurist wird in freyem würdigen Berufe leben" ,61 wenn er sich der mehr als 800 Jahre der Geschichte seiner Wissenschaft seit Imerius und Gratiall bewußt ist.
60 Dante Alighieri: Divina Commedia, Paradiso X, v. 97-105. 61 Friedrich earl v. Savigny: Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 129.
Teil C
Privatrechts geschichte
Usus Hodiernus Pandectarum· Von Reinhard Zimmermann
1. Zur Einführung: Molina, Covarruvias, uberrima fides und Trust Der Titel meines Vortrages ist usus hodiernus pandectarum; in Anspielung auf eine vor kurzem im Rechtshistorischen Journal begonnene Debatte ließe sich auch formulieren: Digesten und Dogmatik 1• Diese Debatte wurde eingeleitet mit einem Beitral, in dem zur Erforschung von Gebieten aufgerufen wird, die auf dem Kontinent der Rechtsgeschichte noch nicht vollständig vermessen sind: solchen Gebieten, bei denen mittelalterliche Zeichner von Afrikakarten sich mit der etwas ratlosen Bemerkung: hic sunt leones zufriedengeben mußten. Von anderen historischen Entdeckungsreisenden ist der Autor dieses Plädoyers für eine nicht anwendungsbezogene und damit rein kontemplative Beschäftigung mit der Rechtsgeschichte freudig empfangen worden - oder doch so freudig, wie sich Entdeckungsreisende zu begrüßen pflegen: "Dr. Stolleis, I presume"3. Ebenso wie Stanley und Livingstone hat aber auch Professor Stolleis teilweise Ablehnung erfahren. Hic ululant hyaenae betitelt Picker seine kritischen Anmerkungen: hier heulen die Hyänen4 • Da ich aus Afrika zu Ihnen komme, ist es vielleicht nicht allzu ver.. Um Anmerkungen ergänzter Text eines zunächst im Sommer 1987 an der Universität Regensburg gehaltenen Vortrages. - Abkürzungen (außer den in Deutschland, in England und in der Romanistik al1gemein üblichen): A (Appel1ate Division of the Supreme Court); AD (Appellate Division Reports); C (Cape Provincial Division of the Supreme Court); C.J. (Chief Justice); CPD (Reports ofthe Cape Provincial Division); J.A. (Judge of Appeal); N (Natal Provincial Division of the Supreme Court); NPD (Reports of the Natal Provincial Division); R (Rhodesia); SA (South African Law Reports); SAU (South African Law Journal); T (Transvaal Provincial Division of the Supreme Court); THRHR (Tydskrif vir Hedenda8gse Romeins-Hol1andse Reg); TSAR (Tydskrif vir die Suid-Afrikaanse Reg); W (Witwatersrand Local Division of the Supreme Court). 1 Vgl. den Titel des Beitrages von Klaus Luig: RJ 5 (1986) S. 290 ff.
2 Michael Stolleis: Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte oder: Hic sunt leones, RJ 4
(1985) S. 251 ff.
3 Vgl. RJ 4 (1985) S. 263.
4 Eduard Picker: Von weißen Flecken der Rechtsgeschichte oder: Hic ululant hyaenae, RJ 5 (1986) 367 ff. Kritisch auch etwa 1heo Mayer-Maly: Anmerkungen zu Versuchen, über die Aufgaben der Rechtsgeschichte nachzudenken, RJ 4 (1985) S. 268 ff.
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messen, in einem Streit um Löwen und Hyänen das Wort zu ergreifen. Ich möchte deshalb die Gelegenheit benutzen, Ihnen (ganz im Sinne von Stolleis) einen weißen Flecken unserer juristischen Landkarte vorzuführen, tue dies aber (ganz im Sinne von Picker) um des Erkenntniswertes rechtshistorischer Forschung für das gegenwärtige Recht willen. Schließlich gibt es bei uns sowohl Löwen als auch Hyänen. Im folgenden sollen deshalb zunächst Grundfragen der Anwendung und Fortentwicklung des südafrikanischen Privatrechts erörtert werden, um daran sodann einige allgemeinere Erwägungen zur Gegenwartsbedeutung der Rechtsgeschichte anzuknüpfen. Das römisch-holländische Recht in Südafrika ist eine der wenigen Rechtsordnungen des civil law, in denen die Kontinuität der Rechtsentwicklung nicht durch eine Kodiftkationszäsur beeinträchtigt ist5 . Die Tradition des auf dem Corpus Iuris Civilis autbauenden ius commune hat damit heute noch Gegenwartsbedeutung. Das gilt für rechtswissenschaftliche Abhandlungen, aber auch für die forensische Praxis6 • Zur Einführung zwei Beispiele aus neuerer Zeit. Im Jahre 1985 hatte die Appellate Division des Supreme Court (das höchste südafrikanische Gericht)7 folgenden Fall zu entscheiden: 8 Die Stadt Oudtshoorn hatte im Bereich der Einflugschneise zu ihrem Flughafen einen Mast für eine Starkstromleitung errichtet, ohne diesen nachts durch Warnlichter hinreichend abzusichern. Es war zu einem Flugzeugabsturz gekommen, und die Stadt war in einem Vorprozeß zur Leistung von Schadensersatz verurteilt worden. Sie verklagte nun ihrerseits ihren Haftpflichtversicherer, die Mutual and Federal Insurance Co. Ltd. Diese berief sich auf Nichtigkeit des Versicherungsvertrages, da die Klägerin bei Vertragsabschluß einen für die Risikoabschätzung wesentlichen Punkt, nämlich das Vorhandensein des Mastes, nicht geoffenbart habe. Das Gericht nahm diesen Fall zum Anlaß, in umfassender Weise die Rechtsnatur des Versicherungsvertrages aufzurollen. Als wesentliche Rechtsquellen in diesem Haftpflichtfall (!) werden herangezogen: Petrus de Santerna, De Assecurationibus et Sponsionibus (1554), Benevellutus Straccha, De Assecurationibus (1553), Roccus, Tractatus de navibus et nauto item de assecurationibus notabilia (1655), Ludovicus Molina, Disputationes de Contractibus (1601) und Sigmundus Scaccia, Tractatus de 5 VgI. allgemein Reinhard Zimmermann: Das römisch-holländische Recht in Südafrika, Dannstadt 1983. 6 Allgemeiner Überblick bei Ellison Ka4n: The "Old Authorities" Today, Newsletter of the Southem African Society ofLegal Historians, May 1986, S. 22 ff. 7 Zur Gerichtsorganisation Zimmermann (Fn. 5), S.28. ff. 8 Mutual and Federal Insurance Co. Ud. v. Oudtshoom Municipality, (1985) 1 SA 419 (A); hierzu etwa Schalk van der Merwe: Insurance and Good Faith: Exit Uberrima Fides - Enter What?, (1985) 48 THRHR 456 ff.
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Commerciis et Cambio (1681). Auf der Grundlage dieser Autoritäten wird die bislang in Südafrika - unter englischem Einfluß - vorherrschende Ansicht zurückgewiesen, beim Versicherungsvertrag handele es sich um einen contractus uberrimae fidei 9 . Er sei vielmehr - wie auch alle anderen Verträge - bonae fidei (im Gegensatz zu stricti iuris IO). Das Konzept der uberrima fides sei als fremd, vage und nutzlos aus dem südafrikanischen Recht zu verbannen ll . Freilich ergäben sich aus dem Versicherungsverhältnis gegenseitige Aufklärungs- und Offenbarungspflichten. Da die Klägerin diesen nicht genügt hatte, entschied das Gericht im Ergebnis dennoch zugunsten der beklagten Versicherung. Die andere Entscheidung ist Brown v. Blann and Botha 12 • Helen Brown hatte durch letztwillige Verfügung ihr Vermögen in einen discretionary trust eingebracht: sie hatte es auf zwei Treuhänder übertragen und es völlig in das Ermessen dieser Treuhänder gestellt, wer von einer Reihe namentlich genannter Personen aus diesem trust begünstigt sein sollte und zu welchem Anteil. Das Problem des Falles liegt darin, daß nach südafrikanischem Recht (ebenso wie nach deutschem: § 2065 11 BGB) der Erblasser die Bestimmung der Person, die eine Zuwendung erhalten soll, sowie die Bestimmung des Gegenstandes der Zuwendung nicht einem anderen überlassen darf ("no-delegation rule")13. Von dieser Regel gibt es einzelne Ausnahmen, vor allem die, daß der Testator bei einem letztwillig eingerichteten Fideikommiß es dem Fiduziar überlassen darf, den oder die Fideikommissare zu benennen. Damit stellt sich die Frage, ob nach südafrikanischem Recht ein testamentarisch bestellter trust dogmatisch als Fideikommiß angesehen und behandelt werden kann. Nun ist vorauszuschicken, daß das südafrikanische Trust-Recht gegenüber dem englischen durchaus eigenständig ist l4 . So ist etwa der Trustee in 9 Vgl. etwa Fine v. Tbe General Accident Fire and City Assurance Corporation Ltd., 1915 AD 213 (218); Gordon and Getz: Tbe South African Law of Insurance, 3. Aufl., Cape Town, Wetton, Iohannesburg 1983, S. 106 ff. 10 Vgl. hierzu neuerdings auch etwa Bank of Lisbon and South Africa Ltd. v. De Omelas, 1988 (3) SA 580 (A) (zur Frage der Weitergeltung der exceptio doli generalis); kritisch hierzu S. W.J. van der Merwe, G.F. Lubbe, L.F. van Huyssteen: Tbe exceptio doli generalis: requiescat in pace - vivat aequitas, (1989) 106 SAU 235 ff.; Reinhard Zimmermann: Tbe Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition, Cape Town, Wetton, Iohannesburg 1990, S. 676 f. 11 Mutual and Federal Insurance Co. Ltd. v. Oudtshoom Municipality, 1985 (I) SA 419 (A) 433 (per Ioubert, I.A.). 12 1984 (2) SA 850 (A); hierzu etwa Christopher Forsyth: Tbe Iuristic Basis of the Testamentary Trust, the Principle of Non-Delegation of Will-Making Power and the Purism Movement, (1986) 103 SAU 103513 ff. 13 Vgl. Estate Watkins-Pitchford & others v. CIR, 1955 (2) SA 437 (A) 458; Estate Orpen v. Estate Atkinson & others, 1966 (4) SA 589 (A) 596; Brown v. Blann & another NNO, 1982 (4) SA 166 (W) 168; Johannes Voet: Commentarius ad Pandectas, Parisiis 1827, 1829, Lib. XXVIII, Tit. V, 29; Amoldus Vinnius: In Quatuor Libros Institutionum Imperialium Commentarius, Lugduni 1761, Lib. 11, Tit. XIV, 9 pr. 14 Vgl. insbesondere A.M. Honore: Tbe South African Law ofTrusts, 3. Aufl., Cape Town, Wetton, Iohannesburg 1985, S. 13 f.
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Südafrika alleiniger Eigentümer des Trustvermögens und ist dem treuhänderisch Begünstigten gegenüber nur vertraglich gebunden l5 . Die Aufspaltung des Eigentums in "legal ownership und equitable ownership" wie wir sie aus dem englischen Recht kennen, ist unbekannt. Dogmatischer Anknüpfungspunkt war dabei bislang tatsächlich das Fideikommißrecht; "... a testamentary trust is in the phraseology of our law a fideicommissum and a testamentary trustee may be regarded as covered by the term fiduciary", wie es in der berühmten Leitentscheidung Estate Kemp v. MacDonald's Trustee aus dem Jahre 1915 heißt l6 . In Brown v. Blann and Botha wird dies nunmehr als inkorrekt bezeichnet 17 . Weder könne das Fideikommiß einem trust, noch die Position des Fiduziars der eines Trustees gleichgestellt werden. Im Mittelpunkt der Erörterung stehen dabei ein Digestenfragment des Papinian (D. 36, 2, 26, 1) und eine Reihe darauf bezüglicher Kommentare und Exegesen von Bartolus über Cujaz bis Simon van Leeuwen. Gleichwohl erklärte das Gericht die in Rede stehende testamentarische Verfügung letztendlich für wirksam: "Recognition of validity of such a [disposition] would be a salutary development of our law of trust and would not be in conflict with the principles of our law"18. Dazu fmdet sich ein Hinweis auf Covarruvias a Leyva, De Testamentis und auf die Leges Tauri, eine Sammlung spanischer Statuten von 1505. Soweit diese einführenden Beispiele ius commune-orientierter heutiger Rechtsprechung. Lassen Sie mich nun kurz den Hintergrund skizzieren.
2. Civillaw und common law in Südafrika Die südafrikanische Rechtsgeschichte ist geprägt von zwei Rechtstransfers. Dabei handelt es sich, im Sinne der von Rheinstein vorgeschlagenen Typologie 19 , zum einen um eine Transplantation, zum anderen um eine echte 15 Honore (Fn. 14), S. 12 ff. und passim; Brown v. Blann and Botha, 1984 (2) SA 850 (A) 859. 16 1915 AD 491 (499) (per Innes, C.J); hierzu auch Ben Beinan: Fideicomissum and modus, 1968 Acta Juridica 157 ff., 194 ff. Diese Rechtsprechung galt bislang als "delicate piece of judi-
cial grafting" (M.M. Corben, H.R. Hahlo, Gys Hofmeyr, Ellison Kahn: The Law of Succession in South Africa, Cape Town, Welton, Johannesburg 1980, S. 407; vgl. auch Ben Beinan: Trusts in Roman and Roman-Dutch Law, Journal of Legal History I (1980) S. 43: "... fine sensibility in deploying the tools of Roman and Roman-Dutch law to absorb a valuable English institution ... into a civilian legal framework"). - Zum römischen Fideikommissrecht, bezeichnenderweiser unter dem Titel "The Roman Law of Trusts", vgl. neuerdings das 1988, Oxford, erschienene Buch von David lohnston. Speziell zum römisch-holländischen Recht vgl. L.I. Coenze: Die Trust in die Romeins-Hollandse Reg, Diss. iur., Stellenbosch 1948. 171984 (2) SA 850 (A) 866 (perJoubert, J.A.).
18 1984 (2) SA 850 (A) 866 f. 19 Vgl. Max Rheinstein: Types ofReception, in: Hans G. Leser (Hg.): Max Rheinstein. Ge-
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Rezeption. Als die "Vereenigde Geoctroyeerde Dost-Indische Compagnie" seit 1652 das Kap der guten Hoffnung zu kolonisieren begann20 , brachten die holländischen Siedler ihr eigenes Rechtssystem mit sich und transplantierten es in ihre neue Umgebung. Es wäre ihnen nicht in den Sinn gekommen zu fragen, warum sie am Kap unter einem anderen Rechtssystem als zu Hause hätten leben sollen. Die Hottentotten und Buschleute, auf die sie trafen, wurden andererseits nicht gefragt. Damit war, ebenso wie etwa in Batavia, das sogenannte Roman-Dutch law anwendbar geworden, genauer, das Recht Hollands21 , der mächtigsten und einflußreichsten der Provinzen der Vereinigten Niederlande22 • Auf welcher formellen Grundlage es zur Wahl gerade dieser Rechtsordnung kam und worauf sich diese Transplantation genau bezog (nur auf das im Jahre 1652 in Kraft befmdliche Recht oder - dynamisch - auch auf hemach im Mutterland erlassenes Statutarrecht~: dies sind interessante Fragen, die hier aber nicht erörtert werden können2 . Gut eineinhalb Jahrhunderte später, im Jahre 1806 und im Rahmen ihrer anti-Napoleonischen Politik besetzten die Briten das Kap und machten es nach und nach zu einem integralen Bestandteil ihres Empire. Damit kam es, was das Rechtswesen betrifft, zu einem hochinteressanten Phänomen - der Überlagerung des römisch-holländischen Rechts durch eine weitere Rechtsschicht: durch englisches Recht. Südafrika ist damit eines der wenigen Länder, in denen die romanistische Traditionsmasse und englisches common law eine Symbiose eingegangen sind. Einerseits wurde nämlich das römisch-holländische Recht nie formell und in toto durch englisches Recht ersetzt und blieb damit - im Einklang mit dem in Campbell v. Ha1l24 anerkannten Prinzip des englischen Staatsrechts - weiterhin die Grundlage der südafrikanischen Rechtsordnung. Es ist nicht ohne eine gewisse Ironie, daß es damit gerade die Engländer waren, die dem ius commune in diesem Teil der Welt das Überleben sicherten, denn ohne ihre Intervention hätte das Kap nach aller sammelte Schriften, Band I, Tübingen 1979, S. 261 Cf.; vgl. weiterhin etwa Alan Watson: Legal Transplants, Edinburgh 1974. 20 Zur Vorherrschaft der Vereinigten Niederlande im Welthandel des 17. Jahrhunderts und zum Autbau des niederländischen Kolonialreichs vgl. neuerdings etwa Jonalhan I. Israel: Dutch Primacy in World Trade 1585-1740, Oxford, 1989. Überblick über die Verwaltungsorganisation in den ostindischen Besitzungen bei Hennan Roben Hahlo, Ellison Kahn: Tbe South ACrican Legal System and its Background, Cape Town, Wetton, Johannesburg 1968, S. 533 ff.; zur VOC vgl. auch Giel Geldenhuys Visagie: Regspleging en Reg aan die Kaap van 1652 tot 1806, 1969, S. 24 ff. 21 Vgl. etwa Deon Huner van Zyl; Geskiedenis van die Romeins-Hollandse Reg, Durban 1979, S. 421 ff. 22 Näheres hierzu bei Rei~hard Zimmennann: Das römisch-holländische Recht und seine Bedeutung für Europa, Juristenzeitung 1990, S. 825 ff. 23 Vgl. etwa Visagie (Fn. 20), S. 25 ff.; Johannes Christiaan de Wel: Die Resepsie van die Romeins-Hollandse Reg in Suid-ACrika, (1958) 21 THRHR 84 ff.; Pieler Pauw: Die RomeinsHollandse Reg in Oi!nskou, TSAR 1980, S. 32 Cf.; vgl. auch den Überblick bei Zimmennann (Fn. 5), S. 4 CC. 24 (1774) 1 Cowper 204, E.R. 98, 1045 (1047) (per Lord Mansfie1d). 5 Schulze
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Wahrscheinlichkeit zunächst den code civil, dann die von ihm inspirierte niederländische KodifIkation übernommen. Andererseits kam es aber in vielen Einzelbereichen zu einem Eindringen englischen Rechts, ein faszinierender Vorgang, der sich weithin freilich nicht als offener Einmarsch auf dem ebenen Wege gesetzlicher Übernahme vollzog, begleitet gleichsam vom klingenden Spiel königlicher Kommissionen und öffentlicher Diskussionen25 . Im Grunde handelte es sich jedenfalls weithin um eine Juristenrezeption nach dem von der Rezeption des römischen Rechts in Europa bekannten Muster. Folgende Faktoren waren dafür in meinen Augen besonders bedeutsam26 : der vergleichsweise niedrige Standard der Rechtspflege in der kap-holländischen Zeit (von einer wissenschaftlich inspirierten Rechtskultur kann keine Rede sein; im gesamten 18. Jahrhundert absolvierten nur etwa 10 Südafrikaner ein juristisches Studium, überwiegend in Leiden), die Anwendung englischen Beweis- und Verfahrensrechts in dem nach englischen Vorbild reformierten Gerichtswesen, die Übernahme der Doktrin des ·stare decisis·, d.h. des Präzedentiensystems, die zu einem veränderten Verständnis der Rechtsquellenlehre führte, die Einführung des Englischen als Gerichtssprache, der Rechtszug vom Cape Supreme Court zum Privy Council in London sowie die Ausbildung der Advokaten (und damit auch der Richter) in Großbritannien (zur Cape bar zugelassen wurde zunächst nur, wer von den Universitäten Oxford, Cambridge oder Dublin graduiert oder von einem englischen, schottischen oder irischen Gericht zugelassen war). Man stelle sich vor, mit welch gemischten Gefühlen am englischen case-Iaw geschulte Advokaten und Richter sich daran machen mußten, ein Recht anzuwenden, das ihnen fremd und das noch dazu schwer zugänglich war. Modeme Lehrbücher gab es nicht, und die relevante Literatur, die Schriften der Autoren des römisch-holländischen Rechts, waren in einem altertümlichen Holländisch oder Latein abgefaßt. Nehmen Sie etwa Sir William Bodges, Chief Justice seit 1858, über den es heißt: •... on his arrival in the Colony his ignorance of Roman-Dutch law was complete. In endeavouring to make himself acquainted with it, his defective scholarship offered an impediment, as he could not read Latin authorities with much facility·27. Am naheliegendsten war es damit, englische Literatur 25 Vgl. Herman Robert Hahlo. Ellison Kahn: The Union of South Africa: The Development of its Laws and Constitution, London 1960, S. 18.
26 Zur Rezeption des englischen Rechts am Kap vgl. Ben Beinart: The English Legal Contribution in South Africa: The Interaction of Civil and Common Law, Acta Juridica 1981, S. 7 ff.; Reinhard Zimmermann: Die Rechtsprechung des Suprcme Court ofthe Cape of Good Hope am Ende der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts, in: Huldigingsbundel Paul van Warmelo, Pretoria 1984, S. 286 ff. Vgl. auch Daniel Petrus Visser: Daedalus in the Supreme Court - The Common Law Today, Inaugurallecture, UCT, 1985, S. 1 ff., der betont, daß es sich hier um einen fortdauernden Prozeß handelt. 27 Cole: Rerniniscences of my Life and of the Cape Bench and Bar, 1896, Cape Town, S. 16. Charakteristisch auch etwa die folgende Aussage von Sir lohn ~lde, C.J., gegenüber dem Attorney-General, der sich auf rornisch-hol1ändische Autoritäten berufen hatte: "Quote what Dutch or Roman books you please - musty or otherwise - and they must be musty if they lay down such doctrines. I belong to a higher court than they refer to - a court not paralyzed by
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zu Rate zu ziehen und englische Rechtsregeln anzuwenden, und den Zugang dazu verschaffte man sich häufig entweder durch die pauschale und oberflächliche Behauptung der Identität beider Rechte für das vorliegende Problem, oder durch die Unterstellung, die römisch-holländischen Quellen schwiegen in diesem Punkte. So ist es nicht erstaunlich, daß englisches Recht in immer weiterem Maße Fuß faßte, vor allem im Prozess- und Handelsrecht, aber zunehmend auch in den Bereichen des klassischen Privatrechts. "It is so much easier to fmd your law in an English text book or in English reports than to wade through a sea of Latin or to puzzle your head over old Dutch writers and black letter consultations", wie Sir lohn Wessels im Rückblick formulierte28 • Freilich gab es auch während des gesamten 19. Jahrhunderts Gegenkräfte. Diese wurden insbesondere in den siebziger Jahren durch die Einrichtung einer eigenen Juristenausbildung in Kapstadt bestärkt29 , die seit 1916 von den zwei ältesten Rechtsfakultäten im Lande, Kapstadt und Stellenbosch, weitergeführt wurde. "Only taught law", nach dem berühmten dictum von Maitland, "is tough law". Im Jahre 1884 wurde das Cape Law Journal gegründet, heute immerhin eine der ältesten noch existierenden englischsprachigen juristischen Fachzeitschriften in der Welt30 • Auch dies trug zur Konsolidierung des römisch-holländischen Rechtes bei, das sich einem weiteren Eindringen englischen Rechts gegenüber nun mehr und mehr verschloß. Ja, von den afrikaansprachigen Universitäten31 ausgehend, kam es seit den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts zu einer ausgesprochenen Reaktion, die nicht nur den status quo zu bewahren, sondern auch die bereits eingetretene "Besudelung" des römisch-holländischen Rechts wieder rückgängig zu machen bestrebt war32 . Es folgte ein akademisches "bellum juridicum", ein tiefgreifender Streit um die Rechtsquellen des südafrikanischen Rechts33 . Dieser their authority, much less by the maxims of philosophers dozing over their midnight lamp in their solitary chambers. My Queen has sent me here to administer justice under the Royal Charter and the practices of the Courts of Flanders, Batavia or Trinidad are no authority to me"; hierzu Visser (Fn. 26), S. 2. 28 The Future ofRoman-Dutch Law in South Africa, SAU 37 (1929) S. 276. 29 Hierzu v.a. D. V. Cowen: The History of the Faculty of Law, University of Cape Town A Chapter in the Growth ofRoman-Dutch-Law in South Africa, Acta Juridica 1959, S. 8 ff. 30 Vgl. Ellison Kahn: (1983) 100 SAU 1 f.; (1983) 100 SAU 594 ff. 31 Zur südafrikanischen Universitätslandschaft vgl. Reinhard Zimmermann: "Turning and Turning in the Widening Gyre ... ". Gegenwartsprobleme der Juristenausbildung in Südafrika, in: Verfassungsrecht und Völkerrecht, Gedächtnisschrift filr Wilhelm Kar! Geck, Köln, Berlin, Bonn, München 1989, S. 988 ff. 32 Vgl. die Warnungen bei A.S. Mathews, J.R.L. Mi/ton: An English Backlash, (1965) 82 SAU 31 ff.; P.Q.R. Boberg: Oak Tree or Acorn? - Conflicting Approaches to our Law of Delict, (1966) 83 SAU 150 ff.; Proculus Redivivus: South African Law at the Crossroads or What is our Common Law?, SAU 82 (1965) S. 17 ff. 33 Hierzu etwa Proculus: Bellum Juridicum - Two Approaches to South African Law, (1951) 68 SAU 306 ff.; G.A. Mulligon: Bellum Juridicum (3): Purists, Pollutionists and Pragmatists, (1952) 69 SAU 25 ff.; Adrienne von Blerk: The "Purists" in South African Legal Literature
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Konflikt hatte - und hat teilweise noch immer - stark politische Obertöne, die sich im Gefolge des Burenkrieges vor allem aus den wechselseitigen Ressentiments der afrikaansprachigen und der englischsprachigen Südafrikaner ergaben. Die Rückkehr zum reinen römisch-holländischen Recht wurde ein wichtiger Punkt im Kampf gegen die englische Überfremdung und zu einem der Objekte des Afrikaanernationalismus. In den fünfziger und sechziger Jahren, nach der Machtübernahme der Nationalen Partei und nach der durch die Apartheidgesetzgebung provozierten großen Verfassungskrise34 gewann diese Puristenbewegung, die bisher auf Hörsaal und Lehrbuch beschränkt geblieben war, auch in den Gerichten immer mehr an Boden. Insbesondere kostete die Verfassungskrise, im Rahmen derer die Regierung das höchste Gericht mit einem Trick ausmanövrierte, den bedeutendsten liberalen Richter seine Karriere (Oliver D. Schreiner, den, nach den Worten von Kahn, besten Chief Justice, den Südafrika nie hatte35 ) und brachte statt dessen L. C. Steyn in das höchste südafrikanische Richteramt, einen Mann, der wie kaum ein anderer Loyalität zur Regierung und "executive-mindedness" mit dem Programm einer weitgreifenden Säuberung auch des Privatrechts von seinen englischen Elementen verband36 und der vor allem dem Deliktsrecht in diesem Sinne seinen Stempel aufdruckte. Es ist übrigens im Vergleich interessant zu sehen, wie in Südafrika die nationale Reaktion sich gerade auf ein Derivat des römischen Rechts berief, das doch in Deutschland häufig unter dem Makel des Fremden und nicht recht volksgemäßen zu leiden hatte (denken Sie an Punkt 19 des Nationalsozialistischen Parteiprogramms). Inzwischen haben sich Staub und Schlachtenlärm etwas gelegt. Das erlaubt einen klareren Überblick über die Rechtsentwicklung dieses Jahrhunderts. Vier Hauptrichtungen lassen sich unterscheiden: die von ihren Gegnern etwas tendenziös als "Besudeler" bezeichneten Befürworter immer weiteren Vordringens des englischen Rechts, die sich am kontinentalen ius commune orientierenden Puristen, die auf ein Zurückgehen zu den römischholländischen Wurzeln drängende antiquarische Schule und die sich am status quo orientierenden Pragmatiker. Ein in Deutschland ausgebildeter Juraprofessor wäre sein Brot nicht wert, wenn er nicht alle vier Theorien für falsch oder zumindest unbefriedigend halten würde. and their Influence on the 1udgments of the Appellate Division in Selected Areas, LIM-thesis, Natal, 1981; C.F. FO~lh: In Danger for Their Talents. A Study of the Appellate Division of the Supreme Court of South Africa from 1950-80, Cape Town, Wetton, 10hannesburg 1985, S. 182 ff. 34 Hierzu Ben BeinaT1: The South African Appeal Court and 1udicial Review, MLR 21 (1958) S. 587 ff.; HahlolKahn (Fn. 25), S. 151 ff.; D.H. van l\Yk: 1udicial Review in the Republic ofSouth Africa, 1öR 29 (1980) S. 677 ff. 35 Ellison Kahn: Oliver Deneys Schreiner: A South African, in: Fiat 1ustitia, Essays in Memory ofOliver Deneys Schreiner, Cape Town, Wetton, 10hannesburg 1983, S. 1 ff. 36 Vgl. insbesondere Edwin Cameron, Legal Chauvinism, Executive-mindedness and 1ustice - L.C. Steyn's Impact on South African Law, SAU 99 (1982) S. 38 ff.
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Zunächst einmal: es dürfte heute keinen selbsteingestandenen Besudeler mehr geben37 • Niemand befürwortet mehr den Rückgriff auf englisches Recht um jeden Preis. Freilich fmden sich viele stark englisch-rechtlich orientierte Autoren und Richter unter den Pragmatikern38 • Pragmatismus gilt im englischen Sprachraum sowieso als eine Tugend, und unter ihrem respektablen Mantel läßt sich ein immer stärkeres Absehen von römisch-holländischen Quellenstudium trefflich verbergen. Führende Pragmatiker konzentrieren sich heute in ihren Lehrbüchern ausschließlich auf eine Rechtsvergleichung innerhalb des Commonwealth, fordern die Abschaffung des Lateinstudiums39 für Juristen und wünschen eine stärker praxisorientierte Ausbildung: weniger Grundlagenfächer wie Römisches Recht, mehr Spezialwissen. Ganz abgesehen von der Fragwürdigkeit eines derartigen Modells der Juristenausbildung im allgemeinen ist deutlich, daß dies zu einer Erosion des römisch-holländischen Rechts führen muß. Insgesamt läßt sich nicht Übersehen, daß die sogenannten Pragmatiker häufig den einfacheren, nicht notwendig den besseren Weg suchen. In diesem Sinn waren auch die erwähnten Richter des 19. Jahrhunderts, die dem englischen Recht erst den Weg bereiteten, Pragmatiker.
3. Römisch-holländisches Recht: die europäische Perspektive Die Anhänger der antiquarischen Schule drängt es zurück zu den Wurzeln des eigenen Rechts. Sie wollen nicht nur das englische Recht ausmerzen, sondern betrachten auch den Rückgriff auf französische, deutsche oder italienische Autoren als illegitim. Sie betonen, daß es speziell römisch-holländisches Recht war, das am Kap rezipiert worden ist. Nur holländische Autoren (wie Grotius, Voet oder Groenewegen) könnten deshalb als autoritative Rechtsquellen betrachtet werden40. - Hiergegen läßt sich zunächst einmal sagen, daß dies eine gänzlich rückwärtsgewandte Attitüde ist. In den Worten 37 Vgl. früher etwa Union Govemment v. National Bank of S.A. Ltd., 1931 AD 121; Baumann v. Tbomas, 1920 AD S. 428 (434 f.); sowie das Lehrbuch von Robin Gordon McKerron: Tbe Law of Delict (zuletzt in 7. Aufl., Cape Town, Wetton, Iohannesburg 1971); dazu vgl. die Besprechung von N.J. Vati der Merwe: (1965) 28 THRHR 160 ff. 38 Unter ihnen, an prominenter Stelle, Professor Paul Boberg; vgl. seine programmatische Antrittsvorlesung (1966) 83 SAU 150 ff. sowie neuerdings sein Werk Tbe Law of Delict I: Aquilian Liability, Cape Town, Wetton, Iohannesburg 1984. 39 Zum Kampf um das Latein als Zulassungsvoraussetzung für das Iurastudium in Südafrika vgl. unter etwas anderem Aspekt (nämlich dem der Ausbildung einer zunehmenden Zahl schwarzer Studenten), Zimmennann (Fn. 31), S. 992, 1012 ff. 40 Vgl. in diesem Sinn etwa Trust Bank van Afrika, Bpk. v. Eksteen, 1964 (3) SA 402 (A) 410 f. (per Steyn, C.I.); Iohaadien v. Stanley Porter (paarI) Pty. Ltd., 1970 (1) SA 394 (A); Paul van Wannelo: Die Huidige Posisie van die Romeinse Reg, in Suid-Afrika, 1979 Obiter 191 ff.; neuerdings noch Magna AIloys and Research (SA) (Pty.) Ltd. v. Ellis, 1984 (4) SA 874 (A) 890 f. (per Rabie C.J). Kritisch hierzu vgl. J. T. Schoombee: Arguments in Restraint of Trade: Tbe Appellate Division Confirms New Principles, 1985 (48) THRHR 127 ff.
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von Mr. lustice Holmes: "Lot's wife looked back"41. Hierzu kommt ein Gesichtspunkt, der als Kritik an einer historischen Rechtsschule vielleicht zunächst überraschend klingen mag: ihre Betrachtungsweise ist fundamental ahistorisch. Römisch-holländisches Recht läßt sich nämlich nicht in der Isoliertheit betrachten, mit der wir heutzutage gewohnt sind, über holländisches, deutsches oder auch peruanisches Recht zu reden. Eine derartige nationalistische Vereinzelung der Rechtswissenschaft ist erst das Produkt des 18. und 19. Jahrhunderts. Sie steht in einem geistesgeschichtlichen Zusammenhang mit der KodifIkationsbewegung in den Monarchien der Aufklärungszeit, mit dem Wachsen des Nationalgefühls und national staatlicher Bestrebungen und mit romantischen Ideen über den Ursprung des Rechts im Volksgeist42 In den vorangegangenen Jahrhunderten fmden wir ein gänzlich anderes Bild. Vom Ausgang des Mittelalters bis hin zur französischen Revolution einte und umspannte alle Länder West- und Zentraleuropas ein Aemeinsames common law und eine gemeineuropäische Rechtswissenschaft . Beide basierten vor allem auf römischem und kanonischem Recht und waren Teil einer spezifisch europäischen Kultur, die während der sogenannten Renaissance des 12. Jahrhunderts entstand44 . "In the Middle Ages, " und ich zitiere aus dem Buch von David Knowles 45 , "the whole of educated Europe formed a single and undifferentiated unit. It was the age of Lanfranc of Pavia, Bec and Canterbury; of Anselm of Aosta, Bec and Canterbury; ... of Vacarius of Oxford and York; of John of Salisbury, Paris, Benevenuto, Canterbury and Chartres; of Thomas of Aquina, Cologne, Paris and Naples". Gleiches läßt sich für die Entwicklung und Pflege des römisch-kanonischen ius commune sagen, und zwar nicht nur für das Mittelalter, sondern für die gesamte Zeit bis hin zum Ende des usus modernus46. Henricus Zoesius lehrte an den Hochschulen von Salamanca und Löwen, Franciscus Hotomannus unter anderem in Straßburg, 41 Ex parte Winnar, 1959 (1) SA 837 (N) 839. 42 Vgl. etwa Franz Wieacker: Der Kampf des 19. Jahrhunderts um die Nationalgesetzbücher, in: Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, FrankfurtlMain 1974, S. 79 ff.; Klaus Luig:
Die Theorie der Gestaltung eines nationalen Privatrechtssystems aus romisch-deutschem Rechtsstoff, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, FrankfurtlMain 1974, S. 217 ff.; H01'$t Heinrich Jakobs: Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht nach der Rechtsquellenlehre des 19. Jahrhunderts, Paderbom 1983.
43 Vgl. insbesondere Helmut Coing: Die urspüngliche Einheit der europäischen Rechtswissenschaft, Wiesbaden, FrankfurtlMain 1968. 44 Vgl. Charles Homer Haskins: Renaissance of the Twelfth Century, Cleveland rold J. Berman: Law and Revolution, CambridgelMass., London 1983.
1927;
Ha-
45 The Evolution ofMedieval Thought, New York 1962, S. 80 f.
46 Diese Erkenntnis ist der Ausgangspunkt von Helmut Coings opus magnum Europäisches Privatrecht, Band I, Älteres Gemeines Recht (1500 bis 1800), München 1985. Aus englischer Perspektive vgl. Anhur Duck: De Usu et Authoritate Juris Civilis, Romanorum in Dominiis Principium Christianorum, London, Bologna 1653; hierzu Norben Hom: Römisches Recht als gemeineuropäisches Recht bei Arthur Duck, in: Waller Wilhelm (Hg.), Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, FrankfurtlMain 1972, S. 170 ff.
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Bourges und Basel. Matthias Wesenbeck wurde in Antwerpen geboren, studierte in Löwen und Jena und wurde Professor in Jena und Wittenberg. Johann Friedrich Böckelmann war Professor in Heidelberg und Leiden, Johann Gottlieb Heineccius in Franeker, Frankfurt an der Oder und Halle, Andreas Fachinaeus in Ingolstadt und Pisa, Alberico Gentili studierte in Pisa und wurde Professor in Oxford. Die Deutschen Johann Jacob Wissenbach, Antonius Matthaeus 11 und Samuel Pufendoifwaren Professoren in Franeker, Utrecht und Lund, der Spanier Antonius Perezius lehrte in Löwen und der Franzose Donellus in Heidelberg, Leiden und Altdorr47 • Hugo Grotius' Werk De jure belli ac pacis hatte am Ende des 17. Jahrhunderts in Deutschland Holland, Italien und der Schweiz 40 Auflagen erlebt; außerdem gab es zehn französische, sieben englische und sechs deutsche Übersetzungen sowie eine italienische48 • Heineccius' Elementajuris civilis wurden an Universitäten wie Halle, Pavia, Bologna, Krakau und Oxford als Lehrbücher benutzt. Sie erschienen in insgesamt 75 Auflagen in Deutschland, Italien, der Schweiz, Österreich, Belgien, Frankreich und Spanien. All dies sind Beispiele: Beispiele, in den Worten von Coing, für die ursprüngliche Einheit der europäischen Rechtswissenschaft49 . Teil dieser jahrhundertealten Tradition eines Europäischen Privatrechts war das römisch-holländische Recht50 . Wenn dies im Jahre 1652 an das Kap der Guten Hoffnung verpflanzt wurde, so ergibt sich daraus, daß auch der voroder supranationale Charakter dieses Rechts in Südafrika fortlebt. In der Tat wäre den klassischen römisch-holländischen Autoren ein Provinzialismus der von den Anhängern der antiquarischen Schule vertretenen Art völlig fremd gewesen. - Sieht man nun auf die Praxis der südafrikanischen Gerichte in der Anwendung des römisch-holländischen Rechts, so läßt sich ein gewisser Widerspruch zwischen antiquarischer Theorie und einer sehr viel offeneren Praxis nicht übersehen. Dies läßt sich besonders gut am Beispiel des Einflusses von Pothier zeigen. Pothier, der "Vater" des code civil, war im engen Sinne natürlich kein römisch-holländischer Autor, und demgemäß haben die Gerichte seinen Werken in den Entscheidungen, in denen sie die Frage der Rechtsquellenlehre einmal ausdrücklich thematisiert haben, autoritative Bedeutung versagt51 • Die Praxis sieht freilich anders aus. Insbesondere im Be47 Weitere Beispiele speziell hinsichtlich der im 17. Jahrhundert an niederländischen Hochschulen lehrenden Professoren, in: Juristenzeitung 1990, S. 836. 48 All diese Zahlen bei Coing (Fn. 43), S. 160 tT. 49 Vgl. etwa, neben dem soeben genannten Werk, Helmut Coing: Die europäische Privatrechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet, Ius Commune 1 (1967) S. 17 tT.; den., Allgemeine Grundlagen der Rechtsentwicklung, in: Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Band I, München 1973, S. 25 tT. 50 Näher zum europäischen Charakter des niederländischen Privatrechts des 17. Jahrhunderts Zimmennann (Fn. 22), S. 837. 51 Gerber v. Wolson, 1955 (1) SA 158 (A) 170 f.; Wolson v. Gerber, 1954 (3) SA 94 (I) 99.
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reich des Obligationenrechts hat Pothier erheblichen Einfluß ausgeübt, und es läßt sich zeigen, daß seine Meinung sich bisweilen durchaus auch dort durchgesetzt hat, wo sie nicht von holländischen Autoren antizipiert oder rezipiert worden ist52 . Die Regel, daß nicht jeder error in persona den Konsens ausschließt, läßt sich hier nennen; im Anschluß an Pothier gehen die südafrikanischen Gerichte davon aus, daß ein Vertrag trotz Irrtums einer Partei dann zustandegekommen ist, wenn die Identität der Person nicht Bestandteil der Einigung geworden ist53 • Die berühmte contemplation-Theorie im Schadensersatzrecht bietet ein weiteres Beispiel: der Schadensersatz im Falle von Vertragsbruch beschränkt sich auf solche Schäden, die zur Zeit des Vertragsabschlusses voraussehbar waren54 . Auch etwa die Regel des Kaufrechts, wonach Mangelfolgeschäden dann ersetzt verlangt werden können, wenn es sich bei dem Verkäufer um einen Kaufmann handelt, "[who] publicly professes to have attributes ofskill and expert knowledge in relation to the kind of goods sold "55, geht auf Pothier zurück. Natürlich ist Pothier nur ein Beispiel für meine These, daß der Einfluß nicht im engen Sinne römisch-holländischer Autoren sich weit über das hinaus erstreckt, was man mit der bisweilen geäußerten offiziellen Rechtsquellendoktrin vereinbaren kann. Denken Sie nur an die beiden eingangs erwähnten Fälle mit ihrer eindrucksvollen Liste italienischer und spanischer Autoren des ius commune. Wie ich versucht habe zu zeigen, ist an der Heranziehung derartiger Autoren überhaupt nichts auszusetzen. Hierin spiegelt sich wieder, daß das südafrikanische ius commune jedenfalls weithin tatsächlich in einer ius commune gemäßen Weise angewendet wird, oder anders formuliert: hierin erweist sich die Natur des südafrikanischen Privatrechts als eines usus hodiemus pandectarum.
52 Hierzu näher Reinhard Zimmennann: Der Einfluß Pothiers auf das römisch-holländische Recht in Südafrika, ZSS 102 (1985) (GA) S. 168 ff. 53 Gounder v. Saunders & others, 1935 NPD 219; vgl. auch Bird v. Sumerville & another, 1961 (3) SA 194 (A) 204; Landsbergen v. Van der Walt, 1972 (2) SA 667 (R) 669; Alastair James Kerr: Tbe Principles of the Law of Contract, 3. Aufl., Durban 1980, S. 26 ff. Diese Regel basiert auf Pothier: Traite des obligations, in: Roben Joseph Pothier, Oeuvres, Paris 1823, Bd.I, § 19. Für das römische Recht vgl. demgegenüber Cels. D. 12, 1,32. 54 Hadley v. Baxendale, (1854) 9 Exch. 341 (354); Victoria Falls & Transvaal Power Co. Ud. v. Consolidated Langlaagte Mines Ud., 1915 AD 1 (22). Ausgangspunkt für diese Lehre ist Pothier: Traite des obligations (Fn. 53), § 160; vgl. aber bereits Molinaeus: Tractatus de eo quod interest, in: Omnia quae extant opera, Parisiis 1681, Bd.3, §§ 49 ff. 55 Kroonstad Westelike Boere-Kperatiewe Vereniging Bpk. v. Botha & another, 1964 (3) SA 561 (AD) 571 (per Hornes, J.A.). Vgl. hierzu Pothier: Traite des obligations (Fn. 53), § 163; ders., Traite du contrat de vente, in: Roben Joseph Pothier, Oeuvres, Paris, 1823, Bd.2, § 214. Näheres zu dem einigennaßen komplizierten Rezeptionsvorgang bei Reinhard Zimmermann, (1985) 102 ZSS (GA) 185 ff.
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4. Zum Verhältnis zwischen (kontinentalem) ius commune und (englischem) common law Sie werden fragen, was angesichts dessen an der vierten der erwähnten Schulen des südafrikanischen Privatrechts, der Puristenbewegung, auszusetzen ist. Sie befürwortet doch immerhin eine Hinwendung nicht nur zum holländischen Recht des 17. Jahrhunderts, sondern zum kontinentalen Recht auf breiterer Front56 . Was hieran jedoch stört, ist im Grunde derselbe Gesichtspunkt, der an den Protagonisten des englischen Rechts auszusetzen war. Es ist eine Attitüde, die nicht nur in der südafrikanischen Wissenschaft, sondern auch im öffentlichen Leben viel Unheil gestiftet hat und noch stiftet: eine Haltung des militanten Denkens in Freund-Feind-Kategorien, des kompromißlosen entweder/oder und der radikalen Ausgrenzung. Dem skrupellosesten Besudeler und dem erzkonservativen Puristen ist nämlich eine!; gemein: die unreflektierte Annahme einer prinzipiellen und fundamentalen Verschiedenheit vom englischem common law und kontinentalem ius commune. Es ist diese Annahme, die ich bestreiten möchte. Ich meine nämlich, daß sich das englische common law zu einem nicht ganz unbeträchtlichen Teil als eine Provinz des ius commune begreifen läßt und daß es unter diesem Blickwinkel möglich, wünschenswert und historisch legitim ist, an die Stelle des unproduktiven Antagonismus das Bemühen um eine fruchtbare Synthese zu stellen. Ich kann die in meinen Augen maßgeblichen Gesichtspunkte hier nur anreißen. Die nachdrückliche Betonung der Andersartigkeit des englischen common law spiegelt zunächst einmal die Vorstellung der Engländer von ihrem eigenen Recht als einem einheimischen Gewächs und als einer stolzen nationalen Errungenschaft wider57 • "Nolumus leges Angliae mutari", waren die Worte der Barone von Merton. Diese Vorstellung hat viele Wurzeln. So ist etwa der Aufstieg des englischen common law im 17. Jahrhundert untrennbar mit der Geschichte des Parlamentarismus und der konstitutionellen Monarchie verbunden. In dem Streit zwischen Krone und Parlament wurde im römischen Recht alsbald ein Machtinstrument der Stuarts gesehen, das deren absolutisti-
56 Als führender Purist gilt Professor Johannes Christiaan de Wet (Stellenbosch, Kapstadt), der insbesondere mit seinen beiden Lehrbüchern (De Wet en Yeats, Die Suid-Afrikaanse Kontraktereg en Handelsreg, nunmehr in 4. Aufl., Durban 1978 und Oe Wet en Swanepoel, Die Suid-Afrikaanse Strafreg, nunmehr 4. Aufl., Durban, 1985) einen kaum zu unterschätzenden Einfluß auf Rechtsprechung und Lehre ausgeübt hat. 57 Vgl. auch Frederic William Maitland: The Laws of the Anglo-Saxons, in: The Collected Papers of Frederic William Maitland, Band W, Cambridge 1911, S. 460, der von der fatalen Krankheit selbstzufriedener Insularität spricht, die die Engländer so leicht befällt; der englische Jurist, so Maitland an einer anderen Stelle (Why the History of English Law is Not Written, in: Collected Papers, Band I, S. 488), "knew nothing and cared nothing for any system but his own."
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sche Pläne zu legitimieren bestimmt war58 . (Denken Sie nur an das berühmte princeps legibus solutus aus D. 1, 3, 31.) Hierzu kommt seit der Zeit Heinrichs VIII ein starker Antagonismus gegen die römische Kirche und alle ihre kulturellen Ausstrahlungen, damit also auch gegen das kanonische Recht59 . Dieser regierungsoffizielle Antagonismus führte dazu, daß für lange Zeit der Einfluß des kanonischen Rechts auf England stark unterschätzt wurde60 . Wenn somit die englischen Juristen traditionell dazu neigten, die Unterschiede zwischen common law und civillaw zu betonen, so mußte eine derartige Selbsteinschätzung auch Auswirkungen auf das Bild der kontinentalen Juristen vom englischen Recht haben. Und in der Tat betrachteten diese das common law noch vor gar nicht langer Zeit oft als ein undurchdringliches Geheimnis, dem man sich allenfalls wie einer Religion, aber nicht wie einem rationalen Rechtssystem nähern könne61 • Es ist an der Zeit, derartige Vorstellungen endgültig aufzugeben, statt der Entfernung62 einmal die geschichtliche Nähe von common law und ius commune zu betonen und damit an die Stelle nationaler und ideologischer Vereinzelung eine historische Rechtsvergleichung vor dem Hintergrund der Entwicklung einer wahrhaft europäischen Zivilisation zu setzen63 • Hierzu nur einige Stichworte. Zunächst einmal stand methodisch das ius commune dem common law viel näher als heute häufig angenommen wird64 . Es handelt sich nämlich nicht um 58 Brian P. Levack: The Civil Lawyers in England 1603-1641, Oxford 1973, S. 86 ff. 59 Vgl. insbesondere das berühmte Gesetz in Restraint of Appeals aus dem Jahr 1533, das darauf abzielte, England zu retten "fromme the anoyaunce as weil of the See of Rome as fromme the auctoritie of other foreyne potentates" (24 Hen 8 I c 12 Präambel). 60 Vgl. hierzu etwa Dieter Giesen: The Imperial Mother and her Papal Daughter. Zum Römischen und Kanonischen Recht in England zwischen Reformation und Restauration, in: De iustitia et iure. Festgabe fiir Ulrich von Lübtow, Berlin, 1980 S. 431 ff. 61 Vgl. Luigi Moccia: English Attitudes to the "Civii Law", Journal of Legal History 2 (1981) S. 160 ff. Die Vorstellung, daß das englische Recht undurchsichtig und irrational ist, scheint auch in England weitverbreitet zu sein. F.H. IAwson widmete deshalb seine Hamlyn lectures (1951) dem Thema "The Rational Strength of English Law". 62 Die aber neuerdings wieder herausgearbeitet wird von R.C. von Caenegem: Judges, Legislators and Professors, Cambridge, London, New York, New Rochelle, Melbourne, Sydney 1987. 63 Vgl. auch Gino Gorla, Luigi Moccia: A "Revisiting" of the Comparison between "Continental Law" and "English Law" (16th-19th Century), Journal of Legal History 2 (1981) S. 153 ff.; Helmut Coing: Common Law and Civil Law in the Development of European CivilizationPossibilities of Comparisons, in: Helmut Coing, /(nut Wolfgong NlJrr (Hg.): Englische und kontinentale Rechtsgeschichte: ein Forschungsprojekt, Berlin 1985, S. 31 ff. Vgl. auch 7heodore F.T. Plucknen, der in dem Vorwort seiner Concise History of the Common Law, 5. Aufl., Boston 1956, die Notwendigkeit betont, "to place the history of English law in its setting of canon, civil and general European law in order to show the intellectual influences which have moulded our own system". 64 Vgl. hierzu etwa die Untersuchungen von Gino Gorla, zusammengefaßt in: Gino GorlalLuigi Moccia, Journal of Legal History 2 (1981) S. 143 ff. sowie Gino Gorla: Unificazione "Iegislativa" e unificazione "guirisprudenziale". L'esperienza dei diritto comune, in: Le nuove frontiere dei diritto e il problema dell'unificazione, Atti dei Congresso internaziOl18le organizzato della FacoltA di Giurisprudenza deli' UniversitA di Bari, 1979, S. 469 ff.; vgl. auch
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abstraktes Professorenrecht und deduktive Begriffsjurisprudenz, sondern weithin um eine jurisprudentia forensis, geprägt von und gerichtet auf eine "communis opinio totius orbis, secundum quem usum semper interpretatio fieri debet"65. Die Protagonisten dieses law in action waren keine trockenen Stubengelehrten, sondern Praktiker wie Molinaeus und Domat, Grotius und Bynkershoek, Huber und Sande, Carpzov und Mevius; und ein wichtiger Teil der Literatur dieser Zeit hatte wenn nicht forensischen, so doch kasuistischen Charakter66 • Weiterhin, und dies ist sicherlich der wichtigste Punkt, war aber England in Wirklichkeit von der kontinentalen Rechtskultur niemals abgeschnitten. Schon in seinem Ursprung war das common law keineswegs englisch; vielmehr handelte es sich, in den Worten von Van Caenegem, um "a species of continental feudal law develow !:nto an English system by kings and justices of continental extraction" 7. Uber Jahrhunderte hinweg hat das römisch-kanonische ius commune entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung des common law ausgeübt68 • Denken wir an Bracton, dessen De Legibus et Consuetudinibus An6%liae ein Werk keineswegs insularen, sondern europäischen Charakters ist • Allein, zum Beispiel, das erste Drittel des Werkes enthält Zitate aus nahezu 200 verschiedenen Digestenstellen70. Denken wir an Sir Matthew Hale7l , Sir John Holt n und John Austin73 oder auch an Blackstone, der im das von lohn H. Baker, in Coing/Nörr (Fn. 63), S. 49 ff. skizzierte Forschungsprogramm sowie nunmehr dessen Ausführung in lohn H. Baker (Hg.): Judicial Records, Law Reports and the Growth of Case Law, BerIin 1989. 65 Vgl. Gino Gorla: La ·communis oginio totius orbis· et la reception jurisprudentielle du droit au cours des XVIe , XVIIe et XVIII siecIes dans la "civillaw" et la "common law", in: Mauro Cappelletti: New Perspectives for a Common Law ofEurope, Florenz 1978, S. 54 ff. 66 Vgl. z.B. Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 215; weitemin die Beiträge in Helmut Coing (Hg.): Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Band 11, 2, München 1976, S. 1113 ff. sowie Peter Stein: Civil Law Reports and the Case of San Marino, in: Römisches Recht in der europäischen Tradition, Symposion aus Anlaß des 75. Geburtstags von Franz Wieacker, Ebelsbach 1985, S. 323 ff.; sowie insbesondere neuerdings die Beiträge in Baker (Fn. 64). 67 Tbe Birth of the English Common Law, Cambridge 1973, S. 110; vgl. auch Maitland: Why the History of English Law is not written, in: Collected Papers, Band I (Fn. 57), S. 490. 68 Vgl. allgemein lohn C. Banon: Roman Law in England, Ius Romanum Medii Aevi, Pars V, 13a, Mediolani 1971. 69 Fritz Schulz: A New Approach to Bracton, (1944) 2 Seminar 42. 70 Samuel E. 1horne (Hg., Übers., Komm.): Bracton Oe Legibus ct Consuetudinibus Angliae, Band I, CambridgelMass. 1968, S. XXXVI. Vgl. auch S. XXXIII: "[Bractonl was a trained jurist with the principles and distinctions of Roman jurisprudence firmly in his mind, using them throughout his work, wherever they could be used, to rationalize and reducc to order the results reached in English courts. Roman law supplied hirn not only with a number of concepts under which his English matter could be subsumed, and thus fashioned, for the first time, into an articulated system of principles, but with a precise technical vocabulary, infinitely more subtle than the language of the plea roUs, with which to describe and analyze it". Vgl. auch Banon (Fn. 68), S. 13 ff. 71 Zu ihm Peter Stein: Roman Law and English Jurisprudencc Yesterday and Today, London 1969, S. 7 ff.; Daniel R. Coquillette: Tbc Civilian Writers of Doctors' Commons, London, Berlin 1988, S. 264 ff.
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Grunde ein civilian war, und dessen berühmte Commentaries on the Laws of England von der Idee eines gemeineuropäischen Rechtes inspiriert sind74. Denken wir an den enormen Einfluß des kanonischen Rechts. Die ecc1esiastical courts verfügten auch und gerade in England über eine weitreichende Jurisdiktion, die sich vom Eherecht zum Testamentrecht, von Beleidigungssachen zu laesio fidei erstreckte75; und für die englischen Kirchengerichte hatte das kanonische Recht dieselbe Verbindlichkeit wie auf dem Kontinent76. Von ihnen übernahmen die Lordkanzler die Grundzüge des Verfahrensrechtes für ihren Court of Chancery77. Bis zur Zeit Heinrichs VIII waren die Lordkanzler für gewöhnlich Geistliche, die sowohl im römischen als auch im kanonischen Recht versiert waren78. Dies prägte weite Bereiche der equity jurisprudence. Schließlich war es auch das gemeineuropäische ius utrumque, das an den beiden englischen Universitäten Oxford und Cambridge unterrichtet wurde, seit der Reformation allerdings nur noch römisches Recht79 • Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden akademische Grade im englischen Recht verliehen80 • Es gab damit stets eine nicht unbedeutende
72 Zu ihm Coquilerre (Fn. 71), S. 271 ff. 73 A.ndreas B. Schwan: John Austin und die. deutsche Rechtswissenschaft seiner Zeit, in: Rechtsgeschichte und Gegenwart. Gesammelte Schriften zur neueren Privatrechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, Karlsruhe 1960, S. 73 ff. 74 Maitland (Fn. 67), S. 489; A.. W. B. Simpson: The Rise and Fall of the Legal Treatise: Legal Principles and the Forms of Legal Literature, University of Chicago Law Review 48 (1981) S. 655. 75 Vgl. z.B. Brian L. Woodcock: Medieval Ecclesiastical Courts in the Diocese of Canterbury, London 1952. 76 Vgl. insbesondere Frederic William Maitland: Roman Canon Law in the Church of England, London, 1898; dazu Charles Donahue Jr.: Roman Canon Law in the Medieval English Church: Stubbs vs. Maitland Re-examined after 75 Years in the Light ofSome Records from the Church Courts, Michigan LR 72 (1973-74) S. 647 ff.; ders., Church Court Records on the Continent and in England, in: CoinglWolfgang NÖlT (Fn. 63), S. 63. 77 Vgl. z.B. Helmut Coing: English Equity and the Denunciatio Evangelica of the Canon Law, LQR 71 (1955) S. 223 ff.; Barton (Fn. 68), S. 50 ff. 78 Die meisten von ihnen waren Absolventen der Universität Oxford. "[I]t is hardly conceivable, if [theirl careers ... are borne in mind, that as judges in conscience they could avoid deriving ideas from the canon and civillaw": A.. W. B. Simpson: A History ofthe Common Law ofContract, The Rise ofthe Action of Assumpsit, 1975, Oxford, S. 400; vgl. weiterhin Wil/iam P. Barbour: The History ofContract in Early English Equity, 1974, New York, S. 163 ff. 79 Dagegen wurde in den ecclesiastical courts auch nach der Reformation weiterhin kanonisches Recht angewendet, allerdings nur soweit es nicht anzusehen war als "contraryant nor repugnant to the lawes statutes and customes of this Realme nor to the damage or hurte of the Kynges prerogatyve RoyalI": 25 Hen 8 c 19 s 7; vgl. Dieter Giesen: The Imperial Mother and her Papal Daughter, in: Festgabe für U1rich von Uibtow, Berlin 1980, S. 422 ff. Aus zeitgenössischer Sicht vgl. Thomas Ridley: A View of the Civile and Ecclesiasticall Law: And wherein the Practice ofthem is streitned and may be relieved within this Land, London 1607. 80 Die juristische Fakultäten in Oxford und Cambridge folgten dem kontinentalen Modell. Der Unterricht des römischen Rechts in Oxford begann mit dem in Bologna ausgebildeten Magister Vacarius, etwa in der Mitte des 12. Jahrhunderts. Zu Einzelheiten vgl. H.G. Richardson: The Oxford Law School under John, LQR 57 (1941) S. 319 ff.; Kutlner/Rathbone, Traditio 7
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Gruppe gelehrter Juristen in England, civilians, die die Tradition als europäisches ius commune wachhielten81 • Sie gründeten die Society of Doctor's Commons82 , übernahmen einflußreiche Positionen in Verwaltung und Gerichtsbarkeit83 und produzierten eine reiche Literatur84 , die sich, unter anderem, mit der Anwendung des römischen Rechts in England beschäftigte85 . Zu denken ist schließlich an die treatise writers des 19. Jahrhunderts, die versuchten, das englische Recht in systematischen Abhandlungen niederzulegen86 . Sie taten damit, was kontinentale Juristen seit Jahrhunderten
(1949-1951) S. 279 ff. Lehrstühle des common law wurden zunächst in den Vereinigten Staaten eingerichtet, schließlich (Mitte des 19. Jahrhunderts) auch an der Universität London. Vgl. William S. Holdswonh: A History of English Law, Band XII, London 1938, S. 100 ff., Band XV, London 1965, S. 231 ff.; Richard M. Jackson: Tbe Machinery of Justice in England, 7. Aufl., Cambridge 1977, S. 434 ff. 81 Ein Leitfaden ·to one, that would begin to study the civil and Ecclesiastical Law· aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts schrieb das Studium der großen Kanonisten des Mittelalters wie Hostiensis und Panonnitanus vor; vgl. Giesen (Fn. 79), S. 450. Was das römische Recht betrifft, so empfahl William Fulbecke: A Direction or Preparative to the Study of Lawe das Studium folgender Autoren: Banolus, Baldus, Paulus de Castro, Phi/lips, Decius, Alciatus, Zasius, Budaeus, Duarenus, Cujacius, Hotomannus, Donellus und Albericus Gentilis (Regius Professor of Civil Law seit 1587). 82 William Senior: Doctors' Commons and the Old Court of Admiralty, London 1922; G.D. Squibb: Doctors' Commons, Oxford 1977; allgemein zu den civilians vgl. Brian P. Levack: Tbe Civil Lawyers in England 1603-1641, Oxford 1973; Giesen (Fn. 79), S. 446 ff. sowie neuerdings vor allem ausführlich Coquillene (Fn. 71), passim. 83 Zu den beruflichen Möglichkeiten der civilians vgl. Levack (Fn. 82), S. 21 ff.; Helmut Coing: Das Schrifttum der englischen Civilians und die kontinentale Rechtsliteratur in der Zeit zwischen 1550 und 1800, lus Commune 5 (1975) S. 111 ff.; Coquillene (Fn. 71), S. 29 ff. 84 Detaillierte Angaben bei Helmut Coing, lus Commune 5 (1975) S. 16 ff.; Herben F. Jolowicz: Some English Civilians, Current Legal Problems 2 (1949) S. 139 ff.; Coquillette (Fn. 71), S. 44 ff. Es gab sogar eine Zeit (die ersten Jahnehnte des 16. Jahrhunderts), als die Vorherrschaft des englischen Rechts ernsthaft bedroht erschien; so jedenfalls Frederic William Maitland in seiner berühmten Rede Lecture mit dem Titel Er.glish Law and the Renaissance, in: Helen M. Cam: Selected Historical Essays of F.W. Maitland, Cambridge 1957, S. 135 ff. (141). Hierzu neuerdings Da.fydd Jenldns: English Law and the Renaissance, Eighty Years On: In Defence ofMaitiand, Journal ofLegal History 2 (1981) S. 107 ff. 85 Vgl. das oben Fn. 46 bereits erwähnte Werk von Anhur Duck, das eine gründliche Studie über ·Tbe Use and Authority of the Civil Law in the Kingdom of England· enthält, die, in Übersetzung, auch erschienen ist innerhalb des Werkes von Claude Joseph de Ferriere: Tbe History of the Roman or Civil Law, 1724; vgl. weiterhin v.a. Roben Wiseman: Tbe Law of Lawes or the Excellency ofthe Civil Law Above the Other Human Laws, London 1656. Ein Vergleich zwischen civil law und common law findet sich bei William Fulbecke: A Parallele or Conference of the Civill Law, the Canon law and the Common Law of this Realme of England, London 1601. Zum Einfluß der civilians auf das common law vgl. Danie/ R. Coquillette: Legal Ideology and Incorporation I: Tbe English Civilian Writers, 1522-1607, Boston University Law Review 61 (1981) S. 1 ff. ( .... the English civilians ... succeeded better than they knew ... Ironically, their most lasting contributions to the substantive law would be because of their influence on great common law jurists ... Among these common law jurists were Francis Bacon, John Seiden, Matthew Haie, John Holt, William Murray, and even Jeremy Bentharn· (S. 7, 9). 86 Vgl. vor allernA. W. B. Simpson, University ofChicago Law Review 48 (1981) S. 632 ff. Zum Tbema England und kontinentale Rechtsliteratur allgemein vgl. Peter Stein, in: Coing/Nörr (Fn. 63), S. 77 ff.
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getan hatten87 , und es kann daher nicht überraschen, daß sie von diesen in ganz weitreichendem Maße beeinflußt wurden. So waren es römisches Recht, Domat, Grotius und Pufendoif, Pothier und Savigny, die beispielsweise an der Wiege des modemen englischen Vertragsrechts standen88 • Wiederum sei nur als kleines Beispiel erwähnt, daß in all den vorhin erwähnten Fällen einer Pothier-Rezeption in Südafrika Pothier auch das englische Recht beeinflußt hat89 . So ist die contemplation-Theorie im Schadensersatzrecht in der berühmten Entscheidung Radley v. Baxendale90 übernommen worden, von wo sie übrigens über Rabel, Wilburg und von Caemmerer in wissenschaftlich verfeinerter Weise in Form der Lehre von der Zurechnung nach dem Schutzzweck des Vertrages auch in die deutschen Lehrbücher und Kommentare eingegangen ist91 • Zu Pothier heißt es in einer Entscheidung aus dem Jahre 1822 "[that his] authority is as hi~h as can be had, next to the decision of a Court of Justice in this country" 2. Dies war der Geist in dem viele dieser treatise-writers ihre Aufgabe anpackten (und ich zitiere aus dem Vorwort von Sir William iones, Law of Bailments aus dem Jahre 1781, dem ersten Werk dieser Gattung): "I propose to begin with treating the subject analyticaIly, and, having traced every part of it up to the first principles of natural reason, shall proceed historicaIly, to show with what perfect harmony these principles are recognized and established by other nations, especially the Romans, as weIl as by our English Courts, when their decisions are properly understood and clearly distinguished "93. 87 A. W. B. Simpson: hmovation in Nineteenth Century Contract Law, LQR 91 (1975) S. 254. 88 Zum Prozeß der Entstehung eines allgemeinen Vertragsrechts in der Jurisprudenz Englands des 19. Jahrhunderts vgl. insbesondere A. W. B. Simpson, LQR 91 (1975) S. 247 ff.; Patrick S. Atiyah: Tbe Rise and Fall of the Freedom of Contract, Oxford 1979, etwa S. 398 ff., 681 ff. 89 Näheres bei Reinhard Zimmennann, ZSS 102 (1985) (GA) 176 ff. Einige der wichtigsten Werke POlhiers waren während des fruhen 19. Jahrhunderts ins Englische übersetzt worden, so insbesondere der Traite des obligations (durch W.D. Evans, Philadelphia 1802, 2 Bände), der Traite du contrat de vente (durch S. Cushing, Boston 1839), und der Traite du contrat de societe (durch O.D. Tudor, London 1854). 90 (1845) 9 Exch. 341 (156 E.R. 145); vgl. zu dieser Entscheidung etwa die Studie von Richard Danzig, Journal ofLegal Studies 4 (1975) S. 249 ff. 91 Zur Lehre des POlhier hins. der eingeschränkten Relevanz des error in persona vgl. z.B. Lake v Simmons, [1927] AC 487 (501) (per Viscount Haldane); Smith v. Wheatcroft, (1878) 9 ChD 223 (230) (per Fry, J.); J.C. Smirh, J.A.C. 7homas: Pothier and the Tbree Oots, Modern Law Review 20 (1957) S. 38 ff. Zur strikten Haftung des HerstellersNerkäufers für Mangelfolgeschäden vgl. s. 14 of the English Sale of Goods Act sowie die Stellungnahme des "Vaters" dieses Gesetzes, Sir Mackenzie Chalmers, zu Pothiers Traite du contrat de vente (" ... still, probably, the best reasoned treatise on the Law of Sale that has seen the light of day"; Chalmers' Sale ofGoods Act 1979, 18. Aufl., 1981, S. IX.). 92 Cox & others v. Troy, (1822) 5 B & Ald 474 (480) (106 E.R. 1264 (1266» (per Best, J.). 93 S. 4.; vgl. auch William Srrahan in der Einleitung zu seiner einflußreichen Übersetzung von Domats Loix civiles dans leur ordre naturei (Tbe Civil Law in its Natural Order: Together with the Publick Law, London 1722); das Werk enthalte "all the Fundamental Maxims of Law and Equity, which must be the same in all countries" (S. X); 7homas Wood: A New Institute of
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S. Chancen der Synthese im südafrikanischen Privatrecht Natürlich behaupte ich nicht, daß common law und civillaw, oder präzise, common law und ius commune, identisch sind. Woran mir in diesem Zusammenhang liegt, ist die Erforschung historischer Verbindungslinien, von Rezeptionen und Kryptorezeptionen, ist Rechtsvergleichung unter historischen Vorzeichen. In manchen Fällen werden wir finden (und ich zitiere wieder Maitland) , "that the English law never fairly cleared up that great medieval muddle which passes under the name of feudalism";94 die Maschinerie des common law "might seem cumbrous and rusty; some of [its] weapons ... [one may] liken to blunderbusses, apt to go off at the wrong end "95. In anderen Fällen werden wir aber feststellen, daß das englische Recht, mit ein wenig römisch-kanonischer Starthilfe, reife, verfeinerte und praktikable Lösungen entwickelt hat, die auch für civil law Jurisdiktionen vorbildlich sein können96 . Vor allem aber meine ich, daß ein derartig veränderter Blickwinkel, daß die Analyse privatrechtlicher Institutionen im Rahmen einer gemeinsamen europäischen Tradition (oder wie HaroM J. Bennan sagt: of a common Western legal culture) auch heute noch und wieder die Chance einer Synthese eröffnet. Und an diesem Punkt komme ich wieder auf die südafrikanische Rechtsgeschichte zurück. Denn was hier als allgemeines Postulat erhoben wird, fmdet sich in der Praxis des südafrikanischen Privatrechts schon teilweise eingelöst. Es handelt sich somit um einen usus hodiernus pandectarum, der auch das englische Recht mit umgreift97 . Auch hier hat sich das südafrikanische Recht in der Praxis vielfach vollkommen ius commune-gemäß weiterentwickelt und ist über dogmatische Rechtsquellenlehren und über puristischen Professorenstreit schweigend hinweggegangen. So ist es, meine ich, etwa kein Zufall, daß die aufwendigen Erörterungen zur Geschichte des Versicherungsrechts und zum Trust- und Fideikommißrecht in den beiden eingangs mitgeteilten Entscheidungen auf das Ergebnis ohne Einfluß waren. Nehmen Sie die Oudtshoorn-Entscheidung. Natürlich ist es richtig, daß es the Imperial or Civil Law, London 1704, S. XI: "But ifthere is that wide difference between the common and civil laws in their forma of Pleading and manner of Tryal, this is only the stile, practice, and course of the Courts. I contend that there is a mixture in the Principles, Maxims and Reasons of these two Laws: and indeed the Laws of all Countries are mixed with the Civil Law, which have arrived to any degree of perfection. " 94 A Survey ofthe Century, in: Collected Papers, Band m (Fn. 57), S. 438. 95 Maitland: Tbe Making of the German Civil Code, in: Collected Papers, Band m (Fn. 57), S.486. 96 Die Institution des trust fillt möglicherweise in diese Kategorie. Zum Einfluß des englischen trust in Deutschland vgl. Joseph Kohler: Ueber das Recht der Stiftungen, Archiv rur bürgerliches Recht 3 (1890) S. 269 ff.; Ernst Heymann: Trustee und Trustee-Company im deutschen Rechtsverkehr, in: Festschrift rur Heinrich Brunner, 1910, S. 473 ff.; WolJgang Siebert: Das rechtsgeschäftliche Treuhandverhältnis, Marburg 1933. Zum Einfluß des römisch-kanonischen Rechts auf die Entwicklung des englischen trust-Rechts vgl. zuletzt Johnston (Fn. 16), S. 283 ff. 97 In ähnlichem Sinne Visser (Fn. 26), S. 1 ff.
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einen besseren Glauben als guten Glauben nicht geben kann. Man kann weniger als ehrlich, aber man kann nicht ehrlicher als ehrlich sein. Uberrima fides ist insofern keine sinnvolle dogmatische Kategorie. Und doch hat das Gericht die reiche, hierzu entwickelte Kasuistik des englischen Rechts für das südafrikanische Versicherungsrecht durch die Entwicklung vertragsspezifischer Aufldärungs- und Offenbarungspflichten fruchtbar gemacht. Ich erwähnte bereits, daß die faszinierende Struktur des südafrikanischen Trustrechts ein gutes Beispiel für meine These ist. Es handelt sich, rechtsquellenmäßig, um ein ius tripertitum, das, wiewohl es historisch dem englischen Recht viel verdankt, letztendlich doch ius civile ist98 . Lassen Sie mich als konkretes Beispiel im Rahmen des Trustrechts die cy-pres Doktrin erwähnen99 • Sie betrifft speziell zu gemeinnützigen Zwecken errichtete Trusts (trusts for charitable purposes in englischer, oder ad pia causas in römischholländischer Terminologie). Ist ein derartiger Trust fehlgeschlagen, weil der vom Erblasser beabsichtigte gemeinnützige Zweck nicht erreicht werden kann, so kann das Gericht die Verfügung retten, indem es einen dem ursprünglich festgelegten so nahe wie möglich benachbarten Ersatztrustzweck bestimmt (der Ausdruck cy-pres ist wahrscheinlich eine aus dem Law-French stammende Verkürzung von aussi ~res que possible lOO). Die cy-pres Doktrin entstammt dem englischen Recht l I und ist von dort in das südafrikanische Recht übernommen worden. Einen ausbaufähigen römisch-holländischen Anknüpfungspunkt fanden die Gerichte dabei in den seit lustinian den sogenannten piae causae gewährten Privilegien l02 . Hierzu ist anzumerken, daß der Ausdruck pias causa 103 im Lauf der Jahrhunderte eine Bedeutungsverschiebung, insbesondere eine Verweltlichung erfahren hat, aufgrund derer er sich heute mit dem Begriff der charity weitgehend deckt 104 . Historisch nun ist der Vorgang dieser Rezeption umso eher legitim, als die englische cy-pres Doktrin ihrerseits letztendlich dem römischen Recht entstammt. Aus-
98 Honore (Fn. 14), S. 13 f. 99 Ausfiihrlich hierzu Reinhard Zimmermann: Cy-pres, in: Festgabe fiir Max Kaser, Wien, Köln, Graz, 1986, S. 396 ff. 100 Vgl. etwa John H. Baker: Manual of Law French, Avebury 1979, S. 84; R. Kelham: A Dictionary ofthe Norrnan or 01d French Language, Wakefield 1979, S. 55. 101 Michael R. Chesterman: Charities, Trusts and Social Welfare, London, 1979, S. 212 ff.; George Keeton, L.A. Sheridan: The Modem Law ofCharities, 2. Aufl., Belfast, 1971, S. 134 ff.; J.B.E. Hutton: The Law ofCharitable Bequests, Modem Law Review 32 (1969) S. 283 ff. 102 Andreas 1iraquellus: Oe Privilegijs piae causae tractatus, in: Opera omnia, Band V, Francofurti 1574 zählt nicht weniger als 167 solcher Privilegien auf; vgl. auch Justus Henning Boehmer: lus Ecclesiasticum Protestantium, 3. Aufl., Halae Magdeburgicae 1732,3,26, §§ 19 ff. 103 Vgl. etwa Hans-Rudolj Hagemann: Die Stellung der Piae Causae nach justinianischem Rechte, Basel 1953. 104 Vgl. etwa 1iraquellus (Fn. 102), praefatio; Boehmer (Fn. 102), 3, 26 § 12; Marks v. Estate Gluckman, 1946 AD 289 (298 ff.) (per Tindall, I.A.).
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gangspunkt ist ein Digestentext des Modestin (D. 33, 2, 16)105. Hier war einer Stadt ein Vermächtnis hinterlassen worden, aus dessen Einkünften alljährlich zur Bewahrung des Andenkens an den Verstorbenen ein Schauspiel abgehalten werden sollte, dessen Aufführung jedoch, wie sich hemach herausstellte, in dieser Stadt verboten war. Angesichts dessen befürwortete Modestin eine Änderung der Verfügung dahin, daß das Andenken des Testators auf andere und erlaubte Weise gefeiert werde. Dieser umgestaltende Eingriff steht nicht in Konflikt mit dem allgemein das Testamentrecht prägenden Vorrang des Erblasserwillens 106 • Diesem trägt Modestin ja gerade Rechnung, denn in erster Linie ging es dem Erblasser um sein Andenken. In welcher Weise, ob durch Abhaltung dieses oder eines ähnlichen Schauspiels, es bewahrt würde, war demgegenüber von untergeordneter Bedeutung. (Deutlich zu erkennen ist die Parallele zu dem für die Anwendung der cy-pres Doktrin maßgeblichen Kriteriums einer "general charitable intention" des Testators 107 .) D. 33, 2, 16 spielt eine maßgebliche Rolle in dem Urteil von Wilmot, C.J., in AttomeyGeneral v. Lady Downing 108 , der für die cy-pres Doktrin des englischen Rechts historisch maßgeblichen Entscheidung. Damit setzte jedoch der Court of Chancery nur die Tradition der ecclesiastical courts 109 fort, Verfügungen ad pias causas nach Kräften zu begünstigen l1O • Der für die kirchlichen Gerichte maßgebliche Grund für diese privilegierte Behandlung war folgender: Testament und Seelgerät (Ausrüstung für die Seele) waren im Mittelalter nahezu identisch; die fromme Gabe pro animae remedio war domina testamenti, Fürsorge für die Seele Hauptfunktion des Testaments 111 . Wem die Verfügung ad pias causas zugute kam, war, vom Testator aus gesehen, von sekundärer 105 Vgl. hierzu Di Salvo: n legato modale in diritto romano, Napoli 1973, S. 401 ff; Zimmennann (Fn. 99), S. 395 ff. 106 Vgl. etwa Simon van Groenewegen van der Made: Tractatus de legibus abrogatis et inusitatis in Hollandia vicinisque regionibus, Amstelaedami 1669, ad Cod. 1,2, 15. 107 Attorney-General v. Boultbee, 2 Ves. Jun. 379 ff. (1794); Corbeyn v. French, 4 Ves. 418 ff. (1799); Moggridge v. Thackwell, 7 Ves. Jun. 36 ff. (1802); Mills v. Farmer, 1 Mer. 55 ff. (1815) (die beiden letzten Entscheidungen per Lord Eldon); Chestennan (Fn. 101), S. 218 ff.; KeetonlSheridan (Fn. 101), S. 136 ff. Für Südafrika vgl. H.J. Erasmus, in: Lee and Honore, Family, Things and Succession, Durban 1983, n. 702. 1081 Wilm. 1 ff. (1767). 109 Die zunächst für Testamentssachen zuständig waren; vgl. William S. Holdswonh: A History of English Law, Band I, 7. Aufl., London 1956, S. 580 ff., 625 ff.; Band 111, 5. Aufl., London 1942, S. 534 ff.; Frederich Pollock, Frederic William Maitland: The History of English Law before the Time ofEdward I, 2. Aufl., Band ß, Cambridge 1923, S. 333 f. 110 Zur kanonistischen Doktrin vgl. etwa Jacobus Menochius: Consilia sive Responsa, Lib. IX, Francofurti 1599, Consilium 969, S. 218 ff.; vgl. weiterhin etwa Chestennan (Fn. 101), S. 19 ff. 111 Vgl. etwa Philippe Aries: Geschichte des Todes, München 1980, S. 233 ff., 242 ff. Eberhard F. Bruck: Kirchenväter und soziales Erbrecht, Berlin 1956, S. 257 ff.; Hans Liermann: Handbuch des Stiftungsrechts, Tübingen 1963, S. 106 ff.; Alfred Schultze: Der Einfluß der Kirche auf die Entwicldung des germanischen Erbrechts, ZSS 35 (1914) (GA) S. 75 ff., 98 ff., 106 f.; PoliocklMaitland (Fn. 109), S. 337 ff.; Joseph Willard: Illustrations of the Origin of Cy-Pres, Harvard Law Review 8 (1894) S. 69 ff. 6 Schulze
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Bedeutung; wichtig war, daß sie ihm das Seelenheil erkaufte und dazu mußte sie in jedem Falle wirksam sein und notfalls in seinem Interesse, durch umgestaltende Aufrechterhaltung gerettet werden 112 Übrigens ist das Ergebnis einer Aufrechterhaltung cy-pres unter gewissen Voraussetzungen so einleuchtend, daß auch der deutsche Bundesgerichtshof in vergleichbaren Fällen nicht anders verfährt: und dies, obwohl das BGB dafür keine Grundlage bietet, auf Anraten von Friedrich Mommsen sogar auf eine Regelung nach Art von D. 33, 2, 16 ausdrücklich verzichtet hatte 113 • So in einer Entscheidung von 1964 114 . Hier hatte eine reiche Witwe die Stadt N. testamentarisch zum Erben eingesetzt, mit dieser Erbeinsetzung jedoch u.a. die Auflage verbunden, daß ihre Familiengruft auf dem Z.-Friedhof dauernd instandzuhalten sei, und daß für 100 Jahre die Insassen der Blinden- und Krüppelanstalt in N. alljährlich einmal unter den Klängen einer Musikkapelle - am liebsten einer Regimentskapelle - die Gruft besuchen sollten. (Wie Leo Raape so schön sagt: Das Testamentrecht ist ein Tummelplatz für Käuze.) Inzwischen war freilich der Z.-Friedhof aufgelassen, die Familiengruft abgebrochen und durch ein Grab auf dem W.-Friedhof ersetzt worden. Der BGH hielt die Auflagen dennoch für wirksam; dem mit ihnen zum Ausdruck gebrachten Anliegen der Erblasserin könne durch eine andere Art der Vollziehung Rechnung getragen werden.
6. Kodifikationsübergreifende Kontinuitätslinien im deutschen Recht Wenn ich Ihnen hier über das südafrikanische Privatrecht berichtet habe, so geschah dies zwar einerseits, im Sinne von Stolleis , um zu vermessen, was sich auf vielen juristischen Landkarten hierzulande als weißer, allenfalls von Löwen besiedelter Fleck ausnimmt. Darüber hinaus aber meine ich, daß aus den Erfahrungen des südafrikanischen Privatrechts manches zu lernen ist. Das gilt zum einen für die Bemühungen um eine europäische Privatrechtsvereinheitlichung. Das südafrikanische Privatrecht trägt heute noch, wie wir gesehen haben, einen prä- bzw. supranationalen Charakter. Es handelt sich um ein wahrhaft europäisches Privatrecht in action. Sollte dies nicht für ein Europa, das wieder von national staatlicher Vereinzelung weg- und zu größerer rolitischer, wirtschaftlicher und damit auch juristischer Einheit hinstrebt 11 , von 112 Attorney-General v. Lady Downing & others, (1767) 1 Wilm. 1 (33). 113 Entwurf eines Deutschen Reichsgesetzes über das Erbrecht, 1876, S. 225; Begründung des Entwurfes eines Rechtes der Erbfolge für das Deutsche Reich, 1879, S. 329 f. (Gottfried von Schmitt). 114 BGHZ 42, 327 (329 ff.). 115 Vgl. in diesem Zusammenhang etwa Hein Kötz: Gemeineuropäisches Zivilrecht, in: Festschrift für Konrad Zweigert, Tübingen, 1981, S. 481 ff.; die Beiträge in Mauro Cappelletti: New Perspectives for a Common Law of Europe, Florenz 1978; Helmut Coing: Die Bedeutung
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Bedeutung sein? Es gilt zum anderen aber auch für eine urbane und einem weiteren Horizont als lediglich dem BGB verpflichtete Pflege unseres eigenen, des deutschen Privatrechts. Lassen Sie mich abschließend hierzu einige Anmerkungen machen. Das geltende südafrikanische Privatrecht steht in einer bis auf das klassische römische Recht zurückreichenden, lebendigen Tradition. Daraus ergeben sich mindestens zwei für die modeme Privatrechtspflege bedeutsame Gesichtspunkte. Der erste, den ich hier nur deshalb nenne, weil er häufig vergessen wird, betrifft die Juristenausbildung. Wenn römisches Recht noch für die heutige Rechtsanwendung bedeutsam sein kann, muß es eine nach wie vor obligatorische Basis des Rechtsunterrichts bilden. Damit basiert schon die Ausbildung auf Quellen, die über die gesamte abendländische Privatrechtsentwicklung hinaus vorbildlich ~ewesen sind. Nehmen Sie ein praktisches Beispiel (Marci. D. 18, 1,44):11 "Si duos quis servos emerit pariter uno pretio, quorum alter ante venditionem mortuus est, neque in vivo constat emptio". Zwei Sklaven sind zu einem Preis verkauft worden. Einer der Sklaven war bei Abschluß des Vertrages bereits tot. Impossibilium nulla obligatio: anfängliche Unmöglichkeit, daraus folgt Nichtigkeit l17 . Nichtigkeit zunächst aber nur im Hinblick auf den einen Sklaven. Also (sollte man denkent utile per inutile non vitiatur, die normale Richtlinie bei Teilunwirksamkeit 18. Anders jedoch unser Text: der Vertrag ist unwirksam auch hinsichtlich des noch lebenden Sklaven. Der Grund kann nur sein, daß der Rest des Vertrages nicht mehr den Erfordernissen eines wirksamen Kaufvertrages entspricht: die Sklaven waren zu einem Preis verkauft worden. Es fehlt hinsichtlich des lebenden Sklaven an einem certum pretium119 • Will man dem Richter nicht die Befugnis arbiträrer Preisfestsetzung zuerkennen, muß daher auf Totalnichtigkeit erkannt werden: in Abweichung von utile per inutile non vitiatur. Ich meine, daß ein Student bei der Analyse derartiger Texte Wichtigeres lernt, als bei der Lektüre eines ganzen Buches über das Eigentümer-Besitzer-Verhältnis. Bedeutsamer im Rahmen des vorliegenden Themas ist der zweite Gesichtspunkt: nicht nur die Quellen des Römischen Rechts, sondern die gesamten in der europäischen Privatrechtsentwicklung gemachten Erfahrungen stehen zur der europäischen Rechtsgeschichte für die Rechtsvergleichung, RabelsZ 23 (1968) S. 1 ff.; ders., Die historischen Grundlagen der europäischen Rechtseinheit, Jahrbuch der Max-PlanckGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften (1973) S. 14 ff.; ders., Ius commune, nationale Kodifikation und internationale Abkommen: drei historische Formen der Rechtsvereinheitlichung, in: Le nuove frontiere dei diritto e il problema dell'unificazione, Atti dei Congresso internazionale organizzato della FacoltA di Giurisprudenza dell'UniversitA di Bari, 1979, S. 171 ff.; Gorla: Unificatione (pn. 64), S. 469 ff. 116 Vgl. hierzu Hans Hennann Seiler: Utile per inutile non vitiatur, in: Festschrift für Max Kaser, München 1976, S. 130 f. 117 Cels. D. 50, 17, 185; zu allen Einzelheiten vgl. Zimmennann (pn. 10), S. 687 ff. 118 Ulp. D. 45, 1, 1,5 in fine. Vgl. im einzelnen Zimmennann (pn. 10), S. 75 ff. 119 Zimmennann (pn. 10), S. 253 f. 6*
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unmittelbaren Verfügung des Rechtsanwenders, das Treasure House, wie Kantorowicz dies genannt hat l20 , der Tradition des ius commune. Das ist nicht nur äußerst interessant und bildend und eine nie versiegende Quelle von Ideen und Argumenten, sondern hat Auswirkungen für die praktische Rechtsanwendung. Jeder Prozeß der Rechtssetzung und auch der Rechtsanwendung läuft doch Gefahr, allzu sehr der möglicherweise verzerrten Perspektive des Rechtssetzers oder des Rechtsanwenders zu unterliegen. Das gilt für ein case law System wie das südafrikanische ebenso wie für ein kodifiziertes Privatrecht, also etwa das deutsche. Das geltende Recht in dem einen wie dem anderen Falle enthält deshalb Verwerfungen, Unstimmigkeiten und nur zeitbedingt zu erklärende Absonderlichkeiten. Der Blick auf die Rechtsgeschichte lehrt diese zunächst einmal als solche zu erkennen. Er zeigt, daß Präjudizien auf einem einseitigen Blickwinkel beruhen können. Er ermöglicht eine kritische Reflektion des geltenden Rechts und rückt dieses damit in eine Perspektive, die der Rechtsanwender nicht haben kann, der allein auf das case law der letzten 30 Jahre 121 oder auf das BGB fixiert ist. Dabei kann sich etwa ergeben, daß die Entscheidung eines Richters oder Gesetzgebers grundlos und aufgrund von Mißverständnissen von der Tradition abweicht. Es kann sich aber auch etwa umgekehrt herausstellen, daß eine Tradition ganz sinnlos weitergeführt wird, obwohl die für deren Entwicklung maßgeblichen Gründe längst entfallen sind. Ein gutes Beispiel sind die Anwachsungsvermutungen des südafrikanischen Erbrechts. Danach soll bei einem Testament der Art "Titius und Maevius sollen meine Erben sein" bei Wegfall von entweder Titius oder Maevius Anwachsung stattfinden, bei einem Testament mit einem Wortlaut wie "Titius und Maevius sollen zu gleichen Teilen meine Erben sein" demgegenüber aber nicht. In dem einen Falle soll es sich um eine sogenannte coniunctio re et verbis, in dem anderen um eine solche verbis tantum handeln. Diese Differenzierung wird im südafrikanischen Recht allgemein anerkannt l22 ; Übereinstimmung herrscht freilich auch darüber, daß sie eigentlich absurd ist l23 , denn selbstverständlich erben in dem ersten Falle Titius und Maevius auch zu gleichen Teilen. Es läßt sich zeigen l24 , daß die ganze Lehre auf einem Mißverständnis sowohl des römischen als auch des römisch-holländischen Rechts beruht und schadlos über Bord geworfen werden kann. Ein solches Vorgehen läßt sich umso eher rechtfertigen, wenn man bedenkt, daß 120 Bractonian Problems, 1941, S. 126. 121 So programmatisch Proculus Redivivus, SAU 82 (1965) S. 24; P.Q.R. Boberg: The Law ofDelict, Band I, Aquilian Liability, Cape Town, Wetton, 10hannesburg 1984, S. V. 122 Vgl. z.B. Ex parte Knight: In re Estate Gardner, 1955 (3) SA 577 CC) 587; Corbett, Hahlo, Hofmeyr, Kahn (pn. 16), S. 250; Erasmus, in: Lee and Honore (pn. 107), n. 726. 123 Vgl. etwa Administrator of Estate O'Meara v. O'Meara & others, 1943 NPD 144 (149) ("cumbersome and unnatural"). 124 Vgl. im einzelnen Reinhard Zimmennann: "Coniunctio verbis tantum". Accrual, the Methods of 10inder in a Will and the Rule Against Partial Intestacy in Roman-Dutch and Roman Law, ZSS 101 (1984) (RA) S. 234 ff.
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die römischen Anwachsungsvermutungen auch dort, wo sie nicht mißverstanden worden sind (wie z.B. in Deutschland), ebenfalls aufgegeben wurden 125 Sie hängen nämlich mit der römischen Maxime des "nemo pro parte testatus pro parte intestatus decedere potest" 126 zusammen, die bei Miterben von vornherein zu einem notwendigen Anwachsungsrecht führt. Diese Maxime galt jedoch weder im klassischen römisch-holländischen, noch gilt sie im heutigen südafrikanischen oder deutschen Recht. In ähnlicher Weise lassen sich nun auch gewisse Eigentümlichkeiten des BGB zunächst als solche erkennen und sodann in geeigneter Weise abschleifen. Ein derartiger Prozeß des Abschleifens ist in einem kodifizierten System nicht mehr und nicht weniger problematisch als in einem Fallrecht, denn eine Doktrin des stare decisis kann richterlicher Rechtsfortbildung ebenso viel oder ebenso wenig Hindernisse entgegensetzen wie etwa Art. 97 I GG ("Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen"). So ist es denn auch keineswegs erstaunlich, daß sich unter dem BGB derartige die Kodifikationszäsur übergreifende (und relativierende) Traditionslinien durchaus finden lassen. Denken wir nur an § 139 BGB, der, in Abkehr vom römischen und gemeinen Recht im Zweifel Totalnichtigkeit als Folge der Teilnichtigkeit anordnet. Die heutige Rechtsprechung hat sich längst von den Bindungen an diese Norm weitgehend befreit und hat einen ähnlich großen Entscheidungsspielraum in der Beurteilung teilunwirksamer Geschäfte wie die römischen Juristen gewonnen. Nach Seiler ist § 139 demnach ein Relikt aus einer vergangenen Epoche, als eine aus mißverstandener römischer Überlieferung entstandene Regel Veranlassung gab, die Folgen der Teilunwirksamkeit gesetzlich zu fixieren 127
Ein anderes Beispiel bietet die Norm des § 770 11 BGB. Danach kann der Bürge die Befriedigung des Gläubigers verweigern, solange sich der Gläubiger durch Aufrechnung gegen eine fallige Forderung des Hauptschuldners befriedigen kann. Weithin wird dem Bürgen diese Befugnis auch eingeräumt, soweit sich - umgekehrt - der Hauptschuldner durch Aufrechnung gegen die Forderung des Gläubigers befreien kann 128 . Mit dieser Korrektur des Normwortlautes kehrt die herrschende Meinung zu dem unter dem Gemeinen Recht geltenden Rechtszustand zurück. Der BGB-Gesetzgeber hatte 125 Zur Entwicklung vgl. Reinhard Zimmennann, ZSS 101 (1984) (RA) S. 268 ff. 126 Inst. 11, 15, 5; vgl. z.B. Bemhard Windscheid, 1heodor Kipp: Lehrbuch des Pandektenrechts, Band Iß, 9. Aufl., FrankfurtlMain, Aalen 1906, § 537, n. 2; Bruno Schmidlin: Sinn, Funktion und Herkunft der Testamentsregeln: nemo pro parte testatu8 pro parte intestatus decedere potest - hereditas adimi non potest, BIDR 78 (1975) S. 71 ff. 127 Festschrift für Max Kaser (Fn. 99), S. 144 ff., 147. 128 KarlLArenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Band 11, Besonderer Teil, 12. Aufl., München, 1981, § 64 I; Max Vollkommer, in: Jauernig Bürgerliches Gesetzbuch, 4. Aufl., München 1987, § 770, 3 b; Ludwig Enneccerus, Heinrich Lehmann: Recht der Schuldverhältnisse, 15. Aufl., Tübingen 1958, § 19311 2; Windscheid/[(jpp (Fn. 126), Band 11, S. 1088.
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Reinhard Zimmermann
gegenüber dem Gemeinen Recht die Konstruktion der Aufrechnung geändert, die Feinabstimmung mit dem Recht der Bürgschaft ist ihm dabei aber mißlungen, so daß § 770 II zu gerechtigkeitsfremden Widersprüchlichkeiten führt 129 Durch den Rückgriff auf die gemeinrechtliche Tradition lassen sich diese überwinden 130 Den umgekehrten Fall einer aus übermäßigem Traditionsbewußtsein in das BGB aufgenommene Regel, die ihren Sinn heute verloren hat und demgemäß in der Rechtspraxis so weit wie möglich ausgehöhlt wird, bietet § 2065 I BGB - und damit komme ich auf eines der in der Entscheidung Brown v. Blann and Botha behandelten Probleme zurück: "Der Erblasser kann die Bestimmung der Person, die eine Zuwendung erhalten soll, sowie die Bestimmung des Gegenstandes der Zuwendung nicht einem anderen überlassen." Diese Norm geht auf das römische Recht zurück 131 und erklärte sich dort aus dem externen Formalismus des römischen Testamentsrechts 132 • Das Testament war eine förmliche Erklärung, die (u.a.) den Namen des Erben enthalten mußte 133 . Wir betrachten einen derartigen Wortformalismus, der seinerseits u.a. mit der Bedeutung der römischen familia und der Familiensacra zusammenhängt, als überholt. Soweit der Wille des Testators durch Interpretation festgestellt werden kann, ist ihm Rechnung zu tragen. Warum sollte angesichts dessen ein Unternehmer, der sein plötzliches Ableben befürchtet, nicht etwa seiner Frau die Befugnis einräumen dürfen, das für die Unternehmensnachfolge am besten geeignete der gemeinsamen Kinder zu einem Zeitpunkt auszuwählen, zu dem eine derartige Entscheidung sinnvollerweise getroffen werden kann 134? Lehrreich ist hier ein Blick auf ein von den Fesseln des römischen Testamentsfor-
129 Vgl. im einzelnen Reinhard Zimmennann: Die Einrede der Aufrechenbarkeit nach § 770 Abs. 2 BGB - Normwortlaut und Rechtsentwicldung, Juristische Rundschau 1979, S. 495 ff. 130 Als weitere Beispiele für die Wiederkehr von Rechtsfiguren aus dem römischen Recht oder aus dem ius commune lassen sich nennen die actio iniuriarum (Stichwort: Schadensersatz bei Persönlichkeitsverletzungen; dazu Zimmennann (Fn. 10), S. 1050 ff., 1092 ff.), die laesio enormis (Stichwort: Austauschgerechtigkeit; dazu ebd., S. 259 ff., 268 ff.) oder die Quasidelikte (Stichwort: Gefährdungshaftung; dazu ebd. S. 16 ff., 1126 ff.) vgl. allgemein Theo MayerMaly: Die Wiederkehr von Rechtsfiguren, Juristenzeitung 1971, S. 1 ff. 131 Vgl. etwa allgemein UE 22, 4 ("Certum consilium debet esse testantis"). Zur Rechtsgeschichte vgl. Gerhard Immel: Die höchstpersönliche Willensentscheidung des Erblassers, Köln 1965; vgl. auch die Nachweise in Brown v. Blann and Botha NNO & another, 1984 (2) SA 850 (A) 856 ff. 132 Vgl. Max Kaser: Das römische Privatrecht, 1. Abschnitt, 2. Aufl., München 1971, S. 685 ff. 133 Unwirksam daher eine Erbeinsetzung nach dem Muster "Quos Titius voluerit, heredes sunto" (Gai. D. 28, 5, 32 pr.). 134 Zu Versuchen, der Regel des § 2065 11 BGB (die im modemen Recht ein corpus alienum bildet; vgl. §§ 2151, 2193 BGB) auszuweichen, vgl. Harry Weslennann: Die Auswahl des Nachfolgers im frühzeitigen Unternehmertestament, in: Festschrift für Philipp Möhring, Band I, München, Berlin 1965, S. 183 ff.; Bemhard Großfeld: Höchstpersönliche Erbenbestimmmung und Auswahlbefugnis Dritter, Juristenzeitung 1968, S. 113 ff.
Usus Hodiemus Pandectarum
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malismus historisch unbelastetes Recht wie das englische135 • Hier sind sogenannte powers of/Pwintment wirksam, sofern sie nur dem certainty require• Brown v. Blann and Botha ist ein Beweis dafür, daß ment genügen 136 sich diese Ansicht auch im südafrikanischen Recht immer stärker durchzusetzen beginnt138 ; eine Ansicht im übrigen, die letztendlich auch in England zurückgeht auf die von Maitlanti sogenannte Roman mother and her papal daughter l39 • Sehr wahrscheinlich geht die Lehre von den powers of appointment auf ein Reskript Papst Innozenz IIi 40 und auf die im nachklassischen römischen Recht entwickelten Privilegien für Verfügungen ad pias causas zurück 141 7. Die Vitalität des ius commune Genug der Beispiele! Ich habe versucht, Ihnen vorzuführen, wie interessant schon an sich die Beschäftigung mit dem südafrikanischen Privatrecht und sei135 Vgl. z.B. D.M. Gordon: Delegation of Will-making Power, LQR 69 (1953) S. 334 ff.; George Keeton, lionel A. Sheridan: Equity, 2. Auft., London 1976, S. 248 ff.; rechtsvergleichende Analyse bei Eckart SÜMer: Drittbestimmung bei letztwilligen Zuwendungen nach englischem und deutschem Recht, Diss. iur., Regensburg, 1970. 136 Hierzu C. T. Emery: The Most Hallowed Principle - Certainty of Beneficiaries of Trusts and Powers of Appointment, LQR 98 (1982) S. 551 ff. 137 In merkwürdigem Kontrast dazu stehen allgemeine Bekräftigungen, die man mitunter findet, einer "cardinal rule, common to English and Scota law, that a man may not delegate his testamentary power. To him the law gives the right to dispose ofhis estate in favour of ascertained or ascertainable persons". (Chichester Diocesan Fund and Board of Finance (Incorporated) v. Simpson, [1944) AC 341 (HL) 371 (per Lord Simonds». Daraus folgt: "The choice of beneficiaries must be the testator's own choice. He cannot leave the disposal of his estate to others." (Chichester Diocesan Fund and Board of Finance (Intercorporated) v. Simpson, [1944) AC 341 (HL) 349 (per Lord Macmillan». Aber dieser Grundsatz stammt offenbar erst aus der Mitte des letzten Jahrhunderts (In re Goods of Smith, (1869) LR 1 P & D 717 (718 A) (per Lord Penzance»: ein kontinentaler Import während des" Age of Principles" (Atiyah [Fn. 88), S. 345)? Freilich scheint es sich hier um eine Regel ganz ohne praktischen Effekt zu handeln; vgl. D. Campbell: The Enigma of General Powers of Appointment, Res Judicatae 7 (1955-6) S. 244 ff.; I. J. Hardingham, M. A. Neave, H. A. J. Ford: Wills and Intestacy in Australia and New Zealand, Sydney 1983, S. 116 ff. 138 1984 (2) SA 850 (A) 856 ff.; vgl. zuvor bereita Union Govemment (Minister ofFinance) v. Olivier, 1916 AD 74 (89); Westminster Bank Ltd. N.O. & others v. Zinn NO, 1938 AD 57 (65); Van Niekerk v. Van Niekerks's Estate, 1935 CPD 359 (362 f.); Estate Watkins-Pitchford & others v. ClR, 1955 (2) SA 437 (A) 453 ff.; ClR v. Lukin's Estate, 1956 (1) SA 617 (A) 623; Estate Orpen v. Estate Atkinson & others, 1966 (4) SA 589 (A) 594; vgl. weiterhin die Analyse bei M.M. Corben: Discretionary Trusts, Powers of Appointment and the Role Regarding the Delegation ofTestamentary Power, in: Ellison Kahn (Hg.), Fiat Justitia: Essays in Memory ofOliver Deneys Schreiner, Cape Town, Wetton, Johannesburg 1983, S. 188 ff.
139 PolloclclMaitland (pn. 109), Band I, S. 116. 140 X. 3, 26 13; vgl. hierzu Immel (pn. 131), S. 42 ff. 141 Vgl. z.B. C. 1,3,24; 1,3,28; Max Kaser: Das römische Privatrecht, 2. Abschnitt, 2. Auft., München, 1975, S. 488; C. P. Joubert: Die Stigting in die Romcins-Hollandse Reg en die Suid-Afrikaanse Reg, Den Haag 1951, S. 361 ff.
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ner Geschichte ist: mit einem im historischen ius commune verwurzelten europäischen Privatrecht l42 • Mit seiner organischen Einbeziehung der Rechtsgeschichte und historisch begründeter Rechtsvergleichung in die gegenwärtige Rechtspflege eröffnet es eine Perspektive, die auch für die kodifizierten oder unkodifizierten nationalen Rechtsordnungen in Westeuropa fruchtbar sein kann. Harold J. Berman hat in seinem opus magnum mit dem Titel "Law und Revolution" als ein Hauptcharakteristikum unserer Rechtskultur hervorgehoben, "[that i]n the Western legal tradition law is conceived to be a coherent whole, an integrated system, a 'body', and this body is conceived to be developing in time, over generations and centuries ... [T]he concept of a body or a system of law depended for its vitality on the belief of the ongoing character of law, its capacity of growth over generations and centuries - a belief which is uniquely Western. The body of law only survives because it contains a built-in mechanism for organic change. "143 Seine in einer Abfolge von Renaissancen immer weiter vertiefte Verbindung zum römischen Recht und seine Fähigkeit, sich immer neue Einflüsse organisch anzuverwandeln haben die Vitalität des ius commune ausgemacht. Diese Vitalität, von der noch heute das südafrikanische Privatrecht lebt, kann auch dem deutschen Recht zugute kommen: wenn wir einmal unser Augenmerk verstärkt auf die Institutionen, Verfahrensweisen, Werte, Begriffe und Regeln richten, die unser Recht durch seine Geschichte mit den anderen europäischen Rechtsordnungen (einschließlich des englischen common law) teilt: wenn wir, mit anderen Worten, auch das BGB nur als Meilenstein begreifen in der Entwicklung eines usus hodiernus pandectarum.
142 Zur Problematik der Pflege eines derartigen Rechtssystems gerade in Südafrika vgl. demgegenüber Zimmermann (pn. 31), S. 993 f., 1012 ff. 143 Bennan (Fn. 44), S. 9.
Eine Dogmengeschichte des europäischen Zivilrechts? Einige Thesen zum Beitrag der Rechtsgeschichte zu einer europäischen Zivilrechtswissenschaft 1 Von Filippo Ranieri
1. Brauchen wir ein europäisches Zivilrecht? Das Stichwort "europäisches Zivilrecht" ist keinesfalls neu. So forderte etwa anfangs des vergangenen Jahrzehnts Hein Kötz die "Herausarbeitung eines Bestandes allgemeiner Grundsätze des Schuldrechts" , die Entwicklung also der Grundlagen eines gemeineuropäischen Zivilrechts2 . Sein Hauptanliegen lag darin, daß die bisherigen, unzähligen Versuche zur internationalen Rechtsangleichung auf dem Gebiet des Privatrechts immer nur für Teilbereiche Konkretisierung gefunden haben. "Die Rechtsvereinheitlichung" schreibt er - "ist ein Geschäft von fragmentarischem Charakter"3. Die Vereinheitlichung von bestimmten Instituten des internationalen Rechtsverkehrs lasse nämlich die Frage offen, wie sich die internationalen Rechtsregeln in die einzelnen nationalen Zivilrechtssysteme einordnen lassen4 • Wie verhält sich etwa die Haftung des Verkäufers nach dem Wiener Kaufrecht zu der nationalen Regelung der Willensmängel oder der deliktischen Haftung? Gerade eine solche 1 Die Beschränkung des vorliegenden Beitrags auf die thesenartige Skizze einiger Grundgedanken macht vollständige bibliographische Nachweise entbehrlich. Diese werden sich insoweit auf das Nötigste beschränken. Daß auf weitere Titel des Verfassers gelegentlich hingewiesen wird, erklärt sich dadurch, daß sich die Beispiele aus seiner persönlichen Forschungserfahrung ergaben. Für umfassende bibliographische Hinweise zur Thematik von juristischer Ausbildung und Rechtsdenken in der europäischen Geschichte und Gegenwart vgl. Filippo Ranieri: Der europäische Jurist. Rechtshistorisches Forschungsthema und rechtspolitische Ausgabe, in: Ius Commune 17 (1990), S. 9 ff., insb. S. 22 - 25. 2 Vgl. Hein KlJtz: Gemeineuropäisches Zivilrecht, in: Festschrift rur K. Zweigert, Tübingen 1981, S. 481 ff., insb. S. 483. 3 So KlJtz (Fn. 2), S. 481. 4 Zum Problem der Auslegung und der Anwendung durch die einzelnen nationalen Judikaturen der internationalen "lois uniformes" vgl. z.B. statt aller Ulrich Magnus, in: RabelsZ 45 (1981) S. 152 - 154; grundsätzlich hierzu Hein KlJtz: Rechtsvereinheitlichung. Nutzen, Kosten, Methoden, Ziele, in: RabelsZ 50 (1986) S. 1 - 18.
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Koordinierung in der Rechtsanwendung der "lois uniformes" zwischen internationalen und nationalen Rechtsnormen mache notwendig, daß allgemeine gemeinsame Prinzipien und Regeln, vor allem im Bereich des Schuldrechts, jenseits der einzelnen nationalen Rechtssysteme entwickelt werden. Dies sei wenigstens im europäischen Rahmen anzustreben. In einem solchen Programm eines "europäischen Zivilrechts" sieht Kötz zu Recht eine Herausforderung für Rechtswissenschaft und Rechtsunterricht in den kommenden Jahrzehnten. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang vor allem sein Vorschlag, Lehrbücher zum europäischen Zivilrecht fertigzustellen, um dadurch ein pädagogisches Instrument zum Zwecke der Europäisierung des Rechtsunterrichts zur Verfügung zu haben. "Es geht darum" - schreibt er5 "ein bestimmtes Rechtsgebiet von vornherein unter einem europäischen Blickwinkel darzustellen". Dabei sollte "der Ausgangspunkt nicht von einer bestimmten nationalen Systematik genommen" werden. Es sollte demgemäß nicht ein bestimmter nationaler Leserkreis anvisiert werden. Der Rechtsstoff sollte vielmehr, jenseits "von einer bestimmten nationalen Systematik" im Rahmen eines geeigneten neutralen Systemaufbaues und eines "europäischen" Begriffsapparats dargestellt werden. Diese seien, "soweit nötig, neuzuentwikkeIn". In der Tat ist das politische und wirtschaftliche Zusammenrücken der europäischen Nationen auch für unser Thema nicht folgenlos geblieben. Es hat vor allem die Frage nach der professionellen Tätigkeit von Juristen jenseits der nationalen Grenzen aktueller gemacht. Der Hinweis auf die Notwendigkeit einer Internationalisierung der Juristenausbildung fehlt inzwischen bei keiner Debatte zur Reformbedürftigkeit oder zu Änderungsplänen des Rechtsunterrichts. So forderte unlängst auch Helmut Coing eine Europäisierung der juristischen Lehre. Auch er sieht als vordringlichstes Instrument für die angestrebte europäische Ausrichtung des Rechtsunterrichts die Herausarbeitung von Lehrbüchern oder das Angebot von Vorlesungen zum europäischen Zivilrecht an6 . Das Thema der Nutzen und der Kosten der privatrechtlichen Rechtsangleichung ist alt genug und soll im Rahmen dieses kurzen Beitrags nicht neu erörtert werden. Zweck der folgenden Seiten ist vielmehr die Frage aufzuwerfen, inwieweit die rechtshistorische Reflexion für die künftige weitere Diskussion zur oben skizzierten Problematik förderlich sein kann. Fragt man nämlich nach dem Kern der erwähnten Vorschläge, so scheint er mir - wenn ich recht sehe - darin zu liegen, daß zwei Jahrhunderte nach den ersten großen historischen Privatrechtskodiftkationen die Überzeugung sich durchzusetzen beginnt, daß die Prinzipien und die Lehren des Zivilrechts wieder in einem 5 So Kötz (Fn. 2), S. 498. 6 Vgl. Helmut Coing: Europäisierung der Rechtswissenschaft, in: NJW 1990, S. 937 - 941, insb. S. 940.
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Gesamtzusammenhang jenseits der, häufig nur historisch erklärbaren, Zufälligkeiten der nationalen Gesetzbücher dargestellt, gelehrt und fortgebildet werden sollen. Damit würde man an eine Tradition anknüpfen, welche bis zum Vorabend des Kodifikationszeitalters die kontinentale Privatrechtswissenschaft als einen gesamteuropäischen Diskussionszusammenhang erlebt hat. Ich denke dabei an die Wissenschaft, an die Judikatur und an die Universitätslehre aus der Zeit des "ius commune". Eine solche wissenschaftliche und juristische Gemeinschaft ist heute nur noch in dem angloamerikanischen Common Law nicht in dem Umfang verloren gegangen wie im Bereich der ehemaligen "civilian tradition": eine gemeinsame Vorlesung oder ein gemeinsam verwendbares Lehrbuch zu den Grundprinzipien etwa des Vertragsrechts sind in Universitäten der englischsprachigen Welt weit leichter vorstellbar als vergleichsweise zwischen einer französischen und einer deutschen juristischen Fakultät. Die Frage nach der grundsätzlichen Möglichkeit und nach den Bedingungen für eine solche Ausrichtung der Zivilrechtsdogmatik jenseits der nationalen Rechtssysteme ist ein Thema von einer derartigen Tragweite, daß sich hier bewußte Einschränkungen aufnötigen. Auf den folgenden Seiten will ich daher nicht über die thesenartige Formulierung einiger Grundgedanken hinausgehen. Ich werde mich ferner nur auf die kontinentalen Zivilrechtssysteme beschränken. Im nächsten Abschnitt (2.) soll zunächst dargelegt werden, welche engen Verbindungen eigentlich zwischen rechtshistorischer und rechtsvergleichender Forschung bestehen. Im darauf folgenden Abschnitt (3.) soll anschließend daran erinnert werden, daß gerade eine vergleichend ausgerichtete Rechtsgeschichte die methodischen Rahmenbedingungen erforschen und aufzeigen kann, die zur Realisierung eines solchen Programmes als unabdingbar erscheinen. In einem letzten Abschnitt schließlich (4.) sollen einige Gesichtspunkte entwickelt werden, inwieweit ein rechtshistorischer Ansatz bei der Ermittlung, Rekonstruktion und Darstellung von Prinzipien und Rechtsregeln im Rahmen einer gesamteuropäischen Zivilrechtswissenschaft hilfreich sein kann.
2. Die europäische Rechtsgeschichte als die methodische Verortung unseres Problems Die Auseinandersetzung mit den anfangs aufgeworfenen Fragen konfrontiert uns zunächst mit einem bedeutsamen Kapitel der gemeinsamen Disziplingeschichte von Rechtshistorie und Rechtsvergleichung. Es wird zu Recht immer wieder daran erinnert, daß Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung Schwesterdisziplinen sind. In der Tat fand die rechtsvergleichende Orientie-
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rung der deutschen Zivilrechtswissenschaft ihre ersten methodischen und inhaltlichen Grundlagen gerade im Rahmen der Rechtsgeschichte, insbesondere der Romanistik. Wir begegnen dabei dem Werk von zwei Gelehrten, die in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts eine historisch ausgerichtete Rechtsvergleichung als juristische Grundlagenforschung begründet haben. Ich nenne hier die Namen Erich Genzmer und Ernst Rabel. Beide waren führende Romanisten. Mit dem Namen Ernst Rabel ist die Grundlegung der zivilistischen Rechtsvergleichung verbunden. Ich erwähne hier nur seine klassisch gewordenen Untersuchungen zur "Haftung des Verkäufers" (1902) und zum "Statute of Fraud" (1947); sie fassen das Problem sowohl rechtsgeschichtlieh wie rechtsvergleichend an, weisen die Mißverständnisse der historischen Gesetzgeber nach und zeichnen zugleich die Konturen von Problemlösungen, welche in der historischen Kontinuität zur gemeinrechtlichen Tradition und im funktionalen Vergleich mit anderen Rechtsordnungen ihre Sachgerechtigkeit fmden. "Durch die rechtsvergleichende Betrachtung" ist in einer Würdigung seines Werkes geschrieben worden7 - "könne der Zusammenhang gemeinsamer Rechtskultur bewahrt und, wo er durch die Sonderschicksale der Kodiflkationen verlorengegangen war, wiederhergestellt werden". Die heutige Vereinheitlichung des internationalen Kaufrechts hat sich in Bahnen bewegt, die Rabel damals vorzeichnete. Mit dem Namen Erich Genzmer 8 ist die Einsicht verbunden, daß die Herausarbeitung der historischen Grundlagen unserer kontinentalen Rechtssysteme nur in einer vergleichend-europäischen Perspektive geschehen kann. Die Rezeption des römischen Rechts wurde von ihm als ein Kapitel nicht der deutschen, sondern der europäischen Rechtsgeschichte aufgefaßt. Die Rekonstruktion des europäischen Charakters der Wissenschaft des "ius commune" auf der Grundlage des juristischen Unterrichts in der mittelalterlichen und spätmittelalterlichen Universität geht auf seine Studien zurück. Wenn heute in der Systematik der Privatrechtsvergleichung als selbstverständlich von einer "familIe de droits romano-germaniques" in der kontinental-europäischen Tradition des Civil Law gesprochen wird, bewegt man sich in Bahnen, die Genzmer damals vorzeichnete.
7 So Ernst v. Caemmerer: Das deutsche Schuld recht und die Rechtsvergleichung. Zum Tode von Ernst Rabel, in: NJW 9 (1956), S. 569 - 571, und in: Gesammelte Schriften, I, Tübingen 1968, S. 3 - 10, hier insb. S. 5. Es sei übrigens daran erinnert, daß die ersten großen rechtsvergleichenden Monographien vor allem dogmengeschichtliche und rechtshistorische Forschung dargestellt haben (etwa Riezler: Venire contra factum proprium; die Beiträge von Rabel zur Unmöglichkeitslehre; Rheinstein: Struktur der vertraglichen Schuldverhältnisse im angloamerikanischen Recht). Zur Verbindung zwischen Rechtsgeschichte und Zivilrechtsvergleichung im Werke Rabels vg!. zuletzt G. Kegel: Ernst Rabe!. Werk und Person, in: RabelsZ 54 (1990) S. 1 - 23, insb. S.4 und S. 18 - 19 mit weit. Lit. 8 Zu ihm vg!. zuletzt Helmut Coing: Erich Genzmer (1893 - 1970), in: Juristen an der Universität Frankfurt am Main, hg. von Bemhard Diestelkamp und Michael Stolleis, Baden-Baden 1989, S. 200 - 207.
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In den vergangenen Jahrzehnten fand die hier beschriebene Ausrichtung der rechtshistorischen Forschung, vor allem ihre methodenprägende Verbindung zwischen Zivilrechtsdogmatik, rechtshistorischer und rechtsvergleichender Analyse im Werk Helmut Coings die maßgebende Fortsetzung. Wesentlich scheint mir in diesem Zusammenhang vor allem die von ihm propagierte Grundlegung der "euro~äischen Rechtsgeschichte" als autonomes "field of studies" gewesen zu sein9 • Fragt man nun nach dem zentralen Kern einer solchen Sicht einer gemeinsamen europäischen Rechtsgeschichte, so kann man, wenn ich recht sehe, die Einsicht festhalten, daß die historischen gemeinsamen Grundlagen des "ius commune" primär nicht in der Anwendung identischer Rechtsregeln, mit anderen Worten nicht in einer uniformen Rechtspraxis, sondern vielmehr in einer gemeinsamen wissenschaftlichen, vor allem universitären Tradition lagen. Die Einmaligkeit des europäischen "gemeinen Rechts" lag gerade darin, daß es der universitäre wissenschaftliche Zugang zum Recht war, der einen Traditionszusammenhang schuf, worauf die lokale Vielfalt von Rechtspraxis und Rechtsprofession sich entwickeln und stützen konnte. Coing hat bereits frühzeitig in der rechtshistorischen Erforschung dieser gemeinrechtlichen Tradition eine Chance für den Aufbau einer grenzenübergreifenden europäischen Privatrechtswissenschaft gesehen lO • Die Probleme der europäischen Rechtsangleichung haben sich seit den fünfziger und den sechziger Jahren selbstverständlich geändert, dennoch scheint mir, daß die Grundeinsicht, daß die kontinentalen Privatrechtssysteme in ihrem heutigen Stand nur aus der Kenntnis ihrer Geschichte begriffen und reformiert werden können, an Aktualität nichts verloren hatli.
9 Vgl. hierzu vor allem Helmut Coing: Die europäische Privatrechtsgeschichte der neueren Zeit als einheitliches Forschungsgebiet. Probleme und Aufbau, in: lus Commune 1 (1967) S.1 33 und in: Gesammelte Aufsätze, U, FrankfurtIM. 1982, S. 67 - 99; ders., Die Bedeutung der europäischen Rechtsgeschichte für die Rechtsvergleichung, in: RabelsZ 32 (1968) S. 1 - 23, und in: Gesammelte Aufsätze, U, S. 157 - 176. Zur Fernwirkung des Coingschen Entwurfes vgl. z.B. Gino Gorla: Oiritto comparato e diritto comune europeo, Milano 1981 und Carlo Augusto Cannata: Storia dei diritto e comparazione giuridica come metodologia della scienza giuridica, in: SOW 53 (1987) S. 386 - 392. 10 Als Krönung solcher Bemühungen vgl. Helmut Coing: Europäisches Privatrecht, I - U, München 1985 - 1989. Zur Resonanz des Werkes vgl. etwa Carlo Augusto Cannata, in: SOW (1986) S. 435 - 442; Klaus Luig in: AcP 187 (1987) S. 477 - 484; Rodolfo Sacco in: Rivista di diritto civile 36 (1990) S.318 - 321. 11 Selbst die andere zentrale Frage der heutigen europäischen Privatrechtsangleichung, diejenige des Verhältnisses zwischen kontinentalem und englischem Recht - welche in diesem Beitrag ausgespart werden soll -, ist nur aus der Geschichte der Beziehungen zwischen den Traditionen von Civil und Common Law begreifbar. Vgl. hierzu Helmut Coing I Knut Wolfgang Nörr: Englische und kontinentale Rechtsgeschichte: ein Forschungsprojekt, Berlin 1985; inzwischen sind in der Reihe Comparative Studies in Continental and Anglo-American Legal History die ersten acht Sammelbände erschienen. In diesem Zusammenhang vgl. auch Gino Gorla: La "communis opinio totius orbi" et la reception jurisprudentielle du droit au cours des XVle, XVIIC et XVlIIC siecles dans la Civil Law et la Common Law, in: New Perspectives for a Common Law ofEurope (Mauro Cappelletti ed.), Milano 1978, S. 45 ff.
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Damit kommen wir auf die anfangs gestellte Frage zurück. Welche Gesichtspunkte lassen sich aus der Einsicht ableiten, daß die europäischen Privatrechtssysteme nur aus ihrer Geschichte heraus begreitbar und reformierbar sind?
3. Europäische Rechtsgeschichte als Voraussetzung für eine gemeinsame methodische Grundlage im Privatrechtsdenken a) Als erstes, wahrscheinlich wohl auch als das wichtigste Hindernis bei der Darstellung einer Privatrechtsinstitution in einem Lehrbuch oder in einer Vorlesung zum "europäischen Zivilrecht" begegnet man dem Umstand, daß selbst in den kontinentalen Privatrechten Probleme und Lösungen in systematischen Kontexten und in begrifflichen Strukturen eingeordnet werden, die von Rechtsordnung zu Rechtsordnung tiefgreifende Unterschiede aufweisen. Hein Kötz spricht bezeichnenderweise in seinem Plädoyer für ein Lehrbuch zu den Prinzipien des europäischen Zivilrechts von der Notwendigkeit, "europäische Begriffe" 12 neuzuentwickeln. Trotz der noch in Kontinentaleuropa vorhandenen Bindungen zur gemeinsamen Tradition des römischen und des gemeinen Rechts ist jedoch gerade in dieser Hinsicht der Abstand bei juristischer Denkweise und Kategoriebildung beträchtlich. Man denke z.B., wie schwer es ist, einem deutschen Juristen die Dogmatik der Eigentumsübertragung im französischen Recht genau zu erläutern. Nach der Regel von Art. 1138 Code civil macht der Kaufvertrag den Käufer zum Eigentümer des Kaufobjekts. Die französische Zivilistik hat anscheinend keine Schwierigkeit, diese Regel zu akzeptieren; dies gilt auch im Falle des Doppelverkaufs, wenn zwei Käufer sich auf die Wirkung des eigenen Vertrages berufen können; hier tritt nämlich eine weitere, die erste einschränkende Regel hinzu, daß die "propriete" nur demjenigen Käufer zustehen wird, der seinen Rechtstitel den übrigen Drittberechtigten gegenüber wirksam entgegenhalten kann 13 . Für den deutschen Juristen ist eine solche Lösung schwer mit dem erlernten, noch aus der begrifflichen Konsistenz der Dogmatik des vergangenen Jahrhunderts stammenden, Eigentumsbegriff zu vereinbaren. Hier zeigt sich also deutlich, daß trotz der sprachlichen Identität die Rechtskategorie "Eigentum" nicht der Kategorie "propriete" gleichzustellen ist. Es wird nämlich sichtbar, daß die begriffliche Kategoriebildung im französischen und im deutschen Zivilrecht nach unterschiedlichen Kriterien und Formen erfolgt l4 • Unzählige weitere 12 So KÖIZ (Fn. 2), S. 498. 13 Eine vorzügliche rechtsvergleichende Analyse dieser Problematik bietet zuletzt Angelo Chianale: Obbligazione di dare e trasferimento della proprietA, Milano 1990. 14 Wertvolle Beobachtungen hierzu bei Pier Giuseppe Monate';: Regles et technique de la definition dans le droit des obligations et des contrats en France et en Allemagne: la synecdoque fran~aise, in: Revue internationale de droit compari (1984) S. 7 - 57, insb. S. 56 weit. Lit.
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Beispiele ließen sich in dieser Hinsicht anführen: man denke nur an die deutsche Kategorie der Willenserklärung und an die Handhabung im französischen Privatrecht der Notion von "declaration de volonte", oder an die französische Notion von "faute", welche sich keinesfalls in die Begrifflichkeit der deutschen Zivilrechtsdogmatik einordnen läßt. b) Identität und Unterschiede in den gesetzlichen Normen und in den judiziellen Lösungen stellen in der Tat nur einen Teilaspekt des Problems einer europäischen Privatrechtsangleichung dar. Weit wichtiger scheinen die unterschiedlichen Stil- und Auslegungstraditionen in den einzelnen kontinentaleuropäischen Zivilrechtssystemen zu sein 15. Die Rechtswissenschaft im Zeitalter des "ius commune" kannte eine "consuetudo iudicandi totius orbi" wie die Juristen des gemeinen Rechts sie nannten. Sie bestand vor allem in einer weitgehend einheitlichen juristischen Denkweise, welche im wesentlichen auf der gemeinsamen Ausbildungstradition basierte, die auf den Rechtsunterricht in den italienischen und französischen Universitäten des Spätmittelalters zurückging. Eine solche gemeinsame juristische Denkweise offenbart sich vor allem im begrifflichen Instrumentarium und bei den systematischen Kategorien, die das Privatrecht jener Zeit charakterisieren. Eine derartige Haltung kennen wir heute nur noch aus der Welt des Common Law. Diese Tradition zerfällt Ende des 18. Jahrhunderts mit Einführung der KodifIkationen und mit der damit verbundenen Nationalisierung der Rechtsquellen. Es ist allerdings fraglich, ob der Grund für den Zerfall allein in den neuen Gesetzbüchern und in der Umstellung der nationalen Judikatur auf das neue Recht zu suchen ist. Forschungen hierüber liegen nur in Ansätzen vor. Es ist aber in der Tat bezeichnend, daß selbst bei Geltung desselben Gesetzbuches keinesfalls immer die nationalen Judikaturen übereinstimmten. Ein klassisches Beispiel bietet die deutsche Praxis zum Code civil in den Rheinprovinzen, die während des 19. Jahrhunderts - und zwar von Anfang an - eigene, von der Judikatur der französischen Cour de Cassation verschiedene, Wege ging. Es sei hier beispielsweise an die Judikatur des Reichsgerichts zu art. 1382 Code civil erinnert, welche die französischen Lösungen zum Thema des abus des droits, zum Nichtvermögensschaden, zum deliktischen Schutz von Forderungsrechten nicht kannte. Selbst in den romanischen Ländern, bei gleichzeitiger Geltung des Code civil oder einer mit diesem praktisch identischen Kodifikation, gingen die nationalen Judikaturen nicht selten eigene Wege; man denke hier nur an die unterschiedliche Anwendung von art. 1384 Code civil in der französischen und in der belgischen Rechtsprechung, welche ablehnte, daraus eine GeneralklauseI für eine Gefährdungshaftung abzuleiten. Bis zur Einführung einer 15 Statt aller vgl. Rene David: The International Unitication of Private Law, in: International Encyclopedia ofComparative Law, n, Tübingen - Paris - New York 1971, chap. 5, insb. S. 517 und S. 24 ff.
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einzigen Corte di Cassazione in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts erfuhr das italienische Zivilgesetzbuch von 1865 durch die fünf verschiedenen, den präunitarischen Gerichtshöfen nachfolgenden Kassationshöfe nicht selten eine unterschiedliche Anwendung. Zur Rechtsangleichung reichen offenbar Gesetze allein nicht aus. Der hier kurz skizzierte Befund beschäftigt die Rechtsvergleichung bis heute. Man denke nur an die zum Teil recht unterschiedliche deutsche und französische Judikatur zum Genfer Wechsel recht oder an die derzeitigen Diskussionen zur Gefahr einer möglichen difformen Auslegung der Normen des Wiener Kaufrechts durch die einzelnen nationalen Judikaturen. Wie erklären sich solche überraschenden unterschiedlichen Anwendungen von identischen gesetzlichen Normen? Eine tieferliegende Problemschicht unserer Fragestellung zeigt sich hier an. c) Der Bruch der Einheit des europäischen Privatrechts Ende des 18. Jahrhunderts liegt nicht nur bei der Nationalisierung der Rechtsquellen durch die damals eingeführten KodifIkationen, sondern im wesentlichen vielleicht vor allem darin, daß mit den KodifIkationen auch die Juristenausbildung voll nationalisiert wurde. Man denke an die Reform des Rechtsunterrichts, die in Frankreich und in Österreich zugleich mit der Einführung der Gesetzbücher eingeleitet wurde. Dort, wo in Preußen und in den übrigen deutschen Territorien der Rechtsunterricht trotz KodifIkation nicht auf das neue Recht umgestellt wurde, behielt die Juristenausbildung eine wesentliche vereinheitlichende Funktion. Das deutsche Professorenrecht im 19. Jahrhundert war nicht nur Grundlage der deutschen KodifIkation von 1900, sondern auch Voraussetzung der professionellen Einheit, welche unter deutschen Juristen während des ganzen Jahrhunderts bestand. Es ist bezeichnend, daß, als Christopher Lallgdell Mitte des vergangenen Jahrhunderts eine überstaatliche amerikanische Juristenausbildung in Harvard schuf, gerade die damaligen deutschen Rechtsfakultäten als Modell fungierten l6 . Zweihundert Jahre nach den ersten großen KodifIkationen sind die historisch gewachsenen Unterschiede bei den juristischen Ausbildungs- und Denkstilen in den einzelnen kontinentalen Ländern beträchtlicher geworden. Wenn ein Jurist aus einem unserer europäischen Länder mit dem Recht und mit den Rechtspraktikern einer anderen kontinentaleuropäischen Rechtsordnung in Kontakt tritt, wird er, bei einer entsprechenden Reflexionsbereitschaft, mit 16 Die Forderung nach einer europäischen Privatrechtswissenschaft kann daher nur als eine Forderung zugleich nach einer europäischen transnationalen Iuristenausbildung erfolgreich sein. Vgl. die tiefgreifende, jedoch recht skeptische Analyse von Lawrence M. Friedmann / Günther Teubner: Legal Education and Legal Integration: European Hopes and Arnerican Experience, in: Mauro Cappelletti u.a. (ed.): Integration Through Law. I. Methods, Tools and Institutions, Berlin - New York 1986, S. 345 - 380; völlig unzutreffend bleibt hier jedoch die Darstellung und Kritik (S. 365 - 372) der Coingschen Auffassung, die keinesfalls darauf reduziert werden kann, die Pandektenwissenschaft des 19. Iahrhunderts und die damalige Rechtskultur neuzubeleben.
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einer eigenartigen Erfahrung konfrontiert. Er stellt fest, daß der Abstand zwischen seinem und dem anderen Rechtssystem nicht allein durch die Verschiedenheit der gesetzlichen Normen und auch nicht allein durch die Unterschiedlichkeit der einzelnen Lösungen zu einer konkreten Frage bestimmt wird. Es fällt ihm nämlich die unterschiedliche Art auf, wie die Juristen in seinem und in dem fremden Land denken und praktisch arbeiten. Es geht hier also nicht um die Anwendung irgendwelcher Rechtsnormen, sondern um die Denkweise und um die Ausgestaltung der Arbeitsweise des Juristen. Bereits einige äußerliche Befunde sollten zu denken geben. Es ist beispielsweise bezeichnend, wie unterschiedlich die literarischen Typen in den jeweiligen nationalen Rechtsliteraturen sind. So fmden beispielsweise die BGB-Kommentare kaum eine Entsprechung in der Rechtsliteratur der romanischen Länder. Umgekehrt gilt dasselbe etwa für die französischen Lehrbücher, die zum Teil auf eine über Juristengenerationen durchgeführte Fortschreibung von klassisch gewordenen Darstellungen des Rechts des Code civil zurückgehen. Auch die in französischen Sammlungen übliche Urteilsanmerkung, die sogenannte "note", fmdet in den deutschsprachigen Publikationen keine Entsprechung. Ähnlich auffallenden Unterschieden begegnet man auch in der äußeren Form und in der Struktur, wie Zivilurteile abgesetzt und motiviert werden. Man denke etwa an die sybillinische Kürze der französischen Urteile im Vergleich zu den traktatähnlichen Ausführungen mancher anderen obersten Gerichtshöfe. Die praktische Realität und Tragweite solcher Unterschiede erfährt man am besten bei der Unterrichtung von Studenten, die in anderen Rechtssystemen ihre erste juristische Ausbildung erfahren haben. Man denke etwa an die in den letzten Jahren so häufig gewordenen Austauschprogramme. Die Schwierigkeiten bei der Verständigung, die dabei sowohl bei den Lernenden als auch bei den Lehrenden nicht selten zu beobachten sind, bieten auch in methodologischer Hinsicht eine wertvolle Gelegenheit zur Reflexion. Sie hängen nämlich bewußt oder unbewußt mit den tiefgreifenden Unterschieden zusammen, die auch in der Art des Rechtsunterrichts, der Vermittlung und der Prüfung des Rechtsstoffes in den einzelnen kontinentalen Ländern heute existieren. d) Derartige Denkstrukturen, welche Ausbildung, Arbeitsstil und Denken des Juristen charakteristisch prägen, sind nicht ohne weiteres "reformierbar" oder in andere Rechtssysteme übertragbar, noch gegen neuentwickelte "modernere" , "bessere" Kategorien austauschbar. Es scheint mir vielmehr notwendig zu sein, sich den historischen Bedingungen und Formen dieser unterschiedlichen Denkweisen bewußt zu werden. Gerade hier könnte eine Aufgabe einer europäisch orientierten rechtshistorischen Beschäftigung mit unserem Thema liegen. Ich denke hier etwa an Untersuchungen zu Inhalten und Methoden des Rechtsunterrichts in den vergangenen zwei Jahrhunderten. Darin haben nämlich die Rechtskulturen in den einzelnen europäischen Ländern ihre charakteristische Prägung gefunden. Inwieweit wirkte sich hier z.B. 7 Schulze
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noch die alte gemeinrechtliche Tradition aus, in welchem Umfang und in welcher Weise wurden die jungen Rechtskandidaten mit dem damals publizierten Rechtsprechungsmaterial konfrontiert? Forschungen hierüber fehlen fast völlig. Dasselbe gilt für die nicht nur im 19. Jahrhundert bedeutsame Rezeption von wissenschaftlichen und literarischen Modellen, von begrifflichen Konstrukten und Lösungen zwischen einzelnen Ländern. Daß es sich dabei nicht nur um eine Rezeption, sondern auch um eine Transformation und funktionale Veränderung eines ausländischen Modells handelt, zeigt die literarische Übernahme der Begrifflichkeit der deutschen Zivilrechtsdogmatik in Italien Ende des vergangenen Jahrhunderts; sie prägt die italienische Privatrechtswissenschaft heute noch l7 . Es geht hier also um die historische Erforschung der spezifischen Formen bei Begriffsbildung und Rechtsdenken in den einzelnen europäischen Rechtsordnungen. Das 18., aber vor allem das 19. und das 20. Jahrhundert werden im Zentrum einer solchen Arbeit stehen müssen. Vordringlich scheint insbesondere die Durchdringung der tiefgreifenden Unterschiede zwischen deutschem und französischem Privatrechtsdenken zu sein. Hier liegen Muster vor, die historisch für die meisten der kontinentaleuropäischen Privatrechtssysteme maßgebend waren und heute noch sind. Es handelt sich dabei zwar nur um eine Vorstufe zu einem europäischen Zivilrecht. Eine solche historisch fundierte präzise Kenntnis über die Abstände und Unterschiede in Methode und Denken scheint jedoch für die weitere konstruktive Arbeit unverzichtbar zu sein. Erst sie kann die Rahmenbedingungen, die Möglichkeiten und die strukturellen Grenzen aufzeigen, im Rahmen derer die Entwicklung einer "eu_ ropäischen Zivilrechtswissenschaft" sich vollziehen könnte. Es scheint immer wieder vergessen zu werden, daß Normen auch in unseren kontinentaleuropäischen Zivilrechtssystemen durch Juristen mit jeweils sehr unterschiedlichen, in der Geschichte tief verwurzelten Denk- und Arbeitsweisen in die Praxis umgesetzt werden. Angemessene, neuzuentwickelnde begriffliche und systematische Kategorien für ein "europäisches Zivilrecht" wird man daher nur aus einer historischen Analyse der heutigen Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der juristischen Ausbildung, im Rechtsdenken und in der juristischen Arbeitsweise gewinnen können. Breite Forschungen hierüber fehlen heute noch weitgehend. Eine "europäische Rechtsgeschichte" definiert sich damit als juristische Grundlagenforschung, als geistige Rückeroberung des Traditionszusammenhangs, in welchen sich unsere Rechtskulturen einordnen l8 . 17 Für einige Hinweise hierzu vgl. Filippo Ranieri: Savignys Einfluß auf die zeitgenössische italienische Rechtswissenschaft, in: lus Commune 8 (1979) S. 192-219. 18 Bestätigt fühlt sich die hier vertretene Auffassung, daß die Hauptaufgabe der Rechtsgeschichte vor allem in der Herstellung eines "Bezugssystems" für die dogmatische konstruktive Arbeit liegt, z.B. durch Peter Stein: Tbe Tasks of Historical Jurisprudence, in: Tbe Legal Mind. Essays for T. Honore, Oxford 1985, S. 293, 305.
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4. Eine "europäische Zivilrechtswissenschaft" als eine neue gemeinsame "Civilian Tradition"? Damit kommen wir zur letzten Station der hier angestellten Überlegungen. Ist von der Rechtsgeschichte auch bei der konstruktiven dogmatischen Arbeit, bei der Ermittlung also von Rechtsregeln und Rechtsprinzipien, ein Beitrag zu einem "Europäischen Zivilrecht" zu erwarten und in welcher Hinsicht? Einige Hinweise zum Verhältnis zwischen Zivilrechtsdogmatik und Rechtsgeschichte scheinen hier angebracht. Hierüber herrschen bekanntlich, vor allem in der deutschen Literatur, beträchtliche Meinungsgegensätze l9 • So betonen nicht wenige Rechtshistoriker - vornehmlich Romanisten - immer wieder die Notwendigkeit von rechtshistorischen Erkenntnissen auch bei Auslegung und Rechtsfmdung in geltendem Recht. Worin dann aber eine derartige "applikative" Funktion der Rechtsgeschichte im einzelnen liegen soll, wird offenbar ganz unterschiedlich gesehen. Dies liegt etwa für einige in der Ermittlung einer mit den römischen Quellen konformen Auslegung mancher Normen des BGB, vor allem derjenigen, die in der Absicht der Gesetzgeber von 1900 Regelungen aus dem römischen Recht kodifizieren sollten. Hier also würde die Rechtsgeschichte eine "bestätigende Hilfe" bei der Auslegung bieten können. Weit streitiger ist jedoch dann die Bewertung der Hilfe rechtshistorischer Analysen, wenn es sich um Probleme handelt, bei welchen der historische Gesetzgeber sich bewußt von den Lösungen der römischen Quellen entfernt hat. Man denke etwa an Verallgemeinerungen von Rechtssätzen, die im römischen Recht in einer solchen Tragweite nicht anerkannt sind; als klassisches Beispiel sei an § 818 Abs. 3 BGB erinnert. Darf hier die historische Einsicht in Inhalt und Tragweite der römischen Quellen mehr bieten als eine Beschreibung der Unterschiede zwischen dem BGB und der vorhergehenden Tradition? Eine positive Antwort darauf finden einige darin begründet, daß die Rechtsgeschichte die dauerhafte Permanenz von bestimmten Sachstrukturen und Rechtslösungen offenbart. Der Haushalt an denkbaren Rechtskonstruktionen und Sachlösungen sei bei bestimmten Problemen beschränkt20 • Die Rechtsgeschichte, vor allem die bewußte Aufrechterhaltung der Kontinuität der kontinentalen Systeme zum römischen Recht, würde hier dafür garantieren, daß bei der dogmatischen Arbeit eine solche Erfahrung nutzbar gemacht wird und subjektiver Dezisionismus vermieden wird. Andere Rechtshistoriker stehen allerdings solchen Bemühungen eher skeptisch oder ablehnend gegenüber. Einige befürchten darin eine unhistorische Betrachtungsweise. Von anderen wird die Möglichkeit einer lndienstnahme der Rechtsgeschichte für die geltende Rechtsdogmatik ganz verworfen. "Un19 Zuletzt bietet eine Übersicht zum Diskussionsstand Heinrich Honsell: Das rechtshistorische Argument in der modernen Zivilrechtsdogmatik, in: Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Frankfurt am Main 1987, s. 299 - 310, vor allem s. 299 ff. 20 So etwa Mayer-Maly und zuletzt Honsell (Fn. 19), S. 305 ff. 7*
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bestreitbar" - wurde neulich festgestellt 2l - "ist die weitgehende praktische Einflußlosigkeit und die geringe dogmatische Effizienz der Dogmengeschichte, welche sich mit... der Beschaffung affirmativer Zitate zum bereits Entschiedenen begnügnen muß" . Eine grundsätzliche Stellungnahme zu diesem Problembereich ist hier nicht möglich und auch nicht beabsichtigt. Eine Beobachtung scheint mir jedoch erwähnenswert. Die oben kurz geschilderten Auseinandersetzungen sind bis heute offenbar weitgehend auf die deutschen Rechtshistoriker beschränkt gewesen. Die nicht deutschsprachigen Romanisten sind beispielsweise fast ganz abwesend geblieben. Hier spielt zwar sicher der Umstand eine Rolle, daß in der deutschen Universitätstradition Rechtsgeschichte und Dogmatik des geltenden Rechts in der Lehre immer in Verbindung geblieben sind. Es ist in der Tat nicht zu leugnen, daß dort - wie etwa in den romanischen Ländern -, wo sich die Rechtsgeschichte in Methode und Arbeitsinteressen weitgehend der Geschichtswissenschaft und den Philologien angeschlossen hat, zugleich Präsenz und Einfluß der Rechtshistoriker in Rechtswissenschaft und Rechtsunterricht zum Teil drastisch zurückgegangen sind. Andererseits fragt es sich, ob manche deutsche Romanisten das Problem der Beziehung zwischen Zivilrechtsdogmatik und Rechtsgeschichte nicht allzu eng aus der einseitigen Perspektive des deutschen BGB und dessen Verbindung zur dogmatischen Rekonstruktion der römischen Quellen sehen, die im 19. Jahrhundert die Pandektistik angeboten hat22 • . Eine vergleichende Einbeziehung der historischen Tradition anderer kontinentaler Rechtsordnungen - vor allem des französischen und des österreichischen Rechts - würde eine solche einseitige Perspektive erheblich relativieren. Es würde deutlich werden, welchen beträchtlichen Abstand das von Coing so bezeichnete" Ältere Gemeinrecht" von den Justinianischen Quellen erreicht hatte, oder wie sehr die naturrechtliche und die kodifikatorische Komponente das kontinentale Recht beeinflußt haben. Die Einbeziehung der genannten Traditionen in die historische Analyse würde die bisherige Diskussion über Sinn oder Unsinn einer dogmatisch applikativen Seite der Rechtsgeschichte erheblich entlasten. Sie würde nämlich deutlich machen, daß Rechtskategorien und systematische Einordnungen von Rechtsinstitutionen und Einzellösungen eine ständige historische Varianz aufzeigen. Die Begrifflichkeit der deutschen Pandektistik des 19. Jahrhunderts stellt nur einen Teilaspekt des argumentativen Haushalts in der kontinentalen Rechtstradition dar. Nimmt man einen solchen historischen Abstand vom eigenen nationalen Recht ein, so verlieren 21 So Dieter Simon, in: lus Commune 15 (1988), insb. S. 203 - 204. 22 Diesen Einwand würde ich selbst bei der sonst beeindruckenden Leistung von Reinhard Zimmermann: The Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition, Cape Town 1990, gelten lassen; das französische Ancien droit und das Recht der naturrechtlichen Kodifikationen (Code civil und ABGB) werden hier nämlich zu wenig berücksichtigt. Die ·Civilian Tradition·, auch die gemeinrechtliche, ist jedoch weit mehr als das Recht der Pandektisten.
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die einzelnen Lösungen und Kategorien ihren Absolutheitsanspruch. Dasselbe gilt für die Überschätzung der Rolle des kodifizierten Rechts in der Dogmatik und Rechtsanwendung. Eine historische Betrachtung kann nur mit einer Neubewertung der Funktion der Judikatur in unseren kontinentalen Rechtssystemen einhergehen. "Wenn mit Recht gefordert worden ist" - ist vor mehr als vierzig Jahren bereits geschrieben worden23 - "daß wir die unmittelbaren geschichtlichen Grundlagen unseres BGB im 18. und 19. Jahrhundert wieder ins Bewußtsein zurückholen müssen, so ist das zu ergänzen: Wir müssen auch die nunmehr 55jährige Praxis des BGB als Geschichte sehen." Funktion und Tragweite des Richterrechts in den Systemen des "CiviI Law" können nur im Rahmen einer solchen historischen Arbeit begriffen werden. Aufgabe einer vergleichenden Rechtsgeschichte wird dann darin liegen, Gleichartigkeit und Funktionsveränderung von dogmatischen Konstruktionen, Begriffsbildungen und Einzellösungen in Wissenschaft und Praxis herauszuarbeiten. Erst dann wird beispielsweise begreiflich, warum Problemfelder in den einzelnen kontinentalen Rechtssystemen völlig verschiedene Einordnungen erfahren. Ich denke hier etwa - um dieses mit einem Beispiel zu verdeutlichen - an den die Rechtsvergleichung immer überraschenden Befund, daß die für das deutsche Zivilrecht dieses Jahrhunderts so charakteristische Judikatur zum § 242 BGB anscheinend keinerlei Entsprechung in der Praxis des französischen und anderer romanischer Rechte fmdet. Hier wird deutlich, daß sich die Rechtsanwendung nicht auf ein Problem der Gesetzesauslegung reduzieren läßt: Art. 1134 Code civil entspricht eigentlich § 242 BGB. Die Lösungen, die das Reichsgericht über die GeneralklauseI entwickelt hat, sind eigentlich dem französischen "droit applique" gar nicht unbekannt, sie sind jedoch in systematische Zusammenhänge eingeordnet - man würde fast sagen versteckt -, die den deutschen Beobachter verblüffen und von diesem kaum nachvollziehbar sind. Über diese Diskontinuitäten kann nur eine vergleichende historische Analyse autklären24 • Es geht hier z.B. um die Fortgeltung in der deutschen gemeinrechtlichen Tradition von Denkfiguren wie etwa derjenigen der exceptio doli, die die französischen Juristen längst vor der Kodifikation abgelegt hatten25 .
23 So Emst v. Caemmerer: Das deutsche Schuldrecht, S. 4 - 5. 24 Die funktionale Austauschbarkeit und daher die Relativität von dogmatischen Kategorien in den kontinentalen Zivilrechten habe ich versucht anhand der Problematik der Konvaleszens der Verfügung des Nichtberechtigten (§ 185 Abs.2 BGB) zu verdeutlichen; vgl. Filippo Ranieri: Alienatio convalescit. Contributo alla storia ed alla dottrina della convalida nel diritto dell' Europa continentale, Milano 1974. Die Kritik dagegen von Regina Ogorek: Sav.Zeit.R.A. 96 (1976), S. 519 ff. (S.523) " ... juristische Abstraktion, welche den Verdacht, daß es sich um etwas anderes handeln könnte, als dem selbständigen Dasein der Rechte nachzuspüren, gar nicht aufkommen läßt" bleibt daher völlig neben meiner Fragestellung. 25 Hierzu vgl. insgesamt Filippo Ranieri: Eccezione di dolo generale, in: Digesto delle Discipline Privatistiche. Sez. civ., V, Torino 1990.
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Europäische Rechtsgeschichte bietet sich insoweit in dieser Perspektive nicht als Konkurrenz zur Dogmatik an. Sie kann allerdings die Veränderbarkeit und die Funktion von dogmatischen Konstruktionen transparent machen und damit die dienende Funktion der Dogmatik selbst verdeutlichen. Der Beitrag der Rechtsgeschichte zur Entwicklung eines "Europäischen Zivilrechts" wird dann ein theoretischer sein: eine neue realistische Rekonstruktion - jenseits der Illusionen von Kodiftkationen und Gesetzgebern - des Verhältnisses zwischen Norm und Rechtsanwendung.
Natürliches Privatrecht Die Rolle des Privatrechts in den naturrechtlichen Gesellschaftsentwürfen des 17. und 18. Jahrhunderts
Von Klaus Luig
1. Die Disziplin des Staatsbürgers und das Privatrecht Voller Stolz über die europäische Wirkung eines ihrer größten Rechtsphilosophen pflegen deutsche Rechtshistoriker den Ausspruch zu zitieren: "11 y a du Wolff dans le code civil", den zu Beginn des 19. Jahrhunderts der deutschfranzösische Jurist Warnkönig getan haben soll. Gemeint ist, daß das im Geiste der Philosophie der Aufklärung erarbeitete System eines natürlichen Privatrechts, wie es Teil der europäischen Rechtsphilosophie von Hugo Grotius bis Christian Wolff war, auf das zeitgenössische Privatrecht, besonders auf die sogenannten naturrechtlichen Kodifikationen und darunter an erster Stelle auf Napoleons schließlich in ganz Europa verbreiteten Code Civil von 1804 1 einen großen Einfluß ausgeübt hat. In welchen konkreten Regeln sich das Naturrecht von Wolff und seinen Vorläufern im Code civil ausgewirkt hat, ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung nicht leicht auszumachen. Bevor man die Wirkungen des Naturrechts offenlegen kann, muß man zuerst das Naturrecht selbst erforschen. Daran fehlt es aber. Die Funktion des Privatrechts und die konkrete Ausgestaltung der einzelnen Regeln des Privatrechts in den großen naturrechtlichen Gesellschaftsentwürfen des 17. und 18. Jh. ist noch weithin unerforscht. Trotz der fast unübersehbaren Zahl von Arbeiten über Christian Wolff als Philosoph und auch als Rechtsdenker ist sein Beitrag zum Privatrecht bisher kaum gewürdigt worden. In der für diese Fragen maßgebenden Juristenbiographie von Kleinheyer und Schröder heißt es zu Wolff lapidar: "Wo 's Bedeutung für das Recht liegt in seinen staatstheoretischen Schriften"2. Dieses I Dazu Eckhard Maria Theewen: Napoleons Anteil am Code Civil, Berlin 1991. 2 Gerd KJeinheyer und Jan Schröder: Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 3. Aufl., Heidelberg 1989, S. 318. Vgl. auch Emanuel Stipperger: Freiheit und Institution bei Christian Wolff, FrankfurtIM, Bern, New York 1984, und dazu die Rezensionen von Michael Stolleis, in:
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Urteil ist um so überraschender, als die nach allgemeinem Urteil wichtigsten Ergebnisse der Naturrechtsbewegung des 17. und 18. Jh. gerade die großen Kodiftkationen in Preußen, Frankreich und Österreich waren. Das waren aber doch Kodiftkationen des Privatrechts. Diese Einsicht macht es erforderlich, daß sich die Forschung auch dem Beitrag, den Wolffund vor ihm Pufendorf, Leibniz und Thomasius zum Privatrecht geleistet haben, in stärkerem Maße widmet. Dem Privatrecht von Wolff hat allerdings Hattenhauer in seinen "Grundlagen des Bürgerlichen Rechts" bereits die gebührende Aufmerksamkeit zukommen lassen3 • Hier erscheint Wolff in allen entscheidenden Fragen als einer der Begründer eines modemen liberalen und, wenn man so will, auch kapitalistischen Privatrechts. Das entspricht im wesentlichen auch der von Koselleck zum preußischen Allgemeinen Landrecht getroffenen Feststellung, die man sicher im Prinzip auch für den Code civil wird gelten lassen wollen, der Feststellung nämlich, daß das ALR die "Weiche zugunsten einer staatsbürgerlichen Eigentümergesellschaft " gestellt habe4 . Demgegenüber hatte Wieackers Darstellung in seiner Privatrechtsgeschichte der Neuzeit eher den Eindruck erweckt, daß man das natürliche Privatrecht von Wolff in starkem Maße den ständisch und moralphilosophisch oder gar moraltheologisch bestimmten Traditionen des älteren europäischen Privatrechts zuordnen müsse, das von dem Gedanken der Pflichten des Menschen dominiert wird. Aber es bestehen nicht nur Unklarheiten in bezug auf die Einschätzung des Privatrechts des 17. und 18. Jh. als Ordnung von Eigentümerrechten oder System von Bürgerpflichten. Darüber hinaus bestehen sogar hinsichtlich der Notwendigkeit der Existenz eines Privatrechts und der Funktion des Privatrechts in der altständischen Gesellschaft überhaupt kontroverse Ansichten. Während eine große Anzahl von Forschern dazu neigt, kapitalistische und liberale Gedanken in der europäischen Gesellschaftsordnung seit dem Zeitalter des Humanismus und der Reformation in unaufhaltsamem Vordringen zu sehen5 - mit Höhepunkten bei Hobbes und Locke und mit den naturrechtlichen Kodiftkationen als krönendem Abschluß -, scheint die herrschende Überzeugung nach wie vor dahin zu gehen, daß die "selbständige GerechtigkeitsZeitschrift für historische Forschung 14 (1987) 108, sowie Klaus Luig, in: Savigny-Zeitschrift, Gennanist. Abt. 103 (1986) 399. 3 Hans Hattenhauer: Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts, München 1982, S. 23, 43, 81, 116, 146; dazu die Rez. von Klaus Luig, in: AcP 185 (1985) 202. 4 Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Refonnation und Restauration, 1967, S. 32. Klaus Luig: Zivilrecht und Zivilrechtspflege, in: Panorama der fridericianischen Zeit, hg. v. Jargen Ziechmann, Bremen 1985, S. 381, versucht, anband einzelner Institutionen zu zeigen, wie das ALR zu vennitteln sucht zwischen "natürlicher Freyheit, sein eigenes Wohl ... suchen zu können" (§ 83 Einl. ALR) und der "Sicherheit des gemeinen Wesens" (§ 73 Einl. ALR). Franz Wieacker: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 1967, S. 332.
5 So Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I, 1700-1815, München 1987, S.60-61.
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verwirklichung des Bürgers" im absolutistischen Obrigkeitsstaat keine große Rolle gespielt hat6, und daß der Untertan im absoluten Staat keine Bedeutung als Inhaber von Rechten hatte, sondern nur als "Objekt obrigkeitlicher Fürsorge" in einem Wohlfahrtsstaat mit großem Verwaltungsapparat angesehen wurde7. Wenn man den Kreis noch weiter zieht, gehören die Frage nach dem Charakter des Privatrechts als Ptlichtenordnung oder Rechtsordnung und die weitere Frage nach der Notwendigkeit eines Privatrechts überhaupt zu dem generellen Begriff der "Sozialdisziplinierung" , den man heute allgemein als Schlüsselbegriff der gesamten Epoche verwendet. Der von Gerhard Oestreich geprägte Begriff der Sozialdisziplinierung als "Epochencharakteristikum"8 der frühen Neuzeit hat auch Bedeutung für die Geschichte des Privatrechts, aber nicht etwa in dem "Sinne, daß der Staat, der den Bürger disziplinierte", auch für ihn sorgte. Vielmehr war nach Oestreichs Konzept "die große strukturelle Wandlung von der Statusordnung zu freien Vertragsverhältnissen ... (ein) Prozeß der Disziplinierung"9. Was das heißen soll, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, daß in diesem Sinne auch die modeme Demokratie aus einem Disziplinierungsprozeß hervorgegangen ist. Denn "Demokratie setzt ... Disziplin der Staatsbürger voraus - nicht die Disziplin im Gehorchen einer Befehlsgewalt, sondern die Disziplin im Dienste des Gemeinwohls als Teile des Ganzen für die Teilhabe am Ganzen" 10. Darauf beruhte ursprünglich das Bündnis von Kapitalismus und Aufklärung. Doch bleibt, wie Schulze festgestellt hat, ein vorläufig unautlösbarer Rest zwischen der eben geschilderten Sicht der Dinge und der ebenfalls sich aufdrängenden Beobachtung bestehen, daß Oestreichs Zeit der Sozialdisziplinierung auch die Zeit der Entwicklung des bürgerlichen Individualismus istli. Bisher hat man die Lösung dieser Probleme weitgehend in dem Disziplinierungsinstrumentarium der Polizei- und Landesordnungen gesehen 12. Aufschlüsse müßte aber auch eine Analyse der großen naturrechtlichen Gesellschaftsentwürfe des 17. und 18. Jh. bieten können. Daraus ergeben sich für die Erforschung der privatrechtlichen Regeln des Naturrechts des 17. und 18. Jh., also des von Zeiller später sogenannten "natürlichen Privatrechts", zwei Aufgaben. 6 Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und Verwaltungslehre,
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7 Ulrich Eisenhardt: Deutsche Rechtsgeschichte, München
2. Aufl., München 1988, S.
1984, S. 167, 168.
8 Winfried Schulze: Gerhard Oestreichs Begriff "Sozialdisziplinierung in der frühen Neuzeit", in Zeitschrift fiir Historische Forschung, 14 (1987) 265. 9 Ebd., S. 277. 10 Ebd., S. 293. 11 Ebd., S. 295. 12 Marc Raeff: The Well-Ordered Police State, New Haven and London
1983.
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Zunächst muß festgestellt werden, ob die naturrechtlichen Gesellschaftsentwürfe überhaupt dem Privatrecht und der privaten Gerechtigkeitsverwirklichung einen Platz einräumen wollten und nicht vielleicht eher dazu neigten, den einzelnen nur als Objekt staatlicher Fürsorge und Beglückung zu betrachten. Wenn man dabei zu dem Ergebnis kommt, daß das Privatrecht eine Funktion in der Naturrechts-Gesellschaft haben sollte, muß man weiter prüfen, wie dieses Privatrecht im einzelnen beschaffen sein sollte. War es gedacht als eine natürliche Pflichtenordnung, die es jedem gebietet, soviel zur Glückseligkeit des Nächsten, soviel zum gemeinsamen Nutzen und Glück der Gesellschaft und des Nächsten beizutragen, wie in seiner Macht steht? Oder handelte es sich vielmehr um ein System von Berechtigungen des freien Individuums, dem allenfalls Grenzen durch die entsprechenden Rechte der anderen gesetzt werden?
2. Die Tradition des Privatrechts Das Privatrecht regelt den Bereich privater Initiativen und Unternehmungen, wo es um den Erwerb, den Austausch, den Genuß und die Vererbung von Gütern geht, die den Bedürfnissen der Bürger dienen. All das läßt sich unter dem Begriff des Vermögens oder des Eigentums im weitesten Sinne zusammenfassen. Dazu kommen das Ehe- und Familienrecht, die durch das Ehegüterrecht und das Erbrecht mit dem Vermögensrecht verknüpft sind, in der Regelung der persönlichen Beziehungen in Ehe und Familie aber eher öffentlich-rechtlichen Charakter haben. In dem so umschriebenen Bereich des Privatrechts hat der einzelne Gestaltungsfreiheit für seine private Lebensführung im Austausch mit anderen Bürgern, ist aber auch selbst dafür verantwortlich, sich das zu beschaffen, wessen er zum Leben bedarf. Diese private Freiheit wird geschützt durch ein Ordnung, Sicherheit und Gerechtigkeit gewährleistendes System von Rechtsregeln, die als ein vom Staat garantiertes System von Verhaltensgeboten zu verstehen sind, die erforderlichenfalls mit gerichtlicher Hilfe durchgesetzt werden. Leistungen des Staates an den einzelnen spielen in diesem System keine entscheidende Rolle. Der Absolutismus hat die Existenz dieses vom Zivilrecht begrenzten und geregelten Bereichs privater Aktivitäten als Teil der staatlichen Organisation vorgefunden. Die historische Wurzel dieser Privatrechtsordnung oder Bürgerrechtsordnung ist im Rom der republikanischen Zeit entstanden und wurde fester Bestandteil der staatlichen Ordnung aller Staaten, die sich seit der Völkerwanderungszeit auf dem Boden des antiken römischen Imperiums etabliert haben. Das zur römischen Staatsreligion aufsteigende Christentum und der spätantike Zwangsstaat haben die Existenz dieses Privatrechts im Prinzip nicht in Frage gestellt, im einzelnen aber inhaltlich stark beeinflußt. Dem entspricht es, daß die mittelalterliche Moraltheologie und Moralphilo-
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sophie ZU einem großen Teil privatrechtliche Wirtschaftsethik waren. Daran hat auch die Reformation nichts geändert. In der Lehre Luthers spielt die Gerechtigkeit in der Familie und bei privaten Geschäften eine große Rolle. Das gilt in noch größerem Maße für Calvin und alle von ihm beeinflußten Reformationen, die der privaten Initiative und damit auch dem Privatrecht große Bedeutung beimessen, weil der äußere Erfolg des wirtschaftenden Menschen die Gnade Gottes verbürgt. Der absolute Fürstenstaat der frühen Neuzeit übernimmt trotz aller Neuorientierungen der Staatslehre an wohlfahrtsstaatlichen Idealen die abendländisch-christliche Tradition des Privatrechts. Denn auch der auf Kosten der Machtansprüche der Kirchen entkonfessionalisierte und enttheologisierte absolute Staat bleibt ein christlicher Staat. Allerdings berührt die Frage nach der Existenz privater Rechte und einer damit verbundenen Privatrechtsordnung die Prinzipien des Absolutismus mehr als die anderer Staatsformen. Trotzdem hat auch der fürstenstaatliche Absolutismus in seinen extremsten Formen den Polizeistaat nie so weit ausgedehnt und den einzelnen so sehr in das System der Staatszwecke eingegliedert, daß es Rechte und Pflichten nur in vertikaler Linie zwischen Untertan und Staat gegeben und weder Freiraum noch Möglichkeit für einen Austausch von Untertan zu Untertan bestanden hätten. Zwar philosophieren die Theoretiker über einen Staat, in dem es nur das Problem der gerechten Verteilung der Güter durch den Staat und der gerechten Beitragsleistung von seiten der Untertanen geben würde. In der Wirklichkeit hat jedoch der Absolutismus trotz aller staatlichen Disziplinierung seinen Untertanen freien Raum belassen, ja, sie geradezu auf den Freiraum verwiesen zur Familiengründung und zum Erwerben, Austauschen, Genießen und Vererben von Gütern 1m Individualinteresse. Den Kern einer jeden Privatrechtstheorie bildet die Lehre vom Eigentum, die Rechtfertigung seiner Existenz gegenüber dem Staate und den Mitmenschen und die innere Ausgestaltung der einzelnen Befugnisse, die es gewährt, und auch der Pflichten, die mit ihm verbunden sind. Die neuzeitlichen Eigentumstheorien sind in protestantischen Ländern mit starker demokratischer Tendenz (England, Niederlande) entstanden. Von da aus sind sie in die absolutistischen Länder übertragen worden, in erster Linie nach Frankreich. Mit Wirkung für Deutschland sind es in erster Linie die Naturrechtler und Rechtsphilosophen Hugo Grotius, Samuel Pufendoif, Christian Thomasius, Cocceji, Christian Wolffund Immanuel Kant, und dann in zweiter Linie deren juristische Schüler Darjes, Nettelbladt, v. Carmer, Suarez und E.F. Klein, die die Grundzüge eines als Eigentumslehre verstandenen Privatrechts diskutierten, propagierten und schließlich in Gesetze umsetzten.
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3. Grotius' System der privaten Rechte Am Ausgangspunkt der Entwicklung steht Hugo Grotius' (1586-1645) "De iure belli ac pacis", publiziert im Jahre 1625 in Paris.
Grotius hat im Chaos der Glaubens- und Kolonialkriege nach einem über alle Konfessionen, Religionen und Staatensysteme hinweg allgemein verbindlichen Völkerrecht gesucht l3 . Da sich aber in Grotius' Völkerrechtssystem die einzelnen Subjekte des Völkerrechts wie Individuen einander gegenüberstehen, stellt sein Völkerrecht zugleich auch eine Rechtslehre eines natürlichen Privatrechts dar. Das wirkt sich besonders deutlich bei der Erörterung der naturrechtlichen Grunde für einen gerechten Krieg im wichtigsten zweiten Buch des Werkes aus. Grotius lehrt: "Kriegsgrund ist Unrecht, besonders Unrecht gegen das, was uns gehört"14. Weil somit das System der Kriegsgrunde zugleich ein System von Eigentumsverletzungen darstellt, muß Grotius die gesamte natürliche Eigentumslehre vortragen, die nicht unterscheidet, ob der Eigentümer ein Staat oder eine Einzelperson ist. Die Fälle berechtigter Gewaltanwendung durch Private sind ebenso zu beurteilen wie das Recht auf kriegerische Handlung der Völker. Dazu kommt natürlich das Problem der Verletzung der Person. Und weil weiter unter den naturrechtlichen Eigentumsbegriff nicht nur das fällt, was uns gehört (quod nostrom est) , sondern auch das, was uns geschuldet wird (quod nobis debetur) 15 , ist ebenfalls das gesamte Vertragsrecht Teil der Lehre von den Kriegsgrunden.
So behandelt Grotius' Lehre von den Kriegsgrunden die wichtigsten Kapitel des Privatrechts l6 . Gemäß dem Ausgangspunkt in der Frage nach der einen gerechten, auf Verteidigung, Wiedergutmachung und Strafe für das Unrecht abzielenden Krieg auslösenden Verletzung handelt es sich bei diesem Privatrecht prinzipiell um ein System von Rechten des Individuums und der diesen als Rechtssubjekten in "natürlicher" Hinsicht gleichstehenden Staaten. Dabei argumentiert Grotius jedoch ethisch. Er denkt noch in den Bahnen der Tradition der praktischen Philosophie, in der nicht zwischen Recht und Moral unterschieden wird. Daher beruhen, wie Hofmann unterstreicht 17 , seine Vorstellungen vom Recht nicht auf Nützlichkeitserwägungen, sondern "auf dem ethisch verstandenen Grunde menschlicher Sozialität" oder des "Gesel-
13 Hasso Hofmann, Hugo Grotius, in: Staatsdenker chael Srolleis, 2. Aufl., FrankfurtlMain 1987, S. 52.
im 17. und 18. Jahrhundert, hg. v.
Mi-
Pro!. § 43, JBP D 2 § 1. Dazu Hofmann (Fn. 13), S. 66. JBP D 1 § 2, D 11 ff. Malre Dießelhorsr: Die Lehre des Hugo Grotius vom Versprechen, Köln 1959. 16 Darstellungen bei Hofmann (Fn. 13), S. 65, 66, und Wieacker (Fn. 4), S. 290-301. 17 Hofmann (Fn. 13), S. 67. 14 Hugo Grorius, 15 Hugo Grorius,
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ligkeitstriebes" 18. So korrespondiert dem das ganze Werk durchziehenden Gedanken der Freiheit des Handels und der Meere als Grundton mit nicht weniger Gewicht die Sozialpflichtigkeit des Privateigentums, wonach man als Fortwirkung des ursprünglichen Gemeineigentums den Eingriff eines anderen nicht nur im Notstand, sondern auch schon dann, wenn er einem selbst nicht nachteilig ist, dulden muß 19 . Auch der im Ansatz individualistische Vertrag als wichtigstes Instrument der Begründung von Rechten, die sich Grotius vorstellt als Übertragung eines Partikels der Freiheit des Versprechenden (particula nostrae libertatis)20, ist eine für den Bestand der menschlichen Gesellschaft notwendige Einrichtunli, die Vorbedingung ist für die Erfüllung der Gebote des Geselligkeitstriebes. Dem entspricht die Wahrheitspflicht bei der Willenserklärung nebst der Verantwortlichkeit für die eigenen Erklärungen22 und schließlich auch die inhaltliche Vertragsgerechtigkeit ("ne plus exigatur quam par est")23. Im ganzen folgt aber Grotius' Privatrecht dem Bild eines in Freiheit für sich selbst sorgenden und verantwortlichen Individuums, das zwar in die menschliche Gesellschaft eingebunden ist, dessen Zweckbestimmung aber nicht das Glück der Gesellschaft ist.
4. Von Pufendorfs "De oflicio hominis et civis" zu den "Droits de l'homme et du citoyen" Vom Recht des Individuums ausgehend konstruieren auch Hobbes und
Locke ihre philosophischen Systeme. Die Dinge ändern sich grundlegend bei
Samuel Pufendorf (1632-1694), der seinem in über 150 Auflagen verbreiteten24 Kompendium des Naturrechts, das ebenfalls weithin dem natürlichen Privatrecht gewidmet ist, als Programm den Titel "De officio hominis et civis" gibt. Wohin danach die Entwicklung verläuft, zeigt sich daran, daß aus der französischen Übersetzung dieser Formel durch Jean Barbeyrac in knapp einhundert Jahren die "droits de l'homme et du citoyen" werden. Zunächst aber führt die Hervorhebung der Schwäche des Menschen (imbecillitas) als anthropologische Qualität in der Rechtslehre von Samuel Pufendorf zu einer Aufwertung der Schutz- und Fürsorgefunktion des absoluten Staates und 18 Hofmann (Fn. 19 Wieacker (Fn.
13), S. 67. 4), S. 292.
20 Hugo Grotius, JBP, n 11 § 4, 1. 21 Hofmann (Fn. 13), S. 68. 22 Grotius, JBP n 16 § 1, 1. Wieacker (Fn. 4), S. 293. 23 Wieacker (Fn. 4), S. 295. Grotius, JBP, n 12 § 8, § 26. 24 Klaus Luig: Zur Verbreitung des Naturrechts in Europa, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 40 (1972) 548, nennt 152 Ausgaben, Übersetzungen und Bearbeitungen.
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dementsprechend zur Betonung der privatrechtlichen Pflichten des Individuums gegenüber seinen Mitmenschen und gegenüber dem schützenden Notdach des Staates25 • Denn der Staat kann nur bei Wahrung des Vorrangs der Pflichten vor den Rechten und des Gemeinnutzes vor dem Eigennutz den Untertanen Glückseligkeit gewähren. Pufendoif konstruiert keinen Staat ohne Privatrecht, mit Arbeitszwang und totaler Fürsorge. Aber ein Sondereigentum besteht für ihn nur insoweit, als seine Einrichtung sinnvoll ist zur besseren Erfüllung der Gemeinschaft~flichten, der "schuldigen Gebühr aller Menschen", wie 1. Weber sagt 6. Insofern ist Pufendoifs imbecillitas-Lehre ein Teil der großen Sozialdisziplinierung des absolutistischen Zeitalters27 . Besonders eindrucksvoll für den Charakter des Privatrechts als einer Pflichtenlehre sind die Theorie der Begründung des Individualeigentums28 und die Rechtfertigung des schuldrechtlichen Vertrages. Doch davor steht als Pflicht der Menschlichkeit, daß ein jeder den Nutzen des Nächsten befördern muß, soweit es ihm ohne eigenen Nachteil möglich ist29 . Dieses von Pufendoif als "innoxia utilitas" , als unschädliche Nützlichkeit, bezeichnete Prinzip kann durchaus privatrechtliche Auswirkungen haben, indem es etwa dem Abwehrrecht des Eigentümers einer Sache Grenzen setzt und die Position des Eigentümers nicht allein durch seine Willkür bemisst30 . Der Vertrag bildet für Pufendoif den Übergang von den allgemeinen Pflichten, die ohne weiteres jeden Menschen mit dem anderen verbinden, zu den Pflichten, die nur unter bestimmten Voraussetzungen zwischen bestimmten Menschen bestehen. Pufendoifsagt31 : "Es ist hinreichend klar, daß es für die Menschen notwendig ist, Verträge miteinander einzugehen. Denn obwohl die Pflichten der Menschlichkeit einen breiten Raum im Leben des Menschen einnehmen, so kann doch keineswegs allein aus dieser Quelle alles hergeleitet werden, was die Menschen voneinander an Nutzen empfangen sollten. Denn nicht alle sind von so großer Güte, daß sie alles, womit sie anderen nützen können, aus bloßer Menschlichkeit zu leisten bereit sind, ohne sich vorher der Aussicht auf Empfang einer Gegenleistung zu vergewissern. Und oft ist die Hilfe, die andere uns bieten können, so beschaffen, daß wir nicht, ohne unser 25 Albrecht RandelzhoJer: Die Pflichtenlehre bei Samuel von Pufendorf, Berlin 1983, 17. 26 So übersetzt Immanuel Weber "De officio hominis" im Titel seiner deutschen Übersetzung von PuJendorfs Kompendium, Leipzig 1702. 27 Schulze (Fn. 8), S. 290, unter Berufung auf Medick. Weniger deutlich Horst Denzer: Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf, München 1972, S. 152. Malte Dießelhorst: Zum Vermögensrechtssystem Samuel Pufendorfs, Göttingen 1976. 28 Dazu auch Reinhard Brandt: Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, Stuttgarl-Bad Cann-
Slall 1974.
29 Samuel von PuJendorf: Oe officio hominis, I, 8. Dazu Denzer (Fn. 27), 150.
30 Zu den sich daraus ergebenden Perspektiven rur das modeme Recht vgl. Klaus Luig: Historische Betrachtungen über die Ersitzung des Wegerechts, in: Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät Köln, Köln 1988, S. 95, 109. 31 Samuel von PuJendorf: Oe officio hominis et civis, I, 9.
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Gesicht zu verlieren, fordern können, daß sie uns unentgeltlich erwiesen werde. Oft ziemt es sich auch weder angesichts unserer Vermögenslage noch angesichts unserer persönlichen Stellung, von einem anderen eine so große Wohltat entgegenzunehmen. Daher ist in den meisten Fällen die Lage so, daß der andere seine Leistung gar nicht ohne eine Gegenleistung erbringen kann, und wir sie aber auch nicht ohne Gegenleistung annehmen wollen. Endlich bleibt es auch nicht selten den anderen verborgen, wie sie uns von Nutzen sein könnten. Damit also die zwischenmenschlichen Pflichten, die eine Folge des Prinzips der Sozialität sind, um so regelmäßiger und nach ganz festen Regeln erfüllt werden, ist es notwendig, daß die Menschen miteinander Verträge über den Austausch solcher gegenseitigen Leistungen schließen, die sie allein nach den Gesetzen der Humanität sich nicht bindend von anderen zusagen lassen können. M Danach bringt es die Schwäche des Menschen prinzipiell mit sich, daß die Menschen einander helfen müssen. Das zu tun ist Ausdruck der Sozialität. Aber die Grundsätze eines geordneten Zusammenlebens machen es notwendig, daß in diesem naturgesetzlich notwendigen Austausch mit Hilfe des Abschlusses von Verträgen für den konkreten Einzelfall bindende und auch mit Zwang durchsetzbare Vereinbarungen getroffen werden. Gesichert wird durch Verträge also weniger die Rechtsstellung dessen, der etwas in seine Macht bringen will, als die Erfüllung der Pflichten der Menschlichkeit. Dieser Geist durchzieht das natürliche Privatrecht von Pufendorj. Er wirkt sich aus bei der Eigentumslehre, beim Gebot der Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung und bei den Mgegenseitigen Wahrheits-, Aufklärungs- und Schutzpflichten der Vertragsparteien32 .
5. Leibniz' Versuch des Ausgleichs zwischen Recht und Pflicht Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) hat mit der ihm eigenen Gründlichkeit des Denkens prinzipiell die Frage nach der Notwendigkeit der Existenz eines Privatrechts im perfekt organisierten Staate gestellt. In Leibniz' utopischer Res publica optima ist kein Platz für ein auf Individualeigentum und vertraglichem Austausch beruhendes Vertragsrecht33 • Hier ist die Sozialdisziplinierung in einem Maße verwirklicht, in dem alle für den Staat arbeiten und der Staat für alle sorgt. Doch diese Utopie ist nicht Leibniz' ganze Wahrheit. Im einzelnen hat Leibniz seine Gedanken auf der Grundlage 32 Wieaclcer (Fn. 4), s. 311. 33 So Hans Peter Schneider: Gottfried Wilhelm Leibniz, in: Staatsdenker (Fn. 13), S. 220. Wemer Schneiders: Gottfried Wilhelm Leibniz: Das Reich der Vernunft, in: Grundprobleme der großen Philosophen, hg. v. Joseph Speck, Philosophie der Neuzeit I, 2. Aufl. Göttingen 1986, S. 138 ff.
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der Einsicht in das nicht ganz zu übeIWindende Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft wie folgt entwickelt34 : Der Grundwert allen Rechts ist die Glückseligkeit des Individuums. Trotzdem ist bei der Frage nach dem Recht und der Gerechtigkeit der Ausgangspunkt beim Begriff der Gesellschaft zu nehmen. Denn was Recht und Gerechtigkeit ist, bestimmt sich prinzipiell vom Gemeinwohl her als dem Ziel jeder Gesellschaft, insbesondere der staatlichen Gesellschaft. Gerecht ist aus diesem Grunde, was der Erhaltung der Gesellschaft dient, was das Gemeinwohl fördert. Vom Gemeinwohl läßt sich aber das Glück der einzelnen nicht trennen. Deswegen ist für Leibniz die Gerechtigkeit ein Proportionalitätsbegriff; was gerecht ist, ergibt sich im Einzelfall erst aus einer Güterabwägung: Eine Maßnahme des Staates ist gerecht, wenn sie das Gemeinwohl fördert. Das ist aber nur dann der Fall, wenn der Vorteil des durch diese Maßnahme Begünstigten größer ist als der Nachteil dessen, der durch sie beeinträchtigt wird. Das zur Herstellung des Gemeinwohls Geforderte ist nur legitimiert, wenn es demjenigen, der dafür ein Opfer bringen soll, im Vergleich zum erzielbaren Nutzen nur einen kleinen Nachteil bringt. Deswegen muß der gerechte Mensch oder der gute Mensch das Gemeinwohl nur soweit fördern, wie es ohne Vernachlässigung des eigenen Wohles möglich ist. Das heißt aber auch: Grundsätzlich ist der Mensch in der Verfolgung des eigenen Wohles frei. Frei ist, was nicht geboten und nicht verboten ist. Dafür aber, daß eine Handlung freigestellt ist, spricht eine Vermutung. Das Gemeinwohl vorbehaltlich des eigenen Wohles - "bonum commune salvo suo" - wird bewirkt durch Befolgung der drei Grundregeln des Rechts: Tugendhaft leben, jedem das Seine zuteil werden lassen, niemanden verletzen. Dabei versteht Leibniz unter "tugendhaft leben" im Grunde das Gebot der Nächstenliebe. Das Gebot, "jedem das Seine zuzuteilen", richtet sich nur an die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) des Staates. Und das Gebot "niemanden zu verletzen" endlich ist die Grundregel im Verkehr der Bürger des Staates untereinander (iustitia commutativa). Sie bedeutet: "Niemandem etwas wegnehmen, das er durch Glück oder Fleiß eIWorben hat. " Für die Tugend ist jeder vor Gott selbst verantwortlich. Recht und Staat sind für Leibniz davon nicht tangiert. Die VeIWaltung der austeilenden Gerechtigkeit jedoch und der Schutz des Eigentums der Bürger liegen in der Hand des Staates, der dabei Zwangsmittel einsetzt. Bei der Erfüllung seiner Aufgaben wendet der Staat verschiedene Maßstäbe an: Bei der austeilenden Gerechtigkeit geht es um Würde, Verdienst, Billigkeit, Staatsinteresse und 34 Die folgende Darstellung basiert auf meinem Aufsatz: Leibniz als Dogmatiker des Privatrechts, in: Römisches Recht in der europäischen Tradition, hg. v. Okko Behrends, Malte Dießelhorst, WulfEckhardt Voss, Ebelsbach 1985, S. 213.
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auch Bedürfnis. Das sind die Maßstäbe für die Verteilung der staatlichen Leistungen und für die Einziehung der vom Staat geforderten Beiträge des einzelnen. Bei der Gerechtigkeit des Austausches der Bürger untereinander gilt allein der Maßstab der Gleichheit beim Schutz dessen, was der einzelne erworben hat. Die schwierigste Frage für den Philosophen, der den idealen Staat konstruieren will, ist nun die Abgrenzung des Bereiches, in dem die verteilende Staatsgewalt tätig wird, von dem Bereich der privaten Gerechtigkeit. Leibniz stellt zunächst die Notwendigkeit eines Privatrechts überhaupt in Frage und sagt: "Warum schützt der Staat überhaupt das private Vermögen und beschränkt sich nicht auf die Verteilung im gemeinsamen Interesse?" Auf den ersten Blick wäre letzteres ja eigentlich gerechter. Leibniz sagt, wenn der Staat die Güter nach Verdienst verteilte, dann würde etwa bei einem Streit um einen Acker oder auch um ein Kleidungsstück die Frage entscheidend sein, wer die Sache besser gebrauchen könne und wer etwa den Acker besser bestellen könne - nicht aber, wer ihn zufällig geerbt habe. Ein solcher nach Verdienst austeilender Staat entspricht eigentlich der Idealvorstellung von Leibniz, der sagt: "Man muß aber folgendes wissen, wenn die Lage des Menschen einen idealen Staat zuließe, würde die Verfügungsgewalt über alle Dinge in der Hand der öffentlichen Gewalt sein, und die Menschen würden im Verhältnis ihrer Tugend und ihrer Verdienste von gemeinsamen Gütern Gebrauch machen, so wie es auch Sache des Staates wäre, einem jeden das allerbeste Werkzeug zur Ausführung seiner Verrichtungen zur Verfügung zu stellen. Alle Dinge, die nützen oder schaden können, müßten in einer Weise unter den Menschen verteilt werden, daß daraus die größtmögliche Vollkommenheit für die Gesamtheit der ganzen Gesellschaft entsteht. Weiter, wenn die Menschen genug Weisheit und Liebe besäßen und die Staaten so eingerichtet werden könnten wie gewisse religiöse Orden, daß alles in der Verfügungsgewalt und in der Obhut des Staates stünde, und den einzelnen ihr Anteil an der Arbeit wie auch am Erfolg und am Vergnügen in gleicher Weise zugeteilt würde, dann hätte die Rechtspflege nichts anderes zu besorgen als Verteilung ("distributio"). Als Maßstäbe für diese Verteilung dienten dann Vollkommenheit des einzelnen, Weisheit, Verdienst und die Fähigkeit, den rechten Gebrauch von der zugeteilten Sache zu machen (" ... homines distinguuntur perfectionibus. - ... quis altero sapientior sit, quis magis opes mereatur, aut illis rectius usurus sit ... ")." Wenn sich dieses Ideal verwirklichen ließe, wäre also das Privatrecht, das nur dem Egoismus der Individuen dient, überflüssig.
Im Idealfall wäre also nach Leibniz' Ansicht alles in der Gewalt und in der Fürsorge des Staates. Das Recht hätte nur verteilende (distributive) Funktion und wies dem einzelnen seinen gerechten Anteil an der Arbeit und an deren Früchten zu. Dieses Ideal hält Leibniz jedoch angesichts der menschlichen Natur, wie sie nun einmal ist, für undurchführbar. Die Gründe sind, daß erstens der Idealzustand nicht ohne Revolution herstellbar wäre, zweitens die g Schulze
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Menschen angesichts ihrer schlechten Veranlagung unter einer totalen Fürsorge des Staates träge werden könnten, und es auch - drittens - bisher an der rechten Erziehung fehle, die dies verhindern könne, daß es weiter, viertens, schwierig sei, gerechte Verwalter für die staatlichen Distributionsfunktionen zu fmden, und daß schließlich fünftens - selbst wenn sich dies alles regeln ließe - die Beurteilung der Verteilung der Güter nach Würde und Verdienst ("de dignitate ac meritis") stets zu endlosen Streitereien führen würde. Der wichtigste Gesichtspunkt dieser Liste scheint zu sein, daß die Menschen in der "optima respublica", in der alle Güter vom Staate verteilt werden, in Trägheit und Faulheit verfallen würden. Insbesondere deswegen stellt Leibniz schließlich als positiven Grundsatz heraus, daß der Staat so einzurichten ist, daß ein jeder für sich selbst sorgen muß. Dabei herrscht der Grundsatz: "Necessitate acuenda est industria, ne virtus ubertate laxetur." Das ergibt letztlich eine völlige Umkehr. Das oberste Prinzip ist das der Selbsterhaltung und Selbstversorgung. Dafür bedarf es der Freiheit. Die Freiheit ist erforderlich, um die Durchführung der Sorge eines jeden für sich selbst zu ermöglichen. Die Freiheit ist kein Wert an sich. Sie ist unverzichtbar, um die Versorgung aller durch Selbstversorgung zu gewährleisten. Wenn alle versorgt wären, bedürfte es keiner Freiheit. Nur als Folge dieser Überlegungen, und nicht etwa als Konsequenz einer prinzipiellen Wertentscheidung, hält es Leibn;z für besser, den einzelnen Menschen die Dinge, die sie nun einmal nach Zuweisung durch den Staat oder auch aufgrund von Glück oder Fleiß in ihrer privaten Verfügungsgewalt haben, zu belassen und nicht nach Tugend oder Verdienst als Kriterien für eine gerechte Verteilung zu fragen, sondern den erworbenen Besitz und den freien Erwerb des Besitzes zu schützen. Diese Entscheidung für die Privatrechtsordnung verlangt nach einer Eigentums- und Erwerbsfreiheit, die der Staat respektieren muß, der sich einmal auf die realistische Einschätzung der Menschen eingelassen hat. Dazu gehört die Gleichheit aller vor dem Recht, aber nicht die Gleichheit im Besitz. Diese eingestandenermaßen durch Nichtbeachtung gewisser Merkmale der Menschen, wie Verdienst und Bedürfnis, hergestellte Gleichheit ("aequalitas") und Freiheit sind die wichtigsten Grundlagen von Leibniz' Privatrecht. Sie sind Fiktionen, aber für den Frieden der menschlichen Gesellschaft notwendige Fiktionen. Es bleibt jedoch die Frage, ob die Gründe für die Zulassung des Privatrechts zwingend sind, oder ob der Staat Entscheidungsfreiheit bei der Wahl einer Gesellschaftsform mit oder ohne Privatrecht hat. Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus dem Wesen des Gemeinwohls. Leibniz sagt nämlich: "Es ist von öffentlichem Nutzen, alle Menschen gleich zu behandeln, um Verwirrung und unlösbare Streitigkeiten zu vermeiden." Also, das Gemeinwohl läßt sich allein dann verwirklichen, wenn man ein Privatrecht mit den Prinzipien der Gleichheit und entsprechender Freiheit zuläßt.
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Mit diesen Prinzipien schließt sich in für Leibniz typischer Weise der Kreis der Überlegungen. Das primär allen Werten überlegene bonum commune wird nicht durch staatliche Zwangsgewalt hergestellt, sondern ergibt sich als erhoffte, aber auch als notwendige Folge der mit Hilfe der Prinzipien des Privatrechts hergestellten Glückseligkeit (felicitas). Charakteristisch für Leibniz' Rechtsphilosophie ist nun, daß er mit großer Klarheit die rechtlichen Konsequenzen aus dieser Grundentscheidung für die zwar nicht ersehnte oder erträumte, aber eben notwendige Eigentümer-MarktGesellschaft zieht: Nur wenn diese Gesellschaft perfekt durchdacht ist, dient sie letztlich dem Gemeinwohl. Demgemäß gelten folgende Grundregeln für das Privatrecht: Erstens, der Mensch ist in seinen Handlungen im privaten Bereich frei; zweitens, er hat ein absolutes Herrschaftsrecht an seiner eigenen Person; drittens, er hat ein absolutes Herrschaftsrecht an dem, was er durch Glück und Fleiß erworben hat; viertens, mit Hilfe seines Vermögens sorgt der Mensch für sich selbst; fünftens, der Staat greift nicht verteilend ein, sondern schützt lediglich die Freiheit des Erwerbs und des Austausches und garantiert die Wahrung des Besitzstandes. Das sind auch die Prinzipien des modemen Privatrechts. Leibniz hat dann aber etwas versucht, was die spätere liberale Theorie wieder aus den Augen verloren hat. Leibniz hat es nämlich unternommen, dieses eben geschilderte, egoistische System einer Eigentümergesellschaft zu ergänzen um ein System von Pflichten und von positiven Vorschriften des sozialen Wohlverhaltens, nach denen die Freiheit an der Grenze endet, an der ihr Gebrauch den eigenen Nutzen nicht mehr vergrößert, einem anderen aber Schaden bringt. Und zweitens will er das Privatrecht ergänzen um ein System von Regeln, das den Egoismus da verbietet, also da aktives Wohlverhalten und Austeilen von Wohltaten gebietet, wo der einzelne seine Wohltat gegenüber einem anderen ohne eigene Einbuße als "innoxia utilitas" erbringen kann35 . Das Ganze ist natürlich nur ein abstraktes Prinzip: Die Nächstenliebe als Rechtsprinzip also als erzwingbares Prinzip - jedenfalls da, wo man sie ohne eigene Einbuße erbringen kann. Auch die Beispiele, die Leibniz dafür anführt, sind nicht sehr konkret. Trotzdem hat er von diesem Ausgangspunkt her die Probleme des Privatrechts konsequent unter dem Gesichtspunkt des bonum commune sowie der Hilfspflichten, die ohne eigenen Nachteil gewährt werden können (innoxia utilitas), durchdacht. Das zeigt sich - was den Staat anbelangt - etwa bei dem auf dem "summum in res subditorum dominium" des Staates beruhenden entschädigungslosen Enteignungsrecht. Und bezüglich der Hilfspflichten gegenüber den Mitmenschen zeigt sich dies an der Beschränkung des Ersitzungsrechts für den Fall, daß der Ersitzende die Sache leicht entbehren kann. Ein Rest davon ist in § 977 BGB erhalten, wonach
35 Ebenso Pufendoif(Fn. 29). 8·
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zwar nicht der Ersitzende, aber doch der Finder einer Sache trotz seines Eigentumsetwerbs zur Herausgabe der Bereicherung verpflichtet ist. Ein weiteres Beispiel ist das Festhalten am Prinzip der Notwendigkeit einer causa als Voraussetzung für die Verbindlichkeit einer vertraglichen Zusage, aber auch hier wieder mit der Verpflichtung des Versprechenden, aus dem Gedanken der Hilfspflicht wenigstens das zu leisten, was er leicht entbehren kann36 . Und der Einfluß des Gedankens der mitmenschlichen Hilfspflicht (alteri prodesse) ist endlich auch zu beobachten bei Leibniz' Versuch, für den vieldiskutierten Fall des zweimaligen Verkaufs ein und derselben Sache je nach der materialen Bewertung der Interessenlage zwischen dem ersten und zweiten Käufer - im Grunde also nach den Kriterien der austeilenden Gerechtigkeit - eine Lösung zu finden37 . So stellt zwar Leibniz' Privatrecht prinzipiell ein System von Rechten dar, doch sind die Kriterien der austeilenden staatlichen Gerechtigkeit und der ursprünglichen Pflicht stets als Ziel und Grenze einer jeden Regel gegenwärtig. Dabei hat die Existenz dieses Vorbehaltes der Gemeinschaftspflicht und auch die Vorstellung eines streng durchkonstruierten Systems von privatrechtlichen Regeln zweifellos etwas mit dem Gedanken der Sozialdisziplinierung zu tun38 , wichtig ist aber auch die Verantwortung für die Selbsterhaltung ("conservatio sui")39 dessen, der frei "mit seiner zuflilligen Habe wirtschaftet, wie es ihm gutdünkt .•
6. Thomasius und der Primat des Schutzes der Rechte Ein entschieden liberales Privatrecht, das auf der Freiheit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums basiert, lehrt Christian Thomasius (1656-1728)40. Was in Thomasius' natürlichem Privatrecht an Pflichten
36 Klaus Luig: Leibniz als Dogmatiker, S. 237 (nach Leibniz Ale VI 3,615). 37 Luig (Fn. 36), S. 241 (nach Leibniz bei Grua 11 858, 774). Zum Problem des Doppelverkaufs bei Grotius vgl. Wieacker (Fn. 4), S. 297, und bei Pufendoifvgl. Wieacker (Fn. 4), S. 311. 38 Vgl. dazu den oben Fn. 8 zitierten Aufsatz von Schulze. Demgegenüber betont Paolo Cappellini: Systema iuris, Vol. I, Milano 1984, mehr die Funktion des Systems als Freiheitsgarantie (vgl. dazu meine Rezension in Quademi fiorentini 15 [1986] 415).
39 Leibniz, bei Grua 11 610, 615, 672. 40 Die folgenden Ausfiihrungen beruhen auf: Klaus Luig: Christian Thomasius, in: Staatsdenker (Fn. 13), S. 227; Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im Zeitalter der Aufklärung, in: Festschrift fiir Helmut Coing, hg. v. Norbert Horn, Klaus Luig und Alfred Söllner, München 1982, I, S. 177; Das Privatrecht von Christian Thomasius zwischen Absolutismus und Liberalismus, in: Christian Thomasius (1655-1728) - Interpretationen zu Werk und Wirkung, hg. v. Wemer Schneiders, Hamburg 1989, S. 148. Im gleichen Band, S. 21: H.-J. Eng-
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auftritt, sind nicht mehr wie bei Leibniz die Folgen eines allgemeinen menschlichen Hilfsgebotes, sondern nur die sich in Verboten manifestierenden Grenzen, auf die die verantwortliche Ausübung eigener Rechte bei der Kollision mit den gleichwertigen Rechten der Mitmenschen stößt. Thomasius konstruiert in seinen 1705 erschienenen "Fundamenta iuris naturae et gentium ... ex sensu communi deducta" ein Privatrecht für Freie und Gleiche, die durch freien Erwerb des Eigentums und durch Austausch von Eigentum und Dienstleistungen nach Gutdünken aber auch in eigener Verantwortung für sich selbst sorgen, ohne daß der Staat eine größere Aufgabe übernimmt als die Verhinderung von Rechtsverletzungen. Die Idee eines so begründeten und von diesen Prinzipien in der Einzelausgestaltung aller Regeln beherrschten Privatrechts verwurzelt Thomasius tief in seiner Anthropologie. Grundlegend für Thomasius' Menschenbild ist die Unterscheidung zwischen Verstand und Willen. Die treibende Kraft ist der Wille. Der Verstand ersinnt die Mittel zur Verschaffung der vom Willen erstrebten Dinge. Der Wille selbst ist nämlich nicht frei. Er begehrt nur abstrakt, was für den Menschen gut ist, kann aber nicht beurteilen, was wirklich gut ist, sondern reagiert nur auf die Affekte von Lust, Geldgier und Machtsucht. Es herrscht aber keine mechanische Kausalität. Der Verstand führt die Wünsche des Willens nicht blindlings aus, sondern hat Freiheit bei dem Urteil über gut oder schlecht. Dabei richtet sich der Verstand nach einer Norm, nach der bemessen werden kann, was gut oder schlecht ist. Diese Norm liefern die Morallehre und die Rechtslehre. Thomasius unterscheidet drei verschiedene Bereiche des menschlichen Verhaltens, bei dem die Normen jeweils ansetzen: Den Bereich des Sittlichen (Honestum), das sich nur auf den inneren Frieden des Menschen bezieht und dem obersten Prinzip untersteht, daß man das auch für sich selbst tun soll, von dem man wünscht, daß es andere für sich täten. Dann folgt der Bereich des Wohlanständigen (Decorum), das die guten Handlungen betrifft, die jemand vornimmt, um das Wohlwollen der Mitmenschen zu erringen und um ihnen zu helfen. Dabei gilt das Prinzip: Was Du willst, das andere Dir tun, das tu auch ihnen. An dritter Stelle folgt die Gerechtigkeit (Justum), das Gebiet der erzwingbaren Regeln, die die äußeren guten Handlungen betreffen, die der Verhinderung von Störungen und der Wiederherstellung eines eventuell gestörten Friedens dienen. Hier gilt die Regel: Was Du nicht willst, daß es Dir geschehe, das tu auch keinem anderen.
Mit dieser Dreiheit von Regeln sind die Pflichten gegen Gott ganz aus dem Bereich der Moral ausgeschieden. Die Pflichten des Menschen gegen sich selbst dienen nicht mehr dem Nutzen, den wir selbst der Gemeinschaft stiften ler: Christian Thomasius. Erste Proklamation und erste Krise der Aufldärung in Deutschland, insbes. S. 34, 35. Zu den philosophischen Grundlagen: Wemer Schneiders: Naturrecht und Liebesethik, Hildesheim 1971.
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können, sondern nur noch unserem Seelenfrieden. Erst dann folgen die sozialen Pflichten, die wiederum in erzwingbare und nicht erzwingbare unterteilt sind. Alles, was Gegenstand eines positiven Handlungsgebotes ist, ist nicht erzwingbar, sondern nur eine Frage der Wohlanständigkeit. Das eigentliche Privatrecht beginnt erst bei den erzwingbaren Regeln. Dabei geht es nicht um positive Hilfsgebote, sondern lediglich um ein Verletzungsverbot: Verletze den anderen nicht in seinen Rechten, wie auch du nicht verletzt werden willst. Danach besteht das Gute, was der Mensch im Staate tun muß, nur in der Unterlassung von Verletzungen individueller Rechte der anderen. Selbst das scheinbar positive Handlungsgebot "Verträge muß man halten" erweist sich bei genauem Zusehen nur als Verbot der Verletzung einer Rechtsposition, die man selbst einem anderen eingeräumt hat. Das ist für Thomasius von zentraler Bedeutung für die Sicherung der menschlichen Freiheit. Dieses System hat nämlich, gemessen am Prinzip der Freiheit, den Vorteil, daß die positiven Handlungsgebote ganz auf den Bereich der Wohlanständigkeit beschränkt bleiben, wo es lediglich nicht erzwingbare Pflichten gibt, die aus dem Solidaritätsprinzip entspringen. Demgegenüber gibt es Zwang nur bei der Durchsetzung von Verboten zum Schutz von Gütern, also nur in der Defensive. Eine Privatrechtsordnung aber, die sich auf den Schutz von Gütern beschränkt, läßt natürlich dem einzelnen mehr Freiheit als eine positive Pflichtenordnung, bürdet ihm aber auch die Verantwortung für sich selbst auf. Daher tragen die Grundsätze von Thomasius' Privatrecht entschieden liberale Züge.
7. WolfTs Rückkehr zur sozialen Pflichtethik Bei Christian Wolff(1679-1754) schlägt das Pendel erneut zurück zu einer privatrechtlichen Pflichtenordnung41 . Wolff konstruiert eine natürliche Pflichtenlehre. Sie beruht darauf, daß jeder verpflichtet ist, seine eigene Glückseligkeit (felicitas) und die seines Nächsten nach Kräften zu fördern. Dabei stehen im Mittelpunkt des Privatrechts Rechtsnormen, die das ethische Gebot der gegenseitigen Hilfeleistung in verbindliche Rechtsregeln zu fassen versuchen. Am Übergang von der lediglich moralischen Pflicht der Nächstenliebe zu mit gerichtlicher Hilfe durchsetzbaren Pflichten und dementsprechenden Rechten des Nächsten steht für Wolff die Maxime, daß in der menschlichen Gesellschaft nicht nur ein jeder selbst dem Liebesgebot folgen muß, sondern das Recht hat, vom Nächsten zu erwarten, daß er das gleiche tue. Diese Ma41 Marcel 7homann: Christian Wolff, in: Staatsdenker (Fn. 13), s. 257. Klaus Luig: Die Pflichtenlehre des Privatrechts in der Naturrechtsphilosophie von Christian Wolff, in: Symposion aus Anlaß des 80. Geburtstages von Franz Wieacker, hg. v. Okko Behrends, Ebelsbach 1991, (im Druck).
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xime bildet den Schlüssel zum Verständnis von Wolffs sozialer Pflichtenethik und ihrer Verankerung in der Rechtsordnung. Die Konsequenz des Wolff'schen Prinzips ist, daß niemand die von ihm geschuldeten Liebespflichten erfüllen muß, ohne einen Anspruch auf eine angemessene Gegenleistung gegen den Begünstigten zu erwerben. Denn dieser ist ja seinerseits dem Liebesgebot unterworfen, das es ihm verbietet, eine Leistung ohne eine ihm selbst mögliche und dem anderen nützliche Gegenleistung anzunehmen. Das oberste Prinzip von Wolffs Naturrecht ist also: Erfülle das Gebot der zwischenmenschlichen Hilfspflichten (officia humanitatis) nach den Maximen, deren Einhaltung Du auch von Deinem Nächsten erwartest. Auf der Grundlage dieses Prinzips entwickelt Wolff sein Privatrecht als ein Recht des Austausches von Leistungen. Dabei besteht im einzelnen Freiheit in der Wahl der Partner und der Objekte der Leistungen. Alle zwingenden Regeln haben jedoch ihre Grundlage darin, daß sich niemand prinzipiell der Verpflichtung entziehen kann, im gemeinsamen Interesse am Austausch von Sachen und Leistungen mitzuwirken. Das führt in zahlreichen Fällen sogar zu einem Abschlußzwang. Wichtiger aber noch ist Wolffs Versuch, nach dem Vorbild von Leibniz und Pufelldoif an der Grenze von Moral und Recht für besondere Situationen die Verpflichtung zu einseitigen Liebesdiensten ohne Aussicht auf Gegenleistung in einem System von zumindest mittelbar erzwingbaren Rechtsregeln zu erfassen. Viele der hierher gehörenden Fälle des Verbotes egoistischer Ausnützung eigener Rechtspositionen und positiver Verpflichtung zur Nothilfe machen das aus, was man später als "soziales Privatrecht" bezeichnet hat. Demgegenüber tritt in Wolffs Privatrecht der Aspekt der Freiheit der Person und des Eigentums zurück. Jeder ist verpflichtet, das zu tun, was sich aus dem Leben in der menschlichen Gemeinschaft ergibt. Frei ist der Mensch nur da, wo keine gesellschaftlichen Notwendigkeiten bestehen. Diese Auffassung ist später als "übermäßige Anspannung der Volkskräfte durch den Staat" und als "aufdringliche Bevormundung", die unter dem Vorwand der So~e für eine "allgemeine Beglückung der Völker" stattfmde, kritisiert worden . Dagegen hat sich dann aus dieser Sicht Kants kategorischer Imperativ gewendet, der die Freiheit wieder vor die Pflicht setzte. Danach bestand das "allgemeine Prinzip des Rechts" lediglich in dem Satz: "Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann. "43 Das war die Grundlage für einen Staat, der nur eine Anstalt 42 Rudolfvon Gneist: Der Rechtsstaat, Berlin 1872, S. 15. Michael Stolleis: Geschichte des öffentlichen Rechts, I, 1600-1800, München 1988, S. 321-325, 379-385; "Rechtsstaat", in HRG IV 367-375. Klaus Luig: Rudolfvon Gneist und die japanische Verfassung von 1889, in: Kulturvermittler zwischen Japan und Deutschland, FrankfurtlMain 1990, S. 50, 64. 43 Immanuel Kam: Metaphys. Anfangsgründe der Rechtslehre, S. 23. Dazu B. Ludwig: Knnts Rechtslehre, Hamburg 1988, S. 103.
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zur Verwirklichung des Rechts sein wollte. Aber auch dem folgte schon bald wieder die Einsicht, daß der Staat nicht "bloße Rechtsassekuranz" sein könne, sondern auch einen "Wohlfahrtszweck" und einen "Sittenzweck" habe44 , die nicht verfolgt werden können, ohne daß den Bürgern Pflichten auferlegt werden. In dem hier beobachteten historischen Hin und -Her offenbart sich eine vorgegebene Spannung zwischen Individualrechten und Gemeinschaftspflichten, die das neuzeitliche Naturrecht auf dem Weg zum modemen Staat diskutieren mußte45.
44 Gneist (Fn. 42), S. 15, 16.
45 Vgl. Johannes Klmisch: L'ancien regime - das Ende Alteuropas, in: Spätzeit, hg. v. Johannes Kunisch, Berlin 1990, S. 159.
Vernünftiges Recht als überregionales Recht: Die Rechtsvereinheitlichung der österreichischen Zivilrechtskodifikationen 1786 - 1797 - 1811 Von Wilhelm Brauneder
1. Der länder- und völkerwngreifende GeItungsbereich Bereits mit dem Titel "Allgemeines ... Gesetzbuch für die gesammten deutschen Erbländer der oesterreichischen Monarchie" betonte die österreichische ZivilrechtskodifIkation von 1811, das ABGB, die nun herbeizuführende Rechtsvereinheitlichung für mehrere Länder analog zum "Allgemeinen Landrecht" für die Vielzahl der "preußischen Staaten", dem ALR 1. Dieses trifft aber schon auf die unvollendet gebliebene ZivilrechtskodifIkation von 1786, von der nur der 1. Teil sanktioniert worden war, zu: Als "Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch" galt sie gleichfalls "für die gesamten deutschen Erbländer "2 , was ihre spätere Bezeichung "Josephinisches Gesetzbuch" verdunkelt. Auch die erste vollständige österreichische ZivilrechtskodifIkation von 1797 rückt die mit ihr erzielte Rechtsvereinheitlichung gleichfalls nicht ins Blickfeld. Thre Titelvarianten kündigen Recht entweder nur für ein Land an: "Bürgerliches Gesetzbuch für Galizien" bzw. die am häufIgsten gebrauchte sogar nur für einen Landesteil: "Bürgerliches Gesetzbuch für Westgalizien", die im Zusammenhang mit der dritten Titelvariante "Bürgerliches Gesetzbuch für Ost~alizien" gar an unterschiedliches Recht für beide Landesteile denken läßt1 . Tatsächlich aber brachte diese ZivilrechtskodifIkation nicht nur die Rechtsvereinheitlichung im etappenweise 1772 (Ostgalizien) und 1795 (Westgalizien) erworbenen, rechtlich überaus heterogenen Land Galizien, sondern auch in der Provinz Buchenland (Bukowina). Überdies erschien der Text dieser Ko1 Wilhelm Brauneder: Das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die gesamten Deutschen Erbländer der Österreichischen Monarchie, in: Gutenberg-Jahrbuch 1987, S. 242. 2 Kundmachungspatent vom 1.11.1786 (Justizgesetzsammlung Nr. 591). 3 Brauneder (pn. 1), S. 231.
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diftkation noch unter einem anderen Titel, nämlich "Entwurf eines Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches", der als sogenannter "Urentwurf" zum ABGB 1811 galt: Der Inhalt sollte also die Rechtsvereinheitlichung in, einem größeren örtlichen Geltungsbereich herbeiführen, nämlich in jenem, für welchen schon das Teil-ABGB 1786 galt und dann das ABGB 1811. Der örtliche Geltungsbereich des Teil-ABGB 1786 wie auch des Erbfolgepatents 1786, dieses ein vorweggenommenes Stück Zivilrechtskodiftkation, samt dem Galizischen Gesetzbuch 1797 erstreckte sich vom Rhein bis zum Bug und Pruth, von Ion und Eibe bis an Po und Adria. Die beiden älteren Gesetze von 1786 galten in Vorderösterreich, wo in Freiburg/Breisgau die einzige mit einem Sachregister versehene Druckausgabe des Teil-ABGB 1786 erschien, und ab Vorarlberg in der geschlossenen Ländermasse der HabsburgerMonarchie bis Venezien und Istrien bzw. Schlesien, dann das Gesetzbuch von 1797 in Galizien und in Buchenland. Mit Straf- und Strafprozeßrechts- sowie Zivilprozeßrechtskodiftkationen bestand damit lange vor den französischen Codes in Europa ein großer einheitlicher Rechtsraum. Das wesentliche Merkmal dieses mittel- und osteuropäischen Rechtsraumes bestand in der kulturell stark ausgeprägten Heterogenität und der damit verbundenen Sprachenvielfalt. Daran änderte sich während und im Gefolge der Napoleonischen Kriege und dann des Wiener Kongresses gnindsätzlich trotz territorialer Verschiebungen wenig: Der Verlust von Vorderösterreich und Westgalizien schwächte das deutsche bzw. polnische Element kaum, der endgültige Erwerb von Lombardo-Venezien allerdings verstärkte das italienische sehr wesentlich. Im Geltungsbereich des ABGB lebten vor allem Deutsche, Italiener, Slowenen, Tschechen, Polen und Ruthenen. Dazu kamen während der vorübergehenden Geltung des ABGB im Gebiete des Königreichs Ungarn von 1853 - 1861 Magyaren, Kroaten, Serben, Slowaken und Rumänen. Rechtlich allerdings schlug sich die Heterogenität des Rechtsraumes anders nieder, nämlich in der eingangs erwähnten Feststellung der Rechtsvereinheitlichung über mehrere "Erbländer" hinweg und damit notwendigerweise im Problem des Verhältnisses des neuen "Allgemeinen" Rechts zu dem "einzelner Provinzen und Landesbezirke" in der Formulierung des ABGB (§ 11). Für die Entstehung des ABGB und seinen Inhalt bewog dies begreiflicherweise zur Frage nach dem Einfluß lokalen Rechts, näherhin dem der einzelnen Länder. Überwiegend wurde diese Frage dahingehend bejaht, es hätten die einzelnen Landesrechte wesentlichen Einfluß auf den Inhalt des ABGB genommen, dieses sei gleichsam eine Kompilation der Rechte der einzelnen Kronländer. Darauf hat man zum Teil die lange Lebenskraft des ABGB wenigstens während des Bestandes der österreichischen Monarchie zurückgeführt, dann oft hiermit auch den Gedanken verbunden, das ABGB habe auf diese Weise die Rechte der einzelnen Nationalitäten berucksichtigt4 .
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2. Landes- oder Provinzialrechte? An den lokalen Rechten konnte ein "Allgemeines Gesetzbuch" wie schon das Teil-ABGB 1786 nicht vorübergehen. Den" Allgemeinen Gesetzen" stellte es ausdrücklich die lokalen Rechte gegenüber, "welche nur auf ein besonderes Land, oder eine eigene Ortschaft gerichtet sind" (I § 8), erwähnte ferner den "Landesgebrauch ", auch die Gewohnheiten "in einem oder mehreren Ländern" (I § 11) sowie die "Landesverfassung" (11 § 4): Regionales Recht war also keineswegs bloß auf ein Land fixiert, vor allem konnte es ausdrücklich "mehrere Länder" umgreifen. Das Galizische Gesetzbuch bezog sich gleichfalls auf "Landesgebräuche und Gewohnheiten" (I § 22) sowie auf "Statuten oder solche Verordnungen, welche einzelnen Provinzen, Landesbezirken und Gemeinden gegeben worden sind" (11 § 23): Auch hier ist das regionale Recht nicht mit dem des Landes identisch. Das ABGB stellt dann sogar mehrfach Verbindungen zu partikularen Rechten her, zu "Provinzial-Gesetzen " (§ 1132), zur "Landesverfassung" (§ 1142), zur "Verfassung jeder Provinz" (§ 1146). Auch das ursprünglich amtliche ABGB-Register kennt die Begriffe "Landesgesetze" und "Provinzialgesetze " , verweist jedoch in diesen beiden Fällen auf das Stichwort "Statuten", scheint somit "Land" und "Provinz" gleichzusetzen. Dies erhärtet gleichfalls das Register, welches unter "Landesverfassung" auch auf § 1146 verweist, wo, wie zitiert, von der "Verfassung jeder Provinz" die Rede ist. Dem entspricht auch der Gesetzestext, der in § 11 von den "Provinzen und Landesbezirken " spricht - für die hier etikettierte territoriale Einheit also gleichfalls das Wort "Provinz" wie auch "Land", dieses in der Bezeichnung von dessen Teil ("Bezirk"), verwendet - und beide in der Marginalrubrik ("Provinzial-Statute") "Provinz" nennt. Die Gleichsetzung von "Provinz" und "Land" entspricht zwar weitestgehend der zeitgenössischen Sprachübung, verwischt jedoch einen erheblichen verfassungsrechtlichen Umstand: "Land" und "Provinz" waren durchaus nicht identisch. Zur Zeit der Entstehung und sodann auch der Geltung des ABGB vor 1848/49 galten als "Provinzen" auch die Gouvernementsbezirke, von denen einige mehrere Länder umfaßten. Beispielsweise gehörten ab lose! 11. folgende "Länder" zu einem Gouvernementsbezirk, der als (eine) "Provinz" bezeichnet wurde: Tirol, Vorarlberg und Vorderösterreich sowie Steiermark, Kärnten und Krain. Seit 1783 bildeten die Gouvernementsbezirke die staatliche Untergliederung, und nicht mehr die Länder5• Sie machten sozusagen für den Staat die föderalistische Komponente aus, der sich damit von den Ständen der Länder und der Institution des Landtages fernhalten, dennoch aber Lokales beachten konnte.
4 Vgl. zuletzt: 1heo Mayer-Maly: Die Lebenskraft des ABGß, in: Österr. Notsriatszeitung 1986, S. 263 ff. 5 Wilhelm Brauneder: Österr. Verfassungsgeschichte, 5. Aufl., Wien 1989, S. 83,93, 100.
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Als beispielsweise 1848 der Verfassungsausschuß des ersten österreichischen Parlaments einen föderativen Charakter aufweisen sollte, setzte man ihn nach Gouvernementsbezirken zusammen6 , nicht nach Ländern. Dies änderte sich erst im Anschluß an die Reichsverfassung 1849, so daß die Zeitgenossen feststellten, im Gegensatz zur bisherigen Situation seien - erst jetzt! - eindeutig unter "Provinz" in § 1475 die "Kronländer" gemäß § 1 der Reichsverfassung 1849 zu verstehen7 • Die Terminologie des ABGB selbst - "Land", "Provinz" - sowie die verfassungsrechtliche Situation fixieren als regionales Recht somit keineswegs das Landesrecht. Die folgenden Erwägungen zur Art des Einflusses der Partikularrechte auf das ABGB berücksichtigen daher folgende Indiziengruppen: die Zusammensetzung der diversen Gesetzgebungskommissionen sowie deren Mitglieder (unten 3.); die verwendeten Materialien (unten 4.) und die Methode ihrer Verwertung (unten 5.), diverse Erfahrungen (unten 6.), den Inhalt der Stellungnahmen (unten 7.), die Bedeutung der Provinzialgesetze gemäß § 11 ABGB (unten 8.) und schließlich die Akzeptanz des ABGB (unten 9.).
3. Kommissionen und Personen im Gesetzgebungsprozeß In8 der 1753 eingesetzten sogenannten "Kompilationskommission"9 waren durch jeweils ein Mitglied die Länder Böhmen, Mähren, später Schlesien und Vorderösterreich, dann gemeinsam die Länder Österreich unter und ob der
6 Verhandlungen des österr. Reichtstages nach der stenographischen Aufnahme I, 1848/49 (Neudruck Wien 1970), S. 273. 7 Wilhelm FTÜhwald: Versuch einer Darstellung der durch die seit dem MälZ 1849 erflossenen organischen Gesetze an den Bestimmungen des allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches und der allgemeinen Gerichtsordnung geschehenen Änderungen, in: Österr. Zeitschrift für Rechts- und Staatswissenschaften 1849, II. Teil, S. 40 f. 8 Biographische Hinweise zu den in den folgenden Anmerkungen genannten Personen wurden folgenden Nachschlagewerken entnommen: Heribert Sturm (Hg.): Biographisches Lexikon zur Geschichte der Böhmischen Länder, Wien 1979 ff.; Constant v. Wurzbach (Hg.): Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Wien 1865 ff.; Wilhelm Kosch: Biographisches Staatshandbuch, Bem 1963 ff.; Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 - 1950, Graz Köln 1957 ff.; Friedrich v. Maasburg: Geschichte der Obersten JustizsteIle in Wien (1749 1848), Prag 1891; Wilhelm Brauneder (Hg.): Juristen in Österreich 1200 - 1980, Wien 1987. 9 Das Folgende grundsätzlich nach Philipp Harras v. Harrasowsky: Geschichte der Kodifikation des österreichischen Civilrechts, Wien 1868, S. 44; ders.: Die Umarbeitung des Codex Theresianus I, Wien 1883, 2 Anm. 4; Brauneder (pn. 1), S. 208. - Die Kompilationskommission wies folgende Zusammensetzung auf: Vorsitz Otto v. Franckenberg (Oberste JustizsteIle im folgenden abgek. zit. als OJSt, Schlesien), Josef!h v. Azzoni (Böhmen), Heinrich Hayek v. Waldstätten (Mähren), Joseph Ferdinand Holger (Osterreich), Ferdinand Joseph v. 1hinnfeld (Innerosterreich); später kamen noch hinzu: Franz Anion v. Burmeister (Schlesien) und Joseph Ignaz v. Hormayr (Vorderösterreich).
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Eons sowie die Ländergruppe Innerösterreich vertreten. So gab es beispielsweise keine eigenen Ländervertreter für die einzelnen innerösterreichischen Länder Steiermark, Kärnten und Krain, auch Österreich ob und unter der Eons waren nicht durch je einen Vertreter repräsentiert, gar nicht Tirol. In der 1755 zusätzlich gebildeten sogenannten "Revisionskommission"10 saßen vier Mitglieder aus Österreich unter und ob der Eons, weitere fünf aus Böhmen, wovon einer Schlesien gleichsam mit vertrat. Als diese Kommission 1756 durch die Auflösung der Kompilationskommission zur einzigen Gesetzgebungskommission ll avancierte, holte man von der nun aufgelösten Kommission zwei Mitglieder, und zwar gleichfalls einen aus Böhmen und einen aus Österreich unter der Eons. An dieser Aufteilung änderte sich in den personellen Veränderungen 1772, 1782 und 1786 nichts. Selbst seine Reise durch Galizien 1779 bewog Kaiser Joseph II nicht dazu, aus diesem neuen Land Mitglieder in die Gesetzgebungskommission zu holen: Ausschließlich Böhmen und Österreich unter der Eons koonten sich also durch Mitglieder vertreten ansehen l2 . So ist für diese erste Phase der Kodiftkationsgeschichte des ABGB, die 1786 mit dem Teil-ABGB und der Erbfolgeordnung endet, festzustellen: In der Kompilationskommission saßen Vertreter bloß von einigen Ländern, aber auch von Ländergruppen, nämlich in der Regel der Gouvernementsbezirke, so daß manche Länder gar keinen eigenen Vertreter hatten. In den beiden ande10 Harrasowsky (Fn. 9, Geschichte), S. 67; ders. (Fn. 9, Codex), I, S. 5. - Sie wies folgende Mitglieder auf: Vorsitz Franz Anton v. Buol (Direktorium, Niederosterrcich), Johann Franz v. Bourguignon (OJSt, Böhmen), Johann Georg v. Haan (OJSt, Niederosterrcich), Johann Georg Müller v. Mühlensdorff (OJSt, Böhmen), Thomas Ignaz v. PlJcld, (OJSt, Niederösterreich), Johann Leonhard v. Pelser (OJSt, Niederosterrcich), Franz Karl v. Frankenbusch (OJSt, Böhmen), Hermann v. Kannengießer (Direktorium, Schlesien "\Jnd Böhmen), Johann Bemhard v. Zencker (Direktorium, Böhmen), Kilrl Cetto v. Kronsdorf (Direktorium, Böhmen) sowie als Sekretär: Ursini. 11 Harrasowsky (Fn. 9, Geschichte), S. 72; ders. (Fn. 9, Codex), I, S. 6. - Sie wies dieselbe Zusammensetzung auf wie die Revisionskommission, aus der Kompilationskommission wurden übernommen: Joseph v. Azzoni und Joseph Ferdinand Holger. 12 Zu 1772: Harrasowsky (Fn. 9, Geschichte), S. 130 sowie ders. (Fn. 9, Codex) IV (1886), I Anm. 2. - Zu 1782: Ebda., S. 6 Anm. 11. - Zu 1786: Ebda., S. 6 Anm. 13. - Zusammensetzung 1772: Vorsitz Franz Wenzel v. Sinzendorf (OJSI), Johann Leonhard v. Pelser (OJSt, Niederösterrcich), Johann Bemhard v. Zencker (Hofkanzlei, Böhmen), Joseph Ferdinand Holger (OJSt, Niederosterrcich), Johann Franz Bourguignon (OJSt, Böhmen), Ferdinand Maria v. Goldegg (OJSt, Niederosterreich); seit 1773: KarlAnton v. Martini (OJSt, seit 1774 Hofkanzlei, ab 1779 wieder OJSI), Franz Anton v. Nell (OlSt, Böhmen); seit 1774: Joseph Hyacinth v. Froidevo (Niederosterrcichische Regierung), Anton v. Curti (Hofkanzlei), Johann Bemhard v. Horten (Staatsrat, davor Reichshofral). - Zusammensetzung 1782: wie 1772, mit folgenden Änderungen: anstelle von Bourguignon kam Franz Wenzel Kager v. Stampach (Böhmisches Appellationsgericht), anstelle von Martini kam Franz Georg v. Keeß (OlSt, Niederosterrcich), anstelle von Curti kam Ignaz v. Rüstel (Niederosterrcichisches Appellationsgericht). - Zusammensetzung 1786: wie 1782, es fehlen aber Franz Wenzel Kager v. Stampach, Johann Bemhard v. Zencker, Joseph Ferdinand Holger und Johann Bemhard v. Honen, neu hinzu kamen Sauer und H. F. v. Rottenhan (Hofkanzlei, Böhmen). - Zur Reise Ks. Josephs 11 vgl. Peter Baumgan: Joseph 11 und Maria Theresia 1765-1790, in: Anton SchindlinglWalter Ziegler: Die Kaiser der Neuzeit 1519-1918, München 1990, S. 258, 262.
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ren Kommissionen gab die Landes- oder Gouvernementszugehörigkeit überhaupt kein Kriterium ab: Bedacht genommen wurde jetzt vielmehr auf die Herkunft teils aus der Obersten JustizsteIle, teils aus der obersten Verwaltungsbehörde, erst dem "Direktorium", dann der "Böhmisch-österreichischen Hofkanzlei". Nunmehr waren also allein diese Zentralbehörden und überhaupt nicht mehr Länder oder Gouvernementsbezirke präsent. Dies änderte sich 1782 insofern ein wenig, als nunmehr an die Stelle von 2 Mitgliedern der Obersten JustizsteIle sowie einem der Hofkanzlei Mitglieder von Appellationsgerichten traten, nämlich zwei vom niederösterreichischen Appellationsgericht sowie eines vom böhmischen Appellationsgericht. Aber auch hiermit kam keine Ländervertretung zustande, da der niederösterreichische Appellationsgerichtssprengel meist mehrere Länder umfaßte, nämlich Österreich unter und ob der Enns sowie ab 1787 sogar Vorderösterreich. Als kurz die Idee, auch Transleithanien in die Rechtsvereinheitlichung miteinzubeziehen, auftrat, kam es zur Beiziehung je eines Mitglieds der ungarischen und der siebenbürgischen Hofkanzlei. Auf den ersten Blick scheint es sich um Ländervertreter zu handeln, doch tatsächlich kommen auch sie aus den jeweiligen Zentralbehörden 13. Insgesamt ist also für die erste Gesetzgebungsphase bis 1786 festzuhalten, daß eine Berücksichtigung der spezifischen Landesrechte oder Provinzialrechte über eine entsprechende personelle Beschickung nicht zustandekommen konnte und wohl gar nicht beabsichtigt war. Die 1790 neu eingesetzte Gesetzgebungs-Hofkommission weist gleichfalls eine ZusammensetzunI nach Zentralbehörden, nämlich Oberste JustizsteIle und Hofkanzlei, auf1 • Der Herkunft der Mitglieder nach waren nunmehr Österreich, Böhmen, Tirol und - erstmals - Galizien vertreten: Bei weitem also nicht alle Länder. Keinerlei Länderpräferenzen läßt auch die Zusammensetzung der 1794 eingesetzen "Überprüfungskommission " erkennen 15: So gut wie sämtliche Mitglieder entstammen der "Politischen HofsteIle" , also abermals einer Zentralbehörde. Eine gewisse Föderalisierung bestimmte allerdings die Zusammensetzung der zweiten Gesetzgebungs-Hofkommission ab 1796 16 • Oberste JustizsteIle 13 Harrasows1cy (Fn. 9, Geschichte), S. 152; ders. (Fn. 9, Codex), IV, S. 5 Anm. 8; I. Beidtel: Geschichte der österreichischen StaatsvelWaltung I, 1986, S. 336. 14 Harrasows1cy (Fn. 9, Geschichte), S. 152; ders. (Fn. 9, Codex), IV, S. 7 Anm. 14. - Die
1. Gesetzgebungs-Hofkonunission wies folgende Zusammensetzung auf: Vorsitz Malhias Wil-
helm v. Haan (OJSt, Niederosterreich), Franz Johann v. Bieschin (OJSt, Böhmen), Michael Joseph v. Confom (01St, Tirol), Joseph v. Ni1corowicz (01St, Galizien). 15 Harrasows1cy (Fn. 9, Geschichte), S. 159; urs. (Fn. 9, Codex), IV, S. 10 Anm. 22; Brauneder (Fn. 1), S. 209 f. - Die Zusammensetzung der Überprufungskommission 1794: Vorsitz Ronenhan, Joseph v. Sonnenfels, Joseph v. Koller, Johann Franz v. Strohl, Johann Joseph v. Grohmann; 1795 kamen hinzu: AugUSI Zippe, Ferdinand v. Fechlig, Leopold v. Haan und v. Oswalder (alle politische HofsteIle). 16 Harrasows1cy (Fn. 9, Geschichte), S. 161, 162 f.; ders. (Fn. 9, Codex), IV, S. 10 Anm. 25; Brauneder (Fn. 1), S. 210. - Zusammensetzung der 2. Gesetzgebungs-Hofkonunission: Vor-
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und "Politische Hofstelle" sollten etwa gleich stark vertreten sein, außerdem aber waren Vertreter der Böhmischen Ländergrupppe (Böhmen-Mähren-Schlesien, aber auch Galizien), sodann der Niederösterreichischen Ländergruppe (Österreich unter und ob der Enns, Innerösterreich) sowie der Oberösterreichischen Ländergruppe (Tirol und Vorderösterreich) heranzuziehen. Abermals gab es also keine Vertreter einzelner Länder, nicht einmal der Gouvernementsbezirke, vielmehr treten in etwa die spätmittelalterlichfrühneuzeitlichen Ländergruppen ins Blickfeld, freilich mit der unhistorischen Anfügung von Galizien. In der Zusammensetzung überwog bei weitem die österreichische Herkunft, ein einziges Mitglied hatte auch Erfahrungen aus Galizien. Hierbei blieb es praktisch bis zum Ende der KodifIkationsarbeiten. Noch einmal trat 1809 bei der Beratung über die Provinzialstatuten ein föderalistisches Moment zutage, und zwar in folgender Referatsverteilung 17 : Galizien, Steiermark-Görz-Krain-Triest, Böhmen, Mähren-Schlesien, Österreich unter und ob der Enns. Aber auch hierin zeigt sich ein Zusammenziehen einzelner Länder, bloß den zwei größten Ländern, nämlich Galizien und Böhmen, sind eigene Referenten zugeteilt. Das Fehlen der übrigen Länder erklärt sich übrigens damit, daß sie zu diesem Zeitpunkt von Österreich abgetrennt waren. So schlägt hier die Gouvernementseinteilung durch, die Existenz einzelner Länder spielt keine Rolle. In den Jahren 1792/93 wurden bei den einzelnen Appellationsgerichten Kommissionen gebildet, um Gutachten zu dem unter Martinis Leitung entstehenden Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches zu erstatten l8 • So bestand je eine Kommission in Österreich unter der Enns, Österreich ob der Enns, Tirol, Böhmen, Schlesien und Innerösterreich sowie Galizien. Zum Teil setzten sich diese Kommissionen außer aus den Vertretern des jeweiligen Appellationsgerichts 19 auch aus StäDdevertretern20 (heide Österreich, Tirol, Böhmen, Schlesien, Innerösterreich) sowie Vertretern von Städten21 wie Linz, Innsbruck, Lemberg, Graz und Prag zusammen. Zum Teil nahmen auch Vertreter
sitz Maximilian v. Cavriani (Oberstburggraf, Böhmen), Mathias Wilhelm v. Haan (Oberstlandrichter, Niederösterrcich), Franz Georg v. Keeß (OJSt, Niederosterreich), Johann Rudolfv. Lyro (OJSt, Galizien), Franz Alqys v. Zeiller (Niederosterreichisches Appellationsgericht); aus der Überprufungskommission wurden übernommen: Koller, Haan, Sonnenfels, Strobl und Zippe (alle politische HofsteIle).
17 Julius Ofner: Der Urentwurf und die Berathungs-Protokolle des österreichischen Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuches 11, Wien 1889, S. 594. 18 Harrasowsky (Fn. 9, Geschichte), S. 155 f.; ders. (Fn. 9, Codex), V, S. 8 f. 19 Harrasowsky (Fn. 9, Codex), V, S. 25 (Böhmen), S. 32 (lnnerosterreich), S. 64 (Tirol); Julius Ofner (Fn. 17), I, S. 468 (Niederosterreich), S. 354 (Oberosterreich), S. 297 (Ostgalizien); ebda. 11, S. 319 (Böhmen). 20 Harrasowsky (Fn. 9, Codex), V, S. 10 (Nieder- und Oberosterreich), S. 12 (Tirol), S. 5 (Böhmen), S. 23 (Schlesien), S. 5 (Krain), S. 22 (Steiermark), S. 27 (Kärnten). 21 Ebda., S. 66 (Linz), S. 12, S. 197 (lnnsbruck), S. 62 (Prag), S. 23 (Graz), S. 27 (Lemberg).
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anderer Gerichte teil wie in Tirol, Böhmen, Krain und Galizien22 • Die innerösterreichische Kommission bestand aus Unterkommissionen für Krain, Steiermark, Kärnten, Görz, Istrien und Triest23 • Doch sichteten alle diese Kommissionen offenbar bloß das ihnen vorgelegte Material und legten dieses und nicht Länderberichte der Gesetzgebungskommission vor. Überdies fehlte eine Kommission für Vorarlberg, denn hier war den Ständen sogar die Zulassung zur Tiroler Kommission verwehrt worden24 , für Vorderösterreich und Mähren gab es gleichfalls keine eigenen Kommissionen. 1796 wurde der ferti3.§estellte Entwurf Martini einer ganzen Reihe von Kommissionen vorgelegt ,die teils bei den Appellationsgerichten, teils bei den ihnen unmittelbar untergeordneten Gerichten, den "Landrechten ", sowie den juridischen Fakultäten eingerichtet wurden. Durch die Zuständigkeit der Appellationsgerichte für meist mehrere Länder sowie jener der "Landrechte" meist nur für Landesteile existierte begreiflicherweise abermals kein Gremium, welches sich spezifisch mit dem Recht der einzelnen Länder hätte befassen können; dies trifft natürlich besonders auf die juridischen Fakultäten zu. 1804 schließlich kam es abermals zur Einrichtung von Kommissionen, die nunmehr das erhaltungswürdige Provinzialrecht der Gesetzgebungskommission vorzulegen hatten. Sie wurden bei den Gubernien gebildet, also nicht bei Behörden für Länder, sondern für die Gouvernementsbezirke. Daher langten auch überwiegend Berichte für Ländergruppen und nicht einzelne Länder ein, so daß über manche Landesrechte gar keine Informationen zustande kamen26 • Sieht man auf die Ausbildung der einzelnen Mitglieder27 , so überwiegt das Studium an der Universität Wien bei weitem, mit etwa 50 %, gefolgt von Prag mit etwa 35 % und einer nahezu gleichmäßigen Aufteilung auf die Universitäten Graz sowie Freiburg/Breisgau, Innsbruck und Lemberg, auch Heideiberg. Da aber an den Universitäten ohnedies heimisches Recht nicht unterrichtet wurde, kann diese Aufteilung lediglich einen Hinweis darüber geben, wo die einzelnen Mitglieder allenfalls außeruniversitär oder außerhalb des Studienplanes Kenntnisse vom Landesrecht erworben haben könnten. Die Berufslautbahn der meisten Mitglieder verlief aber in den Wiener Zentral-
22 Ebda., S. 194 (Tirot), S. 27 (Böhmen), S. 24 (Krain); OJner (Fn. 17), 11, S. 309 (Tar-
now).
23 Harrasowsky (Fn. 9, Codex), V, S. 17, S. 32 (Innerosterreich), S. 5 (Krain), S. 3 (Steiermark), S. 24 (Kärnten), S. 25 (GölZ), S. 33 (Istrien), S. 67 (Tirol). 24 Ders. (Fn. 9, Codex), IV, S. 9.
25 OJner (Fn. 17), 11, S. 11. 26 Ebda., S. 590 ff. 27 S. o. Fn. 5.
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stellen, zum Teil auch in Appellationsgerichten, kurzum, kaum je m Behörden, die eine intensive Kenntnis von Landesrechten vermittelten. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden, daß keine Kommission eine echte Länderverteilung kannte, sondern bestenfalls eine Berücksichtigung der Gouvernementsbezirke. Aber selbst diese Tendenzen sind selten und treten in den Gesetzgebungskommissionen vor der Berücksichtigung einer Verteilung nach den jeweiligen Zentralstellen in den Hintergrund. Auch die einzelnen Kommissionsmitglieder decken nach Herkunft, Ausbildung und Praxis nicht, jedenfalls kaum die einzelnen Provinzial- oder gar Landesrechte ab.
4. Die Vorarbeiten und ihre Materialien Zu Beginn der KodifIkationsarbeiten hatte der Präsident der Kompilationskommission Azzoni einen "Entwurf des Codex Theresianus" bestehend aus einer "Vorbemerkung" und einem "VorläufIgen Inhalt" vorgelegt28 . Hierzu waren sogenannte "Länderübersichten" anzufertigen. Die vier dafür berufenen Mitglieder der Kompilationskommission erstellten ihre "Übersichten "29 allerdings nicht für einzelne Länder, sondern für Ländergruppen, und zwar für die Böhmische (Böhmen, Mähren und Schlesien), die Oberösterreichische (Tirol mit Vorarlberg und Vorderösterreich) sowie für die Niederösterreichische Ländergruppe (Österreich unter und ob der Enns sowie Innerösterreich). Je ein Mitglied erarbeitete die Übersicht für die Böhmische und die Oberösterreichische Ländergruppe, während die Niederösterreichische Ländergruppe zwei Referenten betreuten, nämlich einer Österreich unter und ob der Enns, ein weiterer Innerösterreich, dessen Teile ausdrücklich wie folgt aufgeschlüsselt wurden: Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Gradiska, Triest und Fiume, das zwar formell zu Ungarn gehörte, aber von Innerösterreich verwaltet wurde. Diese Beobachtung steht im Einklang mit dem aus den Kommissionszusammensetzungen gefolgten Ergebnis: Ländergruppen, nicht Länder sind organisatorisch erfaßt. Die von den "Kompilatoren" am häufIgsten verwendeten Quellen30 beschränkten sich auf Gesetzessammlungen, etwa für die Böhmische Ländergruppe Weingartens Codex Ferdinandeo-Leopoldino-Josephino-Carolinum oder für Österreich der Codex Austriacus, sowie in Druck gelegte Einzelgesetze, etwa die Landesordnung und die Stadtrechte für Böhmen oder den Tractatus de iuribus incorporalibus und Erbfolgeordnungen. Für Innerösterreich fanden Berücksichtigung verschiedene "Handvesten " und Gerichtsordnungen 28 Brauneder (Fn. 1), S. 211 f. 29 Das Folgende aus: Harrasowsky (Fn. 9, Codex), I, S: 36 ff. in Anm.; ebda., 11, S. 3 ff. in Anm.; ebda., m, S. 4 ff. in Anm. 30 Zum Folgenden insbesondere ebda., m, S. 58 ff. in Anm. 9 Schulze
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sowie die Statute der Küstenstädte, für die Oberösterreichische Ländergruppe fast ausschließlich die Tiroler Landesordnung. Inhaltlich haben diese Übersichten ihren Schwerpunkt im Personen- und Erbrecht, weniger im Sachenrecht, nur sehr punktuell im Schuldrecht. Von der Quellenlage her war natürlich auch keine annähernd komplette Übersicht zu erlangen, die Quellen enthielten ja nur punktuelle Regelungen. Vor allem aber war mit ihnen keine flächendeckende Information zu erreichen. Weder sachlich noch territorial kamen somit genügend Informationen zustande - vor allem also keine befriedigende Darstellung der einzelnen Länderrechte. Dies zeigt besonders deutlich das Auffüllen von Lücken mit Römisch-Gemeinem Recht. Möglicherweise daher griff man nun auf dieses selbst mit einer tabellarischen Auflistung in einem "Systema Codicis Theresiani combinatum cum titulis iuris communis ... " zurück. Schon in den für die Arbeiten zum Codex Theresianus erstellten Materialien war damit das Landesrecht völlig ins Hintertreffen geraten31 •
5. Die Methode der Materialverwertung Was aber sollte überhaupt mit den diversen Traditionsmassen geschehen? Aufschluß darüber geben die gleichfalls von Azzoni erstellten "Kompilationsgrundsätze"32. In sehr aufwendiger Weise legen sie eine Reihenfolge und Rangliste des jeweils zu verwendenden Materials fest. Sie berücksichtigen auch die "Länderrechte " , und zwar sogar primär, da die Gesetzgebungstätigkeit von ihnen auszugehen hat. Bei einer Kollision sei jedoch ihr "Hauptprinzip· festzustellen, um auf dieser Grundlage (und mehreren sehr intensiven Regelungen) eine Vereinheitlichung durchzuführen, wobei sogar nur eines von mehreren widersprüchigen Gesetzen gewählt oder an deren Stelle insgesamt ein neues Gesetz treten kann: Eindeutig ist dem Gedanken des Einheitsrechts vor der inhaltlichen Berücksichtigung der Länderrechte der Vorrang eingeräumt. Hinter jeder Art von Gesetz - vor allem dem allgemeinen für mehrere Länder - steht die (lokale) Gewohnheit zurück, sie überdies auch hinter dem Gesetz für andere Länder! Auch hier also geht es nicht primär um die Berücksichtigung lokaler Gewohnheiten. Nur dann könne vom einheitlichen Gesetz- oder Gewohnheitsrecht abgegangen werden, wenn bestimmte Regelungen in einem Land existieren, die "tief in die Länderverfassung einschlagen", womit also die Ausnahme statuiert ist. Die Grundtendenz ist durchwegs die der Rechtsvereinheitlichung. Wie vor allem die weiteren Regeln zeigen, dient das Landesrecht bloß als eines der sehr zahlreich zu berücksichtigenden Materialien wie etwa sogar "auswärtige 31 Brauneder (Fn. 1), S. 212.
32 Zum Folgenden: Ebda., S. 213, 221; Text bei Harrasowsky (Fn. 9, Codex), I, S. 16 ff.
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Ländergesetze" , soweit sie der "natürlichen Billigkeit" entsprechen! Dies ist überhaupt der Filter, durch welchen alle Materialien zu pressen sind. Ihre Reihenfolge läßt sich grob wie folgt festlegen: Gesetz - Gewohnheit - Naturrecht, dieses verstanden unter anderem als Gemeines und ausländisches Recht. Hieraus nun war "das Natürlichste und Billigste abzufolgern". So ging es vom Anbeginn der KodifIkationsarbeiten überhaupt nicht darum, Landesrechte um ihrer selbst willen zu verwerten und auf einen Nenner zu bringen. Die Vorarbeiten und das hierbei gesammelte Material (vgl. 4.) konnten einem solchen Anspruch gar nicht gerecht werden, die Methode verlangte dies auch nicht: Vielmehr war aus diversen Materialien ein logisches Gesetzbuch zu konstruieren.
6. Erfahrungen aus Praxis und Wissenschaft Die vorliegenden Materialien schlossen freilich persönliche Präferenzen, vor allem die Verwendung des angelernten und vorhandenen Wissens nicht aus33 • Dies führte beispielsweise dazu, daß es im Gesellschaftsrecht durchgehend beim römisch-gemeinrechtlichen Einfluß der societas blieb und es nie zu einer, was man hätte erwarten können, naturrechtlichen Konstruktion kam. Auch die Rechtsgemeinschaft blieb dem Römisch-Gemeinen Recht, der communio, verhaftet. Deutschrechtliche Institutionen setzten sich in diesen Bereichen nicht durch, ebenso nicht das reiche Vertragsrecht bei der Gütergemeinschaft, wo man fast stets zu wirklichkeitsfremden Konstruktionen griff. Als Azzoni, Professor für Kanonisches und Römisches Recht, aber auch für "praktische Rechtslehre" und überdies Advokat, das Referat führte, gewann böhmisches Landrecht an Bedeutung. Zenker jedoch, Beamter der Obersten Justizstelle bzw. der Hofkanzlei, verwendete Lauterbachs Institutionenkommentar und Stryks Pandektenlehrbuch. Horten schließlich, zeitweilig dem Reichshofrat angehörend, benutzte sogar grundsätzlich Römisch-Gemeines Recht. Dieses nahm mit fortschreitender KodifIkationstätigkeit, insbesondere ab dem Teil-ABGB 1786, ebenso wie das eine oder andere Lokalrecht stark ab: Immer mehr hatte sich mittlerweile ein eigener Text verdichtet, welcher die Traditionsmassen mehr und mehr hinter sich ließ, der schließlich vom ALR und - wenig - vom Code Napoleon beeinflußt wurde. Überwiegend aber hatte er in der zweiten KodifIkationsphase ab 1790 eigenes Gewicht und gleichsam eine eigene Dynamik entwickelt: Nunmehr stand der schon vorhandene Text im Vordergrund der Arbeit. Typisch dafür ist seine stete Reduzierung ohne wesentlichen Inhaltsverlust auf schließlich etwa 30 % des Codex Theresianus.
33 Zum Folgenden: Brauneder (pn. 1), S. 221, 227 f., mit weiteren Angaben. 9"
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Wilhelm Brauneder
7. Die Haltung der Stellungnahmen Auf den Entwurf Horten und - überwiegend - auf den Entwurf Martini wirkten Stellunf1ahmen von Landständen, Gerichten und Magistraten mancher Städte ein3 • Mit Abstand die meisten Vorschläge, jeweils etwa ein Viertel, kamen aus Tirol bzw. Böhmen, Österreich unter der Enns steuerte ein starkes Achtel bei, je ein schwaches Achtel erbrachten Galizien bzw. Krain, in das restliche starke Achtel teilten sich Österreich ob der Enns, Steiermark und das Land mit der geringsten Beteiligung: Kärnten. Keine Vorschläge kamen aus Mähren, Schlesien, Vorderösterreich, Vorarlberg und dem Küstenland mit Görz und Triest. Ausschlaggebend ist aber weiters, daß nur etwa die Hälfte der 30 Stellungnahmen der Vorschläge sich auf Gewohnheitsrecht, gesetzliches Lokalrecht oder rechtsgeschäfltiche Übung bezog. Hiervon wies allerdings etwa die Hälfte gar keinen territorialen, sondern einen allgemein-ständischen Bezug auf. Etwa ein weiteres Viertel der Stellungnahmen betraf Römisch-Gemeines und Kanonisches Recht sowie allgemeines Gesetzesrecht. Mit dem zuvor genannten Viertel ständischen Rechts vereinigt sich dieses somit zu groben 50 % an Vorschlägen ohne echten territorialen Bezug. Das knappe letzte Viertel der Vorschläge sprach sich schließlich sogar entweder gänzlich oder überwiegend gegen Gewohnheitsrecht aus. Grob gerechnet betraf somit bloß ein Viertel der Vorschläge die Berücksichtigung lokaler Rechte! Mit einer einzigen Ausnahme wurden überdies alle Einwände von der Gesetzgebungskommission abgelehnt. Daß diese Ausnahme just einen Hinweis auf Gemeines Recht betrifft und die entsprechende Empfehlung aus Tirol kam, charakterisiert treffend das geringe Eintreten für lokale Gewohnheiten selbst durch Landesinstanzen35 . Sehr typisch für eine auf den ersten Blick möglicherweise fundierte lokale Stellungnahme ist überdies ein Gutachten der Juristenfakultät der Universität Freiburg/Breisgau36 • Die überwiegende Mehrheit der Anmerkungen dient aber lediglich der Stilverbesserung oder der Druckfehlerberichtigung, sodann wird auf Verweisungsfehler aufmerksam gemacht, besonders aber rallt die Kritik auf 7 , daß Provinzialismen durch allgemeine Begriffe ersetzt werden sollten - nur zwei Vorschläge betreffen vorderösterreichische Besonderheiten!
34 Harrasowsky (Fn. 9, Codex), n, S. 3 ff. in Anm.; den. (Fn. 9, Codex), V, S. 3 ff in Anm. - Die Anmerkungen verteilen sich wie folgt: Tirol (8), Böhmen (7), Niederosterreich (4), Galizien und Krain (je 3), Oberosterreich und Steiennark (je 2), Kärnten (1).
35 Bemerkung zum Entwurf Martini: Harrasowsky (Fn. 9, Codex), V, S. 197 in Anm. 7. 36 Maschinenschriftliche Abschrift "Gutachten der luristenfakultät Freiburg/Breisgau" über den Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches vom 21.4. bis 7.9.1797 dankenswerterweise überlassen von Professor ClOlJS-Dieter Schott (Zürich).
37 Zu n § 429 (Belastung von Fideikommißvennögen), Viehmängeln).
m
§ 159 (Gewährleistung bei
Rechtsvereinheitlichung der österreichischen Zivilrechtskodifikationen
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Im Zuge der ersten Lesung des "Urentwurfs" des ABGB von 1801 bis 180638 betrafen 33 externe Stellungnahmen wie auch interne Vorschläge aus der Gesetzgebungskommission mit einem guten Viertel Österreich ob der Enns, annähernd gleich viele Österreich unter der Enns, etwas weniger jeweils Tirol und Böhmen und noch etwas weniger Galizien, vereinzelt die Steiermark. Auf Mähren, Schlesien, Kärnten, Vorarlberg und Vorderösterreich bezogen sich keine Vorschläge39 . 1801 hielt Zeiller daher fest, diese Kommissionen hätten - überdies natürlich nicht bloß vom lokalen Standpunkt - keine oder nur wenige Bemerkungen beigesteuert4O • Eine starke Hälfte wies auf Gewohnheitsrecht und rechtsgeschäftliche Übung, überwiegend aber auf gesetzliches Statutarrecht hin, die schwächere Hälfte betraf bloße Normenkollisionen. Man befand sich also mitten in einer positivrechtlichen Diskussion ziemlich feme von typischem Landesrecht. Die Gesetzeslage hatte schon ihre Eigendynamik entwickelt. Einsam steht der Hinweis des ostgalizischen Appellationsgerichtes, eine Regelung verstoße "gegen die Landesverfassung Pohlens und die Gemühthsbeschaffenheit der Einwohner "41 , freilich ist auch dies erst das dritte Argument nach einem rechtlichen und einem wirtschaftlichen gegen die Regelung des Wiederkaufs. Nahezu je ein Viertel der Einwände wurde abgelehnt, zu den - eventuell fortbestehenden - Provinzialrechten verschoben, fand eine rein legistische Erledigung oder auch eine inhaltliche Berücksichtigung. Doch täuscht das Verhältnis, denn tatsächlich wurden nur sieben Einwände berücksichtigt; sie betrafen folgende Materien: Sachenrecht (Sachbegriff, natürlicher Zuwachs), Erbrecht (Pflichtteil), Schuldrecht (Erbzins- und Erbpachtvertrag, Verjährung)42.
In der zweiten Lesung von 1807 bis 1808 schließlich gab es nur mehr zwei Stellungnahmen zugunsten provinzieller Gewohnheiten, und zwar von Mitgliedern der Gesetzgebungskommission selbst, nämlich zum polnischen Güterstand des Advitalitätsrechts43. Diese Einwände wurden berücksichtigt, das Advitalitätsrecht als eigenes Gütersystem in den Entwurftext aufgenommen. Auch in der dritten Lesung erfolgten nur mehr zwei Stellungnahmen, nämlich vom Referenten Zeiller zum Ehegesetz für Salzburg und Berchtesgaden, welches dort in der österreichischen Zeit 1806 in Kraft getreten war, aber nicht als lokales Sonderrecht, sondern gleichsam als vorweggenommene ABGB-Regelung44 . 38 Ofoer (pn. 17), I, S. 1 ff. und 11, S. 1 ff. 39 Zum Urentwurflagen 33 Stellungnahmen vor. 40 Ofoer (pn. 17), I, S. 11.
41 Ebda., 11, S. 95. 42 Ebda., I, S. 220, 268, 470; ebda., 11, S. 278, 319 f. = schließlich §§ 298, 409, 766, 1135 f., 1140 und 1487 ABOB. 43 Ebda., 11, S. 432 ff.: zwei neue Bestimmungen über den Erbvertrag und drei neue Bestimmungen zum Advitalitätsrecht = schließlich §§ 1255-1258 ABOB. 44 Ebda., 11, S. 505 f.: jeweils zu Ebehindernissen = schließlich §§ 83 und 88 ABOB.
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Willielm Brauneder
Resümierend kann festgehalten werden, daß das Herantragen von Landesund sonstigen lokalen Rechten an die Gesetzgebungskommissionen sich in ganz engen Grenzen hielt, in noch wesentlich engeren Grenzen aber die Berücksichtigung dieser Vorschläge, die als minimal zu bezeichnen sind.
8. Die Bedeutung der "Provinzial-Statuten" Die Haltung, welche die Gesetzgebungskommissionen dem lokalen Recht gegenüber einnahmen, manifestiert sehr markant ihre Stellung zur Fortgeltung von "Provinzialrecht"45. Schon das Teil-ABGB 1786 hatte alle lokalen Rechte aufgehoben, außer es werde ihre Geltung "von dem allgemeinen Gesetz ausdrücklich zugestanden" (I § 23). Ähnlich auch das ABGB (§ 11): Jene "Provinzial-Statuten" (so die Marginalrubrik) bleiben in Geltung, "welche nach der Kundmachung dieses Gesetzbuches von dem Landesfürsten ausdrücklich bestätiget werden". Man kann daher von einer traditionell ablehnenden, zumindest skeptischen Haltung gegenüber lokalem Recht sprechen. Zum Zwecke der Einsendung erhaltungswürdigen Provinzialrechts kam es 1804 zur Einsetzung von Kommissionen, die aber kaum etwas für erhaltenswert fanden. Der Katalog erhaltungswürdiger Provinzialrechte war demnach nicht groß. Dem entspricht auch eine ablehnende, oftmals nahezu feindliche Haltung der maßgebenden Mitglieder der Gesetzgebungskommission, die sich 1809 mit dem erhaltungswürdigen Provinzialrecht beschäftigte. In diesen Provinzialrechtsberatungen von 1809 betrafen die Stellungnahmen nicht einmal alle Länder, vor allem fehlen Mähren und Schlesien. Eine starke Hälfte bezog sich auf Gewohnheitsrecht, die schwächere Hälfte teilte sich auf in Hinweise zu gesetzlichem Statutarrecht und zu Normenkollisionen. Über zwei Drittel der Hinweise wurden abgelehnt oder für einen Irrtum erklärt, das Restliche fand eine rein legistische Erledigung im ABGB selbst. Am 22. Jänner 1810 berichtete die Kommission schließlich an den Kaiser, daß als "Resultat" der einschlägigen Beratungen festgehalten werden könne, es seien "alle Provinzialstatute entbehrlich", da entweder durch ModifIkationen im Gesetzestext berücksichtigt oder unwesentlich. Nach der Publikation des ABGB, jedoch noch vor seinem Inkrafttreten, trug das Hofdekret vom 13.Juli 1811 diesem Bericht mit der Deklaration Rechnung, es habe der Kaiser "keinem besonderen Rechte oder Statute für die einzelnen Provinzen neben dem allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch statt zu geben befunden·: Damit war vor Inkrafttreten des ABGB dessen § 11 bereits gegenstandslos geworden!
45 Zum Folgenden: Ebda., I, S. Brauneder (Fn. 1), S. 219 f.
25
Cf.; ebda.,
n, S. 453 f., 590
Cf., 606. - Vgl. auch
Rechtsvereinheitlichung der österreichischen Zivilrechtskodifikationen
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9. Die Akzeptanz des ABGB In Osterreich-Ungarn. Wäre das ABGB tatsächlich ein Konglomerat österreichischer Provinzialrechte gewesen oder wenigstens als solches verstanden worden, hätte sich die Aufnahmebereitschaft wohl auf jenen Raum beschränkt, dessen Landes- und Provinzialrechte es angeblich berücksichtigt hatte, während von den anderen Ländern zumindest ModifIkationSWÜDsche hätten kommen müssen. Gerade dies aber war bei weitem nicht der Fall. In der Habsb%8er-Monarchie zeigt sich, daß allein schon der Geltungsbereich das ABGB nicht mit jenen Ländern, für die es - ursprünglich - entstanden war, zu identifIzieren ist. Obwohl erst seit 1790 ein einziger Pole in der Gesetzgebungskommission mitarbeitete, konnte der Entwurf Martini als "Bürgerliches Gesetzbuch für (West-, Ost-) Galizien" in Kraft gesetzt werden, überdies auch im Buchenland (Bukowina) - also in Ländern, für welche es, fogt man der Meinung, es seien Landesrechte kompiliert worden, gar nicht konzipiert war! Salzburg, das endgültig 1815 zu Österreich kam, wo vielfach auch bayerisches Recht gegolten hatte47, war am KodifIkationsprozeß überhaupt nie beteiligt gewesen. Vor allem trat das ABGB 1815 in LombardoVenezien in Kraft, löste dort die italienische Fassung des Code Civil ab und galt hier letztlich bis 1871, obwohl nie ein Vertreter dieser Gebiete an den KodifIkationsarbeiten teilgenommen hatte. Aber nicht nur dies: Das ABGB initiierte den eigenständigen und wertvollen Zweig der italienischösterreichischen Privatrechtswissenschaft48 • Mit geringen ModifIkationen setzte man das ABGB ab 1853 in den transleithanischen Ländern in Geltung auch von hier hatte nie ein Mitglied zum Text beigetragen: In Siebenbürgen, Kroatien-Slawonien und in Fiume blieb es dennoch, wenngleich mit ModifIkationen, auch noch nach 1918 in Geltung. Bis zum Inkrafttreten des BGB galt das ABGB zudem in kleinen, ehemals österreichischen Teilen Bayerns, auch von hier waren keine Mitglieder in die Gesetzgebungskommissionen entsandt worden, gleiches gilt für das Teil-ABGB 1786, welches im ehemaligen Österreichisch-Schwaben ebenfalls bis zum BGB galt. Umgekehrt führte das Abtrennen von erheblichen Gebieten Österreichs in der Zeit Napoleons wie insbesondere von Vorderösterreich und Tirol, von Teilen Kärntens und Oberösterreichs nicht zu neuen Überlegungen bezüglich des Gesetzesinhalts. 46 Zum Folgenden: Ebda., S. 215 f., S. 247 ff.; vgl. auch die Graphik bei HelmUI Slapnicka: Österreichs Recht außerhalb Österreichs, München 1973, im Anhang S. 94 f. 47 P. PUlur: Staatlichkeit und Recht nach der Säkularisation, in: Heim: DopschlHans Spalungger (Hg.): Geschichte Salzburgs n, Salzburg 1988, S. 650 ff., insbes. S. 654. 48 Zur italienisch-österreichischen Rechtswissenschaft: F. Menestrina: Nel centenario de codice civile generale austriaco, in: Revista di Diritto Civile 6, Mailand 1911, S. 834 ff.; vgl. auch: Wilhelm Brauneder: Von der moralischen Person des ABGB zur juristischen Person der Rechtswissenschaft, in: Quademi Fiorentini 11/12 (1982/83), S. 273 f., S. 284 ff., S. 304 ff. und Filippo Ranieri: Italien, in: Helmul Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privalrechtsgeschichte ß111, München 1982, S. 226 ff.
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Wilhelm Brauneder
Im Ausland. Schon49 Horten meinte zu dem wesentlich von ihm erstellten Erbfolgepatent 1786, der Kaiser, lose! 11., möge es für alle Deutschen in Kraft setzen. Ähnlich äußerte sich später Thibaut just auch zum Erbrecht des ABGB: Es gäbe ein Beispiel für die gute Überwindung lokaler Rechte ab und könne als Einheitsrecht an die Stelle der diversen Erbgewohnheiten im Deutschen Bund gesetzt werden. Sodann galt das ABGB den KodifIkationsarbeiten in zahlreichen Einzelstaaten des Deutschen Bundes als Vorbild, auch als Gesetzbuch für diesen selbst wurde es in Vorschlag gebracht. Kantone der Deutschschweiz lehnten sich zum Teil sehr stark an das ABGB an, wie etwa Bern mit einem damals noch erheblichen Anteil am französischen Jura oder Luzern. Schließlich hatte Liechtenstein seine Erbfolgeordnung von 1809 am Erbfolgepatent 1786 orientiert, ein ZivilgesetzbuchEntwurf von 1804 stellte im wesentlichen nur eine sprachliche Modifikation des "Urentwurfs " zum ABGB dar, schließlich wurde dieses 1812 zum überwiegenden Teil, der Rest 1846 in Kraft gesetzt; mit einem Normenbestandteil von an die 50 % gilt es heute noch.
Natürlich hatten die Arbeiten zum ABGB nie auf das Recht dieser Länder und Staaten Bedacht nehmen können: Es wurde von ihnen offenbar nicht als ein typisches Recht Österreichs, aus seinen Ländern destilliert, betrachtet. Auffallend ist aber nicht nur diese andere territoriale, sondern auch politischgesellschaftliche Verwendbarkeit: Sowohl ständische Monarchien Deutschlands wie patrizische und liberale Kantone fanden Geschmack am ABGB. Diese Aufnahmebereitschaft beweist überdies auch, daß das ABGB kein Mischrecht der Nationalitäten Österreichs enthält - für Berns französischen Teil wäre ein deutsch-slawisches Produkt kaum akzeptabel gewesen. Dieser universellen Verwendbarkeit außerhalb der Länder der HabsburgerMonarchie entsprachen auch zeitgenössische Stellungnahmen: Den meisten deutschen Kritikern50 galt das ABGB sogar im Vergleich mit dem Code Civil als das bessere Gesetzbuch, wobei man es wie dieses durchaus nicht als auf einen bestimmten Staat fixiert, sondern als universelles Produkt moderner Gesetzeskultur ansah. Die tatsächliche Verbreitung des ABGB außerhalb der Habsburger-Monarchie bzw. eine derart erwünschte Akzeptanz läßt der geringere Verbreitungsund Einflußbereich des ABGB im Gegensatz zum Code Civil nicht sogleich 49 Zum Folgenden: Brauneder (pn. 1), S. 214, 218 f.; ders., 175 Jahre "Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch" in Liechtenstein, in: Liechtensteinische Juristenzeitung 1988, S. 94 ff.; jüngst: Barbara DlJlemeyer: Die gegenseitige Beeinflussung deutscher und österreichischer Kodifikationen im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans Rothe (Hg.): Deutsche in der Habsburgermonarchie, Köln-Wien 1989, insbes. S. 59 ff. Zur Schweiz: Louis Carlen: Österreichische Einflüsse auf das Recht der Schweiz (= Forschungen zur Rechts- und Kulturgeschichte IX), Innsbruck 1977, S. 15 ff.; Pio Caroni: Privatrecht. Eine sozialhistorische Einfiihrung, BaselFrankfurtIM 1988, S. 36. 50 Dazu Brauneder (pn. 1), S. 250 f. sowie DlJlemeyer (pn. 49), S. 59 f.
Rechtsvereinheitlichung der österreichischen Zivilrechtskodifikationen
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erkennen - schon Zeitgenossen hatten dies auf den damals gewaltigen Vorsprung der französichen Sprache zurückgefiihrt51 .
10. Schlußfolgerungen Gerade die Rezeptionen bzw. Einflußnahmen zeigen deutlich, daß man das ABGB keineswegs als ein bloß für das Kaisertum Österreich konzipiertes Gesetzbuch ansah, weil es etwa die diversen österreichischen Landesrechte verarbeitet hätte. Einerseits ist regionales Recht schon nach dem Sprachgebrauch der ZivilrechtskodifIkationen 1786, 1797 und 1811 nicht mit Landesrecht gleichzusetzen. Vor allem aber zeigt sich in den Zusammensetzungen der diversen Kommissionen wie auch in ihren Arbeiten, sodann in den verschiedenen Materialien, daß nie die Absicht bestehen konnte, eine vorrangig auf Länderrechten bestehende KodifIkation zu erstellen. Der Einfluß lokaler Rechte blieb überdies ganz minimal. Und dies sehr zu Recht: Das einzige lokale Rechtsinstitut von Bedeutung, das Eingang in das ABGB gefunden hatte, nämlich das polnische Advitalitätsrecht, blieb außerhalb Galiziens totes Recht. Die Rechtsvereinheitlichung wurde vielmehr durch logische Konstruktionen zu erreichen versucht, am Anfang der KodifIkationsarbeiten auf der Grundlage weitestgehend des "Jus-Romano-Germanicum", später durch Feilen am bereits vorhandenen Text der jeweiligen Vorstadien. Die negative Haltung gegenüber lokalem Recht zeigt sich besonders darin, daß von den KodifIkatoren keinerlei Provinzialrechte als erhaltungswürdig erachtet wurden, obwohl das ABGB diese Möglichkeit eingeräumt hatte. So ist es nur zu verständlich, und entsprach auch der Absicht der KodifIkatoren, daß das ABGB den Zeitgenossen nicht als spezifIsch österreichisches Gesetzbuch im Sinne einer Berücksichtigung der Eigenart der einzelnen Länder oder gar Nationalitäten galt, sondern als eine logische Konstruktion des Privatrechts mit der Möglichkeit, es auch anderswo zu verwenden. Damit steht das ABGB auf gleicher Stufe mit dem Code Civil, den man gleichfalls nicht für ein spezifIsch französisches Gesetzbuch hielt, sondern für eine modeme KodifIkation, die dann ja beispielsweise auch in anderen Ländern, etwa jenen Deutschlands und Italiens, galt. Eben diese Wertung und eine ähnliche Rezeption ist auch dem ABGB widerfahren. Wie der Code Civil stellte es sich als staatlich, länder- oder gar nationalitätenmäßig nicht gebundenes, sondern prinzipiell universal verwendbares Gesetzbuch dar.
51 Anron Christ: Über deutsche Nationalgesetzgebung, 2. Aufl., Karlsruhe 1842, S. 117.
TeilD
Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte
Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte Von Dietmar Willoweit
1. Von der neoaristotelischen Staatenkunde zum Historismus "In allen Künsten und Wissenschaften, die nicht bloß eine Besonderheit behandeln, sondern umfassend eine Gesamtgattung, ist es die Aufgabe ... , zu prüfen, was der Gattung angemessen ist, etwa, welche Übung dem Körper zuträglich und welches die schlechthin beste Übung ist ... , weiterhin welche bestimmte Übung für die größte Mehrzahl passend ist ... So ist es denn auch offensichtlich die Aufgabe der Wissenschaft, zu fragen, welches die beste Verfassung (politeia) sei und wie sie wohl meistens nach Wunsch eingerichtet sein wird, wenn nichts von außen stört, und ferner, welche Verfassung welchen Menschen paßt ... , weiterhin drittens, welches die unter bestimmten Voraussetzungen beste Verfassung ist ... ; neben alledem muß man endlich feststellen, welche Verfassung der größten Mehrzahl der Staaten passen wird."1 Aristoteles hat mit diesen Worten am Anfang des vierten Buches seiner "Politik" ein Programm beschrieben, welches das europäische Staatsdenken faszinierte, seitdem der Zweck politischer Organisation nicht mehr überwiegend von der christlichen Eschatologie bestimmt wurde. Die Frage nach der relativ besten Staatsverfassung - schon von Aristoteles in Relation gesehen zu den jeweiligen Menschen und Ländern - setzte den Verfassungsvergleich und damit auch eine vergleichende Staatengeschichte notwendigerweise voraus. Denn die passende oder beste Verfassung kann nicht ermittelt werden, wenn die von der Menschheit schon erprobten Modelle und deren Schicksale unbekannt bleiben. Die neuzeitlichen Aristoteliker haben sich daher um das genus civitatum bemüht und seit dem 16. Jahrhundert eine Staatenkunde entwickelt, welche empirisches Material über Menschen und Länder, die wirklich beobachteten Staatszwecke, die Verfassungsstrukturen, die Regierenden und ihre Herrschaftsinstrumente zusammentrug. Das so er1 Aristoteles: Politik, eingeI., übers. und hg. von O. Gigon, 2. Aufl. Zürich-Stuttgart 1971 (Bibliothek der Alten Welt, Griech. Reihe), 4. Buch 1. Kap., S. 176 = 1288 b der Werkausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften.
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Dietmar Willoweit
worbene Wissen diente als Basis einer Politikwissenschaft, die den Staatszweck des gemeinen Wohls rational zu ergründen und zu realisieren versuchte. 2 Solange noch nicht - vor Kant - Empirie und Normativität, Erfahrung und ethisches wie rechtliches Sollen, auseinandergebrochen waren, konnten einer vergleichenden Staatenkunde Handlungsanweisungen ohne prinzipielle Schwierigkeiten entnommen werden. Noch Montesquieus epochemachender Traktat über den Geist der Gesetze bietet dafür ein großartiges Beispiel. Was einen modemen Herausgeber seines Buches irritiert - "nur zu oft vergleicht er Gesetze verschiedener Epochen und Regionen, statt die Natur der Dinge aufzuzeigen"3 -, hat Montesquieu erst in die Lage versetzt, an der Verfassung Englands das Gewaltenteilungsprinzip abzulesen. Dieses Beispiel mag selbst uns noch davon überzeugen, daß Normbildung einen generalisierenden Erkenntnisakt voraussetzt, der ohne Erfahrungswissen nicht auskommt. Gleichwohl, die historische Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts mußte im Zeichen ihrer historistischen Prämissen andere Wege beschreiten. Sie hat sich zunächst dem nackten historischen Faktum zugewandt und Quellen erhoben, sodann nach den Ursachen gefragt und endlich auch Entwicklungszusammenhänge unter makrohistorischen Aspekten festzustellen versucht. Die noch in der modemen Geschichtswissenschaft beliebte Kategorie der "Modernisierung" scheint mir ein signifikantes Beispiel für diesen - noch immer aktuellen - Stand der Dinge zu sein. Abgekoppelt von der Arbeit des Historikers blieb dabei selbstverständlich jeder Bezug zu praktisch-politischem Handeln, wenn man einmal von der retrospektiven Erörterunf von Fehlentwicklungen, etwa im Rahmen des Historikerstreites, absieht. Zwar ist zu2 Amo Seifert: Staatenkunde - eine neue Disziplin und ihr wissenschaftstheoretischer Ort, in: M. Rassem/J. Slagl (Hg.): Statistik und Staatsbeschreibung in der Neuzeit, vornehmlich im 16.18. Jahrhundert, Paderborn 1980, S. 217 ff.; den., Conring und die Begriindung der Staatenkunde, in: M. Srolleis (Hg.): Hermann Conring (1606-1681). Beiträge zu Leben und Werk, Berlin 1983, S. 201 ff.; Diermar Willoweir: Hermann Conring, in: M. Srolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, 2. Aufl. FrankfurtlM. 1987, S. 129 ff. 3 So Kurt Weigand in: Montesquieu: Vom Geist der Gesetze, 1965 (Reclam-Univ.Bibl.), Einleitung, S. 24. 4 Streit ums Geschichtsbild. Die "Historiker-Debatte". Darstellung, Dokumentation, Kritik, hg. v. R. Kühnl, Köln 1987; Martin Broszar: Was heißt Historisierung des Nationalsozialismus?, in: HZ, Bd. 247, 1988, S. 1 ff.; lmanuel Geis: Die Habermas-Kontroverse: Ein deutscher Streit, Berlin 1988; Geschichtsbewußtsein und historische Bildung in der Bundesrepublik Deutschland: Beiträge zum "Historiker-Streit", Stuttgart 1988; Emsr Nolre: Das Vergehen der Vergangenheit. Antwort an meine Kritiker im sog. "Historikerstreit", 2. erw. Aufl. FrankfurtIM. 1988; Perer Sradler: Rückblick auf einen Historikerstreit - Versuch einer Beurteilung aus nichtdeutscher Sicht, in: HZ, Bd. 247, 1988, S. 15 ff.; Streitfall deutsche Geschichte: Geschichtsbewußtsein in den 80er Jahren, Essen 1988; Der deutsche "Historikerstreit" aus mitteleuropäischer Sicht, hg. von P. Despoix unter Mitarb. von B. Hahn, Hamburg 1989 (Osteuropa Forum 7); "Historikerstreit" . Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung, 7. Aufl. München 1989; "Historikerstreit" und politische Bildung, hg. von K. Oesrerle/S. Schiele, Stuttgart 1989; Lucian Hölscher: Geschichte und Vergessen, in: HZ, Bd. 249, 1989, S. 1 ff.; Richard J. Evans: Im Schatten Hitlers? Historikerstreit und Vergangen-
Probleme und Aufgaben einer europäischen Verfassungsgeschichte
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weilen davon die Rede, daß man aus der Geschichte lernen müsse. Aber diese Devise aus der Zeit des Humanismus vermag heute kaum jemals den Charakter eines diffusen moralischen Appells abzustreifen. Scientia und prudentia haben sich scheinbar unwiderruflich getrennt. Dies um so gründlicher, als die einzige modeme Brücke zwischen beiden, der Marxismus, politisch hoffnungslos diskreditiert ist und wissenschaftliches Interesse in Zukunft mit Sicherheit nur insofern beanspruchen kann, als er den Anspruch richtigen Handelns aufgibt. Die Konsequenzen des angedeuteten Sachverhalts für eine vergleichende Geschichte staatlicher Verfassungsverhältnisse mußten verheerend sein. Eine solche Fragestellung hatte ihren Sinn verloren. Nicht zufällig verschwand die in der Nachfolge Hegels noch eine Zeitlang gepflegte "Universalgeschichte" nach dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts fast ganz. Restbestände überdauerten zwar in Osteuropa unter dem Namen einer "Allgemeinen Staats- und Rechtsgeschichte". Insgesamt genoß nun aber die Geschichte des Nationalstaates absolute Priorität. Dies um so mehr, als die Historische Schule angenommen hatte, Staat und Recht seien Emanationen der Volkspersönlichkeit und daher, so wie sie geworden sind, auch nur aus nationaler Perspektive adäquat zu erfassen. Man empfand dies nicht als eine Beschränkung des Blickfeldes, sondern im Gegenteil als eine Konzentration auf das "Wesen" der historischen Phänomene, die sich zudem auch mit der notwendigelWeise begrenzten Quellenkenntnis eines jeden Forschers zu rechtfertigen wußte. Kein weiteres Wort braucht über die Koinzidenz dieser methodischen Vorgaben mit der Geschichte des Nationalstaatsgedankens im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren zu werden. Für unseren Zusammenhang wichtiger ist die Tatsache, daß die nationale Orientierung der Forschung auch die Herausbildung verschiedenartiger methodischer Zugänge zur Geschichte des jeweils eigenen Staates zur Folge hatte. In Deutschland entwickelte sich eine exklusive mediävistische Disziplin der "Verfassungsgeschichte" , welche ihre nachhaltigsten Impulse von Otto Brunner empfing. Dieser aber war in stärkerem Maße earl Schmitt verpflichtet, als man es später wahrhaben wollte. Brunner bezog sich ausdrücklich auf Schmitts Verfassungsbegriff. Danach ist Verfassung "der konkrete Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung eines bestimmten Staates". 5 Die um Verfassung bemühte Geschichtsschreibung hat es folglich in den von ihr untersuchten historischen Räumen mit "Einheit und Ordnung", und dies innerhalb "eines bestimmten Staates", zu tun. "Einheit und Ordnung" werden sich ohne Ermittlung oder Konstruktion von Sinnelementen kaum feststellen lassen. Bezogen auf den engen Rahmen eines europäischen Staatsgebildes muß
heitsbewältigung in der Bundesrepublik (zur Veröffentlichung vorgesehen Frankfurt 1991). 5 earl Schmin: Verfassungslehre, 1928,6. unveränd. Aufl. Berlin 1983, S. 4; Land und Herrachaft, 5. Aufl. Wien-Wiesbaden 1965, S. Ill.
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Brunner:
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sich aus dieser Betrachtungsweise am Ende ein national oder doch jedenfalls landschaftlich geprägtes Geschichtsbild ergeben, wie wir es in eindrucksvollen Beispielen aus der einschlägigen Forschung auch in der Tat vor Augen haben. Kann man solche "Verfassungsgeschichte" vergleichend betreiben? Und welchen Sinn sollte das haben?
2. Verfassungsgeschichtliche Fragestellungen der Gegenwart Die nächstliegende Antwort könnte lauten, daß die aktuelle europäische Politik, d.h. die Erweiterung des Rahmens, innerhalb dessen der Historiker seine Forschungen betreibt, zwangsläufig auch den Stoff der Geschichte verändert, zumindest vergrößert. Ist es eine selbstverständliche Aufgabe des Historikers, das politische Selbstverständnis einer Gesellschaft durch die erinnerungsbedingte Komponente der Historie zu ergänzen,dann ist diese Aufgabe im Zuge der europäischen Integration offenkundig anders zu lösen als in dem bisher bestehenden System der Nationalstaaten. Dieser einfache Zusammenhang braucht nicht weiter begründet zu werden, wird er doch schon durch die Zunahme multilateraler Forschungskontakte auch im Bereich der Geschichtswissenschaften und durch das Engagement supranationaler Forschungsinstitutionen bezeugt. Damit verschärft sich freilich nur das methodische Dilemma. Unter dem Dach des brunnersehen Verfassungsbegriffs jedenfalls läßt sich eine vergleichende Verfassungsgeschichte der europäischen Staaten nur mit Schwierigkeiten unterbringen, weil Gründe für einen solchen Vergleich nicht so leicht zu nennen wären. Voraussetzung einer europaweiten, vergleichenden Verfassungsgeschichtsschreibung ist also die Formulierung eines Verfassungsbegriffs, welcher derartige, einzelne Landschaften und Nationen überschreitende, Forschungen sinnvoll erscheinen ließe. Solange es nur um den "Gesamtzustand •.. eines bestimmten Staates" geht, könnte ein Vergleich nur mit historischer Neugier gerechtfertigt werden, und es ist daher kaum ein Zufall, daß die jüngere verfassungsgeschichtliche Forschung der Mediävistik eine im wesentlichen deutsche, jedenfalls mitteleuropäische Angelegenheit geblieben ist. Indessen läßt sich die Frage nach dem historischen Gesamtzustand eines Staates unter Verzicht auf das Postulat der "Einheit und Ordnung" auch differenzierter stellen. Nicht ein einzelnes Volk und nicht ein bestimmter Staat mit der ihm angeblich eigentümlichen Ordnung sollte das Erkenntnisobjekt sein, sondern die politische Ordnung des Gemeinwesens schlechthin. Als ein der Rechtssprache entnommenes Wort könnte unter "Verfassung" dann der Bestand derjenigen rechtlichen Regeln und Strukturen verstanden werden, die das Gemeinwesen prägen. Sofern dabei mitgedacht ist, daß Recht einem steten geschichtlichen Wandel unterliegt, also mit inneren Widersprüchen leben muß und vielfach nur ansatzweise zur "Einheit" fmdet, hindert nichts, "Gemeinwesen" mit "politischer Ordnung"
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gleichzusetzen. 6 Ein solcher, vom nationalen Substrat gelöster, Verfassungsbegriff müßte die Akzente seiner Forschung wohl etwas anders setzen, als bisher in Deutschland überwiegend geschehen. Erkenntnisziel wäre nicht mehr das Verfassungsgefüge einer Landschaft, eines Staates oder einer Nation, sondern die Beantwortung der Frage, welche rechtlichen Regeln und Mechanismen jeweils das Gemeinwesen konstituieren. Dies aber ist keine Frage der Definition, sondern ein Sachproblem, das für verschiedene Zeitalter und Situationen unterschiedlich zu lösen sein wird. So besteht ein breiter Konsens darüber, daß für die mittelalterliche Verfassungsgeschichte die Grundherrschaft zur Verfassungsstruktur gehört. Ähnliches möchte ich für die frühe Neuzeit von wesentlichen Teilen der Kirchenordnungen behaupten, und für unser Jahrhundert ist kaum daran zu zweifeln, daß dem großen Bereich des Sozialrechts, historisch gesehen, Verfassungsqualität zukommt, wäre anders doch die Funktionstüchtigkeit des demokratischen Prinzips in einer modemen Massengesellschaft zumindest erheblich eingeschränkt. Verfassungsgeschichtliches Fragen dieser Art führt ganz von selbst zum länderübergreifenden Vergleich. Steht die Funktionsweise des Gemeinwesens überhaupt im Mittelpunkt unseres Interesses, dann ist zweifellos eine internationale Forschungs- und Gesprächsebene gefunden. Nun ist diese Erkenntnis ja keineswegs neu. Seit geraumer Zeit, aber nicht zufällig von westeuropäischen Wissenschaftlern angestoßen, gibt es vergleichende Forschungen zu solchen Institutionen, die sich in mehreren oder allen europäischen Ländern mehr oder weniger ausgeprägt finden. Hervorzuheben sind insofern vor allem ständegeschichtliche Untersuchungen, 7 zu denen sich injÜDgster Zeit Unternehmungen gesellen, die eine vergleichende Analyse der Entstehung des frühmodernen Staates zum Ziel haben. Auf Anregung des Centre National de la Recherche ScientifIque fanden seit 1984 internationale Kolloquien statt, die sich mit der Genese des modemen Staates unter den verschiedenartigsten Aspekten auseinandersetzten: Fiskalsystem, Kultur und Ideologie, Stadt und Bürgertum, Staat und Kirche, Prosopographie, gesetzgebende Gewalt. 8 Zur Zeit unternimmt es die European Science Founda6 Zur neueren Diskussion um den Verfasaungsbegriff der Verfassungsgeschichte vg!. die Beiträge von Reinhart Koselleck, Karl Kroeschell und Rolf Sprandel in: Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung = Der Staat, Beiheft 6, 1983; Hans Boldt: Einführung in die Verfassungsgeschichte, Düsseldorf 1984. Eine Skizze auch bei Dietmar Willoweit: Deutsche Verfassungsgeschichte, München 1990, §§ I u. 2. 7 Vg!. zuletzt Heiner 1immennann (Hg.): Die Bildung des fruhmodernen Staates - Stände und Konfessionen, Saarbrucken-Scheidt 1989. 8 Culture et ideologie dans la genese de I'etat modeme (Collection de I'Ecoie Fran~aise de Rome 82), Rom 1985; Etat et eglise dans la genese de I'etat modeme (Bibliotheque de la Casa de Velazquez 1), hg. v. J.-Ph. Genet/B. Vincent, Madrid 1986; Prosopographie et genese de I'etat modeme (Collection de l'Ecole normale auperieure de jeunes filles 30), hg. v. F. Autrand, Paris 1986; Genese de I'etat modeme. PrcSlevement et redistribution (Colloque internationale du Centre national de la recherche scientifique), hg. v. J.-Ph. GenetIM. Le Mene, Paris 1987; La ville, la bourgeoisie et la genese de I'etat modeme, XIIe-XVille siecles (Colloque international 10 Schulze
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tion, Dachorganisation der nationalen europäischen Forschungsförderungseinrichtungen, das Thema "The Origins of the Modem State" in nicht weniger als acht international besetzten Arbeitsgruppen im Rahmen eines sich über mehrere Jahre erstreckenden Forschungsprojekts zu untersuchen. Im einzelnen geht es um Krieg und Wettbewerb der Staaten, herrschende Klassen und Funktionsträger , die Instrumente des Rechts, das ökonomische System und die Staatsfinanzierung, das Individuum und die politische Theorie, die Ikonographie, Propaganda und Legitimation des Staates sowie endlich Partizipation und Repräsentation des Volkes. 9 Hier wird der Vergleich gewissermaßen als eine flächendeckende Methode eingesetzt. Ohne der zu erwartenden Materialffille, wie sie über hundert Wissenschaftler erarbeiten können, vorzugreifen, läßt sich zum Ertrag des Unternehmens voraussagen: die Vergleiche werden Gleichartiges und Ungleichartiges zutage fördern. Welche darüber hinausgehenden Aussagen aufgrund dieses Befundes dann ermöglicht werden, ergibt sich nicht schon aus dem historischen Stoff selbst, sondern erst mit Hilfe meiner Fragen, die ich an ihn richten will. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte bleibt also zunächst auch dann, wenn die jeweilige nationale Quellenbasis überschritten wird, an die Bedingungen des Historismus gebunden: Ich stelle Fakten nebeneinander und beobachte - nunmehr länderübergreifend -, was sich überall in Europa gleich oder ähnlich entwickelt und was als nationale Besonderheit anzusehen ist. Zum Gleichartigen würde etwa die Bürokratie, das Steuer- und das Militärwesen gehören, zu den Besonderheiten das englische Parlament, die polnische Adelsoligarchie, der deutsche Spätkonstitutionalismus. Bei dem kruden Faktum der Gleichartigkeit bzw. Unterschiedlichkeit möchten wir aber nicht stehenbleiben. Das Steuer- und Militärsystem des frühneuzeitlichen Staates interessiert uns, weil wir selbst noch immer unter den Bedingungen eines ähnlichen Steuer- und Militärsystems leben, ohne damit rundum glücklich zu sein, ohne aber auch irgendeine Alternative zu erkennen. Und das englische Parlament erscheint uns als ein lohnendes Forschungsobjekt, weil wir wissen, daß dieses etwas mit unserer demokratischen Gegenwart zu tun hat. Ein vorläufiges Fazit dieser Überlegungen muß also lauten, daß die Geschichtswissenschaft, zumal dann, wenn sie sich des Vergleiches bedient, nicht so stringent von jedem politischen Handlungsinteresse getrennt werden kann, wie es ihre methodischen Prämissen eigentlich fordern. Das ist eine letztlich banale Einsicht. Aber es mag insofern nützlich sein, sich ihrer zu erinnern, als sie eine, wie mir scheint wichtige, Schlußfolgerung nahelegt: Der Vergleich hat nur Sinn, wenn er befragt wird. Um solche Fragen, die jedu Centre national de la recherche scientifique>, hg. v. N. BulsrIJ.-Ph. Gener, Paris 1988; Renaissance du pouvoir legislatif et gen~se de I'elat (Publications de la Sociere d'histoire du droit et des institutions des anciens pays de droit 6critlß), hg. v. A. GouronlA. Rigaudiere, Montpellier 1988. 9 Vgl. dazu die Infonnation in: Comrnunications. The Iournal of the European Science Foundation, Nr. 18, 1988, S. 16 f.
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weils meinen eigenen Gegenwartsbezug widerspiegeln, soll es m unseren weiteren Überlegungen nun gehen.
3. VerfassWlgsgeschichtliche ForschWlg und politisches Interesse Eine dieser Fragen wird seit langem gestellt. Es ist die als Problem empfundene Vorstellung von der "Identität" einer Nation, welcher lange Zeit - mit negativem Akzent - die Frage nach einem "Sonderweg" Deutschlands entsprach. Begriffe wie "Identität" oder "Sonderweg" spiegeln den Versuch wider, die individuell mögliche Frage nach dem eigenen Selbst und seiner Substanz auf ein Kollektiv anzuwenden. Eine derartige Fragestellung setzt voraus, daß dieses Kollektiv existent und so etwas wie ein kollektives Bewußtsein festzustellen ist. Da diese Prämisse für die europäischen Völker spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bejaht werden kann, muß den Selbstreflexionen über nationale Wege und Identitäten auch Bedeutung beigemessen werden. Sie offenbaren, wie sich die Menschen gleicher Volkszugehörigkeit selbst verstehen oder doch nach Meinung der Historiker und politischen Meinungsführer verstehen sollten. Das so konstituierte kollektive Selbstbewußtsein aber entfaltet unmittelbare politische Wirkungen in der Gegenwart. Es sei nur daran erinnert, wie intensiv das polnische politische Denken durch die Erinnerung an die Teilungen Polens geprägt ist und wieviel politische Kraft die französische Nation dem Bewußtsein verdankt, in der Französischen Revolution eine epochale Leistung stellvertretend für den ganzen Kontinent vollbracht zu haben. Im Vergleich mit den offen zutageliegenden Identitäten unserer Nachbarn in Ost und West ist der Frage nach der deutschen Identität politisches Gewicht nicht abzusprechen. 1O Dabei erweist sich die tiefe Identitätsstörung, welche das nationalsozialistische Regime hinterlassen hat, als ein kaum übersteigbares Hindernis. Denn die Demütigung der Juden jedenfalls und anderer sogenannter "Fremdvölkischer" vollzog sich vor den Augen aller und unter Beteiligung vieler, und an dem Unternehmen, ganz Europa Deutschland zu unterjochen, wirkte der größte Teil des Volkes, gehorsam oder gezwungen, mit. Es waren also kollektive Handlungen, die das nationale Selbstbewußtsein untergruben. Will man sich nicht der völlig irrationalen Idee verschreiben, die Deutschen seien von Natur aus gefährlich und aggressiv, bleibt gar nichts anderes übrig, als nach geschichtlichen Gründen zu fragen und das Problem des kollektiven Selbstbewußtseins, ohne welches ein Staatsvolk wohl nicht auskommt, im Wege der Rekonstruktion mit Hilfe intakter historischer Versatzstücke zu lösen. Solche kann man in der 10 Vgl. dazu: Deutschlands Sonderung von Europa 1862 bis 1945. Aufsätze, FrankfurtIM. u.a. 1984; Der "deutsche Sonderweg" in Europa 1806-1945. Eine Kritik, Stuttgart 1986; zuletzt Wolfgang J. Mommsen: Nation und Geschichte. Über die Deutschen und die deutsche Frage, München 1990. 10·
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Aufklärung und in der deutschen Klassik, unter den Liberalen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Sozialpolitik und nicht zuletzt in den Bekundungen demokratischen Bewußtseins und nationaler Zusammengehörigkeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wohl auffmden. Freilich sind Zweifel erlaubt, ob solche Rekonstruktionsversuche erfolgreich sein können - vielleicht vermag sich eine erneuerte nationale Identität nur aus neuen Erfahrungen zu entwickeln, Erfahrungen, die nach 1945 bis heute gemacht wurden. Die Relevanz der Frage nach dem Weg und der Identität des Staatsvolkes für das Gemeinwesen ist nicht von der Hand zu weisen. Wenn aber solche Bemühungen nicht wieder in eine ebenso engstirnige wie hochmütige Begeisterung über das "deutsche Wesen" - oder modernisiert: deutsche Leistung - einmünden sollen, dann ist der Vergleich mit den geschichtlichen Wegen und Selbstverständnissen der anderen europäischen Völker schlechterdings unumgänglich. Der Vergleich der Staaten und Nationen stellt in der heutigen politischen Situation ohne Zweifel die aktuellste Variante gegenwartsbezogenen geschichtlichen Fragens dar. Längerfristig wird größeres wissenschaftliches und rechtspolitisches Gewicht die Frage nach dem geschichtlichen Sinn verfassungsrechtlicher Prinzipien und Institutionen haben. Denn es ist unverkennbar, daß auch der demokratische Rechtsstaat einem Entwicklungs- und Alterungsprozeß unterliegt, in dessen Verlauf der ursprüngliche Begründungszusammenhang seiner Ideen und Einrichtungen verlorenzugehen droht, zum Teil vielleicht schon verschüttet ist. Dies festzustellen wird aber regelmäßig ohne Vergleich, ohne genauere Kenntnis älterer oder paralleler Entwicklungslinien in anderen europäischen Ländern nicht möglich sein. Zwei Beispiele mögen verdeutlichen, welcher Art die Aufgaben etwa sind, die von der Forschung in Angriff zu nehmen wären. Wir erleben in der Gegenwart, daß sich die Berufung auf Menschenrechte zunehmend als eine Art Rechtssprache der Weltgesellschaft durchsetzt. Auch dort, wo man sie mißachtet, bilden sie doch ein Politikum ersten Ranges, das kein Despot leichter Hand vernachlässigen könnte. Doch abgesehen davon, daß die rechtsphilosophische und sozialethische Begründung der Menschenrechte unter den Bedingungen eines weltanschaulichen Pluralismus große Schwierigkeiten bereitet, stellen sich auch einer genaueren inhaltlichen Beschreibung einzelner Menschenrechte fast unüberwindliche Hindernisse entgegen. Die Meinungsfreiheit etwa als Ausdruck menschlicher Selbstverwirklichung ebenso wie als Teilhabe an einem unbegrenzten Markt der Ideen und Einfälle wird von vielen Staaten der dritten Welt als eine kulturelle Bedrohung empfunden. Meinungsfreiheit schließt nach landläufigem Verständnis in unseren Breiten den Unterhaltungswert ein, welchen sex and crime, witzige Werbung und künstlerische Exzentrik vermitteln. Geht man den Ursprüngen der Meinungsfreiheit nach, dann hilft die nationale deutsche Geschichte überhaupt nicht weiter. Bekanntlich war es das englische Parlament, in welchem freedom of speech zuerst durchgesetzt wurde, und dies um der Freiheit der
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politischen Kontroverse willen. Aus dieser historischen Wurzel bezogen die späteren, auf dem Kontinent anzutreffenden Forderungen nach freier Rede und freier Presse ihre Kraft. Das Recht auf Meinungsfreiheit war daher für viele Generationen politisch akzentuiert, ehe sich der Gedanke einer der Öffentlichkeit mitzuteilenden Persönlichkeitsentfaltung in den Vordergrund drängte und endlich die Kommerzialisierung künstlerisch wertloser Machwerke unter dem Schirm eines Grundrechtes dessen Sinn völlig veränderte. Man darf darin die unausweichliche Konsequenz einer offenen, keinen kulturellen Alleinvertretungsanspruch akzeptierenden Gesellschaft sehen. Aber es ist Sache der Verfassungsgeschichtsschreibung, den geschehenen historischen Wandel und damit den Standort der Gegenwart bewußt zu machen. 11 Wohl die meisten der erheblichen verfassungspolitischen Gegenwartsprobleme lassen sich nur verstehen durch eine vergleichende, also die europäischen Entwicklungen insgesamt beachtende, historische Untersuchungsmethode. Ein zweites Beispiel kann nur in seinen Konturen angedeutet werden. Die schon erwähnten Forschungen zur Geschichte der Stände und damit der Repräsentation in Europa sind gewiß allein schon deshalb gerechtfertigt, weil sie die Entstehung eines heute fundamentalen Verfassungsprinzips aufhellen. Behält man freilich das Vorher und Nachher im Auge, den mittelalterlichen Konsens der Rechtsgenossen und die modemen Formen und Veränderungen demokratischer Willensäußerung, dann scheint der Versuch gerechtfertigt, diese auf den ersten Blick disparaten historischen Befunde in eine Geschichte der auf Repräsentation gestützten Legitimation einzuordnen. Dazu hat schon seit geraumer Zeit Hasso Hofmann wesentliche Elemente beigesteuert. 12 Auch die Kommunalismusthese Peter Blickles, die einen eigenständigen Weg des gemeinen Mannes aus seinem genossenschaftlichen Umfeld zur Partizipation am Gemeinwesen behauptet, gehört in diesen Zusammenhang. 13 Sie könnte ebenso wie das von Hofmann diskutierte Prinzip der Repräsentation einen Erklärungsansatz dafür bieten, daß politische Gewalt offenkundig immer wieder gezwungen ist, sich durch den Konsens des Volkes zu legitimieren, so unterschiedlich die dafür entwickelten Formen und Mechanismen auch im Laufe der Geschichte gewesen sind. Für diese Einsicht bieten die osteuropäischen Ereignisse des Jahres 1989 nur einen weiteren Beleg. Es folgt daraus aber auch, daß der gerade erreichte Entwicklungsstand demokratischer Repräsentation nicht zu einer gleichsam zeitlosen Verfassungsform hochstilisiert werden darf, sondern daß das Gesetz steten histori11 Johannes SchwartlllnderlDietmar Willoweit (Hg.), Meinungsfreiheit - Grundgedanken und Geschichte in Europa und USA, Kehl a. Rh.-Straßburg 1986, S. I ff. u. passim. 12 Hasso Hofmann: Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, 2. Aufl. Berlin 1990. 13 Peter Blickle: Deutsche Untertanen - Ein Widerspruch, München 1981; ders., Der Kommunalismus als Gestaltungsprinzip zwischen Mittelalter und Moderne, in: Gesellschaft und Gesellschaften, Bem 1982, S. 95 ff.; vgI. jetzt auch ders. (Hg.), Stadtgemeinde und Landgemeinde in Mitteleuropa 1300-1800 = HZ, Beiheft 13, 1990.
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schen Wandels mit Gewißheit auch für die Zukunft gilt. Verfassungspolitische Diskussionen um den Sinn und die Praktikabilität von Plebisziten oder wahlrechtlichen Sperrklauseln etwa wird man daher nicht unbegrenzt mit Hinweisen auf Erfahrungen der Weimarer Republik bestreiten können. Verfassungspolitik bedarf einer weiten historischen Perspektive, wenn sie ihren Namen verdienen soll, und diese Perspektive muß - selbstverständlich - europäische, historisch-vergleichende Dimensionen haben.
4. Von der Verfassungsgeschichte zur Wissenschaft vom Staat Kehren wir aber nochmals zur "reinen" historischen Wissenschaft zurück einer Wissenschaft also, die sich keinem politischen Zweckgedanken verschreiben möchte und allein nach dem So-Sein historischer Abläufe fragt, also nach Gestalt und Wandel von Verfassungsformen, nach sozialen Strukturen und Bewegungen. Sind Forschungen dieser Art auf vergleichender Quellenbasis methodisch wirklich nicht besser zu begründen, als daß sie mehr national begrenzte Informationen nebeneinander liefern und damit einen größeren Überblick verschaffen? Es gibt wohl doch einen Aspekt, der dazu zwingt, vergleichende verfassungsgeschichtliche Forschung gleichsam integriert zu betreiben. Wenn ich wissen möchte, ob es gleichartige Entwicklungsfaktoren gibt und daher möglicherweise Trends, welche als charakteristisch zu bezeichnen sind für die Entstehung, Entfaltung, wachsende Komplexität staatlicher Organisation, dann muß ich notwendigerweise meinen Blick auf möglichst viele Exemplare der Gattung "Staat" richten und Kategorien fmden, die etwas über jene generellen Merkmale aussagen. Mit anderen Worten: die Geschichte des Staates überhaupt wird erst dann sichtbar, wenn ich ihre einzelnen Erscheinungen in Allgemeinbegriffe zu übersetzen vermag. Die große Faszination, welche mit eher zunehmender Tendenz von dem Werk Max Webers ausgeht l4 , beruht wohl weitgehend darauf, daß ihm diese Übersetzungs- und Abstraktionsarbeit überzeugend gelungen ist. Die von ihm gefundenen Herrschaftstypen und seine Deutung der Gesellschafts- und Rechtsgeschichte als Rationalisierungsprozeß enthalten Aussagen, die eine höhere Sinnebene erschließen und Geschichte damit im Dialog der Wissenschaften gedanklich verfügbar machen. Der Name Max Weber steht also nicht lediglich für bestimmte Ergebnisse historischen Forschens, sondern für eine Methode, die auf weitere geschichtliche Erscheinungen angewendet werden könnte. Es ginge dann nicht nur darum, staatliche Institutionen und staatliches Handeln, Individualrechte und Untertanenpflichten vergleichend zu schildern, also: Königtum und Territorialverfassung, Rechtsschutz und Gesetzgebung, land14 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl., hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 1972; Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979.
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ständische und Bürgerrechte. Vielmehr wäre zu fragen, welche Schlußfolgerungen aus solchen historischen Befunden in Hinblick auf die Geschichte menschlicher Vergesellschaftung zu ziehen sind. Die Ebene interdisziplinär dialogfähiger Allgemeinbegriffe wäre erreicht, wenn sich das Forschungsinteresse nicht nur auf das Gerichtswesen richten würde, sondern auf die Frage der Konfliktbeherrschung überhaupt; wenn nicht nur die Staats- und Verfassungsorganisation erörtert würde, sondern das Maß der in ihr sichtbar werdenden Hierarchisierung und Zentralisierung; wenn zugleich die egalisierenden Tendenzen mit der Minderheitenproblematik verfassungsgeschichtliches Thema wären; wenn die längst entdeckte Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Staatswesen in die umfassendere Problematik obrigkeitlicher Verhaltenssteuerung eingeordnet würde. Schließlich ist auch nach den Eigenschaften des entwickelten Staates selbst zu fragen. Nach seinem Expansionsbedürfnis etwa, da fast alle Staaten Europas Phasen intensiven Ausdehnungsbedürfnisses, und sei es in Übersee, durchgemacht haben. Auch die Überlebensfähigkeit von Staaten wäre des Nachdenkens wert, scheint diese doch gerade bei sogenannten "starken" Staaten gering zu sein. Forschungen über den Staat, die in der angedeuteten Weise Geschichte in Allgemeinbegriffe zu übersetzen versuchen, sind nur staatenübergreifend, vergleichend möglich. Sie übersteigen vorerst die Kräfte eines einzelnen, erfordern also internationale Kooperation. Diese wiederum wird in lange andauernden Vorgesprächen steckenbleiben, wenn nicht generell zugängliche Kategorien zur Verfügung gestellt werden. Da aber wissenschaftliche Zusammenarbeit derzeit auch aus politischen Gründen international organisiert wird, ist zu hoffen, daß sich die Forschung gezwungen sieht, neue Horizonte der Erkenntnis zu erschließen. Es wäre dies eine Chance, die europäische Integration - auch die des Ostens - mit einer vielleicht nicht unwesentlichen kulturellen Komponente zu erweitern.
Europäische Verwaltungsgeschichte Von Gerhard Robbers
1. Zwn gegenwärtigen Stand nationalstaatlicher Verwaltungsgeschichte Die Geschichte der Verwaltung und des Verwaltungsrechts hat sich in den letzten Jahrzehnten in Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft einen festen Platz geschaffen. Aber sie blieb im wesentlichen nationalstaatlich ausgerichtet, bekam so nur Teilaspekte in den Blick, erschien fragmentarisch trotz groß angelegter Würfe. Sie vermochte deshalb zur Lösung einzelner wichtiger Fragestellungen nur verkürzt beizutragen, so groß ihre Verdienste um die nationale Verwaltungsgeschichte veranschlagt werden müssen. Der Befund verwundert nicht, war doch auch das Verwaltungsrecht bis vor kurzem fast ausschließlich national geprägt 1. Moderner Staat und modeme Verwaltung besitzen gemeinsame nationale Wurzeln. Gleichwohl ist der Blick für die übernationalen Bezüge heute geschärft, das Bedürfnis nach einer Erweiterung des Horizontes deutlich geworden und es sind Schritte unternommen worden, Lücken zu füllen und Blickrichtungen zu verändern. Angesichts der Entwicklung zur europäischen Einheit, des zunehmenden Umfangs grenzüberschreitender kooperativer Verwaltung, des Bedeutungsverlustes der Staatsgrenzen auch für die Verwaltungen lag es nahe, daß das Interesse an der Verwaltungsgeschichte um wesentliche europäisch orientierte Bezüge erweitert worden ist. Eine Programmatik europäischer Verwaltungsgeschichte steht nicht vor gänzlich brachliegenden Feldern. Sichtbares Zeichen fruchtbarer Arbeit ist das Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte, das in Verbindung mit Guido Melis, Jean Louis Mestre, Vincent Wright und Bernd Wunder von Erk Volkmar Beyen an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer seit 1989 herausgegeben wird. Die bisher vorliegenden zwei Bände können auf weitere bereits bestehende Bemühungen verweisen, den nationalen Horizont der bisherigen verwaltungsgeschichtlichen Betrachtung zu durchbrechen, die mit dem "Institut des sciences administratives· in Brüssel, dem Mailänder "Istituto per 1 Vgl. Meinhard Schräder: Europäisches Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 23 (1990), 247.
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la scienza delI' amministrazione pubblica" und dem Frankfurter Max-PlanckInstitut für europäische Rechtsgeschichte auf tragfähigen institutionellen Fundamenten ruhen. Mit dem Jahrbuch für Europäische Verwaltungsgeschichte besitzt die Forschungsrichtung ein Forum, das Zuspruch zu geben imstande ist für weitgefächerte, im europäischen Interesse gebündelte Forschungsaktivitäten. Diese Horizonterweiterung folgt in konsequenten Schritten dem Aufschwung, den die Verwaltungsgeschichte selbst genommen hat. Nachdem vor Jahren mit einigem Recht beklagt worden war, daß die historische Erforschung des öffentlichen Rechts sich in nicht unproblematischer Schwerpunktbildung auf die Verfassungsgeschichte konzentriert habe, die Rechtsgeschichte insgesamt ihr Zentrum in der Privatrechtsgeschichte fmde und die Verwaltungsgeschichtsschreibung beklagenswert darniederliege2 , sind bedeutende verwaltungsgeschichtliche Unternehmungen abgeschlossen oder auf guten Weg gebracht worden. Sie können sich auf eine große Zahl von Spezialstudien stützen, die ihrerseits zum Teil Handbuchcharakter besitzen3 • Wesentliche Impulse hat die deutsche Verwaltungsgeschichte durch die nach französischen Vorstellungen 1947 erfolgte Gründung der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer erfahren, selbst ein Beispiel für den Einfluß ausländischer Verwaltungstradition4 • Die große, sechsbändige Deutsche Verwaltungsgeschichte, von Kurt G.A. Jeserich , Hans Pohl und Georg-Christoph von Unruh herausgegeben, liegt seit 1988 vollständig vor und umfaßt die Zeit vom Spätmittelalter bis zur Bundesrepublik Deutschland. In ihr wird die Geschichte der deutschen Verwaltung in breitem Zugriff auf die einzelnen Verwaltungszweige und unter Berücksichtigung ihrer Einbettung in das jeweilige politische, philosophische, soziale und wirtschaftliche Umfeld nachgezeichnet. Weit fortgeschritten ist das zweite große deutschsprachige Vorhaben, der Grundriß der deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-19455 . Der Beschränkung in der behandelten Zeitspanne entspricht die Beschränkung in der Sache auf die möglichst exakte und vollständige Erfassung bestimmter Fragenkomplexe wie Verwaltungsgeographie und führendes Verwaltungspersonal. Zu Recht ist bemerkt worden, daß dieses Werk im ganzen die große Leistung des 2 Vgl. Wilhelm Hennis: Aufgaben einer modemen Regierungslehre, Politische Vierteljahresschrift VI (1965), S. 433; Michael Stolleis: Aufgaben der neueren Rechtsgeschichte oder: Hic sunt Leones, in: Rechtshistorisches Iournal 4 (1985), S. 259 f. 3 Vgl. etwa Hans Hattenhauer: Geschichte des Beamtentums, Köln 1980; Hans Maier: Die ältere deutsche Staats- und VelWaltungslehre, 2. Aufl. München 1980; Rudolf Morsey (Hg.): VelWaltungsgeschichte. Aufgaben, Zielsetzungen, Beispiele, Berlin 1977; vgl. insgesamt Reiner Schulz.e und Roben Mizia: VelWaltungsgeschichtsschreibung in Deutschland und Österreich, Die VelWaltung 1985, S. 351 ff. 4 Vgl. Klaus KiJnig, in: Morsey (Hg.) (Fn. 3), S. 15. 5 Reihe A "Preußen", hg. von Hubatsch, Reihe B "Mitteldeutschland außer Preußen", hg. von Klein, Reihe C "Süddeutsche Staaten".
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geschichtswissenschaftlichen Positivismus für das Gebiet der deutschen Verwaltungsgeschichte darstelle6 • Die Verwaltungsgeschichtsschreibung im Deutschland der letzten zwanzig Jahre konnte dabei an ältere Traditionen anknüpfen, wie sie in Bornhaks Geschichte des Preußischen Verwaltungsrechts7 und in dem Werk von Otto Hintze 8 verkörpert sind. In Österreich ist diese Tradition nicht in dem Maße unterbrochen gewesen, wie dies in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR9 der Fall gewesen ist. Hier trat die Verwaltungsgeschichte jedenfalls dem äußeren Anspruch nach seit jeher gleichberechtigt neben die Verfassungsgeschichte lO • Eine Vorreiterrolle hatte im übrigen bereits Italien übernommen, das seit den sechziger Jahren in Mailand zwei wissenschaftliche Einrichtungen besitzt, die der Verwaltungsgeschichte auch institutionell besonderes Gewicht gegeben haben: das Istituto per la scienza delI' amministratione pubblica (ISAP) und die Fondazione italiana per la storia amministrativa (FISA) 11. In Frankreich kam das zunehmende Interesse an der Geschichte der Verwaltung etwas verhaltener in einer Reihe von Abhandlungen und Monographien zum Ausdruck, etwa bei Pierre Legendre, Histoire de l'administration de 1750 a nos jours, Paris 1968, sowie L'administration du xvme siecle a nos jours, Paris 1969, bei R. Drago, L'histoire du droit administratif en France au 1geme siecle12 und bei Jean-Louis Mestre 13. Ein Überblick für die Zeit des Ancien Regime fmdet sich in der Französischen Verfassungsgeschichte der Neuzeit von Peter Claus Hartmann l4 • 6 SchulzelMizia (Fn. 3), S. 357. 7 Conrad Bomhak: Geschichte des Preussischen Verwaltungsrechts, 3 Bde., Berlin 18841886. 8 Dtto Hinze: Darstellung der Behördenorganisation und allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrich des Großen, 1901. 9 Zu ihr vgl. Karlheinz Blaschke: Die Verwaltungsgeschichte als Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung, in: Annali della fondazione italiana per la storia amministrativa 2 (1965), S. 9. 10 Vgl. etwa Emst C. Hellbling: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, 2. Aufl. Wien 1974; Friedrich Walter: Österreichische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte von 1500-1955, Wien 1972. 11 Vgl. dazu CHare Mozzarelli: Italien, in: Erk-Volkmar Heyen: Geschichte der Verwaltungsrechtswissenschaft, lus Commune, Sonderheft 18, 1982, S. 110 f.; Guido Melis: Tendenze della storiografia dell'amministrazione italiana: gli Studi sui ministeri e quelli sugli enti pubblici, JEV 1 (1989), S. 315 ff. 12 In: L'histoire de I'administration = Cahier NO 7 de l'lnstitut fran