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German Pages 219 [222] Year 2010
Lehr-Lern-Forschung in der kaufmännischen Berufsbildung – Ergebnisse und Gestaltungsaufgaben
Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW) --------------------------------------------------------------------------Herausgegeben von Dieter Euler . Reinhold Nickolaus Günter Pätzold . Peter F. E. Sloane (Redaktion: Gerhard Hauptmeier)
BEIHEFTE
Heft 23
Lehr-Lern-Forschung in der kaufmännischen Berufsbildung – Ergebnisse und Gestaltungsaufgaben Herausgegeben von Jürgen Seifried, Eveline Wuttke, Reinhold Nickolaus & Peter F. E. Sloane
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2010
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09697-3 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2010 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel, Nehren Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS Jürgen Seifried, Eveline Wuttke, Reinhold Nickolaus & Peter F. E. Sloane Vorwort....................................................................................................................7 Teil 1: Verwertung von Erkenntnissen aus der beruflichen Lehr-Lernund Lehrerbildungsforschung Susanne Weber & Frank Achtenhagen Molare didaktische Ansätze zur Förderung forschungs- und evidenzbasierter Lehr-Lern-Prozesse ....................................................................13 Peter F. E. Sloane Prozessbezogene Bildungsgangarbeit in der kaufmännischen Bildung – Ein Designprojekt zur Sequenzierung ...................................................................27 Jürgen van Buer & Dina Kuhlee Standards in der Lehrerbildung zwischen Entwicklungsanspruch und Legitimationsfunktion............................................................................................49 Teil 2: Lehr-Lern-Prozesse und Kompetenzentwicklung: Ausgewählte forschungsmethodische Zugänge und empirische Befunde Reinhold Nickolaus, Johannes Rosendahl, Tobias Gschwendtner, Bernd Geißel & Gerald A. Straka Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung bei Bankkaufleuten, Kfz-Mechatronikern und Elektronikern ...............................73 Susan Seeber Heterogenität und Lernerfolg.................................................................................89 Gerhard Minnameier & Maxi Link Jenseits des wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesens – ein kognitivstruktureller und inferentieller Ansatz .................................................................107 Birgit Brouër & Michaela Gläser-Zikuda Förderung selbstregulativer Fähigkeiten im Kontext selbstorganisierten Lernens..................................................................................123
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Inhaltsverzeichnis
Klaus Beck Moralisches Lernen – selbstorganisiert? Zur Förderung der Urteilskompetenz in „offenen“ Lernumgebungen ...............................................137 Jürgen Seifried & Eveline Wuttke Potenziale des Lernens aus Fehlern in Abhängigkeit von methodischen Grundentscheidungen ...................................................................155 Karsten D. Wolf & Lutz Schumacher Heterogene Erlebensprozesse im kaufmännischen Unterricht – Resultat individueller Dispositionen und Prädiktor von Erfolgsmaßen?...........................173 Andreas Rausch, Susanne Scheja, Kristina Dreyer, Julia Warwas & Marc Egloffstein Emotionale Befindlichkeit in Lehr-Lern-Prozessen – Konstruktverständnis und empirische Zugänge......................................................................................193 Autorenverzeichnis ..............................................................................................217
VORWORT Fragen rund um den Kompetenzerwerb von Lernenden aus einer individuellen Nutzenperspektive als auch einer gesellschaftlichen Bedarfsperspektive, die in der Sicherung der Humanressourcen sowie der Eröffnung von Wegen für die Partizipation an gesellschaftlichen Entwicklungen Ausdruck findet, sind immer wieder Ausgangspunkt von Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Zur Bearbeitung dieser Fragestellungen hat die berufliche Lehr-Lern-Forschung in den letzten Dekaden Wesentliches beigetragen, wenngleich nach wie vor viele Fragen offen sind. In dem vorliegenden Beiheft zur Zeitschrift der Berufs- und Wirtschaftspädagogik werden einerseits relevante Fragen rund um die berufliche Lehr-Lern-Forschung beantwortet, andererseits aber auch neue Fragen aufgeworfen, die weitere Forschungsaktivitäten notwendig machen. Der Schwerpunkt dieses Bandes liegt auf der kaufmännischen Bildung. Leserinnen und Leser, die sich vornehmlich für den gewerblich-technischen Bereich interessieren, seien auf ein kommendes Beiheft verwiesen. Das vorliegende Beiheft zeichnet sich durch folgende Schwerpunktsetzungen aus: (1) Die Beiträge beleuchten in einem breiten Spektrum Fragen zur Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements insbesondere in der wirtschaftskundlichen Bildung. (2) Die Ausführungen stützen sich überwiegend auf empirische Untersuchungen. Dabei zeigt sich eine große Methodenvielfalt, die von der Dokumentenanalyse über die Mikroanalyse von Unterrichtsinteraktionen bis hin zur Generierung von Erklärungsmodellen zur Kompetenzentwicklung von Lernenden mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen und Mehrebenenanalysen reicht. (3) Die verschiedenen Beiträge bearbeiten die Themen aus unterschiedlichen Perspektiven (z. B. Lehrerbildungsforschung, Transferforschung, berufliche LehrLern-Forschung) mit Bezug auf unterschiedliche Adressaten (Lernende in beruflichen Schulen, Studierende, Lehrpersonen). Insofern spiegelt der Band auch die Breite der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung auf diesem Gebiet wider. Das Beiheft ist in zwei Abschnitte unterteilt. In Abschnitt 1 geht es unter einer etwas breiter angelegten Verwertungsperspektive um die Frage, wie Befunde aus der beruflichen Lehr-Lern- und Lehrerbildungsforschung für die Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements und Lehrerbildungsmaßnahmen genutzt werden können. So diskutieren Susanne Weber und Frank Achtenhagen in ihrem Beitrag molare didaktische Ansätze zur Gestaltung von forschungs- und evidenzbasierten Lehr-Lern-Umgebungen. Es wird zunächst herausgestellt, aus welchen Gründen die Transformation von empirischen Ergebnissen der Lehr-Lern-Forschung in unterrichtspraktische Handlungsempfehlungen scheitern kann. Vor diesem Hin-
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Jürgen Seifried, Eveline Wuttke, Reinhold Nickolaus & Peter F. E. Sloane
tergrund schlagen die Autoren die Verwendung molarer didaktischer Ansätze vor, bei denen unter Rückgriff auf Metamodelle und unter der Wahrung der Balance von Kasuistik und Systematik authentische Unterrichtsepisoden entwickelt und einer Evaluation unterzogen werden. Am Beispiel einer Untersuchung zum interkulturellen Lernen verdeutlichen Weber und Achtenhagen ihre konzeptionellen Überlegungen. Peter F.E. Sloane stellt ein Designprojekt zur Sequenzierung von Lerninhalten vor. Er greift damit die wichtige Frage auf, wie Lerngegenstände aufeinander zu beziehen und anzuordnen bzw. wie Lernsituationen zu gestalten sind und schlägt dabei ein Prozessmodell der Bildungsgangarbeit vor. Bei einem Projekt, das in Zusammenarbeit mit Unterrichtspraktikern durchgeführt wurde, geht es vornehmlich um die Aufdeckung von Konstruktionsregeln von Unterricht. Hierdurch unterscheidet sich das hier vorgestellte Projekt von Untersuchungen, die in erster Linie auf die Messung von Wirkungen abzielen. Jürgen van Buer und Dina Kuhlee berichten am Beispiel des Landes Berlin von Bemühungen, Lehrerbildungsstandards zu implementieren. Dabei wird übergreifend das Verhältnis von Kontrolle und Steuerung beleuchtet, bevor die Autoren detailliert den Berliner Qualifikationsrahmen sowie das Berliner Handbuch für die Lehrerbildung bzw. den Vorbereitungsdienst unter die Lupe nehmen und auf Schwachstellen der neuen Formen der Bildungssteuerung hinweisen. Abschnitt 2 rückt die Analyse von Lehr-Lern-Prozessen mit Fokus auf die Kompetenzentwicklung von Lernenden in den Blickpunkt. In insgesamt acht Beiträgen werden ausgewählte forschungsmethodische Zugänge und empirische Befunde präsentiert. Die diesem Abschnitt zugrundeliegenden Studien weisen ein breites Spektrum hinsichtlich der verfolgten Forschungsfragen und Forschungsmethoden auf. Mit Hilfe von Strukturgleichungsmodellen decken Reinhold Nickolaus, Johannes Rosendahl, Tobias Gschwendtner, Bernd Geißel und Gerald A. Straka den Einfluss von Vorwissen, Interesse, kognitiven Grundfähigkeiten und Basiskompetenzen auf die Entwicklung von Fachkompetenzen auf. Die Autoren präsentierten Daten sowohl aus dem gewerblich-technischen als auch aus dem kaufmännischen Sektor und zeigen, dass (bei moderaten Effekten) domänenübergreifend Interesse, kognitive Grundfähigkeiten und Basisfähigkeiten wie Leseverständnis den Erwerb von Fachkompetenzen beeinflussen. Ein weitaus stärkerer Effekt geht jedoch vom Vorwissen aus. Susan Seeber diskutiert die Frage nach der Wirkung von heterogenen Lerngruppen. Sie weist darauf hin, dass Heterogenität nicht nur hemmende Wirkungen beim Lehren und Lernen entfalten kann, sondern dass diese von Lehrpersonen auch als Chance gesehen werden sollte. Auf Basis der Daten aus der Hamburger Studie ULME II zur Lernentwicklung von Jugendlichen wird untersucht, wie sich Heterogenität in den Lernvoraussetzungen auf die Entwicklung wirtschaftsberuflicher Fähigkeiten auswirkt. In den Analysen von Seeber lassen sich keine Hinweise darauf finden, dass Heterogenität zwingend zu negativen Effekten hinsichtlich der Leistungsentwicklung führt.
Vorwort
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Eine völlig andere Fragestellung verfolgen Gerhard Minnameier und Maxi Link. Auf Basis der Kritik am herkömmlichen Rechnungswesenunterricht und unter Berücksichtigung der Erkenntnisse rund um das wirtschaftsinstrumentelle Rechnungswesen präsentieren Minnameier und Link einen kognitiv-strukturellen und inferentiellen Ansatz, der auf einer Verschränkung der Überlegungen von Klix und Pierce basiert. Die Autoren führen damit die Diskussion um die Gestaltung von Lehr-Lern-Arrangements im Lerninhaltsbereich Rechnungswesen fort und geben dieser neue Impulse. Man darf gespannt sein, wie die konzeptionellen Überlegungen in konkrete Unterrichtssituationen überführt werden. Birgit Brouër und Michaela Gläser-Zikuda berichten aus zwei Hochschulprojekten, die die Förderung selbstregulativer Fähigkeiten von Studierenden in den Blick nehmen. Dabei steht die Arbeit mit Lerntagebüchern und Portfolios im Mittelpunkt. Es lassen sich zwar in der einschlägigen Literatur Hinweise darauf finden, dass entsprechende Instrumente selbstregulative Fähigkeiten befördern, in beiden Studien war die Befundlage aber eher ernüchternd. So verweisen die Autorinnen darauf, dass die Selbstreflexion der Studierenden nicht selten als oberflächlich zu charakterisieren ist, von diesen als recht arbeitsaufwändig eingestuft und tendenziell negativ bewertet wurde. Klaus Beck fragt danach, ob und wie man in offenen Lernumgebungen moralisches Lernen fördern kann. Er nimmt dabei explizit Bezug auf die von Detlef Sembill und Mitarbeitern entwickelte Lehr-Lern-Konzeption des Selbstorganisierten Lernens (SoLe), die als methodisch ausgereift und empirisch abgesichert gilt. Allerdings – so Beck – ging es bei der empirischen Überprüfung in der Vergangenheit vornehmlich um die Förderung von Fachkompetenzen mit Bezug auf berufsbezogene Problemstellungen. Hier wäre eine Ausweitung der Fragestellung in Richtung moralischer Kompetenzen sicherlich lohnenswert. Der Beitrag von Jürgen Seifried und Eveline Wuttke setzt sich mit dem Lernen aus Fehlern auseinander. Es wird diskutiert, inwiefern die methodische Grundentscheidung die Chance, Fehler zu begehen und aus diesen zu lernen, beeinflusst. Auf der Grundlage verschiedener Datenbestände wird berichtet, inwiefern eine offene Lernumgebung das Lernen aus Fehlern potenziell fördert. Eine Re-Analyse von Daten aus den von Sembill und Mitarbeitern durchgeführten „Prozessanalysen Selbstorganisierten Lernens“ nehmen Karsten D. Wolf und Lutz Schumacher vor. Der Beitrag fokussiert das subjektive Erleben in Unterrichtssituationen in Abhängigkeit von methodischen Grundentscheidungen und individuellen Persönlichkeitsmerkmalen. Dabei zeigt sich, dass insbesondere methodische Grundentscheidungen subjektives Erleben beeinflussen. Abgeschlossen wird das vorliegende Beiheft durch einen Beitrag von Andreas Rausch, Susanne Scheja, Kristina Dreyer, Julia Warwas und Marc Egloffstein, allesamt Mitarbeiterinnen bzw. Mitarbeiter am Bamberger Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik, der von Detlef Sembill geleitet wird. Die Bamberger Forschergruppe skizziert das Konstrukt der Emotionalen Befindlichkeit und zeigt exemplarisch auf, wie Emotionen in Lehr-Lern-Prozessen erhoben und analysiert werden können.
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Jürgen Seifried, Eveline Wuttke, Reinhold Nickolaus & Peter F. E. Sloane
Aufmerksame Leserinnen und Leser werden erkennen, dass sich eine Reihe von Beiträgen in diesem Beiheft (nicht ganz zufällig) auf Projekte beziehen, die von Detlef Sembill und seinen (früheren) Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern durchgeführt wurden. Die von ihm (mit) angestoßene und geprägte Diskussion zur Bedeutung von Emotionen beim Lehren und Lernen sowie zu Fragen der Gestaltung komplexer Lehr-Lern-Arrangements sind nach wie vor relevant und hochaktuell und keineswegs abschließend geklärt. Der vorgelegte Band ist daher Detlef Sembill gewidmet, der im April 2010 seinen sechzigsten Geburtstag feiert. Wir erhoffen uns vom Jubilar weiterhin viele Impulse und Anregungen für die berufliche Lehr-Lern-Forschung und wünschen ihm im Namen seiner Kolleginnen und Kollegen, dass er seine erfolgreiche Arbeit in Forschung und Lehre, aber auch bei der Vertretung von wirtschaftspädagogischen Interessen in aktuellen Bildungsdiskussionen noch viele Jahre fortsetzen kann. Konstanz, Frankfurt, Stuttgart und Paderborn, im Februar 2010 Jürgen Seifried Eveline Wuttke Reinhold Nickolaus Peter F. E. Sloane
Teil 1: Verwertung von Erkenntnissen aus der beruflichen Lehr-Lern- und Lehrerbildungsforschung
MOLARE DIDAKTISCHE ANSÄTZE ZUR FÖRDERUNG FORSCHUNGS- UND EVIDENZBASIERTER LEHR-LERN-PROZESSE1 Susanne Weber & Frank Achtenhagen
KURZFASSUNG Neuere Forschungsergebnisse finden in zu geringem Maße Eingang in die Praxis der kaufmännischen Bildung. Dieses hat verschiedene Gründe: Eine reichhaltige empirische Lehr-Lern-Forschung ist im Hinblick auf pädagogische Fragestellungen nicht so aufbereitet, dass sie hinreichend handlungsrelevant würde; andererseits stützt sich die Fülle vorliegender allgemein- und fachdidaktischer Ansätze in zu geringem Maße auf empirische Forschung. Mit der Konzeption molarer didaktischer Ansätze wird dieser Gegensatz überbrückt. Diese werden von einem Metamodell gesteuert, sind für längere Unterrichtsepisoden entworfen und werden als Interventionen geplant. Die Betonung der Evaluations-Perspektive erlaubt mittels eines formativen Assessment ein gezieltes informatives Feedback und mittels eines summativen Assessment den Anschluss an moderne Verfahren der Kompetenzmessung. Kriterien und erzielte Forschungsresultate werden anhand eines Beispiels zur Entwicklung interkultureller Kompetenz diskutiert. ABSTRACT The European models of didactic do not integrate sufficiently research results provided by empirically oriented instructional research. On the other hand, instructional research does not reflect intensively the goal dimension of instruction with its consequences for the learners. It also neglects the necessity to combine isolated research results with regard to defining more overarching structures. As a possible solution we propose to work with molar didactic approaches. Such approaches follow a metamodel to link both didactic and instructional research approaches. These didactic molars cover longer instructional sequences. Decisive is that these molars are implemented as design experiments. A major emphasis is done on evaluation and assessment: formative assessment for giving learners informative feedback; summative assessment for measuring competencies as outcome. One example on intercultural learning visualizes the considerations and demonstrates research results.
1 Wir danken den Herausgebern und zwei anonymen Gutachtern für wertvolle Hinweise.
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Susanne Weber & Frank Achtenhagen
1. PROBLEMSTELLUNG Neuere Forschungsergebnisse finden in zu geringem Maße Eingang in die unterrichtliche Praxis (vgl. Kunter, Klusmann & Baumert 2009; Design-Based Research Collective 2003; Shavelson & Towne 2002); dieses trifft auch für die kaufmännische Bildung zu (vgl. u. a. Seifried, Türling & Wünsche 2009). Folgende Gründe werden vornehmlich genannt: 1. Die Transformation von empirischen Ergebnissen der Lehr-Lern-Forschung in praktische Handlungsempfehlungen ist überwiegend nicht zufriedenstellend (vgl. Reusser 2008, 222): „Zwar stellt [u. a., W. & A.] die kognitionswissenschaftliche Grundlagenforschung ein reiches, von der traditionellen Allgemeinen Didaktik und Fachdidaktik bis heute unterschätztes Wissen zur Verfügung. Aus einem noch so großen „Steinbruch“ von kumulativem, eher fragmentarisch geordnetem wissenschaftlichen Erklärungswissen ÜBER Gelingens- und Wirkungskonstellationen von Lehr-Lernprozessen entsteht jedoch von selbst noch kein kohärenter Orientierungsrahmen und auch keine pädagogisch intelligible, an Begriffen von Kompetenz und selbst bestimmtem Lernen orientierte Reflexions- und Handlungstheorie FÜR Lehrende und Lernende“ (Reusser 2008, 222). Die Schlussfolgerung lautet, dass empirisch geprüftes wissenschaftliches Wissen – auch solches von hoher Qualität – sich nicht von selbst in Professionswissen verwandelt (Baumert & Kunter 2006), das entsprechend belastbar ist (Kunter, Klusmann & Baumert 2009, 153). „Um wissenschaftliches Wissen für professionelles Handeln zu nutzen, braucht es in der Regel mannigfaltige Transformations- und Transferleistungen. Weder ist das Erklärungswissen der Wissenschaft mit der Wissensqualität handelnder Subjekte, d. h. mit ihrem Professionswissen identisch, noch lässt sich die eine Wissensform mühelos in die andere übersetzen“ (Reusser 2008, 222). Traditionell stützt sich Lehrerbildung in Deutschland auf die geisteswissenschaftlich geprägten Allgemeinen Didaktiken und die darauf bezogenen Fachdidaktiken. Es werden Leitideen und kategoriale Analysen von Unterricht sowie anthropogene und soziokulturelle Frageraster bereitgestellt. Damit werden Menschenbildannahmen und soziale und politische Bildungsziele formuliert sowie Reflexionen von Unterricht und Entwicklung geleistet; was fehlt, sind hinreichende Absicherungen durch empirische Bedingungs- und Wirkungsanalysen. 2. In der Lehr-Lern-Forschung existieren viele isolierte Einzelstudien, die in unterschiedlichen Kontexten durchgeführt werden und zudem häufig zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Auf Seiten der allgemeindidaktischen Ansätze – vor allem aber der verschiedenen Fachdidaktiken – herrscht ein „babylonische(s) Wirrwarr von Konzepten, die im Prinzip dasselbe meinen“, aber den Lehrenden kaum eine Orientierung zu geben vermögen (Reusser 2008, 222). 3. Die Komplexität von Unterricht wird über viele Variablen und deren Interaktionen bestimmt, die in den bisher vorliegenden Studien nicht erschöpfend
Molare didaktische Ansätze zur Förderung von Lehr-Lern-Prozessen
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erforscht wurden bzw. erforscht werden konnten. So wird es nicht möglich sein, alle anthropogenen und soziokulturellen Voraussetzungen von Unterricht angemessen zu erfassen (Helmke 2004, 34, 53). Die Festlegung eines angemessenen Komplexitätsniveaus der entsprechenden Forschung stellt sich damit als zentrale Aufgabe. Angesicht dieser Feststellungen wundert es nicht, dass die empirischen Befunde der Lehr-Lern-Forschung sowie begründete didaktische Argumentationsmuster keine ernst genommene Konkurrenz für die subjektiven Theorien der Lehrenden sowie vorliegende Unterrichtsrezepte darstellen. Dieses Phänomen kann sich bereits in der Ersten Phase der Lehrerbildung zeigen (vgl. die Analysen bei van Buer, Kohring & Frasch 2009; Kuhlee, van Buer & Klinke 2009). Für die Zweite Phase der Lehrerbildung belegen Analysen von Kompendien und Lehrbüchern, dass weitgehend dieselbe allgemeindidaktische und fachdidaktische Literatur wie in der Ersten Phase Verwendung findet und dabei den Anspruch erhebt, über die Vermittlung „praktischer Tipps“ den Lehrern eine angemessene Orientierung und Hilfestellung zu bieten (Rothland 2008, 175). Daraus lassen sich zwei Feststellungen ableiten, die beide vergleichbare Konsequenzen für die Effektivierung des Lehrerhandelns haben: (1) Eine reichhaltige empirische Lehr-Lernforschung ist mit ihren vielfältigen Forschungsergebnissen nicht so aufbereitet und transformiert und zugleich an pädagogischen Leitideen orientiert, dass sie in hinreichendem Maße handlungsrelevant würde. (2) Auf der anderen Seite heben allgemein- und fachdidaktische Ansätze zwar den Sinncharakter von Unterricht hervor, stützen aber ihre vielfältigen Kategorien und Frageraster nur unzureichend auf empirische Forschungsergebnisse und berauben sich damit ihrer möglichen Wirksamkeit. Dass eine Verknüpfung von empirischen Forschungsergebnissen und pädagogischen Normen zu einer Präzisierung didaktischer Annahmen beitragen kann, zeigt Meyers Buch „Was ist guter Unterricht?“ (2004), das zentral auf den Bericht Brophys (o. J.) für das International Bureau of Education der UNESCO zurückgreift. Allerdings kommt dabei die Bedeutung der Inhaltsdimension für die jeweilige fachdidaktische Auf- und Ausarbeitung von Handlungsempfehlungen auf der Grundlage von Forschungsergebnissen zu kurz (vgl. hierzu auch die Kritik von Köller 2008, 53; im Gegensatz dazu heben Bransford, Brown & Cocking [2000] die Bedeutung der Inhaltsdimension explizit hervor). Insgesamt ist eine Forschungsbasierung von Lehr-Lern-Prozessen nur unzureichend gegeben. Erschwerend kommt hinzu, dass auch „Best-Practice“Beispiele im Sinne einer Evidenzbasierung nicht hinreichend systematisch in die didaktische Literatur eingebunden sind (vgl. hierzu Slavin 2007). 2. MOLARE DIDAKTISCHE ANSÄTZE ZUR ENTWICKLUNG KAUFMÄNNISCHER LEHR-LERN-PROZESSE Vor diesem Hintergrund schlagen wir die Verwendung molarer didaktischer Ansätze vor, die die jeweiligen Vorzüge einer empirisch akzentuierten Lehr-Lern-
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Susanne Weber & Frank Achtenhagen
Forschung sowie der traditionellen Didaktik verknüpfen und so kaufmännische Lehr-Lern-Prozesse zu fördern versuchen. Ein molarer didaktischer Ansatz zeichnet sich durch vier integrative Elemente aus: 1. Mit dem Bezug auf ein Metamodell werden Prozesse der Konstruktion, Implementation und Evaluation unter einer sinnstiftenden pädagogischen Norm ziel- und inhaltsbezogen eng aufeinander bezogen. Reusser (2008), Klette (2008) und Hudson (2008) empfehlen als ein solches Metamodell das traditionelle, von ihnen aber im Hinblick auf den aktuellen Forschungsstand neu interpretierte „didaktische Dreieck“: Lehrer – Lerner – Stoff. Die Argumentation der Autoren ist schlüssig, blendet aber den sozialen und strukturellen Kontext von Unterricht aus. Von daher wird hier auf das erweiterte Modell Engeströms (1996, 1999) der „Cultural Historical Activity Theory“ zurückgegriffen. Die entsprechenden Komponenten dieses Metamodells werden mit empirischen Forschungsbefunden (forschungsbasiert) sowie mit „BestPractice“-Beispielen (evidendenzbasiert) unterlegt. 2. Als Ergebnis der Anwendung des Metamodells werden unter einer systemischen Ziel- und Inhaltsperspektive inhaltsbezogene längere Unterrichtsepisoden entwickelt (Achtenhagen 2002), die Authentizität beanspruchen können (Achtenhagen & Weber 2003) und dabei die Balance von Kasuistik und Systematik wahren (Reetz & Tramm 2000). 3. Die Konstruktion und der Einsatz von didaktischen Konzepten und Strategien im Rahmen des molaren Ansatzes erfolgen forschungs- und evidenzbasiert in engem Bezug zum Metamodell und dessen Ziel- und Inhaltssetzungen. In diesem Zusammenhang ist einerseits auf Ergebnisse von Metaanalysen zurückzugreifen (z. B. Fraser et al. 1987; Dochy et al. 2003; Seidel & Shavelson 2007) und sind andererseits unter der Zielsetzung einer „evidence of effectiveness“ (Slavin 2007, 3) „Best-Practice“-Beispiele einzubinden (vgl. z. B. Cooper 2006; Borich 2007). Damit wird ein molarer didaktischer Ansatz insgesamt unter Berücksichtigung von Kriterien einer forschungsgeleiteten Intervention (Hager & Hasselhorn 2000) umgesetzt. 4. Die Evaluation zeichnet sich durch eine explizite Output-/OutcomeOrientierung über die gesamte Zeitspanne hinweg aus. Dieses impliziert den systematischen Einsatz von formativen und summativen Assessmentverfahren als Bestandteile der Intervention: „Assessment for Learning“ (Black et al. 2004) als formatives Assessment; Verfahren der Kompetenzmessung als summatives Assessment im Hinblick auf die Erreichung von Bildungsstandards. Mit diesem Ansatz lassen sich sowohl existierende theoretische Annahmen zur Unterrichtsgestaltung überprüfen als auch „proto-theories“ im Sinne einer Generierung von innovativem Wissen und praktikablen Lösungen gewinnen (DesignBased Research Collective 2003, 5). Zugleich geben die Ergebnisse auch Anstoß für eine weiterführende experimentelle Grundlagenforschung. Im Sinne von Brown (1992, 147) ermöglicht es ein solcher Ansatz auch, dass sich Formen einer
Molare didaktische Ansätze zur Förderung von Lehr-Lern-Prozessen
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reflektierten gemeinsamen Praxis von Lernenden, Lehrern und Forschern ergeben. Das Vorgehen insgesamt bezeichnet sie als „Design-Experiment“ (vgl. auch Weber 2005, 2006). Mit diesem Vorschlag „molarer didaktischer Ansätze“ gehen wir über unsere bisherige Konzeption komplexer Lehr-Lern-Arrangements (Achtenhagen 2002) hinaus, indem hier stärker und expliziter ein „Metamodell“ als Grundlage und Orientierung der didaktischen Aktivitäten entwickelt und herangezogen wird. Zudem wird ein stärkerer Fokus auf die Kriterien einer forschungsgeleiteten Intervention sowie auf den Aspekt eines formativen Assessment gelegt. Derartige Ideen werden durchaus in vergleichbarer Weise diskutiert (vgl. Blömeke, Herzog & Tulodziecki 2007; Meyer, Prenzel & Hellekamps 2008; Blömeke & Müller 2008; im internationalen Kontext: Klette 2008; Reusser 2008; Shirley 2008) bzw. wurden in Ansätzen und zahlreichen Einzelstudien bereits im Kontext der „Situated Learning“-Bewegung aufgegriffen (z. B. zu „Komplexen Lehr-Lern-Arrangements“ u. a. in Achtenhagen 2001, 2002; Achtenhagen & Weber 2003, 2009; Reetz & Tramm 2000; Achtenhagen & Pätzold, in press; zu „Kriterien guten Unterrichts“ Brophy o. J.; Meyer 2004; zum „Selbstorganisierten Lernen“ u. a. Sembill, Schumacher, Wolf, Wuttke & Santjer-Schnabel 2001; zum „Lernen im Mathematikunterricht“ CTGV 1997 [„Jasper Woodbury“-Projekt]; als übergreifende Zusammenfassungen Bransford, Brown & Cocking 2000: „How People Learn“; Pellegrino, Chudowsky & Glaser 2001: „Knowing what students know“; zum „Interkulturellen Lernen“ siehe Weber, 2005; zur Entrepreneurial Education: „Fit2 – Fit for Business, Fit for Life“ siehe Weber, Heinrichs, Mayer, Starke & Trost 2009; zum formativen Assessment siehe Black et al. 2004; zur Kompetenzmessung im kaufmännischen Unterricht siehe Winther & Achtenhagen 2008, 2009). 3. BEISPIEL FÜR EINEN MOLAREN DIDAKTISCHEN ANSATZ ZUR FÖRDERUNG INTERKULTURELLER KOMPETENZ Das im Folgenden vorgestellte Beispiel greift auf eine Intervention zurück, die von Weber (2005) an zwei kaufmännischen berufsbildenden Schulen (Industriekaufleute; Versicherungskaufleute; Wirtschaftsgymnasium) durchgeführt wurde. Das Beispiel wird herangezogen, da bereits hier zentrale Kriterien eines molaren didaktischen Ansatzes im o.g. Sinne gegeben waren. Das Projekt von 2005 stand unter dem Anspruch, „interkulturelle Lernprozesse“ anzuregen und zu fördern. Da molare didaktische Ansätze als offen und anschlussfähig an neuere didaktische Entwicklungen (vgl. hierzu die Beiträge in Meyer, Prenzel & Hellekamps 2008) gesehen werden, soll hier die Anschlussfähigkeit an neuere Verfahren der Kompetenzmessung im Sinne der Erreichung von Bildungsstandards gezeigt werden. Dieser molare didaktische Ansatz soll zunächst kurz anhand der vier genannten integrativen Elemente skizziert werden: (1) Als Metamodell wurde auf den Ansatz der „Cultural Historical Activity Theory“ von Engeström (1996, 1999) zurückgegriffen (zur detaillierten Darstellung vgl. Weber 2005, 57-81). Mit diesem Metamodell lassen sich die zentralen
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Susanne Weber & Frank Achtenhagen
Lehrer-Schüler-Kontext-Interaktionen zur Initiierung und Förderung interkulturellen Lernens beschreiben und interpretieren: Hiernach arbeiten Lehrer, Schüler und dritte Personen bzw. Personengruppen an der Lösung eher kurzfristiger interkultureller Aufgaben (Output) sowie der Entwicklung eher längerfristiger übergreifender Ziele interkulturell angemessenen Verhaltens (Vision/Outcome) in einer offenen Lernumgebung (Activity System) zusammen. Diese Zielstellung lässt sich auch im Hinblick auf die Bedeutung der Migrantensituation pädagogisch legitimieren und ist entsprechend auch in den Lehrplänen verankert. Zur Unterstützung der Aufgabenlösung bzw. Zielerreichung stehen Inhalte, Verfahrensweisen und Instrumente zur Verfügung, die sich zum einen auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse stützen lassen bzw. „Best Practice“-Beispiele aufgreifen (vgl. TingToomey 1999; Cushner & Brislin 1996; Fowler & Mumford 1995). Gleichzeitig werden von den verschiedenen Teilnehmern des Activity System verschiedene Sichtweisen, kulturelle Werte und Einstellungen in den Lern- und Problemlöseprozess eingebracht. Für eine produktive Arbeit bzw. ein effizientes und effektives Lernen im Activity System ist es wichtig, dass sich die Akteure für ihre Interaktionen auf gemeinsame Regeln des Miteinander-Umgehens einigen (Rules). Da dieser Ansatz des Activity System gezielt den Kontext berücksichtigt, werden explizit auch weitere an der Interaktion bzw. an der Lösung und Zielsetzung Interessierte mit in den Fokus genommen (Community; weitere Stakeholder). Dieses könnten z.B. die Eltern, Arbeitgeber, Schulleitung etc. sein. Die mit der Lösung und Zielerreichung verbundenen Lern- und Entwicklungsprozesse beziehen sich einerseits auf das Individuum und andererseits auf die Veränderung und Entwicklung des Kontextes. Störungen können an allen Punkten des Activity System auftreten; ihre Behebung stellen besondere Lernherausforderungen und Entwicklungsaufgaben dar (Engeström 1996, 1999; Engeström et al. 1996). Für den hier vorgestellten molaren Ansatz sind derartige „Störungen“ als interkulturelle „Clash“-Situationen konstruiert worden, um über die erzeugte Betroffenheit der Lernenden und gemeinsame Problemlöseprozesse im Activity System interkulturelle Lern- und Entwicklungsprozesse anzuregen und zu fördern. (2) Inhaltsbezogene längere Unterrichtsepisoden: Die Intervention erstreckte sich über einen Zeitraum von zweieinhalb Monaten, auf die 12 Stunden Betriebswirtschaftslehreunterricht und zwei Wochen für die Lösung einer Praxisaufgabe außerhalb des Klassenraumes verteilt waren. (3) Die Konstruktion und Umsetzung der didaktischen Konzepte und Strategien erfolgte forschungs- und evidenzbasiert (u. a. CTGV 1997; Bransford, Brown & Cocking 2000; Pellegrino, Chudowsky & Glaser 2001; Engeström et al. 1996; Ting-Toomey 1999; Hofstede 1993; Cushner & Brislin 1996; Fowler & Mumford 1995). So wurden u. a. mit einer authentischen „Microworld“ (als Kombination von kulturellem Rollenspiel und einer komplexen betriebswirtschaftlichen Fallstudie) kulturelle Clash-Situationen provoziert, Interaktionen bei der Problemlösung dokumentiert und mit Hilfe eines „Mirroring“-Verfahrens an die Lernenden zurückgespiegelt. Gleichzeitig wurden die einzelnen Interventionsschritte dahingehend überprüft, inwiefern sie von den Lernenden aufgenommen wurden und i. S. der didaktischen Zielsetzung realisiert werden konnten (i. S. v.
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Hager & Hasselhorn 2000), d. h. zum Beispiel, ob die eingegebenen Lernmaterialien verstanden und die entsprechenden Rollen übernommen wurden (Weber 2005, 254-257). Hinweise auf die einzelnen Interventionsschritte finden sich in Abbildung 1. Daraus wird deutlich, dass eine Vielzahl von Beobachtungen und Handlungs-/Leistungserhebungen mit verschiedenen Instrumenten zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt wurde (vgl. Legende in Abbildung 1). (4) Unter einer Evaluationsperspektive dienten diese vielfältigen dokumentierten Handlungs- und Leistungsvollzüge als Ausgangsbasis für ein informatives Feedback i.S. eines formativen Assessment sowie ein übergreifendes summatives Assessment zur Wirkungstendenz der Intervention. Hierzu wurde im Rahmen eines Prä-Post-Experimental-Kontroll-Gruppenvergleichs ein Intercultural Critical Incident vorgegeben, den die Probanden in Form eines Essays zu lösen hatten. Die hierbei beschriebenen interkulturellen Handlungen und Lösungsstrategien wurden dichotom codiert und prozentual ausgewertet. Dabei ergaben sich signifikante Lernfortschritte sowohl in der Experimentalgruppe als auch im Vergleich der Experimental- mit der Kontrollgruppe (vgl. Weber 2005, 248-252). Kontrollgruppe
Prä-Test
Experimentalgruppe
Prä-Test
EINFÜHRUNG: * Aufwärmphase: Erzeugen von Störungen [Zeitungsartikel und Handout zu Does & Taboos], {Fieldnotes}; (Widersprüche; Emotionen) * Erhöhung der Selbstbetroffenheit der Lerner durch selbständiges Lösen einer interkulturellen Problemsituation in Essay-Form [Critical Incident]; {Arbeitsblätter, Fieldnotes}; (Variablen des intercultural framework) * Selbstreflexion hinsichtlich eigener Wertepräferenzen; [Werteliste]; {Werteliste}; (Wertepräferenzen)
Expansive learning cycle 1. Phase: Charting the situation
* Überprüfung eines veränderten interkulturellen Handelns im Zeit- und im Gruppenvergleich [Critical Incident]; {Essays, Arbeitsblätter}; (Variablen des intercultural framework) * Vergleich der Wertepräferenzen im Zeitverlauf [Werteliste]; {Werteliste}; (Wertepräferenzen)
* Provozieren eines Handlungsdrucks (‘need state’) als Ausgangspunkt interkulturellen Lernens; [Microworld: als Kombination von kulturellem Rollenspiel und komplexer betriebswirtschaftlicher Fallstudie]; {Werteliste; Arbeitsblätter; Audiotapes, Flip Charts, 17-item-Questionnaire; Fortune-Lines}; (Rollenübernahme; Verständnis des Fachinhaltes; Variablen des intercultural framework; Urteil der Lernenden; Negotiation Results: ‘Object’/’Outcome’) 2. Phase: Analyzing the situation * Erzeugen einer Selbstbetroffenheit auf der Basis der eigenen Rollenhandlungen in der Simulation: Provozieren von Artikulation, Reflexion und Systematisierung durch das Verfahren des “Mirroring”; [Mirror: Flip Charts; Systematisierung: Handout]; {Fieldnotes}; (Variablen des intercultural framework) 3. Phase: Creating a new model/vision * Vertiefung der Diskussion und intellektuellen (theoretischen) Reflexion auf der Basis des intercultural framework; Herstellen von Verknüpfungen zur Realität und Entwicklung von alternativen interkulturellen Interaktionsstrategien durch Elaboration der Kategorien und Strategien des intercultural framework [handouts] {Fieldnotes}; (Variablen des intercultural framework) 4. Phase: Testing the new model (außerhalb des Klassenraums) * Ziel: Anwendung der Erfahrungen und gelernten Kategorien sowie Überprüfung des Gelernten an einem Praxisbeispiel; Erleben von Selbstwirksamkeit (‘change agent’); [Praxisaufgabe] {Lernjournale}; (Variablen des intercultural framework)) 5. Phase: Implementing the new model and 6. Phase: Spreading and Consolidating * Diskussion und Reflexion der Intention und Bedingungen des zugrundeliegenden Interventionsmodells [Kulturtheorien und korrespondierende Rollenübernahme] {Fieldnotes}
Post-Test Post-Test
[Critical Incident] (Variablen des intercultural framework) und [Werteliste] (Wertepräferenzen) als PostErhebung Abschlussdiskussion mit Lehrern und Schulleitungen
LEGENDE: * Interventionsziel; [Interventionsmaßnahme]; {Erhebungsinstrument}; (gemessene Variable)
Abb. 1: Überblick über die einzelnen Interventionsschritte
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4. VOM INTERKULTURELLEN LERNEN ZUR INTERKULTURELLEN KOMPETENZ Für den Anschluss an das Konzept von Bildungsstandards und damit auch an die Kompetenzmessung wird hier weiterführend in Anlehnung an die heutige Diskussion ein Modell interkultureller Kompetenz entwickelt (Abbildung 2). Richtung zunehmender „interkultureller Kompetenz“ Grad der kognitiven interkulturellen Handlungsprozesse
Anchor-Beispiele
(5) Infragestellen des eigenen Referenzrahmens
(5) Reflexion und Infragestellen des eigenen Orientierungs- und Wertesystems
(4) Erarbeitung eines gemeinsam geteilten Verständnisses und gemeinsamer Ziele
(4) Bezug auf ein übergeordnetes, eher langfristiges, zukünftiges gemeinsames Zusammensein; Entwicklung von gemeinsamen Perspektiven
(3) Einbeziehung des sozialen Kontextes
(3) Versuch, die fremde Sichtweise einzunehmen; warum hat der/die Andere so gehandelt, wie er/sie gehandelt hat? Spezifizierung von Beziehungsverhältnissen; Einordnung des Problems in einen größeren Kontext
(2) Kurzfristige pragmatische Problemlösung aus der eigenen Perspektive
(2) Mechanismen und Verhaltensweisen, wie man schnell und unproblematisch aus der Situation herauskommt
(1) Selbstreflexion
(1) Feststellung des eigenen Verhaltens (0) Keine Antwort; nicht verwertbare Antwort Richtung abnehmender „interkultureller Kompetenz“
Abb. 2: Kompetenzmodell (Weber, 2009; in Anlehnung an Wilson, 2005)
Die Überlegungen zur Formulierung dieses Stufenmodells der interkulturellen Kompetenz folgen Ting-Toomey (1999) und Engeström (1996, 1999) bzw. dem „Intercultural Framework“ (Weber 2005) und greifen Überlegungen Wilsons (2005) zur Formulierung von „Construct Maps“ auf. Es bildet interkulturelle Interaktionsfähigkeiten und -strategien unter zunehmend komplexeren und schwierigeren Bedingungen ab. Hinter diesem Modell stehen ausführliche Literaturanalysen und Ergebnisse vieler empirischer Studien, die vor allem unter der Perspektive der „Mindful Identity Negotiation“ komprimiert sind (vgl. Ting-Toomey 1999). Dieses interkulturelle Kompetenzmodell soll im Folgenden anhand der Daten des summativen Assessment (auf der Basis des Intercultural Critical Incident) mit Hilfe des eindimensionalen Rasch-Modells konfirmatorisch geprüft werden. Für die Auswertung wurde das Kompetenzmodell (vgl. Abbildung 2) weitergehend durch die folgenden Variablen operationalisiert: „1. Präsentieren“ (d. h. Darstellung der eigenen Bedürfnisse, Sichtweisen etc.) (Stufe 1); „2. Hervorrufen“
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(d. h. Hervorrufen der fremden Bedürfnisse, Sichtweisen etc.) (Stufe 4); „3. Beziehung“ (d. h. Thematisierung der spezifischen Beziehung zum Fremden in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext) (Stufe 3); „4. Facework“ (d. h. Wahrung des eigenen und fremden Gesichts) (Stufe 2); „5. Konflikt A“ (d. h. Ansprechen und Bezeichnen eines Konfliktes) (Stufe 3); „6. Konflikt B“ (d. h. aktives, kurzfristiges Sich-Einbringen in die Konfliktlösung) (Stufe 2); „7. Reflexion A“ (d. h. Wahrnehmung und Reflexion des eigenen Verhaltens im Hinblick auf die eigenen Orientierungs- und Wertesysteme) (Stufe 1); „8. Reflexion B“ (d. h. Infragestellen des eigenen Orientierungs- und Wertesystems) (Stufe 5); „9. Ergebnis“ (d. h. Erarbeiten und Vorschlagen einer (eher kurzfristigen und situationsbezogenen) Lösung) (Stufe 2); „10. Vision“ (d. h. Einbringen einer [eher langfristigen] Lösung und Verhandeln im Hinblick auf ein übergeordnetes zukünftiges gemeinsames Ziel) (Stufe 4). Die Codierung der Responses in den Essays erfolgte wie oben berichtet dichotom: mit „1“, sofern die jeweiligen interkulturellen Interaktionsfähigkeiten und -strategien angewandt wurden, und mit „0“, falls nicht. In der konfirmatorischen Analyse wurde ein eindimensionales Rasch-Modell mit Hilfe des Programms ConQuest (Wu, Adams, Wilson & Haldane 2007) gerechnet. Es ergaben sich die in der nachstehenden Abbildung 3 dargestellten Parameterverteilungen.
leichte Items
T-Test für abhängige Stichproben (Prä- vs. Post-Test): T=5,903; p=0,000; df=9; ES=1,75 (sehr hoch); N=61
geringe Fähigkeit
schwierige Items hohe Fähigkeit
Abb. 3: Wright Map zur interkulturellen Kompetenz
Abbildung 3 zeigt die Fähigkeits- und Schwierigkeitsparameter gemeinsam abgebildet auf einer Logit-Skala. Die Reliabilität für die Fähigkeitsparameter (EAP/PV) beträgt 0.882. Diese wurden geschätzt, indem für die Experimentalgruppe sowohl die Vortest- als auch die Nachtestwerte eingegeben wurden (Vortest: Items 1-10; Nachtest: Items 11-20; die Items waren jeweils identisch) (vgl. Wilson, DeBoeck & Carstensen 2008, 109). Die Korrelation zwischen den Vor-
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und Nachtest-Items beträgt 0,556 und ist nicht signifikant (p=0,095). Der entsprechende Chi-Quadrat-Wert zeigt, dass eine Gleichheit der Items nicht gegeben ist (Ȥ2 = 527,83; df = 19; p = 0.000). Die Schwierigkeitsparameter (Estimates) streuen insgesamt von -2,095 (Item 17) als leichtestes Item bis 3,567 (Item 8) als schwierigstes Item. Für den Vortest schwanken die Werte (Estimates) zwischen -0,849 (Item 7) bis 3,567 (Item 8) als schwierigstes Item und für den Nachtest zwischen Item 17 (-2,095) und Item 20 (0,007). Die Mittelwerte der Estimates für den Vortest und den Nachtest unterscheiden sich signifikant (T = 5,903; p = 0,000; df = 9), d. h. die Bearbeitung des Nachtests war für die Probanden signifikant leichter, was als Erfolg der Intervention interpretiert werden kann. Die Effektstärke des Unterschieds beträgt 1,75 und ist damit sehr hoch. Für die Beurteilung des Ergebnisses ist ebenfalls wichtig, dass die Rangfolge der Itemschwierigkeiten für den Vortest und den Nachtest identisch geblieben ist. Betrachtet man die Reihenfolge der Items nach ihrer Schwierigkeit gemäß den Modellannahmen, so ist festzuhalten, dass das Item 7 (17) sowohl im Vor- als auch im Nachtest das leichteste Item war. Das entspricht den theoretischen Annahmen: Bevor entsprechende Handlungen erfolgen können, muss man die Situation im Hinblick auf das eigene Verhalten pragmatisch wahrnehmen (Stufe 1). Die Items 1, 4, 6, 9 (11, 14, 16, 19) spiegeln kurzfristige pragmatische Problemlösungen aus der eigenen Perspektive wieder (Stufe 2). Die Items 3, 5 (13, 15) sind darauf bezogen, dass der soziale Kontext berücksichtigt wird (Stufe 3). Die Items 2 und 10 (12 und 20) entsprechen der Stufe 4, auf der es um die Erarbeitung eines gemeinsam geteilten Verständnisses und die Erarbeitung gemeinsamer Ziele geht. Item 8 (18), mit dem das Infragestellen des eigenen Orientierungs- und Wertesystems angesprochen wird, ist im Vortest – erwartungsgemäß - am Schwierigsten (Stufe 5), im Nachtest hingegen nicht. Diesem Sachverhalt ist in weiteren Untersuchungen Aufmerksamkeit zu schenken. Als Ergebnis zeigt sich, dass die Struktur der Itemschwierigkeiten gegenüber unterschiedlichen Fähigkeiten Stabilität aufweist. Für das ermittelte Modell liefern die Weighted MNSQ für die Schwierigkeitsparameter Werte, die im jeweils angegebenen Konfidenzintervall liegen; die entsprechenden T-Werte sind nicht signifikant. Eine Ausnahme bildet das Item 7, das allerdings nach den Kriterien der Klassischen Testtheorie eine Trennschärfe von 0,39 aufweist und daher nicht herausgenommen wird. Für alle Items liegen die Trennschärfen zwischen .22 und .77. Die Skalenreliabilität liegt bei 0.89 (Cronbachs Alpha). Damit lässt sich festhalten, dass das theoretisch formulierte Kompetenzmodell durch die empirischen Daten gestützt wird. Das Ergebnis zeigt die Möglichkeit, aus dem molaren didaktischen Ansatz heraus ein Modell interkultureller Kompetenz zu entwickeln, das im Hinblick auf die Formulierung von Bildungsstandards anschlussfähig ist. Für seine weitere Ausformulierung, Stabilisierung und Bestätigung zeichnen sich verschiedene Möglichkeiten ab: (1) Es können weitere Teilkompetenzen untersucht werden (z.B. differenziertere Verhaltensweisen im Facework-Management). (2) Es können alternative und ergänzende Verfahren zum Essay für die Datenerhebung eingesetzt werden (z.B. Video-/Audioanalysen von realen oder simulierten Verhaltenssequenzen). (3) Die Messungen sollten anhand von weiteren und um-
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fangreicheren Stichproben validiert werden, die zugleich auch differenziertere Auswertungen gestatten. 5. ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Ausgehend von der Überlegung, dass neuere Forschung die Unterrichtspraxis nicht in hinreichendem Maße erreicht, wird der Einsatz molarer didaktischer Ansätze vorgeschlagen, die sich dadurch auszeichnen, dass sie über ein Metamodell sowohl traditionelle didaktische Ansätze einschließlich ihrer sinngebenden Kategorien bzw. Frageraster als auch Ergebnisse einer empirischen Lehr-LernForschung integrieren. Dieses Metamodell und die entsprechenden forschungsund evidenzbasierten Daten bilden die Grundlage für die Konstruktion und Implementation der didaktischen Aktivitäten. Weiterhin zeichnet sich ein molarer didaktischer Ansatz dadurch aus, dass er in seiner integrierten Form als Intervention zum Einsatz kommt, bei der die einzelnen Teilschritte im Hinblick auf ihre erfolgreiche Umsetzung geprüft werden. Eng damit verbunden ist eine Evaluation, die als formatives Assessment auf entsprechende informative Feedbacks fokussiert und als summatives Assessment die Wirkung der gesamten Intervention feststellt und bewertet. Die spezifischen Vorteile der Entwicklung und des Einsatzes molarer didaktischer Ansätze können auch darin gesehen werden, dass mit der Art ihrer Konstruktion empirische Forschungsergebnisse auf konkrete didaktische Handlungen und Handlungsempfehlungen für ihren praktischen Einsatz im Unterricht heruntergebrochen und transformiert werden. Zugleich lassen sich bei einem solchen Vorgehen verschiedene Forschungsergebnisse zielbezogen bündeln. Damit kann auch eine angemessene Komplexität von Unterrichtsvariablen erreicht werden. Insgesamt ermöglichen die molaren didaktischen Ansätze Hilfestellungen bei der Unterrichtsentwicklung und -durchführung. Allerdings – das zeigen die bisherigen Erfahrungen – sind diese molaren didaktischen Ansätze keine „Selbstläufer“, sondern setzen ein informiertes und engagiertes Lehrerhandeln voraus, was eine explizit forschungs- und evidenzbasierte Professionalisierung von Lehrenden erfordert. Mit der Entwicklung molarer didaktischer Ansätze auf der Basis empirischer Forschungsbefunde und Erfahrungen gelungener Unterrichtspraxis stellen diese eine Chance dar, Lehr-Lern-Prozesse in der kaufmännischen Aus- und Weiterbildung weiterzuentwickeln. Mit der Notwendigkeit, aber auch der Möglichkeit, die Lernergebnisse unter einer Kompetenzperspektive zu erfassen und aufzubereiten, ist der Anschluss an die bildungspolitische Diskussion um Bildungsstandards gegeben.
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PROZESSBEZOGENE BILDUNGSGANGARBEIT IN DER KAUFMÄNNISCHEN BILDUNG – EIN DESIGNPROJEKT ZUR SEQUENZIERUNG Peter F. E. Sloane KURZFASSUNG Schulische Bildungsgänge müssen als interne Curricula mit entwicklungslogischem Aufbau systematisch entwickelt und umgesetzt werden. Zentral geht es dabei um die Frage einer Sequenzierung von Lerngegenständen. In diesem Zusammenhang muss geklärt werden, was zu sequenzieren wäre, bevor man genauer erörtern kann, wie dies erfolgen kann. In einem Zeitraum von vier Jahren wurden an 15 Schulen Kooperationsprojekte zwischen Wissenschaft und Praxis durchgeführt, bei denen es darum ging, dass Lehrkräftegruppen auf der Grundlage von Lehrplänen Maßnahmen zur Förderung selbst regulierten Lernens durchführten. Ziel der Designprojekte war dabei die Aufdeckung von Konstruktionsregeln von Unterricht. Es sollte untersucht werden, wie Unterrichtssequenzen geplant, konstruiert und kontrolliert werden können. In drei Fallbeispielen als Konstruktionen von Praxis und Forschung aus diesen Kooperationsprojekten werden die Erstellung der Didaktischen Jahresplanung, die Modellierung von Lerngegenständen sowie die Sequenzierung und Phasierung dargestellt und in einem Prozessmodell der Bildungsgangarbeit zusammengeführt. ABSTRACT The various curricular areas with their respective courses at vocational schools have to be systematically designed and implemented as internal curricula which build on a developmental logic. In this context, the sequencing of the learning contents becomes a vital question. Connected to this question is the following assumption: Before you can fix the modality of sequencing you should actually ask what, i. e. which contents, should be sequenced. Over a period of four years time, cooperation projects between the world of science and partners from the “practical side of life” – namely teachers – were conducted in 15 schools. The challenge of these projects was the encouragement of self-regulated learning enforced by teachers implementing stimulating learning activities based on the curriculum. The intention of conducting these design-based
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projects was to discover which rules are used for planning, constructing and evaluating teaching and learning sequences. In this article, three sample cases taken from the cooperation projects between research and practice will show you a) the construction of an annual didactical planning, and b) the modelling of learning contents including c) its sequencing. Finally, these points are summarized in a process-oriented model showing the complex work that has to be managed by teachers. 1. AUSGANGSFRAGE In diesem Beitrag geht es um die Grundlagen einer Bildungsgangdidaktik. Das entsprechende Konzept einer Bildungsgangdidaktik könnte sehr umfassend erörtert und insbesondere im Hinblick auf seine bildungstheoretischen Wurzeln sowie seine bildungspraktischen Wirkungen untersucht werden. Dies würde den Rahmen sprengen. Hier soll der Frage nachgegangen werden, wie ein Bildungsgang systematisch ‚geordnet’ entwickelt und umgesetzt werden kann, und zwar aus der Perspektive handelnder Lehrerinnen.1 Im Mittelpunkt steht dabei die Sequenzierung. Dabei muss eigentlich zugleich geklärt werden, was genau zu sequenzieren wäre: Inhalte, Ziele, Problemstellungen, Lernsituationen, um nur einige Beispiele zu nennen, bevor man genauer erörtern kann, wie diese zu erfolgen habe. Das Papier ist in fünf Teilen aufgebaut. Ich werde als erstes den theoretischen Rahmen der Fragestellung entwickeln (Absatz 2). Hier soll gezeigt werden, wie die Sequenzierung als fachdidaktische und bildungspraktische Konzeption betrachtet werden muss. Anschließend werde ich Ergebnisse aus der Paderborner Designforschung vorstellen, dabei werde ich die Grundlagen dieser Forschung kurz skizzieren (Absatz 3), zentrale Ergebnisse zusammenfassen und anhand einzelner Beispiele aufzeigen (Absatz 4). Abschließend wird eine kurze Zusammenführung vorgenommen und ein didaktisches Prozessmodell vorgestellt (Absatz 5). 2. THEORETISCHER REFERENZRAHMEN – ZUR STRUKTURIERUNG VON BILDUNGSGÄNGEN Geht man vom Bildungsgang aus, so ist der Gegenstand der didaktischen Planung nicht mehr die einzelne Unterrichtsstunde; im Mittelpunkt der Überlegung steht die Gestaltung eines Ausbildungsjahres. Dies ist insofern keine neue Fragestellung, als bereits in Fachbeiträgen der 1970er Jahre auf die Strukturierung von Lehrgängen eingegangen wurde und hierfür u. a. von Martin Schmiel (1978) so 1
Wenn hier von Schülerinnen oder Lehrern gesprochen wird, sind immer auch Schüler oder Lehrerinnen und umgekehrt gemeint. In diesem Sinne werden auch keine sprachlichen Doppelungen wie Lehrer und Lehrerinnen oder Kompositionen wie BerufsschulleiterInnen entwickelt. Stattdessen werden beide Geschlechter gleichwertig benutzt, eher zufällig als systematisch.
Prozessbezogene Bildungsgangarbeit in der kaufmännischen Bildung
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genannte normierende Prinzipien erörtert wurden, die bereits in frühen Arbeiten etwa von Dolch (1965) und Schwager (o. J. >vermutlich 1956, P. Sl.@) thematisiert wurden. Es geht dabei um die sachgerechte Strukturierung von Lehrplänen und um deren inneren Aufbau, der zugleich Hinweise auf die Ordnung von Zielen und Inhalten für eine Reihe von Unterrichtsstunden geben soll. Diese Sequenzierungsfrage wurde v. a. in der Curriculumtheorie reflektiert. Dabei ging es um die Bestimmung und Begründung ‚systematischer Abfolgen’ in Unterrichtsreihen. Es wurde von – Sequenz (vgl. Frey & Isenegger 1975; Isenegger 1975; Eigenmann 1975), – Reihe oder Folge (vgl. Schmiel 1975), – Lernhierarchie (vgl. Kunert 1974; Klauer 1974), – Lernabfolge (vgl. Isenegger 1975) oder – Lernstruktur (vgl. Kunert 1974) gesprochen. Begriffe wie Reihe, Sequenz, Folge oder Reihung wurden dabei eher synonym i. S. einer Anordnung von Lerngegenständen, Themen, Lernzielen etc. verwandt. Auch hierzu gab es damals bereits elaborierte Vorbilder, etwa das Spiralcurriculum von Jerome S. Bruner (1960/1970, 1974). Der Begriff Lernhierarchie ist spezieller und verweist auf Über- und Unterordnungsaspekte. Kristian Kunert (1974, 157 f) bezeichnet die Lernstruktur als Sonderfall der Lernhierarchie. Der Prozess der Reihenbildung ist die Sequenzierung. Hier wird zwischen einer Mikrosequenzierung (Reihung in einer einzelnen Lektion oder Unterrichtsstunde) und Makrosequenzierung (Reihung von Zielen, Inhalten, Aktionen usw. innerhalb eines Lehr- bzw. Bildungsgangs) unterschieden (vgl. Frey & Isenegger 1975, 158). Sequenzierungen werden dabei normativ, über normierende Prinzipien, begründet. So finden sich v. a. in der Literatur der 1970er und 80er Jahre, aber auch später folgende Vorgehensweisen (vgl. Sloane 1984, 89ff.): (1) eine sachlogisch begründete Reihung, (2) eine handlungsorientiert begründete Reihung, (3) eine taxonomisch begründete Reihung, (4) eine lerntheoretisch begründete Reihung. Ohne auf die einzelnen Prinzipien im Detail eingehen zu können, soll hier folgendes pointiert festgehalten werden: Die Idee des inneren Zusammenhangs in einem Ausbildungsjahr ist geprägt von einzelnen, zuweilen theoretisch und zuweilen lebenspraktisch begründeten Zusammenhängen, die sich dann in zum Teil isolierten Gestaltungsideen niederschlagen: – Man soll sich bei der Strukturierung von Unterrichtseinheiten an der Häufigkeit von wahrzunehmenden Tätigkeiten, der Komplexität der Handlung, der Bedeutung der Tätigkeit für den Beruf usw. orientieren (vgl. Schmiel 1978, 159; Mager & Beach 1977, 89). – Man soll den Unterricht an Lernstufen, etwa von Gagne (1969, 33ff., insb. 43ff.), orientieren. – Man soll die Reihung der Lernziele am Transfer (vgl. Dubs 1974, 77), am Anspruchsniveau der Inhalte (ebd., 75), an Lernstrategien – induktiv vs. deduktiv (ebd., 78) usw. – ausrichten.
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Man soll Unterricht gemäß den Artikulationsschemata aufbauen (vgl. Correll 1962, 514, Böllert & Twardy 1983).
Es gibt m. E. drei zentrale Kritikpunkte: Erstens wird Unterricht und weiterführend ein Bildungsgang über Partialtheorien beschrieben, die im besten Fall innerhalb eines Didaktikmodells des Verwenders – eben von Lehrern und Ausbildern – integriert werden können. Es gibt kein integrierendes Bildungsgangkonzept. So wird dann auch zweitens kein systematischer Blick auf den Gesamtkomplex ‚Ausbildungsjahr’ genommen. Letztlich erfordert die Umsetzung dieser und ähnlicher Überlegungen, dass Lehrkräfte aufgrund ihrer Expertise einzelne Ordnungsmuster sinnvoll zusammenführen können, ohne dass zugleich die jeweils individuelle Interpretation, die eben aufgrund der Expertise möglich ist, einbezogen wird. Drittens schließlich wird die Sequenzierung weitgehend auf eine Variation der Inhalte bezogen. Diese curriculumtheoretischen Ansätze treten nach der handlungstheoretischen Wende in der Didaktik beruflicher Bildung in den Hintergrund. Es wird eine eher mikrodidaktische Betrachtung des Kompetenzerwerbs vorgenommen.2 Erst deutlich später und unter dem Eindruck von konkreten Fragen, die sich aus der Implementation von Lernfeldcurricula auf der einen und der Implementation von Bildungsstandards und der Forderung nach Kompetenzdiagnostik auf der anderen Seite ergeben, tritt die Sequenzierungsfrage wieder in den Vordergrund. Eine Ausnahme stellen die Arbeiten der Göttinger Arbeitsgruppe um Frank Achtenhagen (u. a. 1992 in Anlehnung an Sievers 1984) dar. Die Orientierung an Inhalten wird dabei, vereinfacht gesprochen, zu Gunsten einer Ausrichtung an komplexen Aufgabenstellungen der Praxis aufgegeben, die in Form von komplexen Lehr-/Lernarrangements didaktisch aufbereitet werden. Dabei findet eine Orientierung am Lernenden statt. Der sukzessive Aufbau von Komplexität unter dem Gesichtspunkt der Förderung des Lernfortschritts wird zum Sequenzierungsprinzip (vgl. u. a. Tramm 2001, 201). Dieses ‚neue’ Sequenzierungsprinzip wird als Gegenentwurf zur Elementarisierung von Bildungsinhalten gesehen. Stattdessen wird eine Betrachtung von ‚Ganzheiten’, eben komplexen Aufgabenstellungen (vgl. Tramm 1992) vorgenommen. Letztlich, so kann man in Anlehnung etwa an Peter Preiß (2009) feststellen, wird die Idee der Berliner Didaktik (vgl. Heimann, Otto & Schulz 1965, 11) erneuert, demnach müssen Unterrichtseinheiten, die jetzt auf komplexe Fragestellungen bezogen sind, konzeptionell in größeren Zusammenhängen gesehen werden. Somit geht es um die Makrosequenzierung von Aufgabenstellungen.
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Mir ist sehr bewusst, dass das Ausblenden von über 20 Jahren Theoriegeschichte an der Stelle eine sehr gewagte Verkürzung ist. In der Tat wäre es eine interessante Betrachtung, die einzelnen Diskurse, die sich nach der handlungstheoretischen Wende ergeben haben (Rezeption kognitionstheoretischer und handlungstheoretischer Konzepte, Wirkungsforschung, Didaktik versus Instruktionstheorie usw.), aufzuarbeiten und im Hinblick auf die Sequenzierungsfrage auszuwerten, doch dies würde den Rahmen dieses Beitrages bei weitem sprengen.
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Diese Überlegungen werden v. a. von Tade Tramm (2003, 2005, 2007) im Rahmen von Arbeiten zur Strukturierung von Bildungsgängen mit Lernfeldcurriculum weitergeführt. Unter der Überschrift „Im Lernfeld selbstständig Probleme lösen“ skizzierte Tade Tramm (2007) im Rahmen eines Workshops im Modellversuch mosel ein Konzept zur Bildungsgangplanung. Dabei geht er von einem hierarchisch-sequentiellen Handlungsmodell in Anlehnung an Volpert (1992) aus. Lernende erschließen sich über Lernhandeln ihre Umwelt, was immer zu Rückwirkungen auf das Subjekt führt. Voraussetzung, um selbstständig lernen zu können, ist daher die Modellierung und Sequenzierung von Problemsituationen. Für Unterrichtseinheiten ergibt sich daher für Tramm (2007, 124ff., insb. Abb. 8, 125) die Notwendigkeit, Sequenzen zu bilden. Diese stellen eine Reihe von Lernsituationen dar. Um eine Sequenz zu erzeugen ist es jedoch nötig, eine vorausgehende curriculare Analyse vorzunehmen, bei der einzelne Lernfelder im Hinblick auf ihre Prozessualität und Systematik analysiert werden müssen (ebd., 134). Dabei geht es zum einen darum, dass innerhalb von Lernfeldern einzelne berufliche Handlungskomplexe abgebildet werden, die konkret prozessbezogene Fähigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten erfordern. Daneben muss eine ‚Querverbindung’ zwischen den Lernsituationen unterschiedlicher Lernfelder aufgebaut werden, um prozessübergreifende Kompetenzen i. S. von systematischen Kernbegriffen und Strukturwissen zu fördern. Hiermit sind prozessübergreifende Fähigkeiten und Einstellungen angesprochen. Die Sequenzierungsidee ist letztlich der Kompetenzaufbau, der über ein Angebot vernetzter Lernsituationen gefördert werden soll. Dabei lassen sich dann verschiedene Sequenzierungsformen bestimmen, je nachdem, welche Komponenten der Lernsituation variiert werden (siehe unten), so dass sich idealtypische Sequenzierungsprinzipien (vgl. Sloane 2003, 2009) definieren lassen; so finden sich zum Beispiel bei Detlef Buschfeld (2003, 15) konkrete Reihen von Lernsituationen, die in schulnahen Curricula (vgl. Sloane 2005) abgebildet werden, die jedoch vor allem in den Schulen entwickelt werden müssen. Damit stellt sich wiederum die Frage, wie solche Bildungsgangcurricula konkret entwickelt, welche theoretisch-konzeptionellen Vorstellungen dabei leitend sind und in welcher Weise diese Curriculumarbeit von den beteiligten Lehrkräften in ihrer jeweiligen innerschulischen Arbeitsorganisation bewältigt werden kann. Dies bedeutet zum einen, dass ein erweitertes didaktisches Konzept entwickelt werden muss, welches Grundlage für die Bildungsgangplanung, -umsetzung und -evaluation sein kann. Zum anderen ist es erforderlich, Curricula nicht mehr als gegebene Vorgaben mit Hinweisen etwa zur Sequenz zu begreifen, vielmehr sind Curricula Entwicklungsprodukte, in denen Sequenzierungen von den beteiligten Lehrkräften entworfen werden. Es geht also darum, Entwicklungserfahrungen, von denen Tade Tramm berichtet und die sich durchaus mit den Erfahrungen meiner Paderborner Arbeitsgruppe decken, in ein umfassendes Planungsmodell für die Bildungsgangarbeit zu überführen. Hierauf wird einzugehen sein.
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3. FORSCHUNGSDESIGN Ziel des Designprojekts ist nicht die Messung von Wirkungen. Vielmehr geht es um die Aufdeckung von Konstruktionsregeln von Unterricht. Es soll untersucht werden, wie Unterrichtssequenzen konstruiert werden können. Ziel ist die Formulierung von Anwendungstheorien für die Praxis (vgl. von Martial 1996, 33), die es im vorliegenden Fall Verwendern ermöglichen sollen, Unterrrichtsreihen (Makrosequenzen) zu planen, durchzuführen und zu kontrollieren. Damit wird die empirische Wirkungsforschung nicht abgelehnt, vielmehr wird sie als notwendige zusätzliche Prüfinstanz als relevant erachtet. Allerdings wird schon kritisch angemerkt, dass i. S. einer pädagogisch-didaktischen Forschungsprogrammatik eben nicht möglich ist, das Design, welches hier im Mittelpunkt steht, gleichsam als Treatment außerhalb der wissenschaftlichen Reflexion zu lassen. Designentwicklung und -evaluation sind aufeinander zu beziehen (vgl. Kremer & Sloane 2001, 98f.). Hier soll es um die Designentwicklung in einem dialogischen Forschungsund Entwicklungskonzept gehen. Es wird von einem kommunikativen Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis ausgegangen. Praxis ist dabei eigentlich eine Chiffre. Der phänomenologischen Soziologie folgend (vgl. Schütz 1974), werden verschiedene Lebenswelten wie Wissenschaft, Schule etc. unterschieden. Forscher und so genannte Praktiker sind Subjekte in diesen Lebenswelten. Solche Lebenswelten kann man i. S. des geisteswissenschaftlichen Ansatzes durch Teilhabe und der damit verbundenen Kommunikation erfahren. Dies ist ein anderer Empiriebegriff als derjenige, der in der rationalen Forschung verwendet wird. Während im rationalen Paradigma Hypothesen überprüft und auf diese Weise ein nomologisches Wissen erzeugt wird, führt die geisteswissenschaftliche Deutungspraxis zur Konstruktion von Strukturvorstellungen. Diese Praxis ist z. B. in Modellversuchen (vgl. Sloane 1992, 2005) dadurch gekennzeichnet, dass Vertreter von Wissenschaft und Praxis miteinander interagieren und dabei unterschiedliche Texte produzieren. Hans-Georg Soeffner (1989, 29ff.) nennt dies die Versprachlichung des Alltags. Soziale Wirklichkeit wird über Texte vermittelt. Es geht somit um den Prozess der Produktion und Rezeption von solchen Texten. In Modellversuchen und anderen Kooperationsbeziehungen werden Texte geschrieben, rezipiert, führen zu Repliken und neuen Texten (vgl. Sloane 1992). Die hermeneutische Praxis der Textauslegung (vgl. Soeffner 1989, 106) führt so zur „schrittweisen Entdeckung allgemeiner Strukturen sozialen Handelns“ (Soeffner 1986, 62; vgl. weitergehend Schütz 1974; Plaß & Schetsche 2001; Oevermann 2001). Die diesem Beitrag zugrundeliegenden Kooperationen wurden im Rahmen der BLK-Modellversuche segel-bs3 und mosel4 sowie damit verbundener Trans-
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segel-bs = selbst reguliertes Lernen in Lernfeldern der Berufsschule von 2004-2008 in Bayern und Nordrhein-Westfalen; siehe Tiemeyer & Krakau 2007 sowie ISB 2009 zu einem Überblick.
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feraktivitäten und Lehrkräftefortbildungen aufgebaut: In einem Zeitraum von vier Jahren wurden an 15 Schulen Kooperationsprojekte durchgeführt, bei denen es darum ging, dass Lehrkräftegruppen auf der Grundlage von Lehrplänen Maßnahmen zur Förderung selbst regulierten Lernens durchführten. Mit jeder Einzelschule wurden individuelle Vereinbarungen getroffen. Gemeinsam war diesen Projekten, dass die beteiligten Lehrkräftegruppen (1) ein Konzept selbst regulierten Lernens entwickeln, (2) es in Form von unterrichtlichen und/oder organisatorischen Maßnahmen umsetzen sowie (3) bei der Dissemination auf Landes- und Bundesebenen mitwirken mussten. Neben den individuellen Kooperationen auf Schulebene wurden regionale Kooperationsverbünde auf Landesebene aufgebaut. Die Kooperationen wurden in Form von Workshops, gemeinsamen Tagungen usw. organisiert, wobei sich die Zielsetzung der einzelnen Veranstaltungen aus dem Entwicklungsverlauf der Projekte ergab. Den beteiligten Forschern kam hierbei eine moderierende und z. T. ‚inputgebende’ Funktion zu. Die mitwirkenden Praktiker verarbeiten diese Inputs und entwickelten für die vereinbarten schulischen Umsetzungsfelder Maßnahmen, die dann in den Schulen vor Ort konkret erprobt wurden. Forscher und Praktiker entwickelten i. S. des phänomenologischen Ansatzes Texte, die gegenseitig rezipiert wurden. Hierzu gehören auf Seiten der Forscher Materialen wie Handreichungen, Literaturberichte usw.; auf Seiten der Praktiker wären Portfolios, Protokolle usw. zu nennen. Die Schreibtätigkeit, die Vertextlichung von Phänomenen und deren Rezeption zeigen sich in der Überarbeitung bestehender und der Entwicklung neuer Texte. Abbildung 1 zeigt diesen Prozess als spiralförmig angelegten gemeinsamen Entwicklungsprozess. Es wird sichtbar, welche Texte produziert werden. Dabei bilden sich Strukturvorstellungen aus der Praxis heraus. Anders als in soziologischen Untersuchungen, in denen über die Textproduktion und -rezeption deskriptiv Sinnstrukturen erfasst werden, gibt es in diesem didaktischen Entwicklungsverfahren normativ-konstruktive Aspekte, die durchaus kommentiert werden sollten. So ist der Forscher in diesem didaktischen Ansatz immer auch steuernd, da er Inputs gibt. Hierbei handelt es sich um Theorien, Konzepte, Modelle usw., die man aus Sicht der Forschung in den Entwicklungsprozess der Praktiker einbringt. Hierbei greift man dann durchaus auch auf Ergebnisse der empirisch-quantitativen Forschung zurück. In den vorliegenden Forschungs- und Entwicklungsarenen wurde beispielsweise eine Expertise zu Fragen der Lernkompetenz und zu Modellen selbst regulierten Lernens entwickelt. Es wurden Hinweise auf unterschiedliche theoretische Konzepte wie Selbstregulation, Selbstorganisation oder Selbststeuerung gegeben, allerdings mit der Absicht, dass die Praktiker diese rezipieren und eine eigene Position finden sollten. Wir sprechen hier von Prototypentwicklung der Praktiker, die auf konkrete Fragestellungen ihrer schulischen Praxis bezogen ist. Hier geht es um Innovationsprozesse. Demgegenüber verfolgen die For4
mosel = Modelle des selbstgesteuerten und kooperativen Lernens und die notwendigen Veränderungen in Bezug auf die Personal- und Organisationsentwicklung von 2004-2007 in Nordrhein-Westfalen; siehe Horst, Schmitter & Tölle 2007a und 2007b zu einem Überblick.
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scher das Ziel in diesem Prozess Hinweise auf allgemeine Strukturzusammenhänge zu finden (vgl. Sloane 2007b). In Abbildung 1 sind zwei Konstruktionsebenen sichtbar, die entsprechend des gewählten phänomenologischen Ansatzes über die jeweiligen Textsorten sichtbar werden: Bei den Dokumentationen der beteiligten Praktiker handelt es sich um Objektivierungen und Externalisierungen ihres je eigenen Handelns. Diese so genannten Konstruktionen 1. Ordnung (Objektebene) werden von der Wissenschaft unter Anwendung von Verfahrensregeln interpretiert, was zu Konstruktionen 2. Ordnung (Theorieebene) führt (vgl. Schütz 2004, 159).5 Deutungsmuster – Strukturfindung Input/Material
Input/Material Workshop
Workshop
Dokumentation
Dokumentation Erprobung
Dokumentation
Input/Material
Erprobung
Dokumentation
Praxisgestaltung Abb. 1: Textproduktion und -rezeption als Deutungsverfahren
Diese Strukturfindung ist ein abduktives Schlussverfahren. Dabei werden Beobachtungen i. w. S. (Texte) als Fallanwendung gesehen. Akteure begründen ihr Handeln bzw. ihre Handlungsvorstellungen als ‚fall’-typisches Vorgehen; so weisen sie beispielsweise eine bestimmte Form von Unterricht explizit oder implizit als Ausdruck eines (Unterrichts-)modells aus. Jo Reichertz (2003, 62) spricht in einer kritischen Analyse dieses Schlussverfahrens davon, dass eine Regel erfunden wird. Von der Logik des Verfahrens her wird davon ausgegangen, dass bei einem gegebenen Sachverhalt und einer Fallordnung dieses Sachverhalts auf das Gesetz bzw. auf die Konstruktionsregel zurückgeschlossen werden kann. Letztlich wird so der Versuch unternommen, den intuitiv angenommen Zusammenhang zu explizieren (vgl. auch die Kritik von Minnameier 2005, 8). In einem Kooperationsprozess von reflektierenden Praktikern und Forschern kommt es im Deutungshorizont zu einer Abduktion zweiten Grades. Forscher subsumieren einzelne Ab5
Diese Texte sind Strukturbeschreibungen; es handelt sich nicht um die in Abbildung 1 als Input/Material bezeichneten Texte, sondern um Texte, die genaugenommen auf der Ebene des oberen Pfeils mit der Kennzeichnung „Deutungsmuster-Strukturfindung“ angesiedelt sind und eigentlich das (vorläufige) Ergebnis des Strukturfindungs-Prozesses sind.
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duktionen. Die Logik der Subsumption (vgl. Meyer 2009, 313f.) zielt auf die Konstruktion der inneren Zusammenhänge von Sprach- und Lebensäußerungen der Praktiker (Texte, Argumentationsmuster im Workshop etc.). Indem einzelne Argumentationsmuster zu Klassen zusammengefasst werden, ergibt sich eine allgemeine Strukturbeschreibung. Die beiden Konstruktionsebenen sind, wie bereits angedeutet (siehe oben), in der didaktischen Designforschung nicht unabhängig voneinander. Es kommt zu Wechselwirkungen als Folge der dialogischen Struktur (siehe Abbildung 1). Es handelt sich um einen zweiseitigen Rezeptions- und Produktionsprozess. So werden die Konstruktionen 2. Ordnung über die Inputmaterialien der Forschung in den Entwicklungsprozess eingespeist, was dann im Prozess wiederum eine Rückkopplung auf die Deutungsmuster erfährt. Letztlich geht es hier aber nicht um empirische Validität, wie dies berechtigt von der quantitativen empirischen Forschung für diese Form der Forschung gefordert wird, sondern um das Herausarbeiten nützlicher6 Strukturbeschreibungen, wobei Maßstab der Gültigkeit eine kommunikative Validität ist, die auf der Grundlage eines geführten Dialogs hergestellt wird und die genau genommen nur für diesen Dialog gilt (Dialogdefinitheit) (vgl. Sloane 2007b). 4. FALLBEISPIELE Aus Platzgründen werde ich mich auf drei Teilaspekte beschränken, die in den Kooperationsschulen bearbeitet wurden: (1) die didaktische Jahresplanung, (2) die Modellierung des Lerngegenstands und (3) die Sequenzierung. Bei den benutzten Beispielen handelt es sich um Material aus dem Karl-Schiller Berufskolleg der Stadt Dortmund, welches Kooperationspartner im Modellversuchsverbund segelbs, NRW war. In den Beispielen verbinden sich Konstruktionen der Praxis und der Forschung. Im abschließenden fünften Kapitel wird dann eine kurze Zusammenführung und Einordnung vorgenommen. 4.1. Didaktische Jahresplanung zur Bestimmung der Bildungsgangcurricula Am Karl-Schiller-Berufskolleg wurden im Rahmen der Bildungsgangarbeit sukzessive für alle drei Ausbildungsjahre didaktische Jahresplanungen erstellt. Abbildung 2 zeigt die didaktische Jahresplanung der Unterstufe des Bildungsganges 6
Das Konzept der Nützlichkeit, welches auch in einigen konstruktivistischen Ansätzen als Kriterium für die Bewertung von Wissen oder Theorien verwandt wird hat ganz andere Konsequenzen für die Forschung als das Konzept der Wahrheit, welches von Vertretern einiger empirischer Forschungsrichtungen für die Bewertung herangezogen wird. Wissenschaft dem Anspruch der Wahrheit resp. Wahrheitsfindung zu unterwerfen basiert auf anderen Annahmen und normativen Positionen als der Anspruch, nützliches Wissen zu generieren. Das Ignorieren dieser unterschiedlichen Ausgangspunkte führt zu letztlich ‚nutzlosen’ Debatten und gegenseitigen Vorbehalten, die im Übrigen auch nicht der Wahrheitsfindung dienen.
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‚Kauffrau/-mann für Marketingkommunikation’ in schematischer Darstellung (vgl. KSBK 2009). Diese Darstellungsform ermöglicht in erster Linie einen Blick auf die Benennung und die zeitliche Verteilung der Lernsituationen innerhalb des Schuljahres. Auf dieser ersten Darstellungsebene baut eine zweite Ebene mit einer Konkretisierung der jeweiligen Lernsituation über Zeitrichtwert, Einstiegsszenario, mögliche Handlungsprodukte, Inhalte, Lern- und Arbeitstechniken, zu entwickelnde Kompetenzen sowie der beitragenden Fächer auf (siehe Tabelle 2 zu einem Beispiel dieser zweiten Darstellungsebene im folgenden Abschnitt).
Abb. 2: Didaktische Jahresplanung (1. Ebene) der Unterstufe am Karl-Schiller-Berufskolleg
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4.2. Modellierung von Lerngegenständen durch die Entwicklung von Lernsituationen Ohne die Bedeutung einer Mikro-Sequenzierung von Lerngegenständen innerhalb einer Unterrichtseinheit sowie deren Bedeutung für die Kompetenzentwicklung der Schüler zu relativieren, sollen Lernsituationen als Lerngegenstände als die ‚basalen Einheiten’ eines Bildungsgangcurriculums angesehen werden. ‚Lernsituationen‘ sind Lerngegenstände, die eine Lernendenperspektive aufnehmen und durch die die berufliche Handlungskompetenz der Schüler gefördert werden soll, indem die Lernenden dazu aufgefordert werden, didaktisch aufbereitete berufliche Probleme zu bewältigen und sich auf diese Weise allgemeine fachliche Zusammenhänge zu erschließen. In Lernsituationen werden fachliche Wissensgebiete in einen Anwendungszusammenhang gestellt, wobei die Prinzipien der didaktischen Reduktion und Transformation zur Anwendung kommen, bei gleichzeitiger Berücksichtigung der fachlichen und zielgruppenspezifischen Adäquatheit. Lernsituationen zeichnen sich über zumindest fünf Gestaltungsmerkmale aus (vgl. Buschfeld 2003; Sloane 2003, 9): (1) den Handlungsraum, (2) den Handlungsprozess, (3) das Handlungsergebnis, (4) die (anwendungsbezogenen) Inhalte sowie (5) die Lern- und Arbeitsstrategien (siehe Abbildung 3). Leitziel Schul- und Bildungsgangprofil Lern- und Arbeitsstrategien
Lerninhalte
Lernsituation
Handlungsprozess Probleme erkennen
Handlungsergebnis Handlungsraum
Lösungswege entwickeln
Material
Lösungswege überprüfen
Problemstellung
Dokumentation Präsentation
Person Abb. 3: Lernsituation
Ad (1): Der Handlungsraum (synonym: Handlungsrahmen) stellt den Kontext der Problemstellung dar, in dem die Schülerinnen ihr fachliches Wissen und Können
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Peter F. E. Sloane
anwenden sollen. Der Handlungsraum ist durch die jeweiligen Bildungsgangteams zu entwickeln. Dabei sind Eckpunkte wie Materialien, Rollendefinitionen, Handlungs- und Entscheidungsspielräume etc. festzulegen. Ad (2): Durch den Handlungsprozess kommt zum Ausdruck, dass die Problemlöseaktivitäten durch die Schüler einen vollständigen Handlungsprozess im Sinne von Planung, Durchführung und Kontrolle umfassen sollen. Ad (3): Das Merkmal Handlungsergebnis verweist darauf, dass die Probleme in Lernsituationen mit einer Aufforderung zum Handeln verbunden sein sollen, an dessen Ende ein konkretes Ergebnis im Sinne eines Lernproduktes (z. B. Dokumentation, Konzept, Präsentation etc.) stehen sollte. Ad (4): (Fachliche) Inhalte bilden gewissermaßen den Hintergrund der (beruflichen) Handlungen. In Lernfeldcurricula werden Inhalte nicht fachsystematisch vorgegeben, sondern über die Lernfelder in einen anwendungsbezogenen (sachlogischen) Kontext gestellt. Die Inhalte sind aus diesen curricularen Grundlagen heraus zu präzisieren und über die Merkmale Handlungsrahmen, -prozess und -ergebnis in den einzelnen Lernsituationen zu verankern. Demgegenüber geben fachliche Lehrpläne die Inhalte vor, sodass Lehrkräfte hier deren Situierung im Hinblick auf Lern- bzw. Anwendungssituationen hin vornehmen müssen. Ad (5) Um die Probleme in Lernsituationen zu lösen, müssen die Schülerinnen Lern- und Arbeitsstrategien einsetzen. Allerdings kommen diese Strategien nicht nur zum Einsatz, sondern Lern- und Arbeitsstrategien gilt es darüber hinaus und insbesondere über Lernsituationen gezielt zu fördern. Diese Strategien sind damit als Voraussetzung, methodische Figur und gleichsam als Ziel von Unterricht zu betrachten (vgl. Weinert 1982). Wann es welche Lern- und Arbeitsstrategien zu fördern gilt und wann diese zum Einsatz gelangen sollen, ist durch die Bildungsgangteams im Rahmen der didaktischen Jahresplanung zu bestimmen. Die Entwicklung von Lernsituationen am Karl-Schiller-Berufskolleg folgt den beschriebenen Gestaltungsmerkmalen. Tabelle 1 zeigt in Anlehnung an die oben beschriebenen Gestaltungsprinzipien die Umsetzung am Beispiel der Lernsituation 2 „Wie es läuft, damit alles läuft – Agentur- und Abteilungsorganisation sowie allgemeine Arbeitsabläufe darstellen“ des Lernfeldes 1 des Ausbildungsberufs ‚Kauffrau/-mann für Marketingkommunikation’. Lernsituationen sind Rekonstruktionen von (beruflichen) Handlungsprozessen, in denen zum einen Fachwissen angewandt wird (Applikation), zum anderen sind sie als Lerngegenstände so zu modellieren. Auf diese Weise können dann induktive Lernprozesse ausgelöst werden, die zur Erschließung des Fachwissens beitragen (Generalisierung/Verallgemeinerung). Dies schließt aber nicht aus, dass deduktive Lernprozesse nicht auch möglich wären. So ist es vorstellbar, dass Fachwissen als Orientierungswissen im Unterricht angeboten wird, um darauf aufbauend eine Erprobung dieses Wissens in Lernsituationen (Anwendung/Applikation) zu initiieren.
Prozessbezogene Bildungsgangarbeit in der kaufmännischen Bildung Element der Handlungssituation Lerninhalte Lern- und Arbeitsstrategie Handlungsprozess Handlungsperspektive
Handlungsraum
Handlungsergebnis
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Ausgestaltung in Lernsituation 2, LF 1 Aufbauorganisation Organigramm Erfassen und Verstehen von Informationen Elaborationsstrategien Einstiegssituation mit deduktivem Zugang Mehrfache Problemanalyse Arbeitsplan erstellen Seminarsituation Unzureichende Projektorganisation in der Modellunternehmung Generalisierung Wiki-Eintrag Entwickelte didaktische Problemstellung
Tab. 1: Exemplarische Gestaltungselemente der Lernsituation 2, Lernfeld 1 (vgl. auch Krakau 2010)
Sowohl aus dem Fach- bzw. Wissenschaftsprinzip als auch aus dem Situationsprinzip resultieren jeweils Gestaltungsansprüche. So müssen Lernsituationen fachliche Strukturen richtig abbilden (wissenschaftliche Adäquatheit), zugleich müssen die Regeln der didaktischen Reduktion und Transformation beachtet werden. Die Rekonstruktion der Tätigkeit muss daneben die beruflichen Abläufe und Strukturen richtig erfassen (situative Adäquatheit), in den Erlebens- und Sprachkontext der Lernenden eingepasst sein (narrative Einbindung) und berufliche Prozesse und Zielsetzungen abbilden. Schließlich setzt die Situierung von Wissen in solchen Tätigkeiten auf der einen und die Erschließung von Wissen aus diesen Tätigkeiten auf der anderen Seite voraus, dass Lernende zu einem gewissen Umfang in der Lage sind, selbst reguliert zu lernen, was wiederum auf die Fähigkeit verweist, Lern- und Arbeitstechniken zielführend einzusetzen. Auch die in Tabelle 2 skizzierte Lernsituation 2 entspricht den geschilderten Ansprüchen. Die fachlichen Strukturen des Themenfeldes „Betriebsorganisation und Arbeitsabläufe“ werden beispielsweise mittels der Aspekte Aufgabenanalyse und -synthese sowie Stellen- und Abteilungsbildung berücksichtigt. Die situative Adäquatheit zeigt sich in der Schilderung typischer Problemsituationen (berufliche Prozesse) durch einen Mitarbeiter innerhalb einer Fortbildungsveranstaltung (narrative Einbindung). Ziel der Lernsituation ist (u. a.) die Lösung der Problemsituation durch Optimierung der Agenturorganisation und der Arbeitsabläufe. Lernund Arbeitsstrategien, am Karl-Schiller-Berufskolleg auf dieser Ebene über Lernund Arbeitstechniken konkretisiert, werden hier gleichermaßen bei ihrer Anwendung vorausgesetzt, wie auch vertieft und eingeführt. Vorausgesetzt wird beispielsweise, dass die Lernenden ihren Arbeitsprozess selbstständig planen. Vertieft wird die Reflexion des Arbeitsprozesses, neu eingeführt werden Grundlagen des Projektmanagements.
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Lernfeld 1
Den Ausbildungsbetrieb präsentieren. hier: WSP II
Lernsituation 2
Wie es läuft, damit alles läuft – Agentur- und Abteilungsorganisation sowie allgemeine Arbeitsabläufe darstellen.
Zeitrichtwert: Einstiegsszenario der Lernsituation:
ca. 10 Unterrichteinheiten zzgl. außerschulischer Zeit für den Erkundungsauftrag Frank Schmitz und Natalia Lukovic, beide seit Dezember bei der Karl & Partner Kommunikationsagentur GmbH als Junior-Kundenberater tätig, besuchen ein Seminar des neuen Agenturverbandes AIKA zur Organisation von Unternehmen der Kommunikationsbranche. Momentan findet der Hauptvortrag der Veranstaltung zur Aufbauorganisation von Unternehmen der Kommunikationsbranche statt … … [Nach der Pause soll ein Austausch über die Aufbauorganisation der Unternehmen der Teilnehmer erfolgen.] In der Pause unterhalten sich Frank Schmitz und Natalia Lukovic. Natalia Lukovic: „Frank, wer hat jetzt eigentlich die Hauptverantwortung für unseren neu gewonnenen Kunden? Und wer ist beim Kunden unser Ansprechpartner?“ Frank Schmitz: „Das kann ich dir nicht sagen, Natalia, ich wäre momentan schon froh, zu wissen, wer in Abwesenheit der Beratungsleitung für die Beratung zuständig ist. Unsere beiden Etat Direktorinnen Elke Gärtner und Sabine Rettberg streiten sich ständig darüber.“ Natalia Lukovic (lacht): „Na, da sind wir bei einem Seminar zur Organisation ja an der richtigen Stelle. Eigentlich kann das nicht sein, dass wir das nicht wissen …“
(mögliche) Handlungsergebnisse:
o generalisierender Wiki-Eintrag zur Aufbauorganisation o Methodenkarten (Erkundung, Bienenkorb, Rechter Winkel, VennDiagramm, Ampel-Evaluation, Schatz- und Schreckenskammer) o Checkliste zum Projektmanagement o neue didaktische Problemstellung
Tab. 2: Didaktische Jahresplanung (2. Ebene) der Lernsituation 2 des Lernfeldes 1 am KarlSchiller-Berufskolleg (KSBK 2009)
Prozessbezogene Bildungsgangarbeit in der kaufmännischen Bildung
Inhalte o Aufbauorganisation o Aufgabenanalyse und –synthese o Stellenbildung o Abteilungsbildung o Organigramm o Leitungs- bzw. Weisungssysteme o Einliniensystem o Stabliniensystem o Matrixorganisation o Teamorganisation o Unit-System o Ablauforganisation o Projektmanagement
Lern- und Arbeitstechniken o Planung des Arbeitsprozess (Vertiefung) o Informationssammlung mit ‚Erkundungen‘ o Informationsauswertung, z. B. ‚Rechter Winkel‘ o Strukturierung von Informationen, z. B. ‚VennDiagramm‘ o Reflexion der Arbeitsprozesse, z. B. o ‚AmpelEvaluation‘ (Zwischenreflexion) o ‚Schatzkammer‘ und ‚Schreckenskammer (Abschlussreflexion)
Kompetenzen Fachkompetenzen: o Betriebliche Aufgaben analysieren und zu Abteilungen sowie Stellen synthetisieren. o Organigramm als Visualisierungsmethode einer Aufbauorganisation einsetzen. o Ausprägungen von Leitungssystemen adäquat auswählen. o Funktionsbereiche des Ausbildungsbetriebes sowie deren Abhängigkeiten darstellen. o Ausprägungen branchentypischer Ablauforganisation adäquat auswählen. o Projektmanagement als branchentypische Ablauforganisation einsetzen. Methodenkompetenzen: o Arbeitsprozesse planen. o Erkundungen planen, durchführen und auswerten. o Projekte managen (Einführung). o Zielgerichtete Präsentationsund Kommunikationsfähigkeit entwickeln. o Arbeitsprozesse reflektieren (Vertiefung). Sozialkompetenzen: o In Arbeitsgruppen zielgerichtet agieren. o Gruppenhandlungen reflektieren und beurteilen. Personalkompetenzen: o Team- und Kooperationsfähigkeit durch Gruppenarbeit erweitern. o Eigene Handlungen reflektieren und beurteilen. o Abstraktionsvermögen entwickeln.
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Beitragende Fächer Wirtschafts- und Sozialprozesse (WSP II) Zudem (siehe Jahresplanungen der Fächer): o WSP I: Aufbau- und Ablauforganisation bei Beschaffungsprozessen o Deutsch/ Kommunikation: Aufbau- und Ablauforganisation sachgerecht dokumentieren o Englisch: fremdfachsprachliche Mitteilungen zur Aufbauund Ablauforganisation o Religionslehre: Menschenbild und unternehmensorganisationale Aspekte
Tab. 2: Didaktische Jahresplanung (2. Ebene) der Lernsituation 2 des Lernfeldes 1 am KarlSchiller-Berufskolleg (KSBK 2009) (Fortsetzung)
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4.3. Sequenzierung und Phasierung Geht man von Lernsituationen als basalen Einheiten aus, so lassen sich verschiedene Formen der Sequenzierung unterscheiden. Systematisch wären fünf Hauptformen vorstellbar (siehe Tabelle 3): Sequenzierungsform Handlungsraum (HR)
Handlungsprozess (HP)
Handlungsergebnis (HE)
Lerninhalte (LI)
Lern- und Arbeitsstrategien (LAS)
Beschreibung Zwei Lernsituationen werden über eine Weiterführung des Handlungsraums verbunden. Dies kann beispielsweise über eine Fallbearbeitung erfolgen, bei der ein idealtypisches Unternehmen eingeführt wird. ĺ z. B. Erweiterung des Handlungsraums Zwei Lernsituationen werden über den Handlungsprozess verbunden, z. B. kann eine Problemstellung einer Lernsituation in einer späteren Lernsituation aufgegriffen werden, Planungsüberlegungen aus einer Lernsituation werden in einer späteren weitergeführt usw. ĺ z. B. Weiterführung, Ausdifferenzierung des Handlungsprozesses ĺ z. B. Verbesserung der Planungsarbeiten Zwei Lernsituationen können dadurch miteinander verbunden werden, dass die in einer Lernsituation erarbeiteten Materialien genutzt werden oder dass auf frühere Präsentationen zurückgegriffen wird. ĺ z. B. Aufgreifen früherer Ergebnisse ĺ z. B. Analyse ‚alter’ Dokumente Zwei Lernsituationen können dadurch miteinander verbunden werden, dass bestimmte Inhalte aus einer Lernsituation in einer späteren aufgegriffen und/oder vertieft, weiterentwickelt usw. werden. ĺ z. B. Vertiefung fachlicher Modelle und Konzepte ĺ z. B. Elaboration fachlicher Zusammenhänge Zwei Lernsituationen können dadurch miteinander verbunden werden, dass bestimmte in einer Lernsituation entwickelte Lern- und Arbeitsstrategien weitergeführt oder neu zur Anwendung gebracht werden. ĺ z. B. Transfer von Lern- und Arbeitsstrategien ĺ z. B. Übung von Lern- und Arbeitsstrategien
Tab. 3: Hauptformen der Sequenzierung (Sloane 2009, 205)
Bei der Sequenzierung von Lernsituationen werden am Karl-Schiller-Berufskolleg alle beschriebenen Sequenzierungsformen genutzt. Innerhalb des Lernfeldes 1 erfolgt beispielsweise eine Erweiterung des Handlungsraums über eine Ausdifferenzierung des Modellunternehmens. Lerninhalte werden verknüpft, indem in der Lernsituation 3 des Lernfeldes Unternehmensziele in den Blick genommen werden. Diese Ziele sind teilweise eine Grundlage für die Erarbeitung einer Corporate Identity-Konzeption in Lernsituation 4.
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Zentrales Anliegen der Sequenzierung ist der Aufbau von Kompetenz. Dies verweist auf die Frage der Phasierung, womit ein Wechsel zwischen kasuistischen und systematischen Lernphasen gemeint ist. Die Auseinandersetzung des Lernenden mit der Lernsituation zielt darauf, dass beim Lernenden induktive Prozesse ausgelöst werden. Lehrkräfte sind aufgefordert, diese Prozesse zu unterstützen, denn es kann nicht davon ausgegangen werden, dass Generalisierungen (beim induktiven Vorgehen) oder Anwendungen (beim deduktiven Vorgehen) gleichsam automatisch erfolgen, nur weil Lernsituationen als Lerngegenstände angeboten werden. So kann eine Generalisierung beispielsweise in den Lernsituationen über die Art der Aufgabenstellung (z. B. über das angestrebte Handlungsergebnis) angeregt werden. Es wäre aber zumindest zu überlegen, ob es nicht daneben auch weiterer Maßnahmen bedarf. Eine solche Maßnahme könnte ein stärker organisatorischer und somit auch sichtbarer Wechsel zwischen den Phasen sein. Umgekehrt wäre es denkbar, bei eher deduktiv angelegten Sequenzen Erkundungssaufträge zu entwickeln, die nach einer Wissensvermittlung durchgeführt werden sollen. Hier wäre dann wiederum zu fragen, wie die Fallbearbeitung dann auf die systematischen Überlegungen zurückgeführt werden kann. Die Fragestellung lautet immer: Wie werden unterschiedliche Phasen des Lernens miteinander verbunden? Für die Bildungsgangarbeit heißt dies, dass neben den kasuistischen Lernphasen explizit induktive Phasen zur Erarbeitung systematischen Wissens vorgesehen werden müssen. Solche Phasen können bei einem induktiven Ansatz (von der Situation zur Systematik) in Form von Unterrichtsgesprächen, Portfolioarbeit (z. B. halbstrukturierte Portfolios), schriftlichen Aufgaben usw. umgesetzt werden. Die Idee ist dabei, die Reflexion über den (kasuistischen) Lerngegenstand anzustoßen und dies über Mittel der Mäeutik (Unterrichtsgespräch) oder der Vertextlichung (Portfolio, Aufgabenbearbeitung) zu organisieren. Bei einem deduktiven Ansatz (von der Systematik zur Lernsituation) können ebenfalls Unterrichtsgespräche und Portfolioarbeit zur Anwendung gelangen, allerdings mit einer veränderten Zielsetzung, die im ersten Schritt auf die Anwendung des vermittelten Wissens ausgerichtet ist und in einem zweiten Schritt (nach der Anwendung) dann auf einen Rückbezug auf die Systematik zielt. Auch am Karl-Schiller-Berufskolleg erfolgt eine bewusste Phasierung im hier beschriebenen Sinne (siehe vertiefend Krakau 2010). Abbildung 4 zeigt zwei unterrichtlich eingesetzte Methoden- und Arbeitskarten, die dies verdeutlichen. Jede Lernsituation folgt dabei gemäß Bildungsgangkonzeption den Schritten einer vollständigen Handlung. Phasen der Verallgemeinerung sowie eines vertiefenden Transfers nehmen dabei innerhalb einer Lernsituation Wechsel zwischen kasuistischen und systematischen Lernphasen vor. Die oben skizzierte Lernsituation (siehe Tabelle 2) folgt dabei einem deduktiven Aufbau mit einer generalisierten Darstellung des fachlichen Inhalts zu Beginn der Lernsituation.
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Schritte einer vollständigen Handlung: Von der Situation zu Verallgemeinerung & Transfer
4.
Transfer & Reflexion
Verallgemeinerung
3.
& Vertiefung
Analyse & Planung
Durchführung & Bewertung
1.
Schritte einer vollständigen Handlung: Von der Verallgemeinerung zur Situation
2.
Transfer & Reflexion
Verallgemeinerung
2.
1.
&
Analyse & Planung
Durchführung & Bewertung
Vertiefung
3. 4.
Abb. 4: Methoden- und Arbeitskarte: Vollständige Handlung: induktiver und deduktiver Ablauf (Krakau 2010)
Darüber hinaus finden Systematisierungen im in der Lerngruppe etablierten Wiki (siehe zum didaktischen Einsatz von Wikis exemplarisch Kremer & Pferdt 2008, 9 f) sowie über vertiefende Aufgaben und Varianten der Reflexion statt. Diese erfolgt einerseits dadurch, dass innerhalb der Reflexion zum Abschluss einer Lernsituation der Arbeitsprozess und die Arbeitsergebnisse sowie die eingesetzten Lernstrategien nochmals betrachtet werden. Dabei werden unterschiedliche Reflexionsmethoden eingesetzt. Gezielt erfolgt dies andererseits über so genannte „Rück-Fragen an die Lernsituation“ (siehe Sloane, Dilger & Krakau 2008, 312 zu einem Beispiel aus dem ‚Einzelhandel). Hier „werden die Lernenden über (offene und geschlossene) Fragestellungen dazu angeregt: – den Bezug der Lernsituation zu ihrer individuellen Person zu reflektieren, – verschiedene Aspekte des Lernprozesses zu hinterfragen und – das Handlungsprodukt der Lernsituation nochmals kritisch zu betrachten.“ (Dilger & Sloane 2007, 21) Bei dieser Form der Reflexion steht also eher der Lern- und Arbeitsprozess im Mittelpunkt. 5. ZUSAMMENFASSUNG UND EINORDNUNG: PROZESSMODELL DER BILDUNGSPLANUNG Es hat sich als erforderlich erwiesen, von innerschulischen Arbeitsprozessen auszugehen, die von Lehrkräfte- bzw. Bildungsgangteams bewältigt werden müssen. Dabei wird als Fokus der Bildungsgang als organisatorische Einheit in den Blick genommen. „Bildungsgangarbeit“ bezieht sich so auf die didaktisch-organisatorische Gestaltung von Bildungsgängen. Es soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass sich die pädagogische Arbeit keinesfalls in der Planung, Durchführung und Evaluation von einzelnen Unterrichtsstunden erschöpft. Vielmehr ist es erforderlich, Lehr-/Lernsequenzen in einem längeren Zeitzusammenhang konzeptionell
Prozessbezogene Bildungsgangarbeit in der kaufmännischen Bildung
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zu entwickeln, umzusetzen und zu evaluieren (vgl. Sloane 2007a). Es geht darum (siehe Abbildung 5), dass Lehrkräfte – auf der Grundlage eines erstellten Bildungsgangkonzeptes – eine Analyse des Lehrplans vornehmen müssen (curriculare Analyse), – eine didaktische Jahresplanung erarbeiten, – den Lerngegenstand modellieren und sequenzieren, – komplexe Lehr-/Lernarrangements entwickeln und – Evaluationsverfahren einsetzen, um sowohl die individuelle Kompetenzentwicklung der Lernenden als auch den Erfolg der durchgeführten Maßnahmen festzustellen. Bildungsgangkonzeption
Curriculare Analyse
Didaktische Jahresplanung
Modellierung des Lerngegenstands
Lehr-/Lernarrangement
Evaluation
Sequenzierung
Abb. 5: Bildungsgangarbeit als Prozessmodell (Sloane 2007a, 482)
Abbildung 5 zeigt, dass es sich bei der Bildungsgangarbeit um ein Prozessmodell handelt, in dem einzelne Arbeitsphasen festgelegt werden. Diese Phasen sind handlungslogisch sequenziert. Genau genommen wird jedoch von einem hierarchischen und zugleich responsiven Planungsmodell ausgegangen. Dabei sind Rückkopplungen zwischen den Phasen der Normalfall und entsprechend zu berücksichtigen.
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STANDARDS IN DER LEHRERBILDUNG ZWISCHEN ENTWICKLUNGSANSPRUCH UND LEGITIMATIONSFUNKTION Jürgen van Buer & Dina Kuhlee
ZUSAMMENFASSUNG Die neu geregelte Lehrerbildung charakterisiert sich nicht nur bezüglich der formalen Studienstruktur durch eine Vielzahl von Veränderungen, vielmehr zeigen sich im Zusammenhang mit diesen veränderten Strukturen auch neue Merkmale in den Steuerungs- und Kontrollstrukturen. So haben zum einen die Bundesländer durch die Abgabe von Verfügungsrechten an die Universitäten, beispielsweise im Prüfungswesen, Kontrollansprüche aufgegeben, zeitgleich wurden durch die KMK-Vorgaben zu den Standards in der Lehrerbildung und damit zur Qualitätsentwicklung neue zentrale Steuerungsimpulse für diesen Bereich ausgelöst. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich vor diesem Hintergrund am Beispiel Berlins mit der Frage, ob und wie die staatlich administrativen Akteure auf Landesebene ihre Steuerungs- und Kontrollansprüche zu wahren suchen. Hierzu werden die aktuellen Instrumente zur Qualitätssicherung in der Lehrerbildung des Landes Berlins dokumentenanalytisch untersucht und hinsichtlich ihres Anspruchs auf Qualitätsentwicklung auf der einen Seite und ihrer Implikationen für die Steuerungs- und Kontrollstrukturen auf der anderen Seite betrachtet. Es zeigt sich ein legitimierender Rückgriff sowohl auf die Vorgaben der KMK als auch auf die Semantik der wissenschaftlichen Lehrerbildungsdebatten. Jedoch bleibt es bei der Nutzung dieser semantischen Etiketten, die nicht in entsprechende Konzepte überführt werden. Demnach scheint der Qualitätsentwicklungsanspruch der Instrumente deutlich weniger einem Erfüllungsanspruch zu unterliegen als der Anspruch der Rückgewinnung von Steuerungs- und Kontrolloptionen der institutionellen Akteure auf Landesebene sowie dessen Legitimation. ABSTRACT Teacher education in Germany is a special topic on the political agenda since results of international comparative studies such as PISA or those on teacher professionalism are highly discussed in public. At the same time, the Bologna process
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focusing on study structures and, hence, on the implementation of Bachelor and Master Degree structures, had relevant implications for teacher education within and in the aftermath of this process. This holds true for structural aspects of study programs, but also for aspects of governance in teacher education concerning the relationship of the federal states and universities providing teacher education. Both developments, however, are strongly connected to questions of quality assurance. Especially “Standards of teacher education” are expected to enhance the quality of teacher education programs in universities and, at the same time, they are meant to harmonise teacher education among the 16 federal states. The following paper analyses specific quality assurance instruments in teacher education and training of the federal state Berlin. It focuses on the explicit intention to enhance quality in teacher education on the one hand and the implicit intention to readjust governance structures on the other. Therefore, the paper questions which intention is rather likely to be fulfilled by those instruments.
1. NEUE STRUKTUREN IN DER LEHRERBILDUNG IN LANDESHOHEITLICHER VERANTWORTUNG – REORGANISATION VON KONTROLL- UND STEUERUNGSOPTIONEN Einen Beitrag über Lehrerbildung1 in Deutschland zu schreiben, scheint angesichts der derzeitigen generellen Proteste der Studierenden über Studienbedingungen und Studienprogrammstrukturen so, als äußere man sich zu Dingen, die möglicher Weise zum Veröffentlichungsdatum schon Teil der Geschichte sein werden. Im Folgenden werden jedoch Phänomene analysiert, von denen vor dem Hintergrund der Diskussionen um inter- und intrainstitutionelle Aushandlungs- und Koordinierungsprozesse (vgl. z. B. die Beiträge in Schuppert & Zürn 2008; zu Educational Governance vgl. z. B. Fuchs 2008) angenommen werden kann, dass sie auch nach möglichen Reformen von zentraler Bedeutung für die Lehrerbildung sein werden. Derzeit ist nicht absehbar, zu welchen Konsequenzen die Proteste um die aktuellen Studienstrukturen für die gerade neu geordnete Lehrerbildung hinsichtlich ihrer inneren Organisation führen werden. Vor dem Hintergrund der folgenden Betrachtungen zu institutioneller Koordinierung und Steuerung ist jedoch erwartbar: Im Vergleich zu den Studiengängen, die auf der Basis ‚überschaubarer’ Varianz hinsichtlich der Interessenlagen der beteiligten Akteure rein inneruniversitär auszuhandeln sind, treffen die lehramtsbezogenen Studiengänge auf eine komplexe Koordinierungs- und Aushandlungssituation mit unterschiedlichen Verfügungsrechten und Interessenstrukturen der betroffenen Akteure. Dies 1
Zur Vereinfachung und besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die grammatikalisch männliche Berufs- und/oder Status- und Positionsbezeichnung gewählt.
Standards in der Lehrerbildung
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gilt umso mehr, wenn man in der Lehrerbildung die gesamte Ausbildung mit ihren Segmenten Bachelor, Master und Vorbereitungsdienst betrachtet. Zwar verweisen die einschlägigen Diskussionen zur Effektivität von zentral dirigierten Steuerungssystemen vor allem für komplex gestaltete und mehrere Ebenen betreffende institutionelle Bereiche auf die begrenze Wirksamkeit zentraler topdown-Steuerungen (vgl. z. B. Mayntz 2009; siehe auch die Beiträge in Langer 2008). Gleichwohl – so die zentrale These der folgenden Argumentation – ist gerade für die Lehrerbildung nach wie vor das deutliche Bestreben der Bundesländer erkennbar, ihre Einflussoptionen in diesem Bereich auch in den universitären Ausbildungssegmenten zu wahren.2 Vor dem hier nur angedeuteten Hintergrund wird für die folgenden Ausführungen von drei Thesen ausgegangen; diese werden in den Abschnitten 3 und 4 anhand von Dokumentenanalysen zur neu geordneten Lehrerbildung im Bundesland Berlin geprüft: – These 1: Institutionelle Akteure neigen dazu, ihre Kontroll- und Steuerungsinteressen im Rahmen von Verfügungsrechten zu wahren bzw. auszuweiten. Dies ist vor allem dann erwartbar, wenn Umverteilungsziele bezüglich bestehender Verfügungsrechte erreicht werden sollen, wie dies mit dem geänderten Lehrerbildungsmodell z. B. hinsichtlich des Ersetzens des 1. Staatsexamens durch eine rein universitäre Prüfung am Ende der lehramtsbezogenen Masterstudiengänge ansteht. Folgt man z. B. Heinrich (2008), spielen in diesem Prozess das subjektive Verständnis der ‚Organisationslogik’ sowie die wechselseitigen Rationalitätsunterstellungen zur Bewältigung der neu auftretenden Unsicherheiten und Ambivalenzen eine bedeutsame Rolle. – These 2: Wenn durch Vereinbarungen auf hierarchisch übergeordneten Ebenen, z. B. der KMK, Kontroll- und Verfügungsrechtsverluste durch Akteure hingenommen werden (müssen), ist erwartbar, dass diese Akteure diese Verluste zu begrenzen oder durch ‚Gewinne’ in angrenzenden Steuerungsbereichen auszugleichen suchen (vgl. z. B. Bandelow 2004). – These 3: Stehen die an den Aushandlungs- und Koordinierungsprozessen beteiligten Akteure unter Legitimationsdruck, ist erwartbar, dass öffentlich anerkannte Muster einschlägiger Fachsprachen – in der Lehrerbildung z. B. aus Erziehungswissenschaft, pädagogischer Psychologie und den Fachdidaktiken – genutzt werden, ohne den mit diesen Mustern verknüpften Theorien, Modellen und Konzepten notwendiger Weise gerecht zu werden. Für einen solchen Fall geht es eher um die Imitation von Konzepten, bei denen die repetitive Nutzung von Begriffen und semantischen Grundstrukturen wichtiger ist als die möglicherweise generierten Ergebnisse. Entsprechend erscheinen Aspekte von institutionellem Isomorphismus in diesem Bereich durchaus erwartbar (vgl. z. B. Meyer & Rowan 1977; Powell & DiMaggio 1983).
2
Für die dritte Phase des Ausbildungsprozesses, den Vorbereitungsdienst, ist der angesprochene Kontroll- und Steuerungsanspruch unübersehbar: Dort ist nach wie vor eine ‚close-shop’Mentalität erkennbar, obwohl diese seit Längerem kritisch diskutiert wird (vgl. z. B. Lenhard 2004, 281; Böhner 2009, 443).
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In mehrfacher Weise hat die KMK allgemeine Regelungen zu den veränderten Studienstrukturen verabschiedet, so zu den Rahmenstrukturen für Bachelor- und Masterstudiengänge (KMK 2003/2008), zur Modularisierung und zum Leistungspunktsystem (KMK 2000/2004), zur Hochschulforschung (vgl. KMK 2006) oder zur Systemakkreditierung (vgl. KMK 2007). Sie markieren einen allgemeinen Trend, die in den letzten Jahrzehnten entstandene ‚unkontrollierte’ Varianz von Studienangebotsstrukturen an den deutschen Hochschulen über zentrale Vereinbarungen deutlich zu reduzieren und dabei an den politisch reklamierten „europäischen Hochschulschulraum“ anzupassen (vgl. z. B. Witte 2008; kritisch auch z. B. Moscati 2008; Musselin 2008). In diesen Rahmen integriert sind auch die Beschlüsse zur Lehrerbildung, so der Beschluss zu den Standards für die Lehrerbildung bezüglich der Bildungswissenschaften (vgl. KMK 2004) und zu den inhaltlichen Anforderungen für die Fachdidaktiken (KMK 2008). Zeitgleich sehen sich die zuständigen administrativen Behörden in den Bundesländern einer ‚ungewohnten’ Veränderung ihrer Steuerungs- und Kontrollstrukturen ausgesetzt, dies vor allem hinsichtlich der einschlägigen universitären Studienangebote. Denn durch die verschobene Verantwortung (Bachelor und Master) verlieren die staatlich-administrativen Akteure zunächst Einfluss, nicht zuletzt auch bei der Modellierung der (Abschluss-)Prüfungen. Derzeit ist offen, wie die Handelnden in den betroffenen Institutionen auf diese veränderte Situation reagieren und ob sie mittels institutionalisierter Aushandlungs- und Koordinationsprozesse diesen ‚Verlusten’ entgegenarbeiten. Die unten stehenden Überlegungen gehen von Folgendem aus: – Die Absprachen zwischen den Bundesländern werden auf der übergeordneten Ebene entweder so formuliert, dass sie hoch interpretationsbedürftig sind und damit vor allem auf der operativen Ebene die Folgekosten ‚Steuerungsverlust’ minimieren, oder – die Akteure in den einzelnen Bundesländern versuchen, den wahrgenommenen Steuerungsverlust durch ‚Ersatz’regelungen und -instrumente in ihrem Zuständigkeitsbereich zurückzugewinnen. In der Folge wäre in einem ersten Schritt zu prüfen, inwiefern die zentral vereinbarten Regelungen in der Lehrerbildung eher die Gefahr verstärken, den Bildungsregionalismus zu stützen, und welche Reaktionen der institutionellen Akteure in den Bundesländern zur Begrenzung subjektiv wahrgenommener bzw. objektiv vorhandener Steuerungs- und Kontrollverluste erkennbar sind (zur Differenz zwischen subjektiv wahrgenommener und objektiver Institutionslogik vgl. z. B. Heinrich 2008). (a) Zum Bildungsregionalismus: Die KMK-Beschlüsse haben zwar dazu geführt, dass bundesweit die Einführung von sechssemestrigen lehramtsbezogenen Bachelorstudiengängen mit insgesamt 180 Studienpunkten beschlossen wurde; aber schon beim Lehramtsmaster liegen unterschiedliche Strukturmodelle vor bzw. stehen vor der Implementierung. (i) So ist für alle Bundesländer übereinstimmend für das Lehramt in der allgemein bildenden bzw. beruflichen Sekundar-
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stufe II der so genannte „große“ Master mit 4 Semestern und 120 Studienpunkten festgelegt. Für das Lehramt in der Primarstufe und in der Sekundarstufe I liegen jedoch unterschiedliche Interpretationen vor: So wird z. B. im Land Berlin für die Bachelorkohorte, die im WS 2010/2011 immatrikuliert wird, ein Master of Education für die beiden Lehrämter eingeführt, der formal 4 Semester und 120 Studienpunkte umfasst. Gleichzeitig wird der einjährige Vorbereitungsdienst modularisiert und in Absprache mit den Berliner Universitäten mittels 60 Studienpunkte in den Master of Education integriert. Aus rein laufbahnrechtlichen Erwägungen werden diese Studienpunkte von der einstellenden Behörde jedoch nicht als Äquivalent zu einem akademischen Studium anerkannt. (ii) Im Vergleich der Bundesländer unterschiedlich sind die Institutionen, die mit dem universitären Anteil der Lehrerbildung betraut sind – in der Mehrzahl zwar die Universitäten, in einigen Bundesländern bezüglich des Lehramtes für die Primarstufe und für die Sekundarstufe I jedoch die Pädagogischen Hochschulen (z. B. in Baden-Württemberg). (iii) Zudem sind in verschiedenen Bundesländern an der fachwissenschaftlichen Ausbildung, hier bezüglich der Lehrämter für die beruflichen Fachrichtungen, auch die Fachhochschulen beteiligt (z. B. in Nordrhein-Westfalen). Stellt sich schon die mit dem Bologna-Prozess politisch betonte Idee, europaweit einen einheitlich strukturierten Hochschulraum zu schaffen, in der faktischen Umsetzung als weitgehende ‚Illusion’ dar (vgl. z.B. Rakic 2001; Kuhlee 2008), so deutet sich für die deutsche Lehrerbildung bereits hinsichtlich der äußeren formalen Merkmale und der zugeordneten Ausbildungsinstitutionen an: Die bisherigen Vereinbarungen der Kultusministerkonferenz sind nur begrenzt dazu geeignet, die in den Beschlüssen reklamierte Vereinheitlichung real auch herbeizuführen. Denn die Bundesländer scheinen ihre bisherigen ‚Lösungen’ vor allem hinsichtlich der Ausbildungsinstitutionen auch weiterhin zu pflegen; sie nutzen die KMKBeschlüsse, um ihre bisherigen Präferenzen zu sichern. (b) Zur Aufrechterhaltung der staatlich/administrativen Kontroll- und Steuerungsmöglichkeiten: Bei allen Veränderungen in der formalen Gliederung der Ausbildungsphasen bleiben auch für die geänderte Lehrerbildung die letztlich strikten Steuerungsmerkmale aus den bisherigen Ausbildungsstrukturen erhalten. Sie gewährleisten, dass Konkurrenz von Ausbildungssystemen nicht entsteht bzw. entstehen kann. Wesentliches Merkmal hierbei ist: Die Lehrerbildung bleibt strikt konsekutiv organisiert, verbunden mit der Implementierung der zusätzlichen Selektionsstufe zwischen Bachelor und Master. Der Erwerb des einschlägigen Masterabschlusses wird zur Berechtigung, sich erfolgreich in die folgende Ausbildungsphase bewerben zu können, in einigen Bundesländern erst dadurch, dass die zuständige staatliche Stelle für jedes individuell vorgelegte Zertifikat eine Äquivalenzbescheinigung zum 1. Staatsexamen ausstellt. Gesichert wird dieser Kontroll- und Monopolisierungsprozess nicht zuletzt dadurch, dass die letzte Ausbildungsphase in der Hand der Schuladministration verbleibt – weitestgehend unkontrolliert durch außen stehende Verfahren wie Akkreditierung etc. (vgl. z. B. Böhner 2009, 443). Zudem finden sich neue Vereinbarungen und Regelungsstrukturen u.a. mit umfassendem Anspruch auf Entwicklung und Qualitätssicherung der Ausbildung (vgl. die Abschnitte 3 und 4).
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Fundierte Daten zu den damit verbundenen Prozessen und darauf basierende Analysen liegen bisher nicht vor. Im Folgenden werden die oben formulierten Thesen am Beispiel der Konstruktion der Lehrerbildung im Land Berlin kritisch geprüft. Dazu werden zwei einschlägige aktuelle Instrumente herangezogen, die mit explizitem Bezug auf den KMK-Beschluss zu den Standards in der Lehrerbildung (KMK 2004) beanspruchen, zentrale Qualitätssicherungs- und Qualitätsentwicklungsfunktionen auszuüben. Diese Instrumente sind der Berliner Qualifikationsrahmen (Abschnitt 3) und das Berliner Handbuch für den Vorbereitungsdienst (Abschnitt 4). 2. STANDARDS IN DER LEHRERBILDUNG – GENERELLE BETRACHTUNGEN Folgt man z. B. Terhart (2006), stellt die Formulierung von Standards in der bzw. für die Lehrerbildung (vgl. KMK 2004; 2008) nur eine ‚logische’ Konsequenz aus der Definition von Bildungsstandards für das Bildungssystem und deren Operationalisierung mittels überregional einsetzbarer Messinstrumente dar (zu Bildungsstandards vgl. z. B. Klieme, Avenarius u. a. 2003; Köller 2008). Im Wesentlichen werden ersteren drei wichtige Funktionen zugeschrieben: (1) die Funktion kritischer Reflexion, (2) die Funktion der empirischen Erfassung von Leistungshandeln von Lehrpersonen in Schule und Unterricht und die normativen Festlegung von Leistungsanforderungen für dieses Handeln sowie (3) die Funktion der empirisch gestützten Optimierung der Ausbildung von Lehrern (vgl. z. B. Terhart 2006). Verknüpft mit der Diskussion über Lehrerbildungsstandards ist die Debatte um die Professionalität der Lehrenden (kritisch zum Professionsbegriff vgl. z. B. Schratz, Schrittesser u. a. 2008; Beck 2009, 241). Zwar plädieren Baumert & Kunter (2006) sowie Tenorth (2006) dafür, die strukturtheoretischen Diskussionen zur Bestimmung der Lehrtätigkeit als Profession zu beenden; allerdings argumentiert z. B. Reinisch (2009, 40f.) dahingehend, die unterschiedlichen Theorieansätze und den ihnen eigenen Blick auf den Gegenstandsbereich zu nutzen, um letzteren in seiner Vielfalt und Dimensionalität auszuloten. Über alle Kontroversen hinweg macht diese Diskussion darauf aufmerksam, dass neben der inhaltlichcurricularen Expertise der professionelle Umgang mit Unsicherheit als ein zentrales Merkmal für die Tätigkeit als Lehrperson markiert werden kann (vgl. z. B. Kurtz 2009, 50ff.; Lehmann-Grube & Nickolaus 2009, 59). Damit bildet letzterer Aspekt auch einen nicht zu vernachlässigenden Bereich beim Erwerb von Lehrprofessionalität. Neben der Debatte über Professionalität und Profession verweisen die Überlegungen zur Definition von Standards in der Lehrerbildung unabdingbar auf die einschlägigen Diskussionen zum Kompetenzbegriff, zur Kompetenzbeschreibung und zur empirischen Erfassung von Lehrprofessionalität. Neben ersten Studien zur empirischen Erfassung lehrrelevanter Kompetenzen (vgl. z. B. die Beiträge in Blömeke, Kaiser & Lehmann 2008; Kunter, Klusmann & Baumert 2009; Lipowsky 2006) wird in den Überlegungen auch der Aspekt nationenübergreifender
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Ausbildungs(mindest-)standards thematisiert (vgl. z. B. Tatto 2006). Angesichts noch weitgehend ungelöster Probleme sowohl bei der Definition als auch der empirischen Erfassung von Lehrkompetenz(en) (vgl. z. B. Beck 2009, 244) plädieren z. B. Kunter, Klusmann & Baumert (2009, 162f.) für ein „weites“ Verständnis von Kompetenz; dieses solle neben der inhaltlich-curricularen sowie der unterrichtsmethodischen Expertise auch kognitive, volitionale und emotionalmotivationale Merkmale der Handlungsregulation einbeziehen. Angesichts der Fokussierung des hier vorgelegten Beitrages stellt sich die folgende Frage: Auf welche Weise werden Lehrerbildungsstandards neben der (normativen) Modellierung von Ausbildungsangeboten (vgl. Abschnitt 3) und der Beurteilung von Lehrerhandeln, z. B. während des Vorbereitungsdienstes (dazu vgl. Abschnitt 4), seitens der beteiligten institutionellen Akteure dazu genutzt, Steuerungs- und Kontrollstrukturen zu rearrangieren? Angesichts der oben skizzierten defizitären Forschungslage sollte auch die Frage gestellt werden, inwiefern diese Situation die Realisierung solcher Interessenstrukturen erleichtert. 3. DER BERLINER QUALIFIKATIONSRAHMEN FÜR DIE LEHRERBILDUNG 3.1. Der Berliner Qualifikationsrahmen als ordnungspolitisches Instrument Das Grundlagenpapier (2006) stellt die zwischen den Berliner Universitäten und dem Land Berlin geschlossene vertragliche Basis für die Umstrukturierung der Lehrerbildung dar. In diesem Dokument werden zum einen die allgemeinen Strukturmerkmale der universitären Ausbildung (Bachelor, Master, Verteilung der Studienpunkte etc.) sowie die zu realisierenden Standards für die Bildungswissenschaften festgelegt, die in Berlin Berufwissenschaften genannt werden. Diese Standards sind in dem dort dokumentierten Qualifikationsrahmen umfänglich als in der jeweiligen Ausbildungsphase (Bachelor, Master, Vorbereitungsdienst) zu erreichende Mindeststandards aufgeführt. Die ordnungspolitische Funktion dieses Rahmens wird explizit formuliert. Denn in diesem Rahmen werden die „… Kriterien für die Entscheidung über die Zustimmung zu dem Studien- und Prüfungsordnungen durch die Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur (SenWFK) und die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport (SenBJS)“ bereitgestellt (Grundlagenpapier 2006, 4).
Damit wird der staatlichen Administration ein Instrument in die Hand gegeben, mittels dessen sie jenseits der gleichzeitig erfolgenden Akkreditierung der lehramtsbezogenen Studiengänge durch nicht staatlich kontrollierte Akkreditierungsanstalten die Einrichtung dieser Studiengänge an Berliner Universitäten aktiv steuern kann. Bezogen auf die These 2 (Abschnitt 1) zeigt sich: Konsentiert mit den Berliner Universitäten, ist es den staatlich-administrativen Akteuren mittels des Qualifikationsrahmens nicht nur gelungen, Steuerungsverluste zu begrenzen, die über die Aufgabe des 1. Staatsexamens und der Platzierung der äquivalenten
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Prüfungsmodellierung in den universitären Verantwortungsbereich zunächst hingenommen wurden; darüber hinaus ist erkennbar, dass tendenziell sogar Steuerungs- und Kontrollgewinne gesichert werden konnten. 3.2. Der Berliner Qualifikationsrahmen als normative Matrix von Lehrerbildungsstandards Der Qualifikationsrahmen stellt eine Matrix dar, in der in der Horizontalen als Kategorien die drei Phasen der Lehrerbildung (Bachelor, Master und Vorbereitungsdienst) und in der Vertikalen die formulierten Standards abgebildet sind (n = 82); diese Struktur ist für alle Lehrämter identisch (Grundlagenpapier 2006, 25ff.). Faktisch besteht der Qualifikationsrahmen aus zwei strukturell identischen Matrizen, in denen lediglich die Zuordnung der unterschiedenen Kompetenzstufen differiert: Die eine Matrix bezieht sich auf die Lehrämter für die Primar- und die Sekundarstufe I, die andere auf die Lehrämter für die Sekundarstufe II. Beide Matrizen bestehen aus insgesamt 246 Zellen. Allerdings sind nur 159 dieser Zellen (65 %) durch Eintragung einer Kompetenzstufe („ansatzweise“, „weitgehend“ bzw. „berufsbefähigend“) und/oder des zuständigen Bereichs (Erziehungswissenschaft, Fachdidaktik, Kombination der Bereiche, Querschnittsaufgabe) besetzt. Standards
Bachelorphase
Masterphase
erläutern und beurteilen anderen gegenüber Fragestellungen und Ergebnisse ausgewählter fachdidaktischer Forschung FD
ansatzweise
weitgehend 12 LP/SP
kennen allgemeine und fachbezogene Didaktiken und wissen, was bei der Planung von Unterrichtseinheiten beachtet werden muss FD (EWI)
ansatzweise
berufsbefähigend 12 LP/SP
wissen, wie sie weiterführend Interesse und Grundlagen des lebenslangen Lernens im Unterricht entwickeln EWI/FD
berufsbefähigend 12 LP/SP
kennen etwaige Benachteiligungen von Schülerinnen und Schülern beim Lernprozess und Möglichkeiten der pädagogischen Hilfen und Präventivmaßnahmen
berufsbefähigend 12 LP/SP
erkennen Benachteiligungen und realisieren pädagogische Hilfen und Präventionsmaßnahmen FD (EWI)
Vorbereitungsdienst
berufsbefähigend
Abb. 1: Beispiel aus dem Qualifikationsrahmen (Grundlagenpapier 2006, 46)
Begründungen für die Konstruktion dieser Matrix in dem verwendeten Format werden im Grundlagenpapier nicht genannt. Es handelt sich somit um eine normativ gesetzte Zahl und Auswahl von als „Standards“ bezeichneten Formulierungen. Diese benennen das von den Studierenden und Referendaren im Ausbildungsprozess verbindlich zu erwerbende Wissen, Handeln und Reflektieren. Dabei werden
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diesen Standards die jeweils zu erreichenden Kompetenzstufen ebenfalls normativ zugeordnet. Die Benennung des Studienbereichs während der beiden universitären Ausbildungsphasen (Bachelor und Master), der für die Implementierung des jeweiligen Standards verantwortlich zu zeichnen hat (z. B. Erziehungswissenschaften),3 erfolgt ohne weitere Explikation ebenfalls als eine normative Setzung. Der definitorisch-regulative Anspruch für die Gesamtmatrix ist eindeutig; er unterstreicht die oben schon dargestellte ordnungspolitische Funktion: „Entscheidend für das Verständnis des Qualifikationsrahmens ist grundsätzlich, dass Mindestanforderungen an die Ausbildung beschrieben werden. Es ist also nicht ausgeschlossen, zusätzliche Aspekte aufzunehmen, sofern die Mindestanforderungen gewahrt bleiben und das zur Verfügung stehende LP/SP-Kontingent eingehalten wird“ (Grundlagenpapier 2006, 26).4
In der Verknüpfung von ordnungspolitischer Funktion und der inhaltlichen Fixierung der berufswissenschaftlichen Lernangebote stellt der Qualifikationsrahmen damit ein Instrument dar, mit dessen Hilfe zwei Steuerungsansprüche bereits auf der Ebene formaler Abgleiche zwischen Modulbeschreibungen und Standardbenennungen im Qualifikationsrahmen realisiert werden können: (a) die interinstitutionelle Koordination hinsichtlich der Genehmigung von Studiengängen seitens der zuständigen Senatsverwaltung einerseits sowie (b) die Einflussnahme auf inneruniversitäre Konstruktions- und Implementierungsprozesse für die einschlägigen Studiengänge. Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf die Matrix für die Lehrämter in der Sekundarstufe II, die auch für die Lehrämter mit beruflicher Fachrichtung gilt: Für die Bachelorphase, in der sich nur 18 % der Studienanteile auf die Bildungs-/Berufswissenschaften beziehen, liegen 24 Nennungen von zu erreichenden Kompetenzstufen vor (15 %). Für die Masterphase mit deutlich erhöhten berufswissenschaftlichen Anteilen (ca. 60% des Studienzeitkontingents) erfolgen 74 Nennungen (47 %), für den Vorbereitungsdienst liegen 61 Nennungen (38 %). Warum die Verteilung auf diese Weise vorgenommen wurde, ist weder explizit noch implizit erschließbar. 3.3. Der Berliner Qualifikationsrahmen – inhaltsanalytische Befunde Vor dem Hintergrund der im Abschnitt 2 skizzierten Diskussion stellt sich für normative Regulationsinstrumente im Bereich von Ausbildung die Frage nach der Qualität des jeweiligen Instruments dann besonders, wenn der einschlägige Forschungsstand als defizitär zu kennzeichnen ist und wenn gleichzeitig mit dem Instrument weitreichende Steuerungsansprüche verknüpft sind. Die folgenden Aus-
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Diese Zuordnungen erfolgen nur für die Bachelor- und Masterphase. Weder bezüglich der analytisch unterschiedenen Kompetenzstufen noch bezüglich der Zuständigkeitszuschreibungen sind weitere Ausführungen zu finden. LP/SP = Leistungs-/Studienpunkte
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wertungen konzentrieren darauf, die textuelle Datenbasis inhaltsanalytisch auf die zentralen Begrifflichkeiten zu untersuchen.5 (a) Berufsbefähigung Berufsbefähigung kann als zentrales Ziel (nicht-)akademischer Berufsausbildung gelten. Auf diesen zunehmend zentralen Aspekt der Passfähigkeit von Ausbildung und Arbeitsmarkt verweist für den Bereich der akademischen Studienangebote die Diskussion zur sogenannten Beschäftigungsfähigkeit (employability).6 Im Bereich von Schule und Unterricht stellt die Formulierung und Messung von Bildungsstandards einen möglichen Zugang dar, um den Erwerb von Kompetenzen zu beschreiben, die auch außerhalb der Institution Schule für Problemlösungen genutzt werden können. Welche Probleme für die Definition, vor allem jedoch für die empirische Erfassung von Bildungsstandards dann entstehen, wenn solche Standards sich auf die Erfassung von Tätigkeitsstrukturen in beruflich organisierter Arbeit und deren prüfungssituationale Abbildung beziehen, machen die Arbeiten in der beruflichen Bildung deutlich (vgl. z. B. Winther 2009). Denn dort stellt die Sicherstellung der Authentizität der in den Prüfungssituationen simulierten Anforderungskontexte ein entscheidendes Qualitätskriterium dar. Für die Lehrerbildung geht es letztlich genau um die Lösung der Probleme, die für die nichtakademische berufliche Bildung skizziert wurden. Zwar verwendet die Professionalisierungsdiskussion in der Lehrerbildung in Teilen eine im Vergleich zur nichtakademischen Berufsausbildung differente Nomenklatur, zielt mit ihren Konzepten jedoch auf vergleichbare Problemkontexte. Zur Verwendung des Begriffs „berufsbefähigend“: Im Grundlagenpapier (2006) wird kein Bezug auf diese Diskussionen hergestellt; was unter „Berufsfähigkeit“ zu verstehen sei, wird im Dokument nicht erläutert. Allerdings impliziert das Handbuch Vorbereitungsdienst (2008) durch die dortige Formulierung von Kompetenzen und deren Operationalisierung über Indikatoren ein weitestgehend unspezifisches Verständnis dieses Begriffs (vgl. Abschnitt 4). Vor dem Hintergrund der These 3 (Abschnitt 1) bleibt festzuhalten: Die sprachliche Etikette „berufsbefähigend“ offeriert nur ein diffuses Verständnis des durch die Ausbildung zu erreichenden Zielzustandes. Die im unten stehenden Punkt (c) beschriebenen 5
6
Methodische Vorgehensweise in Anlehnung an Mayring (2004) (vgl. auch Mayring 2002, 114ff.). Ohne das Programm MAXQDA für die Analyse zu nutzen, wurde wesentlich entlang den Schritten vorgegangen, wie sie in Kuckartz (2005, 123ff.) beschrieben sind. Insgesamt wurden die Zeilen des Qualifikationsrahmens daraufhin analysiert, inwiefern die drei analytisch unterschiedenen Kompetenzstufen über die Ausbildungsphasen so ‚verteilt’ sind, dass ein zumindest normativ gesetzter sukzessiver Zuwachs an Kompetenz erkennbar ist. Die Analysen wurden unabhängig von zwei Experten vorgenommen, die Gruppenbildung diskursiv entwickelt, die Zuordnung der Einzelfälle (=Kompetenzzeilen der Matrix) wiederum unabhängig vorgenommen und die Ergebnisse auf Übereinstimmung geprüft. Abweichungen im Vergleich der individuellen Einordnung lagen nicht vor. Vgl. z. B. Wex (2005); Rehburg (2006); auch Bloch (2009) zur employability der ‚alten’ Studiengänge; kritisch vgl. z. B. Kuhlee & van Buer (2009, 491); van Buer, Kohring & Frasch (2009, 16ff.).
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Befunde verweisen darüber hinaus darauf, dass die inhaltliche Dimensionierung dieses Begriffes durch die Formulierung der normativ gesetzten Standards ebenfalls nur begrenzt rekonstruierbar ist. Zur Verteilung der Kompetenzstufe „berufsbefähigend“: Im Qualifikationsrahmen ist die Kompetenzstufe „berufsbefähigend“ für die Lehrämter der Sekundarstufe II für 82 % der benannten Standards vorgesehen (für die Lehrämter der Primar- bzw. der Sekundarstufe I für nur 66 %). Warum dieser Kompetenzzustand zum Ausbildungsabschluss (über die drei Ausbildungsphasen hinweg) nicht für alle Standards zumindest normativ eingefordert wird, wird nicht diskutiert. Zwei Beispiele, für die der Kompetenzzustand der Berufsbefähigung als Mindeststandard bis zum Abschluss der Berufsausbildung, also bis zur Beendigung des Vorbereitungsdienstes, nicht vermittelt werden muss, seien an dieser Stelle stellvertretend angeführt: Standard „… kennen interkulturelle Dimensionen bei der Gestaltung von Bildungs- und Erziehungsprozessen“ (Kompetenzstufe „ansatzweise“ im Bachelorstudium; „weitgehend“ im Master) (Grundlagenpapier 2006, 48); Standard „… kennen die Bedeutung geschlechtsspezifischer Einflüsse auf Bildungs- und Erziehungsprozesse“ (Kompetenzstufe „ansatzweise“ im Bachelorstudium; „weitgehend“ im Master) (Grundlagenpapier 2006, 49).
(b) Erwerb von Kompetenzen im Sinne kumulativen Lernens Im Beschluss der KMK zu Standards für die Lehrerbildung (KMK 2004), auf das sich auch das Berliner Grundlagenpapier (2006) bezieht, wie auch in der einschlägigen Fachdiskussion (vgl. z. B. Kunter, Klusmann & Baumert 2009) wird für die Sicherung des intendierten Erwerbs von Lehrprofessionalität über die drei Ausbildungsphasen hinweg die Implementierung von Konzepten kumulativen Lernens gefordert (vgl. auch Terhart 2009, 424f.). Vor diesem Hintergrund haben van Buer, Kohring & Frasch (2009, 56f.) den Qualifikationsrahmen hinsichtlich der Frage analysiert, inwiefern über die normative Zuordnung der zu erreichenden Kompetenzstufen zu den einzelnen Ausbildungsphasen Konzepte kumulativen Lernens zumindest intendiert sind. In der Zusammenfassung der Befunde kann festgehalten werden, dass nur bezüglich 17 der 82 Standards (21 %) ein solches Konzept erkennbar ist. 15 dieser 17 mit „berufsbefähigend“ etikettierten Standards stellen eine so genannte „Querschnittaufgabe“ dar; ihre Vermittlung ist keiner der beteiligten Berufswissenschaften (Erziehungswissenschaft, Fachdidaktiken) spezifisch zugeordnet, unterliegt auch keiner besonderen Verantwortung eines Studienbereichs, sondern ist in allen Studienanteilen auffindbar. Als Beispiel diene an dieser Stelle der folgende Standard: „… reflektieren und wählen Zielsetzungen, Inhalte, Erkenntnismethoden und mediale Repräsentationen aus fachlicher Perspektive“ (Grundlagenpapier 2006, 42).
Insgesamt wurde bei der Konstruktion des Qualifikationsrahmens entweder nicht auf Konzepte zurückgegriffen, mit deren Hilfe über die drei Ausbildungsphasen hinweg kumulatives Lernen gestützt wird. Oder aber solche Konzepte wurden im
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Verlauf des Aushandlungsprozesses zwischen den Vertretern der Universitäten und der beteiligten staatlichen Administration durch die erzielten Konsense ‚überlagert’.7 (c) Zum Verhältnis von Wissen, Handeln und Reflexion im Berliner Qualifikationsrahmen Die einschlägige Diskussion zur Beschreibung und Erfassung von Kompetenzen (vgl. z. B. den Überblick in Winther 2009) hat auch für die Lehrerbildung dazu geführt, dass systematisch die Frage nach dem Erwerb unterschiedlicher Wissenssorten (z. B. deklaratives, prozedurales und konditionales Wissen), nach Domainen(un)spezifität des Wissens sowie nach Handlungsregulationen gestellt wird (vgl. z. B. das COACTIV-Modell in Kunter, Klusmann & Baumert 2009, 155). Bei allen Unterschieden im Einzelnen zielt das Verständnis von Kompetenz wesentlich auf die Planung, Implementierung und Evaluierung von Problemlösungen in variierenden komplexen Situationen. Mit Bezug auf die Überlegungen im Abschnitt 2 geht es im Verlaufe des Ausbildungsprozesses einerseits darum, den professionellen Umgang mit Unsicherheit im Sinne der reflektierten Verknüpfung unterschiedlicher Wissenssorten und der Kontext angemessenen Konstruktion von (unterrichtlichen) Planungsentwürfen zu erwerben. Andererseits sollten Ausbildungsprozesse darauf zielen, Selbst- und Fremdbeobachtung als eine wesentliche Grundlage für die kritische Reflexion des eigenen Tuns und der dafür relevanten Kontexte zu erlernen bzw. zu stärken (vgl. Terhart 2001, 40ff.; Schratz, Schrittesser u. a. 2008). Für die Analyse des Berliner Qualifikationsrahmens stellt sich damit die Frage, inwieweit solche Überlegungen dort ausgewiesen bzw. inwiefern bei der Formulierung der 82 (Mindest-)Standards Aspekte eines solchen Professionalitätsverständnisses nachgezeichnet sind. Die inhaltsanalytische Auswertung des Dokuments führt zur Unterscheidung von drei Kategorien: (a) Wissen (Formulierungen wie „kennen“, „verfügen über Kenntnisse“ etc.), (b) Reflexion („reflektieren“ etc.) und (c) Handeln (Formulierungen wie „planen“, „gestalten“, „wählen“ etc.). Bei den sprachlichen Etiketten, die in die Kategorie „Wissen“ einzuordnen sind, ist nicht zuverlässig erkennbar, dass auf konditionales Wissen Bezug genommen wird (vgl. van Buer, Kohring & Frasch 2009, 57ff.). Sichtbar ist allerdings, dass deklaratives bzw. prozedurales Wissen angesprochen wird. Im Einzelnen ist festzuhalten:8 7 Laut Grundlagenpapier (2006) waren Verwaltungsbeamte, Erziehungswissenschaftler und Fachdidaktiker als Mitglieder der AG Struktur und der AG Berufswissenschaften am Erstellungsprozess des Dokuments beteiligt. 8 Im Vergleich der Rahmen für die Lehrämter in der Primarstufe bzw. der Sekundarstufe I einerseits und der Sekundarstufe II andererseits erfolgt die Menge der benannten Kompetenzstufen strikt gleichförmig; nur die Anzahl der zu erreichenden Kompetenzstufen in den drei Stufen differiert. Vergleichend ist festzuhalten: Billigt man der normativen Struktur des Berliner Qualifikationsrahmens faktisch wirkende Funktionen zu, erwerben künftige Lehrer an Grundschulen und an Schulen der Sekundarstufe I weniger Kompetenzen als ihre Kollegen an der Sekundarstufe II. Dies bezieht sich laut Qualifikationsrahmen vor allem auf die Kompetenzstufen „weitgehend“ und „berufsbefähigend“ (vgl. van Buer, Kohring & Frasch 2009, 54).
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Deklaratives Wissen: 43 der 82 Standards (52 %) sind dieser Kategorie zuzuordnen. Der Qualifikationsrahmen ist auch bezüglich der Kompetenzstufe „berufsbefähigend“ weitgehend durch Standards geprägt, die auf diese Form von Wissen zielen. Prozedurales Wissen: 10 Standards (12 %) fallen in diesen Bereich. Sie beziehen sich im Wesentlichen auf das Begründen von Bewertungen und das Aufzeigen von Perspektiven für weiteres Lernen. Handeln: 24 Standards (29 %) zielen erkennbar auf (unterrichtliches) Handeln (z. B. „… setzen Formen des konstruktiven Umgangs mit Normkonflikten ein“; Grundlagenpapier 2006, 39). Reflexion: Nur 5 der 82 Standards (6 %) beziehen sich auf den reflexiven Umgang mit Wissen und Handeln. Dabei werden die unter dieser Kategorie zu subsummierenden Standards mehrheitlich in der sprachlichen „und“Verknüpfung mit einer Formulierung verwendet, die einer der drei anderen Kategorien zuzuordnen ist.
Aspekte, die in der einschlägigen Diskussion zur Lehrprofessionalität unter dem Stichwort „Umgang mit Unsicherheit“ thematisiert werden, werden im Qualifikationsrahmen durch die in der Berliner Lehrerausbildung zu erwerbenden Mindeststandards nicht angesprochen. Dieser Kompetenzbereich scheint in den Aushandlungsprozessen ausgeblendet, zumindest bis zur Unkenntlichkeit überlagert worden zu sein (vgl. These 2; Abschnitt 1). Weiterhin sprechen die Befunde für die These 3; denn im neu geschaffenen Berliner Qualifikationsrahmen wird eine der aktuellen Diskussion angepasste begriffliche Nomenklatur verwendet, die es formal ermöglicht, den mit der Implementierung dieser Matrix verknüpften Legitimationsanforderungen gerecht zu werden, ohne den an die sprachlichen Etikette gebundenen Konzepten zu folgen. 4. DAS BERLINER HANDBUCH VORBEREITUNGSDIENST – VON DEN STANDARDS ZUR BEURTEILUNG VON REFERENDAREN 4.1. Das Handbuch Vorbereitungsdienst als ordnungspolitisches Instrument Das Handbuch für den Berliner Vorbereitungsdienst verfolgt ein dem Qualifikationsrahmen durchaus vergleichbaren Steuerungsanspruch: „Das hier vorliegende Handbuch zum Vorbereitungsdienst fasst alle notwendigen Informationen und Unterlagen zum veränderten Vorbereitungsdienst zusammen. Damit ist das Handbuch nicht nur ein Nachschlagewerk, sondern der verbindliche Handlungsrahmen für eine vergleichbare Ausbildung“ (Handbuch Vorbereitungsdienst 2008, 4).
Unterstrichen wird dies dadurch, dass die im Handbuch ausgewiesenen Beurteilungsregularien für die Leistungen der Referendare explizit mit der Berliner Lehrerprüfungsordnung (2. LPO) sowie der Lehrerausbildungsordnung (LAusbO)
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verknüpft sind. Gleichzeitig spricht der folgende Umstand dafür, dass für die Realisierung des Vorbereitungsdienstes nach wie vor die im Abschnitt 1 bereits angedeutete ‚close-shop’-Mentalität bestimmend ist: Der im Handbuch (15ff.) abgedruckte Qualifikationsrahmen aus dem Grundlagenpapier (2006), der zwischen der zuständigen Administration und den Berliner Universitäten als verbindliche Vertragsgrundlage für alle drei Phasen der Lehrerbildung vereinbart ist, wurde an mehreren Stellen ohne Absprache mit den universitären Vertragspartnern signifikant verändert (vgl. van Buer, Kohring & Frasch 2009, 69). So wurden einzelne Standards umformuliert, die Zuweisung von Kompetenzstufen zu den einzelnen Ausbildungsphasen verändert und schließlich 110 zusätzliche Kompetenzindikatoren aufgenommen. Insgesamt stellt das Handbuch ein mehrebig gestaltetes Dokument dar, in dem ein zumindest nominell schlüssiger ‚Ableitungszusammenhang’ vorgelegt wird. Der Qualifikationsrahmen für Berufswissenschaften (1) und die Modularisierung des Vorbereitungsdienstes in zwei Module mit jeweils fünf Bausteinen (2) wird zu zwei großen Kompetenzbereichen verdichtet („Unterrichts- und Erziehungskompetenz“ sowie „Personale und soziale Kompetenzen“) (3). Letztere wiederum werden in jeweils vier Kompetenzfelder aufgeschlüsselt (4). Diese werden in je zehn Kompetenzkomponenten ausdifferenziert (5) und dann durch die schon erwähnten 110 Indikatoren näher beschrieben (6). Dieses Gesamtwerk wird dann letztlich (7) in ein für die Erteilung der Berufsberechtigung relevantes Raster zur Beurteilung der Kompetenzentwicklung von Referendaren in den benannten großen Kompetenzbereichen überführt (Handbuch Vorbereitungsdienst 2008, 35ff.).
4.2. Zum Anspruch theoretischer Fundierung Anders als im Qualifikationsrahmen (Abschnitt 4) sind den Festlegungen und Normierungen im Handbuch Erörterungen vorgeschaltet; diese reichen von Ausführungen zum Bologna Prozess über die Modularisierung und Organisation des Vorbereitungsdienstes bis hin zu Explikationen über dessen Kompetenzorientierung (Teil „A Grundlagen“). Weiterhin ist in „C Anhang“ z. B. ein Glossar zu finden, in dem insgesamt 16 Begriffe wie „Bausteine“, „Beurteilung“, „Kompetenzentwicklung“ etc. erläutert werden. Deutlich erkennbar ist der Anspruch, die inhaltliche Gestaltung des Vorbereitungsdienstes an die aktuelle Debatte in den einschlägigen Bezugswissenschaften sowie die Beschlüsse der KMK zu koppeln. Gleichzeitig wird jedoch auch notiert, dass die mit dem jeweils gewählten Ausschnitt aus der relevanten Wissenschaftssprache verknüpften Konzepte zumindest aus der Sicht der institutionellen Akteure „in der Praxis nur schwer zu gebrauchen“ seien (Handbuch Vorbereitungsdienst 2008, 12). Auf welche Weise die Balance zwischen wissenschaftlich basierten Konzepten und deren ‚pragmatischer’ Anpassung für die „Praxis“ unterstrichen wird, zeigt das Kapitel 4 des Handbuchs (11ff.): Ausgehend von der Kompetenzdefinition von Weinert (2001) wird dort festgestellt, dass eine „Vereinfachung, um den Ansprüchen in der Schul- und Ausbildungspraxis gerecht zu werden“ (29), notwendig sei. Diese führt zu der folgenden „praxisnahe(n) Definition“;
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folgt man den Handbuchautoren, sei diese mit der Ausgangsdefinition von Weinert vereinbar: „Eine Kompetenz ist die (individuelle) Fähigkeit, variable Anforderungen und Probleme in situationsspezifischen (schulischen) Handlungsfeldern erfolgreich zu bewältigen“ (12). Kompetenzentwicklung wird verstanden als „kumulative(r) Ausbau der Fähigkeit, domainenspezifische Anforderungen und Probleme bewältigen bzw. lösen zu können“ (13).
Insgesamt erfolgt eine deutliche Konzentration auf den kognitiven Aspekt von Kompetenz und Kompetenzerwerb. Aspekte der emotionalen, motivationalen und volitionalen Handlungsregulation, wie sie in der Definition von Weinert (2001) systematisch angelegt und die das Verständnis von Lehrkompetenz z. B. der COACTIV-Studie von Kunter, Klusmann & Baumert (2009) signifikant mitbestimmen (vgl. Abschnitt 3), sind ebenso wie im Qualifikationsrahmen nicht Gegenstand der vorgelegten Standard- bzw. Kompetenzbenennungen und deren Beschreibung durch die Indikatoren (zur Übersicht über Mängel im Umgang mit dem Kompetenzbegriff und demjenigen des kompetenzorientierten Unterrichts vgl. van Buer, Kohring & Frasch 2009, 64ff.). Ganz offensichtlich wird über die strukturelle Gestaltung des Handbuchs versucht, den Lesern einen schlüssigen Ableitungszusammenhang zwischen wissenschaftlich begründbarer Begrifflichkeit und den in den Einzelinstrumenten getroffenen Wahlen von Kompetenzen und Kompetenzbereichen nahe zu legen. Dies gilt ebenso für die im Handbuch vorgenommene und nicht weiter kommentierte Interpretation der einzelnen Kompetenzkomponenten durch Indikatoren. Allerdings wird die Differenz zwischen dem im Handbuch aufscheinenden Ableitungsanspruch einerseits und der argumentativ nachvollziehbaren Konsistenz andererseits spätestens an den Stellen unübersehbar, an denen die Standards bzw. Kompetenzformulierungen durch (verbindliche) Indikatoren interpretiert werden: Denn i. d. R. wird über die Indikatoren eine nur begrenzt nachvollziehbare semantische Verschiebung bzw. Eingrenzung vollzogen;9 darüber hinaus sind auch durchaus fragwürdige Indikatorformulierungen zu finden.10
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Beispiel 1: Standard = „… beurteilen kritisch die wichtigsten Schulbücher, Lehr- und Lernmaterialien für ihre Fächer und setzen sie in ihrem Unterricht sinnvoll ein“ Æ Indikatoren = „… analysieren Schulbücher, Lehr- und Lernmaterialien hinsichtlich ausgewählter fachbezogener Aspekte“ und „… setzen diese im Unterricht funktional ein“ (Handbuch Vorbereitungsdienst 2008, 18). Beispiel 2: Standard = „… erläutern und beurteilen anderen gegenüber Fragestellungen und Ergebnisse ausgewählter fachdidaktischer Forschung“ Æ Indikatoren = „…kenne den aktuellen Forschungsstand der Fachdidaktik“ und „… passen wissenschaftliche Kenntnisse und Ergebnisse weitgehend dem jeweiligen Gesprächspartner an“ (22). 10 Standards = „… kennen die Grundlagen der Lernprozessdiagnostik“ und „… erkennen Begabungen und kennen Möglichkeiten der Begabtenförderung“ Æ Indikator = „… kennen Angebote zur Begabtenförderung“ (Handbuch Vorbereitungsdienst 2008, 23).
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5. ZUM DILEMMA VON ENTWICKLUNGSANSPRUCH UND FORMALER LEGITIMATION NEU GESCHAFFENER INSTRUMENTE ZUR QUALITÄTSSICHERUNG IN DER LEHRERBILDUNG Die Reformen im Kontext des Bologna-Prozesses haben zu deutlichen Veränderungen in der deutschen Hochschullandschaft geführt. Dies gilt auch für die universitäre Lehrerbildung; u.a. wurden hier vormals staatliche Verantwortungsbereiche, insbesondere im Prüfungswesen, von der dortigen Administration an die universitären Institutionen abgegeben. Zeitlich überlagert zeigen sich diese Entwicklungen von der Diskussion um die Professionalität der deutschen Lehrer; besondere Aufmerksamkeit erfährt diese Debatte derzeit in Folge der Befunde aus den (inter-)nationalen Leistungsstudien zu den allgemein bildenden Schulen (vgl. z. B. PISA-Konsortium 2003, 2007; als Überblick vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008) und im Kontext der zunehmenden empirischen Befunde zur Lehrprofessionalität deutscher Lehrer im internationalen Vergleich (vgl. z. B. die Beiträge in Blömeke, Kaiser & Lehmann 2008). Entsprechend erhält der Anspruch, die Lehrerbildung an die veränderten gesellschaftlichen Ansprüche an Schule und Unterricht anzupassen, eine besonderes bildungspolitisches Gewicht. Seit einiger Zeit werden neue Instrumente der Qualitätssicherung in der Lehrerbildung implementiert, teils in Absprache und Koordination zwischen den zuständigen staatlich-administrativen Stellen und den (universitären) Anbietern von Studiengängen. Dabei wird im Besonderen auf den mit den neuen Instrumenten definierten Qualitätsentwicklungsanspruch verwiesen. Ausgehend von drei Thesen zu Steuerungsansprüchen und deren Realisierung durch institutionelle Akteure (Abschnitt 1) wird in dem hier vorgelegten Beitrag am Beispiel des Landes Berlin mittels Dokumentenanalysen untersucht, welche Hinweise die neu konstruierten Instrumente, hier im Besonderen der Qualifikationsrahmen und das Handbuch Vorbereitungsdienst, auf die Ausbalancierung von beanspruchter Qualitätsentwicklung auf der einen Seite und Steuerungs- und Kontrollansprüchen der beteiligten Akteure auf der anderen Seite geben. (a) Zur These 3 „etikettenhafte Verwendung wissenschaftlicher Sprache“: Die in den beiden Dokumenten verwendeten Begriffe und semantischen Konstruktionen reklamieren den Bezug auf die derzeit diskutierten veränderten Erfordernisse in der Lehrerbildung entlang den aktuellen wissenschaftlichen Diskursen. Dies weisen sie vor allem durch die Übernahme zentraler sprachlicher Etiketten aus den relevanten Bezugswissenschaften wie den Erziehungswissenschaften, der pädagogischen Psychologie und den Fachdidaktiken aus. Gleichzeitig wird allerdings auch unübersehbar: Mit normativ eingeforderter, argumentativ jedoch nicht weiter ausgewiesener Legitimation durch die so genannte ‚pragmatische’ Perspektive, die im Ausbildungsalltag zu wahren sei, werden die mit diesen Bezeichnungen verknüpften Konzepte in Teilen auf ‚rigorose’ Weise verändert. In der Konsequenz kann daher vielfach nur noch von etikettenhafter Sprachnutzung gesprochen werden. Darauf verweisen die vorgelegten Befunde zur inneren Struktur der beiden exemplarisch analysierten Berliner Instrumente; denn dort sind z. B. nur rudimentär explizierte Begründungen für Art, Umfang und Dimensionalität der
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Benennungs- und Zuordnungsmuster für Standards, Kompetenzen und Indikatoren zu finden. Fokussiert man wie in dem hier vorgelegten Beitrag Steuerungsund Kontrollinteressen der von den beschlossenen Veränderungen betroffenen Akteure, kann von Folgendem ausgegangen werden: Bezüglich der inhaltlichen Argumente zur Qualitätsentwicklung der neu implementierten Instrumente sind starke Defizite unübersehbar; darüber hinaus sprechen die vorgelegten Befunde dafür, dass diese signifikant tiefer greifend sind als notwendig, wenn die verfügbaren wissenschaftlich gesicherten Wissensrepertoires systematisch genutzt worden wären. Gleichwohl scheint es nachhaltig zu gelingen, den mit der Konstruktion und Implementierung dieser Instrumente entstandenen Legitimationsdruck für die beteiligten institutionellen Akteure bereits durch die sprachliche Passfähigkeit der verwendeten Textetiketten mit der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion zu minimieren. Für die Sicherung dieser Legimitationsinteressen erweist sich der beanspruchte, im Detail jedoch nur begrenzt ausgewiesene Rückgriff auf die bundesweiten Vereinbarungen der KMK als zusätzlich hilfreich. Insgesamt sprechen diese Befunde für die Annahme der These 3. Entgegen ihrer offiziellen Definition und dem dort explizierten Qualitätsanspruch folgen die analysierten Dokumente unübersehbar den Prinzipien eines institutionellen Isomorphismus (vgl. z. B. Meyer & Rowan 1977; Powell & DiMaggio 1983), bei dem die Passfähigkeit der etikettenhaft verwendeten Semantik (zunächst) wichtiger ist als die realisierten Ergebnisse selbst. Darüber hinaus spricht vieles dafür, dass die im Abschnitt 2 skizzierte defizitäre Forschungssituation im Bereich von Lehrerbildungsstandards die oben angesprochenen Prozesse zumindest erleichtert, wenn nicht sogar fördert. (b) Zur These 2 „Begrenzung von Steuerungsverlusten durch institutionelle Akteure“: Wie mehrfach angesprochen, wurden mit der Neuordnung der Lehrerbildung zwar Verantwortungsbereiche, die bisher in der Hand staatlichadministrativer Akteure lagen, an die Anbieter der lehramtsbezogenen Studiengänge übergeben. Gleichwohl scheint es den staatlich-administrativen Stellen gelungen zu sein, im Rahmen der nach wie vor strikt konsekutiv geordneten Ausbildungsstruktur über die ordnungspolitische Funktion der neu konstruierten Instrumente ihren Steuerungs- und Kontrollanspruch Verluste zumindest stark zu begrenzen. Denn die Festlegungen für die universitären Studienangebote umfassen nicht nur deren formale Struktur (Bachelor, Master, Zeitstruktur, Zeitkontingentverteilung auf Module etc.), sondern sie ermöglichen auch tiefere Eingriffe in die inhaltliche Gestaltung der Curricula und Ausbildungsprozesse (z. B. über die Verteilung der Standards über Ausbildungsphasen etc.). (c) Zur These 1 „Bildungsregionalismus in der Lehrerbildung“: Gerade aufgrund der oben angesprochenen Prozesse ist nicht zu erwarten, dass die Beschlüsse der KMK zur Lehrerbildung den deutschen Bildungsregionalismus effektiv begrenzen. Dies zeigt sich nicht nur bezüglich der Nutzung der KMK-Beschlüsse hinsichtlich der institutionellen Gestaltung der Ausbildungsprozesse, sondern auch bezüglich deren inhaltlicher Gestaltung. In den beiden analysierten Berliner Dokumenten ist erkennbar, dass dort die Formulierung z. B. der Lehrerbildungsstandards durch die KMK (2004) nur in wenigen Fällen direkt übernommen,
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mehrheitlich jedoch ein nur formaler, inhaltlich nicht explizierter Bezug realisiert wird. Dabei können die oben in der These 3 skizzierten Phänomene von institutionellem Isomorphismus geradezu als ‚Motoren’ angesehen werden, den Bildungsregionalismus zu stärken. Die vorgelegten Befunde beziehen sich auf ein Bundesland und dort auf zwei, wenn auch zentrale Beispiele. Zu untersuchen bleibt daher, inwiefern sich im Vergleich der Bundesländer in den dort verwendeten Qualitätssicherungs- und -entwicklungsinstrumenten ähnliche Muster zeigen, wie sie im Kontext der beiden hier analysierten Instrumente zu finden sind. Idealiter zu koppeln wäre dies mit der empirisch gesicherten Beantwortung der Frage, inwiefern die hypothetisch unterstellten Prozesse und die aufgezeigten Ergebnisse auf expliziten Intentionen der beteiligten Akteure basieren oder ob dies ein eher ‚ungewolltes’ Ergebnis der vollzogenen Aushandlungsprozesse darstellt. Die Frage, wie die Akteure ‚vor Ort’ in den Hochschulen bzw. im Vorbereitungsdienst mit den daran beteiligten Institutionen (Studienseminar und Schulen) die Instrumente nutzen und die aufgezeigten Problemlagen ggf. moderieren, muss ebenfalls der empirischen Prüfung vorbehalten bleiben. LITERATUR Autorengruppe Bildungsberichtserstattung (2008): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Bertelsmann: Bielefeld. Bandelow, N. C. (2004): Governance im Gesundheitswesen: Systemintegration zwischen Verhandlung und hierarchischer Steuerung. In: Lange, S. & Schimank, U. (Hrsg.): Governance und gesellschaftliche Integration. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 89-110. Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 9(4), 469-520. Beck, K. (2009): Strategien empirischer Forschung zur Professionalität von Lehrpersonen – Ein kritischer Blick aus methodologischer Sicht. In: Zlatkin-Troitschanskaia, O., Beck, K., Sembill, D., Nickolaus, R. & Mulder, R. (Hrsg.): Lehrprofessionalität. Bedingungen, Genese, Wirkungen und ihre Messung. Weinheim & Basel: Beltz, 237-247. Bloch, R. (2009): Flexible Studierende? Studienreform und studentische Praxis. Institut für Hochschulforschung an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Leipzig: Akademische Verlagsanstalt. Blömeke, S., Kaiser, G. & Lehmann, R. (Hrsg.) (2008): Professionelle Kompetenz angehender Lehrerinnen und Lehrer. Wissen, Überzeugungen und Lerngelegenheiten deutscher Mathematikstudierender und -referendare. Erste Ergebnisse zur Wirksamkeit der Lehrerausbildung. Münster: Waxmann. Böhner, M. M. (2009): Wirkungen des Vorbereitungsdienstes auf die Professionalität von Lehrkräften. In: Zlatkin-Troitschanskaia, O., Beck, K., Sembill, D., Nickolaus, R. & Mulder, R. (Hrsg.): Lehrprofessionalität. Bedingungen, Genese, Wirkungen und ihre Messung. Weinheim & Basel: Beltz, 439-449. Buer, J., van, Kohring & Frasch (2009): Die ‚neue’ Lehrer/innenbildung an der HumboldtUniversität 2004-2009 – eine kritische evaluationsgestützte Stellungnahme. Studien zur Wirtschaftspädagogik und Berufsbildungsforschung aus der Humboldt-Universität zu Berlin. Band 17. Berlin: Humboldt-Universität.
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Teil 2: Lehr-Lern-Prozesse und Kompetenzentwicklung: Ausgewählte forschungsmethodische Zugänge und empirische Befunde
ERKLÄRUNGSMODELLE ZUR KOMPETENZ- UND MOTIVATIONSENTWICKLUNG BEI BANKKAUFLEUTEN, KFZ-MECHATRONIKERN UND ELEKTRONIKERN Reinhold Nickolaus, Johannes Rosendahl, Tobias Gschwendtner, Bernd Geißel & Gerald A. Straka
KURZFASSUNG Unter Verwendung von Strukturgleichungsmodellen werden in diesem Beitrag folgende Erklärungsketten modelliert: Schulische Umgebungsbedingungen wirken direkt auf Erlebnisqualitäten in der Schule. Diese wiederum zielen direkt auf Lerninteressen. Lerninteressen und weitere personale Merkmale wie kognitive Grundfähigkeit, Lesekompetenz, mathematische Kompetenzen und fachspezifisches Vorwissen zu Ausbildungsbeginn sollen gemeinsam die Ausprägung der Fachkompetenz am Ende des ersten bzw. Anfang des zweiten Ausbildungsjahres erklären. Als Datenbasis dienen zwei strukturähnlich angelegte Projekte, die in unterschiedlichen Domänen (kaufmännisch-verwaltend und gewerblich-technisch) durchgeführt wurden. Mit dieser Untersuchungsanlage lassen sich auch Vergleiche zwischen Erklärungsmodellen in diesen Domänen ziehen. Bei den Analysen zeigen sich in beiden Domänen ähnliche, moderate Effekte des Interesses, der kognitiven Grundfähigkeiten und der Basiskompetenzen auf fachliche Kompetenzen. Der Einfluss des fachspezifischen Vorwissens ist in beiden Domänen hingegen dominant ausgeprägt. ABSTRACT By using structural equation models, the following causal chains are modelled: School environments have a direct impact on the experiences made in school which in turn directly affect the learning interests. Learning interests and other personal characteristics such as basic cognitive skills, reading skills, mathematical skills and subject-specific prior knowledge (before the training) are taken to explain subject-specific competencies at the end of the first or beginning of the second year of training. The data base is derived from two structurally similar projects in different domains (business and administration and technical training). This research design allows a comparison of the explanatory models of these two
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R. Nickolaus, J. Rosendahl, T. Gschwendtner, B. Geißel & G. A. Straka
domains. The analyses in both domains show moderate effects of the learning interests, basic cognitive skills and basic competences on subject-related competences. The influence of subject-specific prior knowledge, however, dominates in both domains. 1. ZUR AUSGANGSSITUATION Nach dem Beschluss der Kultusministerkonferenz (1996) ist es Bildungsziel, bei Auszubildenden jene Kompetenzen aufzubauen, mit denen aktuelle und künftige berufliche Anforderungen sachkundig, eigenständig und sozial verantwortlich bewältigt werden können. Ob und wie dieses Ziel eingelöst wird und wie Betrieb und Berufsschule dazu beitragen, blieb lange Zeit wenig erforscht, nicht zuletzt deswegen, weil keine validen Messinstrumente zur Ermittlung von Fach- und Problemlösekompetenz verfügbar waren. Dies änderte sich partiell im Verlauf der letzten Jahre. Einen ersten Meilenstein der damit eröffneten Analysemöglichkeiten stellen Untersuchungen zur Überprüfung des Effekts methodischer Grundentscheidungen bezüglich der unterrichtlichen Lehr-Lern-Arrangements dar, mit denen bis dahin oftmals unhinterfragte Überzeugungen empirisch relativiert wurden. Die in den achtziger Jahren eingeleiteten und im Verlauf der neunziger Jahre forcierten didaktisch-methodischen Reformprozesse gingen von den Grundannahmen aus, dass (1) die sich immer schneller wandelnden Anforderungen auch unterhalb der akademischen Ebene in immer höherem Grade die selbständige Bewältigung komplexer Aufgaben notwendig machen und (2) die dafür notwendigen Fähigkeiten in den tradierten, eher fachsystematisiert ausgerichteten LehrLernprogrammen nicht hinreichend entwickelt werden. Besserung versprachen stärker an Arbeitsprozessen bzw. beruflichen Handlungen orientierte und durch ein höheres Maß an Selbststeuerung gekennzeichnete Lehr-Lernarrangements, die sowohl motivational als auch im Hinblick auf die Kompetenzentwicklung vorteilhaft erschienen. Mit ihnen sollte es gelingen, den Aufbau trägen Wissens zu vermeiden und die Fähigkeit, sich Neues zu erschließen (lebenslanges Lernen), besser zu entwickeln. Die in den späten Neunzigern einsetzenden und im Verlauf der folgenden Dekade fortgeführten empirischen Prüfungen der Grundannahmen konzentrierten sich primär auf die Frage, inwieweit die Annahmen zur Motivationsund Kompetenzentwicklung haltbar sind. Die dabei entstandene Befundlage relativiert die zweite Grundannahme erheblich. Zunächst schien es so, als seien für die z. T. deutlich divergierenden Untersuchungsergebnisse auch Domänenspezifika verantwortlich. Dafür sprachen vor allem die zunächst erwartungskonformen Ergebnisse im kaufmännischen Bereich, wie sie von Sembill u.a. (Sembill 2004; Sembill u. a. 1998; Sembill & Seifried 2007; Sembill u. a. 2007) und Bendorf (2002) vorgelegt wurden. Dem gegenüber standen erwartungswidrige Ergebnisse im gewerblich-technischen Bereich (Betzler 2006; Nickolaus & Bickmann 2002; Nickolaus, Heinzmann & Knöll 2005; Nickolaus, Knöll & Gschwendtner 2006), die für die Kompetenzentwicklung, auch abhängig von den Kompetenzaspekten, mehr oder weniger deutliche Vorteile für die tradierten Ansätze erbrachten (im
Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung
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Überblick Nickolaus 2010; Seifried & Sembill 2010). Inzwischen ist die Befundlage sowohl im kaufmännischen als auch im gewerblich-technischen Bereich durch uneinheitliche, sich teilweise widersprechende Ergebnisse gekennzeichnet. Zu erwartungswidrigen Ergebnissen kommen im kaufmännischen Bereich z. B. Neef (2008) und Winther (2006), zu eher erwartungskonformen Ergebnissen im gewerblich-technischen Bereich Bünning (2007) und mit Einschränkungen auch Geißel (2008). Damit scheint sich die Divergenz der Befundlage als domänenübergreifendes Phänomen herauszuschälen. Als eher übergreifend erweisen sich zugleich die eher geringen Effektstärken der Methodeneinflüsse auf fachliche Kompetenzentwicklungen oder motivationale Entwicklungen in jenen Fällen, in welchen überhaupt signifikante Unterschiede diagnostiziert wurden. Soweit in den durchgeführten Untersuchungen auch andere potentielle Prädiktoren Berücksichtigung fanden, wurde, im Einklang mit Metaanalysen (Helmke & Weinert 1997; Wang, Haertel & Walberg 1993) deutlich, dass Einflussfaktoren wie das Vorwissen eine weit größere prädiktive Kraft auf die Kompetenzentwicklung entfalteten und das motivationale Geschehen (theoriekonform) primär vom Kompetenzerleben, Relevanzzuschreibungen etc. bestimmt wurde als von methodischen Grundentscheidungen (Knöll, Gschwendtner, Nickolaus & Ziegler 2007; Winther 2006). In Erweiterung der beschriebenen Forschungsperspektive ist daher zum einen zu prüfen, wie jenseits methodischer Grundentscheidungen andere Kontextbedingungen in Berufsschule und Ausbildungsbetrieb sowie personale Merkmale die Entwicklung von Fachkompetenz beeinflussen. Zum anderen fokussierten die in der Berufsbildung durchgeführten Studien entweder die gewerblich-technische oder die kaufmännisch-verwaltende Domäne. Insofern stellt sich aufgrund des seit 1996 für alle Ausbildungsberufe gültigen Bildungsziels der KMK die Frage, inwieweit sich übergreifende Strukturähnlichkeiten der Erklärungsmodelle für die Kompetenz- und Motivationsentstehung zeigen. Dazu sind domänenübergreifend angelegte Untersuchungszuschnitte und, soweit das möglich ist, der parallelisierte Einsatz von Messinstrumenten erforderlich. Realisiert wurde dies in zwei weitgehend aufeinander abgestimmten DFG Projekten (in Stuttgart: Nickolaus DFG-GZ Ni 606/3-1; in Bremen: Straka DFG-GZ STR 266/ 18-1/2). Beide Projekte waren längsschnittlich angelegt und zur Erfassung betrieblicher und schulischer Indikatoren der Ausbildungsqualität und der Motivation wurde auf gemeinsame oder geringfügig an die Domänen adaptierte Messinstrumente zurückgegriffen. Dieses Vorgehen soll ermöglichen, Antworten auf die folgenden Fragen zu geben: 1. Wie entwickeln sich Fachkompetenzen, Motivation und die Wahrnehmung betrieblicher Ausbildungsqualitäten im gewerblich-technischen und kaufmännischen Bereich während der Ausbildung und von welchen Prädiktoren sind Veränderungen abhängig? 2. Welchen Einfluss haben ausgewählte schulische und betriebliche Umgebungsbedingungen sowie personale Merkmale (kognitive Grundfähigkeit, Ba-
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siskompetenzen, fachspezifisches Vorwissen, Motivation) auf die Fachkompetenzentwicklung in gewerblich-technischen und kaufmännischen Berufen?1 2. THEORETISCHE GRUNDANNAHMEN ZUR ERKLÄRUNG VON MOTIVATION UND FACHLICHEN KOMPETENZSTÄNDEN Im Anschluss an die Interessentheorie (Krapp 2005), die Selbstbestimmungstheorie der Motivation (Deci & Ryan 1985), die Zusammenführung beider Theoriestränge durch Prenzel u. a. (1996, 1998) sowie eigene Vorarbeiten (Knöll, Gschwendtner & Nickolaus 2008; Knöll, Gschwendtner, Nickolaus & Ziegler 2007; Rosendahl & Straka 2007, Straka & Lenz 2003) wird angenommen, dass motivationale Zustände entscheidend von den jeweiligen Umgebungsbedingungen und deren individueller Verarbeitung bestimmt werden. Demnach beeinflussen individuell wahrgenommene Umgebungsbedingungen, wie die inhaltliche Relevanz schulischen Lehrstoffs, die Instruktionsklarheit im Unterricht, das inhaltliche Interesse des Lehrenden und die unterrichtliche Adaptivität, die Ausprägung zentraler Erlebnisqualitäten (Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Einbindung), die ihrerseits als emotionale Mediatoren das Lerninteresse (mit)bestimmen. Zur Kompetenzentwicklung ist im Anschluss an die Befundlage davon auszugehen, dass primär den kognitiven Voraussetzungen der Lernenden (kognitive Grundfähigkeit, Basiskompetenzen, fachspezifisches Vorwissen) prädiktive Kraft zukommt und mit geringerem Gewicht qualitative Merkmale der Lernumgebung (Adaptivität, Instruktionsklarheit, bedarfsgerechte Unterstützung, Aufgabenvielfalt und Bedeutsamkeit der Aufgabenstellungen etc.) und die daraus entstehende Lernmotivation in die Erklärungsmodelle eingehen (Fehring, Rosendahl & Straka 2008; Helmke & Weinert 1997; Lehmann & Seeber 2007; Nickolaus, Gschwendtner & Geißel 2008; Nickolaus, Knöll & Gschwendtner 2006).
1
Folgende Instrumente zur Erfassung der Konstrukte kamen zum Einsatz: das Mannheimer Inventar zur Erfassung betrieblicher Ausbildungssituationen (Zimmermann, Müller & Wild 1994, 1996) (betriebliche Ausbildungsqualität), das partiell modifizierte Instrumentarium von Prenzel u. a. (1996) (Motivation und motivationale Bedingungsfaktoren), Items des GatesMacGinitie Tests (Gschwendtner 2010) (Lesekompetenz) und des SL-HAM 10/11 (Behörde 2002) (mathematische Kompetenzen), der CFT 3 (Weiß 1999) (gewerblich-technische Berufe) bzw. der Wonderlic (1992) (Bankkaufleute) (kognitive Grundfähigkeiten) und berufsspezifische Eigenkonstruktionen (fachliche Kompetenzen).
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Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung
3. ANLAGE DER UNTERSUCHUNGEN Einen Überblick zum Forschungsdesign gibt Abbildung 1:
Stuttgart
Bremen
Fachkompetenz kognitive Leistungsfähigkeit mathematische Kompetenz
09/2006
11/2006
Lesekompetenz
kognitive Leistungsfähigkeit
mathematische Kompetenz Fachkompetenz
02/2007
Betriebliche + schulische Ausbildungsbedingungen
Fachkompetenz
Motivation
Lesekompetenz
05/2007
07/2007
Betriebliche + schulische Ausbildungsbedingungen
Fachkompetenz
10/2007
schulische Motivation
Abb. 1: Forschungsdesign (nur gemeinsame Aspekte der Projekte)
Einbezogen wurden die Berufe Bankkaufmann/-frau (N = 433), Elektroniker/in für Energie- und Gebäudetechnik (N = 203) und Kraftfahrzeugmechatroniker/in (N = 286). Bei den gewerblich-technischen Ausbildungsberufen wurden sowohl vollzeitschulisch unterrichtete als auch dual ausgebildete Lehrlinge einbezogen. Für die Analysen wurde das erste Jahr der Ausbildung betrachtet. 4. AUSGEWÄHLTE ERGEBNISSE IM DOMÄNENVERGLEICH Vorgestellt werden hier aus Raumgründen lediglich ausgewählte Vergleichsdaten. Ausführlichere Darstellungen zu Teilaspekten sind bereits projektbezogen erschienen (Geißel 2008; Gschwendtner 2008; Geißel, Gschwendtner & Nickolaus 2009a, 2009b; Nickolaus, Gschwendtner & Geißel 2008; Rosendahl, Fehring & Straka 2008). Weitere Detailanalysen sind in Vorbereitung. 4.1. Ausgewählte Ergebnisse zur Motivation, schulischen Umgebungsbedingungen und Erlebnisqualitäten Die in den Abbildungen 2, 3 und 4 präsentierten Daten dokumentieren bei überwiegend guten Skalenqualitäten (Cronbachs Alpha über .60) mehr oder weniger ausgeprägte Unterschiede in den motivationalen Bedingungen und den Motivationsausprägungen gegen Ende des ersten Ausbildungsjahres. Die identifizierte Motivationsvariante ist durchgängig am stärksten ausgeprägt, die Elektroniker sind insbesondere auffällig durch relativ starke Ausprägungen der externalen Motivation und der Amotivation. Innerhalb der gewerblichen Gruppe heben sich die Kfz-Mechatroniker im Hinblick auf die schulischen Umgebungsbedingungen und
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R. Nickolaus, J. Rosendahl, T. Gschwendtner, B. Geißel & G. A. Straka
Motivationsausprägungen durchgängig positiv von den Elektronikern ab, wobei generell ungünstigere Werte in den Vollzeitklassen (einjährige Berufsfachschule) zu konstatieren sind. Die bei den Bankkaufleuten nach Vorbildung vorgenommene Gruppenbildung nach Auszubildenden mit Realschulabschluss bzw. Hochschulreife führt zu keinen bedeutsamen Differenzen. Die Effektstärken der Mittelwertsunterschiede zwischen den jeweils höchsten und niedrigsten Werten (in den folgenden Tabellen jeweils in Fettdruck) einer Zeile sind als hoch zu bewerten (Bortz & Döring 2006, 606). Demnach sind die in Vollzeit beschulten Elektroniker über alle Motivationsvarianten hinweg deutlich weniger motiviert als die Gruppe mit den jeweils am günstigsten ausgeprägten Werten. Die höchsten Werte in den tendenziell selbstbestimmten Motivationsvarianten erreichen die dual ausgebildeten Kfz-Mechatroniker. Elektroniker/-in
Kraftfahrzeugmechatroniker/-in
Bankkaufmann/ -frau
Effektstärke
Vollzeit (n = 97)
Teilzeit (n = 81)
Vollzeit (n = 152)
Teilzeit (n = 93)
Teilzeit RS (n = 97)
Teilzeit Abi (n = 303)
Amotiviert
2,8
2,3
2,3
2,0
2,0
1,9
d = 1,1
External
3,0
2,8
2,4
2,3
2,0
1,9
d = 1,2
Introjiziert
4,2
4,7
4,6
4,8
4,5
4,6
d = 0,8
Identifiziert
4,4
4,7
5,0
5,3
5,0
5,0
d = 1,1
Intrinsisch
3,6
3,9
4,0
4,4
3,6
3,7
d = 0,8
Interessiert
3,6
4,1
4,2
4,6
4,2
4,2
d = 1,0
Abb. 2: Skalenmittelwerte der Motivationsvarianten und Effektstärken für die Differenzwertbetrachtung der Zeilenminima und Zeilenmaxima (Skala 1 bis 6; 1 = geringe Ausprägung, 6 = starke Ausprägung; RS = Realschüler, Abi = Abiturienten)
Den schulischen Umgebungsbedingungen schreiben die Vollzeit- im Vergleich zu den Teilzeitschülern überwiegend geringere Ausprägungen zu (Abb. 3). Klarheit der Instruktion, inhaltliche Relevanz und Interesse der Lehrenden am Lehrinhalt wird bei den Kfz-Mechatronikern am höchsten bewertet. Die angehenden Bankkaufleute liegen hinsichtlich der Klarheit und der Relevanz etwas unter den Teilzeit-Kfz-Mechatronikern. Am geringsten wird von den angehenden Bankkaufleuten das Interesse der Lehrkraft am Lehrstoff eingeschätzt.
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Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung Elektroniker/-in
Kraftfahrzeugmechatroniker/-in
Bankkaufmann/ -frau
Effektstärke
Vollzeit (n = 97)
Teilzeit (n = 81)
Vollzeit (n = 152)
Teilzeit (n = 93)
Teilzeit RS (n = 97)
Teilzeit Abi (n = 303)
Instruktion: Klarheit
4,0
4,5
4,4
4,8
4,4
4,4
d = 1,1
Inhaltliche Relevanz
4,0
4,3
4,5
4,8
4,4
4,3
d = 1,0
Interesse der Lehrkraft
3,4
4,1
3,9
4,8
3,3
3,2
d = 1,4
Abb. 3: Skalenmittelwerte der schulischen Umgebungsbedingungen
Deutliche Unterschiede in den schulischen Erlebnisqualitäten ergeben sich insbesondere bei den gewerblich-technischen Berufen in der sozialen Einbindung erneut zugunsten der dual Ausgebildeten; markant fällt auch der Unterschied (d = 0.8) des Überforderungsempfindens bei den nach Vorbildung gruppierten Bankkaufleuten zugunsten der Abiturienten aus (siehe Abb. 4). Elektroniker/-in
Kraftfahrzeugmechatroniker/-in
Bankkaufmann/ -frau
Effektstärke
Vollzeit (n = 97)
Teilzeit (n = 81)
Vollzeit (n = 152)
Teilzeit (n = 93)
Teilzeit RS (n = 97)
Teilzeit Abi (n = 303)
Kompetenz
3,6
3,7
3,8
3,7
4,0
3,8
d = 0,3
Autonomie
3,6
3,9
3,8
3,9
4,0
3,9
d = 0,4
Soziale Einbindung
3,8
4,5
4,3
4,8
4,7
4,6
d = 1,1
Überforderung
3,3
3,4
2,9
2,5
3,5
2,5
d = 0,8
Abb. 4: Skalenmittelwerte der Erlebnisqualitäten und der Überforderung
Betrachtet man im Sinne des Prenzel-Modells (1996, 1998) die Erlebnisqualitäten und die schulischen Umgebungsbedingungen als theoretisch nicht weiter vorgeschichtete Erklärungsfaktoren, so können einfache, schrittweise Regressionsanalysen den theoretisch wichtigen Aspekt klären, welchen jener motivationalen Bedingungsfaktoren eine eigenständige Erklärungskraft für jede einzelne Motivationsvariante zukommt. In der gewerblich-technischen Erstausbildung erwiesen sich in einem Vorgängerprojekt insbesondere die inhaltliche Relevanz, die Instruktionsklarheit und die Überforderung als gewichtige Erklärungsfaktoren, den Erlebnisqualitäten kam eine deutlich geringere Bedeutung zu (vgl. Knöll, Gschwendtner & Nickolaus 2008). Bei einer vergleichenden Betrachtung der Domänen (siehe Abb. 5) zeigen sich durchgängig für alle Motivationsvarianten deutlich höhere Varianzaufklärungen in den beiden gewerblich-technischen Aus-
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R. Nickolaus, J. Rosendahl, T. Gschwendtner, B. Geißel & G. A. Straka
bildungsberufen, d.h. das Prenzelsche Motivationsmodell bzw. dessen Operationalisierung scheint bei der gewerblich-technischen Klientel besser zu passen. Als Erklärung wäre denkbar, dass die Bankkaufleute in ihrer Motivationsausprägung weniger stark von den Umgebungsbedingungen abhängen und selbst in höherem Grade kompensatorische Strategien zur eigenen Motivationssteuerung entwickelt haben. Es zeigt sich ferner, dass sich die Relevanzwahrnehmung in den höherwertigen Motivationsvarianten (identifiziert, intrinsisch, interessiert) nahezu durchgängig als relevanter Prädiktor erweist. Erwartungskonform kommt der Relevanz insbesondere bei der identifizierten Motivationsvariante eine hohe prädiktive Kraft zu. Vor allem bei den Elektronikern geht das Autonomieerleben als starker Prädiktor der intrinsischen und interessierten Motivation ein, bei den Kfz-Mechatronikern ist es die Bedingungsvariable Klarheit. Elektroniker/-in
Kraftfahrzeugmechatroniker/-in
Bankkaufmann/-frau
Abhängige Variable
Modellzusammensetzung bei schrittweiser Integration
Abhängige Variable
Modellzusammensetzung bei schrittweiser Integration
Abhängige Variable
Modellzusammensetzung bei schrittweiser Integration
amotiviert (7,4%)
1. Klarheit (7,4%)
amotiviert (28,4%)
1. Relevanz (18,7%) 2. Überforderung (7,5%) 3. Soziale Einbindung (2,2%)
amotiviert (4,6%)
1. Autonomie (4,6%)
extrinsisch (11,2%)
1. Überforderung (11,2%)
extrinsisch (16,7%)
1. Überforderung (13%) 2. Soziale Einbindung (3,7%)
extrinsisch (8,2%)
1. Autonomie (4,4%) 2. Überforderung (2%) 3. Kompetenz (1,8%)
introjiziert (13,4%)
1. Soziale Einbindung (13,4%)
introjiziert (14,8%)
1. Relevanz (12,2%) 2. Kompetenz (2,6%)
introjiziert
identifiziert (27,7%)
1. Relevanz (21,8%) 2. Überforderung (3,9%) 3. Soziale Einbindung (1,9%)
identifiziert (37,2%)
1. Relevanz (31,9%) 2. Überforderung (5,4%)
identifiziert (15,8%)
1. Relevanz (11,6%) 2. Autonomie (4,2%)
intrinsisch (28%)
1. Autonomie (20,8%) 2. Relevanz (4,9%) 3. Kompetenz (2,3%)
intrinsisch (41,1%)
1. Klarheit (30,1%) 2. Kompetenz (8,8%) 3. Interesse Lehrkraft (2,2%)
intrinsisch (11,9%)
1. Relevanz (9%) 2. Autonomie (2,8%)
interessiert (30,5%)
1. Autonomie (25,7%) 2. Relevanz (4,7%)
interessiert (34,7%)
1. Klarheit (29,1%) 2. Kompetenz (3,7%) 3. Relevanz (1,8%)
interessiert (2,8%)
1. Relevanz (2,8%)
KEIN MODELL
Abb. 5: Regression der Umgebungsbedingungen, Erlebnisqualitäten und Überforderung auf die Motivationsvarianten
Vor dem Hintergrund der in den theoretischen Überlegungen skizzierten Mediatorfunktion der Erlebnisqualitäten wurde ein geschichtetes Modell in Form eines Strukturgleichungsmodells formuliert und auf seine Übereinstimmung mit den empirischen Daten hin getestet (vgl. Abb. 6).
Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung Inhaltliches Interesse der Lehrkraft Inhaltliche Relevanz des Lehrstoffs Instruktion Klarheit
Elektroniker = .34 Kfz-Mechatroniker = .39
.65 .77
81
Umgebung Schule Elektroniker = .86 Kfz-Mechatroniker = .97 Bankkaufleute = .86
.81
Erlebnisqualitäten Schule
Elektroniker = .75 Kfz-Mechatroniker = .82 Bankkaufleute = .37
.61 .66
.69
.69
Motivationsvariante interessiert
.80
Motivationsvariante intrinsisch
Interesse Schule
Soziale Einbindung Autonomieunterstützung Kompetenzunterstützung
Chi2/df = (2,9 > 2,5) RMSEA = (0,04 < 0,08) CFI = (0,96 > 0,95)
Abb. 6: Mediationsmodell zur Erklärung von Interesse
Mit ihm wurde das Lerninteresse in der Schule durch die interessierte und intrinsische Motivationsvariante modelliert, die Erlebnisqualitäten durch die soziale Einbindung, Autonomieunterstützung und Kompetenzerleben und die Umgebungsbedingungen durch Instruktionsklarheit, inhaltliche Relevanz und das inhaltliche Interesse der Lehrkraft. Dabei sollen die schulischen Umgebungsbedingungen auf die schulischen Erlebnisqualitäten als subjektnähere (emotionale) Komponente wirken und diese dann erst auf die Ausprägung von Interesse.2 Der sehr gute Modellfit (RMSEA, CFI) unterstreicht die empirische Gültigkeit des theoretisch postulierten, geschichteten Zusammenhangs. Die Erklärungskraft der latenten Dimensionen zueinander ist relativ hoch, wie die Pfadkoeffizienten in Bereichen von ca .8 verdeutlichen können. Ferner bestätigen sich im Mediationsmodell die bereits in den Regressionsanalysen deutlich werdenden Unterschiede der Erklärungskraft, die bei den Bankkaufleuten deutlich schwächer ausfällt, bei beiden gewerblich-technischen Berufen jedoch eine bemerkenswerte Größenordnung erreicht.
2
Unterrichtliche Adaptivität wurde nicht in die Modellbildung aufgenommen. Adaptivität kann zwar als Umgebungsbedingung kategorisiert werden, die Operationalisierung zeigt hingegen eine Verortung als Erlebnisqualität im Sinne von Überforderung an. Wegen dieser Uneindeutigkeit wurde auf den Einbezug der unterrichtlichen Adaptivität in die Modellierung verzichtet.
82
R. Nickolaus, J. Rosendahl, T. Gschwendtner, B. Geißel & G. A. Straka
4.2. Erklärungsmodelle zur Kompetenzentwicklung Aufgrund vorgelagerter Untersuchungen (Nickolaus, Heinzmann & Knöll 2005; Nickolaus, Knöll & Gschwendtner 2006) waren insbesondere von den kognitiven Voraussetzungen der Auszubildenden substantielle Beiträge zur Varianzaufklärung zu erwarten. Dies bestätigt sich hier über alle Domänen hinweg. Aus Vergleichs- und Raumgründen beschränken wir uns hier auf das Erklärungsmodell zum Fachwissen, für die fachspezifische Problemlösefähigkeit ergeben sich geringere Varianzaufklärungen.
Elektroniker .75 Kfz-Mechatroniker .82
Motivationsvariante interessiert
Interesse Motivationsvariante intrinsisch
Elektroniker n. s. Kfz-Mechatroniker .13 EI .42 Fachkompetenz Kfz .52
EI .42 Kfz .47 Vorwissen
Leseverständnis
EI n. s. Kfz .15 EI .30 Kfz .50
EI .48 Kfz .59
Kognitive Grundfähigkeit
EI n. s. Kfz .25
EI .34 Kfz n. s. EI .42 Kfz .53
Mathematik
EI .35 Kfz .52 EI .31 Kfz .54
EI .38 Kfz .47
Abb. 7: Prädiktoren der Fachkompetenz für die gewerblich-technischen Berufe Elektroniker (El) und Kraftfahrzeugmechatroniker (Kfz)
Das in Abbildung 7 wiedergegebene Strukturgleichungsmodell, in das sowohl die Daten für die Elektroniker als auch die Kfz-Mechatroniker einbezogen sind, weist für die beiden Berufe deutliche Parallelen auf. Das gilt insbesondere für die relativ hohe Varianzaufklärung der Fachkompetenz (Elektroniker: 42 %; Kfz-Mechatroniker: 52 %), das hohe Gewicht des Vorwissens (Pfadkoeffizienten um .45) und die Zusammenhänge zwischen den kognitiven Prädiktorvariablen. Deutliche Unterschiede zeigen sich (1) im Einfluss des Leseverständnisses: bei den Auszubildenden im Kfz-Bereich zeigt das Modell einen Pfadkoeffizient von .25 an, im Elektrobereich kommt kein signifikanter Pfadkoeffizient zustande, (2) im Einfluss der mathematischen Vorkenntnisse, der bei den Elektronikern mit .34 deutlich ausgeprägt ist und (3) den Einflüssen der kognitiven Grundfähigkeit und dem Interesse, die lediglich bei den Kfz-Mechatronikern signifikant werden. Dabei sind
Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung
83
allerdings die relativ starken Interkorrelationen zwischen den kognitiven Prädiktorvariablen zu berücksichtigen. Ursächlich für die Unterschiede der prädiktiven Kraft der Basiskompetenzen sind vermutlich auch Unterschiede der Testformen (vgl. ausführlicher Nickolaus, Gschwendtner & Geißel 2008). Bei den Bankkaufleuten ergibt sich ein strukturell ähnliches Bild (vgl. Abb. 8).
Motivationsvariante interessiert
.37 Interesse
Motivationsvariante intrinsisch
.19
Fachkompetenz
.32
.26
.13
Vorwissen
Leseverständnis n. s.
.15 .37
.21 Kognitive Grundfähigkeit
.40
Mathematik
.40
.24
.28
Abb. 8: Prädiktoren der Fachkompetenz bei den Bankkaufleuten
Wenngleich das schulische Interesse der Bankkaufleute weniger durch die schulischen Umgebungsbedingungen beeinflusst wird als bei den gewerblich-technischen Berufen, weist das Interesse einen tendenziell höheren Zusammenhang mit der Fachkompetenz auf. Wie im Erklärungsmodell zur Motivation ergibt sich (bei den Bankkaufleuten) eine geringere Varianzaufklärung der Zielvariablen (hier Fachkompetenz mit 26 %) und auch die Zusammenhänge zwischen den kognitiven Prädiktorvariablen sind in der Regel etwas schwächer ausgeprägt. Das fachspezifische Vorwissen ist auch hier der stärkste Prädiktor, das Leseverständnis und die kognitive Grundfähigkeit gehen mit geringerem Gewicht ein. 5. DISKUSSION Die zum Teil deutlichen Differenzen in den schulischen Umgebungsbedingungen zwischen den Vergleichsgruppen verweisen auf berufs- aber auch lernortspezifische Ausprägungen, welchen auch praktische Relevanz zukommt. Unterdurchschnittliche Ausprägungen der Qualitätsmerkmale finden sich insbesondere bei den Elektronikern für Energie- und Gebäudetechnik und hier wiederum bei den
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R. Nickolaus, J. Rosendahl, T. Gschwendtner, B. Geißel & G. A. Straka
Auszubildenden im Vollzeitbereich. Feinere und auch die Entwicklung im Verlauf des ersten Ausbildungsjahres einbeziehende Analysen (vgl. Geißel, Gschwendtner & Nickolaus 2009b) verstärken diesen Eindruck nachdrücklich. Bemerkenswert sind die z. T. relativ starken Varianzaufklärungen der Motivationsvarianten, insbesondere in den gewerblich-technischen Bereichen. Damit sind zugleich zentrale Ansatzpunkte für Interventionen zur Motivationssteigerung ausgewiesen. Angesichts des Belastungserlebens der Lehrkräfte, das aus einer als unzureichend ausgeprägt wahrgenommenen Lernmotivation resultiert (Bachmann 1999), erweisen sich solche Interventionen nicht nur als lernerfolgs- sondern auch als belastungsrelevant. Die hohe prädiktive Kraft, die den kognitiven Einflussfaktoren für die Kompetenzentwicklung zukommt, verweist auf die hohe Relevanz von Selektionsprozessen für die Sicherung eines wünschenswerten Qualifikationsniveaus. Interventionsstudien, die auf die Förderung Schwächerer im Handwerk zielten und in Kleingruppen ein „kombiniertes Strategietraining“ einsetzen, das statt auf eine indirekte wie in handlungsorientierten Unterricht auf direktive Strategieförderung setzt, zeigen allerdings erhebliche Effekte (Petsch, Norwig & Nickolaus 2009) und machen deutlich, dass die Entwicklungspotentiale im „Normalunterricht“ bei weitem nicht ausgeschöpft werden. Vor diesem Hintergrund scheint auch der in den obigen Erklärungsmodellen zur Kompetenzentwicklung erscheinende Mechanismus aufbrechbar. Notwendig scheint dafür allerdings eine Optimierung der Lehr- Lernprozesse und nicht zuletzt eine gezieltere Förderung und Anleitung jenes Strategieerwerbs, der zur Bewältigung komplexerer Aufgaben notwendig scheint (Straka, Nenniger, Spevacek, Hagmann & Binder 1999). Die konstatierten Strukturähnlichkeiten der Erklärungsmodelle zur fachlichen Kompetenz beziehen sich zunächst lediglich auf den Erwerb des Fachwissens. Die Fähigkeit zur Anwendung dieses Wissens in variierenden problemhaltigen Anforderungssituationen stellt domänenübergreifend eine zweite Dimension der Fachkompetenz dar (Achtenhagen & Winther 2009; Geißel 2008; Gschwendtner 2008; Gschwendtner, Abele & Nickolaus 2009; Nickolaus, Gschwendtner & Abele 2009; Nickolaus, Gschwendtner & Geißel 2008; Winther 2009; Winther & Achtenhagen 2009), so dass auf der Ebene der Kompetenzstrukturen eine weitere Parallele identifiziert werden kann. Unterschiede sind im Bereich der Kompetenzstrukturen wohl dann zu erwarten, wenn auch manuelle Fähigkeiten (Fertigkeiten) einbezogen werden. Deren Relevanz scheint zwar auch im gewerblichtechnischen Bereich sinkend, wobei jedoch berufsspezifisch variierende Anforderungen unterstellt werden können. Im kaufmännischen Bereich scheint es hingegen generell unwahrscheinlich, dass Fertigkeiten leistungskritisch werden. Unterschiede sind auch im Bereich sozialer Kompetenz zu erwarten. Dafür sprechen einerseits domänenspezifische Selektionsprozesse an der ersten Schwelle und andererseits domänenspezifische Sozialisationsprozesse, die u.a. in deutlichen Unterschieden von Konfliktstrategien und sozialen Orientierungen Ausdruck finden (Mayer u.a. 1981; Häfeli, Kraft & Schallberger 1988).
Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung
85
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Erklärungsmodelle zur Kompetenz- und Motivationsentwicklung
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R. Nickolaus, J. Rosendahl, T. Gschwendtner, B. Geißel & G. A. Straka
HETEROGENITÄT UND LERNERFOLG Susan Seeber
KURZFASSUNG Jugendliche treten mit unterschiedlichen Eingangsvoraussetzungen hinsichtlich des Alters, der schulischen Leistungen und Begabungen, der Bildungsbiografien und ihrer sozial-kulturellen Merkmale in die Berufsbildung ein. In der empirischen Forschung sind der Einfluss und die Bedeutsamkeit von Lernvoraussetzungen und Kontextmerkmalen auf den Lernerfolg vielfach belegt. Auch die Wirksamkeit von Kompositionseffekten im Sinne von günstigen Mittelwerten auf Klassen- bzw. Aggregatsebene kann als gesichert gelten. Die Heterogenität von Lerngruppen allerdings wird bislang hauptsächlich unter der Perspektive einer alltäglichen Herausforderung für die Lehrenden diskutiert, deren Einfluss auf die Lernergebnisse wurde aber bisher kaum systematisch untersucht. Dieser Beitrag geht daher der Frage nach, ob die Heterogenität in den Lernvoraussetzungen von Jugendlichen in beruflichen Bildungsgängen in Zusammenhang mit den erreichten Lernständen steht. Die Analysen beruhen auf Daten aus der Hamburger Studie ULME II zur Lernentwicklung von Jugendlichen an teilqualifizierenden Berufsfachschulen. Sie beschränken sich aber auf den Bereich Wirtschaft und Verwaltung und die Entwicklung wirtschaftsberuflicher Fähigkeiten. ABSTRACT Adolescents enter vocational education and training (VET) programs at very different entry levels, as far as age, their cognitive resources, their prior academic achievement, their educational careers, and their socio-cultural characteristics are concerned. There is a great deal of evidence as to the relevance and significance of these factors for successful VET. In addition, the positive influence of compositional effects in the sense of high mean performance at the aggregate level of classrooms or training groups has been demonstrated. The heterogeneity of learning groups, however, has so far been discussed mainly under the perspective of challenging the teachers’ professionalism, while very little research has been conducted with respect to the actual VET results. The present article addresses the issue of potential relationships between initial competencies of adolescents in VET settings and their learning outcomes. The analyses presented are based on
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Susan Seeber
data from the longitudinal Hamburg Study of Learning, Motivation, and Attitudes (ULME II), investigating the learning progress of adolescents in VET preparation courses (“teilqualifizierende Berufsfachschulen”). The analyses are restricted, however, to the development of commercial competencies in respective programs. 1. AUSGANGSLAGE Der Einfluss von Klassen- bzw. Lerngruppenmerkmalen auf den Lernerfolg von Schülerinnen und Schülern ist in den letzten Jahren immer wieder thematisiert und untersucht worden. Während der eigenständige Erklärungsbeitrag des durchschnittlichen Lernpotenzials auf Klassenebene als weitgehend gesichert gelten kann (vgl. z. B. Baumert, Stanat & Watermann 2006), werden Fragen des Umgangs mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen breit diskutiert. Die kontroversen Positionen spiegeln sich im Für und Wider externer Leistungsdifferenzierung durch Schulstrukturen wider, umfassen gleichfalls Aspekte interner Schulorganisation und curricularer Ausgestaltung (z. B. jahrgangstufen- bzw. bildungsgangsübergreifende Lerngruppen vs. homogene Lerngruppen) sowie des produktiven Umgangs mit Heterogenität durch adäquate Lehr-Lernarrangements. Eine zentrale Frage dabei ist: Finden Schülerinnen und Schüler in leistungshomogenen Lerngruppen bessere Bedingungen für eine optimale Förderung als in heterogenen Lerngruppen vor? Für die berufliche Bildung stellt sich die Frage der Homogenität bzw. Heterogenität jedoch nicht nur aus der Perspektive kognitiver Lernvoraussetzungen, sondern auch im Hinblick auf Merkmale wie Alter, Bildungsbiografie und Schulabschluss, berufliche Vorbildung, Erfahrung und Sozialisation sowie weitere sozialstrukturelle Kriterien. Pädagogische Herausforderungen entstehen vor allem dort, wo schulische Vorbildung, individuelle Ressourcen und vorberufliche Sozialisation in den Lern- bzw. Ausbildungsgruppen breit streuen. Das Wissen darüber, ob überhaupt (und wenn ja in welchem Ausmaß) und bezüglich welcher Merkmale Heterogenität förderlich oder hindernd auf die Lernsituation und Lernerfolg wirkt, ist nur sehr partiell von empirischer Evidenz. Auch fehlen bislang Analysen zu Effekten, die sich erst bei Vorliegen bestimmter Merkmalskombinationen zeigen und die möglicherweise erst ab einem bestimmten Heterogenitätsgrad auftreten (vgl. dazu die Befunde zum Einfluss der Zusammensetzung der Schülerschaft nach Migrationsmerkmalen auf den Lernerfolg bei Stanat 2006). Die Befundlage – überwiegend aus dem allgemein bildenden Bereich – ist eher disparat und bezogen auf die berufliche Ausbildung bislang kaum mit angemessenen methodischen Verfahren untersucht. Insgesamt betrachtet, zeichnet sich eine bildungspolitisch stark aufgeladene Diskussion zum Umgang mit Heterogenität in Schulen und Klassen ab: Einerseits wird Vielfalt als Chance und Herausforderung in einer stark diversifizierten Gesellschaft gesehen und auf die mögliche stigmatisierende Wirkung der Zugehörigkeit zu lernschwächeren Gruppen verwiesen, andererseits gibt es eine Reihe von empirisch mehr oder minder gesicherten Argumenten wie auch rein subjektiven
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Überzeugungen, dass durch Homogenisierungsmaßnahmen Schülerleistungen gesteigert werden können (vgl. zum Pro und Contra von Homogenisierung vgl. den Überblick bei Hattie 2002). Im vorliegenden Beitrag wird ein kurzer Überblick über den gegenwärtigen Forschungsstand gegeben und abschließend wird auf der Grundlage empirischer Befunde aus dem berufsbildenden Bereich der Einfluss von Merkmalen der Schülerinnen und Schüler innerhalb des Klassenverbands auf den Lernerfolg dargestellt und diskutiert. 2. FORSCHUNGSSTAND 2.1. Modellannahmen Analysen von Zusammenhängen zwischen individuellen Lernvoraussetzungen und Hintergrundmerkmalen, Lernumgebung sowie Kontextfaktoren und Lernerfolg basieren auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen und Forschungstraditionen (vgl. Helmke 2003, 28ff.), die in verschiedenen wissenschaftlichen Teildisziplinen wie der Didaktik und Fachdidaktik, der Lehr-Lern-Forschung, der Lern- und Motivationspsychologie und der Schuleffektivitäts- und Schulklimaforschung verankert sind. Es wurden verschiedene Modelle entwickelt, die die Beziehungen zwischen den an Bildungs- und Qualifikationsprozessen beteiligten Faktoren betrachten. Diese Modelle basieren in ihren Grundzügen auf Analogien zu ökonomischen Produktivitätszusammenhängen und auf Überlegungen zu systemisch vernetzten Lernumwelten (vgl. Reynolds & Teddlie 2000, 4ff.; Helmke 2003; Ditton 2007). Sie bestehen in der Regel aus mehreren größeren Erklärungsblöcken wie individuelle Schüler- und Herkunftsmerkmale, Unterrichtsmerkmale und Lernumwelt(en), die das Ergebnis schulischer Lern- und Entwicklungsprozesse beeinflussen und deren Zusammenwirken unter Berücksichtigung der hierarchischen Strukturen unterschiedlicher Interaktionsebenen zu betrachten ist. Die Ergebnisse von institutionalisierten Lern- und Entwicklungsprozessen werden über multikriteriale Bildungswirkungen, in der Regel kognitive und metakognitive Kompetenzen, aber auch nicht oder nur bedingt kognitive Merkmale wie Motivation, Selbstvertrauen, Selbstregulation, Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit, Einstellungen etc. operationalisiert. Obwohl der Forschungsstand über systematische Zusammenhänge von Bedingungs- und Prozessfaktoren auf der System-, Institutions- und Unterrichtsebene und den Resultaten von Bildungsprozessen noch weit von befriedigenden, umfassenden theoretischen Modellen entfernt ist (vgl. Ditton 2007), sind zentrale Wirkungsfaktoren in der Schulqualitäts- und Schuleffektivitätsforschung theoretisch gut belegt und in einer Reihe von Metaanalysen hinsichtlich ihrer Effekte dokumentiert (vgl. Creemers & Kyriakides 2008; Scheerens 2007; Scheerens & Bosker 1997). In neueren Untersuchungen werden Varianten des Angebots-NutzungsModells als analytisches Raster für die Modellierung von Wechselwirkungen und Zusammenhängen zugrunde gelegt. Dem Angebots-Nutzungs-Modell zufolge stellt Unterricht ein Angebot dar, dass nur dann zu Effekten führt, wenn es vom
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Lernenden in geeigneter Weise genutzt wird. Zwischen Lernangebot und Lernerfolg stehen verschiedene vermittelnde Faktoren und individuelle Verarbeitungsprozesse, beeinflusst von Kontext- und Rahmenbedingungen (vgl. Abbildung 1).
Abb. 1: Angebots-Nutzungsmodell schulischer Leistungen (Sembill 2008, in Anlehnung an Helmke & Weinert 1997; siehe auch Baumert, Stanat & Demmrich 2001)
2.2. Befunde der Lehr-Lernforschung zum Zusammenhang von individuellen Leistungsvoraussetzungen, Leistungsvariation und Lernerfolg innerhalb der Lerngruppen Es gibt zahlreiche Belege in der empirischen Lehr-Lernforschung, dass vor allem die proximalen Bedingungsfaktoren (dies sind die in der Abbildung dargestellten fünf Bereiche der individuellen Lernvoraussetzungen, der Lehrervoraussetzungen und Lehrerexpertise, der Unterrichtsprozesse und der individuellen Verarbeitungsmuster der Lernenden) die Lern- und Entwicklungsergebnisse beeinflussen. So gehört es zu den robusten Befunden der Schulleistungsforschung, dass individuelle Lernvoraussetzungen wie allgemeine kognitive Fähigkeiten, fachbezogenes Vorwissen und Selbstregulation sowie motivationale und volitionale Schülermerkmale direkt den Lernerfolg im jeweiligen Fach bzw. Fachgebiet steuern (Helmke & Weinert 1997; Baumert et al. 2001; für den beruflichen Bereich vgl. Achtenhagen 2004; Nickolaus, Geissel & Gschwendtner 2008; Lehmann & Seeber 2007). Gut dokumentiert sind ebenfalls die Effekte der individuellen Verarbeitung, insbesondere der emotionalen Befindlichkeit (z. B. Sembill 2003, 2004), der individuellen Aufmerksamkeit (z. B. Weinert & Helmke 1997) und der Lernstrategien (z. B. Artelt 2000, 234ff.). Studien zur Lehrerexpertise und Lehrerprofessionalität verweisen auf den Einfluss von Lehrerkompetenzen in zweierlei Hinsicht, zum einen auf die Unterrichtsangebote selbst und zum anderen – vermittelt über
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didaktisch-methodische Entscheidungen – auf den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler (vgl. OECD 2009; Baumert & Kunter 2006). Darüber hinaus stellen herkunftsbedingte Unterschiede wie ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital wichtige Determinanten des Kompetenzerwerbs dar (vgl. Baumert, Stanat & Watermann 2006; Baumert, Watermann & Schümer 2003). Institutionelle Effekte der Schulformgliederung moderieren ebenfalls die Ergebnisse von Bildungs- und Qualifizierungsprozessen (zum differenziellen Entwicklungsmilieu von Schulsystemen vgl. Baumert, Köller & Schnabel 2000, 57ff.). Kognitive Lernvoraussetzungen und soziokulturelle Herkunftsmerkmale gehören zu den relativ intensiv beforschten Einflussfaktoren, je unterscheidend zwischen individuellen Zusammenhängen und solchen auf aggregierter Ebene (vgl. Lehmann 2006). In einer Reihe von Studien wird die bereits eingangs erwähnte doppelte Funktion kognitiver Fähigkeiten im Rahmen der Schulleistungsgenese untermauert (vgl. den Überblick über einschlägige Studien bei Hattie 2002). Ähnlich stellt sich der Einfluss der sozialen Herkunft von Schülerinnen und Schülern dar, der nicht nur auf individueller Ebene, sondern auch auf aggregierter Ebene den Lernerfolg moderiert (vgl. Baumert, Stanat & Watermann 2006). Tiedemann & Billmann-Mahecha (2004) wiesen den Einfluss von Kompositionseffekten hinsichtlich der schulbezogenen Migrantenquote, einem spezifischen Merkmal kultureller Herkunft, nach, der durch eine Überrepräsentanz auf aggregierter Ebene, hier der Schule, verstärkt wurde. Ganz ähnlich liegen die Befunde zu solchen Kompositionseffekten bei Stanat (2006), die allerdings über den Migrantenanteil hinaus weitere sozioökonomische Merkmale sowie auch kognitive Grundfähigkeiten in die Analysen einbezieht. Angesichts der Befunde ist die Frage nach differenziellen akademischen Entwicklungsmilieus, die von Baumert, Köller & Schnabel (2000, 58) auf Schulformebene und von Tiedemann & Billmann-Mehecha (2004) und Stanat (2006) auf Einzelschulebene diskutiert werden, auch auf der Ebene der Klassen innerhalb einer Institution zu stellen, erst recht für die beruflichen Schulen, die meist unter „einem Dach“ unterschiedlichste Bildungsgänge und Schulformen vereinen. In der Regel wird in den bisherigen Studien zu Kompositionseffekten der Einfluss der mittleren Ausprägung von Merkmalen auf Schul- und/oder Klassenebene untersucht, die Streuung hingegen spielte bislang nur eine geringe Rolle. Es gibt nur wenige empirisch belastbare Studien, die neben dem mittleren Leistungsniveau und der mittleren Ausprägung der kulturellen Herkunft auch die Leistungsstreuungen und weitere kompositionelle Merkmale der Lerngruppen wie Alter, Geschlecht etc. innerhalb der Lerngruppe berücksichtigen. Diese Fragestellung wurde lediglich vereinzelt aufgegriffen, z. B. von Lehmann (2006) und von Gröhlich, Scharenberg & Bos (2009) für die Entwicklung der mathematischen und sprachlichen Kompetenzen. Beide Untersuchungen verweisen auf die in dieser Frage unübersehbaren Forschungslücken, die weitere fachbezogene Analysen zur Bedeutung der Heterogenität der Klassen für den individuellen Lernerfolg dringend nahe legen. Auch die Ergebnisse zum Einfluss des auf Klassenebene aggregierten kognitiven Niveaus für den individuellen Lernerfolg und der Zusammenhang zu Merkmalen der Feinsteuerung des Unterrichts bedürfen noch weiterer
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Klärung. Solche Einflüsse können nur über Studien mit entsprechender Stichprobengröße und einer simultanen Betrachtung von Daten auf der Individualebene und aggregierten Ebenen (Klasse, Schule) erzielt werden. Umgekehrt ist – angesichts der hier skizzierten disparaten Befunde – davon auszugehen, dass eine mangelnde Berücksichtigung hierarchischer Datenstrukturen zu Fehlschlüssen und Fehlinterpretationen führen kann. Für den Bereich der beruflichen Bildung sind komplexe Input-ProzessOutput-Analysen, die die hierarchische Struktur der Daten angemessen berücksichtigen, bislang eher rar. Dies mag auch in den hohen Anforderungen an das dafür notwendige Forschungsdesign begründet liegen. So kann eine simultane Berücksichtung von Einflussmerkmalen auf verschiedenen Ebenen nur dann erfolgen, wenn auf den verschiedenen Aggregateinheiten auch eine adäquate Stichprobengröße gegeben ist und differenzierte Informationen zu den Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler vorliegen. Hinter den leicht verfügbaren Informationen wie Schulabschlüssen und Schulzeugnissen verbirgt sich bekanntermaßen eine hohe Bandbreite an kognitiven und metakognitiven Kompetenzen, die für die Abschätzung von Effekten individueller Voraussetzungen und von Kompositionseffekten der Lerngruppen auf den Lernerfolg nicht bzw. nur bedingt geeignet ist (vgl. z. B. zum sozialen Referenzrahmen der Notengebung Schrader & Helmke 2001). Neben den hier thematisierten Forschungsaspekten ist die Bedeutung systematischer Informationen über Anfangsbedingungen und Ressourcen der Schülerinnen und Schüler für die Ausgestaltung der Lernumwelten und didaktisch-methodische Entscheidungen herauszustellen. Nicht selten wird – über das allgemeine Niveau der individuellen Anfangsbedingungen hinaus – bei Argumenten zur Belastung von Lehrern oder bei der Ursachenforschung für nicht hinreichenden Lernerfolg die Heterogenität der Schülerschaft in kognitiver wie auch sozial-biografischer Hinsicht innerhalb desselben Bildungsgangs und/oder derselben Klasse ins Feld geführt, ohne dass deren Effekte auf die Gestaltung der LehrLernumgebungen und die Wechselwirkung von diesen Input- und Prozessmerkmalen auch nur annähernd differenziert untersucht wären. Heterogenität der Schülerschaft wird – nicht nur in der beruflichen Bildung – eher unter der Perspektive eines Problems für die optimale Lernentwicklung aller Schüler und einer alltäglichen Herausforderung für die Lehrenden diskutiert als unter jener einer realen Bedingung des Zusammenlebens und eines Anregungspotenzials. Prinzipiell wird angenommen, dass es in homogenen Klassen einfacher ist, allen Schülern optimale Entwicklungsangebote zu unterbreiten – vermutlich auch vor dem Hintergrund der Minimierung von potenziellen Zielkonflikten zwischen Sicherung von Mindeststandards und differenzieller Förderung. Dies dürfte erst recht die beruflichen Schulen betreffen, die – trotz leistungsmäßiger und sozialer Stratifizierung (zur Berufssegmentation nach Vorbildungsstruktur vgl. Autorengruppe Bildungsberichtserstattung 2008, 110f.) – erhebliche Leistungsstreuungen zwischen den Klassen des gleichen Ausbildungsberufs bzw. Bildungsgangs aufweisen (vgl. Seeber 2007, 48).
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3. FRAGESTELLUNGEN Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wird anhand von Daten aus einer Hamburger Untersuchung in der beruflichen Bildung folgenden Fragen nachgegangen: – Inwiefern stellen Bildungsgänge und Schulklassen innerhalb von Bildungsgängen unterschiedliche Entwicklungsmilieus dar? – Welchen Einfluss haben Kompositionseffekte von Lerngruppen auf die Entwicklung berufsfachlicher Kompetenzen? – Können Unterschiede in der Leistungsvariation von Lerngruppen für den beruflichen Lernerfolg geltend gemacht werden? 4. STICHPROBE, ERHEBUNGSGRUNDLAGEN UND METHODISCHES VORGEHEN Die „Untersuchung der Leistungen, Motivation und Einstellungen zu Beginn der beruflichen Ausbildung“ (ULME I) der Freien und Hansestadt Hamburg mit einem Längsschnitt bei den teilqualifizierenden Berufsfachschulen (ULME II) und für ausgewählte Ausbildungsberufe (ULME III) bietet eine umfassende Bestandsaufnahme zu allgemeinen kognitiven und metakognitiven Merkmalen sowie zu schulbezogenen Leistungsdomänen (Deutsch, Mathematik Englisch) der Jugendlichen bei Eintritt in einen beruflichen Bildungsgang. Sie liefert darüber hinaus Informationen zu weiteren individuellen Schülermerkmalen (familiärer Hintergrund, Migrationshintergrund, schulbiografische Merkmale, bildungsrelevante Ressourcen) sowie zu schul- und ausbildungsbezogenen Einstellungen und Motivationen. Insgesamt waren ca. 13.000 Jugendliche in die Erhebung einbezogen. Davon sind 3.038 Schülerinnen und Schüler in eine teilqualifizierende Berufsfachschule eingemündet, die in sechs berufsbezogenen Fachrichtungen angeboten wird. Gegen Ende der zweijährigen Bildungsmaßnahme konnten noch 1.762 Jugendliche, die die Maßnahme vollständig durchlaufen hatten, bei den Abschlusserhebungen erfasst werden. Das Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung stellte mit 1.517 Jugendlichen am Beginn und 886 Jugendlichen am Ende der teilqualifizierenden Ausbildung die stärkste Gruppe dar. Die Daten der teilqualifizierenden Berufsfachschulen im Bereich von Wirtschaft und Verwaltung erlauben es, den im Abschnitt 3 genannten Forschungsfragen nachzugehen. Als Kriteriumsvariable dient eine nach modernen Standards der probabilistischen Testtheorie entwickelte Skala zur wirtschaftsberuflichen Kompetenz, die Aussagen zur Ausprägung eines anwendbaren und anschlussfähigen wirtschaftsberuflichen Verständnisses gestattet. Neben einer hinreichenden Berücksichtigung der in der Schule behandelten volks- und betriebswirtschaftlichen Inhaltsbereiche waren von den Jugendlichen unterschiedliche ökonomische Begriffe, Methoden und Ideen bei der Aufgabenlösung anzuwenden. Zur Erklärung der Leistungen im berufsfachlichen Test werden allgemeine kognitive Grundfähigkeiten, die Kompetenzdomänen Mathematik und Deutsch sowie metakognitive Strategien im Texterschließen herangezogen, die sich in verschiedenen beruflichen Leistungsstudien
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als Prädiktoren bewährt haben (vgl. Nickolaus, Geissel & Gschwendtner 2008; Lehmann & Seeber 2007). Darüber hinaus stehen Informationen zu sozioökonomischen, kulturellen und individuellen Merkmalen (bildungsrelevante Ressourcen: erfasst über die höchsten Schul- und Berufsabschlüsse der Eltern, Buchbestand im Elternhaus, Zugang zu materiellen Bildungsressourcen wie Fachbüchern, eigener Schreibtisch, Computer und Internet; Migrationsstatus: erfasst über die im Haushalt gesprochene Sprache; Geschlecht) sowie Daten zur Einstellungen und Motivationen zu Schule, Arbeit und Beruf zur Verfügung. Als Erklärung für einen günstigen Klassenmittelwert im wirtschaftsberuflichen Test kommen beispielsweise einerseits günstige kumulierte Individualmerkmale in Frage, andererseits können aber Charakteristika der Lerngruppe die Zusammenhänge zwischen der abhängigen Variablen und den Prädiktoren selbst beeinflussen. Im Einzelnen wird also gefragt, ob sich über den Individualeffekt hinaus auf der Ebene einzelner Schulklassen ein positiver Zusammenhang zwischen im Durchschnitt günstigen kognitiven, sozioökonomischen und kulturellen Voraussetzungen als Indiz für ein vergleichsweise anregungsreiches Lernmilieu und den erreichten Lernständen nachweisen lässt. Eine besondere Aufmerksamkeit liegt auf der Frage, ob die Leistungsstreuungen der Merkmale, die als Prädiktoren auf der Klassenebene in das Modell eingehen, den Lernerfolg im wirtschaftsberuflichen Bereich beeinflussen. Solche Effekte werden als Kompositionseffekte bezeichnet. Neben den Differenzen in den Mittelwerten können aber auch Differenzen hinsichtlich der Relevanz der Prädiktoren innerhalb der Lerngruppen auftreten, die in „slope as outcome“ Modellen beschrieben werden. Diese Zusammenhänge lassen sich mit Verfahren der Mehrebenenanalyse aufklären. Für die hier diskutierten Zusammenhänge wurde ein Zwei-EbenenModell unter Verwendung des Programms HLM, Version 6.02 (Raudenbush, Bryk, Cheong & Congdon 2004), gewählt. In einem ersten Schritt wird die Varianz der abhängigen Variablen (hier: der erreichten wirtschaftsberuflichen Fachkompetenzen) in die Anteile innerhalb und zwischen den Lerngruppen zerlegt (Berechnung des sogenannten „Nullmodells“). Anschließend werden die typischen Relationen zwischen individuellen Leistungsprädiktoren und erzieltem Lernerfolg innerhalb der Lerngruppen untersucht und schließlich in einem dritten Schritt die Beziehungen zwischen (aggregierten) Klassenmerkmalen und den klassenspezifischen Effekten bezüglich allgemeiner Leistung und deren variabler Verknüpfung mit den Hintergrundeinflüssen („intercept and slopes as outcomes“) analysiert. Auf diese Weise kann ein Modell der teilweise miteinander interagierenden Effekte entwickelt werden, das vor allem diejenigen Fehlschlüsse vermeidet, die aus inkorrekter Zuordnung undifferenzierter korrelativer Zusammenhänge folgen. Konkret wird zunächst folgenden Fragen nachgegangen: – Welchen Erklärungsbeitrag liefern kognitive und kulturelle Faktoren der Schülerinnen und Schüler bei Eintritt in die teilqualifizierende Ausbildung zur Entwicklung wirtschaftsberuflicher Kompetenzen? – Wirken über diese individuellen Merkmale hinaus weitere Einflussgrößen auf der Ebene der Schulklassen auf den wirtschaftsberuflichen Lernerfolg?
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Das Individualmodell wurde wie folgt spezifiziert: WuV_U2ij=E0j + E1j (GESCHLij) + E2j (MUSPRAij) + E3j (Deutsch-LeseVerständnis_U1ij) + E4j (MATHE1_U1ij) + E5j (MATHE2_U1ij) + E6j (Metakog_U1ij) + rij Dabei gilt: WuV_U2ij:
Kriteriumsvariable: Fachleistungstest für „Wirtschaft und Verwaltung“ (Untersuchungszeitpunkt 2)
E0j:
additive Konstante, die für die Regressionsgerade der Klasse j charakteristisch ist
E1j:
Steigungskoeffizient für die Variable Geschlecht (dichotom kodiert)
E2j:
Steigungskoeffizient für die Variable Muttersprache (dichotom kodiert)
E3j:
Steigungskoeffizient für die Variable Deutsch Leseverständnis (Untersuchungszeitpunkt 1, Beginn der BFS-tq)
E4j:
Steigungskoeffizient für die Variable Mathematik I (Untersuchungszeitpunkt 1, Beginn der BFS-tq)
E5j:
Steigungskoeffizient für die Variable Mathematik II (Untersuchungszeitpunkt 1, Beginn der BFS-tq)
E6j:
Steigungskoeffizient für die Variable Metakognitives Wissen in der Texterschließung (Untersuchungszeitpunkt 1, Beginn der BFS-tq)
rij:
Individuelle Abweichung des Schülers i (Residuum) von den Trends der Klasse j.
Um die zweite Frage im Sinne differenter Lernmilieus beantworten zu können, sind die Unterschiede in den klassenbezogenen Regressionsgeraden zu prüfen, die Besonderheiten in den Lernbedingungen zum Ausdruck bringen können und zwar sowohl in den Achsenabschnitten als auch in den Steigungskoeffizienten. Der Grundgedanke dieser Form der Mehrebenenanalyse besteht also darin, die statistischen Zusammenhänge innerhalb der aggregierten Einheiten (hier: Klassen) ihrerseits als abhängige Variablen zu definieren, wobei die Merkmale, die zwischen diesen Einheiten variieren, als Prädiktoren fungieren. Diese Struktur ist – wie bereits erwähnt – auch als „slopes and intercepts as outcomes“ oder „systematic varying slopes“ (SVS) bekannt (vgl. Ditton 1998, 35). In den Datenanalysen für die Handelsschulen wurden Fälle mit fehlenden Werten ausgeschlossen, ebenso Klassen mit weniger als zehn Jugendlichen. Im Ergebnis standen 44 von 48 Klassen mit 507 Schülerinnen und Schülern für die Analysen zur Verfügung. Von vornherein wurden jene 48 Schülerinnen und Schüler ausgeschlossen, die nicht an ULME I teilnahmen, da sie das zweite Jahr wiederholten. Die damit verbundene Selektion wurde anhand verschiedener Leistungsindizes überprüft. Im Ergebnis zeigt sich nach Ausschluss der Fälle mit fehlenden Werten in einer der einbezogenen Variablen eine leicht überdurchschnittliche Testleistung, wodurch die Mittelwerte tendenziell überschätzt werden. Allerdings sind die Effektstärken so gering, dass mit einer substanziellen Verschiebung der Zusammenhänge nicht zu rechnen ist.
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5. BEFUNDE 5.1. Leistungsvoraussetzungen und Leistungsvariation in den teilqualifizierenden Bildungsgängen der Hamburger Berufsfachschulen In die teilqualifizierenden Bildungsgänge der Hamburger Berufsfachschulen münden Jugendliche ein, die aus unterschiedlichen Gründen beim Übergang in eine berufliche Ausbildung scheiterten. Überwiegend handelt es sich um Schülerinnen und Schüler, die aufgrund individueller Wissens- und Kompetenzlücken oder wegen ihrer Herkunft am Ausbildungsstellenmarkt benachteiligt sind. Darüber hinaus sind in diesen Bildungsgängen durchaus auch Jugendliche zu finden, die aufgrund ihrer Persönlichkeitsmerkmale und Lernvoraussetzungen eine Ausbildung erfolgreich hätten absolvieren können, deren Berufswahlprozesse jedoch noch nicht abgeschlossen waren oder die aufgrund der kritischen Situation am Ausbildungsstellenmarkt zu den Verlierern gehörten. Insgesamt zeigen die Befunde zu den Lernausgangslagen ein zwar heterogenes, aber dennoch vornehmlich ungünstiges Leistungsprofil in Bezug auf jene zentralen und grundlegenden Kompetenzen, die für die individuellen Lern- und Lebenschancen als bedeutsam gelten (vgl. Seeber 2005; Lehmann, Seeber & Hunger 2006). Innerhalb der berufsbezogenen Fachrichtungen zeichneten sich in den einzelnen Domänen recht unterschiedliche Anfangslernstände ab. Beispielsweise erreichten die Klassen aus dem Berufsfeld Ernährung und Hauswirtschaft am Ende der teilqualifizierenden Ausbildung durchschnittliche Leseleistungen, die für andere Bildungsgänge wie der Berufsfachschule für Sozialwesen Anfangsbedingungen darstellten. Noch stärker unterschied sich das durchschnittliche mathematische Eingangsniveau zwischen den beruflichen Fachrichtungen. Abbildung 2 veranschaulicht die Variation der Kompetenzverteilung zwischen wie auch innerhalb der Bildungsgänge. Neben einem großen Überlappungsbereich werden auch durchaus beträchtliche Leistungsunterschiede zwischen und auffällige Leistungsstreuungen innerhalb der Klassen der einzelnen Bildungsgänge deutlich, vor allem aber bei den Handelsschulen. Bemerkenswert sind auch die deutlichen höheren Kompetenzausprägungen der mathematik- und techniknahen Bildungsgänge wie der zweijährigen Handelsschule, der Metall- und Elektrotechnik (vgl. Lehmann, Seeber & Hunger 2006, 85). Dies dürfte zum einen mit der geschlechtsspezifischen Besetzung der Bildungsgänge in Zusammenhang stehen und zum anderen auf individuelle Interessen und fachbezogene Selbsteinschätzungen bei der Wahl der beruflichen Fachrichtung zurückzuführen sein (vgl. dazu auch die Befunde von Watermann & Baumert 2000 bei TIMSS-III).
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Heterogenität und Lernerfolg
Mittelwert Mahtematik II
125
100
75
50
25 BFS f. Gesundheit
BFS f. Sozialwesen
BFS f. Ernährung u. Hauswirtschaft
Handelsschule
BFS f. Elektrotechnik BFS f. Metalltechnik
Abb. 2: Testleistungen in Mathematik nach Bildungsgängen und Klassen zu Beginn der teilqualifizierenden Ausbildung
Gegen Ende der zweijährigen Ausbildungszeit zeigten sich erwartungsgemäß gravierende Unterschiede in der Kompetenzausstattung in den verschiedenen Domänen. Diese äußerten sich nicht nur in unterschiedlichen Lernzuwächsen und Lernständen, sondern auch in Veränderungen der Leistungsstreuungen (vgl. Lehmann, Seeber & Hunger 2006, 88). Somit kann man die analytisch aber auch pädagogisch bedeutsame Frage stellen, inwiefern individuelle Leistungs- und Persönlichkeitsmerkmale, aber auch Merkmale auf aggregierter Ebene einen Einfluss auf die Lernentwicklung ausüben. Dies soll nunmehr am Beispiel der teilqualifizierenden Handelsschulen untersucht werden. 5.2. Zum Zusammenhang von Schülervoraussetzungen, Lernkontext und Lernerfolg der teilqualifizierenden Ausbildung an Hamburger Handelsschulen Zunächst wird die Verteilung der Varianz zwischen den Ebenen geprüft, d. h. wie viel Varianz in den Testleistungen auf Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern der teilqualifizierenden Ausbildung zurückzuführen ist und wie viel Varianz in Klassenmerkmalen begründet liegt. Nach diesen Ergebnissen, die sich auf 507 Schüler in 44 Klassen beziehen, ist davon auszugehen, dass zwischen den einzelnen Klassen hinsichtlich der Durchschnittsleistung erhebliche und untersuchungswürdige Differenzen bestehen. Auch wenn dieser Varianzanteil nur rund 8
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Prozent beträgt, lohnt es sich, nach den Hintergründen für diese Unterschiede zwischen den Klassen zu fragen. Die Befunde bestätigen weitgehend die eingangs diskutierten Erkenntnisse der allgemeinen Schulleistungsforschung: (1) Günstige Ausprägungen im mathematischen Vorwissen, im Leseverständnis und in den metakognitven Strategien der Textverarbeitung bei Eintritt in die Maßnahme gehen mit höheren wirtschaftsberuflichen Fachleistungen am Ende einher. (2) Es liegt ein erkennbarer Leistungsvorteil der männlichen Jugendlichen gegenüber den weiblichen vor. (3) Eine deutsche Herkunftssprache begünstigt höhere Fachleistungen im wirtschaftsberuflichen Kompetenztest; ein Migrationshintergrund hingegen zeigt sich an niedrigeren Punktwerten, und zwar ceteris paribus in der Größenordnung von durchschnittlich 4 Punkten (E2 = 0,38; vgl. Tabelle 1). Eigenständige Erklärungsbeiträge nonverbaler Intelligenz sowie sozioökonomischer Einflussfaktoren konnten in dieser Stichprobe nicht zufallskritisch abgesichert werden. Variable / Koeffizient
Koeffizient
Standardfehler
Signifikanz p
Konstante WuV_U2 E0, u0
-0,01
0,05
0,832
Geschlecht E1, u1
0,23
0,08
0,004
MUSPRA E2, u2
0,38
0,08
0,000
DLGR_U1 E3, u3
0,20
0,05
0,000
MAT1_U1 E4, u4
0,19
0,04
0,000
MAT2_U1 E5, u5
0,12
0,04
0,009
Metakog_U1 E6, u6
0,10
0,04
0,016
Individualmodell: WuV_U2ij=E0j + E1j (GESCHLij) + E2j (MUSPRAij) + E3j (Deutsch-LeseVerständnis_U1ij) + E4j (MATHE1_U1ij) + E5j (MATHE2_U1ij) + E6j (Metakog_U1ij) + rij Tab. 1: Regressionsgleichung der Ebene 1 (Individualebene)
Einige zusätzliche Einsichten sind nun durch die Einbeziehung von Zusammenhängen mit aggregierten Merkmalen zu gewinnen. Zur Vorhersage der Leistungen im wirtschaftsberuflichen Test werden auf der Klassenebene die mittleren allgemeinen kognitiven Voraussetzungen, das mittlere Leistungsniveau in den Domänen Mathematik und Leseverständnis und in den metakognitiven Strategien der Texterschließung sowie die Variation dieser kognitiven Merkmale, d.h. die Streuungen innerhalb der Klassen, aufgenommen. Darüber hinaus werden Einflüsse der mittleren sozioökonomischen und kulturellen Ressourcen und deren Streuungen geprüft, ebenso Einflüsse der Geschlechterproportionen und des Migrationsanteils innerhalb der Lerngruppen.
Heterogenität und Lernerfolg
101
Die Erklärung der Unterschiede erfolgt dabei über die Gleichungen: E0j = Ȗ00 + Ȗ01 CFT_Mj + Ȗ02 Deutsch-LeseVerständnis_U1_SDj + u0j E1j = Ȗ10 + u1j E2j = Ȗ20 + u2j E3j = Ȗ30 + u3j E4j = Ȗ40 + Ȗ41 GESCHLj + u4j E5j = Ȗ50 + u5j E6j = Ȗ60 + Ȗ61 CFT_Mj u6j Ȗ00:
Ȗ10: Ȗ20: Ȗ30: Ȗ40:
Ȗ41:
Ȗ50:
Ȗ60:
Ȗ61:
ukj:
additive Konstante, die für die klassenübergreifende Regressionsgerade charakteristisch ist, welche die Hintergründe der differierenden Klassenmittelwerte modelliert Steigungskoeffizient, der den klassenübergreifenden Zusammenhang Ȗ01: zwischen Durchschnittsleistung und durchschnittlichem allgemeinen kognitiven Anspruchsniveau beschreibt Steigungskoeffizient, der den klassenübergreifenden Zusammenhang Ȗ02: zwischen Durchschnittsleistung und der Variation in den Leseleistungen beschreibt Steigungskoeffizient der Regressionsgeraden, welche den Zusammenhang zwischen Testleistungen und Mädchenanteil klassenübergreifend modelliert Steigungskoeffizient der Regressionsgeraden, welche den Zusammenhang zwischen Testleistungen und Migrantenquote klassenübergreifend modelliert Steigungskoeffizient der Regressionsgeraden, welche den Zusammenhang zwischen Testleistungen und Leseverständnis klassenübergreifend modelliert Steigungskoeffizient der Regressionsgeraden, welche den Zusammenhang zwischen Testleistungen und schulnahen, curricular gebundenen mathematischen Fähigkeiten klassenübergreifend modelliert Koeffizient, der die Moderation des klassenübergreifenden Zusammenhangs zwischen Durchschnittsleistung und Erfolg im curriculumnahen Mathematiktest durch den Mädchenanteil beschreibt Steigungskoeffizient der Regressionsgerade, welche den Zusammenhang zwischen Testleistungen und mathematischen Fähigkeiten in Alltagssituationen klassenübergreifend modelliert Steigungskoeffizient der Regressionsgeraden, welche den klassenübergreifenden Zusammenhang zwischen Testleistungen und metakognitiven Strategien im Texterschließen modelliert Koeffizient, der die Moderation des klassenübergreifenden Zusammenhangs zwischen Durchschnittsleistung und metakognitiven Strategien durch das allgemeine kognitive Fähigkeitsniveau der Klasse beschreibt Abweichung des mittleren Lernstands in der Klasse j (Residuum auf aggregierter Ebene) von den modellierten aggregierten Trends
Tabelle 2 lässt sich nun entnehmen, dass Klassen mit höheren allgemeinen kognitiven Voraussetzungen (erfasst über den CFT 20) über den geschilderten individuellen Effekt hinaus insgesamt eine günstigere wirtschaftsberufliche Kompetenzausprägung erreichen. Man wird darin am ehesten ein Indiz für ein anregendes und produktives Lernmilieu sehen, in dem stärker ausgeprägte Lernfortschritte
102
Susan Seeber
stattgefunden haben, als nach den Anfangslernständen der einzelnen Schüler zu erwarten waren. Bemerkenswert ist jedoch vor allem der Befund, dass die Streuungen in den Lesekompetenzen – und nur in dieser Hinsicht erwies sich die Leistungsvariation als eine Größe, die neben den individuellen Determinanten und der kognitiven Klassenzusammensetzung ebenfalls einen positiven Einfluss auf die wirtschaftsberuflichen Testleistungen haben, und zwar auf Klassenebene. Dieser Befund dürfte sich vor allem über ein differentielles Wachstum erklären lassen: Offensichtlich wird in Gruppen mit hohen Leistungsstreuungen in der Lesekompetenz, die in der Tendenz auch ungünstigere allgemeine kognitive Voraussetzungen aufweisen, stark kompensatorsich gearbeitet (corrcft_u1-wuv_u2 = -.19). Hier gehen offensichtlich Lernfortschritte in der Lesekompetenz mit Lernfortschritten im wirtschaftskundlichen Bereich einher, wovon vor allem die lernschwächeren Schülerinnen und Schüler profitieren. Der Zusammenhang zwischen Testleistungen in der schulnahen Mathematik (Mathematik I) und den wirtschaftsberuflichen Kompetenzen wird auf Klassenebene moderiert durch den Mädchenanteil in der Lerngruppe. In Klassen mit einem höheren Mädchenanteil wird der Zusammenhang zwischen den beiden Variablen enger bzw. umgekehrt, in Klassen mit einem höheren Anteil männlicher Jugendlicher schwächt sich der Zusammenhang ab. Offensichtlich gelingt es in Klassen mit einem höheren Anteil an weiblichen Jugendlichen über die individuellen Beiträge hinaus das kollektive mathematische Niveau systematisch für die wirtschaftliche Kompetenzentwicklung zu nutzen. Ebenso können die metakognitiven Fähigkeiten im Umgang mit Texten besser in jenen Klassen genutzt werden, die ein höheres allgemeines kognitives Niveau aufweisen. Koeffizient (ȕj = Ȗjk)
Standardfehler
Signifikanz (p)
Konstante: WuV_U2
(-0,002)
(0,047)
(0,969)
x CFT_U1 (CFT 20)
0,475
0,168
0,008
x DLV_U1_SD (Streuung Leseverständnis)
0,507
0,191
0,012
Konstante: Geschlecht (Ref. 0 = weiblich)
0,199
0,075
0,008
Konstante: Muttersprache (Ref. 0 = nichtdeutsch)
0,391
0,079
0,000
Konstante: DLV_U1 (Leseverständnis)
0,175
0,041
0,000
Konst.: MAT1_U1 (Mathematik I)
0,189
0,041
0,000
x Geschlecht (Ref. 0 = weiblich)
-0,669
0,284
0,019
Konstante: Mat2_U2 (Mathematik II)
0,119
0,045
0,008
Konstante: Metakog_U1 (Metakog. Strategien)
0,099
0,042
0,018
x CFT_U1
0,292
0,119
0,015
Variable (Gruppenmittelwert)
Tab 2: Aggregierte Prädiktoren der wirtschaftsberuflichen Kompetenz von Hamburger Jugendlichen an teilqualifizierenden Berufsfachschulen
Heterogenität und Lernerfolg
103
6. ZUSAMMENFASSUNG Die hier vorgelegte Analyse hat beispielhaft gezeigt, dass an berufsbildenden Schulen, für die solche Zusammenhänge bisher kaum untersucht sind, trotz scheinbar enger Ausrichtung an berufsspezifischen Curricula und Ausbildungsweisen mit recht unterschiedlichen und unterschiedlich erfolgreichen Lernkulturen zu rechnen ist. Auf die Entwicklung wirtschaftsberuflicher Fähigkeiten wirken offenbar verschiedenste Faktoren, die nicht zuletzt von der speziellen Konfiguration der einzelnen Lerngruppen und, verbunden damit, vom jeweiligen Lernmilieu abhängen. Es kann nicht überraschen, dass die Voraussetzungen förderlicher Arbeit eher in den relativ leistungsstarken Lerngruppen zu finden sind als in den Gruppen, die durch deutlich ungünstigere Lernvoraussetzungen charakterisiert sind. Aus den entsprechenden Beobachtungen zu den Auswirkungen, die sich offenbar systematisch aus der Anfangszusammensetzung der Lerngruppe ergeben, lassen sich allerdings nur mittelbar Folgerungen für den Unterricht in einem bestimmten Lernmilieu erschließen. Namentlich in den nach ihrer Lernausgangslage ungünstig zusammengesetzten Gruppen wird es erheblichen Geschicks und großer Anstrengung bedürfen, die durch Wechselwirkungseffekte noch verstärkten Nachteile für die Jugendlichen zu verhindern oder doch mindestens zu vermindern. Um einen differenzierten Einblick in die Effekte der Leistungsvariation auf den Lernerfolg in beruflichen Domänen zu erhalten, sind weitere Untersuchungen erforderlich. In den hier analysierten Gruppen lassen jedenfalls keine Belege für negative Effekte eines größeren Leistungsspektrums innerhalb von Klassen finden, ganz im Gegenteil, tendenziell zeichnet sich eher ein Vorteil ab, an dem insbesondere lernschwächere Jugendliche partizipieren können. Welche Ursachen letztlich dafür verantwortlich sind, dass in einigen Lernkontexten besser gelernt wird als in anderen, wird nur unter Einbeziehung von Unterrichtsangeboten stärker aufgeklärt werden können. LITERATUR Achtenhagen, F. (2004): Prüfung von Leistungsindikatoren für die Berufsbildung sowie zur Ausdifferenzierung beruflicher Kompetenzprofile nach Wissensarten. In: Baethge, M. Buss, K.-P. & Lanfer, C. (Hrsg.): Expertisen zu den konzeptionellen Grundlagen für einen Nationalen Bildungsbericht – Berufliche Bildung und Weiterbildung/Lebenslanges Lernen. Bildungsreform Band 8. Bonn: Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 11-32. Artelt, C. (2000): Strategisches Lernen. Münster u.a.: Waxmann. Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2008): Bildung in Deutschland 2008. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bielefeld: Bertelsmann. Baumert, J. & Kunter, M. (2006): Stichwort: Professionelle Kompetenz von Lehrkräften. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 9(4), 469-520. Baumert, J. Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider, W., Stanat, P. Tillmann, J.-K. & Weiß, M. (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich.
104
Susan Seeber
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Heterogenität und Lernerfolg
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Susan Seeber
JENSEITS DES WIRTSCHAFTSINSTRUMENTELLEN RECHNUNGSWESENS – EIN KOGNITIV-STRUKTURELLER UND INFERENTIELLER ANSATZ Gerhard Minnameier & Maxi Link
KURZFASSUNG Ausgehend von einer Kritik des wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesens wird eine alternative didaktische Konzeption für das Rechnungswesen entwickelt. Hauptkritikpunkt dabei ist die unzureichende kognitiv-strukturelle Orientierung des wirtschaftsinstrumentellen Ansatzes. Dem wird eine Rekonstruktion des strukturgenetischen Aufbaus elementarer Zusammenhänge im Rechnungswesen sowie der kognitiven Teilschritte beim Vollzug einer bestimmten Lernsequenz gegenüber gestellt. ABSTRACT Based on a critique of the instrumental approach to accounting (wirtschaftsinstrumentelles Rechnungswesen) an alternative didactic approach will be developed. The main criticism concerns the insufficient structural-cognitive orientation of the instrumental approach. In contrast, the suggested alternative is based on a structural developmental reconstruction of basic concepts of accounting and an inferential analysis of one decisive part of the underlying learning process. 1. PROBLEMSTELLUNG Der Rechnungswesenunterricht scheint in der Krise befindlich, und zwar nicht nur, weil er manchen als ein Relikt alter bzw. veralteter Kaufmannstugenden erscheint, sondern weil darüber hinaus Verunsicherung hinsichtlich der „richtigen“ Didaktik herrscht. Das eine hat freilich durchaus mit dem anderen zu tun, weil von den Vertretern eines zeitgemäßen Rechnungswesenunterrichts behauptet wird, die traditionelle Art der Vermittlung stelle das Rechnungswesen als bloßes Dokumentations- und Rechenschaftssystem dar und vernachlässige seine Funktion als Planungs- und Entscheidungsgrundlage. Würde man diese in den Mittel-
108
Gerhard Minnameier & Maxi Link
punkt stellen, so könnte der Rechnungswesenunterricht nachgerade den Kern der Vermittlung wirtschaftlichen Zusammenhangswissens und kaufmännischer Kompetenz bilden. Zudem werden sachliche Fehler beklagt, die die traditionelle Rechnungswesendidaktik impliziert und den Lernenden zumutet. Soweit man dem Kerngedanken des Rechnungswesens als Zentrierungsfach im kaufmännischen Fächerkanon (vgl. bspw. Preiß & Tramm 1996a, 239) zu folgen geneigt ist, wird man insofern froh sein über die Entwicklung der Diskussion, die über die vergangenen zwei Jahrzehnte stattgefunden hat (beginnend mit Achtenhagen 1990), und über die Entwicklung eines neuen Ansatzes, dem des „wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesen“ (vgl. insbes. Preiß & Tramm 1996a; Preiß 1999).1 Der Göttinger Ansatz des „wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesens“ ist ein auf Prinzipien der Handlungsorientierung gestützter curricularer Entwurf. Das bedeutet in erster Linie: Situationsbezug in Form möglichst realitätsnaher Unternehmenssimulationen und Entwicklung von Wissen bzw. Kompetenzen aus konkretem praktischen und arbeitsanalogem Handeln heraus, wobei sowohl das Handeln als auch die darauf bezogene Reflexion nach Möglichkeit fächerübergreifend und realistisch-komplex ausgerichtet sein sollen (vgl. hierzu etwa Achtenhagen 1990; Preiß & Tramm 1990; 1996; Seifried 2004; Seifried & Sembill 2004). Wie im nachfolgenden Abschnitt 2 gezeigt wird, wird der mit dem wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesen verbundene Anspruch allerdings nur partiell eingelöst. Vor allem der Aspekt des konstruktiven Wissensaufbaus bei den Lernenden (vgl. Preiß 1999, 147-149) erweist sich als defizitär. Gerade hierauf käme es aber vor dem Hintergrund eines i. w. S. konstruktivistischen Lernverständnisses und i.S. selbstorganisierten Lernens sensu Sembill (vgl. z. B. 1999; 2000) an. Aus diesem Grunde wird im Anschluss eine alternative Rechnungswesendidaktik in ihren Grundzügen vorgestellt und für diese der strukturgenetische Aufbau expliziert (Abschnitt 3). Weiterhin werden anhand der inferentiellen Lehr-Lern-Theorie (vgl. Minnameier 2005) die elementaren erkenntnislogischen Schritte für eine ausschnitthafte Lehr-Lern-Sequenz im Detail rekonstruiert (Abschnitt 4). 2. WIRTSCHAFTSINSTRUMENTELLES RECHNUNGSWESEN – EINE KRITIK Der zentrale Anspruch des wirtschaftsinstrumentellen Ansatzes ist sowohl grundlegendes Systemverständnis im kaufmännischen Bereich zu vermitteln als auch den instrumentellen Charakter des Rechnungswesens in den Blickpunkt der Betrachtung zu rücken (vgl. insbes. Preiß & Tramm 1996a, 224-246). Dreh- und 1
Für eine Zusammenfassung der fachdidaktischen Diskussion (auch für die Zeit vor 1990) vgl. Seifried (2004, 11-69). Vgl. ansonsten die Aufsätze in Preiß & Tramm 1996b sowie Sloane 1996. Zur geschichtlichen Entwicklung des Rechnungswesens vgl. Reinisch (1991; 1996; 2005) und Schneider (1997, 11-27).
Strukturgenetische Didaktik des Rechnungswesens
109
Angelpunkt hierbei ist wiederum ein allgemeines Unternehmensmodell, anhand dessen diese Sichtweisen herausgearbeitet werden sollen. Nach diesem Modell wird das Unternehmen in drei vergleichsweise abstrakte Komponenten gegliedert (dauerhaft reserviertes Leistungspotential, Leistungsprozess, Finanzierungsprozess) und zusammen mit seiner Systemumwelt dargestellt. Innerhalb dieser Gesamtstruktur werden Wertströme dargestellt, wobei Wert darauf gelegt wird, dass die Bilanz von Wertströmen vom und zum Unternehmen jeweils ausgeglichen ist, weil z. B. jeder Gewinn (Nettowertzustrom zum Unternehmen) durch einen in entsprechender Höhe entstehenden Anspruch der Eigentümer (Wertabfluss) kompensiert wird. Auch wenn vor Einführung des Unternehmensmodells zunächst der Kassenbericht als einfaches Modell eines Soll-Ist-Vergleichs eingeführt wird und anschließend auf Inventur, Inventar und Bilanz eingegangen wird (abermals unter dem Aspekt eines Soll-Ist-Vergleichs und zur Entwicklung des Vermögens- und Kapitalbegriffs), so wird doch sehr rasch versucht, eine unter wissenschaftlichen Maßstäben korrekte und elaborierte Perspektive auf das Unternehmen unter den Aspekten den Rechnungswesens zu vermitteln. Das gilt im Übrigen auch bereits für die vorausgehenden Lektionen, bei denen bspw. Kapital sowohl als Anspruch auf betriebliches Vermögen als auch im investiven Sinne eingeführt wird (vgl. Preiß 1999, 207). In den teilweise spitzfindigen Differenzierungen (vgl. z. B. auch Preiß 2005; 2008) wird u. E. eine ausgeprägte Wissenschaftsorientierung deutlich, so dass man stets darauf bedacht ist, dass Lernende nur ja keine aus wissenschaftlicher Sicht inkorrekten Konzepte entwickeln. Nun ist gegen Korrektheit prinzipiell nichts einzuwenden. Aber die Frage ist, inwieweit dabei den weiteren, heute als zentral erachteten didaktischen Prinzipien Rechnung getragen wird. Seit Reetz (1984, 84-107) unterscheiden wir neben dem Wissenschaftsprinzip noch das Situations- und das Persönlichkeitsprinzip. Das Situationsprinzip stellt den Handlungskontext, in dem bzw. für den das zu vermittelnde Wissen bedeutsam ist, in den Vordergrund, während nach dem Persönlichkeitsprinzip zu fragen ist, aus welcher Perspektive heraus sich Lernende dem jeweiligen Gegenstand nähern und wie sich diese Perspektive systematisch weiterentwickeln lässt. Das Situationsprinzip findet seinen Niederschlag an sich schon im Namen des „wirtschaftsinstrumentellen“ Ansatzes und ganz im Sinne der Göttinger Tradition unter Frank Achtenhagen versteht sich der Ansatz auch als handlungsorientiert in dem Sinne, dass stets authentische und realistisch-komplexe Fragestellungen die Grundlage aller Vermittlungsprozesse bilden. Entsprechend wird das wirtschaftsinstrumentelle Rechnungswesen in einer unterrichtlichen Weiterentwicklung konsequent in ein Modellunternehmen eingebettet und grundsätzlich belegbasiert aufgebaut (vgl. auch Preiß 2006). Unmittelbare Realitätsbezüge werden zum Beispiel auch in der Lektion zu Inventur, Inventar und Bilanz hergestellt, wenn – soweit an der betreffenden Schule vorhanden – anhand von Übungsmaterial eine konkrete, gewissermaßen „handfeste“ Inventur durchgeführt werden soll (vgl. Preiß 1999, 181-183).
110
Gerhard Minnameier & Maxi Link
staatliche Einrichtungen dauerhaft reserviertes Leistungspotential dauerhaft reserviertes Leistungspotential Technische Anlagen und Maschinen
Leistungsprozess Leistungsprozess
Fremdbauteile
5
Hilfsstoffe Betriebsstoffe
Beschaffung
Unfertige Erzeugnisse
Fertige Erzeugnisse
Güter
Produktion Absatz
Handelswaren
(Sachgüter, Dienstleistungen, Nutzungsrechte)
7
Kunden
Roh -stoffe
4
ld Ge
t kraf eitGs Arb eld
Finanzierungsprozess 7
Forderungen
ld Ge auf
aus Lieferungen und Leistungen
4
Geld
1
Erlöschen der Ansprüche auf Geld
Zahlungsmittel •Kasse 2 •Bank Verbindlichkeiten
ld Ge
Ansprüche auf Geld
8
Geld
Geld
aus Lieferungen und Leistungen
-------------------------------------------------------------Langfristige Bankverbindlichkeiten 2 Anteile mit Anspruch auf das Reinvermögen
8
1
Eigenkapital •Gezeichnetes Kapital
Ansprüche auf Rückzahlung
Banken
e üch spr An
Arbeitnehmer
Betriebs und Geschäftsausstattung
6
vorübergehend genutzte Güter
Eigentümer
3
dauerhaft genutzte Güter
Abnutzung
Lieferanten
Grundstücke (Grund und Boden + Gebäude)
Abb. 1: Wertströme im Unternehmensmodell (vgl. Preiß 1999, 236)
Hierbei stellt sich allerdings die Frage, ob dies im Sinne einer Orientierung an den Vorwissensstrukturen der Lernenden tatsächlich notwendig und angebracht ist. Auf der einen Seite muten solch allzu konkrete Handlungen trivial und zumindest
Strukturgenetische Didaktik des Rechnungswesens
111
für Berufsschülerinnen und -schüler nicht altersgemäß an, auf der anderen Seite sind die abstrakten Wertstromanalysen (vgl. Abb. 1) vergleichsweise schwer nachvollziehbar, was sich in einer qualitativen Analyse der Daten aus einer Bamberger Studie der Gruppe um Detlef Sembill auch gezeigt hat (vgl. die Analysen von Minnameier 2005, 335-343). Im Großen und Ganzen scheint jedoch gerade der Aspekt der Persönlichkeitsentwicklung bei der wirtschaftsinstrumentellen Didaktik eher zu kurz gekommen und um der Realitätstreue und der wissenschaftlichen Korrektheit willen geopfert worden zu sein. Wenn und insoweit diese Einschätzung zutrifft, wäre dies aus heutiger lehrlern-theoretischer Sicht durchaus bedenklich, denn unter einer im weitesten Sinne konstruktivistischen Perspektive wäre gerade dieser didaktische Aspekt zu priorisieren, und die beiden anderen Prinzipien wäre ihm unterzuordnen (da sich der Bezug sowohl zu komplexen Realitäten als auch zu wissenschaftlichen Konzepten nur über einen konstruktiven Wissensaufbau herstellen lässt). Wie gezeigt, ist die Frage eines systematischen, entwicklungsorientierten Wissensaufbaus im wirtschaftsinstrumentellen Ansatz nicht gelöst. 3. EIN KOGNITIV-STRUKTURELLER ANSATZ 3.1. Zur Rekonstruktion der kognitiven Architektur Nimmt man die Frage nach der Genese buchhalterischer und kostenrechnerischer Konzepte und des entsprechenden Systemwissens ernst in dem Sinne, dass man die zentralen Strukturen nicht schon voraussetzt (wie das für das Verständnis des allgemeinen Unternehmensmodells nötig wäre), so stellt sich die Frage nach dem strukturgenetischen Aufbau. Die allgemeine piagetsche Äquilibrationstheorie darf zwar nach wie vor als angemessen zugrunde gelegt werden (vgl hierzu Minnameier 2000a, 2000b), auch wenn die klassischen Stufen teilweise als obsolet oder zumindest überarbeitungswürdig eingeschätzt werden dürfen (vgl. Steiner 1978; Demetriou 2006; Reusser 2006). Das hat Piaget selbst in gewisser Weise zugestanden und zum Ende seines Lebens und Schaffens eine völlig neuartige Stufenarchitektur postuliert, die sich als Hierarchie ineinander verschachtelter Stufen bzw. Ebenen darstellt, die ihrerseits einer dialektischen Grundsequenz entsprechen. Piaget geht dabei von einer Abfolge der Stufentypen „Intra“, „Inter“ und „Trans“ aus, die man als „Differenzierung“ (Intra), wechselseitige Inbeziehungsetzung (Inter) und Integration zu einer neuen strukturierten Ganzheit (Trans) umschreiben könnte (vgl. Piaget & Garcia 1989). Wie Stufen und Ebenen nach einem solchen Rationale exakt zu rekonstruieren wären, müsste erst noch erarbeitet werden. Vorerst kann man sich allerdings an einem Strukturierungsvorschlag von Klix (vgl. 1992) orientieren, bei dem drei Hauptstufen unterschieden werden, die er als „autobiographisches“, „ereignisbe-
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griffliches“ und „kategoriales“ Wissen bezeichnet (vgl. Abb. 2).2 Autobiographisches Wissen entspricht unseren aktuellen oder erinnerten sinnlichen Wahrnehmungen, die als solche nicht mit anderen Menschen geteilt werden können. Auf der Geschehenstypebene (ereignisbegriffliches Wissen) werden autobiographische Verstellung beobachtungssprachlich (i.S. Carnaps) gefasst und die entsprechenden begrifflichen Einheiten zueinander in Beziehung gesetzt. Der semantische Kern eines Ereignisbegriffs besteht in der Regel in einem Verb, seine Peripherie aus den entsprechenden Valenzen (Handlungsträger, Objekt, Ort, Instrument etc.). Solche elementaren Ereignisse können ferner über spezifische Relationen miteinander verknüpft werden, wobei insbesondere die beiden Relationen der Konditionalität und Kausalität interessant erscheinen (vgl. näher dazu Minnameier 1997), die nach Klix nicht mit dem jeweiligen Ereignisbegriff als dessen Bestandteil gespeichert ist, sondern in der jeweils aktuellen Verknüpfung von Ereignissen gebildet werden. Diese zwischenbegrifflichen Relationen könnten auch für einen Stufenunterschied innerhalb der Geschehenstypebene stehen. Kategoriales Wissen schließlich rekonstruiert wiederum ereignisbegriffliche Zusammenhänge im Hinblick auf dahinter liegende Gesetze bzw. Dispositionen. Explanatorische Konzepte wie bspw. das der Intelligenz sind abstrakt in dem Sinne, dass sie Konstruktionen über beobachtete und beobachtungssprachlich gefasste Regularitäten darstellen. Sie erklären insbes. (vermutete) Kausalzusammenhänge und beziehen sich damit auf die Prinzipien, die dem zeitlichen Geschehen zugrunde liegen. Während bei ereignisbegrifflichen Zusammenhängen die Zeitachse stets gerichtet und anisotrop ist, ist sie auf der kategorialen Ebene „symmetrisch, sozusagen dem konkreten Leben durch Abstraktion entzogen“ (Klix 1992, 261). Für den Bereich des Rechnungswesens ist ein Teil bereits in Abb. 2 veranschaulicht. Typisch für die Geschehenstypebene sind vor allem Belege und Geschäftsvorfälle.3 Sie dokumentieren etwa den Kauf von Material, der Bedingung dafür ist, dass in Fertigungsprozessen etwas daraus hergestellt werden kann (konditionale Verknüpfung). Die Fertigungsprozesse bzw. die in ihnen zum Einsatz kommenden Techniken sind dabei die Ursachen für die Transformationen, die aus den eingesetzten Stoffen Halb- oder Fertigerzeugnisse entstehen lassen.
2 3
Diese drei Ebenen finden sich im Übrigen auch in anderen (neo-piagetschen) Ansätzen wieder (vgl. hierzu Demetriou 2006). Die Klix’sche Differenzierung erscheint dabei allerdings am passendsten. Preiß differenziert hier und deutet Belege als sprachliche Modelle von Geschäftsvorfällen (vgl. 1999, 64-67). Das ist korrekt, soweit man unter Letzteren die realen Ereignisse versteht. Geschäftsvorfälle, wie sie in Lehrbüchern zum Rechnungswesen beschrieben sind, können hingegen als auf einer Stufe mit Belegen stehend aufgefasst werden.
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Wertschöpfung
Materialbeschaffung
Sit. 1
KOND
Fertigungsprozess
KAUS
Sit. 2
Erzeugnis liegt vor.
Sit. 3
t
Abb. 2: Drei Ebenen begrifflichen Wissens (vgl. Klix 1992, 257)
Im Rechnungswesen werden nun zum einen solche Ereigniszusammenhänge systematisch erfasst (etwa im Rahmen einfacher Bestandsbuchungen), zum anderen diese aber auch abstrakt reflektiert und analysiert (etwa wenn es um die Bestimmung des Periodenerfolgs geht). Wie dieser domänenspezifische Stufenaufbau strukturell zu rekonstruieren ist und wie er sich strukturgenetisch vollziehen könnte, wird im folgenden Abschnitt aufgezeigt. 3.2. Grundstrukturen im Rechnungswesen Der Grundtypus kaufmännischen Handelns besteht in Kaufhandlungen und folglich in Zahlungen (bzw. Zahlungsverpflichtungen). Es liegt deshalb nahe, wie im wirtschaftsinstrumentellen Ansatz das Rechnungswesen anhand des Kassenbuchs einzuführen. Allerdings kommt es uns weniger auf den Kassenbericht im Sinne eines Soll-Ist-Vergleichs an (vgl. Preiß 1999, 165),4 sondern auf die systematische Erfassung und Kontrolle von Zahlungsvorgängen (welche Auszahlungen und welche Einzahlungen jeweils wofür erfolgt sind). Zugleich ist nicht einzusehen, warum bei Berufs- und Berufsfachschülerinnen und -schülern nicht auch das Bankkonto mit hinzugezogen werden könnte: Es ist ihnen bekannt und erlaubt damit auch, auf das vorhandene Wissen zur Kontendarstellung zurückzugreifen (es sei denn, man möchte das Kassenbuch erst noch aus der Staffelrechnung herleiten, wie das z. B. auch bei Dauenhauer vorgesehen ist (vgl. 1970). Auf Basis der simultanen Einführung des Bank- und des Kassenkontos könnte man auch sehr leicht Bargeldabhebungen und Bareinzahlungen aufs Bankkonto modellieren und so die Grundform des (doppischen) Buchens einführen. 4
Im wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesen wird großer Wert auf den Buch-Ist-Vergleich gelegt (gleich in der zweiten Lektion wird dieses Thema bei der Inventur wieder aufgenommen und ausführlich behandelt). Ein solcher Vergleich ist aber von der Sache her eher trivial und lenkt u.E. von den zentralen Einsichten ab, die wirtschaftliches Systemverständnis konstituieren.
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Der erste substantielle Schritt bestünde dann darin, diese einfache Buchhaltung um Sachkonten zu erweitern, so dass die Wertströme bei Zahlungen deutlich und zugleich systematisch erfasst werden. Der kognitive Konflikt, der dahin führt, könnte etwa mit der Frage evoziert werden, ob denn nun nach verschiedenen Einkäufen das Geld einfach „weg“ ist, gerade so als hätte man es für Konsumgüter ausgegeben. Hier sollte deutlich (sprich: bewusst) werden, dass Unternehmen nicht wie Privathaushalte konsumieren und für die Zahlungen jeweils ein Gegenwert erworben wurde. Daraus ergibt sich der Vermögensbegriff, innerhalb dessen Zahlungsmittel nur eine Komponente bilden, und folglich bedarf es dann weiterer Konten, auf denen die entsprechenden Wertzu- und -abgänge erfasst werden. Über Kreditkauf und -verkauf lässt sich die Perspektive systemimmanent von Ein-/Auszahlungen auf Einnahmen/Ausgaben erweitern und mit dem Konto Verbindlichkeiten ein Fremdkapitalkonto einführen. Im Weiteren können zur Vermögensbestimmung die Konten auch zu einem „Schlussbilanzkonto“ zusammengefasst und so das Eigenkapital im Sinne eines Reinvermögens ermittelt und ausgewiesen werden. Das kann hier aus Platzgründen nicht weiter ausgeführt werden, aber es wird betont, dass diese Schritte aus der zuvor erworbenen Grundeinsicht deduktiv ableitbar sind. Die zentrale Einsicht hingegen besteht im Verständnis der Werterhaltung des Vermögens bei erfolgsunwirksamen Zahlungsvorgängen. Sie entspricht dem Erhaltungsprinzip im konkret-operationalen Denken sensu Piaget. Diesem Erhaltungsprinzip ist zudem die Kausalitätsrelation immanent, denn eine Auszahlung ist – wenn man formal ein zuvor erfolgtes Verpflichtungsgeschäft mitdenkt – die Ursache dafür, dass es zum entgegen gerichteten Wertefluss in Form des Kaufgegenstandes kommt (ebenso wie umgekehrt die Lieferung die Bezahlung erzwingt). Einfache Bestandsbuchungen und Vermögensermittlungen implizieren also zum einen ein Denken in ereignisbegrifflichen Kausalzusammenhängen, verbleiben aber zum anderen auf der Geschehenstypebene. Völlig anders verhält es sich bei erfolgswirksamen Buchungen. Während nämlich Auszahlungen und Ausgaben auf konkrete Vorgänge referieren (Barkauf und Zielkauf), sind Aufwendungen abstrakt. Dem Aufwandskonzept und seinen buchhalterischen Differenzierungen liegt eine auf den betrieblichen Leistungsprozess bezogene Metaperspektive zugrunde, in der zum einen alle für die Leistungserstellung relevanten Faktoren erfasst und zum anderen in eine Periodenbetrachtung überführt werden. Dies führt nicht nur dazu, dass man Aufwendungen berücksichtigt, wo weder Auszahlungen noch Ausgaben noch womöglich ein materieller Verschleiß stattgefunden hat (wie das Abschreibungen auf Anlagegüter der Fall sein kann), sondern es führt auch zur Differenzierung in betriebsbedingte und neutrale Aufwendungen. Die beobachtungssprachlich gefassten Ereignisse werden somit auf einem höheren Niveau reflektiert, und zwar unter dem Aspekt der betrieblichen Wertschöpfung. Aufwendungen werden in dieser abstrakten Perspektive nicht mehr als „Werteverzehr“ verstanden, sondern als Input in den betrieblichen Wertschöpfungsprozess. Dabei fließen in diese abstrakte Betrachtung nicht nur Bauteile, Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe ein, die in die Produkte eingehen oder im Zuge der
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Produktion unmittelbar verbraucht werden, sondern auch diejenigen Aufwendungen, die als Bedingungen der Möglichkeit des Wertschöpfungsprozesses gelten können – bspw. die bereits genannten Abschreibungen, aber auch allgemeine Verwaltungskosten und natürlich Kosten der Kapitalbeschaffung. Adäquat und anschaulich dargestellt wird dieser theoretische Aspekt des Wertschöpfungsprozesses zum Beispiel in Porters Wertkette (vgl. Abb. 3). Auch Preiß verweist in diesem Zusammenhang darauf (vgl. z. B. 1999, 72-75). Im Unterschied zum wirtschaftsinstrumentellen Ansatz bzw. dem dort eingeführten Unternehmensmodell, trennt die Wertkette aber nicht zwischen „dauerhaft verfügbarem Leistungspotential“, „Leistungsprozess“ und „Finanzierungsprozess“, sondern nimmt die Prozessperspektive umfassend und konsequent in den Blick. Dadurch erübrigen sich zum einen die eher umständlich wirkenden Werteflüsse zwischen den einzelnen internen Bereichen des allgemeinen Unternehmensmodells, zum anderen wird anhand dieser konsequent dynamischen Betrachtung auch die Differenzierung zwischen betriebsbedingten und nicht betriebsbedingten Aufwendungen und Erträgen sehr deutlich. Schließlich wird damit auch der Kapitalbegriff im investiven Sinne transparent, weil die Zurverfügungstellung von Kapital eben auch in ihrer Notwendigkeit für den Wertschöpfungsprozess gesehen wird (zur entsprechenden Kritik am wirtschaftsinstrumentellen Ansatz vgl. Minnameier 2005, 280-281 u. 309-313). FIRM INFRASTRUCTURE HUMAN RESOURCE MANAGEMENT TECHNOLOGY DEVELOPMENT PROCUREMENT
INBOUND LOGISTICS
OPERATIONS
OUTBOUND LOGISTICS
MARKETING & SALES
SERVICE
Abb. 3: Die Wertkette (vgl. Porter 1998, 37)
Wie im Fall der Bestandsbuchung (s. o.) erlaubt auch das volle Verständnis der Wertkette und der erfolgswirksamen Abläufe im Rechnungswesen eine Reihe deduktiver Ableitungen: So wäre deduktiv zu erschließen, dass man alle erfolgswirksamen Vorgänge auf einem dann noch so zu benennenden „GuV-Konto“ zusammenfasst und der dort entstehende Saldo als Gewinn oder Verlust in das Schlussbilanzkonto übernommen wird. Dies begründet sich mit der Einsicht, dass
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durch den Wertschöpfungsprozess ja eine entsprechende Erhöhung bzw. Verminderung sowohl des Vermögens als auch des Eigenkapitals entstanden sein muss (soweit nicht andere Transaktionen dem entgegenwirken). 4. INFERENTIELLE ANALYSE VON LERNPROZESSEN IM RECHNUNGSWESEN 4.1. Die inferentielle Lehr-Lern-Theorie Die generellen Strukturen bis hin zur Buchung erfolgswirksamer Vorgänge wurden in ihrem strukturlogischen Aufbau und der entsprechenden vermittlungstechnischen Umsetzung dargestellt. Dabei wurden aber jeweils nur diejenigen Prozesse betrachtet, die das jeweils vorherige Verständnis disäquilibrieren und im Weiteren zu einer Reäquilibration auf höherer Stufe führen können. Was damit noch nicht erbracht wurde, ist eine systematische logische Rekonstruktion der gesamten Lernprozesse, die innerhalb einer Stufe oder verbunden mit einem Stufenübergang stattfinden können. Dies ermöglicht eine inferentielle Lehr-Lern-Theorie, die den Lernprozess im Allgemeinen als einen durch und durch logischen Prozess der Wissenserschließung rekonstruiert und dabei auf die auf C. S. Peirce zurückgehende Unterscheidung von Abduktion, Deduktion und Induktion rekurriert (vgl. Minnameier 2005; im Druck). Abduktion beschreibt dabei den Prozess, der von einem praktischen Problem (einem Erklärungs- oder Gestaltungsproblem) zu einer möglichen Lösung für das betreffende Problem führt. Gültigkeitsbedingung für die Abduktion ist, dass die erklärungsbedürftigen Sachverhalte damit prinzipiell erklärt werden können bzw. dass das am Anfang stehende Gestaltungsproblem damit prinzipiell gelöst werden kann oder lösbar erscheint. Die Deduktion bezieht sich auf die notwendigen Konsequenzen, die sich aus einem bestimmten Lösungsansatz ergeben und die folglich – unter geeigneten Zusatzprämissen – die Ableitung empirisch prüfbarer Aussagen sowie logische Konsistenzprüfungen erlauben. Die Induktion schließlich bezieht sich auf die Frage nach der Wahrheit (Erklärungsprobleme) bzw. Brauchbarkeit (Gestaltungsprobleme) eines Ansatzes bzw. verschiedener alternativer Ansätze im Sinne eines „Schlusses auf die beste Erklärung“ (vgl. hierzu Minnameier 2004; 2005, 91-105). Im vorliegenden Fall geht es um die Angemessenheit bestimmter Buchungsregeln. Entscheidend für ein adäquates Verständnis dieses logischen Zusammenhangs ist, dass die Induktion nicht als unmittelbare Bestätigung der Theorie zu dieser zurückführt, sondern auf die Fälle, die als Problem am Anfang des inferentiellen Gesamtprozesses standen. Mit der Annahme einer Theorie wird das, was sie aussagt, auf alle unter sie fallenden Fälle projiziert, und zwar auf die aktuellen (Problem- und Prüffälle), die vergangenen und die zukünftigen. Mit jeder Anwendung auf einen neuen Fall besteht dabei aber zugleich die Möglichkeit einer Widerlegung, weshalb der Prozess der Abbildung gemäß rekursiv verstanden werden muss.
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4.2. Inferentielle Analyse des Übergangs zu den Erfolgsbuchungen Bei der inferentiellen Detailrekonstruktion ist zusätzlich zu beachten, dass jede Inferenz drei kognitive Teilschritte umfasst, die Peirce als Kolligation („colligation“), Beobachtung („observation“) und Urteil („judgment“) bezeichnet (vgl. 1893/1974). Jeder Schluss basiert auf Prämissen, die als erstes zusammengestellt und als Ausgangspunkt bewusst gemacht werden müssen (Kolligation). Darauf bezogen findet sodann die reflektierende Beobachtung jener Prämissen statt, mit dem Ziel, eine Lösung für die jeweilige Fragestellung zu finden. Diese wird – im positiven Fall – irgendwann spontan generiert. Damit ein solcher spontaner Einfall zu einem Schluss wird, muss die Validität des Ergebnisses in Bezug auf die Fragestellung und die Prämissen in Form eines bewussten Urteils geprüft bzw. etabliert werden. Die Validität bemisst sich dabei an der Gültigkeitsbedingung für die jeweilige Inferenz. Für den Übergang von den Bestandsbuchungen zu den Erfolgsbuchungen lässt sich die inferentielle Lernsequenz nun wie folgt bestimmen (vgl. Abb. 4).
Abduktion
Deduktion
Kollig.
Problem: die beglichene Stromrechnung für die abgelaufene Periode und die gezahlten Löhne lassen sich mangels Masse nicht auf einem Sachkonto wie den bisherigen verbuchen, da die entsprechenden Werte verbraucht wurden. Sie sind aber nicht einfach konsumiert worden, sondern erfüllten ja einen Zweck, nämlich den der Leistungserstellung.
Beob.
Konten, die den Input in den (bzw. auch den Output aus dem) Leistungsprozess erfassen.
Urteil
Damit ist der Verbleib der Werte erfasst, ohne dass diese irgendwo als Bestände auftauchen.
Kollig.
Aufwandskonten (und Ertragskonten), sinnvoll differenziert nach den jeweiligen Arten.
Beob.
Buchungen gemäß den konkreten Prämissen der ursprünglichen Geschäftsvorfälle (Stromrechnungen, Lohn- und Gehaltszahlungen), bei den Aufwandskonten im Soll und den Zahlungsmittelkonten im Haben.
Urteil
Prüfen bzw. Gewissheit, dass die Buchungen gemäß den Vorgaben korrekt sind.
Kollig.
Fertige Buchungen
Beob.
Betrachtung unter der Fragestellung, ob damit dem Ausgangsproblem (Kolligierte Prämisse der Abduktion) angemessen Rechnung getragen wurde und sich ansonsten keine Ungereimtheiten oder Insuffizienzen ergeben (insbes. hinsichtlich der Buchungssystematik).
Urteil
Aufwands- und Ertragsbuchungen in dieser Form korrekt und mit dem bisherigen Buchungssystem integriert.
Induktion
Abb. 4: Inferentielle Teilprozesse bei der Einführung der Erfolgskonten
Dieses Schema kann nun wie oben beschrieben weiter auf derselben Stufe durchlaufen werden, wodurch das buchungstechnische Wissen sukzessive ergänzt wird. Das betrifft zum einen die Erweiterung um zusätzliche Konten (Aufwandskonten
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und Umsatzerlöse), den Umgang mit Bestandsveränderungen, die GuV-Rechnung und den Abschluss des GuV-Kontos. Alles würde sich jedoch innerhalb der gekennzeichneten Wertschöpfungsperspektive vollziehen, ohne dass diese selbst modifiziert werden müsste. 5. FAZIT: ENTWICKLUNG DER DIDAKTIK DES RECHNUNGSWESENS Was ist mit dem neuen Ansatz gewonnen? Haben wir es nach der Bilanzmethode (Schär 1913), der Kombinationsmethode (Dauenhauer 1970), der pagatorischen „neuen Didaktik des Rechnungswesens“ (Gross 1981) und dem wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesen mit einem vielleicht abermals neuen Paradigma zu tun, das früher oder später wieder überholt sein wird (soweit es denn überhaupt rezipiert wird)? Unabhängig davon, wie sich die weitere Entwicklung des hier vorgestellten Ansatzes gestaltet, wird man sagen können, dass die Vorstellung separater Paradigmen der Entwicklung der Rechnungswesendidaktik sicher nicht gerecht wird. Der Weg von einer kruden didaktischen Reduktion, wie sie in der Bilanzmethode vorliegt, über die wissenschaftsorientierte strukturelle Systematik bei Gross und die an geschäftsprozessbezogener Instrumentalität orientierte Didaktik des wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesens hin zum nun vorliegenden strukturell-kognitiven Ansatz entspricht einer systematischen kumulativen Entwicklung. Insofern beansprucht der vorliegende Ansatz auch, beispielsweise den instrumentellen und situationsorientierten Charakter des wirtschaftsinstrumentellen Rechnungswesens mit aufzugreifen und zu integrieren, ihn aber aus der Perspektive des Lernenden heraus zu entwickeln. Insofern stehen die verschiedenen Ansätze durchaus in einer Entwicklungskontinuität, wenngleich mit jedem Ansatz distinkte Aspekte hinzukommen und die Übergänge als solche sich somit diskontinuierlich darstellen (zu Kontinuität und Diskontinuität vgl. Minnameier 2000a). Neu im Rahmen des vorgestellten Ansatzes ist die konsequente Orientierung an den im Lerner stattfindenden Denkprozessen, sowohl was den inferentiellen Aspekt als auch den des konstruktiven Wissensaufbaus betrifft. Dieser Orientierung ist der Primat einzuräumen, weil eine angemessene kognitive Struktur und die auf ihrer Basis stattfindenden Denkprozesses die Bedingungen der Möglichkeit jeglichen Situations- und Wissenschaftsbezugs bilden. Eine „Situation“ ist schließlich erst dann eine Situation, wenn sie als solche kognitiv erfasst wird bzw. werden kann (vgl. Beck 1996), und für den Zugriff auf den Bestand wissenschaftlichen Wissens gilt dies selbstredend ebenfalls. Der Ansatz erlaubt zudem – wie exemplarisch gezeigt – eine lückenlose Rekonstruktion von Lehr-Lern-Prozessen (vgl. hierzu auch Minnameier 2005) und damit zugleich eine präzise Analyse von Fehlern, die in Lernprozessen auftreten (können). Auf dieser Basis erscheint eine zielgerichtete und punktgenaue pädagogische Intervention greifbar. Und „Lernen aus Fehlern“ kann vom Status einer „Kultur“ (vgl. Oser & Spychiger 2005) zur einer fehler- und verständnisorientier-
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ten Lehrtechnologie ausgebaut und weiterentwickelt werden (vgl. hierzu auch Minnameier 2008; Minnameier & Link 2008; Mindnich, Wuttke & Seifried 2008; Wuttke, Seifried & Mindnich 2008). Darüber hinaus kann auf Basis der kognitiv-strukturellen Rekonstruktion und der inferentiellen Analyse geprüft werden, ob bestimmte Inhalte tatsächlich aus bestimmten Strukturen und vorhandenem Hintergrundwissen deduktiv abgeleitet werden können. Wir hatten behauptet, dass dies zum einen für die Erarbeitung von Inventur, Inventar und Bilanz auf Basis des Verständnisses von Bestandsbuchungen und zum anderen für die Entwicklung der Gewinn- und Verlustrechnung sowie den Abschluss des GuV-Kontos auf Basis der Erfolgsbuchungen möglich ist. Dies wäre zu prüfen und kann entsprechend systematisch geprüft werden. Mit dem hier vorgeschlagenen Zugriff auf die fachdidaktische Erforschung des strukturellen Aufbaus betriebs- und volkswirtschaftlicher Wissensbestände und der Lernprozesse auf Grundlage der inferentiellen Lehr-Lern-Theorie wird schließlich eine Tradition in der Lehr-Lern-Forschung fortgesetzt, wie sie für den Bereich der Wirtschaftspädagogik nicht zuletzt auch von Detlef Sembill mit seiner Dissertation aus dem Jahr 1984 begründet wurde. LITERATUR Achtenhagen, F. (Hrsg.) (1990): Didaktik des Rechnungswesens. Programm und Kritik eines wirtschaftsinstrumentellen Ansatzes. Wiesbaden: Gabler. Beck, K. (1996): Die „Situation“ als Bezugspunkt didaktischer Argumentationen – Ein Beitrag zur Begriffspräzisierung. In: Seyd, W. & Witt, R. (Hrsg.): Situation, Handlung, Persönlichkeit. Kategorien wirtschaftspädagogischen Denkens. Festschrift für Lothar Reetz. Hamburg: Feldhaus, 87-98. Dauenhauer, E. (1970): Der Anfangsunterricht der Wirtschaftsschulen. 2. Aufl., Rinteln: Merkur. Demetriou. A. (2006): Neo-Piagetsche Theorien der kognitiven Entwicklung. In: Schneider, W. & Wilkening, F. (2006), 191-263. Gross, H. F. (1981): Neue Didaktik des Rechnungswesens. 2. Aufl., Rinteln: Merkur. Klix, F. (1992): Die Natur des Verstandes. Göttingen: Hogrefe. Mindnich, A., Wuttke, E. & Seifried, J. (2008): Aus Fehlern wird man klug? Eine Pilotstudie zur Typisierung von Fehlern und Fehlersituationen. In: Lankes, E.-M. (Hrsg.): Pädagogische Professionalität als Gegenstand empirischer Forschung. Münster: Waxmann, 153-164. Minnameier, G. (1997): Zur Frage des Aufbaus kognitiver Strukturen – Ein „Abriß“ der Aeblischen Konzeption und erste Überlegungen zu ihrer Rekonstruktion. Pädagogische Rundschau, 51, 643-660. Minnameier, G. (2000a): Entwicklung und Lernen – kontinuierlich oder diskontinuierlich? Grundlagen einer Theorie der Genese komplexer kognitiver Strukturen. Münster: Waxmann. Minnameier, G. (2000b): Strukturgenese moralischen Denkens – Eine Rekonstruktion der Piagetschen Entwicklungslogik und ihre moraltheoretischen Folgen. Münster: Waxmann. Minnameier, G. (2004): Peirce-suit of truth – Why inference to the best explanation and abduction ought not to be confused. Erkenntnis, 60, 75-105. Minnameier, G. (2005): Wissen und inferentielles Denken – Zur Analyse und Gestaltung von Lehr-Lern-Prozessen. Frankfurt/Main: Lang. Minnameier, G. (2008): Zur empirischen Analyse des Umgangs mit Fehlern im wirtschaftskundlichen Unterricht. In: Breuer, K., Deißinger, T. & Münk, D. (Hrsg.): Modernisierung der
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FÖRDERUNG SELBSTREGULATIVER FÄHIGKEITEN IM KONTEXT SELBSTORGANISIERTEN LERNENS Birgit Brouër und Michaela Gläser-Zikuda
KURZFASSUNG Selbstregulative Fähigkeiten sind entscheidend, um vielfältige und komplexe Herausforderungen zu meistern. Diese Fähigkeiten können erlernt, müssen allerdings auch gezielt gefördert werden. Dazu eignen sich bestimmte Lehr-Lernarrangements sowie gezielte Hilfestellungen in Form von Anregungen und Fragestellungen zur Selbstbeobachtung und -reflexion. Wie Studierende mit solchen Anregungen umgehen und welchen Gewinn sie davon haben, wurde in zwei verschiedenen empirischen Studien in Lehrveranstaltungen untersucht. Der Schwerpunkt der ersten Studie lag auf der Arbeit mit Lerntagebüchern, jener der zweiten Studie auf der Arbeit mit Portfolios. Zentrale Ergebnisse werden präsentiert und im Hinblick auf hochschuldidaktische Implikationen diskutiert. ABSTRACT The ability of self-regulation represents a decisive means of mastering complex and diverse challenges. This ability can be learned, but, moreover, also has to be specifically promoted. Consequently, there are certain teaching-learning arrangements as well as specific aids in terms of the stimulation to observe oneself and to reflect upon oneself which are suitable to initiate processes of self-regulation. Two different empirical studies conducted in university courses have examined how students handle these stimulations and what they gain from them. The main emphasis of the first study lay on the work with learning diaries whereas the second study focused on working with portfolios. Central outcomes are presented and discussed regarding their implications for university didactics. 1. EINLEITUNG Herausragendes Ziel von Bildungsmaßnahmen ist es, Lernende zur Bewältigung komplexer Aufgaben und zukünftiger Lernsituationen zu befähigen. Dazu gehören nicht nur fachliche Inhalte, sondern auch und vielleicht sogar vor allem fach-
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unspezifische Methoden, Kompetenzen und Strategien. Wie jedoch entwickelt man die Fähigkeit, komplexe Aufgaben zu bewältigen, wie wird man ein eigenständig Lernender, wie lernt man, Wissen zur Lösung von Problemen in praktisches Handeln umzusetzen? Und welche Kompetenzen braucht ein Mensch zur Bewältigung aller möglichen zukünftigen Lernsituationen überhaupt? In diesem Beitrag wird die These vertreten, dass es vor allem die Entwicklung selbstregulativer Fähigkeiten ist, die gefördert werden muss, denn dadurch wird ein Lernender dazu in die Lage versetzt, sich selbst das anzueignen, was individuell für ihn wichtig ist. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Entwicklung von Maßnahmen gerichtet, die zur Förderung selbstregulativer Fähigkeiten geeignet sein könnten (vgl. Brouër 2004, 2007a). Die Grundannahme dieses Beitrags lässt sich folgendermaßen skizzieren: Selbstregulative Fähigkeiten können gelernt und müssen gefördert werden. Dazu eignen sich bestimmte Lehr-Lernarrangements sowie gezielte Hilfestellungen in Form von Anregungen zur Selbstbeobachtung. Wie Studierende mit solchen Anregungen umgehen und welchen Gewinn sie davon haben, wurde in zwei verschiedenen empirischen Studien geprüft. Der Schwerpunkt einer Studie lag auf der Arbeit mit Portfolios, jener der zweiten Studie auf der Arbeit mit Lerntagebüchern. Die zentrale Forschungsmethode ist die Qualitative Inhaltsanalyse (Mayring & Gläser-Zikuda 2008). Zusätzlich kommen zwei quantitative Erhebungsinstrumente zum Einsatz, um die gewonnenen qualitativen Ergebnisse mit den quantitativen Daten vergleichen zu können. Der theoretische Teil des Beitrags dient der Klärung grundlegender Begriffe. Im Anschluss daran wird begründet, warum selbstregulative Fähigkeiten im Kontext selbstorganisierten Lernens bedeutsam sind und inwiefern sie vermittelbar sein können. Schließlich wird ein Konzept zur Förderung selbstregulativer Fähigkeiten dargelegt, bevor im dritten Teil die beiden empirischen Untersuchungen mit ihren zentralen Ergebnissen vorgestellt werden. Den Abschluss dieses Beitrags bildet eine Diskussion der gewonnenen Erkenntnisse mit Bezug auf die Frage, inwiefern Portfolios und Lerntagebücher nützliche Instrumente sein können und wo Grenzen zu bemerken sind. 2. THEORETISCHER TEIL 2.1. Klärung zentraler Begriffe In seiner sozialkognitiven Lerntheorie geht Bandura (1986) davon aus, dass es fünf Basisfähigkeiten sind, die es dem Menschen ermöglichen, mit seiner Umwelt zu interagieren. Eine dieser Basisfähigkeiten ist die Selbstregulation. Aufbauend auf seiner Vorstellung von Selbstregulation als Prozess wurden in den vergangenen beiden Jahrzehnten verschiedene prozessorientierte bzw. phasenbezogene Modelle der Selbstregulation entwickelt, in denen diverse selbstregulative Fähigkeiten bedeutsam sind. Diese Selbstregulationsmodelle beschreiben das Entstehen einer regulativen Aktion aufgrund einer Diskrepanz zwischen einem angestrebten
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Soll-Zustand und einem wahrgenommenen Ist-Zustand. Das Selbstregulationsmodell von Zimmerman (2000, 16) beispielsweise ist in drei Phasen gegliedert: in der so genannten Planungsphase (forethought) werden die Soll- und Ist-Zustände analysiert und es wird daraus eine aktuelle Aufgabe abgeleitet. Dies geht im Idealfall mit der Aktivierung selbstmotivierender Überzeugungen einher. Die zweite Phase kann als Ausführungsphase (performance or volitional control phase) bezeichnet werden. In ihr wird versucht, die gesetzten Ziele unter Anwendung der geplanten Strategien zu erreichen. Dabei sind nach Zimmerman vor allem die Selbstkontrolle und die Selbstbeobachtung der Person zentral. Schließlich dient die dritte Phase der Selbstreflexion (self-reflection phase) dazu, gemessen an selbst gesetzten Standards die Erreichung der selbst gesetzten Ziele zu evaluieren und dabei den gesamten Prozess zu reflektieren. Selbstregulative Fähigkeiten sind nicht angeboren, sondern werden erworben. Sie entwickeln sich im Laufe des Lebens, wobei diese Entwicklung keine natürliche im Sinne einer Reifung, sondern eine vielfältig beeinflusste und somit auch beeinflussbare Entwicklung ist (Boekaerts 1997). Zimmerman (2000) entwickelte ein Vier-Stufen-Modell der Entwicklung selbstregulativer Fähigkeiten, bei dem die ersten beiden Stufen (Beobachtung und Emulation) primär auf sozialen Interaktionen basieren und die letzten beiden Stufen (Selbstkontrolle und Selbstregulation) in der Person selbst entstehen. Eine wesentliche Erkenntnis aus diesem Modell ist es, dass einer Person bei der Entwicklung ihrer selbstregulativen Fähigkeiten geholfen werden kann, indem man mit Modellen arbeitet. Dabei kann die Lehrkraft in Lehr-Lernarrangements als Modell fungieren, in der gemeinsamen Arbeit mit anderen Lernenden können Modelle gefunden werden, im Training können modellhafte Hilfestellungen gegeben werden oder ähnliches. Als eine Fähigkeit, die für das Gelingen selbstregulativer Prozesse zentral ist, kann die Selbstbeobachtung angenommen werden. Auch ihre Entwicklung bedarf der genannten modellhaften Hilfestellungen, für die wiederum besondere Lernumgebungen geschaffen werden sollten. Dies ist beispielsweise in selbstorganisationsoffenen Unterrichtsarrangements gegeben, in denen die Aktivität der Lernenden betont und ihre Selbstständigkeit gefördert werden sollen. Selbstorganisiertes Lernen nach Sembill (2000; vgl. auch Brouër & Wolf 2003; Seifried 2004; Wuttke 1999) ist ein weitreichendes Konzept der Unterrichtsgestaltung, da es sowohl die selbstständige Planung und Durchführung als auch die Kontrolle der Lernprozesse durch die Lernenden selbst umfasst. Die Lernenden erhalten komplexe Problemstellungen und erarbeiten sich in vorbereiteten, aber auch von ihnen selbst gewählten Umgebungen eigenständig das Wissen, das zur Problemlösung benötigt wird. Im selbstorganisierten Unterricht sensu Sembill findet die Problemlösung meist in Gruppenarbeit statt und jedes Gruppenmitglied übernimmt dabei eine spezifische Rolle (wie z.B. die Rolle des Protokollführers). Jedes Gruppenmitglied übernimmt alle Rollen im Wechsel. Die Rolle der Lehrperson ist eine beratende, unterstützende. Zum selbstorganisierten Lernen gehört auf Seiten der Lernenden die Kompetenz, den Lernprozess einer Reflexion und ständigen Reorganisation zu unterziehen. Voraussetzung hierfür ist eine gewisse Distanz zum eigenen Lerngeschehen (Arnold 2000).
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In der Hochschuldidaktik sind solche Arrangements durchaus üblich, allerdings lässt sich häufig feststellen, dass die Studierenden entgegen den Erwartungen ihrer Dozenten und Dozentinnen mit der Selbstorganisation ihrer Lernprozesse zumindest teilweise überfordert sind. Sie sind es nicht gewohnt, über ihr Lernen strukturiert und konstruktiv nachzudenken (Schmitz 2001). Doch erst über die Bewusstmachung können Fehler analysiert und andere Wege eingeschlagen werden. Wer in sich und seinen Emotionen verhaftet ist, kann sich nicht selbst beobachten. Es sollte in der Hochschullehre deshalb gelingen, Maßnahmen zu integrieren, die diese Distanz zu sich selbst ermöglichen. 2.2. Maßnahmen zur Förderung selbstregulativer Fähigkeiten Zentraler Aspekt bedeutender Selbstregulationsmodelle ist die Selbstbeobachtung (monitoring; Schmitz & Schmidt 2007). Zur Förderung der Entwicklung selbstregulativer Fähigkeiten sollte es demnach hilfreich sein, eine Maßnahme zu ergreifen, die Lernende zur Selbstbeobachtung anleitet. In der Fachliteratur lässt sich diesbezüglich eine Reihe von Maßnahmen identifizieren: Arbeitsjournale, Lernprotokolle, Lerntagebücher, Portfolios, Selbstbeobachtungsbögen u.a.m. (Bräuer 2000; Brouër 2004). In mancherlei Hinsicht sind diese Verfahren einander ähnlich und unterscheiden sich in ihrer Komplexität und Zielstellung. Gemeinsames Ziel des Einsatzes dieser Verfahren ist es, selbstreguliertes Lernen zu fördern, indem die Lernenden zu einer systematischen und kontinuierlichen Reflexion über den eigenen Lernprozess angeregt werden. Die Grundidee ist hierbei das Einnehmen einer metakognitiven Haltung gegenüber dem eigenen Lernen, das heißt die Beobachtung des eigenen Lernverhaltens und das Nachdenken darüber, wie und was man lernt, und was den Lernprozess und dessen Steuerbarkeit durch den Lernenden positiv beeinflusst (Zimmerman, Bonner & Kovach 1996). Dementsprechend wird in verschiedenen Studien die Selbstbeobachtung als ein zentraler Wirkfaktor angesehen (self-monitoring; Winter & Hofer 2007). Eine unterstützende Funktion wird sogenannten „prompts“ zugeschrieben. Unter „prompts“ werden Lernhilfen mit Fragecharakter verstanden. Ihr Ziel ist es Lernaktivitäten, wie z.B. Lernstrategien, zu initiieren oder Vorwissen der Lernenden zu aktivieren. Auf diese Weise können Teilprozesse des Schreibprozesses unterstützt werden (vgl. Wirth 2009). Graham und Perin (2007) betonen auf der Basis zweier Meta-Studien die Effektivität von Schreibinstruktionen im Sinne von prompts. Kognitive und metakognitive Strategien beim Schreiben scheinen durch sie angeregt werden zu können. Wenn Lehrende prompts einsetzen, um die kognitiven und metakognitiven Prozesse beim Schreiben von Lerntagebüchern und Portfolios zu fördern, ist damit die Erwartung verbunden, dass es zu tieferen und komplexeren Lernerfahrungen und Selbstreflexionen kommt. In diesem Beitrag werden daher sowohl das Lerntagebuch als auch das Portfolio mit Lernhilfen im Sinne von prompts als geeignete Methode zur Selbstbeobachtung in der Hochschuldidaktik im Sinne des Self-Monitoring erachtet und auf ihr Potenzial hin empirisch geprüft.
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Lerntagebücher dienen dem regelmäßigen Notieren des eigenen Lernverhaltens. In Tagebüchern wird erkennbar, welchen Einfluss spezielle Ereignisse auf das Lernen haben. Dazu nimmt das Tagebuch individuelle Formen an und kann von mäßig strukturiert bis standardisiert in allen Variationen eingesetzt werden (z.B. Gläser-Zikuda 2007; Landmann & Schmitz 2007; Wilz & Brähler 1997). Ein Lerntagebuch macht es möglich, Einblicke in die verschiedenen Lernbereiche von Studierenden zu gewinnen. Nicht nur das beobachtbare Lernverhalten im Seminar kann darin beschrieben werden, sondern auch das eigenständige Lernen am häuslichen Arbeitsplatz (z. B. welche Lernstrategien für bestimmte Aufgabentypen eingesetzt werden). Darüber hinaus verschafft das Tagebuch einen Zugang zu den Kognitionen und Emotionen der Studierenden, die sonst nicht nach außen treten. Der Portfolio-Ansatz hat in den vergangenen Jahren viel Aufmerksamkeit erhalten und es sind zahlreiche Publikationen entstanden, die die Arbeit mit Portfolios in vielen Facetten beschreiben (z. B. Brouër 2004; Brunner, Häcker & Winter 2006; Gläser-Zikuda & Hascher 2007; Häcker 2007; Wiedenhorn 2006). Zentrales Merkmal eines Portfolios ist die Verknüpfung von Dokumentationen und Selbstreflexion. Ein Lernender, der mit einem Portfolio arbeitet, sammelt darin zielgerichtet Dokumente, die sowohl seine Lernentwicklung als auch seine Lernleistungen repräsentieren. Zur Förderung der Selbstreflexion enthalten Portfolios neben diesen Dokumenten auch eigene Lernziele, Beurteilungskriterien, Selbstreflexionen (etwa in Form von Kommentaren zu den ausgewählten Dokumenten) und Fremdbeurteilungen (vgl. Brouër 2007b). Vor diesem theoretischen Hintergrund wurden die im folgenden Kapitel dargelegten Fragestellungen formuliert. 2.3. Fragestellungen Um die selbstregulativen Fähigkeiten von Studierenden zu untersuchen, wurde in der ersten Studie das Lerntagebuch zur Dokumentation und Reflexion individueller Lernprozesse gewählt. Zusätzlich wurde ein Fragebogen eingesetzt, der prüfen soll, wie das Tagebuch von den Studierenden angenommen und umgesetzt wird. In der zweiten Studie wurden sowohl ein Portfolio als auch ein Fragebogen eingesetzt. Beide Studien verfolgten vergleichbare Fragestellungen: – Welche Lernkomponenten werden bewusst berichtet und reflektiert? – Können aus den Lerntagebüchern und Portfolios Hinweise gezogen werden, dass ihr Einsatz die Effektivität des selbstorganisierten Lernens, vor allem die Reflexionsfähigkeit, fördert? – Werden die zur Förderung selbstregulativer Fähigkeiten eingeführten Maßnahmen von den Studierenden angenommen und akzeptiert?
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3. EMPIRISCHER TEIL 3.1. Studie 1: Lerntagebuch in der Hochschullehre Um das selbstorganisierte Lernen von Studierenden zu untersuchen, wurde in der ersten Studie ein Lerntagebuch im Rahmen einer Hochschulveranstaltung implementiert, die von der Zweitautorin durchgeführt wurde. Zusätzlich wurde ein Fragebogen zur Akzeptanz des Lerntagebuchs eingesetzt. Das Lerntagebuch war als Anforderung für einen Leistungsnachweis über das komplette Semester zu führen. Die Lerntagebücher wurden von Studierenden im Rahmen eines Hauptseminars am Institut für Erziehungswissenschaft zum Thema „Selbstgesteuertes Lernen im Unterricht“ im Wintersemester 2003/2004 an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg geführt. An dieser Studie nahmen 25 Studierende der Studiengänge Lehramt an Grund-, Real- und Sonderschulen teil. Die Studierenden befanden sich im Grundstudium, also überwiegend im 1. und 2. Semester. Die Studierenden erhielten im Rahmen einer Einführung während der ersten Seminarsitzung einen Leitfaden zum Lerntagebuch, der Sinn und Zielsetzung des Lerntagebuchs und mögliche Vorgehensweisen darstellt und ausführlich erklärt. Es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Eintragungen baldmöglichst nach den Seminarsitzungen gemacht werden sollten. Wichtig war, spontane Gedanken und Gefühle sofort zu notieren. Bei den Leitfragen, die als prompts verstanden werden können, wurden vier Bereiche zur Anregung der Selbstreflexion vorgegeben: 1. Lerninhalte, 2. Planung selbstständiger Lern- und Arbeitsprozesse, 3. Reflexion des persönlichen Lernprozesses sowie 4. Emotionen und Motivation. Insgesamt fokussierte der Leitfaden auf die verschiedenen kognitiven, metakognitiven und affektiven Komponenten sowie auf die Phasen selbstregulierten Lernens (vgl. Greiner 2005). Die Form der Tagebücher war frei gestaltbar: Die Varianten reichten daher von handgeschriebenen, kleinen Büchlein über in einen Ordner eingeheftete Seiten bis zur PC-gestützten Form. Die Seitenanzahl der Lerntagebücher war sehr unterschiedlich, sie bewegte sich zwischen 6 und 39 Seiten. Auch die Struktur der Eintragungen wies große Unterschiede auf: Manche Studenten gliederten ihr Tagebuch durch verschiedene Überschriften, fügten übersichtliche Aufzählungen ein, fertigten Mind-Maps an oder sogar ein Puzzle, dessen Teile sich inhaltlich aufeinander bezogen. Andere schrieben fast nur in durchgehendem Fließtext, einzig durch die Datumsangabe unterteilt. Die Qualität der Eintragungen gestaltete sich hinsichtlich des Reflexionsniveaus zwischen den verschiedenen Lerntagebüchern sehr unterschiedlich. Die Häufigkeit und der Zeitpunkt der Tagebucheintragungen differierte ebenfalls; manche Studierenden schrieben nur nach jeder Seminarsitzung, andere fast täglich. Für die inhaltsanalytische Auswertung wurden insgesamt elf Lerntagebücher herangezogen, die vollständig zu allen Seminarsitzungen geführt worden waren. In diesen elf Tagebüchern wurden insgesamt 442 Aussagen durch zwei geschulte Personen kodiert. Die Kriterien für die inhaltsanalytische Kodierung basieren auf einem theoriegeleiteten Kategoriensystem (vgl. Abbildung 1), das sich an Model-
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len zur Metakognition und Selbstregulation orientiert (Boekaerts, Pintrich & Zeidner 2000; Friedrich & Mandl 1997). Im Zentrum stand die Differenzierung zwischen Personen-, Aufgaben- und Strategiewissen einerseits sowie Lernstrategien und Metakognition andererseits (vgl. Hasselhorn & Mähler 2000; Weinstein & Mayer 1986; Wild, 2000). Darüber hinaus wurden positive und negative Emotionen, Interesse sowie intrinsische und extrinsische Motivation kodiert (vgl. Wosnitza 2000). Strukturieren/Organisieren K31+: Wissen über Techniken der Strukturierung/Organisation (Bsp.: „Mir ist bekannt, dass man nur das Wichtigste mitschreiben soll“. Fall 18, S. 1) K31-: kein Wissen über Strukturierungstechniken (Bsp.: „Unter dem Begriff Strukturierungstechniken kann ich mir nichts vorstellen“. Fall 3, S. 4) Emotionsbezogene Komponenten K5+: Lerner empfindet Freude bei der Beschäftigung mit einem bestimmten Thema. (Bsp.: „Das Thema sah ich persönlich als sehr interessant an“. Fall 7, S. 4) K5-: Bei der Beschäftigung mit einem Gegenstand treten negative Emotionen auf, z.B. Langeweile, Verunsicherung (Bsp.: „Ich hab mich aus Langeweile und Desinteresse am Thema nicht intensiv mit dem Text beschäftigt“. Fall 11, S. 8) Abb. 1: Auszug aus dem Kodierleitfaden (Greiner, 2005)
Ergebnisse Die Analyse der Lerntagebücher zeichnet folgendes Bild: Mit insgesamt 50 Kodierungen wurde die Kategorie „Metakognition: Überwachung/Selbstkontrolle“ am häufigsten in den Lerntagebüchern ermittelt. Des Weiteren folgte die Kategorie „Emotionsbezogenes Interesse“ mit insgesamt 45 Nennungen. An dritter Stelle wurden „positive Emotionen“ benannt (42 Nennungen). Mit 39 Nennungen folgte die Kategorie „negative Emotionen“. Mit 34 Nennungen wurde die Lernstrategie „Strukturieren/Organisieren“ in den Tagebüchern notiert. Danach folgten die Kategorien „Strategiewissen“ mit 30 Nennungen, „Personwissen“ mit 24 Nennungen sowie die Kategorien „Elaboration“ (20 Nennungen), „Wiederholen“ (14 Nennungen) und „extrinsische Motivation“ (8 Nennungen). Sehr selten tauchten die Kategorien „Metakognition: Planung“ (5 Nennungen) und „intrinsische Motivation“ (2 Nennungen) auf. Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Studierenden kognitive, metakognitive sowie affektive Dimensionen ihres Lernprozesses bewusst im Blick haben und reflektieren. Interesse an einer Thematik, und zwar hinsichtlich des emotionalen Bezugs, sowie positive Emotionen stellen wichtige Bedingungen für den Beginn sowie die Aufrechterhaltung des Lernprozesses dar. Metakognitive Überwachung scheint eine Schlüsselrolle in den reflektierten Lernepisoden einzunehmen, während die Planung des Lernprozesses eher selten be-
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wusst angesprochen wurde. Lernstrategien nehmen wie erwartet einen relativ breiten Raum in den Tagebuchnotizen ein. Insgesamt ist festzuhalten, dass die Selbstreflexionen der Studierenden eher oberflächlicher Art waren und sie unterschieden sich in Quantität und Qualität; so konnten nur elf von 26 Lerntagebüchern für eine Analyse herangezogen werden. Es ist zu vermuten, dass der Leitfaden, der den Studierenden zu Beginn des Semesters erläutert worden war, eher nicht beachtet wurde bzw. nicht als hilfreich empfunden wurde. Im Fragebogen (vgl. Greiner 2005) äußerten sich die Studierenden hinsichtlich mangelnder positiver Beispiele an Lerntagebucheinträgen und mahnten den hohen Arbeitsaufwand an, der sich durch die kontinuierlichen Eintragungen ergab. Die Verschriftlichung der Selbstreflexionen wurde von den Studierenden generell als anspruchsvoll und schwer lösbar angesehen. 3.2. Studie 2: Portfolio in der Hochschullehre Im Rahmen einer am Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik der Universität Bamberg durchgeführten Pilotstudie wurden von der Erstautorin die oben konstatierten Möglichkeiten der Portfolioarbeit empirisch geprüft. An dieser Pilotstudie nahmen insgesamt 44 Studierende der Wirtschaftspädagogik im Rahmen ihrer Vorbereitung auf das erste Schulpraktikum teil. Im Fokus der Untersuchung stand die Akzeptanz der Portfolios durch die Studierenden und zudem die Frage, inwieweit Portfolios die Selbstreflexion unterstützen. Das Portfolio wurde zu Beginn des Sommersemesters 2001 in zwei Seminargruppen eingeführt, wobei eine Gruppe als Experimental- und die zweite als Kontrollgruppe fungierten. Beide Gruppen erhielten zunächst eine ausführliche Einführung in die Arbeit mit Portfolios, bei der es auch darum ging, eine tragfähige Motivation für diese Arbeit zu schaffen. Im Laufe des Semesters sollten beide Gruppen insgesamt sechs Arbeitsaufträge bearbeiten und in ihren Portfolios dokumentieren und reflektieren (Brouër 2004). Die Studierenden der Experimentalgruppe erhielten zusätzlich dazu Leitfragen zur Unterstützung der Selbstreflexion (s.u., Abb. 2) sowie Beurteilungskriterien für die Selbstbeurteilung ihrer Arbeiten. Im Anschluss an das Semester wurde das Portfolio von beiden Gruppen mit in das Schulpraktikum genommen und diente später als Praktikumsbericht. Etwa ein halbes Jahr nach Beginn des Projektes wurden die Portfolios bei der Versuchsleiterin, die gleichzeitig auch Leiterin eines der beiden Seminar war, eingereicht. Zum Abschluss des Projektes wurden die Studierenden im Oktober 2001 gebeten, einen Fragebogen auszufüllen, bei dem sie anhand von 14 Items ihre Zufriedenheit mit der Portfolioarbeit einschätzen sollten (Brouër 2007a). Selbstreflexionen in den Portfolios Als prompts zur Unterstützung der Selbstreflexion dienten die in Abbildung 2 dargestellten Fragen, die von allen Studierenden der Experimentalgruppe zur Reflexion jedes im Portfolio vorkommenden Lerndokumentes beantwortet wurden.
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1.
Was ist das Ziel dieser Aufgabe, zum einen für mich selbst, zum anderen im Rahmen der Schulpraktischen Übungen?
2.
Wie bin ich an die Lösung der Aufgabe herangegangen?
3.
Hat sich dieser Weg bewährt oder sollte ich in Zukunft eine andere Herangehensweise ausprobieren? Welche andere wäre denkbar?
4.
Warum halte ich dieses Dokument für geeignet, Teil meines Portfolios zu werden?
5.
Wie wichtig war die Bearbeitung dieser Arbeit für mich persönlich?
6.
Wie gut schätze ich meine Erfüllung der Aufgabe ein, zum einen hinsichtlich des Bearbeitungsweges, zum anderen hinsichtlich des Produktes?
Abb. 2: Fragen zur Anregung der Selbstreflexion von Studierenden
Diese Fragen dienten auch als Grundlage für die Analyse der Portfolios anhand einer strukturierenden Inhaltsanalyse. Die Auswertung wurde durch zwei dafür geschulte Expertinnen vorgenommen. Es zeigte sich, dass die sechs selbstreflexionsanregenden Fragen für die Studierenden der Experimentalgruppe hilfreich waren, um über ihre Arbeiten nachzudenken. Allerdings beschränkte sich das Vorkommen schriftlicher Selbstreflexionen auch weitgehend auf die Beantwortung dieser Fragen, so dass die Datenbasis für die Auswertung sehr klein war. Und auch die Beantwortung der Fragen fiel teilweise so knapp aus (manche Studierenden begnügten sich mit Ausdrücken wie „ja“, „nein“ und „ich weiß nicht“), dass Hinweise auf selbstreflexive Elemente nur oberflächlich zu finden sind. Im Folgenden zeigt ein prototypisches Beispiel die Qualität der ausführlicheren Antworten. Das Zitat entstammt dem Portfolio eines Studenten der Experimentalgruppe, der auf die Frage, wie wichtig die Bearbeitung eines spezifischen Arbeitsauftrages (ein Essay mit dem Thema „Vom Schüler zum Lehrer“) für ihn persönlich war, folgendermaßen antwortete: „Die Arbeit an diesem Dokument war für mich außerordentlich wichtig, da sie mich zu einer intensiven Befassung mit dem Thema zwang und mir erhebliche Defizite (oder zumindest Unsicherheiten) aufzeigte“.
Die Bearbeitung des Essays wurde als wichtig empfunden, weil sie Denkanstöße gab. Welche Erkenntnisse die intensive Befassung mit dem Thema brachte, wurde nicht genannt. Der Begriff „Defizite“ wurde später im Text durch den Begriff „Unsicherheiten“ abgeschwächt, die Art der Defizite oder Unsicherheiten blieb jedoch ungenannt. In den Portfolios der Kontrollgruppe fanden sich so wenige Hinweise auf Selbstreflexionen, dass ein Vergleich beider Gruppen hinsichtlich der Qualität der Selbstreflexionen ausbleiben musste. Die Ergebnisse der qualitativen Analyse der Portfolios können insgesamt folgendermaßen zusammengefasst werden: – Die Dokumente der Experimentalgruppe wurden durch die Beantwortung der selbstreflexionsanregenden Fragen reflektiert. Dabei gingen die Selbstreflexionen kaum über die Beantwortung dieser Fragen hinaus. – Diese Selbstreflexionen waren insgesamt sehr oberflächlicher Art und unterscheiden sich in Quantität und Qualität zwischen den Teilnehmern.
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Nur wenige Portfolios enthielten eine Verdeutlichung für Stärken und Schwächen, es wurden kaum Alternativen und Perspektiven aufgezeigt. Die Dokumente der Kontrollgruppe enthielten kaum explizite Reflexionen. Nach Aussagen der Studierenden erschwerten das Fehlen von positiven Beispielen sowie der mangelnde Austausch unter den Studierenden die Portfolioarbeit. Die Verschriftlichung der Selbstreflexionen wurde von den Studierenden als problematisch angesehen.
Es muss also konstatiert werden, dass die Selbstreflexion durch die Portfolios in diesem Projekt nicht so entscheidend gefördert werden konnte, wie es erhofft wurde. Auswertung des Akzeptanzfragebogens Der Mehraufwand durch die selbstreflexionsanregenden Fragen in der Experimentalgruppe wirkte sich nicht negativ auf die Akzeptanz der Portfolios aus, wie die Auswertung des eingesetzten Fragebogens zeigt. Auf eine detaillierte Betrachtung der Fragebogenergebnisse muss hier aus pragmatischen Gründen verzichtet werden (hier sei auf Brouër 2004 und 2007b verwiesen). Insgesamt ist festzuhalten, dass die Arbeit mit Portfolios von den Studierenden nicht sehr geschätzt wurde. Dabei gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen. Die Arbeitsaufträge wurden hinsichtlich ihrer Relevanz, Klarheit und Offenheit für eigene Schwerpunktsetzungen als positiv eingeschätzt. Die Zustimmung zu der Frage, ob die Portfolios als Reflexionsmöglichkeit gesehen werden, lag nur im mittleren Bereich der sechsstufigen Skala, die Zustimmung zur Frage nach den Dokumentationsmöglichkeiten eines Portfolios sogar noch darunter. Die Portfolioarbeit wurde nicht als Anregung für das Berufsleben betrachtet, hatte den Studierenden nicht Spaß gemacht und wurde nur von wenigen Teilnehmern mit eigenen Interessen in Beziehung gesetzt. Nur ein geringer Teil der Studierenden gab im Fragebogen an, das Portfolio eigenständig weiterführen zu wollen. 3.3. Gemeinsamkeiten und Unterschiede beider Studien Beide Studien nehmen Selbstreflexionsinstrumente zur Förderung selbstregulativer Fähigkeiten in den Blick. Ziel ist es, im Rahmen einer Hochschulveranstaltung mit Hilfe dieser Instrumente die Selbstreflexion von Studierenden anzuregen und die Qualität der Eintragungen bzw. Reflexionen im Hinblick auf zentrale Aspekte selbstregulierten Lernens zu analysieren. Forschungsmethodisch nähern sich beide Studien diesen Fragestellungen einerseits durch einen offenen, inhaltsanalytischen, andererseits durch einen evaluativen Zugang, indem ein Kurzfragebogen zur Akzeptanz des Lerntagebuchs bzw. Portfolios eingesetzt wird. Es wird also der Versuch unternommen, die Lernprozesse von Studierenden zu dokumentieren und zu analysieren, gleichzeitig aber auch den Umgang mit ihnen in den Blick zu nehmen.
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Während in der ersten Studie in der inhaltsanalytischen Auswertung sehr fokussiert auf verschiedene Bereiche selbstregulierten Lernens eingegangen wird, nimmt die zweite Studie eine breitere Perspektive ein und berücksichtigt ein quasi-experimentelles Design. Vorteil eines fokussierten Vorgehens ist eine detaillierte Analyse der Qualität von Selbstreflexionen und bewusst selbstregulierter Lernprozesse. Andererseits eröffnet eine offenere Perspektive die Möglichkeit, dem Forschungsgegenstand deskriptiv eher gerecht zu werden. Die Analyse der Lerntagebücher und Portfolios zeigt, dass die beobachteten schriftlichen Selbstreflexionen in ihrer Qualität und Quantität als oberflächlich zu charakterisieren sind. Des Weiteren ergaben sich nach Aussagen der Studierenden in der Evaluation Probleme im Umgang mit den Selbstreflexionsinstrumenten, insbesondere schienen die Verschriftlichung der Selbstreflexionen sowie das Fehlen von Beispielen Schwierigkeiten darzustellen. Der Vergleich zwischen zwei unterschiedlichen Durchführungsbedingungen (mit und ohne prompts) ermöglichte in der zweiten Studie die Beobachtung, dass Portfolioarbeit nicht zwangsläufig zu schriftlicher Selbstbeobachtung führt. Die Experimentalgruppe reflektierte ihre Dokumente in Form der Beantwortung der Leitfragen, während eine schriftliche Reflexion in der Kontrollgruppe weitgehend ausblieb. Beide Studien weisen damit auf die Bedeutung entsprechender unterstützender und instruktiver Maßnahmen hin, die in die Lernumgebung integriert werden sollten. 4. DISKUSSION Die beiden in diesem Beitrag vorgestellten Studien wurden mit dem Ziel durchgeführt, die Möglichkeiten der Förderung selbstregulativer Fähigkeiten durch gezielte Hilfestellungen zu überprüfen. In beiden Studien haben sich die Leitfragen der Lerntagebücher und des Portfolios als sinnvoll und hilfreich erwiesen. Sie scheinen allerdings nicht ausreichend gewesen zu sein, um solche Selbstreflexionen in den Texten zu bewirken, die auf eine tiefergehende Beobachtung der eigenen Lernprozesse schließen ließen. Die in mehreren Punkten übereinstimmenden Rückmeldungen der Studierenden beider Stichproben geben jedoch wertvolle Hinweise darauf, welche weiteren Maßnahmen förderlich sein könnten. Der Umgang mit einem Lerntagebuch bzw. mit einem Portfolio ist in vielerlei Hinsicht anspruchsvoll. Die meisten Personen sind zunächst nicht gewohnt ihr Lernen zu reflektieren, deshalb sollte man in kleinen Schritten beginnen. Eine Einbindung in ein hochschuldidaktisches Gesamtkonzept ist daher naheliegend. Anknüpfend an das im schulischen Kontext bekannte Konzept des Dialogischen Lernmodells (Ruf & Gallin 2003) ließe sich die Reflexion des eigenen Lernens im Dialog mit Lernpartnern oder in der Gruppe anregen. Durch Beobachtung und Nachahmung reflexionsstarker Personen würde ein „Lernen am Modell“ begünstigt. Durch das gemeinsame Reflektieren im Seminar könnten Studierende ein stärkeres Gespür für sich als Lernende entwickeln und im Austausch mit anderen vielfältige Formen des Lernens und der Regulation kennen lernen. Die Teilneh-
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merInnen der zweiten hier dargestellten Studie vermissten genau diesen Austausch bei ihrer Arbeit mit den Portfolios. Darüber hinaus könnte es sich als sinnvoll erweisen, wenn halbstrukturierte Formate von Tagebüchern und Portfolios verwendet würden. Einerseits bedeuten Leitfragen im Sinne von prompts (Wirth 2009) eine konkrete Hilfestellung, andererseits mindern diese u.U. die Ausrichtung und persönliche Gestaltung der Einträge. Sehr wichtig ist die Wahrung der Privatsphäre der Tagebuch- und PortfolioAutorInnen. Auszüge sollten nur mit Zustimmung der Studierenden ausgewählt bzw. besprochen werden. Auch lassen sich private und öffentliche Teile eines Lerntagebuchs und Portfolios festlegen. Lerntagebücher und Portfolios können verschiedene Funktionen erfüllen. Wie bereits angesprochen, fördern sie die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Selbstbeobachtung, -kontrolle und -beurteilung werden angeregt und durch die Verschriftlichung bewusst gemacht. Insofern lässt sich ein positiver Effekt auf die Selbstregulationsfähigkeit der Lernenden erwarten. Doch gerade diese Verschriftlichung stellt auch ein Problem der Arbeit mit diesen Maßnahmen dar, denn die schriftliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Lernen ist nicht nur ungewohnt und sicher auch mühevoll (Bräuer 2000), sondern sie birgt auch die Gefahr in sich, dass man eigene Schwächen offen legen muss. Dies kann nur in einem vertrauensvollen Lern- und Arbeitsklima gelingen, in dem Lernen als Prozess verstanden wird, der auch einen positiven Umgang mit Fehlern beinhaltet (vgl. Seifried & Wuttke in diesem Band). In einer Lehr-Lernumgebung, in der Leistung als Produkt und Prozess verstanden wird, können Lerntagebücher und insbesondere Portfolios zur Leistungserfassung und -beurteilung herangezogen werden (Lissmann 2008; Winter 2008). Einerseits stellen sie für den Lernenden selbst, im Sinne selbstregulierten Lernens, eine Form der vielseitigen und transparenten Dokumentation der Lernwege und ergebnisse dar. Dabei ist darauf zu achten, gemeinsam Kriterien für die Beurteilung der Lerntagebücher und Portfolios zu entwickeln. Andererseits erlauben diese Instrumente Lehrpersonen einen detaillierten Einblick in den Lern- und Leistungsstand der Studierenden. DozentInnen erhalten zudem wichtige Rückmeldungen zur Qualität ihres Lehrangebots. Insofern kommt diesen Instrumenten auch eine evaluative Funktion zu. Lerntagebücher und Portfolios dienen der Selbstreflexion, indem sie einen Lernenden zur Beobachtung seiner Lernprozesse anregen. Im Hinblick auf die Förderung selbstregulativer Fähigkeiten erscheint insbesondere die Kombination selbstorganisierter Lehr-Lernarrangements mit Anregungen zur Selbstbeobachtung vielversprechend. Es bedarf allerdings der Entwicklung entsprechender didaktischer Gesamtkonzepte sowie deren empirischer Überprüfung. In diesem Beitrag ließen sich bereits einige Bedingungen zur gelingenden Einbindung dieser Maßnahmen in hochschuldidaktische Konzepte identifizieren, die Anhaltspunkte für solche Konzepte und weitere Forschung in diesem Bereich bieten.
Förderung selbstregulativer Fähigkeiten im Kontext selbstorganisierten Lernens
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MORALISCHES LERNEN – SELBSTORGANISIERT? ZUR FÖRDERUNG DER URTEILSKOMPETENZ IN „OFFENEN“ LERNUMGEBUNGEN Klaus Beck
KURZFASSUNG Die am gründlichsten ausgearbeitete Konzeption „offenen“ Unterrichts haben Detlef Sembill und seine Gruppe mit der Entwicklung eines selbstorganisationsoffenen Lehr-Lern-Arrangements („SoLe“) vorgelegt. Seine empirisch kontrollierten Erprobungen erfolgten bislang hauptsächlich im Bereich berufsbezogener betriebswirtschaftlicher Problemstellungen. Die vorliegende Analyse geht der Frage nach, ob und unter welchen Umständen in einem solchen Setting auch moralentwicklungsförderliche Lernprozesse stimuliert werden (können). ABSTRACT One of the best elaborated conceptions of “open instruction” is certainly the “selforganised learning environment” developed by Detlef Sembill and his co-workers. Its main focus is on cooperative problem solving by groups of learners. Up to now empirical tests of this successful setting have been carried out in the field of commercial education. The present paper analyses whether within this arrangement moral education can be possibly afforded and fostered, be it programmatically or accidentally. 1. DIE FRAGESTELLUNG: ANKNÜPFUNGSPUNKTE FÜR DAS MORALPROBLEM Die folgenden Überlegungen machen sich dasjenige Verständnis von selbstorganisiertem Lernen zu eigen, dass von Detlef Sembill und seiner Arbeitsgruppe entwickelt und zusammenfassend in Sembill u. a. (2007) dargestellt ist. Die Autoren gehen weit über eine bloß hinweisgebende und programmatisch-pragmatische Konzeptualisierung von Unterricht hinaus: Sie haben ihre Empfehlungen zuvor einer mehrfachen kontextvariierenden Kontrolle unterworfen und erweisen so
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Klaus Beck
nicht nur die erhofften Vorzüge ihres Konzepts als tatsächlich realisierbar, sondern machen auch kenntlich, wo etwa unverfügbare Bedingungen in Schülerkonstellationen (Sembill 2004) ebenso wie prinzipiell „verfügbare“ Bedingungen hinsichtlich der Lehrerkompetenzen (Wuttke 2005; Seifried & Klüber 2006) den Erfolg schmälern können.1 Mit dem so genannten SoLe-Konzept2 liegt zweifellos eines der vergleichsweise am besten untersuchten Unterrichtsprogramme vor, das, was die Merkmalsstreuungen von Lernenden betrifft,3 mit einem breiten, nur in Extrembereichen beschränkten Geltungsanspruch (z. B. Behinderungen, Sprachbarrieren) antreten kann. Ursprünglich für das Lernen im hochschulischen Kontext entwickelt (Sembill 1992a), wurde es mit vielen Erfolgsnachweisen im Bereich der nicht-akademischen beruflichen Bildung angewandt. Es enthält keine immanent-systematischen Restriktionen, die seiner Nutzung in weiteren Lernumgebungen, wie etwa dem allgemeinbildenden Schulwesen oder der Erwachsenenbildung, entgegenstünden. So gesehen handelt es sich durchaus um ein pädagogisches Standardkonzept mit einem Anwendungshorizont, der demjenigen eines lehrpersonengesteuerten Lernarrangements gleichkommt und zugleich mit ihm konkurriert. Die vorliegenden Befunde zum Ergebnis dieses Wettbewerbs sprechen – den Berichten aus der Sembill-Gruppe zufolge (zusammenfassend Sembill u. a. 2007) – recht eindeutig für das SoLe-Konzept. Nun gilt es freilich darauf hinzuweisen, dass seine bisherigen Erprobungen, soweit sie wissenschaftlich kontrolliert wurden, stets an Inhaltsbereichen durchgeführt wurden, die dem Feld der Betriebswirtschaftslehre zuzurechnen sind. Insofern muss in Betracht gezogen werden, dass der soeben konstatierte Anspruch auf breite Anwendbarkeit durchaus einer gegebenenfalls sogar erheblichen Einschränkung zu unterwerfen ist. So wäre zu fragen und zu prüfen, ob sich beispielsweise im (Fremd-)Sprachenunterricht ähnliche Ergebnisse erzielen lassen, wo u. a. der Erwerb von Kommunikationskompetenz ein wichtiges Ziel darstellt, während sie in den bislang untersuchten wirtschaftskundlichen Domänen „lediglich“ die Rolle einer – allerdings erfolgskritischen – Nebenbedingung einnimmt (Wuttke 2005). Die vorliegende Analyse richtet sich nicht auf diesen, sondern auf einen anderen Inhaltsbereich, nämlich das moralische Lernen. Ihr Anspruch ist es freilich nicht, experimentell-empirisch die Frage nach den Leistungen des SoLe-Konzepts auf diesem Felde zu untersuchen. Vielmehr soll es darum gehen zu prüfen, ob und ggf. in welcher Weise moralisches Lernen im SoLe-Konzept überhaupt eine Förderchance hat. Zwar könnte man prima vista vermuten, dass dies nachgerade programmatisch der Fall sei, weil berichtet wird, dass insbesondere die Problemlöse1 2
3
Bedauerlicherweise sind bislang offenbar noch keine empirisch kontrollierten Anwendungsversuche außerhalb der Sembill-Gruppe durchgeführt worden, durch die dieser Geltungsanspruch unterstrichen (oder in Frage gestellt) werden könnte. Ob mit diesem Akronym eine geeignete Namensgebung gelungen ist, ist eine nachgeordnete Frage. Soweit es allerdings eine (phonetische) Assoziation mit dem lateinischen „solus“ (allein) hervorruft, wäre es missverständlich, weil eines der Charakteristika dieses Ansatzes gerade das gemeinsame Lernen ist. Alter, Vorwissen, motivationale und emotionale Befindlichkeiten, Interessen usw.
Moralisches Lernen – Selbstorganisiert?
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kompetenz der SoLe-Adressaten von diesem Arrangement profitiert habe (vgl. die Quellenangaben in Sembill u. a. 2007, Tab. 2). Immerhin scheint ja auch moralisches Urteilen im Kern das Lösen von Problemen zum Gegenstand zu haben und insoweit Anwendungsfall einer allgemeinen Problemlösekompetenz zu sein. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass moralische Probleme eine von den betriebswirtschaftlichen Problemtypen substanziell verschiedene Qualität aufweisen. Sie fokussieren Interessen-, Wert- und Normkonflikte (vgl. Lempert 1993), während die letzteren sich im Wesentlichen als Zielerreichungs- und Optimierungsaufgaben stellen. Der Unterschied konkretisiert sich darin, dass es für die Lösung betriebswirtschaftlicher Probleme – prinzipiell und faktisch – intersubjektiv prüfbare Qualitätskriterien gibt, deren Erfüllung mittels testbarer Operationalisierungen erfasst werden kann (vgl. Sembill 1992b; Wuttke & Santjer 1996; Sembill u. a. 1998). Die Lösungen moralischer Probleme verweigern sich grundsätzlich einer solchen Evaluation, auch wenn sie faktisch im sozialen und kommunikativen Miteinander oft als „gelungen“, „angemessen“, „richtig“ usw. qualifiziert werden. Die dabei herangezogenen Kriterien entstammen jedoch einer unausweichlich subjektiven Relevanzbeurteilung, die bekanntlich bis hinein in die philosophische Ethik höchst umstritten ist und – eben im Unterschied zur Beurteilung betriebswirtschaftlicher Problemlösungen – keinesfalls einer immanenten, geschweige denn einer manifesten Konvergenztendenz folgt. Obwohl die Sembill-Gruppe im Hinblick auf die Beurteilung der im SoLeKonzept von den Adressaten zu erarbeiteten Problemlösungen eine Reihe von Kriterien anlegt, die sie als „fachinhaltlich“ bezeichnet (Sembill u. a. 1998, 64), könnten sich unter ihnen zwei identifizieren lassen, die individuelle Leistungen erfassen, welche auch im Rahmen moralischer Urteilsbildung eine Rolle spielen, nämlich „Begründungsgrad“ (Sembill u. a. 1998, 64) bzw. „Logik“ (Sembill u. a. 2001, 265) und „Alternativen der Prozedurenwahl“ (Sembill u. a. 1998, 64). Insofern lohnt der genauere Blick auf das SoLe-Konzept. Ob die Fähigkeit, moralisch zu urteilen, von der Förderung der Fähigkeit, betriebswirtschaftliche Probleme zu lösen, profitieren kann, lässt sich allerdings erst sagen, wenn ein hinreichend klares Verständnis davon erreicht ist, auf welchen Leistungen moralisches Urteilen beruht. Deshalb soll im nächsten Abschnitt (Kapitel 2.) ein knapper Überblick über den Prozess der moralischen Urteilsbildung gegeben werden, anhand dessen das SoLe-Konzept daraufhin abgeklopft zu werden vermag, ob es „moralisches Lernen“ systematisch, akzidentiell oder aber doch überhaupt nicht tangiert. Dass es einen Förderanspruch in dieser Hinsicht durchaus erhebt, ergibt sich aus seiner programmatischen Grundlegung, auf die im Anschluss (Kapitel 3) eingegangen wird. Eine Einschätzung der Chancen, im Rahmen von selbstorganisiertem Lernen tatsächlich auch moralisch zu lernen, bietet das abschließende Kapitel 4.
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2. PROZESSE UND DIMENSIONEN MORALISCHEN URTEILENS UND HANDELNS 2.1. Arten moralischer Urteilsbildung Zunächst müssen zwei grundlegend verschiedene Prozesstypen der moralischen Urteilsbildung unterschieden werden. Der erste wird im Folgenden außer Betracht bleiben, obwohl er möglicherweise weitaus häufiger vorkommt als der zweite (vgl. Gigerenzer 2007; Roth 2007). Durch Jonathan Haidt (2001) wurde er jüngst erneut ins Bewusstsein der Moralforscher gehoben. Haidt nimmt an, dass moralische Urteile in der Regel auf Intuition beruhen (vgl. auch Bucciarelli, Khemlani & Johnson-Laird 2008; Lapsley & Hill 2008), die, so Gigerenzer (2007), zugleich mit einer starken Umsetzungsmotivation verbunden sein dürften. Weil jedoch Intuitionen und wohl auch ihre Entstehung deutlich jenseits intentionaler öffentlicher Erziehungsbemühungen und also auch des SoLe-Konzepts liegen, fallen sie hier nicht in unseren Aufmerksamkeitsfokus, zumal das SoLe-Konzept gerade nicht intuitionistisch angelegt ist, sondern programmatisch auf das selbstreflexive Monitoring setzt, welches das Lernen und seine Ergebnisse beobachtet. Der zweite Prozesstyp ist durch (weitgehende) Bewusstheit gekennzeichnet. Seine ganzheitliche und systematische Rekonstruktion in einem konsistenten Konzept als „Aktualgenese des Handelns“ verdanken wir Karin Heinrichs (2005). Sie bricht problemlösende Handlungen auf 17 Teilstationen herunter, die durch lineare input-output-Relationen miteinander verbunden sind und passt darüber hinaus ihr Modell auch auf die Bewältigung moralischer Problemsituationen an. Ohne auf die Details ihrer luziden Darstellung einzugehen, können im Anschluss an das Heinrichsche Modell sechs Teilleistungen identifiziert werden (2005, 92 und 232), die in reflektiertes moralthematisches Verhalten eingehen, nämlich (a) kognitive, (b) emotionale, (c) motivationale, (d) volitionale, (e) konative und (f) selbstbezogene. Sie alle weisen im Moralzusammenhang spezifische Inhaltlichkeiten und Ausprägungen auf; d.h., dass ein Lehr-Lern-Arrangement, das „moralisches Lernen“ zu fördern beansprucht, entsprechende Angebote und Anregungsgehalte bieten muss. Nicht nur das: Ihm sollte ein Modell „moralische Kompetenz“ zugrunde liegen, das Auskunft darüber gibt, worin moralspezifische Lerngewinne bestehen und auch woran sie diagnostisch festzumachen sind.4 2.2. Elemente einer moralisch reflektierten Handlungsgenese Für die durchzuführende Analyse können wir uns auf einige Eckpunkte konzentrieren, die gewissermaßen als Minimalanforderungen an ein moralbezogenes Förderprogramm, hier also an das SoLe-Konzept, zu stellen wären, wenn es sich der 4
Ein Lehr-Lern-Arrangement ohne fundierende Entwicklungs- und Fortschrittskonzepte (in welchem Bereich auch immer) hätten diesen Namen gar nicht verdient.
Moralisches Lernen – Selbstorganisiert?
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Aufgabe unterziehen wollte, moralisches Lernen zu stimulieren.5 Folgt man der Genese einer moralrelevanten Handlung, so lassen sich die folgenden Hauptstationen erkennen (Heinrichs 2005; ähnlich auch Rest 1999): 1. Identifikation eines moralischen Problems 2. Urteilsbildung im Blick auf die Lösung des Problems 3. (Sprech-)Verhalten 4. Evaluation des durch das (Sprech-)Verhalten erreichten Ergebnisses. Diese Abfolge ist kompatibel mit gängigen Handlungstheorien, aber sie ist auf diese Passung nicht angewiesen. Vielmehr soll sie es ermöglichen, den Stationen jene Teilleistungen zuzuordnen, die charakteristisch und zugleich konstitutiv sind für die Ausprägungen der individuellen moralischen Kompetenz. Auf sie müssten sich ggf. die Wirkungsintentionen eines SoLe-Arrangements richten. Ad 1.: Identifikation eines moralischen Problems Das aus einem Soll-Ist-Vergleich hervorgehende moralische Problembewusstsein verdankt sich – selbstverständlich neben allen weiteren situationskonstituierenden Leistungen (vgl. Beck 1996) – im Kognitiven (s. o. (a)6) dem Verfügen über ein moralisches Prinzip (z. B. Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Wahrhaftigkeit) und der Fähigkeit, ihm reale Sachverhalte zu subsumieren.7 Entwicklungsfortschritt kann in dieser Komponente in Anknüpfung an das Kohlbergsche bzw. an das Minnameiersche Stufenkonzept (vgl. Colby & Kohlberg 1987; Minnameier 2000b) modelliert werden. Die auf das Selbst (Noam 1999) bezogene Leistung (f) besteht hier in einer identitätskonstitutiven Verpflichtung auf jenes Prinzip (vgl. z. B. Colby & Damon 1993). Diese innere Bindung – das ist der Entwicklungsaspekt – kann in ihrer Stabilität und Intensität zunehmen. Weiterhin ist für diese erste Hauptstation der moralbezogenen Handlungsgenese eine emotionale Leistung bedeutsam (b), nämlich die moralische Sensitivität, die dafür verantwortlich zeichnet, dass eine gegebene externale Sachverhaltskonstellation überhaupt unter eine moralische Perspektive (und nicht lediglich unter eine Zweck-Mittel-Perspektive) gerückt wird. Je nach Ausprägung der moralischen Sensitivität wird ein gegebenes Individuum weniger oder mehr dazu neigen, Sachverhalte als moralproblematische Situationen zu rekonstruieren. Entwicklungsfortschritte zeigen sich hier 5
6 7
Wohlgemerkt, das ist – zumindest nicht in erster Linie (s. dazu weiter unter Kapitel 3) – nicht der selbsterhobene SoLe-Anspruch, weshalb ein negativer Befund auch nicht ohne weiteres zu Lasten dieses Konzepts ginge, sondern lediglich eine „von außen“ an es herangetragene Anfrage abschlägig beantwortete. Vgl. zu diesem und zu den folgenden Bezugsangaben auch Tab. 1 im Anschluss an Kapitel 2.2. Solche Subsumtionsleistungen dürften schon deshalb domänespezifisch sein, weil sie eine differenzierte Kenntnis der Bedeutung(en) des jeweiligen abstrakten Begriffs voraussetzen, auf den sie bezogen sind (vgl. etwa zur didaktischen Dimension rechtlicher Subsumtionsleistungen Witt 1999).
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Klaus Beck
zunächst in der Steigerung der moralischen Sensitivität, allerdings nur bis zu jener Empfindlichkeitsstufe, in der sie mit den anderen lebenswichtigen Perspektiven (Versorgung, Unversehrtheit, Informationsaufnahme etc.) hinreichend ausbalanciert bleibt. Hypersensitivität wäre demnach als Rückschritt, nämlich als Neigung zum unbegründet penetranten Moralisieren, zu diagnostizieren. Ad 2.: Urteilsbildung im Blick auf die Lösung des Problems Die Suche nach einer Problemlösung ist stets als Zweck-Mittel-Kognition zu rekonstruieren (a), wobei – was oftmals übersehen wird – durch das „moralische Selbst“ zwei Moralurteile zu fällen sind (f), nämlich zum einen darüber, ob der identifizierte Soll-Zustand unter dem herangezogenen moralischen Prinzip als geboten oder zumindest als erlaubt gelten darf und zum anderen, ob die zu seiner Herbeiführung in Frage kommenden Mittel ebenfalls als moralisch akzeptabel betrachtet werden können. Interessant – und in der Literatur m. W. bislang nicht erörtert – ist, dass für die Zulässigkeitsprüfung des ersteren (Soll-Zustand) durchaus ein anderes moralisches Prinzip herangezogen werden kann als für die des letzteren. So würde bspw. von einem Bilanzbuchhalter als Soll-Zustand die Korrektheit der Angaben zum Anlagevermögen unter dem Prinzip der (Bilanz-) Wahrheit als geboten angesehen. Wenn das dazu erforderliche Mittel jedoch darin bestünde, dass sein ohnehin schon überbelasteter und gesundheitlich angeschlagener Kollege qua Zusatzarbeit die Verkehrswerte der betriebseigenen Grundstücke am aktuellen Markt allererst ermitteln müsste, könnte er unter einem Fürsorgeprinzip den Einsatz dieses Mittels ablehnen, wie er auch umgekehrt – für den Fall, dass er diesen Kollegen, der ihn ein andermal geärgert hatte, zu schikanieren beabsichtigt – diesem eben den Wertermittlungsauftrag erteilen könnte, allerdings nicht unter dem Wahrheits-/Wahrhaftigkeitsprinzip, sondern etwa unter dem moralischen Prinzip: „Wie Du mir, so ich Dir.“8 Mit Blick auf die Mittelentscheidung, die ja unabhängig davon, ob sie zunächst aus einem moralfreien (Kosten-) Kalkül hervorgegangen ist, stets einer (meist implizit-vorbewussten) moralischen Zulässigkeitsprüfung unterzogen wird, gilt es festzuhalten, dass sie immer von motivationalen (c) und konativen (e), ggf. auch aversiven oder attraktiven emotionalen Prozessen (b) begleitet wird.9 Was die im Lehr-Lern-Kontext relevante Frage nach den jeweiligen Fortschrittskriterien betrifft, so wird man – übrigens abweichend von Kohlbergs Entwicklungsvorstellungen (vgl. Colby & Kohlberg 1987) – zwei Aspekte betrachten müssen, nämlich zum einen den Fortschritt, der im Erwerb des Verfügen-Könnens 8
9
Selbstverständlich sind zu diesem Beispiel nahezu beliebig viele Abwandlungen von derartigen – moralisch bedeutsamen – Konstellationen vorstellbar, in denen Zwecke und Mittel unter verschiedene moralische Prinzipien gerückt und in denen darüber hinaus gegenläufige Zulässigkeitsurteile gefällt werden. Das gilt nicht zuletzt für pädagogische Methodenentscheidungen, die unabhängig von der Wünschbarkeit und Zulässigkeit eines Ziels zu treffen sind (bspw. hinsichtlich körperlicher Züchtigung, Drill oder eben auch – horribile dictu – SoLe). Das gilt im Übrigen generell für alles menschliche Handeln.
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über die kognitiven Implikationen (a) alternativer Moralprinzipien (auch, aber nicht nur im Kohlbergschen Sinne) und zum anderen den Fortschritt, der darin besteht, sich situationsadäquat an eines dieser Prinzipien zu binden (moralische Differenzierung/Segmentierung; vgl. Beck 1999; Beck & Parche-Kawik 2004).10 Emotionaler (Entwicklungs-/Lern-)Fortschritt (b) erweist sich im Zuwachs an Stabilität, mit der aversive resp. attraktive Emotionen an moralisch abgelehnte resp. akzeptierte Verhaltensentschlüsse geknüpft werden. Ad 3.: (Sprech-)Verhalten Die Emission von Verhalten(sabfolgen) beansprucht unter der im vorliegenden Zusammenhang einzunehmenden Perspektive über die im zweiten Schritt bereits erbrachten Leistungen hinaus insbesondere (d) volitionale (Ausführungsentschluss und Durchhaltevermögen) und (c) motivationale Fähigkeiten (Streben nach Zielerreichung), die den Prozess des Verhaltensvollzugs begleiten. Das gilt für Sprech-, also hier Argumentationsverhalten ebenso wie für das Ausführungsverhalten zu gefassten Tätigkeitsentschlüssen. Beide Leistungen weisen mit wachsender Ausprägung eine höhere Wertigkeit auf, erneut jedoch nur bis zu einem mit konkurrierenden bzw. synchron verfolgten weiteren Zielen ausbalancierten Optimum (z. B. soziale Akzeptanz, Informationsaufnahme über die Änderung situativer Rahmenbedingungen). Ad. 4.: Evaluation des durch das (Sprech-)Verhalten erreichten Ergebnisses Gerade im schulischen Kontext, in dem – wenn überhaupt – i. d. R. im simulativen Arrangement gehandelt wird, verliert sich leicht das Interesse der Schüler daran, welche Konsequenzen ihr Handeln auslöst. Allerdings muss dabei differenziert werden zwischen den virtuellen Folgen, die sich als Simulations(zwischen)ergebnisse einstellen, und den realen sozialen Folgen, die durch die Lehrer-Schüler- und die Schüler-Schüler-Interaktionen hervorgerufen werden. Das Interesse an den Letzteren dürfte – wenn auch nicht bei jedem Einzelnen – eher fortbestehen als an den ersteren, die jedoch gerade in den SoLe-Arrangements im pädagogischen Fokus stehen. Gefordert sind für die anstehenden Evaluationsleistungen zunächst Ist-Soll-Kognitionen (a), die sich unter dem moralerzieherischen Aspekt nicht auf das „materielle“, sondern auf das soziale Handlungsergebnis beziehen, also darauf, ob das, was zuvor als das moralisch Gebotene angesehen wurde (2. Station der Handlungsgenese), erreicht worden ist. Dazu ist erneut zunächst eine auf diese Frage gerichtete Motivation zu aktivieren (c) und im weiteren morali10
Konativer Fortschritt (c) ist zu konstatieren, wenn sowohl die Varianten ausführbaren Verhaltens als auch ihre Routinisierung zugenommen haben. Motivationaler Entwicklungs- bzw. Lernfortschritt (c) wäre in der situationsunabhängigen Zunahme der Motivationsstärke zu sehen, das zur Zielerreichung ins Auge gefasste Verhalten tatsächlich auszuführen.
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sche Sensitivität als eine emotionale Leistung erforderlich (b), dank derer das Handlungsresultat unter einer moralischen Perspektive allererst wahrgenommen werden kann. Lernfortschritte mit Blick auf diese drei internalen evaluationsbezogenen Handlungsbeiträge sind bereits oben charakterisiert worden. Resümiert man die im Blick auf die Handlungsgenese identifizierten moralbezogenen internalen Leistungen, so gewinnt man einen Überblick über moralpädagogisch relevante Interventionsbedarfe. Wie das Tableau in Tab. 1 sichtbar macht, ist dieses Feld – wie zu erwarten war – durchaus differenziert. Dieser Befund dürfte die Frage stimulieren, ob in der pädagogischen Praxis ein solchermaßen komplexes internales Geschehen überhaupt systematisch bearbeitet und etwa im Rahmen eines SoLe-Arrangements Berücksichtigung finden könnte. Aber diese Frage11 gilt es zumindest vorläufig aufzuschieben, weil unser Interesse zunächst darauf gerichtet ist, ob und hinsichtlich welcher moralisch relevanter internaler Leistungen das SoLe-Arrangement intentional oder auch funktional faktisch moralerzieherische Effekte zeitigt. Die Zusammenstellung in Tab. 1 sollte den erforderlichen Prüfprozess unterstützen. Teilleistungstyp
(a) kognitiv
moralspezifische Leistung
Lern-/Entwicklungsfortschritt
Station der Handlungsgenese
–
Verfügen über ein (zunächst beliebiges) moralisches Prinzip
–
Verfügbar-machen zusätzlicher Prinzipien etwa entlang dem Kohlbergschen bzw. dem Minnameierschen Stufenmodell
(1), (2), (4)
–
Soll-Ist-Vergleich im Hinblick auf die moralische Akzeptabilität von sozial relevanten Sachverhalten
–
Ausdifferenzierung der moralrelevanten Bewertungskriterien für gegebene bzw. erwartete Sachverhaltskonstellationen
(1), (4)
–
Erkennen der handlungs- und ergebnisbezogenen Implikationen alternativer Moralprinzipien
–
Ausweitung der sozialen Perspektive vom reinen IchBezug bis hin zum generalisierten Systembezug
(2)
–
Erkennen der situativen Relevanz und Angemessenheit eines von mehreren verfügbaren Moralprinzips
–
Ausdifferenzierung der subjektiv verfügbaren, moralperspektivisch strukturierten Situationstypologie
(1), (2)
Tab. 1: Spezifische internale Leistungen in der Genese moralisch reflektierter Handlungen
11 Sie stellt sich im Übrigen hinsichtlich nahezu aller einigermaßen anspruchsvoller Erziehungsziele (kritischer, mündiger, verantwortungsbewusster etc. Zeitgenosse), wenn man sich nur ein klein wenig bemüht zu analysieren, welche internalen Leistungen ihre Erreichung charakterisieren.
145
Moralisches Lernen – Selbstorganisiert?
Teilleistungstyp
(b) emotional
(c) motivational
(d) volitional
moralspezifische Leistung
Station der Handlungsgenese
–
moralische Sensitivität zur Wahrnehmung der moralischen Dimensionen gegebener Sachverhaltskonstellationen
–
Steigerung der Sensitivität bis zu einem – mit konkurrierenden bzw. synchron belangvollen Handlungsaspekten – ausbalancierten Optimum
(1), (4)
–
energetische Versorgung des moralischen Reflexions- und des ihm folgenden Verhaltensausführungsprozesses
–
Zunahme stabiler moralattraktiver Emotionen
(2)
–
Intention, die moralisch gewünschten Ergebnisse zu erzielen
–
Zunahme der auf ein moralisch gewünschtes Ziel gerichteten Motivationsstärke
(2), (4)
–
Selektion und Stützung zielerreichenden Verhaltens
–
Zunahme der auf ein gewähltes zielerreichendes Verhalten gerichteten Motivationsstärke
(3)
–
Entschluss, ein projektiertes Verhalten auszuführen
–
Steigerung des Konsistenzbedürfnisses im Hinblick auf Urteil und Verhalten
(3)
–
Wille, einen projektierten Verhaltensverlauf vollständig auszuführen
–
Steigerung des Durchhaltevermögens
(3)
–
Generierung situationsbezogen abgestimmter Verhaltens(verlaufs)konzepte
–
Ausweitung der Verfügbaren Verhaltensoptionen
(2), (3)
–
Routinisierung von Verhaltensprogrammen
Selbstverpflichtung auf und innere Bindung an das situationsbezogen gewählte Moralprinzip
–
Zunehmende Stabilität (= abnehmende Labilität) und zunehmende Intensität der Bindung
(e) konativ
(f) selbstbezogen
Lern-/Entwicklungsfortschritt
–
(1)
Tab. 1: Spezifische internale Leistungen in der Genese moralisch reflektierter Handlungen (Fortsetzung)
3. MORALISCHE RELEVANZEN IM SOLE-KONZEPT 3.1. Intendiertes moralisches Lernen Obgleich das SoLe-Konzept, wie gesagt, in seinen bislang empirisch geprüften Konkretisierungen auf die Lösungskompetenz angehender Kaufleute für betriebs-
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wirtschaftliche Probleme zielt,12 enthält es in seiner Programmatik durchaus Elemente, die einen systematischen Bezug zur Moraldomäne aufweisen. Dabei beruft es sich – nachgerade erwartungswidrig – nicht etwa auf die Basissetzung eines „integrativen Menschenbilds“ (Sembill 1992a, 13, 72, 76 und passim, im Anschluss an Groeben 1986), das vor allem „im Zusammenwirken von Kognition, Motivation und Emotion“ (ebd. 13) gesehen und nicht ausdrücklich in seiner moralischen Dimension ausgeleuchtet wird. Es nimmt auch nicht den gesellschaftlichen Wertewandel (vgl. ebd. 20) zum Anlass, Moralität als Strukturelement in sein Konzept zu integrieren. Vielmehr greift es zur Thematisierung moralischer Problemlagen auf zwei pragmatische Aspekte des SoLe-Arrangements zurück. Zum einen deutet es den „ganzheitlichen Kompetenzerwerb“ (Sembill u. a. 2007, 5) als einen sozialen Prozess, in welchem mehrere Lernende kooperativ (vgl. ebd. 3) eine Problemlösung zu erarbeiten suchen. Man lernt demnach nicht allein „für sich“, sondern „mit anderen“ und zugleich auch „für andere“ (ebd. 6; Sembill u. a. 1998, 58). Erneut kommt der Moralbezug nicht etwa durch die soziale Anforderung, „für andere“ zu lernen, ins Spiel, sondern in der „Selbstverantwortung“ (Sembill 1992a, 13), die durch das Lernen „für sich“ impliziert ist und auf die Entwicklung der eigenen Identität abzielt (vgl. ebd. 80f.). Unter dem Vorzeichen der „System-Kontrolle“ (ebd. 77; Sembill u. a. 2007, 6) wird nicht nur „Werteverantwortung“ als „Dimension“ selbstorganisierten Lernens identifiziert, sondern explizit „Moral“ eingefordert (Sembill 1992a, 76). Auch wenn in den Erläuterungen dazu nicht festgelegt wird, ob „Moral“ als Voraussetzung, als Ziel oder als – gewissermaßen unvermeidlicher – Effekt des SoLe-Arrangement fungieren soll, ist doch klar, dass der Moralität hier eine wichtige Bedeutung zugemessen wird. Der zweite pragmatische Aspekt, unter dem Moralitätsfragen zum SoLeThema werden, erschließt sich beim Blick auf das problemlösende Handeln, auf das es, wie erwähnt und wie in allen Darstellungen betont wird, ankommt. Dass dieses Handeln sich moralischen Ansprüchen zu unterwerfen habe oder doch zumindest (auch) an ihnen zu messen sei, geht aus Sembills Hinweisen darauf hervor, dass Wissensverwender die eingesetzten „Mittel für gerechtfertigt halten“ müssen (1992a, 14) – Kriterien, die hier anzuwenden wären, werden allerdings nicht expliziert – und, im Anschluss an Scherer (1981), dass – umgekehrt – (moralische) Normen als „Handlungsbeschränkung“ begriffen werden können (Sembill 1992a, 132), denen nun allerdings insoweit eher der externale Status einer sozialen Kontrolle zukommt. „Normvereinbarkeit“ des Handelns (ebd. 133 und 134) verweist mithin auf die „begrenzte Autonomie“ (ebd. 13, 132) des Individuums. Moralität unter diesem zweiten pragmatischen Aspekt kann demnach nicht etwa wenigstens als – wenn auch wenig elaborierter – Hinweis auf eine personale und persönlichkeitskonstituierende moralische Urteilskompetenz verstanden werden, sondern eher 12 Als Ziel formuliert Sembill (1992a, 4, 72) ursprünglich auch: „Generierung neuer Wissensstrukturen durch die Generierung neuer Handlungsstrukturen“ und bezieht dies auf ein von ihm durchgeführtes, seinerzeit noch „Forschendes Lernen“ genanntes hochschuldidaktisches Projekt zum Thema „Angstbewältigung“.
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nur als eine vorsichtigerweise zu beachtende Handlungsbeschränkung, die aus dem gesellschaftlichen Umfeld erwächst und die allenfalls im Sinne eines – bei Kohlberg auf der Ebene präkonventioneller Moral angesiedelten – Regelgehorsams verstanden werden kann. Die Analyse der SoLe-Konzeption unter der Frage, ob sie moralisches Lernen intentional und programmatisch zu stimulieren versuche, kommt bis zu diesem Punkt zu einem bestenfalls ambivalenten Befund: Zwar werden im Arrangement des Gruppenlernens individuelle moralische Kompetenzen über den Verantwortlichkeitsbegriff ins Spiel gebracht und durchaus als funktional relevant angesehen. Eine differenzierte Elaboration hinsichtlich ihrer inhaltlichen und psychischen Struktur wird ihnen jedoch nicht zuteil. Insoweit haben sie in der SoLeSystematik einen eher appellativen Charakter, der in der zweiten pragmatischen Bezugnahme jedoch verloren zu gehen scheint, weil das Moralische als etwas gedeutet wird, das dem Handlungssubjekt als eine Autonomiebeschränkung von außen entgegen tritt. Zu fragen ist nun allerdings, wie die Dinge liegen, wenn mittels der Wahl des Gegenstands von SoLe-Aktivitäten das Moralische zum Thema gemacht wird. Das lässt sich auf vielerlei Weise erreichen. So kann die zu bearbeitende Fragestellung in der Weise angelegt werden, dass die Lernenden moralische Gesichtspunkte in Betracht ziehen können (etwa bei der Produktion bzw. beim Vertrieb von ökologisch bedenklichen Objekten oder beim Angebot und Verkauf von „sub prime“ – Wertpapieren). Unter der Vorgabe wenig (vor-)strukturierter Probleme kann ein solcher Aspekt auch durch die Lernenden selbst ins Spiel gebracht werden. Und schließlich ist ja gar nicht ausgeschlossen, dass ein genuin moralisches Problem (gerechter Lohn, Beihilfe zum Suizid, Mobbing, Asylgewährung – um nur wenige, relativ weit auseinander liegende Beispiele zu nennen) zum Gegenstand von SoLe-Aktivitäten gemacht wird.13 In den zuerst angeführten Fällen bleibt es offen, ob die Moralthematik tatsächlich aufgegriffen wird. Ihre Bearbeitung wäre bestenfalls erwünscht oder vielleicht auch nur „geduldet“ und insofern akzidentiell. Aber im letzten Fall, in dem moralisches Lernen qua curricularer Entscheidung angestrebt wird, können, ja müssen alle in Tab. 1 angeführten Leistungen und Fortschrittskonzepte als Erfolgskriterien in Betracht gezogen werden. Der Umstand, dass ein so angelegter Versuch bislang wohl noch nicht unternommen worden ist, spricht nicht gegen diese Vorgehensweise. Dagegen ist auch hier fraglich, ob das SoLe-Arrangement wirklich geeignet ist, die in Tab. 1 benannten Lern- und Entwicklungsfortschritte zu stimulieren und zu stützen. Soll dies programmatisch geschehen, so dürfte, folgt man der einschlägigen Literatur (vgl. den Überblick in Oser & Althof 1992, 150-155), eine moderierende, moralpädagogisch geschulte Interventionskompetenz unverzichtbar sein. Das kann in der selbstorganisierten Problembearbeitung nicht gewährleistet werden. Zwar ist nicht auszuschließen, dass in einer geeigne13 Wobei allerdings die Handlungskomponente je nach Fragestellung in den Hintergrund treten oder sogar ganz wegfallen kann. Es sei hier offen gelassen, ob dies mit dem Selbstverständnis der SoLe-Protagonisten verträglich ist. Prinzipiell möglich wäre es allemal.
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ten Lernergruppenkonstellation entwicklungsstimulierende Impulse auftreten, so dass das eine oder andere Gruppenmitglied tatsächlich „moralisch profitiert“. Aber das wäre erneut den Zufälligkeiten des jeweiligen Interaktionsgeschehens geschuldet und insoweit kein systematisch angezielter Erfolg. Die denkbaren punktuellen Lehrerinterventionen in das argumentative und gruppendynamische Geschehen können dieses Defizit nicht kompensieren, weil es hier gerade auf die person- und situationsspezifische Steuerung (v. a.) des verbalen Interaktionsverlaufs ankommt, die nur auf der Grundlage seiner lückenlosen Kenntnis die lernförderlichen Impulse zu setzen vermag. 3.2. Nicht-intendiertes moralisches Lernen In Abwandlung des bekannten Watzlawickschen Diktums ist zu sagen, dass wir „nicht nicht moralisch erziehen“ können. Allem menschlichen Handeln wohnt, auch wenn das immer wieder bestritten wird (z. B. Oser 1999), ein moralisches Moment inne, insofern es sich den Kategorien des Erlaubt-, Geboten- oder Verboten-Seins subsumieren lässt. Indem wir miteinander interagieren, treffen wir – wohl meist vorbewusst und intuitiv – moralische Entscheidungen über die Zulässigkeit unseres eigenen (Sprech-)Handelns. Zugleich aber bilden wir analoge Urteile über die (unterstellten) Intentionen und Aktionen unserer Interaktionspartner und darüber hinaus aller Handlungen, denen wir unsere Aufmerksamkeit zuwenden, seien sie real oder fiktional, seien sie direkt beobachtet oder lediglich narrativ vermittelt. Es sind sowohl die externalen sozialen „Ereignisse“ als auch die von uns verursachten Handlungsfolgen, die ggf. unsere Urteilspraxis beeinflussen und Modifikationen anstoßen. In der Interaktion mit unserer Umwelt, darauf hat bereits Piaget (1932) hingewiesen, prägt sich (auch) die individuelle Moralität aus. Das SoLe-Arrangement beruht auf einem Konzept konzertierter Gruppenarbeit und bietet damit den Beteiligten immer auch Gelegenheiten, moralisch relevante Erfahrungen zu machen.14 Nicht alle werden bis ins Bewusstsein aufsteigen und Reflexionsprozesse auslösen. Aber es gibt durchaus eine ganze Reihe von Anlässen für die Lernenden, moralische Fragen zu thematisieren. Beispiele dafür wären etwa diejenigen Fälle, in denen sich die Gruppen selbst Regeln für ihre Zusammenarbeit geben und diese Regeln zunächst aushandeln und hernach unter dem Aspekt ihrer Einhaltung beobachten.15 Unabhängig von der jeweiligen Thematik, die es zu bearbeiten gilt, dürften diese arbeitsprozessbezogene Fragen durchaus mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit in den Fokus der Lerngruppen treten. 14 Beachtlichen Gewinn für die Analyse der SoLe-Gruppenprozesse könnte die Heranziehung des von Oser (1981) entwickelten differenzierten Modells der kognitiven Stufen personaler Interaktion versprechen, dessen Anwendung im vorliegenden Rahmen jedoch nicht zur Debatte steht. 15 Das immer wieder in solchen Konstellationen auftretende „Trittbrettfahrer“-Problem gehört bspw. zu dieser Gruppe von potentiellen moralisch relevanten Stimulanzien.
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Soweit dies der Fall und zugleich streitig ist, handelt es sich um den in den vorliegenden SoLe-Analysen eher als kontraproduktiv klassifizierten „disputational talk“, der nicht zum Aufbau von neuen Handlungs- und Wissensstrukturen beiträgt, wenn er ihn nicht sogar stark behindert (vgl. Wuttke 2005, 231; Sembill u. a. 2007, 14). Gleichwohl könnte er gute Chancen für die Beeinflussung von Moralstrukturen bergen: Ihr thematischer Kern sind ja soziale Konflikte (vgl. Lempert 1988, 12), also genau, das worum es in diesen Gesprächssequenzen geht.16 Ähnliches gilt für den konsensuellen so genannten „cumulative talk“, der auch unter dem Moral(entwicklungs)aspekt als weniger ergiebig einzuschätzen sein dürfte, allerdings mit der Einschränkung, dass er implizite assertive Effekte auslösen wird, die zur Stabilisierung moralischer Urteile beitragen. Einzig der aus dem Austausch von Argumenten bestehende „exploratory talk“ (ebd, 15), der in der Sache ebenfalls durchaus streitig sein kann, hätte die genuine Potenz, moralisches Urteilen und Handeln systematisch zu affizieren, falls in ihm Sollensfragen verhandelt werden, was jedoch ohne eine programmatische Inhaltsvorgabe eher selten der Fall sein dürfte. Erneut könnten vom Stil, in dem dieser Austausch ausgetragen wird, auch implizite moralrelevante Impulse ausgehen. In ihrer Studie zur Unterrichtskommunikation im SoLe-Arrangement berichtet Eveline Wuttke, dass die Anteile dieser drei Interaktionsvarianten am ungelenkten oder jedenfalls nur partiell und punktuell lehrerbegleiteten Gruppengespräch recht unterschiedlich ausfallen (ebd. 16). Der – unter dem Moralaspekt vermutlich am wenigsten relevante – „cumulative talk“ nahm dort im Durchschnitt 61 % ein, der ebenfalls eher folgenlose „exploratory talk“ 18 %, der potentiell am ehesten stimulierende „disputational talk“ gut 21 % (Wuttke 2005, 232). Diese Anteile können in Abhängigkeit von der Gruppenzusammensetzung ganz erheblich schwanken. So fand Eveline Wuttke in ihrer Untersuchung eine vierköpfige Schülerarbeitsgruppe, in der 49 % der Gesprächssequenzen dem „cumulative talk“, 3 % dem „exploratory talk“ und 48 % dem „disputational talk“ gewidmet waren, während in einer zweiten, diesmal fünfköpfigen Gruppe diese Verteilung 68 % zu 29 % zu 3 % betrug (ebd.). Unter dem Wissenserwerbsaspekt bringen diese beiden Verteilungen eindeutig der zweiten Gruppe einen Vorteil (was Eveline Wuttke auch zeigen konnte; ebd., 201 ff.). Dagegen stehen die Chancen der ersten Gruppe unter einem Moralaspekt womöglich günstiger. Natürlich muss diese letztere Aussage mangels geeigneter Daten eine Vermutung bleiben. Sie zu prüfen könnte Licht ins Dunkel einer relevanten Facette alltäglicher sozialer schulischer Interaktion unter Heranwachsenden werfen. Freilich müssten dazu eine ganze Reihe weiterer Daten erhoben werden (vgl. Tab. 1), die
16 Die von Lempert (1988, 12) vorgeschlagene Definition von „Moralischer Urteilsfähigkeit“ bringt dies klar zum Ausdruck: „[Sie ist] das Vermögen […], für soziale Konflikte Lösungen zu finden, auf die sich alle Beteiligten und Betroffenen einigen können.“
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für die Fragestellungen der bisher durchgeführten SoLe-Analyse gar nicht von Belang waren.17 4. RESÜMEE: DAS SOLE-ARRANGEMENT UND DIE MORAL In seiner sorgfältigen Analyse kollektiver Lernprozesse kann Max Miller (1986) zeigen, dass das Argumentieren zum einen den Prototypen des Erwerbs neuen Wissens bildet,18 dass es zum anderen jedoch ontogenetisch dem individuellen monologischen Argumentieren vorausläuft. Während sich kollektives Argumentieren schon bei zweijährigen Kindern nachweisen lasse (ebd., 223), sei individuelles Argumentieren als eine Form „autonomen Lernens“ ein (womöglich meist eher asymmetrisches) „Derivat“ dieser Grundform des rationalen Umgangs mit strittigen Fragen (ebd., 222, 223, 226). Das SoLe-Konzept knüpft, wenn auch nicht explizit, an diese Sichtweise an. Es intendiert, problembezogene Argumentationsprozesse als Medium des Wissenserwerbs auf Gruppenebene zu stimulieren und sie nicht dem individuellen Räsonnement zu überlassen. Dabei setzt es darauf, dass ein solcher Austausch eher zustande kommt und auch eher an der Problemlösung interessiert bleibt, wenn die SoLe-Bedingungen hergestellt werden, vor allem also ein Input „authentischer komplexer Probleme“ (Sembill u. a. 2007, 7), die Freigabe des Bearbeitungsprozesses an die von der Gruppe bestimmte und verantwortete Lösungsstrategie und die – i. d. R. unter der Anleitung einer Lehrperson erfolgende – resümierende Reflexion auf die eingeschlagene Vorgehensweise sowie das mit ihr erzielte Ergebnis. Wie die bereits erwähnten Begleitstudien zeigen (vgl. Sembill u. a. 2007, 9), werden die angezielten Resultate, insbesondere die Entwicklung von Wissensund Handlungsstrukturen, unter den vorgegebenen Bedingungen, die auch motivationale Strebungen und emotionale Befindlichkeiten im Blick haben, gut erreicht – jedenfalls besser bzw. häufiger, als dies im herkömmlichen lehrergesteuerten oder lehrerzentrierten Unterricht der Fall wäre. Ob und in welchem Maße zugleich auch moralisches Lernen gefördert wird, ist letztlich eine empirische Frage. Die vorliegende Analyse gelangt in diesem Punkt jedoch zu einer eher skeptischen Erwartung: In der theoretischen Grundlegung des SoLe-Konzepts erweisen sich die Berührungspunkte mit „Moral“ als randständig. Im Rückbezug auf jene internen Zustände und Prozesse, die in moralisches Lernen involviert sind (vgl. Tab. 1), zeigt sich, dass diese nicht im Fokus des SoLe-Konzepts liegen und insofern keine moralbezogenen Lern- und Entwicklungsgewinne erwarten lassen, die jen17 Vgl. jedoch den knappen Hinweis von Eveline Wuttke, dass „aus …pädagogischer Sicht [die] perlokutionäre(n) Effekte“ von Lehreräußerungen „auf Gefühle und Handlungen“ ebenfalls bedeutsam seien (Sembill u. a. 2007, 17). 18 Und damit zugleich den methodischen Ansatz zur Auflösung des „Menon Paradoxons“ liefert, das Platon in seinem gleichnamigen Dialog entwickelt und das darin zu bestehen scheint, dass man das, was man schon weiß, nicht lernen kann, dass man aber das, was man noch nicht weiß, gar nicht lernen kann, weil man nicht weiß, wonach man suchen müsste: Wie also erwirbt man Neues? (vgl. Miller 1986, 221f.; Minnameier 2000a).
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seits des akzidentiell niemals Auszuschließenden liegen. Chancen für solche akzidentielle „Moralgewinne“ – das ist nahezu trivial – „lauern“ selbstverständlich auch im SoLe-Arrangement. Sie liegen, wie die kursorische Analyse zeigt, am ehesten im – aus der SoLe-Perspektive unerwünschten – „disuptational talk“, in dem soziale Konflikte i. w. S. thematisiert und damit Moralfragen ins Spiel gebracht werden. Aber das ist, wie gesagt, allenfalls eine relativ günstigere Chance, deren Wahrscheinlichkeitsmaß ohne eine sorgfältige Datenanalyse nicht einmal grob abgeschätzt zu werden vermag. Und das gilt erst recht für die Frage danach, ob sie ggf. auch genutzt werden kann. Dazu müssten weitere Bedingungen erfüllt sein, die sowohl die Zusammensetzung der Lerngruppe (heterogen im Blick auf den moralrelevanten Entwicklungsstand) als auch die relative Kontinuität der externalen (verbalen) Anregungsbedingungen betrifft, weil anderenfalls die in Tab. 1 zusammengestellten internalen Zustände gar nicht „angesprochen“ würden. Anders können die Dinge liegen, wenn eine moralisch relevante Problemlage zum Gegenstand des Lernens im SoLe-Arrangement gemacht werden soll und wenn zugleich die anzustrebende Lösung sich unter dem Aspekt der moralischen Zulässigkeit auszuweisen hätte. In diesem Fall wäre auch der erwünschte „exploratory talk“ dieser Fragestellung gewidmet und würde die Chance zu einem lernund entwicklungsförderlichen argumentierenden Austausch bergen. Der Wermutstropfen, der sich in dieser Variante ausbreitet, besteht darin, dass ungewiss bleiben muss, ob ohne den steuernden Eingriff einer moralpädagogisch geschulten Kompetenz die gesetzten Ziele tatsächlich erreicht werden könnten, weil in Abhängigkeit von ihnen je spezifische Denkstimuli ins Spiel gebracht werden müssten (vgl. Blatt & Kohlberg 1975). Ob es genügte, sie erst in einer abschließenden Präsentations- und Reflexionsphase systematisch zu setzen, wäre allererst zu erproben. Nach allem scheinen die Dinge so zu liegen, dass selbstorganisationsoffene Lernumgebungen nicht das Mittel der Wahl sind, wenn moralisches Lernen intendiert wird.19 Dass es sich gleichwohl lohnen könnte zu prüfen, ob beim Aufbau von Wissens- und Handlungsstrukturen die Chancen für moralisches Lernen ohne Effektivitätseinbußen durch Zusatzbedingungen zu steigern wären, dürfte kaum auf Widerspruch stoßen. So wäre es etwa denkbar, dass die Lösung für die ins Zentrum gestellten authentischen (betriebswirtschaftlichen) Probleme, die ja programmgemäß komplex sind, regelmäßig und explizit auch unter dem Aspekt der ihnen ohnehin stets innewohnenden moralischen Qualität thematisiert werden soll.
19 Welche methodischen Alternativen dem SoLe-Konzept mit Blick auf moralisches Lernen vorzuziehen wären, ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung. Elaborierte Hinweise finden sich bspw. in Oser & Althof (1992).
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POTENZIALE DES LERNENS AUS FEHLERN IN ABHÄNGIGKEIT VON METHODISCHEN GRUNDENTSCHEIDUNGEN Jürgen Seifried & Eveline Wuttke
KURZFASSUNG Prinzipiell nimmt man an, dass Menschen im Allgemeinen und Schülerinnen und Schüler im Besonderen aus begangenen Fehlern lernen können. Es ist aber wenig darüber bekannt, welche Lernprozesse in Fehlersituationen ablaufen und inwiefern Lehrkräfte in der Lage sind, Fehlersituationen konstruktiv aufzunehmen und lernwirksam zu wenden. Plausibel wäre die Annahme, dass methodische Grundentscheidungen mit entscheiden, in welcher Quantität und Qualität Fehlersituationen im Unterricht vorkommen und genutzt werden können. Während im fragendentwickelnden Frontalunterricht Fehler in erster Linie als Reaktion auf eine Frage der Lehrperson auftauchen, bieten schülerzentrierte Lehr-Lern-Arrangements erheblich mehr Gelegenheiten für Fehler und deren konstruktive Nutzung. So werden z. B. das „Lernen mit Risiko“ sowie das „konstruktive Fehlermanagement“ als konstitutive Merkmale des selbstorganisierten Lernens der Arbeitsgruppe um Detlef Sembill verstanden. Im vorliegenden Beitrag gehen wir vor dem Hintergrund der methodischen Ausrichtung des Unterrichts der Frage nach, welche Rolle das Lernen aus Fehlern beim selbstorganisierten Lernen spielt. ABSTRACT It is generally agreed that people learn from errors. But little is known about the exact kind of learning processes in error situations, and if and how teachers are able to use errors constructively. It seems quite plausible that basic decisions about teaching methods influence if errors can happen and how error situations can be used to enhance learning. In more teacher-centered learning environments students’ errors mostly occur when they answer teachers’ questions. Studentcentered learning environments offer considerably more opportunities (or risks) to make mistakes and to use them constructively. In the concept of self-organized learning, developed by Sembill, learning with risk and constructive error management are integral parts of the learning environment. In this paper we discuss
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the question how self-organized learning as a basic methodical decision allows learning from errors. 1. ZUR RELEVANZ DER FEHLERFORSCHUNG IN DER BERUFLICHEN BILDUNG Überlegungen, ob und wie man aus welchen Fehlern lernen kann und ob es eine Rolle spielt, wie Lehrpersonen mit Schülerfehlern umgehen, finden zunehmend Berücksichtigung in der Lehr-Lern-Forschung, wenn auch manchmal nur als Nebenfragestellung (z. B. in der COACTIV-Studie, Brunner et al. 2006). Grundsätzlich herrscht mittlerweile die Ansicht vor, dass ein konstruktiver, nicht sanktionierender Umgang mit Fehlersituationen sinnvoll und dem Lernen aus Fehlern dienlich sei (Weingardt 2004; Yerushalmi & Polingher 2006). Bereits vor Beginn der aktuellen Diskussion um das Lernen aus Fehlern wurde solch ein konstruktiver Umgang mit Fehlern von der Arbeitsgruppe um Detlef Sembill postuliert. In den Überlegungen zur Gestaltung selbstorganisationsoffener Lehr-Lern-Arrangements wird explizit Wert darauf gelegt, dass Lernen mit „Risiko“ stattfindet und mit Fehlern konstruktiv umgegangen wird (Sembill et al. 1998, 2007). Damit ist u. a. gemeint, dass Lernprozesse nicht nur (Routine-)Aufgaben beinhalten, für die es eindeutig richtige Antworten gibt, sondern dass Lernende weitgehend eigenständig und in kooperativer Form komplexe Probleme bearbeiten (siehe Abschnitt 2.2). Ein Blick in die einschlägige Literatur zeigt allerdings – und das gilt bislang für praktisch alle Formen des selbstregulierten, selbstgesteuerten oder selbstorganisierten Lernens (zu einer Abgrenzung der Begriffe siehe Sembill et al. 2007), die solch ein Fehlerverständnis besonders nahelegen – dass bislang noch nicht ausreichend geklärt ist, wie Lernen aus Fehlern, wenn es sich denn tatsächlich ereignet, im Einzelnen geschieht und wie es seitens der Lehrperson unterstützt werden kann.1 Für die berufliche Bildung ist ein Mangel an domänenspezifischen Überlegungen und einschlägigen empirischen Untersuchungen zum Lernen aus Fehlern zu beklagen. Sicherlich kann man auf allgemeinpädagogische Arbeiten zurückgreifen, wenn man mehr über den konstruktiven Umgang mit Schülerfehlern im 1
Untersuchungen aus den Neurowissenschaften geben interessante allgemeine Einblicke in das Lernpotenzial von Fehlern. Wills et al. (2007) beispielsweise konnten zeigen, dass Versuchspersonen mehr dazulernen, wenn sie falsche Voraussagen treffen als wenn ihre Erwartung zutreffen. Die Entdeckung eines Fehlers birgt offenbar ein lernförderliches Überraschungsmoment, das als aufmerksamkeitssteigerndes „Warnsignal“ interpretiert wird. Eine Untersuchung von Klein et al. (2007) dagegen zeigt, dass eine genetisch bedingte Variation des Dopamin-D2-Rezeptors im Gehirn beeinflusst, wie Individuen insbesondere mit negativem Feedback umgehen. Versuchspersonen mit geringer Rezeptordichte können negatives Feedback weniger häufig zum Lernen nutzen als Probanden mit höheren Werten. Von einer zielführenden Nutzung solcher Erkenntnisse für die Gestaltung von Lehr-Lern-Umgebungen ist man heute jedoch noch weit entfernt bzw. vielleicht auch in Zukunft nicht in der Lage (vgl. hierzu auch die Beiträge zur Neurodidaktik in Herrmann 2006).
Potenziale des Lernens aus Fehlern
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Klassenzimmer erfahren möchte. Hier bieten insbesondere die Arbeiten der Gruppe um Fritz Oser gute Anhaltspunkte (z. B. Schüler nicht bloßstellen, Normtransparenz herstellen, Reaktionen von Mitlernenden in fehlerfreundliche Bahnen lenken etc., vgl. Spychiger et al. 1998; Oser & Spychiger 2005). Hierbei muss man sich jedoch vergegenwärtigen, dass eine Lehrperson erst auf einen Schülerfehler reagieren kann, wenn dieser als solcher diagnostiziert wurde. Voraussetzung hierfür ist ein gesichertes Wissen über Fehlerarten in der jeweiligen Domäne. Diesbezüglich hilft ein Blick über den Gartenzaun weiter. So hat beispielsweise Fehlerforschung in der Mathematikdidaktik eine lange, bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreichende Tradition (vgl. Weingardt 2004). Der Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten liegt dabei auf der Identifikation gängiger Schülerfehler und den Möglichkeiten der Fehlerdiagnose.2 Beachtenswert ist dabei, dass viele Lernerfehler nicht zufällig auftreten oder Unkonzentriertheiten o. Ä. geschuldet sind, sondern generationenübergreifend regelmäßig und zuverlässig zu beobachten sind (vgl. Radatz 1985; Swan 2004). Bei der Verwendung von binomischen Formeln wird es z. B. früher oder später vorkommen, dass ein Lernender (a + b)2 mit a2 + b2 gleichsetzt (vgl. Strecker 1999). Ähnlich stellt sich die Situation im Sprachenunterricht dar (z. B. bei false friends, vgl. Breitkreuz 2004). Bis in die 1960er Jahre dominierten hier die Versuche, Fehler im Sprachunterricht „auszumerzen“ (vgl. Kleppin 2001, 986). Im Zuge der Arbeiten von Corder (1967) und Selinker (1972) lassen sich dann zahlreiche Forschungsaktivitäten zur Systematisierung von Fehlern nach linguistischen Kriterien und zur Ursache von Fehlern im Fremdsprachenunterricht feststellen. Mittlerweile hat sich die Sichtweise auf Fehler dahingehend verändert, dass ihnen eine bedeutende Rolle beim Fremdsprachenerwerb zugeschrieben wird (vgl. Tönshoff 2005). Im Unterschied zu den Sprachwissenschaften und dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich liegen für den beruflichen Bereich kaum domänenspezifische Fehlertaxonomien vor. Außerdem lässt die empirische Durchdringung des Feldes zu wünschen übrig (sieht man von Gschwendtner, Knöll & Nickolaus 2007 oder Minnameier 2008 einmal ab). Es fehlen konkrete Aussagen dazu, mit welchen lehr-lern-theoretisch begründeten Strategien Fehlern begegnet werden soll und über welche Kompetenzen Lehrpersonen verfügen müssen, um Fehlersituationen lernförderlich aufzuarbeiten. Im Folgenden widmen wir uns der Frage, inwiefern eine selbstorgansationsoffene Lernumgebung auch eine fehlerfreundliche Lernumgebung ist und wie Lehrpersonen in solch einem Lehr-LernArrangement agieren sollten, um das Lernen aus Fehlern zu befördern. Da pädagogisches Handeln immer im Spannungsfeld zwischen Dürfen, Können und Wollen stattfindet (ähnlich z. B. Strittmatter 2001), legen wir folgende Argumentationskette zugrunde: 1. Dürfen: Unterricht sollte so angelegt sein, dass Fehlersituationen auftreten können und Schülerinnen und Schüler Fehler machen dürfen.
2
Siehe hierzu die Übersicht in Weingardt 2004. Zum Umgang mit Fehlern dagegen liegen Befunde in deutlich geringerer Zahl vor (vgl. Heinze 2004).
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2. Können: Lehrkräfte (und auch Lernende) müssen in der Lage sein, mit diesen Fehlersituationen konstruktiv umzugehen. Diese Forderung betrifft nicht nur den Umgang mit Fehlern aus einer emotional-motivationalen Warte (Lerner nicht bloßstellen o. Ä.), sondern auch die Fähigkeit zur Fehlerdiagnose und Fehleranalyse sowie das Vorhandensein von Strategien zum Umgang mit Fehlern (vgl. Wuttke & Seifried 2009). 3. Wollen: Die Lehrkraft muss willens sein, sich mit Schülerfehlern auseinanderzusetzen. Hinsichtlich der Sichtweisen bezüglich des Nutzens einer unterrichtlichen Auseinandersetzung mit Schülerfehlern lässt sich – grob gesprochen – eine so genannte Fehlervermeidungsdidaktik (Fehler sind zu vermeiden, damit sich falsche Gedankengänge nicht einschleifen) von einem konstruktiven Fehlermanagement (Fehler als Lernchance) unterscheiden. 2. LEHR-LERN-THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN 2.1. Das Konzept des negativen Wissens der Arbeitsgruppe von Oser als Erklärungsansatz für die lernförderliche Wirkung des Lernens mit Risiko Grundlage für eine Modellierung von Fehlerlernprozessen kann das Konzept des negativen Wissens sein (Oser & Spychiger 2005; Gartmeier et al. 2008). Negatives Wissen hat prozedurale (Wissen, wie etwas nicht geht, Minsky 1994) und deklarative Anteile (Wissen, wie etwas nicht ist, aber auch Wissen darüber, was man nicht weiß, Parviainen & Eriksson 2006). Lernprozesse würden dann in Folge von negativen Erfahrungen ausgelöst, wobei das negative Wissen Anhaltspunkte für das entsprechende positive Wissen böte und so den Einsatz regulativer und adaptiver Strategien ermöglichen würde (Eraut 1994; Parviainen & Eriksson 2006; Gartmeier et al. 2008). Ob sich das mit dem Erwerb von negativem Wissen verbundene Potenzial in Lehr-Lern-Prozessen auch tatsächlich entfalten kann, hängt ab von den Reflexions- und Fehlersuchprozessen (im Sinne der Neubetrachtung und Neubewertung von Erfahrungen, vgl. van Woerkom 2003 oder Ellström 2006), für die Lehrpersonen Unterstützung anbieten sollten. Negatives Wissen kommt letztlich auch heuristischen Wert in dem Sinne zu, als dass es Anhaltspunkte für das entsprechende positive Wissen liefert und so den Einsatz regulativer und adaptiver (Lern-)Strategien ermöglicht (vgl. Eraut 1994). Durch Ausschluss nicht-funktionierender Handlungsalternativen sollte sich zumindest tendenziell die Sicherheit beim zukünftigen Handeln erhöhen (vgl. Gartmeier et al. 2008). Während die Konzeption des negativen Wissens einerseits eine hohe Plausibilität in sich birgt, kann man sich andererseits fragen, ob die Terminologie wirklich treffend gewählt ist, da der Begriff des „negativen“ möglicherweise mit schlecht oder unzureichend assoziiert werden könnte. Insbesondere wäre aber zu diskutieren, ob denn negatives Wissen wirklich so einfach im Sinne eines Spiegelbildes von Wissen oder einer „Kehrseite der Medaille“ zu modellieren bzw. inwieweit es möglich ist, zu jeder Wissensart (z. B. deklaratives, prozedurales, implizites, ex-
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plizites, episodisches, begriffliches, egozentrisches, autobiografisches, träges Wissen etc.) jeweils ein negatives „Gegenstück“ festzulegen. Zudem bleibt bislang offen, wie Lernprozesse angelegt sein müssen, die negatives Wissen fördern. Insbesondere stellt sich hier die Frage, ob es ausreicht, lediglich „Offenheit“ herzustellen, Lernende Fehler machen und in die Irre gehen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass sich negatives Wissen quasi von selbst einstellt und früher oder später „das Richtige“ getan wird.3 Dabei müsste man dann aber auch noch annehmen, dass negatives Wissen automatisch positiv gewendet wird, dass Lernende also aktiv Wissen suchen, „was etwas ist“ und „wie etwas geht“. In vielen Fällen dürfte das aber nicht der Fall sein. Wir argumentieren vielmehr, dass es von den Reflexions- und Fehlersuchprozessen abhängt, ob das mit dem Erwerb von negativem Wissen verbundene Potenzial sich dann tatsächlich entfalten kann, und dass für diese hochwertigen Lernprozesse entweder Lehrpersonen oder Lernumgebungen (im weiteren Sinne, also auch Mitlernende) Unterstützung anbieten sollten. Reflektionen werden im vorliegenden Zusammenhang als ein Prozess der Neubetrachtung und Neubewertung von Erfahrungen betrachtet (vgl. dazu die Befunde bei Ellström 2006 und van Woerkom 2003). In welchem Maß dies geschehen kann und ob solchen Reflexionsprozessen Raum und Zeit im Unterricht eingeräumt wird, ist u. a. abhängig von methodischen Grundentscheidungen. 2.2. Methodische Grundentscheidung als Stellgröße zur Eröffnung von Chancen zum Lernen aus Fehlern 2.2.1. Grundzüge der Lehr-Lern-Konzeption des selbstorganisierten Lernens Methodische Grundentscheidungen schlagen sich – grob gesprochen – in der Gestaltung eher lehrer- oder eher schülerzentrierter Lehr-Lern-Arrangements nieder (vgl. die ähnlich gelagerte Unterscheidung zwischen Fremd- und Selbststeuerung). Lehrerzentriert bzw. -gesteuert sind insbesondere solche, in denen man hauptsächlich Lehrervorträge oder einen stark lehrergesteuerten, fragendentwickelnden Unterricht (meist nach dem Initiation-Response-Feedback-Muster, vgl. Sinclair & Coulthard 1975 oder Mehan 1979) findet. Lehrpersonen fragen, erklären, fassen zusammen, geben Rückmeldungen, tragen vor, setzen Impulse, ermahnen und disziplinieren. Beiträge der Lernenden bestehen i.d.R. in der Beantwortung der Lehrerfragen. Schüler-Schüler-Interaktion ist kaum zu finden, es sein denn in Form von „aufgabenirrelevanter Kommunikation“. Als schülerzentriert bzw. -gesteuert können Arrangements bezeichnet werden, in denen Lernende ihren Lernprozess selbst gestalten und es auch gewünscht ist, dass sie untereinander inhaltsbezogen kommunizieren. Hier haben Lehrpersonen stärker lernunter3
So könnte man mit Rückgriff auf das Lernen durch Versuch und Irrtum (Thorndike 1930) argumentieren, bei dem durch Ausprobieren richtige Wege und Problemlösestrategien gefunden werden können. Voraussetzung wäre allerdings, dass positive Verhaltenskonsequenzen (satisfier) mit eingerichtet sind, die „richtige“ Lösungswege zielgerichtet belohnen.
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stützende Funktionen. Schülerbeiträge sind tendenziell häufiger und in anderen Qualitätsausprägungen als bei der lehrerzentrierten Variante zu finden. Lehrpersonen stehen vielfältigen Anforderungen gegenüber: Einerseits verantworten sie – in Analogie zur „klassischen“ Lehrerrolle – den Lernprozess bzw. Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler. Sie entscheiden (auch gemeinsam mit den Lernenden) über inhaltliche Schwerpunktsetzungen und Lernaktivitäten. Andererseits nehmen sie die Rolle eines „senior researchers“ ein und rekapitulieren Schülerbeiträge, achten auf korrekte Fachterminologie und inhaltliche Richtigkeit und geben Rückmeldungen an die „junior researchers“ (vgl. Elbers & Streefland 2000). Eine durch umfangreiche Forschungsaktivitäten untermauerte Realisation einer schülerzentrierten Lehr-Lernumgebung im kaufmännischen Unterricht ist die von Sembill und Mitarbeitern entwickelte Konzeption des selbstorganisierten Lernens (SoLe). Sie weist eine hohe Affinität zum Projektunterricht im ursprünglichen Sinne auf und ist gekennzeichnet durch eine umfassende Übertragung von Lernverantwortung auf Lernende, die überwiegend eigenständig in Kleingruppen lernen. Im Vergleich zum traditionellen Unterricht verliert die Darbietung von Lerninhalten an Bedeutung, etwa zwei Drittel der Unterrichtszeit sind für Eigenaktivitäten der Lernenden reserviert. Die restliche Zeit dient der Hinführung zum Thema, der Ergebnissicherung, der Vertiefung und Wiederholung sowie der Leistungsbeurteilung, die ebenfalls in Teilen von Lernenden übernommen wird (Peeroder Selbstbewertung). Zentrale Leitidee stellt das (problemlösende) geplante Handeln dar. Das SoLe-Arrangement bildet dabei die Ebenen rationaler Entscheidungen ab, also sowohl die selbstständige Planung und Zielsetzung als auch die Durchführung und Kontrolle von Lernprozessen (und zwar in Form von Fremdund Eigenkontrolle). Gestaltungsgrundlage der Konzeption sind vier Lerndimensionen, die mit Hilfe von in Merkmalsbereichen zusammengestellten Indikatoren näher bestimmt werden. Es werden folgende Lerndimensionen unterschieden: Neben „Lernen für sich“ umfasst das Lehr-Lern-Arrangement „Lernen mit anderen“ (Lernen in Gruppen) sowie „Lernen für andere“ (arbeitsteiliges, verantwortungsbehaftetes Lernen). Die für unsere Fragestellung zentrale Lerndimension ist das „Lernen mit Risiko“, die auf die Möglichkeit und Notwendigkeit, Fehler zu machen und aus diesen zu lernen, verweist (vgl. den Überblick bei Sembill et al. 2007). 2.2.2. Lernen mit Risiko und konstruktives Fehlerverständnis Die Notwendigkeit eines konstruktiven Fehlerverständnisses wird in der oben genannten Lerndimension „Lernen mit Risiko“, spezifisch im Merkmalsbereich „Sich Einlassen“, verortet. Der Indikator „Einschluss von Fehlern und Misserfolgen (konstruktives Fehlerverständnis)“ expliziert den Gegenstand des Interesses. Die Konstruktionsprinzipien der Lernumgebung bilden letztlich den Rahmen für entsprechende Lern- und Reflektionsprozesse. Die selbstständige Bearbeitung komplexer Problemstellungen unter Verwendung nicht vollständig konfigurierter Lernmaterialien eröffnet den Lernenden – sowohl individuell als auch in Gruppen
Potenziale des Lernens aus Fehlern
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– Entscheidungs- und Handlungsfreiräume und damit „Fehlerchancen“. Lernende sollen Risiken eingehen; Um- und Irrwege sind nicht prinzipiell zu vermeiden. Fehlermöglichkeiten sind demnach ein konstitutives Merkmal der Lernumgebung. Wenn nun Fehler auftreten, so ist es an den Mitlernenden und an der Lehrperson, konstruktiv und angemessen damit umzugehen. Damit ist ein Setting gemeint, das die Angst vorm Fehlermachen (emotionale Komponente) reduziert und andererseits in Fehlersituationen Lernprozesse angeregt und so das Lernen aus Fehlern (kognitive Komponente) fördert. Stellt man zusammenfassend das selbstorganisierte Lernen dem traditionellen fragend-entwickelnden Unterricht gegenüber, so scheinen die Potenziale des Lernens aus Fehlern mehrfach auf. Dies betrifft zum einen die Offenheit des Unterrichtsverlaufs, der sich auch in der Gestaltung der Unterrichtskommunikation niederschlägt. Die Öffnung des Unterrichts in Richtung selbstorganisierten Lernens und die damit verbundene Ausweitung der Komplexität erweitert die Mitwirkungsmöglichkeiten der Lernenden und damit deren Fehlerchancen bzw. -risiken. Gleichzeitig sinkt die Planbarkeit des konkreten Verlaufs des Unterrichts. Da Lernende über längere Zeiträume hinweg in Lerngruppen komplexe, nicht wohldefinierte Probleme bearbeiten, besteht zudem die Gefahr, dass sie nicht alle relevante Informationen berücksichtigen, Probleme nicht hinreichend definieren, Neben- und Folgeeffekte von vermeintlichen Problemlösungen ignorieren etc. Dieser Aspekt bezeichnet das Fehlerrisiko für die Lernenden. Zudem steigt das Risiko, dass in Phasen selbstständigen Arbeitens Schülerfehler nicht als solche erkannt werden. Als Folge der Öffnung des Unterrichts kann die Lehrkraft zudem nicht immer genau abschätzen bzw. vorhersehen, welche Beiträge und Lösungswege die Lernenden anbieten, und auch die Möglichkeiten der Fehlervorhersage sind deutlich geringer als bei einem höheren Ausmaß an Steuerung der Interaktion durch die Lehrperson. Ein letzter Aspekt betrifft die Möglichkeiten der Lehrkraft, auf auftretende Fehler zu reagieren. Sowohl in lehrer- als auch in lernerzentrierten Arrangements kann die Lehrkraft Fehler im Plenum selbst aufarbeiten oder gemeinsam mit der gesamten Klasse thematisieren. Daneben können Fehler auch ignoriert werden. Lediglich bei lernerzentrierten Umgebungen besteht jedoch die Möglichkeit einer individuellen Auseinandersetzung unter Berücksichtigung der jeweiligen Vorkenntnisse und Interessen. Schülern fällt es im persönlichen Gespräch mit der Lehrkraft i. d. R. auch leichter als im Plenum, Fragen zu stellen und bei Unklarheiten mehrfach nachzuhaken. Als Zwischenfazit kann festgehalten werden: Grundsätzlich bietet das selbstorganisierte Lernen eine gute Chance, dass Lernende Fehler machen. Weiterhin wird ein konstruktiver Umgang mit Fehlersituationen explizit gefordert. Lernende sollten also – in Anlehnung an Oser – durchaus negatives Wissen erwerben bzw. aus Fehlern lernen können. Wie man dieses Potenzial aber auch tatsächlich ausschöpfen kann, ist noch nicht hinreichend abgeklärt.4 4
Insbesondere sollte modelliert werden, welche kognitiven Prozesse beim Lernen aus Fehlern stattfinden, wie diese systematisch angeregt und wie sie unterstützt werden können. Diesbezüglich fehlen noch systematische Arbeiten – und das nicht nur im Rahmen der Konzeption
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3. WAS PASSIERT, WENN FEHLER PASSIEREN: ÜBERLEGUNGEN UND BEFUNDE ZUM LEHRERUMGANG MIT SCHÜLERFEHLERN IM SELBSTORGANISATIONSOFFENEN UND IM LEHRERZENTRIERTEN UNTERRICHT In den folgenden Abschnitten berichten wir über einschlägige Pilotstudien und erste empirische Befunde aus verschiedenen Projekten zur Analyse von Rechnungswesenunterricht. Dabei greifen wir auch auf Daten zurück, die im Rahmen der „Prozessanalysen Selbstorganisierten Lernens“ (vgl. Sembill et al. 1998, 2007) gewonnen wurden und stellen diese zur Illustration Befunden gegenüber, die aus Studien zur Qualität des Klassengesprächs in kaufmännischen Schulen stammen. Ein unmittelbarer Vergleich der zu verschiedenen Zeitpunkten unter jeweils anderen Vorzeichen und Fragestellungen erhobenen Daten verbietet sich somit, es geht in erster Linie um die empirische Unterfütterung der Argumentationslinien. Im Folgenden werden zwei Aspekte thematisiert, die jeweils auf der Folie der bereits angesprochenen methodischen Grundentscheidungen diskutiert werden: (1) In welcher Häufigkeit können Fehlersituationen beobachtet werden? (2) Wie stellt sich die Situation hinsichtlich der so genannten „Fehlerkultur“ dar? 3.1. Zur Häufigkeit von Fehlern in verschiedenen Lehr-Lern-Arrangements Lehrerorientierter Unterricht: Die folgenden Ausführungen basieren auf Unterrichtsbeobachtungen (jeweils fünf Stunden Rechnungswesenunterricht bei zwei Lehrkräften) aus Wirtschaftsschulen in Nordbayern.5 In den Klassen befinden sich 17 bzw. 21 Schülerinnen und Schüler, die im Mittel 16,1 bzw. 13,9 Jahre alt sind. Der Unterricht ist nahezu durchgängig in Form des Klassengesprächs organisiert (vgl. Seifried 2009). Die Unterrichtsvideos wurden in einem ersten Analyseschritt im Hinblick auf das Auftreten von Fehlersituationen und das Handeln der Lehrpersonen in diesen Momenten hin analysiert. Eine Fehlersituation liegt immer dann vor, wenn (1) die Lehrkraft eine Schüleräußerung explizit ablehnt oder (2) wenn sie nach der erfolgten Schülerantwort ohne einen zustimmenden Kommentar einem weiteren Lerner das Wort erteilt (vgl. die „ground rules“ der Unterrichtskommunikation von Edwards & Mercer 1987). In beiden Fällen steht ein Fehler im Raum, der für eine gewisse Zeitspanne das Geschehen bestimmt. Dabei unterscheiden wir Fehler und Fehlersequenz: Eine Fehlersequenz umfasst ein thematisch zusammengehöriges Unterrichtsgespräch und ist i.d.R. auf den Fehler eines Schülers zurückzuführen, kann
5
des selbstorganisierten Lernens. Einen ersten Anhaltspunkt hierfür bieten allerdings die Überlegungen von Minnameier (2008). Aber auch Untersuchungen dazu, welche Fehler denn tatsächlich lernförderlich sind und welche nicht, liegen noch nicht vor. Die Lehrkräfte wurden u. a. ausgewählt, weil sie eine vergleichbare (Berufs-)Biographie aufweisen (männlich, ca. 40 Jahre alt, Studium der Wirtschaftspädagogik nach dem Abschluss einer kaufmännischen Berufsausbildung, ca. zehn Jahren im Schuldienst tätig).
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aber weitere Fehler von anderen Lernenden oder vom selben Schüler umfassen. Sie ist dann abgeschlossen, wenn der Fehler aufgeklärt wurde oder das Thema des Unterrichtsgesprächs wechselt. In den analysierten zehn Unterrichtsstunden lassen sich für beide Klassen insgesamt 114 Fehler bzw. 76 Fehlersituationen identifizieren. Dies erscheint recht wenig, wenn man die Kommunikationsmuster in den beiden Klassen näher betrachtet (vgl. Seifried 2009). Die Lehrpersonen stellen im Durchschnitt mehr als 80 didaktische Fragen pro Unterrichtstunde (zusätzlich lassen sich im Mittel ca. 40 sonstige initiierende Äußerungen beobachten), denen mehr als 100 Schülerantworten entgegenstehen. Dabei kommt es lediglich zu durchschnittlich elf Fehlern pro Stunde. Fehlerchancen eröffnen sich bei solch einem Interaktionsmuster offenbar nicht allzu häufig. Dies mag der extremen Engführung geschuldet sein, die in beiden Klassen vorherrscht. In einem vorgelagerten, hier nicht berichteten Analyseschritt zeigte sich zudem, dass gute Schülerinnen und Schüler tendenziell häufiger am Unterrichtsgeschehen beteiligt werden und daher auch häufiger Fehlermöglichkeiten erhalten. Fehler von schwächeren Schülern dagegen werden – etwas pauschal gesprochen – kaum öffentlich und im Klassengespräch nicht thematisiert. In einem weiteren Kodierungsschritt haben wir versucht, die aufgetretenen Fehler näher zu systematisieren. Hierbei erweist sich ein Rückgriff auf gängige Taxonomien als hilfreich. Die von Anderson & Krathwohl (2003) auf Basis der Bloom‘schen (1972) vorgenommene Klassifizierung erscheint diesbezüglich geeignet. Grundsätzlich können Fehlersituationen hinsichtlich zweier Dimensionen unterschieden werden, nämlich nach der Art des Wissens (z. B. Fakten, Konzepte, Prozeduren), und hinsichtlich der Qualität der kognitiven Verarbeitungsleistung, die wir ins Zentrum der folgenden Ausführungen rücken. Auf der Basis der „cognitive process dimension“ lassen sich folgende Fehlerarten unterscheiden:6 – Fehler, die beim Erinnern oder beim Abruf von bereits gelernten Inhalten auftreten, werden als Reproduktions-Fehler bezeichnet. – Soll ein Lerner den Bedeutungsgehalt oder die Beziehung zwischen einzelnen Wissenselementen aufzeigen und unterläuft ihm hierbei ein Fehler, so weist dies auf Verständnisschwierigkeiten hin (Verständnis-Fehler). – Bei Fehlern, die dem Lerner beim Anwenden von vorhandenem Wissen in (neuen) Situationen unterlaufen, spricht man von Anwendungs-Fehlern. – Fehler, die auf eine Fehlleistung in den Bereichen Analyse, Evaluation sowie Kreation hindeuten, werden Fehler bei der Informationserzeugung bezeichnet. – Der Kategorie „sonstige Fehler“ werden solche zugeordnet, die nicht zu den obigen Fehlerarten rechnen (insbesondere auf Kommunikationsprobleme der Interaktionspartner zurückzuführende Missverständnisse).
6
Metzger et al. (1993) ordnen die verschiedenen Kategorien Blooms insgesamt drei Kategorien zu, nämlich Informationserinnerung (Wiedererkennen und Wiedergeben), Informationsverarbeitung (Sinn erfassen und Anwenden) sowie Informationserzeugung (Analyse, Synthese und Beurteilen).
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In unserem Beispiel ist festzuhalten, dass die Mehrheit der Fehler der Kategorie der Verständnis-Fehler zuzuordnen sind (insgesamt 69) (siehe Tabelle 1). Fehler beim Anwenden von Wissen sowie Reproduktionsfehler kommen weitaus seltener vor und Fehler bei der Informationserzeugung finden sich keine. Die beobachteten Fehler sind durchweg auf den drei unteren Taxonomie-Stufen anzusiedeln. Die durch die Fragen der Lehrkraft initiierten Denkprozesse bewegen sich auf einem eher niedrigen Niveau, und Fehler, die komplexerer Denkoperationen bedürfen, treten (zumindest in der vorliegenden Stichprobe) selten auf. Es ist also letztlich davon auszugehen, dass im Lehrer-Schüler-Gespräch nicht in ausreichendem Maße auf die kognitive Aktivierung der Lernenden bzw. die eigenständigen Konstruktionen von Wissen geachtet wurde. Lehrperson/Klasse 1 (n = 17 Lernende)
Lehrperson/Klasse 2 (n = 21 Lernende)
Gesamt
Reproduktion
1
7
8
Verständnis
27
42
69
Anwendung
6
2
8
Informationserzeugung
---
---
---
Sonstige
15
14
29
Gesamt
49
65
114
Fehlerart
Tab. 1: Systematisierung von Fehlern (Klassengespräch, n = 5 Unterrichtsstunden)
Selbstorganisiertes Lernen: Im Folgenden wird anhand des Beispiels der SoLe III-Studie (Seifried 2004a) gezeigt, inwiefern sich Fehlersituationen in den Gruppenarbeitsphasen identifizieren lassen.7 Die Ergebnisse basieren auf der Analyse einer gegen Ende des Schuljahres angesiedelten Unterrichtseinheit, die fünf Unterrichtsstunden umfasst. Dabei wurden die Interaktionsprozesse in zwei Lerngruppen näher untersucht (kaufmännische Grundstufe, acht Schülerinnen und ein Schüler, Alterspanne: 16 bis 18 Jahre). Gegenstand dieser Lernsequenz ist die Bearbeitung eines Beleggeschäftsgangs inklusive der Aufbereitung der Daten für einen Geschäftsbericht. Diese Lerninhalte erscheinen für die Fehleranalyse gut geeignet, da die Lernenden sowohl eigenständig Daten und Kennzahlen generieren (Vornahme von Buchungen, Kontenabschluss, Erstellung der Gewinn- und Verlustrechnung sowie der Bilanz) als auch Informationen aus ökonomischer Sicht beurteilen und in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang einordnen. Insgesamt konnten für die beiden Lerngruppen 99 Lernerfehler identifiziert werden. Schwerpunkte sind für die Bereiche „Verständnis“ und „Informationserzeugung“ (Analyse, Evaluation und Kreation) auszumachen (siehe Tabelle 2).
7
Die Datenanalyse und -auswertung hat Frau Maria Trunk im Rahmen einer Diplomarbeit am Bamberger Lehrstuhl für Wirtschaftspädagogik besorgt (vgl. Trunk 2008).
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Potenziale des Lernens aus Fehlern
Fehlerart
Arbeitsgruppe 3 (n = 5 Lernende)
Arbeitsgruppe 5 (n = 4 Lernende)
Gesamt
Reproduktion
---
1
1
Verständnis
17
18
35
Anwendung
---
1
1
Informationserzeugung
29
22
51
Sonstige
5
6
---
Gesamt
51
48
99
Tab. 2: Systematisierung von Fehlern (selbstorganisiertes Lernen, zwei Lerngruppen, n = 5 Unterrichtstunden)
Ein unmittelbarer Vergleich mit dem oben beschriebenen fragend-entwickelnden Unterricht verbietet sich (s.o.), aber dennoch lassen sich – unter Wahrung der gebotenen Zurückhaltung – durchaus einige Schlüsse aus den präsentierten Ergebnissen ziehen: – Die „Fehlerchance“ beim selbstorganisierten Lernen liegt – und diese Erkenntnis ist angesichts der methodisch-didaktischen Schwerpunktsetzungen und damit verbundenen Partizipationsmöglichkeiten für die Lernenden ja fast schon trivial – deutlich über jener im fragend-entwickelnden Unterricht. Berechnet man die Fehlerzahl pro Lerner beim Klassenunterricht, so kommt man in unserem Fall auf Werte von ca. 3 für fünf Unterrichtstunden bzw. 0,6 pro Lerner und Unterrichtsstunde. Im SoLe-Unterricht liegt der Vergleichswert bei ca. 10 bzw. 2. Es ist also alles in allem von einer mindestens drei Mal höheren „Fehlerchance“ auszugehen. – Die Fehler beim selbstorganisierten Lernen sind (zumindest gegen Ende der Lehreinheit) auf einer höheren Taxonomiestufe angesiedelt. Während beim Klassengespräch keine der Ebene der Informationsverarbeitung zuzurechnenden Fehler auszumachen waren, sind für das selbstorganisierten Lernen über die Hälfte der identifizierten Fehler auf dieser Stufe zu verorten.8 – Die Fehler werden im Klassengespräch vornehmlich von der Lehrkraft rückgemeldet und dann gemeinsam im Plenum besprochen. Im SoLe-Unterricht dagegen werden Fehler überwiegend von Lerner selbst oder Mitlernenden entdeckt oder rückgemeldet. Die Lehrperson spielt hier lediglich eine untergeordnete Rolle (vgl. Trunk 2008). – Fehler sind im SoLe-Unterricht ein Indikator für Lerneraktivitäten, und in Analogie zu Schülertätigkeiten wie Problemlösen, Lernerfragen oder Ver8
Je nach Zielsetzung der Unterrichtseinheit fallen naturgemäß unterschiedliche Fehler an. Bei der von Trunk (2008) zusätzlich durchgeführten Analyse einer zu Beginn der Lehreinheit angesiedelten Unterrichtseinheit, die schwerpunktmäßig auf die Produktion von Materialien abzielte, überwiegen naturgemäß Fehler, die der Informationserzeugung (genauer: Gestaltung) zuzurechnen sind. Bezüglich der Quantität der identifizierbaren Fehlersituationen zeigt sich jedoch ein ähnliches Bild wie bei der hier dargestellten Lernsequenz (ca. 120 Fehler, die sich gleichmäßig auf beide Lerngruppen verteilen).
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wendung von Fachtermini (vgl. Seifried 2004a, 2004b) lassen sich auch für das Fehlermachen – ungeachtet des geringen Stichprobenumfangs – positive Zusammenhänge zwischen den Lerneraktivitäten und ausgewählten Lernerfolgsmaßen ausmachen (Buchungskompetenz: Spearmans Rho = .72, deklaratives Wissen/Problemlösetest: Spearmans Rho = .78, p jeweils < .05). 3.2. DIE EMOTIONALE KOMPONENTE: SCHAFFUNG EINER LERNFÖRDERLICHEN FEHLERKULTUR Lehrerorientierter Unterricht: Informationen zur „Fehlerkultur“ im fragend-entwickelnden Unterricht liegen vor aus einer schriftlichen Befragung (n = 1.136 Schüler) bei 54 Klassen in (überwiegend bayerischen) kaufmännischen Schulen (Wirtschaftsschule: 15 Klassen; Fachober-/ Berufsoberschule: 21 Klassen; Berufsschule: 18 Klassen). Wie bereits ausgeführt, ist mit dem Begriff eine Lernumgebung gemeint, in der die Angst vorm Fehlermachen (emotionale Komponente) reduziert und andererseits in Fehlersituationen Lernprozesse angeregt und so das Lernen aus Fehlern (kognitive Komponente) gefördert wird. Zur Ermittlung der Fehlerkultur griffen wir auf den Schülerfragebogen zum Umgang mit Fehlern (Spychiger et al. 1998) zurück, der vier Subskalen umfasst: (1) Fehlerfreundlichkeit, 10 Items, Beispielitem: „Bei unserer Lehrperson ist Fehlermachen nichts Schlimmes; (2) Fehlerangst, 5 Items, Beispielitem: „Ich bekomme Angst, wenn ich im Unterricht Fehler mache“; (3) Lernorientierung, 8 Items, Beispielitem: „Fehler im Unterricht helfen mir, es hinterher besser zu machen“ und (4) fehlende Normtransparenz, 8 Items, Beispielitem: „Wenn ich Fehler mache, verstehe ich oft nicht warum“. Fehlerfreundlichkeit und Fehlerangst bezeichnen dabei emotionale, fehlende Normtransparenz und insbesondere Lernorientierung die kognitive Komponente der Fehlerkultur. Dabei gibt es jeweils eine positive und eine negative Sicht auf die Dinge (positiv: Lernorientierung und Fehlerfreundlichkeit, negativ: fehlende Normtransparenz und Fehlerangst). Während einige Studien (z. B. eine Untersuchung von Spychiger et al. 1998, in der über 600 Lernende der Jahrgangsstufen vier bis neun zu ihren Erfahrungen mit Fehlern im Unterricht befragt wurden) zeigen, dass sich Lernende in Fehlersituationen häufig als dumm erleben und Fehler nicht selten als Makel betrachtet werden, konnten wir diese Befunde nicht replizieren. Vielmehr berichten die Lernenden aus kaufmännischen Schulen, dass es um die Fehlerkultur im Klassenzimmer offenbar recht gut bestellt ist. Positive Aspekte wie Fehlerfreundlichkeit und Lernorientierung erreichen recht hohe Zustimmung, wohingegen im Mittel kaum über Fehlerangst und fehlende Normtransparenz geklagt wird. Der unserer Studie zugrunde liegende „klassische“ und relativ lehrerzentrierte Unterricht stellt sich also – zumindest im Hinblick auf das Fehlerklima und bei einer Betrachtung der gemittelten Werte – als eher unproblematisch dar (siehe Abbildung 1).
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Potenziale des Lernens aus Fehlern stimmt voll und ganz
Wirtschaftsschulen (n = 361)
4
Fachober-/Berufsoberschulen (n = 400) Berufsschulen (n = 375)
stimmt zum Teil
3
stimmt eher nicht
2
stimmt gar nicht
1 Fehlerfreundlichkeit
Lernorientierung
fehlende Normtransparenz
Fehlerangst
Abb. 1: „Fehlerkultur“ aus Sicht der Lernenden
Selbstorganisiertes Lernen: Daten aus der oben beschriebenen Beobachtungsstudie von Trunk geben Hinweise auf das Vorherrschen eines – alles in allem – positiven Fehlerklimas. Hinsichtlich des konstruktiven Umgangs mit Fehlern gibt es aber deutliche Unterschiede in den beiden ausgewählten Lerngruppen. Während in der Arbeitsgruppe 3, die auch bezüglich des Lernerfolgs und des emotional-motivationalen Erlebens des Unterrichts überdurchschnittliche Werte aufweist und somit als „Positivgruppe gekennzeichnet werden kann (zur Charakterisierung der Lerngruppen siehe Seifried 2004a, 241 ff.) ein konstruktiver Umgang mit Fehlern überwiegt, lassen sich in der Gruppe 5 (unterdurchschnittliche Werte bezüglich des Lernerfolgs und emotional-motivationaler Variablen) auch Anzeichen der Frustration und gegenseitiger Entmutigung ausmachen (vgl. Trunk 2008). Analysiert wurde in diesem Zusammenhang auch, ob das Auftreten von Fehlern, das Entdecken von Fehlern und der Umgang mit Fehlern sich negativ auf das emotionale Erleben der Lernenden auswirken. Um Letzteres zu erfassen, wurden sie in kurzer zeitlicher Taktung während des Lernprozesses gefragt, ob sie sich wohl fühlen und sich ernst genommen fühlen.9 Dabei zeigte sich, dass weder das Auftreten oder das Entdecken von Fehlern noch der Umgang mit Fehlern mit einem signifikanten Absinken der Werte der Selbstberichte einhergehen. Alles in allem kann festgehalten werden, dass das im SoLe-Ansatz geforderte „konstruktive Fehlermanagement“ angelegt ist, sich aber lerngruppenspezifisch darstellt und nicht durchgängig als konstruktiv 9
Anhand einer Fließskalierung (von 0 bis 100) gaben die Schüler ihr subjektives emotionales Erleben dazu im Zehn-Minuten-Takt an.
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bezeichnet werden kann. Stellt man auch hier wieder mit der gebotenen Vorsicht die Befunde aus lehrerzentriertem und selbstorganisationsoffenem Unterricht gegenüber, so zeigt sich, dass das emotionale Erleben unter beiden methodischen Grundentscheidungen eher positiv ausgeprägt ist, also beide Arten von Unterricht ein fehlerfreundliches Klima herstellen. 4. DIE KOGNITIVE KOMPONENTE DER FEHLERKULTUR ALS DESIDERAT DER LEHRERBILDUNGSFORSCHUNG: FAZIT UND AUSBLICK Die präsentierten Befunde unterstreichen, dass methodische Grundentscheidungen mit bestimmen, in welchem Umfang sich Fehlerchancen eröffnen. Selbstorganisiertes Lernen bietet hier offenbar bessere Möglichkeiten als der traditionelle Unterricht. Dagegen scheint das emotionale Erleben unter beiden Bedingungen recht positiv ausgeprägt zu sein. Kritisch erweist sich jedoch in beiden Arten von Unterricht die kognitive Komponente. Analysiert man, inwieweit Lehrpersonen Schülerfehlern tatsächlich auf den Grund gehen und lernförderliche Rückmeldungen geben, scheinen erhebliche Defizite auf: – Fragend-entwickelnder Unterricht: In der oben genannten Beobachtungsstudie stellte sich heraus, das Lehrpersonen in einem Großteil der Fehlersituationen (69 von 76) den Schülerfehlern entweder nicht auf den Grund gehen und/ oder keine elaborierte Rückmeldungen geben, die Ansatzpunkte liefern könnte, Fehler zu reflektieren und neue Lösungswege zu generieren. Nur in sieben Situationen geht man Fehlern tatsächlich auf den Grund und gibt elaborierte Rückmeldungen. Die Befunde zeigen, dass bereits die als notwendig anzusehende Bedingung für das Erkennen von Fehlerursachen – das „Nachfassen“ – oft unerfüllt bleibt. Damit wird auf den ersten entscheidenden Schritt beim Lernen aus Fehlern im Klassengespräch verzichtet. Aber auch die Rückmeldungen sind selten so elaboriert, dass sie als lernförderlich bezeichnet werden können. Durch diesen ungünstigen Umgang mit Fehlern geben Lehrkräfte den Lernenden praktisch keine Anhaltspunkte an die Hand, welche Fehler sie gemacht haben und wie diese behoben werden könnten (vgl. Mindnich, Wuttke & Seifried 2008; Wuttke, Seifried & Mindnich 2008). – Selbstorganisiertes Lernen: Zum im obigen Sinne definierten Umgang mit Fehlern liegen bislang keine Daten aus selbstorganisationsoffenen Lernumgebungen vor. Allerdings wurde im Rahmen von Kommunikationsanalysen (Wuttke 2005) das Rückmeldeverhalten von Lehrpersonen in einer selbstorganisationsoffenen Lernumgebung untersucht. Auch hier sollten hoch elaborierte Rückmeldungen für einen lernförderlichen Umgang mit Fehlern stehen (vgl. auch Crespo 2002, 740). Die Befunde sind mit jenen aus dem fragendentwickelnden Unterricht vergleichbar: Auch unter dieser methodischen Rahmensetzung beschränken sich Lehrpersonen überwiegend auf Kurzkorrekturen im Sinne von „nein“ oder „falsch“ und geben kaum Rückmeldungen, die den Lösungsweg mit einbeziehen und Handlungsalternativen aufzeigen. Inte-
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ressant wäre in diesem Zusammenhang, welche Rolle Mitlernende in einer solchen Lernumgebung einnehmen, d.h. ob und wie sie ggf. die „Defizite“ der Lehrperson ausgleichen. Dazu liegen aber bislang keine Daten vor. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass je nach methodischer Grundentscheidung mehr oder weniger Fehler gemacht werden (können) und dass Fehlermachen von Lernenden im Mittel als emotional nicht bzw. nur wenig belastend wahrgenommen wird. Damit aus den Fehlern dann aber auch tatsächlich systematisch gelernt werden kann, ist es erforderlich, dass Lehrpersonen einen lernförderlichen Umgang mit Fehlern an den Tag legen. Dies scheint jedoch nicht durchgängig der Fall zu sein. Eine Analyse der einschlägigen Literatur zeigt darüber hinaus, dass es bislang keine Erkenntnisse darüber gibt, wann, wo und wie Lehrpersonen diese Facette der professionellen Fehlerkompetenz erwerben. In einer vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Studie (Wuttke & Seifried 2009) wird deshalb aktuell die Entwicklung der Professionalität von Lehrpersonen im kaufmännisch-verwaltenden Bereich in einem kombinierten Querschnitt-/Längsschnittdesign nachgezeichnet. Damit erhoffen wir uns Aufschluss über Ausprägung und Entwicklung dieser für den Erfolg von Lehr-Lernprozessen zentralen Kompetenz von Lehrpersonen im beruflichen Bereich. LITERATUR Anderson, L. W. & Krathwohl, D. R. (2003): A taxonomy for learning, teaching, and assessing. New York: Longman. Bloom, B. S. (1972): Taxonomie von Lernzielen im kognitiven Bereich (4. Aufl.). Weinheim: Beltz Verlag. Breitkreuz, H. (2004): Can I become a beefsteak? False Friends im Englischunterricht. Lernchancen, 39, 24-27. Brunner, M., Kunter, M., Krauss, S., Klusmann, U., Baumert, J., Blum, W., Neubrand, M., Dubberke, T., Jordan, A., Löwen, K. & Tsai, Y. M. (2006): Die professionelle Kompetenz von Mathematiklehrkräften: Konzeptionalisierung, Erfassung und Bedeutung für den Unterricht. Eine Zwischenbilanz des COACTIV-Projekts. In: Prenzel, M. & Allolio-Näcke, L. (Hrsg.) (2006): Untersuchungen zur Bildungsqualität von Schule. Abschlussbericht des DFGSchwerpunktprogramms. Münster u. a.: Waxmann, 54-82. Corder, P. S. (1967): The significance of learner’s error. International review of applied linguistic in language teaching, 5, 161-170. Crespo, S. (2002): Praising and correcting: prospective teachers investigate their teacherly talk. Teaching and Teacher education, 18(6), 739-758. Edwards, A. D. & Mercer, N. (1987): Common knowledge: The development of understanding in the classroom. London and New York: Methuen. Elbers, E. & Streefland, L. (2000): Collaborative learning and the construction of common knowledge. European Journal of Psychology of Education, XV(4), 479-490. Ellström, P.-E. (2006): The meaning and role of reflection in informal learning at work. In: Boud, D. J. Cressey, P. & Docherty, P. (Eds.): Productive reflection at work. London: Routledge, 43-53. Eraut, M. (1994): Developing professional knowledge and competence. London: Routledge Falmer.
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HETEROGENE ERLEBENSPROZESSE IM KAUFMÄNNISCHEN UNTERRICHT – RESULTAT INDIVIDUELLER DISPOSITIONEN UND PRÄDIKTOR VON ERFOLGSMAßEN? Karsten D. Wolf & Lutz Schumacher
KURZFASSUNG Der Beitrag beschäftigt sich mit der Analyse von Erlebensprozessen im Unterricht. Zunächst werden dazu die Ebenen von Lernprozessen und deren Erfassung vorgestellt sowie mögliche Zusammenhänge zwischen Prozess- und Produktdaten diskutiert. Anhand der Daten aus drei Studien (n = 90) werden vier Fragestellungen untersucht: (1) Welche Unterschiede gibt es im subjektiven Erleben der Individuen? (2) Wie groß sind die Unterschiede im Erleben zwischen unterschiedlichen Lernsettings? (3) Gibt es Zusammenhänge zwischen individuellen Lernvoraussetzungen sowie Persönlichkeitsmerkmalen und dem Verlauf der Erlebensdaten? (4) Gelingt eine Prognose der abschließend erhobenen Lernmotivation auf Basis der Prozessdaten? Zur Beantwortung der genannten Fragestellungen werden vereinfachte Prozessparameter für die einzelnen Erlebenszeitreihen gebildet und mittels varianz- und regressionsanalytischer Verfahren analysiert. Anhand einiger exemplarischer Ergebnisse zu den Determinanten und Effekten von Erlebensprozessen im Unterricht können erste Einblicke in die Wirkungen von Lehr-LernArrangements und die Dynamik von Lernprozessen gewonnen werden. ABSTRACT This contribution deals with the analysis of students’ experience processes in the classroom. At first we describe the different levels of learning processes and how to possibly collect data on each level. Based on three studies (n = 90) we discuss possible interrelations between process data and product data: (1) What differences exist within the subjective experiences of each individual over the course of time? (2) Are there differences in the students’ experience between different teaching settings and how large are they? (3) Do individual preconditions such as learning ability, pre-knowledge or personality traits determine the experience process? (4) Is it possible to predict the resulting learning motivation from the process data? For the analysis we used simplified process parameters for ANOVA and
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Karsten D. Wolf & Lutz Schumacher
linear regressions. The exemplary findings show both differences within and between the experiences of students and offer some insights into the causes and effects of classroom teaching. 1. EINLEITUNG Die Lehr-Lern-Forschung beschäftigt sich insbesondere mit Prozessen wie Lernen, Vergessen, motivationalem und emotionalem Erleben sowie Interaktionen von Personen in Lehr-Lern-Kontexten, welche im Zeitverlauf Veränderungen unterworfen sind (Schmitz 2006). Daher wird die Prozessanalyse für die empirische Lehr-Lern-Forschung immer wieder als besonders wichtig herausgehoben und in deren Desiderata eingeschlossen (Heidenreich & Heymann 1976; Beck, Mandl, Sembill & Witt 1992; Fischer et. al. 2003; Beck 2005; Nickolaus, Riedl & Schelten 2005; Nesbit & Hadwin 2006). Zudem wird betont, dass die unterrichtspraktische Bedeutung von Forschungsergebnissen nur durch ökologisch valide Studien gesichert wird, die in einem natürlichen Setting durchgeführt werden. Unterrichtsforschung sollte demzufolge bevorzugt als Feldforschung konzipiert werden, bei der Lehr-Lern-Prozesse über längere Zeiträume erfasst und analysiert werden (Sembill 1995; Achtenhagen, John, Lüdecke, Preiss, Seemann, Sembill & Tramm 1988). So belegt auch das wachsende Interesse an Videostudien im Kontext von TIMMS, PISA oder DESI (siehe z.B. den Thementeil „Videogestützte Unterrichtsforschung“ in der Zeitschrift für Pädagogik, Heft 6, 2006) den Wunsch, genauer zu beschreiben und letztendlich auch zu verstehen, was im Unterricht im Detail geschieht. Vergleichsweise selten wurde bis dato das subjektive emotionale, motivationale und kognitive Erleben als Quelle für die Beschreibung und Erklärung von Lernprozessen genutzt. Im folgenden Beitrag soll verdeutlicht werden, welche Erkenntnisgewinne durch eine Analyse von Erlebensprozessen im Unterricht zu erzielen sind. Exemplarisch wird anhand von Prozessdaten aus Untersuchungen im kaufmännischen Unterricht aufgezeigt, wie unterschiedlich das subjektive Erleben von Schülerinnen und Schülern nicht nur in verschiedenen Unterrichtsarrangements ist, sondern auch innerhalb ein und desselben Unterrichts. Abschließend soll erörtert werden, inwieweit diese heterogenen Wahrnehmungen und Bewertungen mit spezifischen relativ stabilen Dispositionen der Lernenden in Beziehung gebracht werden können und ob die Prozessverläufe eine Vorhersage von Lernmotivation und Interessensentwicklung erlauben. 2. EBENEN VON LERNPROZESSEN UND DEREN ERFASSUNG Die Lehr-Lern-Forschung steht vor dem Problem, dass die basalen Lernprozesse weitgehend nicht beobachtbar sind. Trotz großer Fortschritte in der neurophysiologischen Forschung beschränkt sich diese bisher weitgehend auf die Lokalisie-
Heterogene Erlebensprozesse im kaufmännischen Unterricht
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rung von Hirnaktivitäten, die Bestimmung von deren Intensität sowie erste Analysen großräumiger Interaktion. Eine detaillierte physiologische Beschreibung von Lernprozessen in realen Unterrichtssituationen ist bisher nicht möglich (Schumacher, R. 2006). Wenn sich also die basalen Lernprozesse einer direkten Messung entziehen, muss auf direkt beobachtbare Verhaltensprozesse oder durch Befragung zugängliche Erlebensprozesse einzeln oder idealerweise in Kombination zurückgegriffen werden: (1) Verhaltensebene: Direkt beobachtbar ist nur das Lernverhalten, wobei hierunter verbales und nonverbales Verhalten verstanden wird. Üblicherweise werden Video- und Audioaufnahme sowie ggf. Log-Dateien einer eventuellen Computernutzung verwendet, um die Auseinandersetzung des Individuums mit Lernmaterialien, Medien, Mitschülern und Lehrern zu analysieren (Shulman 1986; Prenzel, Kobarg & Seidel 2005; Wolf 2003). (2) Subjektive Erlebensebene: Im Bewusstsein der lernenden Person wird der Lernprozess begleitet vom subjektiven Erleben emotionaler, motivationaler und kognitiver Zustände. Diese können während des Prozesses durch Lautes Denken (welches allerdings im Unterrichtskontext nicht einsetzbar ist) oder Experience Sampling (Hormuth 1986, Csikszentmihalyi & Larson 1987, Stone & LitcherKelly 2006, Sembill, Seifried & Dreyer 2008) protokolliert bzw. anschließend durch videogestützte Gedanken- und Gefühlsrekonstruktion erhoben werden. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass sich die elementaren physiologischen Prozesse der Informationsaufnahme, -verarbeitung und -speicherung nicht vollständig oder isomorph in bewusstem Erleben widerspiegeln. Die Bewusstseinsforschung und auch die Forschung zum impliziten Lernen weisen darauf hin, dass viele Lernprozesse und verhaltensregulative Vorgänge dem Individuum nicht bewusst werden. Die bewusste Steuerung und Kontrolle von Handlungen ist eher die Ausnahme als die Regel. Handlungsregulationsprozesse verlaufen zumeist automatisiert und unbewusst (Damasio 1994). 3. ZUSAMMENHANG ZWISCHEN PROZESS- UND PRODUKTDATEN Häufig wird in Studien nur das Resultat von Lernprozessen – als Wissens- bzw. Kompetenzzuwachs in einem bestimmten Inhaltsbereich – erfasst. Der intern ablaufende Lernprozess als vermittelnde Variable für einen Wissenszuwachs zwischen zwei Zeitpunkten wird zumindest in quantitativen Studien selten analysiert. Hierdurch kann die Individualität von Lernprozessen und der Zusammenhang von Lernprozess und Lernergebnis nicht erkannt und verstanden werden. Dabei ergibt sich eine Schwierigkeit beim Bezug von Prozessdaten auf Produktdaten: Lernen als Zuwachs von Wissen und Kompetenz legt ein Verständnis eines kontinuierlichen, möglichst irreversiblen, kumulativen Prozesses nahe. Physiologische Prozesse und Erlebenszustände als Prozessvariablen sind hingegen gekennzeichnet durch Reversibilität und Variabilität und nicht durch kontinuierliches Wachstum. Emotionales und motivationales Erleben ist durch eine geringe
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Karsten D. Wolf & Lutz Schumacher
zeitliche Stabilität und die Abhängigkeit von situativen Einflüssen charakterisiert (Eid, Steyer & Schwenkmezger 1996, 295). Im Rahmen eines State-Trait-Modells menschlichen Verhaltens und Erlebens lassen sich entsprechend zwei Veränderungsarten unterscheiden: (1) Stateveränderungen und (2) Traitveränderungen (Nesselroade 1991). Stateveränderungen sind durch relativ schnelle und reversible Veränderungen gekennzeichnet, wie sie z.B. bei Emotionen und Stimmungen vorkommen. Stateveränderungen können durch situative Einflüsse und durch interne Prozesse verursacht werden. Nesselroade (1991) wählt für diese Art der Veränderungen den Ausdruck Variabilität, um deren fluktuierenden Charakter zum Ausdruck zu bringen. Veränderungen hingegen sind für Nesselroade diejenigen relativ langsamen Entwicklungen, die dauerhaft sind und irreversibel sein können. Eid et al. (1996) sprechen von Traitveränderungen. Solche Traitveränderungen können z.B. durch Reife oder Lernen bedingt sein. Davon ausgehend, dass diese beiden Veränderungsprozesse nicht unabhängig sind, stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang zwischen labilen psychischen Zuständen und stabilen Fähigkeits- und Wissensveränderungen. Es ist daher von Interesse, welche Konfiguration von Prozessdaten (emotionale, motivationale, kognitive Erlebenszustände) eine Veränderung von Wissens- und Handlungsstrukturen indiziert oder bedingt. Ausgehend von der Annahme, dass Lernen im Sinne einer Systemveränderung – Akkommodation nach Piaget – dann auftritt, wenn routinisierte Regulationsprozesse hinreichend gestört werden bzw. sich als nicht erfolgreich erweisen, lässt sich vermuten, dass solche Irritationen sich in lernbegleitenden oder -befördernden Erlebensprozessen niederschlagen. Es ist plausibel, dass intensive Lernprozesse durch ein variables subjektives Erleben gekennzeichnet sind, welches sowohl Erfolge als auch Krisen – also sowohl positives als auch negatives Erleben – als Lernimpulse bzw. -anlässe widerspiegelt. 4. ERLEBENSPROZESSE DES UNTERRICHTS: DETERMINIERT UND/ODER DETERMINIEREND? In Prozessdaten zum subjektiven Erleben soll sich der individuelle Lernprozess der Schülerinnen und Schüler widerspiegeln. Dabei kann weder davon ausgegangen werden, dass diese Prozessdaten den Lernprozess des Individuums vollständig abbilden, noch dass diese Prozesse ausschließlich von lernrelevanten Vorgängen bestimmt werden. Subjektive Erlebenszustände werden von vergangenen, antizipierten und aktuellen Ereignissen beeinflusst. Die aktuellen Einflussquellen können externer (z.B. situative Gegebenheiten) oder interner (physiologische und psychische Regulationsprozesse) Natur sein. Im Schulunterricht sind vielfältige Einflussfaktoren denkbar: – Die sozialen Interaktionen innerhalb von Lerngruppen verlaufen inter- und intraindividuell unterschiedlich befriedigend. In Abhängigkeit davon, ob ein aktualisiertes soziales Motiv oder Lernmotiv in der Interaktion mit anderen
Heterogene Erlebensprozesse im kaufmännischen Unterricht
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befriedigt wird, resultiert ein bestimmter emotionaler und motivationaler Status (Schumacher, L. 2002, 2006). Die von der Lernumgebung eröffneten Handlungsspielräume beeinflussen das motivationale und emotionale Erleben (Deci & Ryan 1993; Prenzel, Kristen, Dengler, Ettle & Beer 1996). Lernvoraussetzungen auf Seiten der Schüler können deren Auseinandersetzung mit Unterrichtsanforderungen und somit deren Erleben mitbestimmen.
Neben den aufgeführten sind weitere Einflussfaktoren denkbar, die ebenfalls in Wechselwirkung miteinander stehen können. Zudem beeinflussen sich die Ausprägungen der einzelnen State-Variablen wechselseitig; Emotionales, motivationales und kognitives Erleben stehen in einem Wirkgefüge (Sembill, Wolf, Wuttke & Schumacher 2002). Es stellt sich grundsätzlich die Frage, ob (a) die in der Eingangserhebung festgestellten interindividuell unterschiedlichen Lernvoraussetzungen in Wechselwirkung mit dem Lehr-Lern-Arrangement Einfluss auf die Entwicklung der Prozessdaten nehmen sowie (b) ob die emotionalen, motivationalen und kognitiven Erlebensprozesse relativ stabile Veränderungen in Lernerfolgsvariablen wie Problemlösefähigkeit, Fachwissen sowie Interessensbildung vermitteln bzw. prognostizieren. 5. KONTEXT DER UNTERSUCHUNG Sembill (1992) entwickelte auf der Basis einer Gestaltungsmatrix zur Generierung innovationsfähiger Wissens- und Handlungsstrukturen vier Grunddimensionen Selbstorganisierten Lernens (Sembill, Wolf, Wuttke & Schumacher 2002). Er berücksichtigt hierbei empirische Befunde und theoretische Überlegungen aus verschiedenen Bereichen pädagogischer, psychologischer und sozialwissenschaftlicher Forschung zu den Wirkungen bestimmter Unterrichtsbedingungen auf die Motivation, Problemlösefähigkeit und Lernstrategienutzung. Wesentliches Kennzeichen einer entsprechend gestalteten Lernumgebung ist, dass die Lerner ihren Lernprozess weitgehend selbst organisieren können. Sie setzen sich mit komplexen Problemstellungen auseinander, definieren ihre Ziele, steuern und kontrollieren ihren Lernprozess. Das von Sembill vertretene Lernverständnis betont – ausgehend von der weitgehenden Autonomie des Lerners – die Bedeutung emotionaler und motivationaler Prozesse beim Erwerb von Wissens- und Handlungsstrukturen. Damit trat er dem damals vorherrschenden kognitivistisch geprägten Mainstream der Lehr-Lern-Forschung entgegen. Heute ist die Bedeutung von Emotionen für Lehr-Lern-Prozesse unstrittig (Astleitner, 2000; Kort, Reilly & Picard, 2001; Efklides & Volet, 2005). Konzentrierte sich die Beschäftigung mit Emotionen in Lernprozessen früher insbesondere auf negative Aspekte wie z.B. Prüfungsangst, so wird ihnen heute eine wichtige Rolle bei der Entstehung und Erhaltung der Lernmotivation, bei der Qualität von Informationsverarbeitungsprozessen und deren (meta-kognitiven) Über-
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wachung (z.B. Aufrechterhaltung der Aufmerksamkeit) sowie deren Regulation (Lernstrategien) zugesprochen. Emotionen haben damit letztlich Einfluss auf die Lernleistung bzw. den Lernerfolg (Pekrun, Goetz, Titz & Perry 2002; Efklides & Volet 2005; Järvenoja & Järvelä 2005). Im Kontext des DFG Schwerpunktprogramms „Lehr-Lern-Prozesse in der kaufmännischen Erstausbildung“ wurden in zunächst zwei Studien (SoLe I und SoLe II; siehe Tabelle 1) Prozessverläufe des subjektiven Erlebens in Berufsschulklassen erhoben. Weiterhin liegen Daten aus einer dritten vergleichbaren Studie vor (SoLe III; siehe Tabelle 1). In den ersten beiden SoLe-Studien wurde ein Kontrollgruppendesign realisiert. In einer vergleichbaren Kontrollklasse wurde derselbe Unterrichtsstoff in einem traditionellen, überwiegend lehrerzentrierten Unterricht vermittelt. Studie
Erhebungskontext
Details
SoLe I (Gießen)
2. Ausbildungsjahr Industriekaufmann/-frau Themenfeld „Materialwirtschaft“ derselbe Lehrer in beiden Klassen
Experimentalklasse n=21 (12w, 9m) Kontrollklasse n=14 (6w, 8m) Befragung alle 5 Minuten 13 Unterrichtseinheiten / 26 Stunden 208 Messzeitpunkt 5 State-Variablen auf 4er-Skala
SoLe II (Gießen)
1. Ausbildungsjahr Bürokaufmann/-frau Lernfeld „Betriebliches Personalwesen“ unterschiedliche Lehrer in Experimental- und Kontrollklasse
SoLe III (Bamberg)
1. Ausbildungsjahr Kaufmännische Grundstufe Unterrichtsfach „Rechnungswesen“ in beiden Klassen selbstorganisationsoffener Unterricht mit unterschiedlicher fachdidaktischer Akzentuierung unterschiedliche Lehrer in den Klassen
Experimentalklasse 1 n=22 (20w, 2m) Experimentalklasse 2 n=22 (18w, 4m) 17 bzw. 18 Unterrichtseinheiten / 68 bzw. 72 Unterrichtsstunden Befragung alle 10 Minuten 296 bzw. 332 Messzeitpunkte 6 State-Variablen auf 4er-Skala
Experimentalklasse n=15 (12w, 3m) Kontrollklasse n=15 (12w, 3m) Befragung alle 5 Minuten 10 Unterrichtseinheiten / 40 Unterrichtsstunden 280 bzw. 310 Messzeitpunkte 6 State-Variablen auf 100er-Skala
Tab. 1: Kurzbeschreibung der verschiedenen SoLe-Studien
Für alle Studien liegen zusätzlich Video- und Audioaufzeichnungen vor. Ebenso wurden jeweils zu Beginn lernrelevante Merkmale der Personen (z.B. Vorwissen, Motivation) erfasst. Nach dem Treatment wurden die Lernenden zu ihrem motivationalen Erleben während der Unterrichtseinheit und zur wahrgenommenen Ausprägung motivationsbeeinflussender Faktoren im Unterrichtssetting befragt. Zu-
Heterogene Erlebensprozesse im kaufmännischen Unterricht
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dem wurde der Lernerfolg in Form eines Vorher-Nachher-Vergleichs erfasst (deklaratives Wissen, Problemlösefähigkeit; für eine detaillierte Beschreibung siehe Seifried 2004; Sembill 2004; Sembill, Wolf, Wuttke & Schumacher 2002; Sembill, Wuttke, Wolf, Schumacher & Santjer-Schnabel 2001; Wuttke 1998; Sembill, Wolf, Wuttke, Santjer & Schumacher 1998). Zur Erhebung der Erlebensdaten wurde eine Software (Datagotchi; Wolf 1996) für ein Mobiles Datenerfassungsgerät (MDE, Apple Newton) entwickelt. Alle 5 bzw. 10 Minuten (SoLe III) wurden in den Kontroll- und Experimentalklassen sechs bzw. fünf (SoLe I) Erlebensvariablen erhoben, deren Ausprägung von den Lernenden mit einem Stift auf einer Skala von 0 % bis 100 % bewertet werden konnten (siehe Tabelle 2). In der SoLe I Studie wurde eine vierstufige Antwortskala verwendet. Die Probanden mussten sechs Einschätzungen zu ihrem aktuellen kognitiven, emotionalen und motivationalen Erleben sowie zur Wahrnehmung der bestehenden Situation abgeben. Bei der Bestimmung der zu erfassenden Situationsmerkmale wurde sich im Wesentlichen auf die Selbstbestimmungstheorie der Motivation gestützt (Deci & Ryan 1993; Krapp 2003; Prenzel et al. 1996). So wurde der Herausforderungsgrad der aktuellen Lernsituation, die Mitgestaltungsmöglichkeiten sowie das Ausmaß sozialer Eingebundenheit erhoben. Kognitiv
Motivational
Emotional
External
Finde Anforderung hoch
Kann mitgestalten
Fühle mich ernst genommen
Internal
Verstehe, worum es geht
Bin interessiert
Fühle mich wohl
Tab. 2: Items zum emotionalen, motivationalen und kognitiven Erleben1
6. FRAGESTELLUNG UND AUSWERTUNGSSTRATEGIE Folgenden Fragestellungen wird in diesem Beitrag nachgegangen: – Wie unterschiedlich ist das subjektive Erleben der Individuen innerhalb eines Lernsettings (siehe Abschnitt 7.1)? – Ergeben sich systematische Unterschiede zwischen eher traditionellen und selbstorganisationsoffenen Unterrichtsformen (siehe Abschnitt 7.1)? – Lassen sich Zusammenhänge zwischen individuellen Lernvoraussetzungen und Persönlichkeitsmerkmalen in der Eingangserhebung und dem Verlauf der Zeitreihen zu den Erlebensdaten zeigen (Einfluss von Produktdaten auf Prozessdaten) (siehe Abschnitt 7.2)?
1
Das Item „Finde Anforderung hoch“ wurde erst ab der SoLe II Studie eingesetzt. Das Item „Fühle mich wohl“ hieß in der SoLe I Studie noch „Fühle mich gut“, was von den Lernenden häufig auch auf das körperliche Wohlbefinden bezogen wurde (Müdigkeit, Erschöpfung).
180 –
Karsten D. Wolf & Lutz Schumacher
Können Veränderungen von Lernerfolgsvariablen zwischen Eingangserhebung und Ausgangserhebung auf Basis der Prozessdaten prognostiziert werden (Einfluss von Prozessdaten auf Produktdaten) (siehe Abschnitt 7.2)?
Präzise Hypothesen zu Zusammenhängen zwischen bestimmten Produktdaten und entsprechenden Prozessitems können nicht formuliert werden, da diese zum jetzigen Stand noch nicht ableitbar sind. Daher wird ein exploratives Vorgehen gewählt. Für die Analyse wurden einfache, weitgehend unabhängige Parameter zur Beschreibung der Prozessdaten gebildet, welche sich inhaltlich leicht interpretieren lassen. Durch diese sehr einfachen Modellierungen der Zeitreihen gehen viele Informationen über den tatsächlichen Verlauf der Zeitreihen verloren. Der Vorteil eines solchen Vorgehens liegt darin, dass wenige Parameter benötigt werden und diese die Verläufe inhaltlich verständlich beschreiben. Eine weitergehende Modellierung wird im Rahmen einer Re-Analyse der Daten an der Universität Bremen durchgeführt. Es wurden folgende Parameter gebildet: (1) Mittelwert der individuellen Zeitreihen (0 bis 100); (2) Standardabweichung der individuellen Zeitreihen. Da in der ersten SoLe-Studie eine vierstufige Skala eingesetzt wurde, sind diese Daten auf eine 100er-Skala wie in den SoLe-Studien II und III transformiert worden (0, 33, 67, 100). 19 Teilnehmer wurden aus der Analyse ausgeschlossen, da sie entweder zu viele fehlende Werte aufwiesen (Missing Data Quote > 0,66) oder offenbar nicht motiviert waren, verwertbare Angaben zu machen (durchgängiges Ankreuzen derselben Antwortkategorie, Standardabweichung < 10), so dass insgesamt 90 Personen in der Auswertung berücksichtigt wurden. Konstrukt
Test/Fragebogen
Abkürzung
Autor/en
Intelligenz
Verbaler KurzIntelligenztest
VKI
Anger, Mertesdorf, Wegner & Wülfing
Allgemeines Vorwissen
Vorwissen Allgemeine Wirtschaft
VAW
Beck & Krumm
Fachliches Vorwissen
jeweils spezifischer lernzielorientierter Test
FVW
Allgemeine Problemlösekompetenz
Analytischer Idealtypus gewichtet
AITG
Sembill
Allgemeines Fachinteresse
Interesse an wirtschaftlichen Fragestellungen
IWF
Wild & Winteler
Selbstwirksamkeit
Selbstwirksamkeit
SWK
Strittmatter et al.
Leistungsmotivation
Hoffnung auf Erfolg / Furcht vor Misserfolg
HEFM
Heckhausen / adapt. Schmalt; Fendt et al.
Tab. 3: Eingesetzte Instrumente (siehe auch Sembill 2004 sowie Seifried 2004)
Heterogene Erlebensprozesse im kaufmännischen Unterricht
181
7. ERGEBNISSE Die nachfolgend berichteten Ergebnisse dienen dazu, den mit der Analyse von Prozessdaten zum Unterrichtserleben verbundenen Erkenntnisgewinn zu verdeutlichen. Hierzu werden einige Analysen exemplarisch vorgestellt. Eine umfassende Beantwortung der aufgeworfenen inhaltlichen Fragestellungen kann in diesem Beitrag nicht geleistet werden. Zunächst werden Ergebnisse berichtet, die interindividuelle Unterschiede im Unterrichtserleben verdeutlichen. 7.1. Unterschiedliches subjektives Erleben der Individuen innerhalb und zwischen den Lernsettings Nachfolgend wird für die sechs Items zum Unterrichtserleben angegeben, wie stark die Mittelwerte (linke Abbildung) und die Standardabweichungen der individuellen Zeitreihen (rechte Abbildung) variieren. Mittelwerte der Zeitreihen
Standardabweichungen der Zeitreihen
Legende: Anf = Anforderungen sind hoch, Verst = Verstehe, worum es geht, Mitg = Kann mitgestalten, Int = Bin interessiert, Ernst = Fühle mich ernst genommen, Wohl = Fühle mich wohl Abb. 1: Box-Plots der sechs Erlebensdaten über alle Studien
Die Abbildung zeigt beispielsweise, dass sich erhebliche interindividuelle Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern in der durchschnittlichen Bewertung des Anforderungsniveaus des Unterrichts ergeben. Hingegen variieren die Standardabweichungen der individuellen Zeitreihen zum wahrgenommenen Anforderungsniveau vergleichsweise wenig. Eine höhere interindividuelle Variation der Standardabweichungen der Zeitreihen zeigt sich für das Item „Verstehe, worum es geht“. Für dieses Item finden sich gleichzeitig relativ hoch ausgeprägte Zeitreihenmittelwerte. Ingesamt lassen sich bedeutsame interindividuelle Diffe-
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Karsten D. Wolf & Lutz Schumacher
renzen sowohl für die Mittelwerte als auch die Standardabweichungen der Zeitreihen erkennen. Varianzanalysen mit den Faktoren Treatment (Experimental- vs. Kontrollklasse) und Geschlecht zeigen, dass sich für den Zeitreihenmittelwert für das Item „Finde Anforderungen hoch“ als abhängiger Variable sowohl ein Treatment- als auch ein Geschlechtseffekt findet (F-Wert = 5.72, p = .02 bzw. F-Wert = 7.76, p < .01): Die Schülerinnen und Schüler der Experimentalklassen (selbstorganisationsoffener Unterricht) nehmen im Mittel ein höheres Anforderungsniveau wahr. Gleichzeitig erleben die Männer höhere Anforderungen im Vergleich zu den Frauen. Ein weiterer Treatmenteffekt zeigt sich für die Mittelwerte der individuellen Zeitreihe zum Mitgestalten-Können (F-Wert = 12.48, p < .01): Die Schülerinnen und Schülerinnen im selbstorganisationsoffenen Unterricht erleben deutlich größere Mitgestaltungsmöglichkeiten. Für Varianzanalysen mit den Standardabweichungen der individuellen Zeitreihen als abhängigen Variablen finden sich zwei Treatment-Effekte: Die Zeitreihen zum Wohlbefinden und zum Anforderungsniveau weisen bei den Schülerinnen und Schülern im selbstorganisationsoffenen Unterricht höhere Schwankungen auf als dies im traditionellen, stärker lehrerzentrierten Unterricht der Fall ist (FWert = 7.88, p < .01 bzw. F-Wert = 4.80, p = .03). Geschlechtseffekte treten hier nicht auf. Zusammengenommen lässt sich sagen, dass das Anforderungsniveau im selbstorganisationsoffenen Unterricht im Mittel als höher erlebt wird, aber auch größeren Schwankungen unterliegt. Dies hängt wahrscheinlich mit den größeren Selbststeuerungsmöglichkeiten zusammen. Die stärkere Variabilität im Wohlbefinden, welche nicht mit einem insgesamt niedrigeren Niveau einhergeht, deutet darauf hin, dass der selbstorganisationsoffene Unterricht zu stärkeren negativ und positiv gefärbten Emotionen führt. 7.2. Zusammenhänge zwischen Personenmerkmalen, individuellem Unterrichtserleben sowie Motivationsentwicklung Nachfolgend wird berichtet, inwieweit lernrelevante Merkmale der Person zu Beginn der Unterrichtseinheit deren Unterrichtserleben determinieren und inwieweit durch das Unterrichtserleben die Motivationsentwicklung vorhersagt werden kann. 7.2.1. Zusammenhänge zwischen Personenmerkmalen und Unterrichtserleben Um zu prüfen, inwieweit das Unterrichtserleben der Schülerinnen und Schüler von Merkmalen der Personen, die zu Beginn der Studie erhoben wurden, beeinflusst wird, werden Regressionsanalysen gerechnet. Als Prädiktoren dienen verschiedene Personenmerkmale: Problemlösefähigkeit, Intelligenz, Selbstwirksamkeitserwartung, Leistungsmotivation (Hoffnung auf Erfolg vs. Furcht vor Misser-
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Heterogene Erlebensprozesse im kaufmännischen Unterricht
folg), Interesse an wirtschaftlichen Fragestellungen, allgemeines wirtschaftliches Vorwissen und fachspezifisches Vorwissen (siehe Tabelle 3). Vorhergesagt werden die Mittelwerte und Standardabweichungen der Zeitreihen zum Unterrichtserleben. Die Regressionsanalysen werden für die Gesamtgruppe und getrennt für die Experimental- und Kontrollgruppe (selbstorganisationsoffener Unterricht vs. Traditioneller Unterricht) berechnet (siehe Tabelle 4). Gesamtgruppe (n = 90) Prädiktoren Kriterien
FVW
AITG
VKI
VAW
SWK
MW Anforderung ist hoch
HEFM
IWF
-.54
R2 .24
p