Europas südliche Ränder: Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer 9783839449677

Europe's South in the postcolonial knowledge regime. Critical observations and alternative perspectives.

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German Pages 290 Year 2020

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Table of contents :
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Inhalt
Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-VerliererStatt einer Einleitung
Europas Süden: Diskurse, Geschichte, (Erinnerungs-) Politik
Hybride Rassen – Kontaktzonen – Multiple GrenzenDer Diskurs über die »Mittelmeerrasse«
Erinnerungspolitik und DeutungshoheitZur Auseinandersetzung mit der Vertreibung und Ermordung der osmanischen Griechen
Sakraler Ritus ›meets‹ FremdherrschaftserinnerungDie Mariä Himmelfahrt-Feierlichkeiten auf der Ägäisinsel Tínos als Mnemotop zwischen orthodoxer Marienverehrung, Revolutionskriegen und Weltkriegserinnerung im Lichte der cultural turns
Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union als Konsequenz einer »Flüchtigen Moderne«?Anspruch und Wirklichkeit ihrer (Mit-)Gestaltungsmöglichkeiten
Does Diversity Trump Specialisation?Die Perspektive des wissenschaftstheoretischen Pragmatismus auf eine Interdisziplinäre Analyse politischer Legitimität*
Repräsentation von Asymmetrien in Literatur und Kunst
Repräsentationen des InsularenMittelmeerinseln als Orte der Vernetzung, Verbannung, Selbstfindung
Goldgrund/TiefenraumPolitiken der Perzeption in Richard Mosse’ Incoming
Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha Narrative Versionen der neugriechischen Identität und die Entdeckung der osmanischen Vergangenheit Griechenlands als Kulturerbe
»Der Blick des Wissenschaftlers«Konstruktionen des Fremden im Reisebericht Reise in den Orient (1840) von Karl Eduard Zachariä von Lingenthal
Gegen Herrschaft: Algerischer Rap von Piratage zu Autonomie
Autorinnen und Autoren
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Europas südliche Ränder: Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer
 9783839449677

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Monika Albrecht (Hg.) Europas südliche Ränder

Edition Kulturwissenschaft  | Band 215

Monika Albrecht (apl. Prof. Dr.) lehrt Kulturwissenschaften an der Universität Vechta. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kritischer Postkolonialismus und Vergleichende Postkoloniale Studien (westlicher, sowjetischer und osmanischer Imperialismus), Memory Studies und die Politik der Erinnerung.

Monika Albrecht (Hg.)

Europas südliche Ränder Interdisziplinäre Perspektiven auf Asymmetrien, Hierarchien und Postkolonialismus-Verlierer

Gefördert vom DAAD aus Mitteln des Auswärtigen Amts (AA)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Julian Zimmermann, Regensburg Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4967-3 PDF-ISBN 978-3-8394-4967-7 https://doi.org/10.14361/9783839449677 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer Statt einer Einleitung Monika Albrecht, Universität Vechta ����������������������������������������������������������������������������������������� 7

Europas Süden: Diskurse, Geschichte, (Erinnerungs-)Politik Hybride Rassen – Kontaktzonen – Multiple Grenzen Der Diskurs über die »Mittelmeerrasse« Sevasti Trubeta, Hochschule Magdeburg-Stendal � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 57

Erinnerungspolitik und Deutungshoheit Zur Auseinandersetzung mit der Vertreibung und Ermordung der osmanischen Griechen Monika Albrecht, Universität Vechta � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 79

Sakraler Ritus ›meets‹ Fremdherrschaftserinnerung Die Mariä Himmelfahrt-Feierlichkeiten auf der Ägäisinsel Tínos als Mnemotop zwischen orthodoxer Marienverehrung, Revolutionskriegen und Weltkriegserinnerung im Lichte der cultural turns Julian Zimmermann, Universität Regensburg  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 101

Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union als Konsequenz einer »Flüchtigen Moderne«? Anspruch und Wirklichkeit ihrer (Mit-)Gestaltungsmöglichkeiten Martin Schwarz, Universität Vechta  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 127

Does Diversity Trump Specialisation? Die Perspektive des wissenschaftstheoretischen Pragmatismus auf eine Interdisziplinäre Analyse politischer Legitimität Dannica Fleuß, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 147

Repräsentation von Asymmetrien in Literatur und Kunst Repräsentationen des Insularen Mittelmeerinseln als Orte der Vernetzung, Verbannung, Selbstfindung Sergio Corrado, Universität Neapel »L’Orientale« � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 179

Goldgrund/Tiefenraum Politiken der Perzeption in Richard Mosse’ Incoming Ulrich Meurer, Universität Wien  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 199

Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha Narrative Versionen der neugriechischen Identität und die Entdeckung der osmanischen Vergangenheit Griechenlands als Kulturerbe Anastasía Antonopoúlou, Nationale und Kapodistrias Universität Athen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 223

»Der Blick des Wissenschaftlers« Konstruktionen des Fremden im Reisebericht Reise in den Orient (1840) von Karl Eduard Zachariä von Lingenthal Aglaia Blioumi, Nationale und Kapodistrias Universität Athen  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 247

Gegen Herrschaft: Algerischer Rap von Piratage zu Autonomie El Houma, Algier  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 263

Autorinnen und Autoren  � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � � 285

Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer Statt einer Einleitung Monika Albrecht, Universität Vechta * »Unser Orient umfasst die europäischen Länder des Mittelmeers.«1 Dieses Statement aus der Einleitung der ersten Ausgabe der Zeitschrift Revue de l’Orient. Bulletin de la Société Orientale (1843) führt der Romanist und Komparatist Roberto Dainotto in seiner Studie Europe (in Theory) als einen von vielen Belegen für seine These an, dass Theorieansätze wie die Subaltern Studies und die Postcolonial Studies zwar zum Verhältnis Europas zu ›seinen anderen‹ vieles zu sagen haben, tatsächlich jedoch die komplexe europäische Realität on the ground mit ihren Machthierarchien zwischen dem Westen und Norden gegenüber dem Süden und Osten kaum in den Blick bekommen. Denn diese Ansätze marginalisieren oder blenden meist aus, was nicht in ihr Weltbild passt – in ihrem »üblichen Vertrauen« darauf, dass sie etwa wissen, »was europäische Theorie« sei (Dainotto 2017, 41). Daher sind Postcolonial Studies, Subaltern Studies und ähnliche Denkrichtungen entgegen verbreiteter Annahmen und Erwartungen zur Diskussion von Hierarchien und Asymmetrien im europäischen Süden und Mittelmeerraum nicht notwendig die erste Wahl und spielen daher in dem vorliegenden Band auch im Wesentlichen keine Rolle – außer in dieser Einleitung. Denn diese Theorieansätze können auch nicht einfach ignoriert werden. Sie sind insofern ernst zu nehmen, als sie seit den 1980er Jahren eine Art Wissensregime etabliert haben, das sich als Kritik an westlichen Denkweisen und Errungenschaften inszeniert, gleichzeitig aber andere Diskurse und vor allem andere Arten von Fragestellungen verdrängt. Dieses kommt längst auch ohne das Etikett »postkolonial« zur Wirkung und wird auf dieselbe Weise konstruiert und konsolidiert wie das kritisierte westliche, nämlich durch Normalisierung unref lektierter normativer Vorgaben in der ständigen wiederholenden und zitierenden Praxis.

* Ich danke Sergio Corrado, Torsten Erdbrügger, Jonas Nesselhauf, Jánnis G.S. Papadópoulos und Christoph Schaub für Lektüre und konstruktive Kritik. 1 Abel Hugo, Vizepräsident der Société Orientale, zitiert nach Dainotto 2017, 47.

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Aus postkolonialer Sicht werden beispielweise Länder des europäischen Südens wie Portugal, Spanien oder Italien in erster Linie als ehemalige Kolonialmächte wahrgenommen. Das trifft natürlich auch zu, und zweifellos war und ist es weiterhin wichtig, diese Kolonialvergangenheiten kritisch zu beleuchten. Problematisch wird dies jedoch immer da, wo alles andere diesem unidirektionalen Denkraster unterworfen wird und interne Hierarchien und Verwerfungen deshalb aus dem Blick geraten – also etwa lokale und in ständigem Wandel begriffene Konfigurationen und Machtverhältnisse, wie sie Sergio Corrado in seinem Beitrag im vorliegenden Band untersucht. Roberto Dainotto hat solche internen Asymmetrien in der Frage kondensiert, wie der europäische »Süden zugleich Europa und Nicht-Europa werden« konnte (Dainotto 2017, 39). Die Subaltern Studies Group (mit Gayatri Spivak als ihrer prominentesten Vertreterin) hat den Begriff »Subalterne« von dem italienischen Neomarxisten Antonio Gramsci entliehen; dass er dieses Konzept in den 1920er Jahren mit Blick auf untergeordnete soziale Gruppen in Europas Süden entwickelt hat,2 wurde in den Subaltern und Postcolonial Studies jedoch im Zuge der fast ausschließlichen Fokussierung auf Hierarchien zwischen ›dem Westen‹ und ›dem Rest‹ (statt innerhalb von Gruppen oder Nationen) ausgeblendet (vgl. dazu Albrecht 2012, 97-99). Dafür ist im Kontext des postkolonialen Paradigmas eine bis heute nachwirkende umgekehrte Teilung der Welt in einen abgewerteten »Westen« und einen aufgewerteten »Rest« kon­struiert worden. Diese wiederholt die Teilung der Kolonialzeit mit umgekehrten Vorzeichen, und zwar auch da, wo postkoloniale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler versuchten, eben diese Unterteilung in die »kolonisierenden Täter und kolonisierten Opfer« aufzulockern – etwa durch Einbezug von »›Hybridity‹ (Homi Bhabha) oder vermittelnde ›contact zones‹ (Mary Louise Pratt)« (Osterhammel 2015, 79; vgl. dazu Albrecht 2019c, 3). Zu den bekanntesten Denkfiguren, mit denen Vertreter dieser Richtungen die konstitutiven Merkmale ›des‹ Westens zu beschreiben versuchen, gehört der sogenannte Orientalismus. Bekanntlich wollte Edward Said bereits 1978 in seiner gleichnamigen Studie zeigen, »dass die europäische Kultur erstarkte und zu sich fand, indem sie sich vom Orient als einer Art Behelfs- oder sogar Schattenidentität abgrenzte« (Said 2014, 12).3 Inzwischen gehen auch außerhalb der Postcolonial und Subaltern Studies viele, wenn nicht die meisten von einem »als selbstver2 Zusammenfassend in dem Aufsatz »An den Rändern der Geschichte (Geschichte der subalternen gesellschaftlichen Gruppen)« (Gramsci 1999). In der unvermeidlichen Verkürzung einer Fußnote: Subalternität meint bei Gramcsi unterdrückte Klassen, konkret die Bauern des italienischen Sü­ dens, und diese sind zuallererst ökonomisch definiert. Spivak hingegen spricht unspezifisch von kolonisierten Subalternen und von dem Raum der Subalternen, »der in einem kolonisierten Land von den Mobilitätslinien abgeschnitten ist« (Spivak 2008, 121). 3 Im Original: Said »tries to show that European culture gained strength and identity by setting itself off against the Orient as a sort of surrogate and even underground self« (Said 1978, 3).

Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer

ständlich angenommenen figuralen Gegensatz« aus, nämlich von der Annahme, dass »Europa, um seine eigene Identität zu imaginieren und zu theoretisieren«, die Unterscheidung »zwischen westlich und orientalisch, europäisch und arabisch oder zwischen wir und sie« benötigt (Dainotto 2017, 43f.). Dass dieses Theorem im Gegenzug Europa ebenso essentialisiert wie Said und seine Anhänger es ›dem‹ Westen im Hinblick auf ›den‹ Orient vorwerfen,4 haben schon viele Kritiker betont (vgl. z.B. Todorova 2009, 9). Wichtiger ist vielleicht, dass die postkoloniale Theoriebildung mit der zentralen Denkfigur, Europa habe sich über seine außereuropäischen anderen zuallererst konstituiert, im Grunde nur »auf ein allgemeines Grundprinzip kultureller Identitätskonstitution gestoßen« ist, das sie dann irrtümlich für »ein Spezifikum des Westens« hielt (Polaschegg 2005, 41, 38; vgl. auch Albrecht 2019c, 28). Denn dieses Grundprinzip ist weder auf ein einziges ›anderes‹ als Projektionsf läche beschränkt, noch funktioniert es nur in einer einzigen – der von Vertretern postkolonialer Theorien behaupteten – Richtung. Hätte sich Said in der Studie Orientalismus auch mit seinem Pendant, nämlich dem Okzidentalismus,5 auseinandergesetzt, wären seine zentralen Argumentationslinien in sich zusammengefallen. Derzeit wird diese Schwachstelle im Grundgerüst postkolonialen Denkens allerdings noch kaum gesehen, geschweige denn in ihren Konsequenzen für die vom Postkolonialismus beeinf lussten Geisteswissenschaften weitergedacht (vgl. dazu Albrecht 2019d). Warum solche Theoreme wie der Orientalismus, die bestenfalls Halbwahrheiten bereitstellen, überhaupt erst so weitgehenden Konsens in den Geisteswissenschaften erlangen konnten, ist allenfalls im Kontext der gesamten Erfolgsgeschichte der postkolonialen Studien erklärbar. Diese wiederum muss, wie Jan Assmann schon in seiner Rezension von Martin Bernals Black Athena bemerkte, vor dem Hintergrund »eines um sich greifenden Wandels im wissenschaftlichen Selbstverständnis« gesehen werden (Assmann 1992, 927). Der Erfolg der postkolonialen Studien besteht unter anderem auch darin, dass ihre Denkweise selbst da wirksam ist, wo das Label »Postkolonialismus« nicht eigens eingeführt wird. 4 Einige Jahre nach dem Erscheinen von Orientalism unterstrich Edward Said in einem Artikel im Times Literary Supplement noch einmal, der Orientalismus »as a system of thought […] approaches a heterogeneous, dynamic and complex human reality«, also den Orient, »from an uncritically es­ sentialist standpoint; this suggests both an enduring Oriental reality and an opposing but no less enduring Western essence, which observes the Orient from afar and, so to speak, from a­bove« (Said 1995, 3). 5 »Pendant« weist natürlich darauf hin, dass hier der Okzidentalismus im Sinne von Ian Buruma und Avishai Margalit gemeint ist (2004), nicht in dem von Fernando Coronil (2002), der damit realiter ein dem Orientalismus zum Verwechseln ähnliches Phänomen konstruiert, dadurch den Begriff Okzidentalismus okkupiert und mit gegenteiliger Bedeutung zu überschreiben sucht – und damit die Tatsache verschleiert hat, dass auf der anderen Seite dieselben Mechanismen mit Blick auf ›den‹ Westen greifen (vgl. dazu Albrecht 2012, 75-86).

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In diesem Sinne hat der Historiker Arif Dirlik schon vor zehn Jahren darauf hingewiesen, dass der Einf luss der postkolonialen Studien weit über das Feld als solches hinausgeht und »postcolonial criticism has infiltrated discourses that have origins quite independent of postcolonialism« (Dirlik 1999, 149).6 Zudem sind Grundgedanken der postkolonialen Theorien inzwischen auch in Teilen des öffentlichen Diskurses weitgehend akzeptiert, oder, mit den Worten eines anderen bekannten Akteurs im postkolonialen Feld, Robert J.C. Young, der anlässlich der Neuauf lage 2016 seines Klassikers Postcolonialism. An Historical Introduction von 2001 sogar schrieb, die »concepts and values of postcolonial thought have become established as one of the dominant ways in which Western and to some extent non-Western societies see and represent themselves« (Young 2016, ix). Mit der gebotenen Vorsicht – nicht zuletzt deshalb, weil bei Young auch eine gute Portion wishful thinking am Werk zu sein scheint – könnte man von der postkolonialen Denkweise etwa seit Beginn des 21. Jahrhunderts sagen: »reaching into almost every domain of contemporary thought, it has become part of the consciousness of our era« (R. Young 2012, 22). Dass dies alles andere als ein Grund zur Freude sein sollte, wird sofort einsichtig, wenn man bedenkt – um ein konkretes Beispiel im Anschluss an die Einführung oben zu nennen –, »dass der kanonische Status« von »rhetorischen Paradigmas« wie beispielsweise dem Orientalismus »uns daran zu hindern scheint, die Frage nach Europas Selbsterfindung auf irgendeine andere denkbare Art zu stellen« (Dainotto 2017, 44). Tatsächlich ist der postkoloniale Diskurs ein Paradebeispiel für die Funktionsweise des Diskurses nach Michel Foucault: »the discourse makes it possible to construct the topic in a certain way. It also limits the other ways in which the topic can be constructed« (Hall 1992, 201; Herv. M.A.). Gegen inzwischen eingefahrene postkoloniale Denkweisen über Europa und seine Stellung in der Welt setzt beispielsweise die eingangs erwähnte Studie Europe (in Theory) eine kritische Genealogie des vom Postkolonialismus Verschütteten7 und fördert Positionen zutage, wie sie etwa in dem Eingangszitat des vorliegenden Aufsatzes über den ›anderen Orient‹ zum Ausdruck kommen. Auch der Essay von Sevastí Trubéta über die »Mittelmeerrasse« im 19. Jahrhundert im vorliegen6 Einige Jahre später bestätigte auch die Zeitschrift New Literary History: »the power of the postcol­ onial perspective has spread across almost all the disciplines in the humanities and social sci­ ences, from classics to development theory to law to medieval studies to theology« (R. Young 2012, 22). 7 Verstreute Bemerkungen lassen auf ein zunehmendes Unbehagen an diesem Phänomen schlie­ ßen; vgl. etwa Thomas Kirsch für seine Disziplinen der Ethnologie und Kulturanthropologie: »In der jüngeren ethnologischen Fachgeschichte scheint ein gewisses Manko […] darin zu bestehen, dass in der intellektuellen Begeisterung für Differenz, Alterität und Fremdverstehen viele jener Fragestellungen zurückgestellt wurden, die Ähnlichkeitsverhältnisse betreffen« (Kirsch 2015, 278).

Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer

den Band kann als Teil einer solchen kritischen Genealogie bezeichnet werden, insofern er deutlich macht, dass bei der Konstruktion von ›Rassen‹-Hierarchien nicht von einem simplen schwarz-weiß-Muster europäisch vs. nicht-europäisch auszugehen ist. Die Genealogie ließe sich auch zeitlich weiterführen: Ein Essay des Schriftstellers Max Frisch aus den 1950er Jahren über seine Spanienreise beispielsweise zeigt, dass Fragen der europäischen Identität auch in dieser Zeit noch anhand der Unterschiede innerhalb Europas diskutiert wurden. In dem Abschnitt über die Rückreise schreibt Frisch in diesem Essay: »Wir fahren nach Europa zurück« (Frisch 1976, 179). Einige Jahre später hat Heinrich Böll – ebenfalls noch unbeeinf lusst von postkolonialen Europa-Diskursen – an einem anderen Rand Europas offenbar eine vergleichbare Erfahrung gemacht: »Als ich an Bord des Dampfers ging«, heißt es in seinem Irischen Tagebuch von 1957, »sah ich, hörte ich, roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte; […] hier auf dem Dampfer war England zu Ende […], hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an« (Böll 1957, 7). Bevor sich im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts Theorieansätze wie die postkolonialen mit ihren dichotomischen Vorstellungen von »Orient und Okzident«8 darüber schoben, war vielen noch ganz geläufig, dass solche Grenzen und Brüche innerhalb Europas wohl mindestens ebenso viel mit der Herausbildung von Europas Identität zu tun haben als die außereuropäische Welt. Auch wenn Postcolonial Studies, Subaltern Studies und ähnliche Ansätze in den Beiträgen des vorliegenden Bandes keine Rolle spielen, bringt der kritische Blick auf Hierarchien und Asymmetrien naturgemäß mit sich, dass Widerstand gegen Dominanzverhältnisse ihr zentrales Anliegen ist – der dann in konkreten Untersuchungen zum Beispiel auch thematisiert werden kann als Widerstand gegen »eine ›post‹-koloniale Allianz zwischen europäischer Dominanz und lokalen Eliten« durch Jugendliche, die »von den kapitalistischen Gesellschaften vernachlässigt werden« (Metschl/El Houma in diesem Band). Der Essay von Martin Schwarz wiederum zeigt, dass kein postkoloniales Vokabular nötig ist, um Machthierarchien zwischen einem von Brüssel aus im Sinne eines »Anpassungsregimes« agierenden Europa und den übrigen Mittelmeeranrainern kritisch zu beschreiben. Es sei daher hier zur Verdeutlichung betont, dass meine Kritik am Postkolonialismus sich gegen weite Teile der postkolonialen Ideologie und Theoriebildung richtet, nicht jedoch gegen das weite politische Feld des Post-Kolonialen9 – von den 8 Der Historiker Jürgen Osterhammel beschreibt dies so: »Dem Denken des frühen und mittleren Foucault wohnte ein gewisser Hang zu Dichotomien inne, der dann in ebenso simplifizierender wie rhetorisch effektvoller Weise bei Edward W. Said in der Gegenüberstellung von Orient und Okzident auftauchte« (Osterhammel 2015, 78). 9 Generell gibt es keine Einigung über die Schreibweisen »post-kolonial«/»postkolonial« und inzwi­ schen auch nicht mehr viele Reflexionen darüber. – Mit der Schreibweise »postkolonial« wird hier auf die postkolonialen Perspektiven und Denkweisen verwiesen, die in dem vorliegenden Essay kritisiert werden; »post-kolonial« dagegen schließt an die früher, vor Beginn der postkolonialen

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anti-kolonialen Befreiungskämpfen bis zu dem nach wie vor notwendigen Widerstand gegen heutige neokoloniale Ausbeutungsverhältnisse. Die postkolonialen Theorien jedoch kranken, neben den bereits genannten Schwächen, vor allem auch an dem Widerspruch zwischen ihrem Anspruch, mit den zentralen Prämissen und Schlüsselbegriffe den vergangenen und gegenwärtigen Zustand der Welt erklären zu können,10 und der Tatsache, dass eben diese auf der Grundlage eines engen Rahmens entstanden sind – nämlich dem ›des‹ Westens und seiner ehemaligen Kolonien (vgl. dazu ausführlich Albrecht 2019a, c, d, 2012). Das Jahr 1492 beispielsweise spielt im postkolonialen Kalender eine zentrale Rolle; im selben Jahrhundert wie die Eroberung der »neuen Welt« ist jedoch ein Datum anzusetzen, das zumindest damals von ebensolcher Tragweite war. Doch die Eroberung von Konstantinopel, der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches, am 29. Mai 1453 durch die osmanische Armee von Sultan Mehmed II. ist eines jener Ereignisse, die in der postkolonialen Version der Weltgeschichte ebenso wenig vorkommen wie die anschließende osmanische Herrschaft über Südosteuropa, im Nahen Osten und darüber hinaus (vgl. dagegen Jusdanis 2019; Albrecht 2019b, c, d). Hinzu kommt, dass der Beginn der postkolonialen Theoriebildung mit den ersten Jahren der Reagan-Thatcher-Ära zusammenfällt, die auch den Beginn jener Zeit markiert, in der sich weltweit und von Jahr zu Jahr zunehmend der Unterschied zwischen Arm und Reich vergrößerte. Paradoxerweise hat jedoch – wie etwa Richard Rorty, Walter Benn Michaels, Bryan Barry und viele andere kritisieren – ein großer Teil der akademischen Linken auf diese dramatische Zunahme ökonomischer Ungleichheit dahingehend reagiert, dass sie sich von ökonomischen Fragen abwandte und sich stattdessen mit der Bedeutung ›rassischer‹ und kultureller Identitäten zu beschäftigen begann (Michaels 2006; Barry 2001; Rorty 1999). Aus dieser »kulturellen Linken«11 rekrutiert sich die Mehrzahl der im Feld des Postkolonialismus Arbeitenden. Tatsächlich hat sich eine große Mehrheit davon, wie Neil Lazarus im Detail und mit vielen Beispielen nachgewiesen hat (Lazarus 2013), zwar weiterhin den Marxismus als Quelle der Theoriebildung auf die Fahne geschrieben, in der Realität aber einen harten Wechsel der Analyse- und Differenzkategorien von Klasse zu race vollzogen, von einer Kritik am Kapitalismus

Studien, gebräuchliche chronologische Bezeichnung an (»nach dem Kolonialismus«) – womit je­ doch nicht impliziert ist, dass dieser mit den Dekolonisierungsbewegungen vorbei war. 10 Die meisten postkoloniale Wissenschaftler sind sich einig in »a commitment to tell a more inclu­ sive, more truly global story« (Brennan 2013, 143), und »promise […] that the theoretical modes of postcolonial studies have the potential to chart the worldwide contemporary condition« (Parry 2012, 341). 11 Den Begriff »cultural left« verwendet Richard Rorty (1999) eigenen Aussagen zufolge (Rorty 1997) in Anlehnung an Henry Louis Gates Jr. (vgl. etwa Gates 1991).

Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer

zu einer ausschließlich am Westen12 – wobei es zum Teil zu sonderbaren Schieflagen kommt.13 Der postkoloniale Mainstream14 hat sich nach den Anfängen in der Reagan-Thatcher-Ära in jener bis heute anhaltenden Phase der Weltgeschichte entwickelt, die von der Politikwissenschaftlerin und Philosophin Nancy Fraser schon vor zwanzig Jahren als Postsocialist Condition bezeichnet wurde (Fraser 1997 und passim). Als eine von vielen Facetten des Kampfes um Anerkennung von Differenz und Anderssein (Honneth und Fraser 2003), der nach dem Ende des Kalten Krieges als neues Paradigma politischer Konf likte frühere Fragen sozio-ökonomischer Ungleichheit verdrängt hat, gehört das Feld des postkolonialen Mainstreams, das sich selbst als herrschaftskritisch versteht, in diesem Sinne zu den herrschaftsstabilisierenden. Fraser selbst spricht inzwischen davon, dass die »tonangebenden Strömungen der neuen sozialen Bewegungen (Feminismus, Antirassismus, Multikulturalismus und den Verfechtern von LGBTQ-Rechten)« »ob unbewusst oder auch nicht« den »kommerziellen, oft dienstleistungsbasierten Sektoren von hohem Symbolgehalt (Wall Street, Silicon Valley und Hollywood)« »ihr Charisma [borgen]« (Fraser 2017c, 72).15 Was auf den ersten Blick wie eine unzulässig pauschalisierende Kritik an eben diesen progressiven Kräften 12 Einige wenige im postkolonialen Feld wie Arif Dirlik, Benita Parry oder Lazarus selbst halten jedoch an der materialistischen Kritik fest und wirken inzwischen seit Jahrzehnten als notwen­ diges, wenngleich vom postkolonialen Mainstream wenig zur Kenntnis genommenes Korrektiv. 13 Um den diesbezüglichen Etikettenschwindel des Postkolonialismus deutlich zu machen, weist Lazarus darauf hin, dass »Marx develops his thought as a critique, not of ›western social and eco­ nomic practices and the values … they embodied‹ (emphasis mine [N.L.]), but of capitalism and the bourgeois practices and values it brings in its train. Marx’s massive late work is not entitled The West: A Critique of Political Economy but Capital: A Critique of Political Economy; and its opening sentence does not read: ›The wealth of Western societies appears as an ›immense collection of commodities‹,‹ but ›The wealth of societies in which the capitalist mode of production prevails appears as an ›immense collection of commodities‹« (Lazarus 2013, 336). Robert Youngs stra­ tegischen Einwand, der Marxismus sei immer schon »in some sense anti-western« gewesen und andere unhaltbare Behauptungen weist Lazarus ebenso wohlinformiert wie entschieden zurück (ebd.). 14 Dieser Begriff soll das weite Feld des Postkolonialismus keineswegs in allen Aspekten über einen Kamm scheren. Gemeint ist damit lediglich, dass die Vertreter dieses Mainstreams einen gemeinsamen Nenner haben, nämlich die Annahme, dass Kolonialismus gleichbedeutend mit dem europäischen Kolonialismus ist – gemäß der Definition, die die im postkolonialen Feld Arbeitenden selbst verwenden, nämlich als »a common political and moral consensus towards the history and legacy of western colonialism« (Young 2016, 5; Herv. M.A.). 15 Noch zwei Zitate, die Frasers Argumentation über die Allianz von progressiven Kräften und dem Aufstieg des »progressiven Neoliberalismus« deutlich machen: »Grundsätzlich für ganz unterschiedliche Zwecke nutzbare Ideale wie Vielfalt und Empowerment dienen jetzt der Ver­ klärung politischer Entwicklungen, die zur Zerstörung des produzierenden Sektors und der Le­ bensverhältnisse der Mittelschicht geführt haben, an denen die darin Beschäftigten einst teil­ haben konnten. […] Der Angriff auf die soziale Sicherheit erfolgte also hinter einer täuschenden

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aussieht,16 ist durchaus nicht in diesem Sinne zu verstehen. Im Gegenteil soll damit eine Erklärung für die Genese des »progressiven Neoliberalismus« und den politischen Aufstieg des Finanzkapitalismus angeboten werden,17 der ja, Fraser zufolge, nicht durch Gewalt erreicht wurde, sondern nicht zuletzt durch das, was Gramsci »consent« nannte. Dabei hat sie auch und gerade jenen »widespread shift in progressive thinking« im Blick (Fraser 2017b), der im Feld der Postkolonialen Studien in dem Wechsel der Analysekategorien von Klasse zu race und von einer Kritik am Kapitalismus zu einer Kritik am Westen zum Tragen kommt. Die hier nur stichwortartig zusammengefassten Defizite der postkolonialen Theoriebildung lassen sich konkreter verdeutlichen, wenn die Aufmerksamkeit auf das gelenkt wird, was im postkolonialen Denkraster gerade nicht vorkommt. Dazu sollen hier im Hinblick auf den europäischen Süden und speziell auf Griechenland Beispiele gezeigt und diskutiert werden, die vor allem das postkoloniale Modell von globalen Hierarchien und Asymmetrien kritisch hinterfragen. Als Einstieg sei ein Phänomen aus dem Umfeld der Krise in Griechenland erwähnt, in dem viele an diesem Diskurs Beteiligte einhellig zu durchaus naheliegenden, doch sehr ›un-postkolonialen‹ Metaphern griffen. So sprechen etwa Kritiker der europäischen Krisenpolitik in Bezug auf Griechenland und andere Opfer dieser Politik davon, »dass innerhalb der Europäischen Union nach dem Modell früherer kolonialer Praktiken ein Protektorat errichtet wird« (Balibar, Mezzadara und Wolf 2017, 348; Herv. im Original), und machen somit darauf aufmerksam, dass ›koloniale‹ Machthierarchien nicht nur in einer Richtung entlang der von Stuart Hall so bezeichneten Demarkationslinie »The West and the Rest« verlaufen (Hall 1992). Vor der Finanzkrise brachten die Stichworte »Griechenland« und »kolonial« oder »postkolonial« bei einer Google-Suche kaum Ergebnisse; seit der Krise hingegen führen zahlreiche Treffer zu Artikeln und Blogs, in denen den stärkeren europäischen Ländern neokoloniale Praktiken vorgeworfen werden, von Griechenland als deutscher Schuldenkolonie die Rede ist oder Griechenland im eben zitierten Fassade, die das von den neuen sozialen Bewegungen geborgte Charisma schaffen half« (Fraser 2017c, 72f.). 16 Frasers Artikel ist ursprünglich der Zeitschrift Dissent erschienen (Fraser 2017a); in ihrer Re­ plik im selben Organ hat Johanna Brenner mit Blick auf den Feminismus darauf hingewiesen, dass Fraser offenbar nur einen »meritocratic corporate feminism focused on ›leaning in‹ and ›cracking the glass ceiling‹« meint, der tatsächlich im progressiven Neoliberalismus einen »per­ fect mate« hat. Brenner insistierte dagegen, dass es »continuing struggle by other feminists« gebe, etwa »in trade unions« oder »grassroots civil rights projects« (Brenner 2017). Ich zitiere im Text weiter aus Frasers Richtigstellung. 17 Frasers neuer Ansatz wurde bereits zu einem wichtigen Baustein für die Studie Die Gesellschaft des Zorns der Soziologin Cornelia Koppetsch, die ebenfalls unterstreicht, dass »die tonangeben­ den progressiven Kräfte […] faktisch im Bündnis mit den wissensintensiven Ökonomien [ste­ hen]« (Koppetsch 2019, 14).

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Sinne als Protektorat bezeichnet wird (also mit jenem beschönigenden Begriff, der etwa zur Zeit des deutschen Kolonialismus auch Schutzgebiet lautete).18 Interessanterweise werden dabei meist die Begriff lichkeit und die Denkweise der Neokolonialismus-Kritik aus den 1960er und 1970er Jahren, also der Zeit vor der postkolonialen Theoriebildung wiederbelebt – die ja tatsächlich den Vorteil haben, dass sie die sozio-ökonomischen Hierarchien der post-kolonialen Welt wirksamer zur Geltung bringen als der ideologisch aufgeladene Begriff Postkolonialismus. Wie solche neokolonialen Hierarchien zustande kommen und insbesondere welche Effekte die von den Finanzmärkten hervorgebrachten Machthierarchien in der globalisierten Welt erzeugen, hat Rainer Voss unter anderem auch mit Bezug auf die Länder des europäischen Südens erläutert. In dem Dokumentarfilm Der Banker – Master of the Universe von 2013 urteilte er mit dem Insiderwissen eines früheren Investmentbankers in leitender Position, dass das »ein Geschäftsmodell gewesen [sei] mit den Griechen-Anleihen. Es gab gezielte Auf käufe in diesen Anleihen«, bei denen Firmen des Finanzmarktes äußerst lukrative Geschäfte machten (Voss 2013).19 Während die Politik in den stärkeren europäischen Ländern sich einer Art hergebrachter Protektorats- oder Kolonialpraktiken bediente, um 18 Als eine weitere von vielen Stimmen, die im Umfeld der griechischen Krise Metaphern ver­ wendeten, die auf eine Identifizierung innereuropäischer Kolonialstrukturen abzielten, sei der Artikel von Slavoj Žižek in der Monatsschrift In These Times genannt. Im Sommer 2015, als es so aussah, als sollte Griechenland auf Betreiben Deutschlands aus der europäischen Währungs­ gemeinschaft heraus gedrängt werden, verwendete auch Žižek in seiner Kritik daran solche ›umgekehrt-koloniale‹ Terminologien: »At a deeper level, however, one cannot avoid a suspicion that the true goal is not to give Greece a chance but to change it into an economically colonized semi-state kept in permanent poverty and dependency, as a warning to others« (Žižek 2015). 19 Vgl. Voss 2013: Es ging »ja darum, dass auf keinen Fall, auf keinen Fall ein Bankrott von Griechen­ land eintreten durfte […]. Und jetzt gibt’s halt bei den griechischen Anleihen zwei verschiedene Systeme, es gibt einmal Anleihen nach internationalem, nach englischem Recht, und es gibt An­ leihen nach griechischem Recht. Der Unterschied ist der, dass bei diesem griechischen Recht kann der Staat letzten Endes, ja, bestimmen, ihr kriegt nicht mehr für 10.000 Euro 10.000 Euro wieder, sondern nur noch 4.000, […] und nach englischem Recht ist es so, dass es eine Gläubiger­ versammlung geben muss, und die beschließt darüber, ob dieser Vergleich angenommen wird oder nicht. […] Das ist ein Geschäftsmodell gewesen mit den Griechen-Anleihen. Es gab geziel­ te Aufkäufe in diesen Anleihen nach internationalem Recht. Da musst Du halt gucken […], da kannst Du halt über ’ne Datenbank raussuchen, welche sind nach englischem Recht und welche sind nach griechischem Recht, griechischen Recht schmeißt Du weg, so, […] und dann gehst Du her und guckst und sagst, wie viel Geld hab’ ich und wie stehen die, ja? Du brauchst ja, wenn Du jetzt überlegst, wenn die Dinger bei, sagen wir mal, bei 30 % stehen, ja? statt 100, und Du willst von 100 Millionen 75 Millionen kaufen lassen, […] Du brauchst ja 75 % der Stimmrechte, ja? dann hast Du nur noch von 30 Millionen 75 %, das heißt Du kaufst für 28 Millionen Deine Stimmrech­ te für eine 100 Millionen-Anleihe. Das ist dann letzten Endes auch Dein Gewinn. Du zahlst 28 Millionen und zwingst den Staat, 100 Millionen auszuzahlen. Das lohnt schon mal, ja? So macht man das, das war ein ganz normales Geschäftsmodell, das hat nicht nur eine Firma gemacht.«

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bei dem Versuch, das Schlimmste zu verhindern, die Schwächeren unter Druck zu setzen, lassen sich die Aktivitäten des globalen Finanzkapitalismus mit den Denkfiguren eines Welterklärungsmodells20 wie dem Postkolonialismus kaum mehr beschreiben. So entgeht seiner zentralen Prämisse von dem »fortgesetzten Einf luss kolonialer Strukturen auf eine formal ›dekolonisierte‹ Gegenwart« (Mackenthun 1996, 375) aufgrund ihrer Orientierung an der Achse »The West and the Rest«, dass es nicht allein Volkswirtschaften ehemals kolonisierter Länder sind, die beispielsweise dem Spiel mit Warentermingeschäften und anderen Spekulationen hilf los ausgeliefert sind.21 Und auch das »gigantische Gewinnpotential« etwa beim Handel mit Staatsanleihen verlockt offenbar überall auf der Welt dazu, nach Profitquellen zu suchen – wobei es keine Rolle spielt, ob ein Land darunter ist, dessen Antike vor nicht allzu langer Zeit noch als Wiege der abendländischen Zivilisation galt. »Da sind solche Geldsummen unterwegs, mit denen man wirklich inzwischen auch Länder angreifen kann«, so Voss in dem genannten Dokumentarfilm. »Man fängt halt mit dem kleinsten Land an, Griechenland, und da sieht man dann halt, wie die Einheit EU reagiert, […] und dann nimmt man sich das nächstgrößere Land, in dem Fall Portugal« (Voss 2013). Die konkreten Auswirkungen solcher »Geschäftsmodelle« in den Ländern des europäischen Südens beschreibt er als »ein langsames Zerbröseln der gesamten gesellschaftlichen Infrastruktur« (ebd.). Die auf Kategorien wie race fixierten und an people of color interessierten postkolonialen Studien sind jedoch ignorant gegenüber den innereuropäischen Machtasymmetrien und den gegenwärtig prekären Konditionen des europäischen Südens – die sie jedoch, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auf unterschiedliche Weise stützen.

Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer (1): Neugriechische Literatur Als eins von vielen Symptomen postkolonialer Denkweisen kann gelten, dass Griechenland auf der (ohnehin sehr lückenhaften) postkolonialen Weltkarte gar nicht vorkommt (vgl. dazu Albrecht 2019a, 2019c) – obgleich es als der erste un20 Vgl. Fußnote 10. 21 Zumindest sieht die Organisation Foodwatch in ihrem Report Die Hungermacher einen Zusam­ menhang zwischen »Nahrungsmittelspekulationen an den Rohstoffbörsen« und steigenden Lebensmittelpreisen, die wiederum das Ansteigen des weltweiten Hungers und der Armut verursachen (Foodwatch-Report 2011). Und auch wenn die Forschung in dieser Hinsicht »gespal­ ten« ist, wie es in einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit im Januar 2014 hieß, haben doch »selbst Hedgefonds-Manager […] bei einer Anhörung vor dem US-Senat schon bestätigt, dass die Kurse an den virtuellen Terminmärkten natürlich eine Rolle spielen, wenn es ums reale Ge­ schäft geht« (Lütge 2014).

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abhängige Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches (Philliou 2008, 670; vgl. auch Osterhammel 2009, 587; Jusdanis 1997, 172) zurecht als postimperialer Staat und damit als Anwärter auf die Bezeichnung »post-kolonial« gelten kann. Und nicht nur das. Zwar kommen viele Faktoren zusammen, die als Ursache für Griechenlands marginalen Status in Weltpolitik und Weltkultur anzuführen wären (vgl. dazu auch meinen Beitrag »Erinnerungspolitik und Deutungshoheit« in diesem Band), doch kann Griechenland in gewisser Hinsicht auch als Postkolonialismus-Verlierer bezeichnet werden. Hier ist allerdings gleich vorwegzuschicken, dass diesem Aspekt nicht zu viel aus der Gesamtheit der zahlreichen Gründe und komplexen Ursachen aufgebürdet werden soll, die zur gegenwärtigen Situation Griechenlands geführt haben. Innereuropäische Machthierarchien – im Sinne von Dainottos Denkfigur »zugleich Europa und Nicht-Europa« (Dainotto 2017, 39) – gab es lange vor dem Auf kommen des Postkolonialismus, und europäische Machtpolitiker lassen sich wahrscheinlich nicht von postkolonialer Theoriebildung leiten. Sergio Corrado hat mich zudem anhand des Parallelfalls Italien darauf aufmerksam gemacht, dass vieles von dem, was Griechenland marginalisiert und was ich im Folgenden im Kontext des Postkolonialismus diskutiere, auch im Zusammenhang mit anderen Faktoren gesehen werden muss. Mit Bedacht wurde eben auch daran erinnert, dass und inwiefern Griechenland in den letzten Jahren zu einem Spielball des globalen Finanzkapitalismus geworden ist. Um hier noch weitere »Geschäftsmodelle« des internationalen Wirtschaftsimperialismus zu nennen – diesmal für ein Land, das auf Einnahmen aus dem Tourismus angewiesen ist – ließe sich die Betreibung von »14 der insgesamt 37 griechischen Regionalf lughäfen« durch »das deutsche Unternehmen Fraport« seit 2017 anführen (Wimalasena 2017), oder auch, dass die China Ocean Shipping Company (Cosco) Mehrheitsaktionär der früher vom griechischen Staat kontrollierten Hafengesellschaft Piraeus Port Authority (PPA) ist. Im Jahr 2021 wollen die Chinesen weitere 16 Prozent der Anteile übernehmen, wogegen sich die bis Anfang Juli 2019 regierende linke SYRIZA-Partei unter Ministerpräsident Aléxis Tsípras gewehrt hatte (Höhler 2018). Die konservative Néa Demokratía unter dem neuen Ministerpräsidenten Kyriákos Mitsotákis dagegen hat wieder Privatisierung als geplante Maßnahmen seiner neuen Regierung angekündigt. Bei solchen systemischen Zwängen und neokolonialen Eingriffen handelt es sich zweifellos um ganz andere Dimensionen, neben denen die Effekte von postkolonialen Denkweisen auf das Image eines Landes vergleichsweise marginal erscheinen. Jedoch sind diese auch nicht zu unterschätzen, und nur dies – nicht mehr, aber auch nicht weniger – soll im Folgenden diskutiert werden. Ohne den Terminus Postkolonialismus-Verlierer zu verwenden, weist der Neogräzist Gregory Jusdanis schon seit über zwanzig Jahren immer wieder auf eben dieses Phänomen hin. Sein Augenmerk gilt dabei naturgemäß vor allem dem Stellenwert seines Faches Modern Greek Studies in den Geisteswissenschaften, je-

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doch auch genereller dem von Griechenland in der Gegenwartskultur, wobei er schon 1997 diagnostizieren musste, dass das Interesse im internationalen Kontext im besten Fall marginal war. Damit war und ist Griechenland sicherlich nicht allein, denn nicht viel anders ergeht es anderen kleinen Ländern wie Dänemark, Portugal oder Belgien. Doch weist Griechenland zwei Besonderheiten auf, die es von anderen Ländern an der Peripherie des wissenschaftlichen, politischen und kulturellen Interesses unterscheidet – und beide sind von postkolonialen und multikulturalistischen Strömungen beeinträchtigt worden: Griechenlands relative Exotik als Land im südöstlichen Europa und seine klassische Vergangenheit, die für Jahrhunderte zentral für das europäische Denken war (Jusdanis 1997, 167). Tatsächlich ist kaum zu übersehen, dass beides bei weitem nicht mehr so gefragt ist wie noch vor einigen Jahrzehnten. Seit wann das so ist, wäre einer genaueren Untersuchung wert. Zumindest in Deutschland – diese kurze Spekulation sei erlaubt – könnte die allmähliche Wende zeitlich ungefähr im Umfeld von Christa Wolfs Reise durch Griechenland im März und April 1980 anzusiedeln sein, die im Sommersemester 1982 ihren Niederschlag in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen und dann in dem 1983 erschienenen Roman Kassandra fand. Besonders in Christa Wolfs Beschäftigung mit der klassischen und vorklassischen griechischen Antike scheint die Faszination oft noch ungebrochen da zu sein, und sie fügte sich reibungslos in das feministische Interesse der Zeit an Spuren vor-patriarchalischer Vergangenheiten, die unter anderem auch in Griechenland gesucht wurden. Ihre Kritik an den Griechen (und der Führungselite in Troja) scheint hingegen schon am Übergang zu einer Denkweise zu stehen, bei der die in der Tradition der Auf klärung stehende Zivilisationskritik einer radikalen Kritik an ›dem‹ Westen Platz machte. Denn bei Wolf wird Griechenland im Zuge der Patriarchatskritik auch gegen das kleinasiatische Troja und die Reste seiner matriarchalischen Vergangenheit ausgespielt und die Kriegslogik der Griechen jener Kultur zugeschlagen, aus der unsere Zivilisation hervorgegangen sei. Als Bewohnerin eines weiter nördlich gelegenen Breitgrades – und vielleicht auch der damaligen DDR – geriet die Autorin jedoch wiederum auch in den Bann Griechenlands, in das es seit den 1960er Jahren europäische Aussteiger zog, spätestens nach dem Ende der Militärdiktatur (Juli 1974) dann auch Scharen von Rucksacktouristen, denen bald schon der normale Tourismus folgte. Wenn Christa Wolf immer wieder das magische Licht beschwört, das »Licht der Stunde, eh die Sonne untergeht« (Wolf 1983a, 151), das »Zauberlicht«, erstmals erlebt am Hafen von Piräus am Abend vor der Überfahrt nach Kreta, das sie »von da an keinen Abend mehr versäumte« (Wolf 1983b, 43), dann arbeitet sie nicht zuletzt daran, diese Faszination Griechenlands sprachlich zu fassen. Wie konnte dieses »Zauberlicht« verblassen? Was ist seitdem geschehen? Wie kam es zu dem Schwinden des (nicht nur exotistischen) Interesses an Griechen-

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land?22 Wenn man sich vor Augen führt, dass der Aufstieg der postkolonialen Studien nach dem Gründungstext Orientalism von 1978 in unterschiedlichen Regionen unterschiedlich schnell verlief, lässt sich bereits eine vorsichtige zeitliche Verbindungslinie ziehen. Um zu verdeutlichen, dass etwas geschehen ist, zieht Gregory Jusdanis ebenfalls literarische Beispiele heran, und erinnert vor allem an den Roman Alexis Sorbas von Níkos Kazantzákis (1946),23 der mit der berühmten Konstellation eines Intellektuellen und eines leidenschaftlichen Lebenskünstlers in den 1950er Jahren nicht zuletzt außerhalb von Griechenland großen Erfolg hatte – noch übertroffen 1964 von der Verfilmung des Romans unter der Regie von Michael Cacoyannis mit Anthony Quinn in der Titelrolle.24 Derzeit ist tatsächlich kaum mehr vorstellbar, dass ein Werk der neugriechischen Literatur noch einmal auf diese Weise auf dem internationalen Buchmarkt präsent sein könnte. Trotz einer Reihe von neueren Übersetzungen, die beispielsweise 2001 anlässlich der Frankfurter Buchmesse erschienen, als Griechenland dort Gastland war, ist »die griechische Literatur«, wie Niki Eideneier vor einigen Jahren schrieb, »in Deutschland eine schöne Unbekannte geblieben« (Eideneier 2014). Eine Beobachtung am Rande ist in diesem Kontext, dass die großen Epen und Themen der griechischen Antike als solche offenbar weiterhin als aktuell empfunden werden – allerdings tendenziell ebenfalls bevorzugt in postkolonialer Aktualisierung, wie etwa im Fall des 1990 erschienenen Versepos Omeros des westindischen Autors Derek Walcott (Jusdanis 1997, 168). Mit diesem Hinweis plädiert Jusdanis natürlich nicht dafür, die Logik der cultural appropriation-Debatten nunmehr bei griechischen Kulturprodukten anzuwenden. Selbstverständlich stehen Werke wie die Homerischen Epen aller Welt zur Verfügung und werden ganz selbstverständlich auch von Künstlern aus aller Welt bearbeitet – ob durch den irischen Schriftsteller James Joyce in den 18 Episoden seines Ulysses oder durch den chinesischen Gegenwartskünstler Ai Weiwei als Wandtapete mit dem Titel Odyssey. Und natürlich muss auch im Fall der Bearbeitung des homerischen Stof22 Sergio Corrado wies mich in diesem Kontext darauf hin, dass auch Italien (beispielsweise die Toskana) nicht mehr die dieselbe Anziehungskraft zu haben scheint wie noch vor wenigen Jahr­ zehnten, was er, wie auch zum Teil im Fall von Griechenland und sicherlich zu Recht, mit dem Verschwinden des klassischen Bildungsbürgertums in Verbindung bringt. 23 Νίκος Καζαντζάκης: Βίος και πολιτεία του Αλέξη Ζορμπά. Αθήνα: εκδ. Δημητράκου 1946. Erste eng­ lische Übersetzung: Zorba the Greek. Übersetzt von Carl Wildman. Einführung von Ian Scott-Kil­ vert. New York: Simon & Schuster (Ballantine Books) 1952; erste deutsche Übersetzung: Alexis Zorbas: Abenteuer auf Kreta. Übersetzt von Alexander Steinmetz und Isidora Rosenthal-Kamari­ nea. Braunschweig: Otto Erich Kleine 1952. 24 Interessanterweise hat der Film aus den beiden griechischen Charakteren eine Nord-Südkon­ stellation gemacht: »In the film, the novel’s Greek narrator is transformd into a half-Greek, half-British intellectual who internalizes and internationalizes the clash of civilizations portray­ ed in the novel’s depiction of Boss and Zorba« (Calotychos 2003, 272).

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fes durch Derek Walcott gelten, was im Erscheinungsjahr 1990 in der New York Times zu lesen war: »Mr. Walcott’s epic is a significant and timely reminder that the past is not the property of those who first created it; it always matters to all of us, no matter who we are or where we were born« (Lef kowitz 1990). Doch lässt sich mit diesem Beispiel immerhin ein interessantes Denkexperiment anstellen, das der Debatte um cultural appropriation mit einer ›unangebrachten‹ Übertragung den Spiegel vorhält. Diese Debatte geht etwa auf die 1980er Jahre zurück, wird aber aus gegebenem Anlass immer wieder neu belebt, wie beispielsweise die weltweiten Proteste anlässlich des Auftritts der US-amerikanischen Schriftstellerin Lionel Shriver beim Brisbane Writers Festival von 2016 gezeigt haben, die in ihrer Keynote-Rede die Hoffnung ausgesprochen hatte, die Idee der »cultural appropriation« möge sich als Modeerscheinung erweisen (Shriver 2016).25 Der Philosoph James O. Young hat, bevor er sich des Themas 2009 in der Studie The Ethics of Cultural Appropriation annahm, bereits in der ersten Hochphase der Debatte die Hauptargumente der Gegner und Befürworter in seinem Essay »Should white men play the blues?« systematisch zusammengefasst (Young 1994). Neben den beiden um den Vorwurf der »misrepresentation of other cultures« und des »theft of cultural property« kreisenden Argumentationslinien führt er auch das Argument wirtschaftlicher Benachteiligung durch »appropriation of audiences« an, also der Einschränkung der Möglichkeiten von Minderheiten durch ohnehin erfolgreichere Mehrheiten angesichts von begrenzten Rezipientenzahlen (ebd., 416f.). Wenn man mit Jusdanis davon ausgeht – und darauf läuft seine Argumentation zu –, dass die Diskurse des Postkolonialismus, des Multikulturalismus und der Globalisierung Schriftsteller wie Arundhati Roy, Salman Rushdie oder Zadie Smith ins Rampenlicht stellen26 und Vertreterinnen und Vertreter von Literaturen in kleineren Sprachen wie der neugriechischen im Gegenzug an den Rand drängen (Jusdanis 1997, 169), ließe sich das Argument »appropriation of audiences« aus dem Kontext der cultural appropriation-Debatten hier durchaus anwenden – heuristisch und im Sinne eines Denkanstoßes, wie bereits betont, und nicht etwa in dem, dass unangebrachte Argumente und Forderungen aus diesem Kontext wiederbelebt und in neuer Verkleidung sanktioniert werden sollen. Die als Denkanstoß gemeinte These, dass die neugriechische Literatur und Kultur in gewisser Hinsicht ein Postkolonialismus-Verlierer ist, kann also Mecha25 Für den deutschsprachigen Raum vgl. zusammenfassend etwa Joffe 2017. 26 Wobei die hier genannten und einige andere auf Englisch und für den westlichen Markt schrei­ ben, und viele post-koloniale Schriftstellerinnen und Schriftsteller ebenfalls kaum eine Chance haben, außerhalb von Postcolonial Studies-Studiengängen und der entsprechenden Forschung wahrgenommen zu werden. Das mindert die generelle Tragfähigkeit von Jusdanis’ Argument jedoch nicht.

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nismen und Effekte der postkolonialen und verwandten Diskurse offenlegen, vor allem diejenigen, die mit Verschiebung von Wertschätzung bis hin zur Umwertung zu tun haben. Jusdanis hat dies am Beispiel des Romans Die Verlobte des Achilles (Η αρραβωνιαστικιά του Αχιλλέα, 1987) von ʼAlki Séi illustriert. Wäre dieser nämlich, statt von einer Griechin, von einer postkolonialen Autorin geschrieben worden, hätte er, so ist zu vermuten, sehr wahrscheinlich international großes Interesse geweckt. Denn tatsächlich weist dieser auch auf Englisch erschienene Roman alle Zutaten für ein Erfolgsbuch auf: er kreiste um aktuelle Themen wie weibliche Subjektivität, Exil, Widerstand und die Zerstörung von Idealen, und er stellt auf zwei Ebenen die Zeit der deutschen Besatzung Griechenlands (1941-1944) und die der Militärjunta (1967-1974) gegenüber. In Griechenland erhielt er auch die entsprechende Aufmerksamkeit und erzielte hohe Verkaufszahlen, in der englischen und deutschen Übersetzung schaffte er es hingegen nur in kleine, der Pf lege der griechischen Literatur verpf lichtete Verlage (Jusdanis 1997, 169f.).27 Noch aufschlussreicher in diesem Sinne ist meines Erachtens ein anderes Beispiel der neugriechischen Literatur, das Anastasía Antonopoúlou im vorliegenden Band eingehend untersucht: Denn wenn man das heutige Griechenland, wie oben vorgeschlagen, als postimperialen Staat gelten lässt und zumindest für Teile Griechenlands wie etwa die Insel Kreta28 die Bezeichnung »post-kolonial« in Erwägung zieht, dann hat Griechenland nicht nur mit Níkos Kazantzákis einen postkolonialen Autor (Albrecht 2019a), sondern mit einer der bedeutendsten Schriftstellerinnen der griechischen Gegenwartsliteratur, Rhéa Galanáki, auch eine postkoloniale Autorin. Wie Kazantzákis ist auch Galanáki in Iraklion auf Kreta geboren, wenngleich ihr Kreta nicht mehr das osmanisch besetzte von Níkos Kazantzákis war. Wie Kazantzákis hat sie jedoch die Geschichte der osmanischen Besatzung in ihrem literarischen Werk thematisiert, nämlich in ihrem Roman Das Leben des Ismail Ferik Pascha.29 Dieser erzählt die Geschichte einer historischen Figur, eben jenes Ismail Ferik Pascha (ca. 1809-1867), der als Kind bei der Eroberung der Lasi­ thi-Hochebene durch osmanische Streitkräfte gefangen genommen, nach Ägypten verschleppt und als Osmane erzogen wurde. Mit dieser Figur werden nicht nur geläufige postkoloniale Topoi wie etwa Hybridität oder verinnerlichtes An-

27 Άλκη Ζέη: Η αρραβωνιαστικιά του Αχιλλέα. Κέδρος 1987; Deutsch: Die Verlobte des Achilles. Köln: Ro­ miosini 1991; Englisch: Achilles’ fiancée. Athen: Kedros 1992. 28 Die Historikerin Pinar Şenişik diskutiert in ihrer Studie The Transformation of Ottoman Crete: Revolts, Politics and Identity in the Late Nineteenth Century allein für das 19. Jahrhundert sechs große Aufstände (1827, 1841, 1866, 1889, 1896, 1897) gegen die osmanische Herrschaft (Şenişik 2011, 7382, 101-196 und passim). 29 Ρέα Γαλανάκη: Ο βίος του Ισμαήλ Φερίκ Πασά. Μυθιστόρημα. Αθήνα: εκδ. Καστανιώτη 1989; deutsch: Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001.

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ders-Sein durchgespielt (Aleksić 2009, 50 und passim),30 diese Konstellation eines Kolonisierten, der als Erwachsener und inzwischen zum Islam konvertiert auf osmanischer Seite selbst zum Eroberer wird, lässt den Roman eigentlich für den Kanon postkolonialer Literatur prädestiniert erscheinen. Hinzu kommt, dass der Roman Das Leben des Ismail Ferik Pascha auf einer zweiten Ebene auch die – in der Entstehungszeit des Romans noch deutlicher als heute wirksame – Unterdrückung der osmanischen Vergangenheit in der griechischen Gegenwartskultur thematisiert: »in the ›Epilogue,‹ that serves as a link between the narrative and the present, the epitaph on Emmanuel/Ismail’s tomb becomes emblematic as much of his interiorized otherness, as of the systematic suppression of the memory of the Greek Ottoman past in modern Greek history« (Aleksić 2009, 31).31 Galanákis Roman, der in deutscher Übersetzung immerhin im renommierten Suhrkamp-Verlag erschienen ist, wird in keiner Anthologie und in keiner Untersuchung des postkolonialen Mainstreams erwähnt – ebenso wenig wie in Jahrzehnten postkolonialer Literaturwissenschaft dort die Idee auf kam, Romane von Níkos Kazantzákis wie Freiheit oder Tod32 oder Griechische Passion33 aus postkolonialer Perspektive zu untersuchen. Dabei hat Kazantzákis viel zur Beantwortung post-kolonialer Fragen beizutragen. Der nigerianische Schriftsteller Chinua Achebe ist beispielsweise dafür bekannt, dass er in seinem Roman

30 Das Konzept der »Hybridität« ist, zusammen mit dem des »dritten Raums«, sicher der bekann­ teste Beitrag des Literaturwissenschaftlers und postkolonialen Theoretikers Homi Bhabha (nicht nur) zum postkolonialen Diskurs (vgl. Bhabha 1994a). Verinnerlichtes Anders-Sein dis­ kutiert beispielsweise der Soziologe Stuart Hall als Folge der Erfahrung des Kolonialismus, als Kolonisierte den Wissenskategorien des Westens ausgesetzt waren: Diese »hatten die Macht, uns dazu zu bringen, daß wir uns selbst als ›Andere‹ wahrnahmen und erfuhren« (Hall 1994, 30; Herv. im Original). 31 Wie der hier zitierte Essay von Tatjana Aleksić zeigt, gibt es durchaus Untersuchungen, die mit postkolonialem Vokabular arbeiten und den Gedanken mitreflektieren, dass Galanákis Roman als postkolonialer eingestuft werden könnte: »Recently, some scholars have voiced the need for a new interpretation of the Greek Ottoman period as colonial past and the overall beneficial effect that such an approach would produce if certain parallels between the postcolonial and post-Ottoman conditions were considered with the close scrutiny they deserve [reference to Vangelis Calotychos’ study of 2003, Modern Greece: A Cultural Poetics]« (Aleksić 2009, 50). Solche Hinweise werden jedoch von den Postkolonialen Studien nicht wahrgenommen, und nicht nur, weil sie, wie in diesem Fall, in (aus postkolonialer Sicht abgelegenen) Organen wie dem Journal of Modern Greek Studies erscheinen. 32 Νίκος Καζαντζάκης: Ὁ Καπετὰν Μιχάλης (Ἐλευτερία ἢ Θάνατος). Αθήνα: έκδ. Δημητράκου 1946; deutsch: Nikos Kazantzakis: Freiheit oder Tod. Berlin: Herbig 1954. 33 Νίκος Καζαντζάκης: Ο Χριστός ξανασταυρώνεται. Αθήνα: Δίφρος 1948; deutsch: Nikos Kazantzakis: Griechische Passion. Berlin: Herbig 1951.

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Things Fall Apart34 die Frage thematisiert, warum ein so dichtes soziales Gefüge wie das seiner Ibo-Gesellschaft in der kolonialen Begegnung auseinanderfallen konnte. Dabei konzentriert er sich über weite Strecken auf die Darstellung der Sozialstrukturen und zeigt bereits vorhandene Sollbruchstellen, die fatale Einfallstellen für die erst am Ende des Romans in Erscheinung tretende koloniale Gewalt schaffen. Der griechische Schriftsteller Níkos Kazantzákis wiederum beschreibt in seinem Roman Freiheit oder Tod die gleichen Machthierarchien wie Achebe – intrakulturelle und koloniale –, doch sind die Gesellschaften bei ihm auf beiden Seiten der kolonialen Grenze ganz ähnlich strukturiert. Dies führt dazu, dass das zerstörerische Potential der Sollbruchstellen in dem von ihm dargestellten kretischen Sozialgefüge nicht zum Tragen kommt, so dass dieses Gefüge auch nicht auseinanderbricht. In der Gegenüberstellung der Romane von Achebe und Kazantzákis wird nicht zuletzt deutlich, dass Kolonialismus nicht auf westliche Herrschaft über nichtwestliche Menschen reduziert werden kann. Bei Kazantzákis geht die Machtasymmetrie von nichtwestlicher (hier: osmanischer) Herrschaft über westliche Menschen (hier: Kreter) aus, doch es sind dieselben Mechanismen am Werk und die Grundsituation ist dieselbe (Albrecht 2019a, 462-467). Oder, mit den Worten des Historikers Selim Deringil: »The hybrid unique nature of Ottoman colonialism may very well be a useful mirror to hold up to Western colonialism as a way of deepening our understanding of what is at the bottom of it all: power and the enforcement of rule over people who don’t want you there in the first place« (Deringil 2003, 316f.). Dass Níkos Kazantzákis (1883-1957) mit Denkfiguren operierte, die zur gleichen Zeit auch von den Intellektuellen im Widerstand gegen westliche Kolonialherrschaft zu Papier gebracht wurden, zeigt im Übrigen eine Passage in seiner Autobiographie Rechenschaf t vor El Greco (1961, posthum), in der er über die Genese seiner Freiheitsliebe ref lektiert und dabei auf das klassische Denkmuster des Decolonizing the Mind35 rekurriert – also die Einsicht, dass es nach der Befreiung von realer Kolonialherrschaft auch und vor allem darum geht, das Denken zu dekolonisieren: »daß man sich von dem Türken befreie, das war die erste Stufe. Später begann der weitere Kampf, sich von dem Türken im eigenen Inneren zu befreien« (Kazantzákis 1983, 61). Solche Fundstücke können bereits deutlich machen, was einer post-kolonialen Literaturwissenschaft entgeht, wenn das Arbeitsfeld eingeschränkt wird auf »that branch of contemporary theory that investigates, and develops propositions about, the cultural and political impact of European conquest

34 Chinua Achebe: Things Fall Apart. London: William Heinemann 1958; deutsch: Chinua Achebe; Alles zerfällt. Frankfurt a.M.: S. Fischer 2012. 35 So lautet bekanntlich der Titel von Ngugi wa Thiong’os Essaysammlung aus dem Jahr 1986 (Decolonising the Mind: The Politics of Language in African Literature).

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upon colonized societies, and the nature of those societies’ responses« (Ashcroft 2012, xv; Herv. M.A.). Wenn Níkos Kazantzákis, Rhéa Galanáki und andere griechische Schriftsteller im Kontext einer postkolonialen Literaturwissenschaft nicht zur Kenntnis genommen werden, dann liegt das einerseits, wie oben erwähnt, daran, dass das Osmanische Reich, das seit 1453 sein Herrschaftsgebiet für Jahrhunderte über den griechischen Sprachraum ausgedehnt hatte, aus postkolonialer Sicht bis heute nicht als solches anerkannt oder wahrgenommen wird. Andererseits sind hier jedoch auch noch andere Gründe zu bedenken, auf die im Folgenden noch einzugehen sein wird. Was die Abwesenheit des Osmanischen Reichs im Kontext des postkolonialen Paradigmas angeht, ist auch diese auf Edward Said zurückzuführen, der in seiner Studie Orientalism den Grundstein für die Normalisierung und Naturalisierung der Idee vom »Orient« als dem Opfer westlicher Imperien gelegt hat. Damit einhergehend wurde für das Osmanische Reich und andere Imperien des Nahen Ostens und ihre Nachfolgestaaten eine Art Schutzraum geschaffen, der sie von postkolonialer Kritik ausnimmt (vgl. hierzu Albrecht 2019a). Im postkolonialen Denkhorizont ist das Osmanische Reich der klassische Raum des Orientalismus, in dem die Opfer westlicher Verfehlungen diskursiver und anderer Art leben, und nicht etwa, wie es viele Historikerinnen und Historiker inzwischen sehen, eines von vielen Imperien der Weltgeschichte – das sich auch beim Einsatz von machterhaltenden Maßnahmen nicht von anderen unterschied: »the Ottoman state was unexceptional in its use of violence for asserting and preserving the empire« (Sharkey 2017, 65; Herv. im Original). Der griechische Unabhängigkeitskrieg zeugt als solcher schon davon, wobei das Massaker von Chios im April 1822 mit ca. 100.000 Opfern auf griechischer Seite eine der bekanntesten Maßnahmen der Osmanen bei dem Versuch war, die Griechen im Imperium zu halten (Gallant 2015, 83f.). Im Werk von Edward Said hingegen, darauf weist auch Deringil hin, »the Ottoman Empire is dismissed as a sort of epiphenomenal« (Deringil 2003, 313). Saids Studie Orientalism selbst war jedoch kein Epiphänomen, sondern – das sei hier noch einmal hervorgehoben – ist nicht zuletzt eine der Ursachen dafür, dass beispielsweise die neugriechische postkoloniale Literatur heute als eine Art Verlierer des Postkolonialismus gelten kann.

Griechenland »post-imperial« Denkbar wäre vor dem Hintergrund des bisher Gesagten allerdings auch eine andere Konstellation – eine, in der griechische Schriftstellerinnen und Schriftsteller gemeinsam mit der Literaturkritik und der Literaturwissenschaft daran arbeiten, die griechische Literaturproduktion sozusagen unter postkolonialem Vorzeichen international anschlussfähig zu machen. Es gibt jedoch meines Wis-

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sens bisher wenig Anzeichen dafür, dass die griechische Seite – was im Sinne eines Empowerment ja denkbar wäre – in diesem Sinne selbstbewusst daran gehen würde, die postkoloniale Bühne zu erobern. Dafür ist etwas anderes zu beobachten, das zeigt, wie komplex das diskursive Feld ist, auf dem in Griechenland in den letzten Jahrzehnten die symbolische Bedeutung der osmanischen Zeit verhandelt wurde. Vor diesem Hintergrund würde es bei vielen gerade nicht als postkoloniales Empowerment gelten, einschlägige Texte der neugriechischen Literatur als (post-osmanisch) postkoloniale zu reklamieren, sondern als Rückfall in eine traditionelle Geschichtsschreibung, die heute vielfach unter Druck geraten ist. Um die komplexe Situation in Griechenland zu verstehen, ist es wichtig, einander widersprechende Diskurse zu sehen und auch den Einf luss neuer Ansätze in Geschichtsschreibung und neugriechischer Literatur auf die nach wie vor hegemonialen traditionellen Diskurse nicht zu überschätzen (Willert 2019a, 33 und passim). Zu letzteren gehört die oben im Kontext der Diskussion von Rhéa Galanákis Roman bereits angesprochene Wahrnehmung der osmanischen Zeit als »dunkle« Vergangenheit, die in der griechischen Gegenwartskultur und -politik nach wie vor viele Unterstützer hat. Wie auch Julian Zimmermann im vorliegenden Band betont, sind die Jahrhunderte osmanischer Herrschaft in der Erinnerung der griechischen Bevölkerung bis heute sehr präsent, und bis heute lernen griechische Schulkinder »about the yoke of Turkish rule, which stands for 400 years of slavery and aggression« (Calotychos 2013, 124). Auf diese Weise stehen die Antike und Byzanz im Zentrum der griechischen Erinnerungskultur und Außendarstellung, während die osmanischen Zeit – auch davon zeugt Zimmermanns Artikel – eher für die Volkskultur von Interesse ist, die auch bevorzugt den Widerstand gegen die Fremdherrschaft betont. Interpretiert werden kann dies – und das gilt nicht nur für Griechenland, sondern auch für andere ehemals osmanische Staaten Europas – als »the attempt to disassociate themselves from what they regarded as an era characterized by Oriental backwardness and oppressive foreign rule« (Ginio und Kaser 2013, 3). Wenn die Komparatistin und Slawistin Tatjana Aleksić es noch vor zehn Jahren als dringende Aufgabe für die griechische Geschichtsschreibung ansah, ihre Herangehensweise an die osmanische Zeit zu ändern und sie nicht mehr nur als »the ›dark age‹ in the national histories of the region« wahrzunehmen, dann lässt sich dies als Symptom für die nach wie vor starke Präsenz der traditionellen Geschichtsschreibung betrachten. Die osmanische Zeit gilt dort als eine Art (wenngleich jahrhundertelanger) Unterbrechung in einer als normal betrachteten historischen Kontinuität und kulturellen Entwicklung, die von der Antike nach Byzanz übergeht und dann in die Zeit der Griechischen Revolution (1821-1829/30) und danach springt. Auf diese Weise ist die osmanische Ära von vielen als eine Art lange andauernde Leerstelle behandelt worden, die nicht die gleiche Aufmerksamkeit verdient wie andere historische Perioden (Aleksić 2009, 50). Tatsächlich

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ist es jedoch seit den 1990er Jahren, nicht zuletzt im Kontext der Balkankriege, zunehmend schwierig geworden, das Osmanische Reich zu ignorieren (Willert 2019a, 10). Parallel dazu wurde auch in der Geschichtsschreibung generell an der Dekonstruktion der Ideologien des Nationalismus gearbeitet, und spätestens seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts stehen Imperien im Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit (Mikhail und Philliou 2012, 721). Hinzu kommt, wie Vangelis Kechriotis in einem Essay mit dem Titel »Postcolonial criticism encounters late Ottoman studies« zusammenfasste, dass einige wenige Historikerinnen und Historiker etwa seit der Jahrtausendwende bereits damit begonnen haben, sich mit postkolonialer Kritik auseinanderzusetzen (Kechriotis 2013, 41),36 wovon nicht zuletzt Anleihen wie »the Ottoman civilizing mission« (Herzog und Motika 2000, 151), »the Ottoman man’s burden« (Makdisi 2002a, 782), oder »Ottoman orientalism« zeugen (Makdisi 2002a, Makdisi 2002b). Diese Ansätze werden zwar vom postkolonialen Mainstream nicht beachtet, doch wird auch durch die Arbeit dieser Forscher der Stellenwert der osmanischen Zeit in der griechischen Geschichte derzeit neu verhandelt. Und auch kulturwissenschaftlich interessierte Historiker wie Jánnis G.S. Papadópoulos haben in jüngerer Zeit den Blick auf diese Zeit gelenkt und beispielsweise Repräsentationen der osmanischen Geschichte in Produkten der gegenwärtigen Populärkultur in Griechenland untersucht (Papadopoulos 2019a, 2019b, 2013). Ob Griechenland jedoch als post-osmanisch auf der ›postkolonialen Bühne‹ erscheinen wird, muss derzeit offenbleiben. Erhellend ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf den bis zu einem gewissen Grade vergleichbaren Kontext im Baltikum, wo der Postkolonialismus zumindest im akademischen Diskurs inzwischen angekommen ist. Zum einen hat die in Griechenland und in anderen ehemals osmanischen Ländern Europas bis heute populäre Auffassung von einer orientalischen Rückständigkeit ein Pendant in den Baltischen Ländern und Osteuropa zur Zeit des Sowjetischen Imperiums. Denn dort bezeichneten viele einerseits die sowjetischen Besatzer als »barbaric« und bedienten damit das Stereotyp der »Russian cultural inferiority« (Uffelmann 2013, 112), andererseits rechneten sie sich selbst Europa und europäischen Traditionen zu. Vor diesem Hintergrund wurde auch schon darauf hingewiesen, dass etwa im Baltikum lange ein gewisser Unwille zu beobachten war, die post-sowjetischen Gesellschaften als post-koloniale zu betrachten (Kalnačs 2016, 3). Violeta Kelertas war eine der ersten, die eine Art psychologischen Mechanismus diagnostizierte, der einer Identifizierung mit Problemen entgegenwirkte, die aus der Sicht vieler Balten nur die ehemaligen Kolonien der ›Dritten Welt‹ betrafen: »Preferring to think of themselves as 36 Darunter Makdisi 2002a, 2002b, Deringil 2003, Calotychos 2003, 2013, Kühn 2007, Mikhail und Philliou 2012, Türesay 2013, Kechriotis 2013, 2015, und sicher noch andere, die meiner Aufmerk­ samkeit bislang entgangen sind.

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superior to other colonized peoples […], the Balts find being lumped together with the rest of colonialized humanity unf lattering, if not humiliating and want to be with the ›civilized‹ part of the world« (Kelertas 2006, 4). In diesem Sinne zeugen auch zahlreiche Quellen aus dem osmanischen Kontext davon, dass sich griechische Händler, Intellektuelle und Schriftsteller den Osmanen kulturell überlegen fühlten (Jusdanis 2011, 110f.), wobei die zentrale Rolle der osmanischen Griechen in der Wirtschaft des Reiches ebenfalls stark ins Gewicht fallen dürfte. Wenn die Menschen in Griechenland heute also ebenso wie die im Baltikum tendenziell keine Parallelen zwischen ihrer und der post-kolonialen Situation der ehemals vom Westen kolonisierten Völker sehen, dann könnten die Gründe dafür auch in ähnlichen Vorbehalten liegen. Neben den eben skizzierten Parallelen gibt es natürlich auch gravierende Unterschiede zwischen der post-sowjetischen baltischen und der post-osmanischen griechischen Geschichte. So kann beispielsweise ein Verständnis der »Baltic States as Russian colonies« bereits auf frühere Rhetoriken der 1950er und 1960er Jahre zurückgreifen (Annus 2012, 22; vgl. auch Kalnačs 2016, 3). Zwar gibt es auch in Griechenland vergleichbare Rhetoriken, wie oben schon mit Blick auf Unterrichtsinhalte griechischer Schulen angesprochen. Der gebräuchlichste Epochenbegriff für die Jahrhunderte der Osmanen in Südosteuropa ist »τουρκοκρατία« (Türkenherrschaft), und zu dieser oder den Bezeichnungen »τουρκικός ζυγός« (türkisches Joch) oder »τουρκική δουλεία« (türkische Sklaverei) finden sich auch »analoge Begriffe in allen anderen Sprachen Südosteuropas« (Helmedach et al. 2014, 15f.; vgl. auch Milosević 2011, 73). Und bei solchen Begriffen schwingen immer auch Attribute wie »unverdient« und »ungerechtfertigt« mit, die im Zusammenhang mit den oben angesprochenen tradierten Vorstellungen kultureller Überlegenheit besonders stark zum Tragen kommen dürften. Doch während Termini wie »türkisches Joch« in den betroffenen Ländern jeder und jedem geläufig sind, gerieten sie inzwischen (nicht nur) bei vielen Historikerinnen und Historikern in Misskredit. Dieses Thema ist sehr komplex und kann hier nicht erschöpfend behandelt werden; doch bevor die Diskussion um Griechenlands Status als Postkolonialismus-Verlierer wieder aufgenommen wird, sollen zumindest einige Überlegungen dazu angestellt werden. Dabei ist weder jener doppelte Standard eines postkolonialen Mainstreams zu reproduzieren, der Kritik nur an der einen Seite zulässt, noch soll einer Historiographie das Wort geredet werden, die der osmanischen Zeit die Schuld an allen gegenwärtigen Missständen in post-osmanischen Gesellschaften von Korruption bis zur Rückständigkeit gibt.37 Doch können

37 Vgl. dazu auch Gregory Jusdanis: »This perspective has had the effect of inhibiting scholars from exploring the extraordinary cultural exchanges that must have taken place between, say, Turks and Greeks over a period of four hundred years« (Jusdanis 1998, 377).

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diese Überlegungen dem noch neuen Diskurs um ein post-imperiales Griechenland weitere Facetten hinzufügen. Zunächst einmal ist kaum davon auszugehen, dass die osmanische Herrschaft in Südosteuropa eine einzige ununterbrochene Tyrannei war (Lauer und Majer 2014, 1). Die Geschichte dieses Imperiums ist zu lang und es war räumlich zu weit ausgedehnt, um einen derart generalisierenden Blick zuzulassen. Dennoch scheint eine grundsätzliche Beobachtung des Historikers Norman Naimark einleuchtend, der versucht hat, das Thema mit dem Hinweis auf unterschiedliche Forschungspositionen und ihre unterschiedlichen Interessen anzugehen: »Historiker des Osmanischen Reiches neigen dazu, ein rosiges Bild der Lage seiner Minderheiten zu malen. Im Gegensatz dazu betonen Historiker der unterworfenen Völker […] die Brutalität des osmanischen Jochs« (Naimark 2004, 30). Bevor man also Begriffe wie »Türkenherrschaft« oder »türkisches Joch« pauschal als Produkte des Nationalismus im 19. Jahrhundert und einer am Hergebrachten festhaltenden Historiographie abtut, scheint es ratsam, zunächst einmal das Phänomen als solches ernst zu nehmen. Denn wenn man die Tatsache nicht aus den Augen verliert, dass die Osmanen tatsächlich in diesen Jahrhunderten die Herren im Land waren und die Rahmenbedingungen für das Zusammenleben der verschiedenen Gruppierungen und Ethnien setzten, lässt sich die Rede vom »türkischen Joch« mitsamt ihrem sozusagen umgekehrten Superioritätsanspruch auch als eine Art umgekehrtes othering verstehen (vgl. dazu Albrecht 2019c) – wobei es dann keine Rolle mehr spielt, ob sie ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist oder durch die Jahrhunderte kontinuierlich in der einen oder anderen Form auftrat. Die Idee eines umgekehrten othering ist derzeit noch erklärungsbedürftig, was daran liegt, dass die postkoloniale Theoriebildung recht erfolgreich damit war, ein bestimmtes Konzept des othering im akademischen und öffentlichen Diskurs zu etablieren und zu normalisieren. Der Historiker Jürgen Osterhammel spricht in diesem Sinne auch von einer »ungeheuer wirkungsmächtigen und orthodoxiebildenden Standardbeschreibung von othering« (Osterhammel 2015, 79; Herv. im Original). Dieses Konzept wurde bekanntlich von Gayatri Spivak in einem frühen Essay aus dem Jahr 1985 geprägt und bezeichnet »the process by which imperial discourse creates its ›others‹« (Ashcroft, Griffith und Tiffin 2013, 188; vgl. Spivak 1985, 252), also Differenzierungsprozesse, bei denen die als überlegen vorausgesetzte Kultur der Kolonisatoren aufgewertet, die der Kolonisierten entsprechend abgewertet und als unterlegen und unzivilisiert festgeschrieben wurde. Die Vorstellung eines umgekehrten othering ist dagegen im Vokabular des postkolonialen Mainstreams nicht vorgesehen, auch wenn es realiter nicht an Beispielen aus den verschiedenen kolonialen Konstellationen mangelt. Im hier diskutierten Kontext kann die Idee eines umgekehrten othering erklären, warum Menschen sich – mit Berufung auf ihre aus der Orientierung am Westen abgeleitete kulturelle Überlegenheit – mit Begriffen wie »türkisches Joch« oder »Sklaverei« von der osma-

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nischen Vergangenheit abgegrenzt haben und das zum Teil bis heute tun. In kolonialen Alltagssituationen konnte das umgekehrte othering – hier ein othering von der anderen Seite der kolonialen Hierarchie aus, mit dem die Kolonisierten sich gegen ihren subalternen Status zur Wehr zu setzen suchten – dabei helfen, mit den wie auch immer gearteten Zumutungen der Kolonialherrschaft fertig zu werden. Indem man die Kultur und Gesellschaft der Kolonialmacht ab- und die eigene Kultur und Gesellschaft aufwertete, konnte das Wir-Gefühl gestärkt und die durch die koloniale Situation beschädigte Selbstachtung bis zu einem gewissen Grad wieder hergestellt werden (Narayan 1997, 402 und passim). Da solche sozialen Mechanismen der Identitätssicherung generell in Situationen am Werk sind, die auf Machtasymmetrien basieren, kann auch die Rede von einem »türkischen Joch« als eine von vielen denkbaren Versionen des umgekehrten othering beschrieben werden, das in den post-osmanischen europäischen Staaten ebenso wie in ehemals vom Westen kolonisierten bis heute nachwirkt. Noch ein anderer Aspekt der verbreiteten Abwertung der populären Rede vom »türkischen Joch« ist zu bedenken, denn diese Herabsetzung läuft umgekehrt Gefahr, ebenfalls kurzsichtige Urteile hervorzubringen. In ihrer Diskussion der Revolten auf Kreta gegen die Osmanen stellt die Historikerin Pinar Şenişik beispielsweise die rhetorische Frage, was die Bewohner der Insel wohl dazu veranlasst haben mag, in dem »so-called ›nationalist liberation struggle‹« ihr Leben »for an abstract entity, or an ›imagined community‹« aufs Spiel zu setzen oder womöglich zu opfern (Şenişik 2011, 9). Mit einer Anleihe bei Benedict Anderson wird hier ein verständnisloser Blick auf Menschen geworfen, deren Begehren auf ein so illusionäres Gebilde wie die Nation gerichtet war. Davon abgesehen, dass eine Verteufelung des Nationalismus als Wurzel allen Übels inzwischen aus der Mode zu kommen scheint,38 ignoriert ein so konditionierter Blick gleichzeitig, dass es bei dem nationalistischen Befreiungskampf auch noch um etwas anderes ging. Dieser wurde ja nicht nur für etwas geführt, und vielleicht nicht einmal in erster Linie, denn es ging zunächst einmal auch darum, sich von etwas zu befreien – von einer Herrschaft, die als fremd empfunden wurde und von manchen eben auch als ein »Joch«. Auch hier scheint ein post-kolonialer Vergleich aufschlussreich, denn in den Diskussionen um Dekolonisierung und die Befreiungskämpfe von Kolonisierten gegen europäische Kolonialherrschaft wird dieses von interessanterweise sehr viel ernster genommen. Niemand würde auf die Idee kommen zu behaupten, dass afrikanische Widerstandskämpfer sich den Nationalismus wie eine Krankheit eingefangen haben. Post-koloniale unabhängige Nationalstaaten werden im Gegenteil in der Literatur häufig als eine Art Nebenprodukt im Kampf gegen das koloniale Joch behandelt. Es erscheint also angemessen, den Untertanen des Os38 Eine ausgewogene Diskussion von »nationalism’s dualistic nature, its capacity to confer benefits to humanity as well as wreak havoc«, findet sich etwa bei Jusdanis 2011 (Zitat: 13).

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manischen Reiches ebenfalls zuzugestehen, dass viele ein Interesse daran hatten, sich von etwas zu befreien – zum Beispiel von der untergeordneten politischen und sozialen Position, mit der sie als Nicht-Muslime in der osmanischen Realität konfrontiert waren (Shirinian 2017, 12). In diesem Sinne lautet der Titel des Romans von Níkos Kazantzákis über die Revolte auf Kreta von 1889 ja auch nicht »die Nation oder der Tod«, sondern er folgt dem historisch verbürgten Leitmotiv der Revolten, das auch zu einem zentralen Motiv des Romans wurde: Freiheit oder Tod. Solchen martialischen Diskursen werden heute vielfach neue Geschichtsnarrative entgegengestellt, die die harmonischen Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnisch-religiösen Gruppen im Osmanischen Reich in den Vordergrund stellen. Dies führt allerdings – wenn dieser neue den alten τουρκοκρατία-Diskurs nur ersetzt, und nicht ergänzt – nicht notwendig zu einem ›richtigen‹ oder auch nur ausgewogeneren Bild, sondern nicht selten zu einem auf andere Weise idealisierten, bei dem nostalgisch eine kosmopolitische Vergangenheit vor dem zerstörerischen Nationalismus entworfen wird.39 Das frühere, historisch polarisierte Bild wird dabei gleichsam auf den Kopf gestellt, indem nunmehr – auch von türkischer Seite – eine osmanische Vergangenheit der Toleranz und Inklusivität herauf beschworen wird (Mills 2011, 194). Insgesamt scheint es (noch) schwierig zu sein, Griechenlands Rolle als erster unabhängiger Nachfolgestaat des Osmanischen Reiches und damit seinen post-imperialen Status auf eine sachliche Weise zu diskutieren. Denn zu den kontroversen und oft emotional aufgeladenen Einschätzungen der Vergangenheit kommen auch die – oft mit dem politischen Schlagwort Neo-Osmanismus bezeichneten (vgl. u.v.a. Krüger 2011) – Entwicklungen in der Türkei seit Beginn des 21. Jahrhunderts unter Recep Tayyip Erdoğan. Und auch andere politische Faktoren der Gegenwart wie die geopolitische Bedeutung der Türkei (des Rechtsnachfolgers des Osmanischen Reichs) oder Griechenlands Nato- und EU-Mitgliedschaft spielen eine Rolle und verkomplizieren die Frage nach Griechenlands post-imperialem Status. Auf die Frage, ob und in welchem Maß die post-osmanische post-koloniale Debatte Griechenland erreichen wird, folgt auch noch die nach dem wie, wobei in dem vorliegenden Text schon klargeworden sein dürfte, dass nicht dafür plädiert wird, in bekannter postkolonialer Manier und im Sinne eines Kolonialismus ohne Kolonien (Purtschert, Lüthi und Falk 2013) nunmehr die ›koloniale Mentalität‹ der Griechen ›nachzuweisen‹ und mit dem Finger auf seine ›Subalternen‹ und ›inneren Kolonisierten‹ zu zeigen. Die sind sicher zu finden, wären jedoch unter multidirektionalem Vorzeichen (Albrecht 2019c) in eine neue Diskussion »des Postkolonialen« einzubinden. In diesem Kontext kann ein interessantes Fundstück weitergedacht werden, bei dem die griechische Haltung – auch wenn Griechenland in der jüngeren Geschichte keine Kolonialmacht war – tatsächlich in die 39 Vgl. für den griechischen Kontext zusammenfassend Willert 2019a, 28f. und passim.

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Nähe eines ›kolonialen Blicks‹ gerückt wird: Die Neogräzistin Trine Willert diskutiert in ihrer Untersuchung des New Ottoman Greece in History and Fiction Gegenwartsromane, die im Anschluss an Rhéa Galanákis Das Leben des Ismail Ferik Pascha (1989) die osmanische Zeit neu aushandeln (vgl. dazu auch den Beitrag von Anastasía Antonopoúlou im vorliegenden Band). Die Tatsache, dass viele dieser Romane die Vergangenheit im Sinne eines modernen liberalen Multikulturalismus imaginieren, interpretiert Willert sicherlich zu Recht als den Versuch, eine nationale Erzählung zu generieren, die den neuen westlichen oder europäischen Idealen entspricht (Willert 2019b, 24). Denn wenn ehemalige Kolonialmächte heute Diskurse über Multikulturalismus und Toleranz gegenüber dem Anderen entwickeln, so Willert, dann will Griechenland genau hieran anschließen. Dabei sei der griechische Diskurs über die (muslimischen oder türkischen) Nicht-Europäer jedoch ebenso orientalistisch gewesen wie der koloniale europäische (Willert 2019a, 206). Ich habe diesen ›orientalistischen‹ Diskurs oben konkreter als umgekehrtes othering von der anderen Seite der imperialen Hierarchie aus bezeichnet. Um zu einem inklusiveren Bild zu gelangen, wäre hier auch das ›normale‹ othering von der osmanischen Seite aus einzubeziehen, also der okzidentalistische Diskurs (Buruma und Margalit 2005), und beispielsweise zu fragen, wie sich beide gegenseitig bedingen – oder auch, ob sie überhaupt jemals strikt getrennt waren. Insgesamt würde eine solche post-koloniale oder post-imperiale Option im Sinne einer multidirektionalen Perspektive ein weites neues Arbeitsfeld für die Geisteswissenschaften bereitstellen – wenn man allein an eine mögliche Neuperspektivierung des Philhellenismus denkt (der in dem Essay von Aglaia Blioumi im vorliegenden Band als Kontrastfolie zu dem von ihr untersuchten Reisebricht dient) oder an den griechischen Unabhängigkeitskrieg aus post-kolonialer Sicht (Jusdanis 1998, 376). Der Literatur- und Kulturwissenschaftler Russell Berman hat vor nicht allzu langer Zeit augenzwinkernd die Frage gestellt, ob die Unterstützung der Deutschen in diesem Krieg für die griechischen Nationalisten nun ein frühes Beispiel für ihren Antikolonialismus sei – oder doch eher der Beweis dafür war, dass sie einem islamischen Staat feindlich gegenüber standen (Berman 2011, 172).40 Aus der Sicht des postkolonialen Mainstreams gibt es wohl nur die zweite Option. Allerdings wäre das weite und vielschichtige Feld des Philhellenismus, wie auch der Beitrag von Anastasía Antonopoúlou zeigt, für eine Kritik aus postkolonialer Sicht eine ›leichte Beute‹ – lauteten doch beispielsweise »die Schlagworte der europäischen Propagandaliteratur für Griechenland« in dieser Zeit: »Freiheit gegen Tyrannei, Christentum gegen Islam, Kultur gegen Barbarbei« (Noe 1994, vii). Doch interessanter als die offenkundig anti-osmanische 40 Im Original: »was German support for Greek nationalists against Ottoman rule an early exam­ ple of anticolonial sentiment or evidence of a Western Orientalism hostile to an Islamic state?« (Berman 2011, 172).

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Haltung der Mehrheit der Philhellenen zu ›beweisen‹, wäre es sicherlich, einen post-kolonialen Blick auf die politische Funktion des Philhellenismus im Kontext des Unabhängigkeitskrieges (vgl. etwa Gallant 215, 98) und auf seine Instrumentalisierung durch die griechische Seite zu richten. Waren diese Schachzüge mit dem Ziel der Sicherung von finanziellen und anderen Ressourcen für diesen Krieg nicht auch Strategien eines kolonialen Widerstands? Hier mit einem multidirektionalen post-kolonialen Blick genauer hinzusehen, könnte erstaunliche Fundstücke und vor allem wieder interessante Parallelen zutage bringen – beispielsweise jene Aneignung von Verhaltensweisen und Diskursen westlicher Kolonisatoren durch außereuropäische Kolonisierte, die Homi Bhabha »Mimikry« genannt hat (Bhabha 1994), und die hier als ebenso subversive Aneignung von Verhaltensweisen und Diskursen der europäischen und osmanischen Akteure durch die griechischen zu identifizieren wären. Interessanterweise könnten auch die oben erwähnten Versuche nationalistischer Geschichtsschreibung, die osmanische Zeit in der griechischen Geschichte herunterzuspielen oder auszublenden,41 als typisch postkoloniales Bemühen gesehen werden, den kulturellen Einf luss des ehemaligen Herrschers zu leugnen (Jusdanis 1998, 376). Und ein ganz neues Arbeitsfeld würde sich unter einem bislang im postkolonialen Mainstream vernachlässigten Aspekt eröffnen, haben wir es beim Widerstand gegen den osmanischen Imperialismus doch mit »European societies that rebelled against a Muslim and ›Eastern‹ state« zu tun (Jusdanis 1998, 377). Die sich daraus ergebenden Fragen wären etwa die nach »implications that Christian subordination to Muslim rule could have in terms of colonial mentality« (Kechriotis 2015, 71). Und welche Rolle spielte die Religion weltweit für die Herausbildung kolonialer Praktiken? Der Literaturwissenschaftler Ato Quayson hat in einem ähnlichen Kontext daran erinnert, dass alle drei monotheistischen Religionen – das Christentum, der Islam und das Judentum – ihren Gläubigen das Gefühl vermitteln, privilegiert zu sein. Gleichzeitig ist dieses Gefühl jedoch auch immer von der Abwertung anderer Religionen und Andersdenkender und Ungläubiger abhängig. Und: »This infernal dialectical carousel of religious Self and unbelieving Other is […] further complicated when the unbeliever also happens to be culturally or racially different from the believer« (Quayson 2012, 367). Das Ausblenden des Osmanischen Reichs im postkolonialen Mainstream hat bislang dazu geführt, dass solchen Fragen noch kaum nachgegangen wurde. Im Kontext eines multidirektionalen post-kolonialen Rahmens würde sich dagegen ein reiches, kaum bearbeitetes Terrain mit einer Vielzahl neuer Fallstudien eröffnen, auf dem sich gleichzeitig eine breite Basis für die komparatistische post-koloniale Arbeit generieren lässt. 41 Im Dezember 2019 sah ich der Athener Altstadt ein Hinweisschild mit der Epochenbezeichnung »post-byzantinisch« statt »osmanisch«: »ΒΥΖΑΝΤΙΝΑ ΚΑΙ ΜΕΤΑΒΥΖΑΝΤΙΝΑ ΜΝΗΜΕΙΑ«, auch auf Englisch darunter »BYZANTINE AND POST-BYZANTINE MONUMENTS«.

Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer

Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer (2): Die griechische Antike »Was man die judeo-christliche, die westliche und zuweilen die europäische Kultur nennen wird«, so Ulrich Meurer in seinem Beitrag in diesem Band, »das nimmt zumindest einen seiner Anfänge offenbar am südöstlichsten Saum des Mittelmeers.« Zu den eingangs genannten Besonderheiten, die Griechenland von anderen marginalisierten Ländern und Postkolonialismus-Verlierern unterscheidet, gehört vor allem seine klassische Vergangenheit, die lange Zeit als idealisierte griechische Antike zentral für das europäische Denken war. Doch gerade diese (so reale wie imaginierte) Verbindungslinie von der griechischen Antike zur westlichen Zivilisation hat Konsequenzen für das gegenwärtige Griechenland und die Wahrnehmung seiner Geschichte (Jusdanis 1997, 171). Denn eben diese westliche Zivilisation wird heute nicht selten als ganze unter Generalverdacht gestellt, von vielen sogar gewissermaßen »as the source of all social evils in the world« betrachtet (Shohat und Stam 1994, 3).42 Aijaz Ahmad hat beispielsweise in den frühen 1990er Jahren bemerkt, dass postkoloniale und verwandte Denkweisen ein Interesse daran haben, »European humanism’s complicity in the history of European colonialism« immer wieder neu zu ›beweisen‹ (Ahmad 1992, 163).43 Westliche Denktraditionen, die in der Philosophie, Literatur und Kunst der griechischen Antike ihre Anfänge haben und in der Auf klärung Kontur annahmen, werden mit dem Dominanzsystem ›des‹ Westens gleichgesetzt, das angeblich mit logischer Konsequenz zu Imperialismus und Kolonialismus führte – wobei selten ref lektiert wird, dass diese Auffassung von ›dem‹ Westen nur auf der Basis einer Art von Kritik möglich ist, die in den Denktraditionen eben dieses des Westens entwickelt wurde (Berman 1998, 6). Vom Postkolonialismus beeinf lusste Disziplinen stellen unter anderem »Gründungsmythen der politischen Theorie wie die Verortung der Ursprünge der Demokratie in der griechischen Polis« in Frage (Ziai 2012, 286), und während die griechische Antike einstmals als kulturelles Ideal gefeiert wurde, neigen viele heute dazu, sie nur noch mit Sklaverei, Patriarchat und Imperialismus zu assoziieren (Jusdanis 1996, 187). Knapp zehn Jahre nach Edward Saids Orientalism (1978) erschien zunächst in England und den USA, bald darauf auch in zahlreichen Übersetzungen eine

42 Ella Shohat und Robert Stam haben bereits vor einem Vierteljahrhundert darauf hingewiesen, dass diese Haltung, »that posits Europe as the source of all social evils in the world«, nicht nur im Kern selbst eurozentrisch ist, sondern »merely turns colonialist claims upside down« und »exempts Third World patriarchal elites from all responsibility« (Shohat und Stam 1994, 3). 43 Zu ergänzen ist, dass der Humanismus auch in der Zeit dieses Einwands nicht allein durch die postkoloniale Perspektive in Frage gestellt wurde (für einen kurzen Überblick vgl. Bajohr 2019, 65); vgl. zur neueren postkolonialen Kritik am Humanismus Noyes 2019.

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Studie, die in ihren theoretischen Grundlagen Said verpf lichtet war44 und sich an dieser Umwertung der griechischen Antike maßgeblich beteiligte: Der erste Band von Black Athena, einer auf drei Bände angelegten Studie des britischen, damals an der Cornell University lehrenden Sinologen Martin Bernal. Wie der Untertitel – Die afroasiatischen Wurzeln der griechischen Antike in der deutschen Übersetzung – bereits impliziert, geht es in diesen Untersuchungen darum, nachzuweisen, dass die europäische Zivilisation nicht etwa in Griechenland, sondern im Nahen Osten und in Afrika ihre Wurzeln hat, oder, wie Jan Assmann korrigiert hat, »›Black‹ bezieht sich auf Ägypten, das möglichst schwarz eingefärbt wird« (Assmann 1992, 921). Diese Bemerkung sollte nicht als rassistische Entgleisung des späteren Friedenspreisträgers des deutschen Buchhandels betrachtet werden, sondern als (wenngleich wohl etwas ungeduldige) Richtigstellung eines Ägyptologen, der die Quellen kennt und weiß, wie sie zu lesen sind: Nämlich beispielsweise, dass Geschichtsschreiber und Autoren der Antike zwar einerseits zwischen Ägypten und dem subsaharischen Afrika unterschieden,45 andererseits jedoch – und darauf haben zahlreiche Beteiligte der Black Athena-Debatte immer wieder hingewiesen –, dass Bernals Vorstellungen von blackness für das Verständnis der Antike ungeeignet ist (Baines 1996, 32). Gemeint ist damit vor allem, dass sein Konzept auf der »infamous ›one drop‹ rule«46 basiert, die außerhalb des amerikanischen Diskurses nicht ohne weiteres allgemein verständlich ist.47 Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Es geht bei meiner Diskussion der Black Athena-Debatte natürlich nicht darum, Kulturen gegeneinander auszuspielen oder sie womöglich wieder zu in sich geschlossenen und unveränderbaren Einheiten zu erklären. Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass afroasiatische Wurzeln der griechischen Antike ernsthaft geleugnet würden, wenn es in den Disziplinen der Altertumswissenschaften – von der Archäologie mit ihren Schnittstellen zu den Naturwissenschaften bis zur alten Geschichte und Altphilo44 Jacques Berlinerblau merkt an, dass Saids Orientalism »could serve as the theoretical preface to Black Athena« (Berlinerblau 1999, 11). 45 »[…] the classical writers […] did not view the Ancient Egypts as belonging to the same physical or cultural categories as the Ethiopians. As such, the reference to extremely dark skin and curled hair describes only the latter, not the former« (Berlinerblau 1999, 151; vgl. auch Snowden 1996). 46 Das bedeutet, dass »any type of dark skin or African ancestry makes one in the modern United States a member of a constructed category (i.e., social race) known as black or African-Ameri­ can« (Berlinerblau 1999, 152). Jacques Berlinerblau geht allerdings davon aus, dass es Martin Bernal sehr wohl bekannt war, dass die Übertragung dieser »rule« auf die Antike eigentlich anachronistisch ist, dass es sich bei seinen Lesarten also um »strategically racialized readings« handelt (ebd. 159). 47 John Baines ist darüber hinaus der Ansicht, dass Bernals Vorstellungen von blackness nicht allein für das Verständnis der Antike ungeeignet ist, sondern »to any society that does not have an overriding obsession with race« (Baines 1996, 32).

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logie – tatsächlich konkrete Anhaltspunkte für solche Wurzeln gäbe. Die überwiegende Mehrzahl der Kritiker geht jedoch inzwischen davon aus, dass Bernals Thesen im Großen und Ganzen unhaltbar sind.48 Es wird im Gegenteil auf dem insistiert, was in der Forschung zur Antike und ihren Archäologien lange vor Bernal bekannt war: Dass es natürlich transkulturelle Einf lüsse in beide Richtungen zwischen Griechenland und dem Nahen Osten und Ägypten gab, von einer Black Athena jedoch keine Rede sein kann.49 Bernal wollte nicht mehr und nicht weniger, als »to rethink the fundamental bases of ›Western Civilization‹« (Bernal 1987, 2). Angesichts der dubiosen Beweislage für eine solche grundlegend neue Sicht auf die griechische Antike muss der große und auch über den akademischen Bereich hinausgehende Erfolg von Black Athena als Symptom für die heute bei vielen vorhandene Bereitschaft gelesen werden, die Errungenschaften der westlichen Zivilisation einerseits pauschal abzuwerten und andererseits alles irgendwie doch Bewunderns- und Bewahrenswerte daran unref lektiert an außereuropäische Zivilisationen abzutreten. Wenn diese Ansicht heute von vielen als normal empfunden wird, hat das nicht zuletzt mit dem bereits recht gut etablierten Wissensregime der postkolonialen Studien zu tun, das sich unter anderem eine Neuordnung und Neubewertung von Wissen und Kulturen in die Agenda geschrieben hat. Griechenland gehörte dabei mit vielen anderen deutlich zu den Verlierern dieses Wertewandels: »modern Greece may not be as interesting today as in previous decades partly because the criteria for evaluating the ›worthiness‹ of cultures have changed« (Jusdanis 1997, 172).50 Tatsächlich ist bei vielen und auch namhaften Vertreterinnen und Vertretern der Postcolonial Studies zu beobachten, dass und wie sie systematisch und kontinuierlich an dieser Umwertung arbeiten – die im Wesentlichen jedoch nur die (tatsächliche oder unterstellte) frühere Werthierarchie ›des‹ Westens umkehrt (Albrecht 2013, 50f.). In Gayatri Spivaks Werken tauchen beispielsweise immer wieder solche expliziten oder impliziten Umwertungen auf, die sie am Ende ihrer 48 Vgl. dazu unter vielen anderen die Altphilologin Mary Lefkowitz: »There is no evidence that So­ crates, Hannibal, and Cleopatra had African ancestors. There is no archaeological data to sup­ port the notion that Egyptians migrated to Greece during the second millennium B.C. (or before that). There is no reason to think that Greek religious practices originated in Egypt« (Lefkowitz 1996, 157). 49 Vgl. zusammenfassend Jacques Berlinerblau in seiner Studie Heresy in the University: The Black Athena Controversy and the Responsibilities of American Intellectuals: »an ideologically disparate col­ lection of academians concur that Bernal’s theories are simply untenable« (Berlinerblau 1999, 6). 50 Jusdanis fährt fort: »A society claiming direct descent from ancient Greece is not going to be viewed with the same sympathy today as it was in the nineteenth century and the early part of the twentieth, when Europeans traced their own cultural origins to Hellas and celebrated the Athenian polis as the prototype par excellence of democratic government« (Jusdanis 1997, 172; Herv. im Original).

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Studie Death of a Discipline sogar unverhohlen zum Programm für die von ihr propagierte Art von Comparative Literature erklärt (Spivak 2003, 100). Auch darüber hinaus macht sie in ihren Schriften immer wieder abfällige Bemerkungen etwa über die »old European national literatures« (Spivak 2003, 15), die gezielt mit einer Aura des Verstaubten, des Veralteten und Überholten, der Engstirnigkeit und der Ignoranz umgeben werden (Albrecht 2013, 51). Und postkoloniale »Denkgebote und -verbote« (Reinhard 2010, 25)51 sorgen dafür, dass sich kaum Einspruch gegen Entwertungen und Herabsetzungen etwa von »old European national literatures« regt – denn bekanntlich kommt in solchen ›Debatten‹ anstelle von Argumenten regelmäßig die Triade Rassismus-Eurozentrismus-Kolonialismus zum Einsatz. Die (nicht nur bei Spivak) immer wieder anzutreffende ›Methode‹ wiederum, mit einzelnen abwertenden Zitaten westliche Denker oder auch ganze Epochen (nach)lässig und generalisierend zu verwerfen, hat ebenfalls bereits in Edward Saids Orientalism zahlreiche Vorgänger.52 Und auch ein weiteres Charakteristikum von Saids »counter-history«,53 nämlich Studien und Quellen zu ignorieren, die den eigenen Thesen widersprechen, hat sich schnell als ›Methode‹ durchgesetzt. Denn bis heute wird in postkolonialen und verwandten Studien auf diese Weise Material zusammengetragen, das den Generalverdacht gegen die westliche Gesellschaft und ihre Denktraditionen immer wieder neu bestätigen soll – oder mit anderen Worten: es wird zu beweisen versucht, wovon ohnehin von vornhe51 Der Historiker Wolfgang Reinhard hat ebenfalls bereits darauf hingewiesen, dass es in der Aus­ einandersetzung mit der postkolonialen Situation »eine besondere Art darüber zu denken und zu schreiben gibt, die bereits wirkungsvolle Denkgebote und -verbote hervorgebracht hat« (Reinhard 2010, 25). 52 Um nur eins von vielen Beispielen aus Orientalism zu nennen: »Betrachten wir daher […] die Gren­ ze zwischen dem Orient und dem Westen, die bereits zu Zeiten der Ilias stark hervortrat. […] sie [zwei vorher genannte griechische Tragödien] ziehen eine klare Linie – Europa ist mächtig und wortgewaltig, Asien besiegt und kleinlaut« (Said 2014, 72-74; Said 1978, 56-57). Keith Wind­ schuttle hat diese Ausführungen schon dahingehend kommentiert, dass »these same motifs persist in Western culture, he claims, right down to the modern period. This is a tradition that accommodates perspectives as divergent as those of Aeschylus, Dante, Victor Hugo, and Karl Marx. However, in describing ›the essential motifs‹ of the European geographic imagination that have persisted since ancient Greece, he is ascribing to the West a coherent self-identity that has produced a specific set of value judgments – ›Europe is powerful and articulate: Asia is defeated and distant‹ – that have remained constant for the past 2500 years. This is, of course, nothing less than the use of the very notion of ›essentialism‹ that he elsewhere condemns so vigorously. In short, it is his own work that is essentialist and ahistorical. He himself commits the very faults he says are so objectionable in the work of Orientalists« (Windschuttle 1999). 53 Aijaz Ahmad ist der Ansicht: »The particular texture of Orientalism […], its will to portray a ›West‹ which has been the same from the dawn of history up to the present […] – all this and more, in Orientalism derives from the ambition to write a counter-history that could be posed against Mimesis, Auerbach’s magisterial account of the seamless genesis of European realism and ratio­ nalism from Greek Antiquity to the modern moment« (Ahmad 1992, 163).

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rein ausgegangen wird. Auf diese Weise werden beispielsweise auch Neuschöpfungen des späten 20. Jahrhunderts wie Whiteness54 und andere Konstrukte in die griechische Antike zurückprojiziert.55 Der Begriff des »Barbaren« (βάρβαρος) scheint sich in dieser Hinsicht gleichsam natürlich anzubieten. Die Annahme jedoch, dass dieser Begriff seit dem »5. Jahrhundert« vor Christus »alle nicht-griechischen Völker homogenisierend als das ›Andere‹ setzt und dabei als unterlegen situiert« (Arndt 2008, 98), dürfte sich einmal mehr der bekannten selektiven Lektüre verdanken. Hannah Arendt, die neben Philosophie auch Griechisch studiert hat, machte in einem Interview, das der damals bekannte Journalist und spätere Politiker Günter Gaus im Oktober 1964 mit ihr führte, darauf aufmerksam, dass auch aus der griechischen Antike ein weites Spektrum unterschiedlicher Positionen überliefert ist. Denn in diesem Interview vertrat sie zunächst die Ansicht, dass die Unparteilichkeit durch Homer »in die Welt gekommen« sei, um kurz darauf fortzufahren: »Dann kam Herodot und hat gesagt: ›Die großen Taten der Griechen und der Barbaren.‹ Aus diesem Geiste kommt die ganze Wissenschaft, auch noch die moderne, auch die Geschichtswissenschaft« (Arendt 1964; Herv. im Original56). Ein großes Problem der vom Postkolonialismus beeinf lussten Denkweisen besteht darin, dass sie im Grunde – auch wenn sie sich selbst als Avantgarde verstehen – weder konzeptionell noch realiter Raum für mögliche Veränderung und damit für sozialen und politischen Wandel offenlassen. Die Auffassung eines von den Grundfesten her verdorbenen Westens, die mit Vorstellungen von seinem ›kolonialen Denksystem‹ oder der ›kolonialen Mentalität‹ seiner Bewohner einhergeht, läuft letzten Endes darauf hinaus, dass diese nicht zu überwinden sind, solange es diesen Westen gibt. Und wenn es so ist, dass Realität und Bedeutung in der wiederholenden und zitierenden Praxis zuallererst hergestellt werden, stellt sich die Frage, worauf die postkoloniale Argumentation eigentlich abzielt (Al­ brecht 2012, 99f.).

54 Vgl. zur notwendigen Kritik an diesem Konzept Albrecht 2017, 2016a, 2016b, und 2008, 237-265. 55 Vgl. dazu: »Classical texts have often been misinterpreted because scholars have mistakenly attributed to antiquity racial attitudes and concepts which derive from certain modern views« (Snowden 1970, ix). In dieser Studie Blacks in Antiquity geht Frank M. Snowden Jr. davon aus, dass im antiken Griechenland und Rom Menschen aus Afrika nicht von jener Art von Rassismus be­ troffen waren, die sich erst in neuerer Zeit herausbildete. Seine Argumentation basierte vor allem auf dem Wissen, dass es sich bei den Schwarzen in der antiken Welt um Söldner oder Sol­ daten handelte, während Sklaven dagegen durchweg Weiße waren (Braimah 2017). 56 Die Betonung ist eindeutig (vgl. die Aufnahme auf https://www.youtube.com/watch?v=J9Sy­ TEUi6Kw, 1:00:39). Die Transkription auf der Website des Senders (Arendt 1964) setzt an dieser Stelle allerdings keine Betonung; in der englischen Übersetzung ist das »and« jedoch kursiviert (Arendt 2000, 19).

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Gewiss lassen sich viele Beweise für neokoloniale Mentalitäten und ihre traurigen Auswirkungen finden, doch ebenso viele auch für das Gegenteil. Russell Berman hat in seiner Studie Enlightenment or Empire ebenfalls zentrale Schwachstellen postkolonialer Denkweisen herausgearbeitet und unter anderem darauf hingewiesen, dass es natürlich nicht darum gehen kann, den Zusammenhang von Vernunft und Wissen mit Macht zu leugnen (»It is hard to argue with the obvious«), dass postkolonial grundierte Studien jedoch fast immer nur darauf fixiert sind, diesen Zusammenhang immer wieder neu ins Scheinwerferlicht zu stellen. Doch: »The point is […] that such complicity is not at all the whole story, nor perhaps even the most important part of it« (Berman 1998, 17). Natürlich gibt es, woran auch Ulrich Meurers Beitrag in diesem Band erinnert, beispielsweise »die dominanten Raum- und Herrschaftsideen des Westens«, doch werden diese (unter anderem in der Kunst) immer wieder auch mit anderen »Möglichkeiten und Mannigfaltigkeiten« konfrontiert, die dann nicht zuletzt politische Relevanz haben. Sicherlich kann Wissen zu einer Macht werden, die andere unterdrückt, es kann jedoch auch die Möglichkeit bereitstellen, eben diese Macht auf den Prüfstand zu stellen und zu verändern (Berman 1998, 17). Oder, noch einmal mit Russell Berman: Während von postkolonialen Denkweisen »Enlightenment as a vehicle of power and domination« pauschal verurteilt wird, »Horkheimer and Adorno argued that the project of reason is much more multivocal: potentially a source of domination, it is simultaneously the source of resistance and the vision of a better life« (Berman 1998, 17). Wenn abschließend noch ein ebenso vorsichtiger wie normativer Blick auf wünschenswerte Entwicklungen geworfen wird, dann sei zunächst betont, dass es nicht darum gehen kann, den doppelten Standard postkolonialer Studien auf Griechenland zu übertragen und im Sinne eines wie auch immer vorzustellenden Neo-Philhellenismus analog zu Edward Saids ›Schutzschirm über dem Orient‹ (Albrecht 2019a) nunmehr einen solchen über Griechenland aufzuspannen. Die Historikerin Katherine Fleming hat zudem darauf hingewiesen, dass der Philhellenismus spätestens seit seinem Höhepunkt in der Epoche der Romantik immer zwei Gesichter hatte: einerseits hat die europäische Liebe zu Griechenland auch die Form materieller Unterstützung verschiedenster Art angenommen und dazu beigetragen, Griechenlands existentielle Grundlage zu sichern, andererseits wurde der Philhellenismus zu allen Zeiten auch als Vorwand für die Einmischung in die Angelegenheiten des Landes genommen (Fleming 2004, 872). Eine erneute unkritische Aufwertung der griechischen Antike im Sinne einer philhellenischen Überhöhung steht allerdings ohnehin nicht zur Debatte. Sinnvoll wäre es jedoch im Sinne eines »Unthinking Postcolonialism« (Albrecht 2019d), die Errungenschaften des Westens und also auch seine Grundlagen in der griechischen Antike Stück für Stück zunächst einmal von den Verzerrungen des Postkolonialismus zu

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befreien, um dann zu sachlichen, dabei natürlich kritischen Debatten zurückzukehren. Gregory Jusdanis hat in diesem Sinne bereits daran erinnert, dass das antike griechische Experiment mit einer selbstkritischen Demokratie nach wie vor höchst interessant ist: Die Erkundung eines guten Lebens, der gute Bürger, der zur Ref lexion und zur Teilhabe an der Gesellschaft fähig ist, können nach wie vor als Ausgangspunkt für die Analyse moderner politischer Probleme dienen (Jusdanis 1996, 191) – was ja nicht notwendig dazu führen muss, dass der Hintergrund von Sklaverei, Patriarchat und imperialistischen Bestrebungen verschwiegen wird, vor dem dieses Experiment stattfand. Doch angesichts der immer noch anhaltenden Obsession mit Kultur und Identität und der Tendenz, »gesellschaftliche Verhältnisse auf Anerkennungsverhältnisse« zu reduzieren (Stender 2012) sowie soziale und ökonomische Ungleichheit zu kulturalisieren (Löff ler 2011, 142), wäre durchaus von einer Gesellschaft zu lernen, die gerade nicht race, Ethnizität oder Differenz als ihre Art und Weise der Zugehörigkeit definiert hat,57 sondern Staatsbürgerschaft und den für das Gemeinwesen engagierten homo politicus (Jusdanis 1996, 191). Und nicht zuletzt gab es – ebenfalls hochaktuell – natürlich auch in der Antike »Eliten«, die nicht »im Sinne des Gemeinwohls« handelten, und entsprechend zeitgenössische Historiker, die sich mit der »Tendenz der herrschenden Elite zur Hybris bzw. Dekadenz« auseinandersetzten. Thematisiert wurde dabei etwa, dass es zum »Umsturz der vorhandenen Ordnung« führen konnte, wenn die Untertanen einer solchen, »nicht mehr im Dienste des Gemeinwohls stehenden Regimestruktur« den Herrschenden ihre Unterstützung entzogen. Wenn dagegen politische Ordnungen solche Defizite der Herrschenden durch institutionelle Einbindung verschiedener gesellschaftlicher Kräfte kompensieren konnten, hatten sie auch in der Antike »die beste Chance, auch unter Bedingungen dieser Form internen Stresses zu persistieren« (Dannica Fleuß im vorliegenden Band) – genau dies hat Nancy Fraser auch dem »progressiven Neoliberalismus« des gegenwärtigen globalisierten 21. Jahrhunderts attestiert (Fraser 2017a). Generalisierende Diffamierungen der griechischen Antike durch postkoloniale Ansätze wären also entschieden zurückweisen, und ins Spiel zu bringen wäre genau das, was der postkoloniale Diskurs verdrängt – auch und gerade im Sinne der Konstitution einer anderen als der von postkolonialen Diskursen behaupteten Realität und von anderen Bedeutungen. Zur Verteilung der Macht in Europa selbst beispielsweise hat die postkoloniale Theoriebildung wenig zu sagen, so dass sich einmal mehr die Frage stellt, ob das postkoloniale Paradigma tatsächlich dabei hilft, die Welt, insbesondere die globalisierte Welt des 21. Jahrhunderts, 57 Zumal, daran haben Vron Ware und Les Back schon 2002 erinnert, »the walls between worlds are more likely than ever to be built on money rather than a spurious notion of ›race‹ or hier­ archies based on skin color« (Ware und Back 2002, 17).

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besser zu verstehen (Albrecht 2019c, 1). Kritik an innereuropäischen Hierarchien und Asymmetrien kann nämlich nicht dabei stehenbleiben, postkoloniale Subjekte und Migranten in Europa in den Blick zu nehmen – so wichtig dieses Thema auch ist – und dabei die Mehrheiten in den europäischen Ländern pauschal dem zu kritisierenden Westen zuzuschlagen. Jenseits solcher reduktionistischen Analysekategorien ist entsprechend auf einem kritischen Instrumentarium zu bestehen, das die Traditionslinien der Auf klärung im besten Sinne fruchtbar macht. Zum Beispiel wäre, ohne Verfehlungen auf griechischer Seite zu verschweigen oder zu beschönigen,58 die zum Teil noch anhaltende pauschale Verunglimpfung eines ganzen Volkes etwa als vermeintliche »Pleite-Griechen« zurückzuweisen (Fromm 2015). Als die SYRIZA-Partei am 25. Januar 2015 die Parlamentswahlen gewann, hatten die Griechen bereits seit fünf Jahren unter dem Diktat der europäischen Austeritätspolitik zu leiden. In dieser Zeit »ist Griechenland laut Eurostat zum Land mit dem höchsten Grad sozialer Ungleichheit in der Europäischen Union geworden« (Tsípras 2015). Bei dem Spardiktat ging es in erster Linie um die Stabilisierung des Finanzsektors, wobei nicht nur Steuergelder zum Einsatz kamen, sondern auch darüber hinaus hauptsächlich diejenigen zur Kasse gebeten wurden, die an der Finanzkrise keine Schuld trugen. Der frühere Investmentbanker Rainer Voss hat, wie anfangs zitiert, auf einige Mechanismen hingewiesen, die zu der Schuldenkrise geführt haben, und ihre Auswirkungen in der täglichen Realität von Ländern des europäischen Südens als »langsames Zerbröseln der gesamten gesellschaftlichen Infrastruktur« beschrieben (Voss 2013). Die zentrale Ursache (nicht nur) für die Misere des europäischen Südens liegt also darin, dass das, was der Soziologe und Sozialpsychologe Harald Welzer den »gesellschaftliche[n] Stoffwechsel« nennt, »heute durch eine Wirtschaft organisiert wird, die an den grundlegenden Voraussetzungen des Lebens nicht interessiert ist« (Welzer 2019, 9). Wenn CSU-Politiker in Deutschland von den »Halbstarken« in der griechischen Regierung sprechen (Mrozek 2015), dann gehört das zu dem Kampf um (Deutungs)Macht, den diejenigen führen, »die an einem Kurswechsel in Europa, an einer Alternative zu Austeritätsdiktat und deutscher Krisenpolitik kein Interesse haben« (Strohschneider 2015, 1). Mit einer »Rhetorik der ›kulturellen Differenzen‹« (Balibar, Mezzadara und Wolf 2017, 357), also mit Diffamierungen wie ›die faulen Südeuropäer‹, wird gleichzeitig davon abgelenkt, dass in Griechenland eine linke Regierung versuchte, sich dem »Dogma des Neoliberalismus« entgegenzustellen (Tsípras 2015), dass Aléxis Tsípras und Jánnis Varoufákis für eine 58 Um nur ein aktuelles Beispiel zu nennen: In dem Bilanzartikel vor der erneuten Parlamentswahl (07.07.2019) schreibt Silke Weber im Wirtschaftsteil der Zeit, dass es der SYRIZA-Regierung ent­ gegen den Versprechungen nicht gelungen sei, den Kampf gegen den Klientelismus zu gewin­ nen (Weber 2019). Ebenso urteilt Niels Kadritzke in den Blättern für deutsche und internationale Politik kurz vor dieser Wahl (Kadritzke 2019, 24).

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»Alternative zum neoliberalen Auf bau Europas« stehen, der bereits seit Maastricht im Gange ist (Balibar, Mezzadara und Wolf 2017, 368). Griechenland gehört, soweit das bislang abzusehen ist, weiterhin mit anderen kleinen Ländern zu den Verlierern in dieser europäischen Machtkonstellation. Es ist jedoch gleichzeitig auch in der beschriebenen Weise ein Postkolonialismus-Verlierer, und auch wenn dieser Aspekt in der gesamten Matrix der Macht nicht schwer ins Gewicht fällt, sollte er meines Erachtens doch nicht unterschätzt werden. Wenn Susanne Zantop zufolge »Kolonialphantasien« eine Stimmungslage erzeugt haben, die dabei half, den realen Kolonialunternehmungen in Deutschland ab 1884 Vorschub zu leisten,59 dann hat die postkoloniale Theoriebildung meiner Ansicht nach umgekehrt ihren Beitrag zu einer Stimmungslage geleistet, in der unter anderem zusammen mit einer generellen Abwertung ›des‹ Westens auch Griechenlands kulturelles Kapital als Wiege der Zivilisation verspielt worden ist. Doch da Zantop den Stellenwert von »Kolonialphantasien« im Kontext der Faktoren, die zum Kolonialismus führten, offenkundig stark überschätzt hat,60 soll hier nicht derselbe Fehler gemacht und behauptet werden, dass das diskursive Paradigma der postkolonialen und verwandten Denkweisen entscheidenden Einf luss hat oder womöglich in direkter Linie zu politischem Handeln führt.61 Griechenlands marginaler Status in der globalisierten Welt hat, wie oben schon betont, ganz sicher viele Ursachen. Wenn das Land jedoch spätestens seit 2010 von den stärkeren europäischen Ländern »nach dem Modell früherer kolonialer Praktiken« wie »ein Protektorat« behandelt wurde (Balibar, Mezzadara und Wolf 2017, 348; Herv. im Original), dann konnte das unter anderem auch deshalb geschehen, weil dafür auf einer mentalen Ebene der Boden bereitet war – und zwar auch und sicherlich nicht zuletzt durch jenes Wissensregime, das westliche Errungenschaften seit der griechischen Antike unter den Generalverdacht ihrer Komplizenschaft mit Imperialismus und Kolonialismus stellt und, wie auch Ri-

59 »In ihrer Gesamtheit schaffen sie [die ›Kolonialphantasien‹] eine kolonialistische Geisteshal­ tung, eine Kolonialmentalität, die geradezu danach ruft, Worte in Taten umzusetzen« (Zantop 1999, 11). »Der Phantasie-Kolonialismus ging dem eigentlichen Kolonialismus voraus; auf Worte folgten Taten. Am Ende holte die Wirklichkeit die Phantasie nur ein« (ebd., 20). 60 Genau hierauf weist auch Russell Berman in seiner Rezension von Zantops Studie hin, näm­ lich dass ein Verlangen nach Kolonien sicher nicht das zentrale Merkmal der Wilhelminischen Ära war, und er zählt entsprechend andere Aspekte auf, die in diesem Sinn »[on] top of a list of such features« gehören würden: »Economic expansion, internal migration, class differences, industrial modernization, changing gender roles, massive emigration, the emergence of a mass culture, the vitality of the classical legacy (from Kant to neo-Kantianism) and so on: we should understand how these features interacted with colonialism, rather than just assume its analytic priority« (Berman 2000, 113). 61 Zu dieser Kritik an Zantops Ansatz vgl. ebenfalls Berman 2000, 113f.

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chard Rorty kritisiert, generell davon ausgeht, dass die westliche Welt »rotten to the core« ist (Rorty 1999, 129). *** Der vorliegende Band geht auf eine internationale und multidisziplinäre Konferenz im Rahmen einer vom DAAD geförderten und auf drei Jahre angelegten Hochschulpartnerschaft der Universität Vechta mit der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen und der Aristoteles Universität Thessaloniki zurück,62 die vom 30. Mai bis 01. Juni 2018 unter dem Titel Texturen von Herrschaf t im Mittelmeerraum in Thessaloniki stattfand. Diese Tagung war an der Schnittstelle von Kultur, Geschichte, Politik und Wirtschaft angesiedelt und nahm vergangene und gegenwärtige Hierarchien und Asymmetrien und ihre Repräsentationen in den Blick – vom antiken Griechenland über das Osmanische Reich und den europäischen Imperialismus und Kolonialismus bis zum gegenwärtigen ökonomischen Imperialismus in der Europäischen Union. Wenn »›Kultur‹ (was immer darunter im Einzelfall zu verstehen ist) als Phänomen quer zu fachwissenschaftlichen Spezialisierungen steht« (Nünning und Nünning 2008, 3), dann war das Rahmenthema der Konferenz ein kulturwissenschaftliches par excellence. Vor dem Hintergrund omnipräsenter Aufrufe zu interdisziplinärer Arbeit, die jedoch selten deren Schwierigkeiten ansprechen (vgl. dagegen Fleuß in diesem Band), hat sich die Konferenz das realistische Ziel gesetzt, disziplinäre Diskurse der Geschichte, Politikwissenschaften, Theater-, Film- und Medienwissenschaft, Germanistik und Komparatistik in Dialog zu bringen und multiperspektivische Betrachtungen von Hierarchien und Asymmetrien im europäischen Süden und im Mittelmeerraum zu generieren. Eine frühere Fassung des Beitrags von Anastasía Antonopoúlou wurde beim ersten Workshop der oben genannten Hochschulpartnerschaft in Vechta am 28. April 2017 vorgetragen. Meine Ideen zu dem Thema »Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer« sind als Impulsvorträge bei Workshops im Rahmen dieser Hochschulpartnerschaft an den Universitäten Athen (07. Juni 2017) und Thessaloniki (10. Oktober 2017) vorgestellt und danach weiterentwickelt worden.

Quellen Böll, Heinrich: Irisches Tagebuch. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1957. Der Banker – Master of the Universe (Deutschland 2013, Regie: Marc Bauder). 62 Vgl. dazu die Website des Projekts: https://www.uni-vechta.de/kulturwissenschaften/lehren­ de/albrecht-monika/daad-hochschulpartnerschaft-griechenland/.

Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer

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Hierarchien, Asymmetrien – und Griechenland als Postkolonialismus-Verlierer

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Europas Süden: Diskurse, Geschichte, (Erinnerungs-)Politik

Hybride Rassen – Kontaktzonen – Multiple Grenzen Der Diskurs über die »Mittelmeerrasse« Sevasti Trubeta, Hochschule Magdeburg-Stendal Die Ansicht, dass die gegenwärtigen Außengrenzen Europas, besonders am Mittelmeer, als Rassengrenzen fungieren, ist in den politischen und wissenschaftlichen Debatten vertreten und überzeugend untermauert worden. Mehrere sozialwissenschaftliche Studien interpretieren die Befestigung europäischer Außengrenzen als eine erneute Grenzziehung entlang von Rassenlinien, die (post)koloniales Erbe in sich birgt. So stellt beispielsweise Nicholas De Genova fest: »targets of these diverse tactics of bordering are overwhelmingly Black and Brown people«, und geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass dies »immediately confronts us with a cruel fact of (post)coloniality« (De Genova 2018a; vgl. De Genova 2018b; Bigo 2015; De Cesari 2019). Diese Annahme bestätigt sich in tragischer Weise bei den aktuellen Ereignissen an den Mittelmeergrenzen und während Gef lüchtete aus Afrika versuchen, das Mittelmeer zu überqueren; durch die zahlreichen Toten und die im Mittelmeer verschollenen Leben, die kaum eine Erwähnung in europäischen Mainstream-Medien finden; die ritualisiert-demütigenden Körperkontrollen bei den Neuankömmlingen aus Afrika durch staatliche Grenzbeamten in Italien oder Malta. Diese Beobachtungen haben mich dazu angeregt, den Begriff »Mittelmeerrasse« (einen anthropologischen Begriff des 19. Jahrhunderts) aufzugreifen und anhand von theoretischen Instrumenten der border studies neu zu überdenken. Um es vorwegzunehmen: in diesem Aufsatz geht es nicht um den Versuch, Kontinuitäten irgendeiner Art herzustellen. Ich habe anderweitig bereits dargelegt, dass die andauernde Wirksamkeit und die Langlebigkeit der Rassenidee nicht in ihrer konzeptuellen Beständigkeit liegt, sondern gerade in der Flexibilität, mit der sie ihre Argumente an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlich-begründeten und irrationalen Aussagen gestaltet (Trubeta 2013, 147). In Anlehnung an das soziologische Konzept von Robert Miles (1989) betrachte ich hier Rasse als einen relationalen Begriff, der seinen Sinngehalt in Signifikationsprozessen des Eigenen und der Alterität (als das Spiegelbild des Eigenen) erlangt. »Ascribing a real or alleged biological characteristic with meaning to define the Other necessarily en­ tails defining Self by the same criterion« (Miles 1989, 75). Miles richtet den Fokus

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auf Prozesse im Rahmen deren biologische Charakteristika sowohl an das Eigene als auch an die Alterität zugeschrieben werden und beschreibt diese Prozesse mit dem Begriff Rassifizierung (racialisation), den er wie folgt versteht: »The concept therefore refers to a process of categorisation, a representational process of de­ fining an Other (usually, but not exclusively) somatically« (ebd.). Die »Mittelmeerrasse« ist ein Begriff des 19. Jahrhunderts, der, wie ich in diesem Aufsatz zeigen möchte, zu einem Topos wurde, in dem europäische Selbstwahrnehmungen und ihre Alterität(en) in Rassenbegriffen stilisiert und verhandelt wurden. Der Begriff entstand und erlangte seine diversen Signifikationen in einer Epoche moderner Geschichte, in der Rasse als ein Modus fungierte, die Welt, die Gesellschaft und die Zivilisation zu denken. Die Rassenidee wurde durch die physische Anthropologie vermittelt; eine einf lussreiche Fachdisziplin, die mit der Kolonialordnung fest verf lochten war und dezidiert Anspruch auf Mitgestaltung der Welt und der Gesellschaft erhob.1 Anthropologische Rassentaxonomien begründeten Ordnungssysteme für die Menschheit und die Gestaltung innergesellschaftlicher Beziehungen (Trubeta 2013; Fabian 2014) und stilisierten die europäische Selbstwahrnehmung und ihre Alterität in anthropologischen Begriffen. Der Alteritätsaspekt ist dem Begriff Mittelmeerrasse inhärent und liegt nicht zuletzt in den diversen europäischen Perzeptionen des Mittelmeers. Umfangreiche historische, sozial- und humanwissenschaftliche Studien setzen sich mit europäischen Wahrnehmungen des Mittelmeers auseinander und richten dabei das Augenmerk auf Interaktion und gegenseitige Beeinf lussung bzw. Bipolaritäten nach der Art: Okzident vs. Orient, Westliche Welt/Europa vs. Afrika. Dabei liegen die Akzente sowohl auf Verf lechtungen zwischen Zivilisationen als auch auf symbolischen, politischen, territorialen, imaginären oder materiellen Grenzen (z.B. Purcell 2000; Timpe 2004; Harris 2005). In ihrem Aufsatz »The Mediterranean as a Borderland« schlägt Linda Darling (2012) vor, das Mittelmeer nicht als eine Grenze (frontier) zu betrachten, die angeblich unvereinbare Zivilisationen trennt, sondern als eine Kontaktzone (borderland), die auf Begegnung, Interaktion und gegenseitige Beeinf lussung deutet. Mit dem Begriff borderland greift Linda Darling ein Konzept auf, das ursprünglich mit Bezug auf die mexikanisch-US-amerikanischen Grenzgebiete geprägt wurde und in allen folgenden, revidierten Versionen vielfältige Interaktionen in Kontaktzonen impliziert (Bannon, 1974; vgl. Chvez 2013; Martínez 1994; McKinsey und Konrad 1989; Alvarez 1995; Agier 2016). Darling verwendet diesen Begriff im Sinne eines methodologisch-theoretischen Instruments. Der Ursprung ihrer Idee, das Mittelmeer als borderland zu betrachten, stellt eine kritische Reaktion auf Samuel 1 Der Begriff Anthropologie wird hier im Sinne der Physischen Anthropologie verwendet. Für eine ausführliche Begriffserklärung siehe Trubeta (2013).

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P. Huntingtons zentrale Idee vom »Kampf der Kulturen« dar: »Lenses such as the borderland turn the spotlight on the high-contact zones, fostering the investigation of interactions and continuities and countering the divisive concept of the clash of civilization« (Darling 2012, 60). Aus demselben Anlass griff auch Étienne Balibar diesen Begriff auf und beschrieb damit Europa als borderland, das heißt, einen Kontinent, der aus überlappenden Regionen konstituiert ist. Balibar versteht diese Regionen als Begegnungsorte und Kontaktzonen von Weltzivilisationen und nennt sie »Euro-Atlantik«, »Euro-Mittelmeer« und »Euro-Asiatisch« (Balibar 1993 und 2009). Aufgrund der Offenheit dieser sich überlappenden Regionen fungiert Europa als ein Kontinent, der kein »Zentrum«, sondern eine »Mitte« oder auch »mehrere Zentren« hat. In Balibars Konzept besteht der Kontinent also aus Peripherien, die wiederum auf Europas periphere Position in der Weltgeographie hinweisen. Die Kernidee einer solchen Wahrnehmung liegt in der politischen Intention, einen Gegendiskurs zur vermeintlich homogenen und reinen europäischen Zivilisation zu entwickeln, die aus einem Zentrum generiert wird. In diesem Sinne setzt das Konzept der Kontaktzonen bei Interaktionsdynamiken an und stellt die Fixierung von Grenzen als Trennlinien in Frage. Gemeint sind hierbei nicht (nur) staatliche oder territoriale Grenzen, sondern jede Art von Trennlinien, die Ausschließung verursachen oder/und legitimieren. Der von Stef Jansen eingeführte Begriff border-as-line ist eine Metapher für den negativ konnotierten »Drang« der euroamerikanischen Moderne nach Klassifizierung, Verschließen und Ausgrenzung (Jansen 2019, 84f.). Im Konzept der Kontaktzonen und der sich überlappenden Gebiete werden zwar Grenzen als politische Konzepte angefochten, dennoch bleiben reale Grenzziehungen nicht unbeachtet. Balibar selbst und zahlreiche Grenzforscher*innen haben sich mit politischen, staatlichen und anderen Formen der Grenzziehung auseinandergesetzt und auf die Polysemie und besonders »Omnipräsenz« der Grenzen verwiesen (Balibar 2002, 2004; vgl. Sohn 2015; Rumford 2012). Mit dem Begriff »Mittelmeerrasse« rückt ein klassisches Beispiel von Grenzziehungen durch Klassifizierung von Großgruppen als Rassen in den Fokus meines Aufsatzes. Mein Ausgangsargument stützt sich auf eine diesem Begriff innewohnende Ambivalenz: Die Entstehung des Begriffs Mittelmeerrasse im 19. Jahrhundert ist dem anthropologischen Diskurs der hybriden Rassen geschuldet und somit einer Idee, die über das Potential verfügt, die Leitidee einer homogenen rein-europäischen Zivilisation zu hinterfragen und zu destabilisieren. Auch die Annahme der Anthropologie und der Humanwissenschaften, dass die europäische Bevölkerung hybrid sei und ursprünglich aus asiatischen und afrikanischen Urstämmen konstituiert wurde, dürfte der Wahrnehmung Europas als einer Weltperipherie und der europäischen Regionen als Kontaktzonen naheliegen. Hingegen wird bei einer Rekonstruktion des Rassendiskurses deutlich, dass dieser Hybriditätsdiskurs we-

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der die Idee einer homogenen und rein-europäischen Zivilisation auf hebt, noch die der europäischen Regionen als offene Begegnungsorte von Weltzivilisationen unterstützt. Ich werde zeigen, dass diese Rassendiskurse von der Suche nach den »reinen Hybriden« geprägt war. Anthropologische Rassenklassifikationssysteme legten die Verteilungen von hybriden Rassentypen im europäischen Territorium nahe und entwarfen dadurch kognitive Karten Europas, die durch multiple Trennlinien zwischen Rassenhybriden gekennzeichnet waren. Mein Argument hierbei lautet, dass Europas »Zentrum« im Zuge dieser Entwicklungen nicht aus den Großnarrativen über die europäische Zivilisation verschwindet, sondern zum Gegenstand von Aushandlung wird. Gerade in diesem Kontext der Aushandlung erlangt die Mittelmeerrasse ihre Signifikationen, zumal in Korrespondenz mit zwei Herausforderungen: der behaupteten Superiorität der nordischen Rasse und ihrer gegenwärtigen Vertreter, der Deutschen, und der dem afrikanischen Kontinent zugeschriebenen Inferiorität, in Anbetracht dessen, dass die Mittelmeerrasse auf Berührungspunkte zwischen Europa und Afrika verweist. Der Begriff Mittelmeerrasse ist zwar im 19. Jahrhundert entstanden, jedoch auch danach immer wieder aufgegriffen worden. Insbesondere nach 1933 wurde er als Gegenentwurf zu den Ariern und der nordischen Rasse von den Nationalsozialisten in ihre Rassendiskurse aufgenommen. In diesem Aufsatz befasse ich mich jedoch ausschließlich mit den Dynamiken, die im 19. Jahrhundert und insbesondere um die Wende zum 20. Jahrhundert die epistemologischen Konnotationen des Begriffs Mittelmeerrasse mitgestaltet haben.

Hybride Rassen – multiple Grenzziehungen Lange bevor Hybridität ihre positiven Konnotationen in der Postkolonialen Theorie erlangte, stand sie im Mittelpunkt von Rassentheorien und begründete anthropologische Rassenklassifikationssysteme (Trubeta 2006). Robert Young zufolge war »Hybridität« das wissenschaftliche Schlagwort des 19. Jahrhunderts (Young 2002, 6). Sie wurde auch zum Inbegriff eines epistemologischen Paradigmenwechselns in der anthropologischen Wissenschaft, der die Segmentierung der europäischen Bevölkerung in Teilrassen und die imaginierte Aufteilung Europas in Rassenzonen nach sich zog. In seiner einf lussreichen Studie über die »Rassen Europas« schrieb der Soziologe William Zebina Ripley (1867-1941), es sei ein häretischer Gedanke, dass es keine einheitlich weiße europäische Rasse gäbe, dennoch sei dies nichts als die nackte Wahrheit (Ripley 1899, 103). Was Ripley hier andeutet, ist die Revision eines weitverbreiteten und daher »orthodoxen« Rassendiskurses, demzufolge Europa von

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einer einzigen Rasse, dem »Homo Europaeus«, bewohnt werde.2 Allerdings war Ripley nicht der Einzige in seiner Zeit, der die Existenz einer homogenen europäischen weißen Rasse hinterfragte. Ende des 19. Jahrhunderts bestand bereits die Schule des französischen Anthropologen Paul Pierre Broca (1824-1880), der als Vorreiter der Theorie der Vielfalt und Hybridität der menschlichen Gattung in die Wissenschaftsgeschichte eingegangen ist (Ashok 2017). Als Begründer der Société d’Anthropologie de Paris (1859) hat Broca den Polygenetikern und Verfechtern der Ansicht, dass die europäische Bevölkerung nicht aus einer Primärrasse, sondern vielmehr aus verschiedenen Sekundärrassen und hybriden Rassentypen besteht, ein institutionelles Dach geboten. Unter ihnen befanden sich führende Anthropologen wie Paul Topinard (1830-1911) und Joseph Deniker (1852-1918). Topinards einf lussreiche Theorie von den »Rassentypen« und »Rassenvariationen« bereicherte Brocas Hybriditätsansatz.3 Dieser epistemologische Paradigmenwechsel bewirkte die Segmentierung des »Homo Europeaus« in Teil-Species, Rassentypen und -variationen, deren Abstammung außerhalb des europäischen Kontinents, nach Afrika und Asien, verlegt wurde. Auf den ersten Blick scheint ein solcher Hybriditätsansatz die Idee einer homogenen, »rein-europäischen« Zivilisation in Frage zu stellen und überdies die Wahrnehmung zu unterstützen, europäische Regionen seien Welteinf lüssen gegenüber offen: Zum einen weil Hybridität a priori Mischung, Veränderung und Mobilität bedeutet, zum anderen weil dieser anthropologische Hybriditätsansatz afrikanischen und asiatischen Einf lüssen eine konstitutive Bedeutung für die europäische Bevölkerung zuschrieb. Dennoch wirkte dieser Hybriditätsansatz im anthropologischen Rassendiskurs des 19. Jahrhunderts als ein Medium für Grenzziehungen, denn das Augenmerk der Rassentheorien richtete sich gerade auf die Abgrenzung zwischen den verschiedenen Rassentypen bzw. Rassenvariationen. Dazu dienten anthropologische Rassentaxonomien, die die Rassenvariationen und -typen in mathematisch begründeten Klassifikationsschemata fixierten und nach ihrer Häufung in räumlich abgegrenzten Regionen suchten. Ricardo Roque merkt an, dass in einer solchen wissenschaftlichen Interpretation von Hybridität Rasse zum Gipfelpunkt des Essentialismus wird: »the idea of race in scientific reasoning is the apogee of classificatory essentialism, the very opposite of movement and change« (Roque 2014, 608).

2 Diese Idee geht auf Carl Linné (1707-1778) und sein vier-Rassen-System zurück. In seiner Studie Systema Naturae (1735) führte Linné ein Klassifikationssystem ein, in dem »Homo Europaeus«, »Homo Asiaticus Luridus«, »Homo Africanus« und »Homo Americanus Rufus« als Unterarten des »Homo Sapiens« definiert wurden (vgl. Lipphardt und Patel 2007). 3 In seiner Studie Anthropology verweist Topinard auf die Ursprünge dieser Idee und auf frühere Arbeiten zu diesem Thema (Topinard 1878, 198f.; siehe noch Topinard 1950).

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Rassentaxonomien basierten auf statistischen Messverfahren, die menschliche Merkmale quantifizierten und die Messergebnisse als wissenschaftlich fundierte »hard data« behandelten. Aus der Perspektive heutiger soziologischer und geschichtswissenschaftlicher Studien ist der Einbezug der Statistik in die Erforschung des Menschen und seiner sozialen, natürlichen und biologischen Lebensbedingungen eine Folge der Faszination von Zahlen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl die Anthropologie als auch die Humanwissenschaften erfasste (Porter 2003; Trubeta 2013; Desrosières 2005, insb. 271; Etzemüller 2015; Gould 1983). Die Schädelform galt als das wichtigste Identifikationsmerkmal eines Rassentypus und wurde zur Grundlage für die Aufteilung der europäischen Bevölkerung in langköpfige (Dolichokephalie) und kurzköpfige (Brachykephalie) Rassentypen.4 Das zweitwichtigste Merkmal war die Haut-, Augen- und Haarfarbe und danach die Körperstatur sowie die Beschaffenheit der Haare. Es gab allerdings keine Einigkeit unter Anthropologen im Hinblick auf Vermessungsmethoden, Bestimmungskriterien für einen Rassentypus, Unterteilung eines Rassentypus, Zahl der Rassetypen und ihre Identifikationsmerkmale, und vieles mehr.5 Realität war dennoch die Erstellung von Rassenklassifikationsmodellen, die durch Häufigkeitsverteilung von Schädelindex, Haar- und Augenfarbe sowie Körperstatur kognitive Rassenkarten Europas zeichneten. Rassentaxonomien beinhalteten mindestens drei Primärrassen,6 die die Grundlage für eine grobe Aufteilung Europas in Rassenzonen darstellten (vgl. McMahon 2016): Die teutonische oder nordische Rasse sei durch Langköpfigkeit (Dolichokephalie), große Statur, helle Haut-, Haar- und Augenfarbe charakterisiert. Diese wird meistens in Skandinavien und in den deutschen Gebieten verortet (bei einigen Anthropologen auch an der Ostküste von Schottland und Nord- England und in anderen Regionen). 4 Zur führenden Rolle des schwedischen Anthropologen Anders Adolf Retzius (1796-1860) bei der Einführung der Differenzierung der europäischen Bevölkerung nach »Langköpfigkeit bzw. Kurz­ köpfigkeit« siehe Kyllingstad (2014, 1). 5 Siehe eine ausführliche Darstellung dieser Auseinandersetzungen bei Stocking (1982, 181) und Desrosières (2005). 6 Zu den einflussreichsten Rassentaxonomien der zweiten Hälfte des 19. Jh.s zählen die Taxo­ nomien von Deniker und Topinard. Deniker unterteilte die europäische Bevölkerung in sechs Primärrassen und mindestens vier Sekundärrassen, die verschiedene europäische Regionen bewohnten. Im Unterschied zu Denikers Modell umfasste Topinards Rassentaxonomie drei Primärrassen: die Teutonische oder Nordische Rasse; die Alpenrasse; und die Mittelmeerrasse. Denikers Modell erschien in einer Monographie in 1900 und schon davor in Artikeln im Mittei­ lungsblatt der Pariser Anthropologischen Gesellschaft: Deniker (1897, 1898). In 1898 rezensierte Ripley (1899) sein Model. In dieser Rezension meinte Ripleys, Denikers Unterteilung in mehreren Rassen stellt die Einheit der menschlichen Gattung in Frage.

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Die Alpenrasse (auch adriatische oder dinarische Rasse genannt) sei kurzköpfig (brachykephal), mittelgroß und durch mittelhelle Haare, Hautfarbe und Augen gekennzeichnet. Ihre Vertreter werden vorwiegend in Mitteleuropa, in der Schweiz, Tirol und den Niederlanden lokalisiert. Die Mittelmeerrasse wird, genauso wie die teutonische oder nordische Rasse, als langköpfig (dolichokephal) identifiziert, obgleich ihre Vertreter von mittlerer bis kleiner Statur sind und dunklere Haare, Augen- und Hautfarbe haben. Lokalisiert wird diese grundsätzlich im südlichen Italien, in Spanien sowie in (Nord-)Afrika. In Anbetracht der »gemischten Rassentypen«, die anthropologische Vermessungen in allen europäischen Regionen feststellten, verstanden sich diese »Primärrassentypen« als idealtypisch. Entsprechend unterteilten Anthropologen die Primärrassentypen in Sekundärrassentypen und Variationen, die Charakteristika aus verschiedenen Rassentypen (und Regionen) kombinierten. So bezeichnet beispielsweise Deniker mit dem Begriff »sub-nordisch« einen »blonden«, aber »mittelköpfigen« anthropologischen Typus, der Norddeutschland sowie das Baltikum, Finnland und die norwegische Westküste bewohnt. Er unterteilt auch die Mittelmeerrase in »Atlanto-Mittelmeer«- und »Ibero-Insular«-Rassentypen. Diese ließen sich auf der Iberischen Halbinsel sowie den Inseln des westlichen Mittelmeers (z.T. auch in Westfrankreich) nachweisen. Überdies ermittelten diverse anthropologische Vermessungen kurzköpfige und langköpfige Individuen in ganz Europa; dasselbe galt auch für Individuen mit hellen bzw. dunklen Augen und heller bzw. dunkler Hautfarbe sowie mittlerer, kleiner oder hoher Statur. Im Endeffekt geschah, was Stocking (1982, 57) stichhaltig auf den Punkt brachte: je präziser und umfassender die Vermessungen der Hominiden wurde, desto fraglicher erschien die Realität der Rasse, die die Anthropologie mit objektiven Methoden zu definieren suchte. Aber diese Ungereimtheiten in den verschiedenen Rassenklassifikationsmodellen (oder gar deren Scheitern) stellten die Idee der Rasse als solche nicht in Frage. Schließlich sind es nicht die phänotypischen Merkmale, die eine Rasse determinieren, sondern die behauptete gemeinsame Abstammung, die Blutsverwandtschaft, die der Rassenidee – jeder Rassenidee – zugrunde liegt (Stocking 1982, 165). Die Abstammung bleibt in Genealogien verborgen, zumeist unsichtbar, und bewahrt die Eigentümlichkeit einer Großgruppe, selbst wenn die messbaren, äußeren anthropologischen Merkmale die Konsistenz (und gar die Realität) eines Rassentypus nicht mehr erkennen lassen. Mit der Grundidee der Abstammung waren Verfechter der Rassenhybridität stets auf der Suche nach Genealogien, die das ursprüngliche Rassenelement in die Gegenwart überliefern. Im Hybriditätsdiskurs verkörperten die hybriden Rassentypen im Grunde die ursprünglichen »reinen Rassen«, aus deren Mischung modernen Bevölkerungsgruppen hervorgingen (vgl. Stocking 1982, 56). Robert Young erklärt dieses Paradox dadurch, dass sich im Hybriditätsdiskurs die Angst vor der Rassenmischung verbarg: »the

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imaginative phantasm of racial mixing which lay behind it« (Young 2002, 142).7 Und diese Angst betraf die Gegenwart. Michael Hardt und Antonio Negri (2000, 128) assoziieren die Prominenz der Hybriditätsidee mit dem Kolonialismus – und zwar deshalb, weil die »Mulatten« in der kolonialen Realität nicht zu ignorieren waren. Der Historiker Jon Røyne Kyllingstad wiederum führt das wachsende Interesse für Rassenklassifikation in Europa auf den Aufschwung von Nationalismen in den 1830er und 1840er Jahren und die Gründung von multiethnischen Staaten nach den Napoleonischen Kriegen zurück (Kyllingstad 2014, 3). Als Produkt dieser Epoche trägt der Begriff der Mittelmeerrasse die Aporien, Paradoxien, Inkonsistenzen und epistemologischen Verschiebungen des Hybriditätsdiskurses in sich. Im Folgenden werde ich aufzeigen, dass die Mittelmeerrasse ihre spezifischen Signifikationen im Prozess der Bewältigung von zwei Herausforderungen erlangte: der behaupteten Superiorität der nordischen Rasse und der Deutschen als deren gegenwärtigen Vertretern und der behaupteten Inferiorität des afrikanischen Kontinents, der eine direkte geographische Nachbarschaft zu Europa hatte und dem eine Affinität zur Mittelmeerrasse zugeschrieben wurde. Diese Frage diskutiere ich anhand der Konzepte zweier wissenschaftlicher Akteure, deren Namen mit der Popularität des Begriffs Mittelmeerrasse assoziiert sind: dem des amerikanischen Soziologen William Z. Ripley (1867-1941) und dem des italienischen Physischen Anthropologen Giuseppe Sergi (1841-1936). Aus heutiger Perspektive (McMahon 2016, 208, 394) war die Wirkung von Ripley und Sergi für eine Wende in den Rassendiskursen maßgebend, die sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts abzeichnete, als Wissenschaftler neue Narrative konzipierten und die germanisch-nordische Rassenidee hinterfragten.

7 Vgl. dazu die wegweisenden Publikationen von Stocking (1982) und Stepan (1982).

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Ripleys Mittelmeerrasse: Gegenstück der nordischen Rasse und Bindeglied zu Afrika »Beyond the Pyrenees begins Africa.« Once that natural barrier is crossed, the Mediterra­ nean racial type in all its purity confronts us. […] The Iberian populations, thus isolated from the rest of Europe, are allied in all important anthropological respects with the peoples in­ habiting Africa north of the Sahara from the Red Sea to the Atlantic (Ripley 1899, 272-273). Mit seiner Monographie über die Rassen Europas lieferte William Z. Ripley (1899) um die Jahrhundertwende ein Nachschlagewerk zur Rassenfrage in Europa. Obwohl er selbst keine anthropologischen Vermessungen durchgeführt hatte, zeigt seine Studie, dass er über die europaweiten anthropologischen Forschungen gut informiert war. Sein Werk ist bis heute ein Referenzwerk für alle, die sich mit den wissenschaftlichen Rassendiskursen des 19. Jahrhunderts auseinandersetzen.8 Ripleys Grundannahmen verraten, dass er dem epistemologischen Trend seiner Zeit folgt: Er geht davon aus, dass die europäischen Rassen ursprünglich aus der Mischung zwischen asiatischen und afrikanischen (»negro«) Primärtypen entstanden (Ripley 1899, 457). Nichtsdestotrotz sucht er nach einem ursprünglichen (»primitive«) Element, das sich in dem Rassenamalgam jeder (hybriden) Rasse – so auch der Mittelmeerrasse – in reiner Form auf bewahrt habe. In Übereinstimmung mit Topinards Rassenklassifikationsmodell betrachtet er die Mittelmeerrasse als eine der drei europäischen Primärrassentypen, die wiederum in Variationen unterteilt werden. Im europäischen Territorium lokalisiert Ripley die Vertreter der Mittelmeerrasse überwiegend südlich der Pyrenäen, entlang der Südküste Frankreichs, in Süditalien, Sizilien und Sardinien (Ripley 1899, 127). Aber die »reine Mittelmeerrasse« sei in dem Begegnungsort von Südeuropa und Afrika angesiedelt: jenseits der Pyrenäen – da, wo »Afrika beginnt«. In der Konstruktion einer Verbindung der Mittelmeerrasse nach Afrika brachte Ripley das afrikanische Element mit den vorherrschenden europäischen Selbstwahrnehmungsmustern in Einklang und verfolgte dabei eine Doppelstrategie: zum einen wurden die »inferioren afrikanischen Einf lüsse« ausgeschieden, zum anderen wurde der Mittelmeerrasse Verwandtschaft mit den Hamiten zugeschrieben, einem Urvolk, deren Nachfolger die gegenwärtigen afrikanischen 8 Eine besondere Perspektive auf Ripleys Werk entwickelt die Geographin Heather Winlow (2006), die in Ripleys Werk die Übertragung des US-amerikanischen Rassendiskurses und der Ängste der angelsächsischen Eliten angesichts der Zuwanderung aus Ost-und Südosteuropa sieht.

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Populationen seien. Im Hinblick auf die Hamiten lehnt sich Ripley an zeitgenössische Diskurse über die Urvölker an, aus denen die modernen europäischen Völker hervorgegangen sein sollen. Neben den Indogermanen, Ariern und Semiten gehörten auch die Hamiten zu den Völkern, über welche sich Anthropologen und Humanwissenschaftler des späten 19. Jahrhunderts stritten. Uneinigkeit herrschte über die Herkunft dieser Urvölker sowie über die Frage, ob es sich um Sprachgruppen, Ethnien oder Rassen handelte (Young 2002, 61, 6; Olender 1995).9 In einer neueren Abhandlung fasst Peter Rohrbacher (2017) diese Kontroversen über den afrikanischen bzw. asiatischen Ursprung der Hamiten zusammen. Rohbacher zufolge hatte der Wiener Orientalist Friedrich Müller (1834-1889) mit seiner »Hamitenhypothese« einen erheblichen Einf luss auf Wissenschaftler – Anthropologen einbegriffen – der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und trug dazu bei, dass aus dem in der Bibel erwähnten Volk »Ham« bzw. aus der hamitischen Sprachfamilie der Humanwissenschaften eine Rasse wurde. Müller verortete den Ursprung der hamitischen Völker im Kaukasusgebiet: dort, wo Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) zufolge auch die Urheimat der Vorfahren der heutigen Europäer liegt, der »kaukasischen Rasse«. Als Bestandteil der »kaukasischen Rasse« wurden die Hamiten zu rassisch Gleichartigen der Arier und Semiten. Was aber wichtiger ist: sie fanden Eingang in die moderne europäische Selbstwahrnehmung.10 Ungeachtet ihres afrikanischen oder asiatischen Ursprungs wurden die Hamiten als »Gegenkonstrukt zu den Ariern« dargestellt (Rohrbacher 2017, 249), und Müller teilte ihnen den Mittelmeerraum »von Ägypten bis zu den kanarischen Inseln« zu, der üblicherweise den Semiten zugeschrieben wurde (Rohrbacher 2017, 250). Ripley gehört zu denjenigen (und vielleicht den wenigen), die von Afrika als der Urheimat der Hamiten ausgingen. (Seine Ansicht entlieh er Sergis Mittelmeerrassentheorie.) Aber nicht allen hamitischen Völkern Afrikas wurde eine Rassenverwandtschaft mit Europa zugestanden. In Anlehnung an Sergis Rassentaxonomien unterteilt Ripley (1899, 276; vgl. Sergi 1897) die moderne afrikanische Population »hamitischer Sprache« zunächst in zwei Bereiche: den »orientalischen« (Oriental) und den »westlichen« (Western) Zweig. Ersterer umfasst die gesamte Bevölkerung Nordostafrikas, vom Roten Meer über den Sudan, Abessinien, 9 Ungeachtet der unterschiedlichen Positionen trugen diese Debatten insbesondere im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dazu bei, dass Sprachgenealogien auf Rassengenealogien übertra­ gen und »Sprachfamilien« in »Rassengruppen« übersetzt wurden. Robert Young rekonstruiert diese »Übersetzung« anhand eines Eintrags in das Oxford English Dictionary: »An OED entry from 1890 makes the link between the linguistic and racial explicit: The Aryan languages present such indications of hybridity as would correspond with […] ›racial intermixture« (Young 2002, 6); siehe dazu repräsentativ die Studie Die Arier (1878) des Geographen Theodor Friedrich Wilhelm Pösche (1825-1899). 10 Müller hat die »kaukasische Rasse« in »Mittelländer« umbenannt.

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das Niltal und die Sahara bis hin nach Tunis. Der »westliche« Zweig wiederum setzt sich aus Gruppen zusammen, die Ripley zufolge als Einzige »heute« in enger Beziehung zu Europa stehen. Obwohl er beide Gruppen als Einheit im Sinne ihrer physischen Charakteristika betrachtet, unternimmt er eine weitere Unterteilung gemäß der Lebensweise und unterscheidet weiterhin zwischen Nomaden (zu denen er auch die Araber rechnet) und Sesshaften. Eine Zugehörigkeit zur Mittelmeerrasse schreibt Ripley nur letzterer Kategorie zu, also jener sesshaften Gruppen, die im gesamten Nordwesten unter dem »Gattungsnamen Berber« zusammengefasst werden (Ripley 1899, 276). Insbesondere in den Berbern Marokkos will Ripley eine ausgesprochen europäische Erscheinung erkennen. Trotzt der Mischungen und der Rassenvariationen sei die ganze Gruppe durch Homogenität und Rassenreinheit gekennzeichnet (ebd., 278). Das Ergebnis der Mischungen manifestiert sich in der Farbe der brünetten Mittelmeerrasse, die in Europa ebenso vorkommt wie in Afrika: »The entire population of Africa and Europe north of the Sahara and south of the Alps and Pyrenees is overwhelmingly of a pure brunet type« (ebd., 278). Alle Rassentaxonomien beschreiben die Mittelmeerrasse als einen brünetten und langköpfigen (dolichokephalen) Rassentyp. Die Schädelform verweist aber auf anthropologische Affinität der Mittelmeerrasse sowohl mit der afrikanischen Bevölkerung als auch mit der teutonischen Rasse. In Ripleys Narrativ bezeugt die Schädelform zunächst das Autochthone der Mittelmeerrasse im Mittelmeerraum bzw. in Nordafrika und Südeuropa. Denn wenn die früheste Bevölkerung Europas langköpfig war, wie Anthropologen zu Ripleys Zeit glaubten, dann gehört die langköpfige Mittelmeerrasse zu den ursprünglichen Bevölkerungsgruppen Europas (Ripley 461, 463 und passim). Es ist bemerkenswert, mit welcher Flexibilität anthropologische »hard data« (nicht nur produziert, sondern auch) eingesetzt werden, um Affinität bzw. Differenzierung zwischen Großgruppen zu untermauern. Ripley zieht noch eine weitere Grenze zwischen der Mittelmeerrasse und dem für inferior gehaltenen Afrika, indem er behauptet, dass die Dolichokephalie allein nichts über das Zivilisationspotential einer anthropologischen Gruppe aussagen kann. Denn seiner Ansicht nach gibt es breitköpfige Völker auf der Erde, die dem Stand ihrer Zivilisation nach einigen der langköpfigen Völker überlegen seien, insbesondere den Australiern und den afrikanischen »negroes« (ebd., 40). Die Dolichokephalie verweist Ripley zufolge aber auch auf eine anthropologische Affinität der Mittelmeerrasse mit der teutonischen Rasse: ihre Schädelform sei fast identisch (ebd., 127). Er folgert daraus, dass die teutonische Rasse mit großer Wahrscheinlichkeit eine Variation des ursprünglichen langköpfigen Rassentyps sei und mit der Mittelmeerrasse einen gemeinsamen Ursprung auf dem afrikanischen Kontinent teilt. Aber die heutige teutonische Rasse, nämlich die nordisch-germanischen Rasse, käme durch das Hineinwirken in andere Rassentypen zustande, d.h. durch die Überlagerung der Alpinen Rasse und das Eintau-

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chen in den Mittelmeerrassentyp (ebd., 475). Die Idee der germanisch-nordischen Rasse wird in Ripleys Texten insofern zur Disposition gestellt, als ihre gegenwärtige Homogenität sowie diachrone Überlegenheit hinterfragt werden. Ihm zufolge war der Norden Europas in prähistorischer Zeit durch kulturelle Rückständigkeit im Vergleich zum übrigen Europa gekennzeichnet, bis die kulturellen Einf lüsse aus dem Süden zu seiner Kultivierung beitrugen (ebd., 507). Die Hellhaarigkeit verweist auf Ähnlichkeiten mit der baltischen Bevölkerung und entwickelte sich aufgrund der natürlichen Umgebung in der räumlichen Isolation geschlossener Gemeinschaften in Skandinavien (ebd., 467). Es ist also weniger Homogenität als die Differenz zwischen dem Norden und dem Süden Deutschlands, die die gegenwärtige deutsche Bevölkerung kennzeichnen: es sind auch nicht nur Differenzen in der Pigmentierung, sondern generell radikale ethnischen Differenzen zwischen dem Norden und Süden (Ripley 1897-1898, 56), die sogar auf die »Slavisierung« (Slavonization) Deutschlands hindeuten (ebd., 68).

Giuseppe Sergis Mittelmeerrasse: Einheit, Reinheit und keine Hybridität The basin of the Mediterranean is not mere­ ly European; Asia and Africa also form part of it, and it may be said that its waters formed a point of contact for three-quarters of the an­ cient world (Sergi, 1901, 30) Um die Wende zum 20. Jahrhundert widmete Giuseppe Sergi (1841-1936) der Mittelmeerrasse eine Monographie, die viel Beachtung fand. Sein Buch wurde zwei Jahre nach Erscheinen der ersten, italienischen Auf lage (1895) ins Deutsche übersetzt (1897) und bald danach erschien eine überarbeitete englische Fassung (1901). Während die Mittelmeerrasse in Ripleys Theorie autochthon in Europa und Afrika war, bezeugte sie in Sergis Rassennarrativ die Einheit des Mittelmeerraums und vereinigte auch alle biologischen und zivilisatorischen Elemente, die einer überlegenen Rasse zugrunde liegen: sie sei die eigentliche Abstammungsquelle der europäischen Bevölkerung und auch Wiege der klassischen europäischen Zivilisationen – genauer gesagt, der lateinischen und hellenischen, die Sergi gegenüber der indoeuropäischen Zivilisation für überlegen hielt. Er betrachtete die Mittelmeerrasse als eine einheitliche und homogene Rasse schrieb ihr eine Rassenkategorie zu, die er selbst einführte: der »euroafrikanischen Gattung«, die ursprünglich in Afrika beheimatet war und aus drei Zweigen bestand: aus einem spezifisch afrikanischen Zweig, der Afrika nie verlassen hat; aus der Mittelmeerrasse, die sich weit ausbreitete und das Mittelmeerbecken besetzte; und aus der

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nordischen Rasse, die im Zuge der Völkerwanderung den Norden Europas erreichte (Sergi 1901, vi). Diese drei Zweige oder Varianten der »euroafrikanischen Gattung« besetzten die beiden Kontinente Afrika und Europa, und haben sie immer noch in Besitz, meinte Sergi (Sergi 1901, vi); in ihrer Einheit sind diese Zweige Sergi zufolge der anthropologische Beweis für die Einheit der Kontinente, die sich »im Mittelmeer baden« und »es umarmt«: Bathed by the waters of the Mediterranean, Europe is separated from the two gre­ at continents with which it forms the basin, on the east by the Hellespont, and on the west by the Straits of Gibraltar; but these waters are no obstacles to the pro­ gress of migration, nor are the more ample waters of the whole Mediterranean, since the innumerable islands scattered over it serve as bridges or stations, and the peninsulas stretch out their arms towards Africa as though to welcome it (Sergi 1901, 180). Allerdings war nicht der gesamte afrikanische Kontinent willkommen. Ähnlich wie seine Zeitgenossen (Ripley miteinbegriffen) sah Sergi sich mit der Herausforderung konfrontiert, den europäischen Teil der Mittelmeerrasse und den für inferior gehaltenen afrikanischen auseinanderzuhalten. In seiner Antwort auf diese Herausforderung finden sich einige Ungereimtheiten: Der schwarz-afrikanische Zweig der »euroafrikanischen Gattung« könne, so Sergi, Europa nicht erreichen, da er nicht mobil sei. Für diese Gruppe sei das Mittelmeer eine Hürde, eine Grenze, die sie nie überquert hat, daher blieb sie in Afrika zurück – jenseits des Mittelmeerraums. Die Mittelmeerrasse habe auch keine gemeinsame Hautfarbe mit diesen Afrikanern, denn sie sei eine genuin braune Variante und »morphologically the finest brunet race which has appeared in Europe, is derived neither from the black nor white peoples, but constitutes an autonomous stock in the human family« (Sergi 1901, 34). Diese eigentümliche Farbe schrieb Sergi als Beweis ihrer Zugehörigkeit zur Mittelmeerrasse auch den Hamiten zu. Während Schwarzafrika als »absolute Differenz« nach wie vor Europas Gegenteil verkörpert (Hardt und Negri 2000, 127), rückt Nordafrika in den Fokus von Sergis Versuchen, die Zugehörigkeit der Hamiten zu begründen. In seinem Rassenklassifikationsmodell waren die Hamiten in Afrika heimisch und teilten denselben Ursprung mit den Ägyptern und den Babyloniern (Sergi 1901, 25). Im Gegensatz zu anderen Rassentaxonomien erlangte die Mittelmeerrasse in Sergis Klassifikationssystem den Stellenwert eines Rassentypus, der nicht durch Hybridisierung und Mischung mit anderen Rassentypen entstand. Der geläufigen Aufteilung der Mittelmeerasse in Unterrassen oder Sekundärrassen (z.B. die Atlanto-Mediterrane Variante) entgegen, schreibt Sergi der Mittelmeerrasse anthropologische Einheit und Stabilität zu. Und ganz im Geist seines zeitgenössischen Irredentismus stellt er die Einheit der italienischen Bevölkerung her, indem er der

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Gesamtbevölkerung Italiens eine einheitliche »euro-afrikanische« Abstammung zuschreibt. Mit dieser Ansicht wandte er sich gegen Anthropologen, die Rassenunterschiede zwischen dem Süden und dem Norden Italiens oder indoeuropäische bzw. arische Rasseneinf lüsse in Italien sehen wollten.11 Historiker*innen und Sozialwissenschaftler*innen gehen davon aus, dass das Konzept der Mittelmeerrasse – so wie der britische Arianismus den Imperialismus in Indien unterstützte – auch im Gewand einer rassischen »Wiedervereinigung« Italiens Imperialismus in Afrika und auf dem Balkan legitimierte (McMahon 2016: 209; vgl. Quine 2013: 137; De Donno 2010). Im Sergis euroafrikanischem Rassenmodell stellt das Mittelmeer einen einheitlichen Raum dar, den bereits die Ahnen der Mittelmeerrasse in Besitz genommen hatten. Bestandteile dieses Raums sind Kleinasien, Syrien, Ägypten, Libyen, Nordafrika, Griechenland, Italien und die Iberische Halbinsel (Sergi 1901, 32). Dennoch blieb Sergi zufolge die »Mittelmeerfamilie« nicht auf das Mittelmeerbecken beschränkt, sondern breitete sich in alle Himmelsrichtungen aus: »towards the west, the north, and the east, invading the Canary Islands, Western and Central Europe, Great Britain, France, Switzerland, and Southern Russia« (ebd., 32). Nichtsdestotrotz erlangte der Mittelmeerraum seine Eigenständigkeit, behielt sie bei und wurde auch zum Zentrum einer eigenständigen Zivilisation. Dieses Zentrum verortete Sergi weder in Asien, noch in Afrika oder in Europa, sondern in dem breiteren Mediterranen Raum: »it is not Asia nor Africa nor Europe which has become the centre of civilisation and of dispersion, it is the whole basin of the Mediterranean« (ebd.). Das Konzept der Mittelmeerrasse versucht die Idee des Mittelmeers als diachrones Zentrum europäischer Zivilisation durch wissenschaftliche und anthropologische Argumente zu untermauern. Diesem Konzept zufolge war das Mittelmeer der ursprüngliche Abstammungsort der gesamten europäischen Bevölkerung und bleibt auch für immer deren Heimat. Es ist nicht ein europäisches Zivilisationszentrum unter anderen, sondern das einzige Zentrum europäischer Zivilisation, und zwar der klassischen, denn die Indogermanen haben diesem Konzept zufolge keine Zivilisation generieren können. Wie bereits erwähnt, hielt Sergi die am Mittelmeer entwickelten klassischen europäischen Zivilisationen gegenüber den indoeuropäischen Zivilisationen für überlegen. Entsprechend stellte die Dekonstruktion der in seiner Zeit von anderen angenommenen Überlegenheit der indoeuropäischen Zivilisation eine weitere Herausforderung für sein Rassenmodell dar – und angesichts der oriental renaissance (Schwab 1984), des steigernden Interesses Europas am Orient, wahrscheinlich eine größere Herausforderung als Afrika. Wie De Donno gezeigt hat (2010, 11), bewirkte die Konstruk11 Siehe De Donno (2010, 12) über den Ursprung von Sergis Mittelmeeridee bei der Wiedergeburt des »Pythagoreischen Mythos«. Zu Sergis Gegensatz zu vorangegangen relevanten italieni­ schen Anthropologen siehe Quine (2013).

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tion einer direkten Verwandtschaft der europäischen Bevölkerung mit den asiatischen Ariern einen Rückgang des traditionellen Interesses am Mittelmeerraum und dessen Beziehung zum Klassizismus. Mehr noch, die behauptete Verwandtschaft der deutschen mit den asiatischen Indogermanen zog im Gesamtnarrativ über die Wurzeln europäischer Zivilisation die Marginalisierung des Mittelmeerraums nach sich, mit der Konsequenz, dass das Zentrum Europas tendenziell nach Norden und insbesondere nach Deutschland verlagert wurde. In Sergis Rassennarrativ lässt sich jedoch deutlich der Versuch erkennen, die Idee einer überlegenen nordischen Rasse arischer Abstammung zu dekonstruieren, als deren gegenwärtige Vertreter die Deutschen galten. Er wendet sich explizit gegen diesen »Germanismus«, gegen »the theory which attempts to prove that the Germans are the primitive Aryans« (ebd., 8). Sergi entwickelte einen Gegendiskurs zu den germanischen Ariern und deren unterstellter Verwandtschaft mit der teutonischen bzw. nordischen Rasse, der radikaler als Ripleys kritischer Ansatz war. Sergi zufolge sind die Germanen bzw. die gegenwärtigen Deutschen keine Nachfolger der nordischen Rasse (die er als Zweig der »euroafrikanischen Gattung« ansah); sie seien auch keine einheitliche und reine Rasse; sie können keine Kontinuität in Zeit und Raum aufweisen; sie vermögen keine Hochzivilisation zu generieren. Er bestritt sämtliche Argumente für die Existenz eines germanischen Urtyps im prähistorischen oder protohistorischen Zeitalter. Und die teutonische/nordische Langköpfigkeit war seiner Ansicht nach ebenso wenig bei den Deutschen vorherrschend wie sich im heutigen deutschen Territorium eine nordische Rasse nachweisen lasse. Stattdessen findet man Sergi zufolge (1901, 17) anthropologisch gemischte Populationen, die eigentlich in ganz Europa nachweisbar seien. Auch dass die Deutschen autochthone Europäer waren, erkannte Sergi ihnen ab, indem er behauptet, dass sich unter ihnen kurzköpfige Individuen befinden, die der Alpenrasse zugeordnet werden sollten. Diese seien nicht autochthon in Europa, sondern Nachkommen barbarischer asiatischer Stämme vor allem mongolischer Herkunft, die die Hochzivilisationen schädigten und barbarische Sitten nach Europa brachten. Diese »euroasiatischen Arten« seien gegenwärtig die Deutschen, die Kelten und die Slaven, insbesondere die Russen. Unter den »barbarischen asiatischen Stämmen« befanden sich auch Arier, die in Sergis Sicht ihren Anteil an der Zerstörung überlegener neolithischer Mittelmeerzivilisationen hatten, und er hielt es nicht für möglich, dass diese Asiaten Hochzivilisationen hervorgebracht hatten (Sergi 1901, 8). Im Sergis Rassennarrativ erscheinen Mobilität und Zivilisation eng miteinander verf lochten und eben darin die Überlegenheit der Mittelmeerrasse zu bezeugen. In seinen Ausführungen über die verschiedenen Zweige der »euroafrikanischen Gattung« sind Mobilität oder Immobilität an die Zuschreibung von Zivilisationspotential bzw. Zivilisationsdefiziten gekoppelt. Mobilität wird dem schwarzafrikanischen Zweig grundsätzlich abgesprochen, dieser »unter-

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entwickelte« Zweig blieb jenseits des Mittelmeers. Im Falle der nordischen Rasse wiederum schreibt Sergi der Mobilität eine andere, de-integrative Funktion zu: nachdem die nordische Rasse ihre Urheimat Afrika verlassen hat, verstreute sie sich in alle Himmelsrichtungen und verlor dabei die Idiosynkrasien ihrer Rasse. Im Falle der Mittelmeerrasse soll Mobilität hingegen homogenisierend wirken, da diese zwar mobil sei, aber eben nur innerhalb »ihres« Mittelmeerraums. Die natürliche Umgebung fördere die Homogenisierung und Einheit der Mittelmeerrasse, indem sie die Inseln und Halbinseln als Brücken anbiete und die Völkerwanderung erleichtere. Und nicht zuletzt unterstütze das Mittelmeer Expansion und Homogenisierung der Mittelmeerrasse, indem es wie ein Transformationsfilter fungiert, der asiatische Zivilisationen wie etwa die mykenische in Träger Mediterraner Zivilisationen verwandelt (Sergi, 1901 Vorwort).

Fazit In diesem Beitrag habe ich gezeigt, dass der epistemologische Ansatz und die Idee der Rassenhybridität des 19. Jahrhunderts maßgebend für die Entstehung des Begriffs Mittelmeerrasse waren. In meiner Rekonstruktion der anthropologischen Diskurse über die hybriden Rassen habe ich die zeitgenössischen Versuche herausgearbeitet, durch Rassenklassifikationssysteme dem Unbestimmten und Unberechenbaren der Mischung entgegenzuwirken sowie Ordnung in die biologische Diversität zu bringen (zumal wenn sie als Vielfalt von Welt und Gesellschaft erscheint). Während Rassentaxonomien Rassentypen in den europäischen Regionen verorten und sie in Genealogien gegenwärtiger Völker und Nationen verankern, zeichnen sie zugleich kognitive Karten Europas, die der Irredentismus und die nationale Idee in eine geographische Realität umgesetzt sehen wollten. Die Perzeption Europas als eines rassisch-heterogenen Kontinents bewirkte eine Multiplikation von Grenzen und Trennlinien zwischen hybriden Rassentypen bzw. gegenwärtigen Völkern und Nationen im europäischen Territorium. Mein Unterfangen, die Rassentaxonomien zu interpretieren, war häufig von der Flexibilität herausgefordert, mit welcher anthropologische »hard data« gehandhabt wurden. Dabei fungiert Hybridität als »Zustand« und zugleich als Auslöser für multiple Grenzziehungen und für die (erfindungsreiche) Gestaltung von Trennlinien zwischen Rassentypen bzw. gegenwärtigen Völkern. Einen wichtigen Einwand gegen die Wahrnehmung von Grenzen als Linien sieht Sarah Green (2019, 71) darin, dass in einer solchen Wahrnehmung politische Ideologie und ontologische Realität verwechselt werden. Die Problematik der Rassenkonzepte, die ich in diesem Aufsatz diskutiere, besteht darin, dass Grenzziehungen, die als Rassentrennlinien begründet werden, ihre Argumentationskraft gerade aus einer solchen »Verwechselung« beziehen. Rassentaxonomien postulieren eine on-

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tologische Realität, die in Schädeln, in der Hautfarbe oder auch in verborgenen Genealogien aufgezeichnet werde. Eine solche Ontologisierung sucht Ordnung in der Verwirrung herzustellen, die die Hybridität bzw. Diversität hervorruft. Aber die Regeln der Ordnung werden nicht von den Klassifikationssystemen selbst festgelegt, sondern von politischen Ideologien. Die Konzepte der Mittelmeerrasse bringen also die epistemologischen Ambivalenzen der Rassenhybridität zum Vorschein. Aber vor allem ref lektieren sie europäische Machtverhältnisse und das Aushandeln des »Zentrums« von Europa im Norden oder im Süden. Ich habe argumentiert, dass gerade im Kontext dieses Aushandelns die Mittelmeerrasse ihre Signifikationen erlangte, zumal in Verbindung mit der Bewältigung von zwei Herausforderungen: der unterstellten Superiorität der nordischen Rasse und der Deutschen als ihrer zeitgenössischen Vertreter, und der unterstellten Inferiorität des afrikanischen Kontinents. Diese Herausforderungen prägten die Narrative über die Mittelmeerrasse und stehen im Mittelpunkt der Arbeiten der beiden Akteure, deren Konzepte mein Aufsatz diskutiert hat. Ripleys und Sergis Ansätze teilen die Betrachtung der Mittelmeerrasse als Gegenstück der nordisch-germanischen Rasse und zugleich als ein Medium für die Aufspaltung Afrikas in einen inferioren Teil und einen, der es verdient, am europäischen Zivilisationserbe teilzuhaben. Bei späteren Rezeptionen von Ripleys Ansätzen dürfte seine kritische Haltung zur Idee der nordischen Rasse die größere Rolle spielen. Dies lässt sich zumindest bei der Rezeption durch den Harvard-Anthropologen Carleton Stevens Coon (1904-1981) erkennen. Im Jahr 1939 veröffentlichte Coon eine Studie mit dem Titel Races of Europe, die Ripley im Vorwort mit einer Widmung würdigt und ausdrücklich darauf hinweist, dass das Buch als Fortsetzung von Ripleys Races of Europe verstanden werden soll. Coons Studie erschien an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg in einer Zeit, als die Rassenpolitik des Dritten Reichs bereits fortgeschritten war. Der Inhalt lässt deutlich die Intention des Autors erkennen, der nationalsozialistischen Rassenpolitik und anthropologischen Theorie einen kritischen anthropologischen Ansatz entgegenzustellen. Schon in der Einführung unterstreicht Coon, dass Rassen in seinem Buch wertneutral verstanden werden: »Races, in the present volume, are studied without implication of inferiority or superiority« (Coon 1939, viii). Anders als in Ripleys Fall haben Sergis Ansätze starke Kritik auf sich gezogen. Diese richtete sich weniger auf seine Rassentheorie, als auf seine Mediterrane Ideologie insgesamt, die in der Zeit des italienischen Faschismus erneut aufgegriffen und zur Legitimation kolonialistischer Ansprüche auf das Mittelmeer und auf Afrika eingesetzt wurde. Mit seiner Theorie der Mittelmeerrasse hat Sergi eine Antwort auf die Frage angeboten, wem das Mittelmeer gehört oder, genauer gesagt, hat er eine bereits existierende Antwort auf diese Frage durch Rassenargumente zu untermauern versucht. Seine Rassentheorie versucht aus der Alte-

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rität Afrikas europäische Identität zu stiften; dabei schließt er vor allem aus, was die absolute Differenz zu Europa ausmacht: das ›inferiore Afrika‹. Dieses Selektionsverfahren stellt einen Konstitutionsprozess kolonialer Grenzen dar.

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Erinnerungspolitik und Deutungshoheit Zur Auseinandersetzung mit der Vertreibung und Ermordung der osmanischen Griechen Monika Albrecht, Universität Vechta

Das Verhältnis von Herrschern und Beherrschten im Mittelmeerraum unterlag nicht nur historisch zahlreichen Transformationen, auch heute sind Auswirkungen alter und neuer Machtverhältnisse auf vielfältige Weise spürbar – etwa in der Europäischen Union im Umgang der dominanten Mitgliedsstaaten mit denen im Süden und Südosten (Dainotto 2017, 36-39). Dieses Kapitel wird – am Beispiel der Ereignisse im späten Osmanischen Reich zur Zeit des Ersten Weltkriegs – den Spuren solcher Machtverhältnisse in der heutigen Erinnerungspolitik und Erinnerungskultur in Deutschland nachgehen. Dabei wird die Inszenierung von historischen Ereignissen – was und was nicht erinnert wird und wie es erinnert wird – als politische Entscheidung (Irvin-Erickson, La Pointe, Laban Hinton 2013, 2) und als Praxis der Durchsetzung und Sicherung von Deutungshoheit verstanden. In Griechenland selbst ist die Vertreibung und Ermordung von osmanischen Griechen zur Zeit der jungtürkischen Regierung alles andere als ein neues Thema, im Kontext der deutschen Erinnerungspolitik dagegen kann die Beschäftigung mit diesen Ereignissen als ein noch recht neues Phänomen bezeichnet werden – gleichzeitig jedoch auch ein faszinierendes, insofern hier Vergangenheitsbezug und Gegenwartsbewältigung auf vielschichtige und zum Teil überraschende Weise zusammenkommen. Zu einem tatsächlich sichtbaren Teil der Erinnerungskultur in Deutschland wurden die Massaker im späten Osmanischen Reich allerdings im Grunde erst vor wenigen Jahren. Im April 2015 und dann noch einmal im Jahr 2016, als der erinnerungspolitische Scheinwerfer auf den hundertsten Jahrestag des Beginns der Vertreibung und Ermordung der Armenier am 24. April 1915 gerichtet wurde, gerieten am Rande auch andere Gräueltaten und Vertreibungen kurz in den Blick. Dabei wurde jener spezielle Fall der ethnischen Säuberung durch die Jungtürken, der inzwischen unter der Bezeichnung »Genozid an den Armeniern« in die öffentliche Debatte eingegangen ist, allerdings von den deutschen Medien aus seinem größeren Kontext gelöst und fast ausschließlich isoliert betrachtet. Dagegen geht der Trend in der internationalen Forschung inzwischen

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längst zu komparatistischen Ansätzen und einer integrativen Geschichtsschreibung, bei der die Massaker an christlichen Minderheiten im späten Osmanischen Reich – den Armeniern, den osmanischen Griechen, den Aramäisch sprechenden Gruppen wie den Assyrern und anderen – als Mittel zur Transformation des osmanischen Vielvölkerstaates in einen homogenen Nationalstaat der Türken betrachtet werden (Shirinian 2017, 1f.). Als Beispiel dafür, dass diese Lesart zumindest in der internationalen Historiographie angekommen ist, können zwei Veröffentlichungen von 2012 und 2017 gelten, die sich beide schon für dieses Ziel einsetzen. Doch während der Konferenzband von 2012, The Asia Minor Catastrophe and the Ottoman Greek Genocide (Shirinian 2012), noch von dem kurz zuvor gegründeten Asia Minor and Pontos Hellenic Research Center in Chicago herausgegeben wurde, also der Organisation, die die Konferenz organisiert hat, kam der Band von 2017, Genocide in the Ottoman Empire: Armenians, Assyrians, and Greeks, 1913-1923 (Shirinian 2017), bereits in dem renommierten Berghahn Verlag heraus. Ob allerdings tatsächlich, wie ein Rezensent auf der Plattform H-Net: Humanities and Social Sciences Online schon vor einigen Jahren prognostizierte, nun nicht nur »scholars«, sondern auch »politicians and the public at large are arriving at a new understanding of the Armenian Genocide« (Gingeras 2010), ist derzeit noch nicht abzusehen. Fest steht immerhin, dass bei den damaligen Zeitgenossen kein Zweifel über die größere Dimension der Massaker im späten Osmanischen Reich bestand. In der Zeit um den Ersten Weltkrieg und noch einige Zeit danach gehörte es selbstverständlich zum öffentlichen Bewusstsein, dass die Verbrechen der Jungtürken nicht nur Armenier, sondern alle (überwiegend)1 christlichen Minderheiten betrafen, und zwar ebenfalls nicht zuletzt aufgrund von zahlreichen Mediendiskussionen. Ein inzwischen vielzitiertes Beispiel aus dem Kontext der späteren Vertreibung der Griechen aus Anatolien ist ein umfangreicher Artikel in der New York Times vom 2. Dezember 1922, der von dieser Vertreibung als einer »black page in modern history« berichtete (James 1922). Bereits in der frühen Phase der ethnischen Säuberungen war für die Zeitgenossen offenkundig, dass die Deportationen, im Gegensatz zu den öffentlichen Beteuerungen der jungtürkischen Regierung, keine Umsiedlungen aus strategisch wichtigen Gebieten waren, sondern zum Ziel hatte, sich dieser unliebsam gewordenen Minderheiten unter dem Deckmantel der Kriegsnotwendigkeit zu entledigen (Shirinian 2017, 1f.). Er1 Gegen die Vorstellung einer ethnischen Säuberung lediglich christlicher Minderheiten führen die Historiker Jürgen Zimmerer und Dominik Schaller an, dass auch Kurden, die in diesem Kontext meist »as brutal murderers of the Anatolian Christians« gelten, von der jungtürkischen Bevölke­ rungspolitik betroffen waren. Die Autoren fordern daher, das Gesamtbild der Ereignisse noch­ mals zu erweitern: »the fate of none of those groups, be they Christian as the Armenians, Assyri­ ans or Greek, or be they Muslim as the Kurds, can be treated in isolation« (Schaller und Zimmerer 2008, 12, 8).

Erinnerungspolitik und Deutungshoheit

nest Hemingway beispielsweise machte in einer Short Story, die 1922 nach dem Griechisch-Türkischen Krieg (so der Titel) On the Quai at Smyrna spielt, auf die Ereignisse aufmerksam (Hemingway 1970). Und nicht zuletzt haben es jene zeitgenössischen Berichterstatter, die heute als Chronisten des Genozids an den Armeniern gelten, nicht versäumt, zumindest am Rande das Schicksal der anderen Minoritäten zu dokumentieren. Johannes Lepsius etwa, den Franz Werfel in seinem Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh den »von Gott gesandte[n] Schutzengel des armenischen Volkes« genannt hat (Werfel 1956, 213) und der heute als einer der bekanntesten Namen in diesem Kontext gelten kann, hat zwar den kritischen Scheinwerfer vor allem auf das Schicksal der Armenier gelenkt, jedoch keineswegs ausgeblendet, was in dessen Umfeld geschah. Im ersten Teil seines Bericht[s] über das Schicksal des Armenischen Volkes in der Türkei während des Weltkrieges mit dem Titel Der Todesgang des Armenischen Volkes erwähnt er beispielsweise immer wieder die Zerstörung griechischer Dörfer und die Ermordung ihrer Bewohner: In Amasia sind nach der Deportation das armenische Viertel, der Bazar, die armeni­ sche und die griechische Kirche von den Tücken angezündet worden (Lepsius 1919, 62). Auch in der Umgegend [von Mersiwan] wurden von türkischem Militär alle christlichen Dörfer, darunter auch 10 griechische, eingeäschert und die Bevölkerung teils massakriert, teils deportiert (Lepsius 1919, 62; Herv. im Original). Man hatte vor zwei Jahren schon die griechischen Dörfer an der westanatolischen Küste und in der Umgegend von Smyrna ohne irgend welchen Grund ausgeräumt und die Ein­ wohner aus dem Lande verwiesen (Lepsius 1919, 128). Im zweiten Teil seiner Studie gibt Lepsius die vielzitierte Äußerung eines »Minister[s] Abdul Hamids« wieder, der »in zynischer Weise definiert« hatte: »Die armenische Frage schaf f t man am besten dadurch aus der Welt, daß man die Armenier aus der Welt schaf f t«, und fügt hinzu: Daß man am liebsten mit den Griechen und Syrern in gleicher Weise verfahren wäre, beweist das Vorgehen gegen die griechische Bevölkerung in der Umgegend von Smyrna im Frühjahr 1914 und gegen die syrische Bevölkerung in Nordpersien, in der Um­ gegend von Urmia, die beim Einbruch der Armee von Halil Bey aus ihren Wohn­ sitzen vertrieben wurde (Lepsius 1919, 229; Herv. im Original). Ähnlich formulierte auch Henry Morgenthau, in jener Zeit US-amerikanischer Botschafter in Konstantinopel, an Ende seiner Erinnerungen sein Fazit: Die Armenier sind nicht die einzigen Betroffenen in der Türkei, die unter dieser Strategie zu leiden hatten, aus der Türkei ein Land ausschließlich für die Türken zu machen. Mit gewissen Modifikationen könnte ich die Geschichte, die ich über

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die Armenier erzählt habe, auch über die Griechen und Syrer erzählen. Tatsächlich waren die Griechen die ersten Opfer dieser Nationalisierungsidee (Morgenthau 2015, 323). Und Johannes Lepsius zitiert unter vielen anderen Quellen einen »Führer der türkischen liberalen Opposition«, der in der damals in Thessaloniki erscheinenden »türkischen Zeitung Bejan ül Hakk« geschrieben hatte: wir, als wahre Osmanen, rufen heute der Menschheit und dem zivilisierten Europa zu, daß die gegen die Armenier und Griechen verübten Verfolgungen weit entsetz­ lichere Dimensionen angenommen haben, als es aus den Darstellungen der Presse zu ersehen ist (Lepsius 1919, 239f; Herv. im Original). Bis in die 1960er Jahre hinein, also etwa solange es noch überlebende Opfer und Zeitzeugen gab, galt das Schicksal der Armenier, Griechen und der Aramäisch sprechenden Volksgruppen, so die Herausgeber des Bandes Hidden Genocides, noch »as part of a broader anti-Christian persecution within Turkey« (Irvin-Erickson, La Pointe, Laban Hinton 2013, 11; vgl. auch Travis 2013, 174). In dieser Zeit nahm jedoch, vor allem aufgrund der Bemühungen von Nachfahren der Opfer, auch das spezifische »Genozidgedenken der Armenier seinen Ausgang« (Pohl 2016, 110), das etwa seit Mitte der 1960er Jahre sukzessiv in das kulturelle Gedächtnis aufrückte (Shirinian 2017, 6f.). Allerdings galt dies im wesentlichen zunächst wohl für jene Teile der Welt, in die es die Überlebenden und ihre Nachfahren verschlagen hat, also zum einen in die kurze Zeit existierende Demokratische Republik Armenien bzw. dann die Armenische Sozialistische Sowjetrepublik und zum anderen in die armenische Diaspora in Einwanderungsländern wie den USA, Kanada und Australien. Insgesamt betrachtet waren – unterstützt von Menschenrechtsorganisationen und einer mit dem armenischen Kampf um Anerkennung sympathisierenden Wissenschaft – armenische Lobbygruppen im Kontext der weltweiten Opferkonkurrenz sehr erfolgreich (Schaller und Zimmerer 2008, 10), wobei heute sowohl in den USA als auch in Deutschland offenbar eher Kooperation als Konkurrenz zwischen den Nachfahren der Betroffenen vorherrschen. »Like the Holocaust«, so die Historiker Dominik Schaller und Jürgen Zimmerer, »the Armenian genocide has become a universal symbol for evil as such« (Schaller und Zimmerer 2008, 10). Doch erst in jüngster Zeit wird die Frage diskutiert, warum die Nachfahren der anderen Opfergruppen nicht in gleichem Maße dafür sorgten, dass die Katastrophen von Kleinasien zur Zeit des späten Osmanischen Reichs im Gedächtnis der Welt blieben – und damit auch die Frage, warum diese Katastrophen bis heute in der öffentlichen Erinnerung und zum Teil auch in der Historiographie als Völkermord an den Armeniern gelten. Es hat den Anschein, als sei die Strategie der jungtürkischen Regierung, den nach und nach

Erinnerungspolitik und Deutungshoheit

entstehenden Gesamtplan der ethnischen Säuberung nicht als solchen an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen, in gewisser Weise auch noch Jahrzehnte nach den Massakern und Vertreibungen noch wirksam, wobei vor allem das schrittweise Vorgehen gegen die verschiedenen Minderheitengruppen eine Rolle spielen dürfte. Die Historikerin Tessa Hofmann führt zudem an, dass die Überlebenden und später deren Nachfahren die Massaker und Deportationen lange Zeit isoliert voneinander wahrnahmen, auch wenn sie etwa in der gleichen Zeit geschahen und von den gleichen Tätern verursacht wurden. Hintergrund dafür sei die Tatsache, dass es unter den aramäischsprachigen und griechisch-orthodoxen Gruppen mehr Differenzen als Gemeinsamkeiten gab (Hofmann 2012, 61). Andere wie etwa George Shirinian erinnern vor allem daran, dass »the Greek government has not been supportive of promoting awareness to this subject« – und dies aus unterschiedlichen Gründen, wobei nicht zuletzt »difficult relations with neighboring Turkey« eine Rolle spielten (Shirinian 2017, 7). Was die internationale Sichtbarkeit in der Gegenwart angeht, so ist die Situation zwar nach wie vor noch durch zahlreiche Einzelanerkennungen des Genozids an den Armeniern gekennzeichnet, die Tendenz geht jedoch recht eindeutig in die Richtung einer Wahrnehmung des größeren Zusammenhangs. Die International Association of Genocide Scholars beispielsweise, die sich bis vor ca. zehn Jahren noch ebenfalls allein für den Fall der Armenier einsetzte, hat spätestens seit 2007 dieses größere Bild im Blick. In diesem Jahr hielt sie in einer Resolution fest: […] the Ottoman genocide against minority populations during and following the First World War is usually depicted as a genocide against Armenians alone, with little recognition of the qualitatively similar genocides against other Christian mi­ norities of the Ottoman Empire« (International Association of Genocide Scholars, 2007). Dagegen geht dieser Verband inzwischen davon aus, »that the Ottoman campaign against Christian minorities of the Empire between 1914 and 1923 constituted a gen­ocide against Armenians, Assyrians, and Pontian and Anatolian Greeks« (ibid.).

Zur Wahrnehmung der Ereignisse im späten Osmanischen Reich in Deutschland Zahlreiche Faktoren haben also dazu geführt, dass die Ereignisse zur Zeit der jungtürkischen Regierung als Genozid an den Armeniern wahrgenommen wurden (vgl. auch Shirinian 2017, 4-8). Warum das im deutschsprachigen Raum tendenziell weiterhin der Fall ist, soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Der Fall der Armenier hatte es erstmals im Jahr 2005 »auf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages« geschafft (Hesemann 2015, 24), doch sollte es, nach einem

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ersten Anlauf im Frühjahr 2015, noch bis zum folgenden Jahr 2016 dauern, bis sich die Bundesrepublik zu einer entsprechenden Resolution durchringen konnte. Dies geschah unter anderem aufgrund der Erkenntnis, dass »[z]ahlreiche unabhängige Historiker, Parlamente und internationale Organisationen […] die Vertreibung und Vernichtung der Armenier als Völkermord [bezeichnen]« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8613). Von der türkischen Regierung, aber auch von vielen in Deutschland lebenden Menschen türkischer Abstammung als Angriff auf die Ehre ihres Landes missverstanden, wurde von den Parteien der regierenden Großen Koalition sowie Bündnis 90/Die Grünen am 2. Juni 2016 eine Resolution zur Abstimmung vorgelegt. Sie wurde, so der damalige Bundestagspräsident Norbert Lammers nach einer rund einstündigen Debatte, von einer »bemerkenswerte[n] Mehrheit« angenommen (Deutscher Bundestag, Video 2016). Wenngleich die Formulierungen in dem Text der Resolution und vor allem in den vorausgehenden Debatten durchaus komplexer waren, wurde diese von den Medien schnell zur »Armenien-Resolution« erklärt. Was sich im Umfeld dieser Resolution abspielte, war ein imposantes Lehrstück deutscher Erinnerungspolitik und der Durchsetzung von Deutungshoheit der gerade herrschenden Parteien, die es verdienen, genauer betrachtet zu werden. Wenn man zunächst auf das Gedenkjahr 2015 schaut, wird deutlich, dass der Fall der Armenier von offizieller Seite durchaus nicht isoliert dargestellt wurde. Zumindest einigen der offiziellen Hüter der deutschen Erinnerungskultur – also derjenigen, die es als ihre Aufgabe sehen, solche Ereignisse in das deutsche und europäische kulturelle Gedächtnis einzuschreiben – kann man nicht vorwerfen, dass sie andere ethnische Gruppen als die Armenier von den Straftaten des jungtürkischen Regimes ausgeschlossen haben. Als die großen deutschen Parteien dem Parlament 2015 Vorschläge für eine künftige Resolution und damit für die offizielle Positionierung der Bundesregierung zu den Verbrechen im späten Osmanischen Reich unterbreiteten, war in allen Fällen zumindest ein kurzer Hinweis auf andere christliche Minoritäten enthalten. Allerdings haben lediglich Bündnis 90/Die Grünen die verschiedenen Gruppen explizit benannt: »Auch zehntausende Angehörige anderer christlicher Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich, wie der AramäerInnen, AssyrerInnen, ChaldäerInnen und Pontos-GriechInnen, erfuhren damals Gewalt und Vertreibung« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4687). In dem gemeinsamen Entwurf von CDU/CSU und SPD hieß es dagegen: »Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern, die vor 100 Jahren ihren Anfang nahmen. Er beklagt die Taten der damaligen türkischen Regierung, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben. Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäische/assyrische und chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen«

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(Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4684). Auf den gewichtigen Unterschied wird noch zurückzukommen sein. In der Bundestagsdebatte am 24. April 2015, in der die Vorlagen in einer einstündigen Sitzung diskutiert wurden, waren – wie die Abgeordnete Ulla Jelpke von der Partei Die Linke betonte – zahlreiche Gäste auf der Tribüne anwesend, insbesondere Vertreter und Vertreterinnen der armenischen und assyrischen Verbände. Interessanterweise hat Cem Özdemir von Bündnis 90/Die Grünen in seinem Redebeitrag die Aufzählung aus dem Antrag seiner Partei gekürzt zu einer Forderung nach Entschuldigung »bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, die Leid erfahren haben durch das Osmanische Reich«, wohingegen Vertreterinnen und Vertreter sowohl von CDU/CSU als auch SPD mündlich eine vollständigere Aufzählung vortrugen, einschließlich einer, die über ihren eigene Entwurf hinausging, indem sie die Pontos-Griechen mit einbezog (Deutscher Bundestag, Video 2015):

Bundestagsdebatte 24. April 2015 Ulla Jelpke (DIE LINKE)

Christoph Bergner (CDU/ CSU)

Cem Özdemir (B90/DIE GRÜNEN)

Frank Schwabe (SPD)

»Diesen Verbrechen fielen 1,5 Millionen Menschen zum Opfer, hunderttausende Assyrer und andere Christen wurden damals ermordet.«

»Ich möchte Sie einladen […] zu gedenken der hundertausenden Armenier, eingeschlossen zahlreicher aramäischer und chaldäischer, assyrischer Christen, die […] mit […] oft hemmungsloser Grausamkeit getötet wurden.«

Forderung nach Entschuldigung »bei den Armeniern, bei den Aramäern, bei all denen, die Leid erfahren haben durch das Osmanische Reich.«

»Wir verneigen uns heute vor den armenischen Opfern des Völkermords und gedenken den Massakern und der Vertreibung auch von Assyrern, Aramäern, osmanischen Griechen und anderen.«

Erika Steinbach (CDU/ CSU)

Dietmar Nietan (SPD)

»Auf den Tag genau heute vor 100 Jahren begann der Völkermord an den Armeniern, den Aramäern, den Assyrern, den Chaldäern und auch den Pontos-Griechen im Osmanischen Reich.«

»[…] Vertreibung und Vernichtung der anatolischen Armenier, aber auch die Opfer, die es gefordert hat bei den Aramäern, Assyrern, chassidischen Christen und Pontos-Griechen.«

Einen Tag vor der Bundestagsdebatte vom 24.April 2015, also am Vorabend des Gedenktags, bot der damalige Bundespräsident Joachim Gauck in seiner mit Span-

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nung erwarteten Rede – mit Spannung vor allem deswegen, weil man darauf wartete, ob er das Wort »Genozid« aussprechen würde – ebenfalls ein umfassenderes Bild. Anlass der Rede war ein ökumenischer Gottesdienstes im Berliner Dom, an dem neben hochrangigen Vertretern verschiedener deutscher Kirchen auch der Erzbischof der armenischen Kirche, der Metropolit der griechisch-orthodoxen Kirche und der Erzbischof der syrisch-orthodoxen Kirche teilnahmen.2 Nach dem Gottesdienst erinnerte der Bundespräsident an das Unrecht, dass den Armeniern wiederfahren war, und fuhr fort: »Ähnliches traf ihre Leidensgenossen, die Assyrer oder Aramäer und die Pontos-Griechen« (Der Bundespräsident: Rede 2015).3 In dieser Weise schlossen auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz und der Bischof der evangelischen Kirche diese ethnischen Gruppen mit ein.4 Einige der diesem Gedenkgottesdienst vorangehenden und nachfolgenden Zeitungsberichte reproduzierten auch die korrekte Bezeichnung der Veranstaltung, also »ökumenischer Gottesdienst im Berliner Dom anlässlich der Erinnerung an den Völkermord an Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen«.5 Allerdings gingen diese Hinweise in den entsprechenden Mediendiskursen im Frühjahr

2 Auf der Webpage der Deutschen Bischofskonferenz wurde der Gottesdienst wie folgt ange­ kündigt: »Ein ökumenischer Gottesdienst im Gedenken an den 100. Jahrestag des Genozids an Armeniern, Syrern und Pontos-Griechen findet im Berliner Dom am Donnerstag, 23. April 2015, um 19.15 Uhr statt. […] Mitwirkende im Gottesdienst sind Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm (Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland), Kardinal Reinhard Marx (Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz), Erzbischof Karekin Bekdjian (Armenischer Primas von Deutschland), Bischöfin Rosemarie Wenner (Evangelisch-Methodistische Kirche, Vorstandsmitglied in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland), Metropolit Augoustinos (Griechische Metropolie von Zentraleuropa), Erzbischof Philoxenos Mattias Nayis (Syrisch-Orthodoxe Kirche) und Dompredigerin Petra Zimmermann« (Deutsche Bischofskonferenz 2015). 3 Die Rede ist in deutscher, englischer, türkischer und armenischer Sprache auf der Homepage des Bundespräsidenten (Der Bundespräsident: Rede 2015). 4 Die Predigt des Vorsitzenden der Bischofskonferenz Reinhard Kardinal Marx findet sich auf der Website der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland unter , die des Bischofs Heinrich Bedford-Strohm auf der Website der Evangelischen Kirche in Deutschland unter . 5 So lautete der Titel der Druckfassung der Rede (Der Bundespräsident: Rede 2015). Die Ankündigung auf der Website des Berliner Doms lautete: »Sechs christliche Kirchen gedenken gemeinsam. An­ lässlich des 100. Jahrestages des Genozids an Armeniern, Aramäern und Pontos-Griechen findet im Berliner Dom am 23. April um 19.15 Uhr ein ökumenischer Gedenkgottesdienst statt« (inzwi­ schen entfernt, ähnlich noch im Archiv der Website des Evangelischen Kirchenkreises Berlin Stadt­ mitte , zuletzt besucht 18.5.2019).

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2015 fast vollständig unter6 – und ähnlich erging es auch der ebenfalls mit Spannung erwarteten Rede aus dem Petersdom in Rom, in der Papst Franziskus sagte: »Unsere Menschheit hat im vergangenen Jahrhundert drei große, unerhörte Tragödien erlebt: Die erste, die allgemein als der erste Genozid des 20. Jahrhunderts angesehen wird, hat euer armenisches Volk getroffen – die erste christliche Nation –, zusammen mit den katholischen und orthodoxen Syrern, den Assyrern, den Chaldäern und den Griechen«.7 Im Deutschen Fernsehen und in der Presse jedoch wurden die Deportationen und Massaker im späten Osmanischen Reich zur Zeit der jungtürkischen Regierung fast ausschließlich auf den Fall der Armenier reduziert. Und so verfuhren auch die zahlreichen Dokumentationen und anderen politischen und kulturellen Programme im Umfeld des Gedenktags, allen voran der Dokumentarfilm Aghet von 2010, der im Frühjahr 2015 auf vielen Kanälen wiederholt wurde (Aghet 2010). Das gleiche gilt für kulturelle Veranstaltungen aus Anlass des 100. Jahrestags wie beispielsweise das Dokumentarstück Musa Dagh – Tage des Widerstands (Hans-Werner Kroesinger) des Berliner Maxim Gorki-Theaters und die entsprechenden, ebenfalls rechtzeitig zum 100. Jahrestag des Beginns der Vertreibung und Ermordung der Armenier erschienenen Publikationen, deren Autoren wiederum als Experten in verschiedenen Dokumentationen fungierten und an Diskussionsveranstaltungen teilnahmen.8 Während also Wissenschaftler in den letzten zehn Jahren vor allem im anglophonen Kontext zunehmend erkennen, dass der Ausschluss von griechischen und assyrischen Opfern bei der Diskussion der Ereignisse im späten Osmanischen Reich nicht zu rechtfertigen ist (Travis 2011, 127), und auch deutsche Regierungsvertreter sich bemühten, ein umfassenderes Bild zu vermitteln, zog die Mehrheit der deutschen Medien und Kulturschaffenden9 eine begrenzte Sicht auf eine zweifellos komplexere historische Situation vor – oder vielleicht auch nur eine vereinfachte Version davon. 6 Griechen und Assyrer wurde beispielsweise, um zwei prominente Beispiele zu nennen, ausge­ lassen in der Tagesschau und den Tagesthemen am 23.04.2016, dem Vorabend des Gedenktages, in denen schon über den Gottesdienst im Berliner Dom berichtet wurde (; , zuletzt be­ sucht 18.5.2019). 7 Vgl. »Im Wortlaut: Grußworte von Papst Franziskus an die Armenier« (ursprünglich auf der Web­ site von Radio Vatikan, inzwischen entfernt; vgl. jedoch , zuletzt besucht 18.05.2019). 8 Beispielsweise Jürgen Gottschlich, der Autor der 2015 erschienenen Studie über die Verwicklun­ gen des deutschen Kaiserreichs in den Genozid an den Armeniern (Gottschlich 2015) oder Rolf Hosfeld, der wissenschaftliche Leiter des Lepsiushauses in Potsdam, der 2015 ebenfalls eine neue Publikation auf den Buchmarkt brachte (Hosfeld 2015). Zur Produktion des Maxim Gorki-Thea­ ters vgl. , zuletzt besucht 18.05.2019. 9 In seinem Film The Cut von 2014 hat der türkisch-deutsche Regisseur Fatih Akın das lange erwar­ tete Thema der Vertreibung und Vernichtung der christlichen Minderheiten in der Spätphase des

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Im Jahr 2015 war, wie erwähnt, keine Resolution zustande gekommen, im folgenden Jahr 2016 haben die Regierungsparteien einen gemeinsamen Textentwurf mit Bündnis 90/Die Grünen vorgelegt, der dann verabschiedet wurde. Bundeskanzlerin Angela Merkel und der damalige Vizekanzler Sigmar Gabriel nahmen nicht an der Bundestagsdebatte teil, die zur Abstimmung über die Resolution führte. Wie ein Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Martin Pätzold, ausdrücklich in seinem Beitrag während der Debatte erwähnte (Deutscher Bundestag, Video 2016), war der gemeinsame Antrag von CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen 2016 auf Initiativ des damaligen Bundesvorsitzenden der Grünen Cem Özdemir zustande gekommen, nachdem zuvor 2015 drei unterschiedliche Antragstexte vorlagen. Je einer war von CDU/CSU und SPD sowie von Bündnis 90/Die Grünen eingereicht worden, der dritte kam gut einen Monat früher als die beiden anderen von der Partei Die Linke. Deren Antragsentwurf, der neben der »armenischen Bevölkerung« noch die »aramäisch-assyrische Bevölkerung« als »eine weitere Opfergruppe in dem Völkermordverbrechen« nannte (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4335), wurde jedoch mit den Stimmen der Fraktionen der CDU/CSU und SPD bei Stimmenthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen abgelehnt (vgl. Deutscher Bundestag, Drucksache 18/7909).10 Was den neuen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen vom Februar 2016 betrifft, so findet sich darin jetzt bereits die 2015 von CDU/CSU und SPD bevorzugte Formulierung im Hinblick auf die Betroffenen. Im Jahr 2015 hieß es ja in dem Osmanischen Reiches aufgenommen. Aber während das Publikum im Vorspann darüber infor­ miert wird, dass der Film zu einer Zeit beginnt, als »Minderheiten im Reich über Nacht zu Feinden wurden« (Akın 2014), erscheinen im Film keine anderen Minderheiten als die Armenier; vgl. zu diesem und anderen Filmen und literarischen Texten Albrecht 2020. Ein dort nicht diskutiertes Fundstück entstammt einem literarischen Text, in dem es schwerpunktmäßig um andere The­ men geht, in den jedoch die Geschichte der Pontos-Griechen mit einbezogen wurde. In einem Roman aus dem Jahr 1999 der deutsch-türkischen Schriftstellerin Renan Demirkan ist eine der Hauptfiguren ein Deutsch-Grieche, oder vielmehr ein selbsternannter »Multikulti-Grieche« mit einem starken rheinländischen Akzent, dessen Familie aus Anatolien stammt. Seine Großmut­ ter, »die von den Türken vertriebene Oma«, war eine Überlebende der kleinasiatischen Katastro­ phe, und der Enkel erinnert sich in dem Roman: »Die war auch immer traurig, bis zu ihrem Tod«, und sie habe oft gesagt: »Wenn Du verloren hast, wohin du gehörst, setzen dir die unseligen Geis­ ter den Nachtvogel ins Herz« (Demirkan 1999, 29, 185). 10 Die Gründe für die Ablehnung dürften nicht mit den hier diskutierten Zusammenhängen zu tun haben, sondern vielmehr mit den aus Sicht der anderen Fraktionen zu weit gehenden Forde­ rungen der Partei Die Linke – etwa der, sich »vorbehaltlos zur historischen Mitverantwortung des Deutschen Reichs am Völkermord zu bekennen« oder konkrete Vorschläge umzusetzen wie den, »sich gegenüber der türkischen Regierung und der Großen Türkischen Nationalver­ sammlung für die Herstellung vollständiger Meinungsfreiheit in der Türkei, insbesondere auch bezüglich des Schicksals der Armenierinnen und Armenier, einzusetzen und die Abschaffung aller gegenwärtig noch zuwiderlaufenden Bestimmungen im türkischen Strafgesetzbuch ein­ zufordern« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4335).

Erinnerungspolitik und Deutungshoheit

Text von Bündnis 90/Die Grünen noch: »Auch zehntausende Angehörige anderer christlicher Bevölkerungsgruppen im Osmanischen Reich, wie der AramäerInnen, AssyrerInnen, ChaldäerInnen und Pontos-GriechInnen, erfuhren damals Gewalt und Vertreibung« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/4687). Knapp ein Jahr später am 24. Februar 2016 legte Bündnis 90/Die Grünen dann den neuen Text vor, der jetzt lautet: »Der Deutsche Bundestag verneigt sich vor den Opfern der Vertreibungen und Massaker an den Armeniern sowie Aramäern, Assyrern und anderen christlichen Minderheiten des Osmanischen Reiches, die vor 100 Jahren ihren Anfang nahmen.« Und etwas später in diesem Text wurde noch einmal spezifischer ergänzt: »Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch/assyrische und chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/7648). Die osmanischen Griechen sind also aus dem Antragstext von Bündnis 90/Die Grünen vom 24. Februar 2016 herausgenommen worden, und die Formulierungen wurden dem des Antrags von CDU/CSU und SPD angepasst. In dem dann gemeinsamen Text der drei Fraktionen CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen war dann nur noch wenig nachzubessern: Bei der ersten Erwähnung der Betroffenen heißt es: »Armenier und andere christliche Minderheiten des Osmanischen Reiches«, und im Nachsatz lautet die gemeinsame Formulierung dann genau wie die des CDU/CSU- plus SPD-Entwurfs von 2015, nämlich: »Ebenso waren Angehörige anderer christlicher Volksgruppen, insbesondere aramäisch-assyrische und chaldäische Christen von Deportationen und Massakern betroffen« (Deutscher Bundestag, Drucksache 18/8613). Das ist die Fassung der Resolution, die dann am 2. Juni 2016 mit einer »bemerkenswerten Mehrheit« (Bundestagspräsident Norbert Lammers) angenommen wurde. Dass beim Zustandekommen dieser Resolution weder Willkür noch Gedankenlosigkeit am Werk waren, lässt sich schon daraus schließen, dass Cem Özdemir am Abend des 25. Februar 2016, also einen Tag nach dem Datum des neuen Antragstexts von Bündnis 90/Die Grünen, bei der Konferenz The Displacement, Extinction and Genocide of the Pontic Greeks 1916-1923 an der Berliner Humboldt Universität als Keynote Speaker aufgetreten ist.11 Während Özdemir sich mit seinem Auftritt bei der Konferenz für die Belange der osmanischen Griechen einsetzte, dürfte der Formulierungskompromiss seiner Partei mit der Regierungskoalition – bedenkt man die politischen Spannungen zwischen Deutschland und Griechenland in dieser Zeit – kaum zu vermeiden gewesen sein. In seiner Dankesrede zur Verleihung des Deutsch-Französischen Medienpreises hat Jürgen Habermas im Juli 2018 an den »unverfrorenen nationalen Wirtschaftsegoismus« der Bundes11 Die »Public Lecture« von »Cem Özdemir (Member of Parliament) on Genocide, Memory Culture and Politics« war am 25. April 2016 für 18:30 angesetzt (vgl. , zuletzt besucht 18.05.2019).

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kanzlerin erinnert, konkreter, an »jene berüchtigte Nacht« im Jahr 2015, »in der der französische Präsident der deutschen Bundeskanzlerin in den frühen Morgenstunden das Zugeständnis abgepresst hat, die Griechen nicht aus der europäischen Währungsgemeinschaft herauszuekeln« (Habermas 2018). Er verweist unter anderem auf einen kurz davor erschienenen Kommentar von Cerstin Gammelin in der Süddeutschen Zeitung, die »den Sommer 2015, als es zum Showdown zwischen Berlin und Paris kam«, aus heutiger Sicht kontextualisierte (Gammelin 2018). Der ›berüchtigten Nacht‹ im Sommer 2015 vorangegangen war »die auch hierzulande mit chauvinistischen Stereotypen gegen Griechenland gestaltete Krisenpolitik« (Huhnholz 2018), so dass der Ausschluss der osmanischen Griechen aus der »Armenien-Resolution« wohl weitgehend auf das politische Verhältnis zwischen Deutschland und Griechenland zur Zeit ihrer Verabschiedung zurückgeht. Im Hinblick auf die Bundestagsdebatte lässt sich jedoch noch ergänzen, dass die Pontos-Griechen zwar aus der schriftlich niedergelegten Fassung der Resolution herausgenommen worden sind, dass sie jedoch in der Bundestagsdebatte am 2. Juni 2016 als betroffene Opfergruppe sogar noch präsenter waren als bei der im April 2015 – und diesmal auch nicht nur als Gäste auf der Besuchertribüne. Denn interessanterweise nannten im Juni 2016 Repräsentanten aller Fraktionen die betroffenen Volksgruppen einschließlich der aus dem Text der Resolution gestrichenen Pontos-Griechen beim Namen. Und in Cem Özdemirs Statement fällt auf, dass er die Volksgruppen anders angeordnet hat – »Aramäer, Assyrer, Armenier, Chaldäer, Pontos-Griechen« –, so dass die Armenier die Mittelposition einnehmen – während die Vertreter aller anderen Parteien die Armenier an erster Stelle nannten.

Bundestagsdebatte 2. Juni 2016 Gregor Gysi (DIE LINKE)

Franz Josef Jung (CDU/ CSU)

Cem Özdemir (B90/DIE GRÜNEN)

Dietmar Nietan (SPD)

»[…] Völkermord an 1,5 Millionen Armenierinnen und Armeniern. Auch aramäische und assyrische und chaldäische Christinnen und Christen, Pontos-Griechinnen und -Griechen wurden gejagt und umgebracht.«

»[…] Vertreibungen und Massaker an den Armeniern sowie den assyrischen, aramäischen und chaldäischen Christen, ebenso den Pontos-Griechen und anderen christliche Minderheiten begonnen haben.«

»[…] Aramäer, der Assyrer, der Armenier, der Chaldäer, der Pontos-Griechen […].«

»systematische Vertreibung und Vernichtung der anatolischen Armenier wie auch der Aramäer, Assyrer, Pontos-Griechen und der chaldäischen Christen.«

Erinnerungspolitik und Deutungshoheit

Erinnerungspolitik und Deutungshoheit »Erinnerung ist immer ein Arrangement von jetzt aus, Illustration unserer jetzigen Erfahrung« (Frisch 1976, 332), schrieb der Schweizer Schriftsteller Max Frisch in einem Essay aus dem Jahr 1964 und war damit einer der wenigen, die damals schon das Werk von Maurice Halbwachs rezipiert haben. Dessen Erkenntnis aus dem frühen 20. Jahrhundert, dass die Vergangenheit aus der Perspektive der Gegenwart immer wieder neu konstruiert wird – und das heißt vor allem: den gegenwärtigen Erfordernissen und Bedürfnissen entsprechend –, diese grundlegende Erkenntnis ist heute eine der zentralen Prämissen der Forschung zu Erinnerung und Gedächtnis. Diese Prämisse gilt nicht nur für den Bereich der individuellen Erinnerung, sondern auch für den des kulturellen Gedächtnisses und vor allem für den der Erinnerungspolitik. Wenn man die selektive Wahrnehmung der Verbrechen an den Armeniern vor dem gegenwärtigen Horizont in Deutschland beleuchten will, dann scheint es ratsam, danach zu fragen, ob – und wenn ja, warum – dies unseren heutigen Bedürfnissen entgegenkommt. Dabei sind neben den oben genannten Spannungen zwischen Deutschland und Griechenland zur Zeit der Diskussion um die Resolution noch andere Faktoren der politischen Gesamtsituation zu berücksichtigen. Einerseits war und ist es bis heute noch immer recht schwierig, den Holocaust – wie die kritische Genozidforschung es fordert – in einen größeren Kontext zu stellen, da Politik und Medien oft den Verdacht fürchten, sie wollten die Aufmerksamkeit von der deutschen Schuld abziehen. Andererseits hat schon der 24. April 2015 gezeigt, dass es trotz dieser »geschichtspolitischen Verwundbarkeit« (Münkler 2015) inzwischen durchaus möglich ist, andere Verbrechen als die an den Juden als Völkermord zu bezeichnen. Interessanterweise hat der hundertste Jahrestag des Völkermords an den Armeniern und dann ein Jahr später die Debatte anlässlich der Resolution des Deutschen Bundestags regelmäßig auch die Erinnerung an die – von vielen als erster Genozid des 20. Jahrhunderts betrachteten (vgl. etwa Zimmerer 2011) – deutschen Kolonialverbrechen auf den Plan gerufen.12 Anscheinend ist selbst in den deutschen Mediendiskursen inzwischen so etwas wie ein Bild der globalen Situation der Verbrechen gegen die Menschlichkeit präsent. Vor diesem Hintergrund gab es eigentlich keinen ersichtlichen Grund, warum die anderen Opfer der Massaker und Vertreibungen im späten Osmanischen Reich nicht in dieses Gesamtbild eingehen sollten. Mögliche Gründe in den Medien sollten allerdings im Kontext des Nullsummenspiels begrenzter Sendezeit und Wörterzahl auch nicht überbewertet werden. Ganz offensichtlich lag das Hauptinteresse der meisten Berichte 2015 bei der Frage, ob deutsche Politiker und andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens 12 Vgl. etwa den Kommentar von Monika Wagener, WDR, in den Tagesthemen vom 23.04.206 , zuletzt besucht 18.05.2019.

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von deutscher Mitverantwortung oder gar von Mitschuld sprechen und nicht zuletzt, ob sie das Wort »Genozid« verwenden würden.13 Im folgenden Jahr 2016 war diese Frage dann bereits kein Thema mehr, noch stärker als 2015 stand vielmehr im Zentrum des Interesses, was die Resolution als solche für die außen- und innenpolitischen Belange Deutschlands bedeuten könnte. Und gerade in diesem Kontext dürften sich Gründe für das Verschweigen anderer Opfer als den Armeniern oder das Herunterspielen von deren Opferposition finden lassen. Denn kaum eine Nachrichtensendung oder ein Zeitungsartikel versäumten es, auf die geopolitische Bedeutung der Türkei und auf die voraussehbare Reaktion auf den Gebrauch des Wortes »Völkermord« bei diesem Bündnispartner hinzuweisen. Der Vorwurf, Verbrechen nicht nur gegen Armenier, sondern etwa auch gegen eine große Zahl von Griechen begangen zu haben, gegen Menschen also, die heute Bürger eines EU-Mitgliedstaats sind, wäre auf der Seite eben dieses Bündnispartners vermutlich als eine zusätzliche Zumutung betrachtet worden. In dieser Hinsicht dürfte das Konf liktpotential im Falle der Anerkennung des Opferstatus der Armenier also etwas geringer sein. In einem Kommentar in den Tagesthemen hieß es – durchaus in diesem Sinne –, dass die meisten Armenier heute in einem »unabhängigen, aber armen« Nachfolgestaat der Sowjetunion leben.14 Abgesehen von den Interessen des Bündnispartners Türkei sind zudem die Interessen von Minderheiten in Deutschland und in ganz Europa zu berücksichtigen, die ihre Wurzeln in der Türkei haben. Denn auch dies dürfte zu dem größeren Rahmen gehören, der das eigenartige Fehlen der griechischen und Aramäisch sprechenden Opfer des jungtürkischen Regimes in der aktuellen deutschen Erinnerungspolitik erklärt – und wohl auch das Auslassen der Pontos-Griechen aus der Bundestagsresolution vom 2. Juni 2016. Ein umfassenderes Bild der Katastrophe von Kleinasien könnte darüber hinaus auch aus einem anderen Grund unerwünscht sein, dem nämlich, dass der Blick auf die ganze Bandbreite der ethnischen Minderheiten, die damals Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit geworden sind, die Tatsache ins Scheinwerferlicht gerückt hätte, dass sie christliche Opfer waren. Die damaligen Zeitgenossen hatten mit der Dichotomie 13 Im deutschen Kontext war bereits nach der Ermordung des armenisch-türkischen Journalisten Hrant Dink von einem »G-Wort« die Rede (Thumann 2009), das bis heute als Reizwort in De­ batten um türkische nationale Identität gilt. Was die osmanischen Griechen angeht, ist es auch unter Historikern durchaus umstritten, ob dieses G-Wort verwenden werden kann (Bjørnlund 2008, 42). Der Historiker Matthias Bjørnlund hat eine brauchbare begriffliche Konkretisierung vorgeschlagen, der der komplexen Situation des späten Osmanischen Reiches in Anatolien und darüber hinaus gerecht zu werden scheint; er spricht von »violent Turkification« und beschreibt diese als »interconnected policies of, for example, ethnic cleansing and genocide aimed at the homogenization of the Ottoman Empire« (Bjørnlund 2008, 41). 14 So in einer kurzen Dokumentation in den Tagesthemen am 23.04.2015 , zuletzt besucht 18.05.2019.

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Islam-Christentum noch keine Probleme; Historiker wie Thanos Veremis oder Alexander Kitroeff weisen darauf hin, dass beispielsweise die Stadt Smyrna wegen ihrer griechischen und armenischen Mehrheiten »was described by Muslims across the Ottoman Empire as ›infidel Izmir‹«.15 Heute setzt man sich hingegen leicht dem Verdacht aus, neue ›koloniale Hegemonien‹ schaffen zu wollen, wenn man diese Dichotomie in irgendeiner Form ins Spiel bringt. Vor diesem Hintergrund fällt tatsächlich auf, dass dieser Aspekt in der entsprechenden Berichterstattung in den Medien über weite Strecken nicht erwähnt wurde. Zwar gab es verstreute Hinweise darauf, dass die Armenier damals eine christliche Minderheit waren,16 alles in allem wurden Informationen dieser Art jedoch deutlich heruntergespielt. Oder besser gesagt wurden die wenigen deutlichen Aussagen in diesem Kontext türkischen und armenischen Wissenschaftlern und Journalisten in den Mund gelegt – eine bekannte Medienstrategie, um im Fall von heiklen Themen kein Risiko einzugehen. Eine klare Aussage gab es beispielweise in einer SWR-Radiosendung, in der ein in den USA lehrender türkischer Historiker mit der Aussage zitiert wurde, dass es die Absicht des jungtürkischen Regimes war, »eine Politik und Mittel und Wege zu finden, um die Christen Anatoliens los zu werden«.17 Eine Berichterstattung, die die verschiedenen Gruppen christlicher und christlich-orthodoxer Opfer deutlicher im Kontext einer feindlichen und sogar todbringenden muslimischen Gesellschaft dargestellt hätte, würde im gegenwärtigen Deutschland und Europa für Irritation sorgen – und sicherlich auch der politischen Rechten in die Hände spielen. Oder, um es zugespitzt auszudrücken, in Deutschland und in großen Teilen Europas gehen regelmäßig die Alarmglocken, wenn jemand Christen und Muslime in irgendeiner Form gegenüberstellt. Für diese Art der Sensibilisierung gibt es sicherlich viele und je nach Umfeld wechselnde gute Gründe, doch nicht alle haben mit dem Respekt für andere Kulturen zu tun, sondern nicht zuletzt mit politischen und wirtschaft15 Vgl. Alexander Kitroeff in dem Dokumentarfilm Smyrna: The Destruction of a Cosmopolitan City 1900-1922 (Maria Iliou, Greece 2012, 0:17:10ff), und Thamos Veremis in From Both Sides of the Aegean: Expulsion and Exchange of Populations, Turkey-Greece: 1922-1924 (Maria Iliou, Greece 2014, 0:21:10ff). 16 Etwa in dem Bericht von Anna Grabenströr in den Tagesthemen, 23.04.206 , Zitat 0:13:40-0:13:50, zuletzt besucht 18.05.2019. 17 Interview-Zitat des an der Clark University in Massachusetts lehrenden türkischen Historikers und Soziologen Taner Akçam in der Dokumentation Die Leiden des ältesten christlichen Volkes von Reinhard Baumgarten (SWR2, 19.04.2015). Die Sendung und die Druckfassung des Skripts sind mehrfach auf den öffentlich-rechtlichen Kanälen ausgestrahlt bzw. reproduziert worden; vgl. in der Mediathek des SWR 2 sowie das Sendeskript , zuletzt besucht 18.05.2019.

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lichen Belangen – also etwa den Interessen der Handelspartner in muslimischen Ländern. Zum Zeitpunkt der Gründung der Deutschen Islam Konferenz und des Integrationsgipfels 2006 beispielsweise schauten Kritiker erstaunt auf die neue Koalition zwischen der deutschen Politik und fundamentalistischen muslimischen Verbänden und fragten sich, warum sich selbst konservative Politiker wie der damalige Innenminister Wolfgang Schäuble mit Vertretern des radikalen Islam an einen Tisch setzte. Kritiker wie die Vorsitzende des Koordinierungsrats der Ex-Muslime in Deutschland, Mina Ahadi, haben damals darauf hingewiesen, dass »der Islamgipfel wirtschaftliche Hintergründe hat – schließlich mache Deutschland Geschäfte mit Saudi-Arabien und anderen arabischen Ländern«.18 Hier spielen nicht zuletzt die Medien dem in diesem Sinne politisch und wirtschaftlich Gewünschten in die Hände, indem sie die Debatte kulturalisieren. Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal hat 2016 sogar von einer Art verinnerlichter Zensur gesprochen: »Auch in Europa ist es mit der Meinungsfreiheit nicht weit her, sobald es um den Islam geht. Die bloße Erwähnung des Begrif fs würgt jede Diskussion im Keim ab oder lässt sie auf Phrasen und Allgemeinplätze des politisch Korrekten zusteuern« (Radisch 2016, 33). Und für die Forschung konstatiert die Religionshistorikerin Kristin Skottki in einer 2015 erschienenen Studie, dass einerseits »wenige Themen der geschichtswissenschaftlichen Forschung« so wichtig und aktuell sind »wie die Frage nach dem Verhältnis [...] zwischen dem sogenannten Westen und der sogenannten islamischen Welt«, dass man jedoch andererseits gerade heute größten »Schwierigkeiten ausgesetzt« ist, wenn man darüber forschen will. Die Schwierigkeiten nennt sie auch beim Namen, es sind »Emotionen« und die »Tagespolitik« (Skottki 2015, 11). Vor diesem Hintergrund bereitete es möglicherweise im Fall der deutschen Beschäftigung mit den Massakern und Vertreibungen im späten Osmanischen Reich weniger Unbehagen, einem muslimischen Staat die Täterrolle zuzuweisen, da die Opfer von der Öffentlichkeit eher als Bürger eines ehemaligen Ostblockstaates wahrgenommen werden – statt als Bewohner des christlichen Okzidents. Auch lassen die Begriffe »aramäisch-assyrische und chaldäische Christen« die meisten eher an das Frühchristentum in biblischen Zeiten denken, während die Griechen eindeutig zur Tagespolitik der Gegenwart gehören. Rücksichtnahme auf die Verbündeten und auf eine konf liktanfällige multiethnische Situation scheinen also zu einer Selbstbeschränkung bei der Berichterstattung geführt zu haben, die sicherlich gut gemeint war, sich in diesem Fall jedoch kontraproduktiv auf die öffentliche Wahrnehmung und Anerkennung von historischen Fakten auswirkte – Fakten, die den meisten Historikern mittlerweile ganz selbstverständlich vertraut 18 Zitiert in dem Artikel (ohne Verfasser) »Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime: Politisier­ ter Islam wird in Deutschland verharmlost. Islamgipfel hat wirtschaftliche Hintergründe. In: Stuttgarter Nachrichten, 10.08.2007.

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sind. Vielleicht noch wichtiger ist, dass diese Rücksichtnahme zu einer Situation führt, in der die Opfer, die Überlebenden und ihre Nachkommen in einen Status der Nicht-Existenz versetzt werden. Wenn man davon ausgehen kann, dass es nicht zu rechtfertigen ist, einer ethnische Gruppe den Opferstatuts zuzusprechen und die Verbrechen an anderen allenfalls als eine Art unvermeidbarer Begleiterscheinung in Zeiten des Krieges zu behandeln, dann waren die Medienberichterstattung und die Haltung einiger Politiker zu diesem Thema – oder zum Teil ihre Unkenntnis oder Achtlosigkeit – nicht akzeptabel. Foto vom Denkmal auf dem Luisenkirchhof III in Berlin-Charlottenburg, © Foto Monika Albrecht, 27. Februar 2016.

Abschließend soll der in diesem Kapitel diskutierten Praxis zur Sicherung der Deutungshoheit jedoch noch ein Beispiel entgegengestellt werden, das Ergebnis langjähriger Bemühungen einer Fördergemeinschaf t um eine adäquate Geschichtsdarstellung ist (Fördergemeinschaft). In Berlin-Charlottenburg auf dem Luisenkirchhof III erinnert seit einigen Jahren ein Denkmal – nicht an die Opfer des »Genozids an den Armeniern«, sondern – an die Opfer des »osmanischen Genozids«: an »Armenier, Griechen Kleinasiens, des Pontos und Ostthrakiens, Aramäer (Syrer/Assyrer/Chaldäer)« – wobei die Initiatoren im Vorfeld mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten, wie sie of fenkundig auch die Debatte um die Resolution unterlegt hatten, nämlich nicht zuletzt dem Einwand,

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dass »Teile der muslimischen Bevölkerung Berlins […] sich provoziert fühlen [könnten]« (Herbold 2018). Diese Inszenierung der historischen Ereignisse stellt einen Einspruch gegen of fizielle Erinnerungspolitik dar. Sie wird darüber hinaus jedoch auch der heutigen Realität gerecht, in der Nachkommen der Täter und der Opfer als Einwanderer in Deutschland leben. Und sie stellt sich der unbequemen Tatsache, dass sie zum Teil »gegenläufige Gedächtnisse« mitgebracht haben (Diner 2007), mit der sich eine deutsche Erinnerungskultur auseinandersetzen muss.

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Sakraler Ritus ›meets‹ Fremdherrschaftserinnerung Die Mariä Himmelfahrt-Feierlichkeiten auf der Ägäisinsel Tínos als Mnemotop zwischen orthodoxer Marienverehrung, Revolutionskriegen und Weltkriegserinnerung im Lichte der cultural turns Julian Zimmermann, Universität Regensburg »In the history of a nation’s hour of triumph a myth is often embedded, a romantic story of heroic action or noble gesture which passes from generation to generation […]« (Brewer 2001, 1). Mit diesen Worten beginnt David Brewer seine Monographie über den griechischen Unabhängigkeitskrieg und greift in der Folge auf eben einen solchen Mythos zurück, um den Rahmen seiner Untersuchung anzuzeigen. Er beschreibt die Legende um den Metropoliten von Patras, Geórgios Yermanós, mit der man in der griechischen Überlieferung den Ausbruch des griechischen Unabhängigkeitskrieges von 1821 bis 1833 gegen die osmanische Fremdherrschaft verbindet. Die griechische Revolution ist nicht als singuläres – auf die geographische Region Griechenlands beschränktes – Ereignis zu begreifen, sondern fügt sich ein in eine Reihe von Unabhängigkeitsbewegungen, welche das osmanische Vielvölkerreich bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts nicht mehr zur Ruhe kommen ließen.1 Zwar ist die Legende um den Revolutionsausbruch fiktiv, in ihrer regionalen Verortung auf der Peloponnes spiegelt sie aber die Realität wider, da sich die Revolution von dort auf griechischem Gebiet ihre Bahnen brach und auf Gebiete wie die Ägäis-Inseln, die Chalkidiki, Thrakien und Thessalien überschwappte (vgl. Brewer 2001, 3; Zelepos 2014, 38f.; Frazee 1969, 19). Die Erzählung um Geórgios Yermanós wurde ursprünglich durch den französischen Konsul der 1820er Jahre in Athen, François Pouqueville, verschriftlicht (Pouqueville 1825, 325-337) und berichtet von eben jenem Metropoliten, welcher im März 1821 von der Stadt Patras auf der nördlichen Peloponnes nach Tripolis reiste, da die osmanische Führung angesichts der sich anbahnenden Unruhen die griechische klerikale und laikale Führung zu einem Gipfeltreffen eingeladen hatte. Im Verlauf dieser Reise erreichte Yermanós am 25. März die etwas südlicher von 1 Vgl. dazu Eid 2006, 182, und zum Verlauf der griechischen Revolution Zelepos 2014, 38-52.

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Patras auf der Peloponnes gelegene Kleinstadt Kalávryta und begab sich zum in der Nähe der Stadt gelegenen Kloster Agía Lávra, wo er wohl aus Abneigung gegen die osmanische Einladung die Anreise unter dem Vorwand einer Erkrankung unterbrach (vgl. Frazee 1969, 18). Dort angekommen, erwarteten ihn der Legende nach 1500 Bewaffnete, die sich zum Widerstand gegen die osmanische Fremdherrschaft auf der Peloponnes versammelt hatten. Den kampf bereiten Revolutionären entgegnete er, dass diese beim Anrücken der osmanischen Truppen nur die alttestamentarischen Worte »Thine, O Lord, is the victory« sprechen müssten, um die Aggressoren zu vertreiben. Als tatsächlich 60 osmanische Kavalleristen anrückten, sollen die Revolutionäre eben jene Worte ausgesprochen haben und die osmanischen Kavalleristen zogen sich unverzüglich zurück nach Kalávryta (Brewer 2001, 1f). Des Weiteren segnete Yermanós am 25. März die Fahne der Widerständler, das weiße Kreuz auf blauem Hintergrund. Das Kreuz stand für die christlich-orthodoxe Prägung der Revolution und hält sich bis heute in der griechischen Nationalf lagge. Allein die symbolische Kraft dieser christlich geprägten Widerstandsf lagge ist ein erstes und wichtiges Indiz für die sakrale Aufladung der griechischen Revolution. Darauf hin schwor Yermanós, der allgemein als einer der wichtigsten Revolutionsführer im Raum der Peloponnes bezeichnet werden kann, die Aufständischen auf den weiteren Unabhängigkeitskampf ein (Frazee 1969, 19f.; Zelepos, 2014, 40). Er verwies dabei, so François Pouqueville, auf die überall bereits ausbrechende Erhebung und endete dann mit den pathetischen Worten: »[…] that our whole history, and our whole future, are enshrined in the words religion, freedom and fatherland« (zitiert nach Brewer 2001, 2). Allein die Rangfolge der Wörter, in denen laut Yermanós Geschichte und Zukunft der Griechen2 liege, lässt auf horchen. Zuallererst ist dies die Religion, auf der Freiheit und Vaterland auf bauen. Für Brewer ist diese Legende zentrales Exemplum für die These, wie sehr die politische und die religiös-sakrale Sphäre im griechischen Unabhängigkeitskrieg Hand in Hand gingen. Die Verbindung von Sakralem und Politischem sei, so Brewer, die logische Konsequenz aus der bereits zuvor jahrhundertelangen identitätsstiftenden Funktion, die die orthodoxe Kirche für die griechischen Bevölkerungsschichten im osmanischen Vielvölkerstatt eingenommen hatte. Er resümiert daher: »In this the myth ref lects reality. The church had indeed been the main preserver of Greek national identity throughout nearly

2 Der Begriff »Grieche«, verstanden als Nationenzugehörigkeit, birgt eine gewisse Schwierigkeit für die Phase der griechischen Revolution, da ein griechischer Nationalstaat noch gar nicht exis­ tierte. Die Bezeichnung verstand sich von daher mehr als eine Zugehörigkeit zum christlich-or­ thodoxen Glauben und sprach somit weit mehr Personen im osmanischen Vielvölkerreich an, als nur die auf (heutigem) griechischem Gebiet lebenden Christen; vgl. dazu Livanios 2008, 256.

Sakraler Ritus ›meets‹ Fremdherrschaftserinnerung

400 years of Turkish rule« (Brewer 2001, 3).3 Der auf den ersten Blick politisch motivierte Unabhängigkeitskrieg der Griechen gegen die Osmanen bekommt in dieser Deutung eine nicht unerhebliche religiöse Komponente. Die Revolution zeigt sich darin nicht nur als Akt der Nationalstaatseinigung und Unabhängigkeitsbestrebung, sondern auch als Religionskrieg der unterdrückten orthodoxen Christen gegen die islamische Herrschaft (vgl. Clogg 1997, 30f.; Kolliopoulos und Veremis 2010, 16; Zelepos 2014, 18f). Die Revolution erschien somit, so fasst es Ioannis Zelepos zusammen, für die orthodoxen Zeitgenossen als Glaubenskrieg zwischen Christen und Muslimen und hatte folglich eine ebenso nationale wie auch religiöse Auf ladung (Zelepos 2014, 39). Auch für Charles Frazee bleibt so nur das Fazit zu ziehen: »The revolution had become a Holy War« (Frazee 1969, 21).4 In diesem Kontext fällt zudem die Datierung des Revolutionsausbruches in der griechischen Erinnerungskultur auf. Erste Ansätze einer griechisch-nationalen Bewegung lassen sich bereits im 18. Jahrhundert erkennen. Die daran anknüpfende Revolutionsbewegung des 19. Jahrhunderts bekam dann starke Anstöße durch die griechischen Diasporagemeinden und die dort lebende griechischsprachige intellektuelle Elite, bis sie dann im Frühjahr 1921 auf Griechenland überschwappte. Das genaue Datum des Revolutionsausbruches mit einer Datierung auf den 25. März ist daher eigentlich anachronistisch, insbesondere auch deswegen, weil die Revolution auch auf griechischem Boden bereits einige Tage früher begann (vgl. Zelepos 2014, 37f.; Clogg 1997, 37, 47-50, 55-59; Kolliopoulos und Veremis 2010, 16). Aber die Legende um den Bischof fällt durch diese Datierung mit dem wichtigen christlichen Fest Mariä Verkündigung zusammen. Der Ausbruch der politischen griechischen Revolution wird somit auf eine religiöse Ebene gehoben und sakralisiert, was sich bis heute als griechischer Nationalfeiertag nachwirkt. Zu der erinnerungspolitischen Dimension dieser Geschichtsanpassung hält David Brewer treffend fest: »Nevertheless ›Ayia Lávra has become for Greeks the defining venue for the outbreak of their revolution, and 25 March is still a day of national celebra­ tion« (Brewer 2001, 3). Die Datierung des Revolutionsausbruches ist somit zwar keine idealtypische Hobsbawm’sche »invented tradition« (Hobsbawm 1984, 1),5 da sie nicht aus Grün3 Hierzu hält Ioannis Zelepos fest, die orthodoxe Kirche sei »[…] integraler Bestandteil des Staats­ gefüges und zugleich wichtiges Organ der Systemstabilisierung [im Osmanischen Reich gewe­ sen]« (Zelepos 2014, 19). 4 Vgl. Brewer 2001, 7, sowie zur Frage der griechischen Identität im Revolutionszeitalter Livanios 2008, 256 und 258f. 5 »›Traditions‹ which appear or claim to be old are often quite recent in origin and sometimes inven­ ted. […] The term ›invented tradition‹ is used in a broad, but not imprecise sense. It includes both ›traditions‹ actually invented, constructed and formally instituted and those emerging in a less easily traceable manner within a brief and dateable period – a matter of a few years perhaps – and establishing themselves with great rapidity« (Hobsbawm 1984, 1).

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den der Traditionsbildung auf die Vergangenheit rekurriert – trotz allem aber findet auch in diesem Kontext »[…] a process of formalization and ritualization […]« (Hobsbawm 1984, 4) statt, der durch eine Form der Geschichtsanpassung dem Unabhängigkeitskrieg zusätzliche Legitimität verleihen soll. Die Verkoppelung von sakraler Sphäre und politischem Auf begehren gegen Fremdherrschaft wird folglich an diesem Beispiel besonders deutlich.6 Auch die folgende Detailstudie zur Kykladeninsel Tínos ist in diesem verschwimmenden Grenzraum zwischen Sakralem und Politischem angesiedelt. Das Auf begehren gegen Fremdherrschaft steht im Fokus der Betrachtung, da auch die in der Ägäis gelegene Insel Schauplatz eines symbolträchtigen religiösen Ereignisses im Verlauf der Revolution war, das paradigmatisch für die sakrale Auf ladung des griechischen Unabhängigkeitskrieges steht, nämlich die dortige Auffindung einer Marien-Ikone. Zugleich eröffnet diese Detailstudie einen gewinnbringenden Rahmen, um die Beobachtungen zur griechischen Revolution mit einem weiteren historischen Fall der Fremdherrschaft zu verknüpfen, da sowohl die Ikone als auch Tínos in Bezug auf die italienische Aggression gegen Griechenland 1940 eine wichtige Rolle spielten. Insofern soll im Folgenden zunächst der Auffindung der Ikone und ihrer Bedeutung im Zuge der Revolution nachgegangen werden, um darauf hin den Blick auf den Zweiten Weltkrieg zu richten. Erkenntnisleitend bleibt stets die Frage, wie die heutige Erinnerungskultur bezüglich dieser beiden wichtigen historischen Phasen der jüngeren griechischen Geschichte auf Tínos greif bar ist. Dabei stehen die Ikone und der jährlich stattfindende sakrale Festakt am 15. August – also an Mariä Entschlafung bzw. Mariä Himmelfahrt – im Zentrum der Betrachtung, da hierin die unterschiedlichen Erinnerungskulturen ihren gemeinsamen Fixpunkt finden. Neben der historischen Einbettung und der durch sie indizierten Bedeutungsauf ladung »von Ikone und Festakt zielt das Interesse« dieser Analyse folglich insbesondere auf zeitgenössische Formen der Revolutionskriegs-, und Weltkriegserinnerungskultur, die sich im Kontext sakral-christlicher Feierlichkeiten zu vereinigen scheinen.

Die Gottesmutterikone ›Megalócharis‹ von Tínos und ihre Auffindung Im Jahre 1821 offenbarte sich der Überlieferung nach die Mutter Gottes – kurz vor dem christlichen Fest Mariä Verkündigung – dem tiniotischen Bauern Michális Polyzóis und äußerte ihm gegenüber ihren Wunsch, dieser möge auf dem Feld eines Bauern nach ihrer alten Kirche und Ikone suchen.7 Die durch ihn angesto6 Zur Bedeutung der orthodoxen Kirche im Revolutionsverlauf vgl. Frazee 1969, 69f. 7 Vgl. zur Legende um die Auffindung der Ikone die Darstellung auf der offiziellen Homepage der Kirche Evangelístria von Tínos panagiatinou, hier: »Geschichte der Kirche«.

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ßene Suche blieb jedoch vorerst erfolglos. Ein Jahr später, und somit schon mitten im Verlauf der Revolution, erschien die Mutter Gottes an drei aufeinanderfolgenden Juli-Sonntagen8 der auf Tínos lebenden Nonne Pelagía. Die Panajía, also die »allheilige Gottesmutter«, befahl dieser, die Suche erneut zu forcieren. Mit Unterstützung des örtlichen Metropoliten Gabriel nahmen die Dorf bewohner die Suche ab September 1822 wieder auf. Am 30. Januar 1823 stieß ein Arbeiter bei der Grabung mit seiner Hacke auf die Ikone und zerteilte diese, wobei das Bildnis der Maria auf der Ikone unversehrt blieb.9 Die Unversehrtheit des Bildnisses und seine Auffindung wurden als religiöses Wunder interpretiert. Von den Zeitgenossen wurde diese christlich-sakral aufgeladene Symbolik politisch gedeutet und man sah die Auffindung der Ikone als göttliches Zeichen zur berechtigten Bekämpfung der osmanischen Fremdherrschaft an.10 Das göttliche Wunder der Ikonenfindung zog Pilger aus ganz Griechenland an, »um der Ikone zu huldigen und für die Befreiung des Volkes zu beten.«11 Die politische Dimension des Wunders spiegelt sich darin wider, dass in der Folge wichtige Revolutionsführer12 auf die Insel reisten. Die Ikonen-Auffindung hatte folglich von Beginn an eine starke politische Bedeutungsauf ladung und wurde von den Revolutionären instrumentalisiert. Dies verwundert auch nicht mit Blick auf den Fundort der Ikone, da die Ägäisinseln, neben der Peloponnes und Mittelgriechenland, zu den aktivsten Regionen der griechischen Revolution zählten (vgl. Zelepos 2014, 40). Die Marienikone war für diese Zwecke auch deswegen besonders wirkmächtig, da gerade die Marienverehrung im Christentum eine herausgehobene Stellung einnimmt (vgl. Boff 2008, 422). Die Ikonenfindung war daher ein äußerst wirkmächtiges Symbol der Befreiung von der Fremdherrschaft. Auch der zeitliche Kontext des Funddatums springt sofort in das Auge. Das exakte Datum, also der 30. Januar, fällt auf das orthodoxe Fest der Heiligen drei Hierarchen.13 Der Fundtag weist also, ebenso wie der 25. März als Ursprungsdatum der Revolution, eine bereits vorhandene religiöse Dimension auf, Revolution und sakrale Sphäre werden dadurch symbolisch verknüpft. Doch auch der Blick auf den Revolutionsverlauf wird in diesem Kontext interessant, da die Suche und das Finden der Ikone in eine Phase des erstarrten Frontenverlaufs ohne große 8 Am 9. Juli, 16. Juli und 23. Juli 1823; vgl. panagiatinou, hier: »Geschichte der Kirche«. 9 Vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche«. 10 Vgl. panagiatinou, »Allgemeine Informationen«. 11 Zitat panagiatinou, »Geschichte der Kirche«. 12 Hierzu zählten insbesondere Theódoros Kolokotrónis, Andréas Miaoúlis, »Nikitarás« (Nikítas Stamatelópoulos) und Ioánnis Makrygiánnis (vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche«). 13 Gemeint sind hiermit Basilius der Große, Gregor von Nazianz und Johannes Chrysostomos (vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche«).

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Fortschritte auf beiden Seiten fiel.14 Dies lag insbesondere an den stark divergierenden Vorstellungen der verschiedenen griechischen Revolutionsführer, denen es nicht gelang, sich auf eine einheitliche gemeinsame politische Linie zu einigen und so die Revolutionskräfte zu bündeln. Die Zersplitterung der revolutionären Bewegung hat ihren Ursprung insbesondere in den unterschiedlichen Sozialstrukturen der die Revolution in den Hauptregionen tragenden Bevölkerungsschichten, die aus verschiedenen Motivationen und divergierenden Zielen gegen die osmanische Herrschaft rebellierten. Dies führte letztendlich zu einem inneren Verfassungskonf likt in den Jahren 1822-1824 und zu zwei innergriechischen Bürgerkriegen (vgl. Zelepos 2014, 41f. und 45f.; Clogg 1997, 60f.). Die Revolutionsführer brachten somit über das religiös aufgeladene Wunder von Tínos in dieser stagnierenden Phase des Krieges über die sakrale Sphäre ein neues Moment der Revolutionseinigkeit in das Spiel, welches über die Grenzen der einzelnen Revolutionsgruppierungen hinweg verbindend wirken sollte. Dabei machten sie es sich zu Nutze, dass die Marienverehrung im Christentum prädestiniert dafür ist, größere Volksmengen zu vereinen (vgl. Boff 2008, 427). Dem Auffinden der Ikone wurde letztendlich in einem Akt der Herstellung kultureller Bedeutung (vgl. Bachmann-Medick, 2006, 104, 110) neben der sakralen Bedeutungsebene zugleich auch eine politische zugeschrieben. Dass gerade der Versuch der Etablierung eines einheitsstiftenden und sakral aufgeladenen Symbols der Revolution auf den Ägäisinseln auf kam, erklärt sich auch aus der spezifischen Rolle, die diese Region im Revolutionsverlauf einnahm. Die dortige Elite aus Seekauf leuten stellte mit ihrer Handelsmarine nicht nur das Rückgrat der wichtigen Seestreitkräfte dar,15 sondern bestand aus einer Form des Bürgertums, das in intensiverem Austausch mit dem europäischen Westen und der griechischen Intelligenz in den Metropolen stand und dadurch zu einem Sprachrohr der griechischen Revolution wurde. Diese Schicht war wichtig für die Herausbildung einer eigenen griechisch-orthodoxen Identität, die diese insbesondere durch die Stiftung von Bibliotheken, Schulen und anderen Bildungseinrichtungen förderte (vgl. Clogg 1997, 45; und Zelepos 2014, 42).

Die Auswirkungen der Ikonenfindung auf die Insel und Tínos Chóra Bereits kurz nach der Auffindung der Ikone im Jahre 1823 begann man auf Tínos mit dem Bau einer Kirche am Fundort. Das Bauvorhaben wurde 1880 beendet und stellte zugleich das erste fertige Großbauprojekt des neuen griechischen

14 Vgl. für einen Überblick zum Revolutionsverlauf Zelepos 2014, 38-52. 15 Zur griechischen Handelsflotte vgl. Clogg 1997, 44.

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Staates dar.16 Direkt an der Fundstelle, also im heutigen Kellergewölbe des Komplexes, errichtete man die Fundkapelle zu Ehren der Ikone. Diese trägt den Namen »Ζωοδόχος Πηγή« (Zoodóchos Pijí – lebensspendende Quelle) und besteht aus drei Säulengängen. Im ersten befindet sich der Fundort der Ikone, im zweiten das heutige Tauf becken und im dritten das Baptisterium für Nicht-Orthodoxe. Direkt darüber wurde die prachtvolle und der Panajía geweihte Kirche Evangelístria in Form einer dreischiffigen Basilika erbaut.17 Die zugehörige Kirchengemeinde wurde im Jahre 1825 formal unter dem Namen ›heilige Stiftung Evangelístria‹ als juristische Rechtsperson gegründet.18 Die Basilika wurde auf einer Anhöhe oberhalb des Hauptortes errichtet und überragt somit bis heute den Hauptort der Insel Tínos. Heute führt von ihr aus die zentrale Hauptstraße, an deren Bau die Kirchengemeinde bedeutend beteiligt war19 – die Odós Megalóchari –, direkt zum Hafen der Stadt. Abbildung 1 – Sicht auf die Odós Megalóchari mit Blickrichtung von der Kirche Evangelístria Richtung Hafen (© Foto Julian Zimmermann, 11. September 2018).

16 Vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche« und ebd. »Allgemeine Informationen«. 17 Vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche«. 18 Der offizielle Name ist Πανελληνίου Ιερού Ιδρύματος Ευαγγελιστρίας Τήνου (Panhellenische Geistli­ che Stiftung der Kirche Mariä Verkündung auf Tínos). Vgl. panagiatinou, »Allgemeine Informatio­ nen« und »Geschichte der Kirche«. 19 Vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche«.

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Diese Straße ist die zentrale Bühne der zwei großen Marienfeste, Mariä Verkündigung am 25. März und Mariä Entschlafung am 15. August. An diesen beiden Tagen finden Prozessionen statt, die von der erhöht über dem Ort liegenden, der Panajía geweihten Kirche durch die zentrale Straßenachse der Odós Megalóchari hin zum Hafen führen. Prozessionen werden hierbei analytisch verstanden als Medien performativer Kommunikation, die in ihrem Vollzug sinnstiftend wirken können. Sie sind nicht nur Teil der Sinnseite, sondern auch der mindestens ebenso wichtigen Ausdrucksseite politischer Kulturen und somit wesentlich für die Erzeugung von Sinn und Zugehörigkeit (vgl. Hölkeskamp 2015, 20f., 24f. und 27). Vergegenwärtigt man sich die topographische Konstellation unter Analysekriterien des spatial tun, bei dem Raum als selbständige Analysekategorie20 und als sozial erzeugtes Konstrukt verstanden wird (vgl. Oberste und Ehrich 2009, 9; Bachmann-Medick 2006, 285f. und 290), erkennt man deutlich, wie Kirche und Odós Megalóchari bewusst die zentrale Achse des Ortes bilden. Die Kirche überragt die Stadt und ist von Weitem sichtbar. Zusammen mit der geradlinigen und zum Hafen führenden Hauptachse bilden Kirche und Straße nicht nur die zentralen topographischen Merkmale der Siedlung, sondern sie dienen auch als öffentliche Bühne, welche für Inszenierungen wie eine Prozession genutzt werden kann. Es lässt sich daher eine bewusste Einschreibung der Prozessionsroute in die Topographie der Stadt vermuten.21 Dadurch lassen sich Fragen nach Konstrukteuren und Konstruktionsprinzipien räumlichen Gefüges mit kulturellen Techniken der Identitätssicherung beantworten. Durch die räumliche Gestaltung der zentralen Achse des Ortes manifestiert sich nicht nur die lokale Deutungshoheit durch die orthodoxe Kirche; 22 vielmehr spielt die Einbindung dieses räumlichen und auf die Kirche abgestimmten Stadtgefüges in die kirchlichen Prozessionen eine zentrale Rolle in der auf Ikone, Kirche und Fremdherrschaftserinnerung bezogenen Identitätsstiftung. Gerade hierin zeigt sich deutlich, dass Raum als sozial konstruiert und insbesondere mit sozialer Praxis verknüpft verstanden werden muss, der letztendlich auch als Element der Herstellung sozialer Beziehungen und kultureller Bedeutung dient.23 20 Vgl. zum gesellschaftsanalytischen Potential verschiedener Raumperspektiven Bachmann-Me­ dick 2006, 289. 21 Für einen Eindruck der geradlinigen Achse von der Kirche zum Hafen als Prozessionsroute siehe: TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, hier v.a. min. 12,18 und 25 und Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, min. 22,24 (für die Sichtachse von der Kirche Richtung Hafen) und Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, min.20,15 (für die Sichtachse von Hafen Richtung Kirche), sowie Abbildung 1. Vgl. grundlegend zur Verbindung von Raum und Prozession Hölkeskamp 2015, 45-49. 22 Vgl. zur Theorie räumlich artikulierten Deutungshoheit und zu Konstruktionsprinzipien räum­ lichen Gefüges Oberste und Ehrich 2009, 9f. und Bachmann-Medick 2006, 293-295, sowie Höl­ keskamp 2015, 37. 23 Vgl. zur Raumtheorie Bachmann-Medick 2006, 292 und Hölkeskamp 2015, 34-36.

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Eine ebenso wichtige identitätsstiftende Funktion nimmt die Ikone selbst ein, die nicht nur durch religiöse Bedeutungsauf ladung, sondern auch materielle Ausschmückung auffällt. Heutzutage ist die Ikone in einem Glasschrein24 im – mit Blick auf den Altar – linken Teil der Basilika auf bewahrt. Die Ikone ist reich mit Gold und Schmuck verziert, wobei insbesondere von Gläubigen gespendete Perlen das Marienbildnis schmücken, die diese als Dank für die Erfüllung ihrer Gebete stifteten. Bei den zwei Prozessionen im Jahr am 25. März und am 15. August wird das Bildnis, eingefasst in ein prunkvolles Gehäuse,25 auf einer Sänfte über die Hauptachse in Richtung Hafen getragen.26 All diese Elemente gehören auch zu den noch zu beschreibenden performativen Akten, bei denen durch herausgehobene Materialqualität die kommunizierte Botschaft bzw. die herausgehobene Stellung des Aktes unterstrichen wird. Die Verehrung der Mutter Gottes und der Ikone findet im Jahreszyklus auf Tínos an drei zentralen Daten statt. Bereits seit dem Jahr 1824, also ein Jahr nach Auffindung der Ikone, ist Tínos jährlich Ziel von Pilgern, welche am Tag der Auffindung – also den 30. Januar – ebenso wie an den wichtigen Marienfesten auf die Insel pilgern. Die symbolische Zurschaustellung der zentralen Bedeutung des Ortes als Pilgerziel findet sich auch am zur Kirche hin gelegenen Ende der zentralen Straßenachse in Form einer sich f lehend in Richtung Kirche reckenden Pilgerskulptur. Die Ikone selber wiederum ist im Jahreszyklus erstmals am 25. März Teil eines öffentlichen Aktes, denn am griechischen Nationalfeiertag – also am Tag Mariä Verkündigung – findet eine kirchliche Prozession mit der Ikone von der Kirche bis zum Hafen statt. Auch hier zeigt sich deutlich die Symbiose von politischem und sakralem Erinnern im Zusammenfallen der beiden Bedeutungsauf ladungen des 25. März in der Prozession. Denn bei all diesen in Bezug zur Ikone stehenden Akten ist die Erinnerung an die griechische Revolution stets mitzudenken, was durch die Gleichzeitigkeit des auf die Revolution zurückgehenden Nationalfeiertages noch weiter verstärkt wird. Die Ikone dient somit seit ihrer Auffindung bis heute als Erinnerungsort des griechischen Auf begehrens gegen die osmanische Herrschaft.27 24 Vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche«. 25 Vgl. v.a.: Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, ab min. 4,40 und ab min. 7,15. 26 Vgl. dazu: TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, min. 9,20-10. 27 Die Fremdherrschaft des Omanischen Reiches ist allgemein in der Erinnerung der griechischen Bevölkerung bis heute sehr präsent, was neben der griechischen Revolution 1821-1832 auch an den nachfolgenden Auseinandersetzungen zwischen Griechen und Osmanen bzw. Türken liegen mag, namentlich dem von Kreta ausgehenden griechisch-osmanischen Krieg 1897 (vgl. dazu Zelepos 2014, 84f.), der als »Kollektivtrauma« mit nicht zu unterschätzender gesellschaft­ licher Wirkung versehenen Niederlage (welche sich im griechischen kulturellen Gedächtnis gar als »kleinasiatische Katastrophe« einbürgerte, siehe Zelepos 2014, 122f.) im sogenannten

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Abbildung 2 – Pilgerskulptur am Ende der Odós Megalóchari vor dem Kirchentableau (© Foto Julian Zimmermann, 11. September 2018).

Das größte und prominenteste kirchliche Fest, bei dem wiederum die Ikone im Mittelpunkt der Zeremonie steht, findet am 15. August, also am kirchlichen Festtag Mariä Entschlafung statt. Bei diesem großangelegten Festakt überlagern sich sakrale Sphären in einer noch viel weitreichenderen Form mit politischen Elementen und mit der Erinnerung an die Revolutionskriege und den Zweiten Weltkrieg. Deshalb sollen die Feierlichkeiten im August im Detail exemplarisch vorgestellt und analysiert werden.

Kleinasienfeldzug Griechenlands 1919-1922 (vgl. zu diesem griechisch-türkischem Krieg Zelepos 2014, 113-116 und 121-123) oder dem Zypernkonflikt des 20. Jahrhunderts (vgl. zum Zypernkon­ flikt Zelepos 2014, 189-198).

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Performative Fremdherrschaftserinnerung ›meets‹ sakralen Ritus: Das christliche Fest Mariä Entschlafung am 15. August auf Tínos Auch wenn Tínos bereits seit dem Jahre 1824 eine Pilgerstätte für griechisch-orthodoxe Christen ist, erlangte die Insel insbesondere ab dem Jahr 1835 eine herausgehobene Stellung28 als offizielle und durch die griechische Regierung anerkannte Wallfahrtsstätte.29 Aus diesem Grund ankerte im Jahre 1940 vor Tínos eine Fregatte der griechischen Marine namens Elli, die sich zur Feier Mariä Himmelfahrts nach Tínos begeben hatte (vgl. Zelepos 2014, 153). Zwar war zu diesem Zeitpunkt der Zweite Weltkrieg bereits im Gange, Griechenland war jedoch noch nicht aktiv involviert. Allerdings geriet Griechenland wohl spätestens nach dem deutschen Sieg über Frankreich in das Visier Benito Mussolinis, der in Griechenland zum einen ein leichtes Ziel seiner Profilierung als Eroberer sah, zum anderen Griechenland eine wichtige Rolle in den faschistischen Eroberungsplänen des italienischen ›Mare Nostrum‹ spielte.30 Die ankernde Fregatte wurde am 15. August 1940 durch einen Torpedo-Angriff eines italienischen U-Bootes versenkt (vgl. Zelepos, 2014, 153; Clogg, 1997, 150). Der Angriff auf ein griechisches Kriegsschiff und somit auf ein Land, mit dem man formal nicht im Krieg stand,31 war eine bewusste militärische Provokation des faschistischen Regimes, der zwei Monate später ein italienisches Ultimatum folgte, das die Aufgabe griechischer Souveränität verlangte (vgl. Schreiber 1984, 400; Kolliopoulos und Veremis 2010, 107-109). Dieses Ultimatum wurde am 28. Oktober 1940 durch Metaxa abgeschlagen (vgl. Clogg 1997, 150f.; Zelepos 2014, 153). Es folgte der italienische Überfall auf Griechenland und als Folge der Kriegseintritt Griechenlands in den Zweiten Weltkrieg.32 Es scheint naheliegend, dass der faschistischen Führung die religiöse und die politische Bedeutung des Mariä

28 Die Kirche zählt zu den wichtigsten orthodoxen Wallfahrtsorten. Vgl. hierzu panagiatinou, »All­ gemeine Informationen«. 29 Vgl. panagiatinou, »Geschichte der Kirche«. 30 Vgl. Zelepos, 2014, 153; Clogg 1997, 150. Vgl. zudem Rodogno 2010 zur faschistischen Vorstel­ lung eines neuen italienisch geprägten ›Mare Nostrum‹ (»Lebensraumpolitik«; ebd. 212-214, 217 und 228f.). Zur innenpolitischen Notwendigkeit eines militärischen Erfolges für Mussolini vgl. Schreiber 1984, S.  375-377. Zur Unterschätzung der griechischen Abwehrfähigkeit vgl. zudem ebd., 378-380. 31 Griechenland versuchte unter der Führung Metaxas zwar weiterhin unter Schutz Großbritan­ niens zu bleiben, gleichzeitig aber auch sich gegenüber Deutschland und Italien möglichst neu­ tral zu verhalten (vgl. Kolliopoulos und Veremis 2010, 105f., und Schreiber 1984, 341-343). 32 Zum Verlauf des italienischen Angriffes und zur Intervention des NS-Regimes ab April 1941 vgl. Zelepos 2014, 154-156, und Clogg, 1997, 154.

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Himmelfahrtsfestes auf Tínos bekannt war.33 Die Provokation sollte folglich bewusst in das Herz der Verbindung von Religion und Politik, von sakraler Sphäre und griechischen Unabhängigkeit-Patriotismus treffen, um Griechenland militärisch möglichst wirksam zu provozieren. Richard Clogg resümiert hierzu: Das [das Ultimatum] war der Höhepunkt einer Serie von Provokationen, von denen die unverhohlenste die Torpedierung des Kreuzers Elli war, als er am 15. Au­ gust, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, vor der Insel Tinos vor Anker lag, wo sich die wunderwirkende Ikone der Jungfrau Maria befindet (Clogg 1997, 153).34 In der Beschreibung des Angriffes auf die Fregatte Elli wird in der Forschung von einer nicht unerheblichen Anzahl an Todesopfern gesprochen.35 Interessant ist hierbei, dass sich jedoch in der insularen Überlieferung ein anderes Bild abzeichnet. Hier hält sich eher die Ansicht, dass durch das religiöse Fest die meisten Matrosen an Land waren und es daher nur wenig Opfer zu beklagen gab. Dies ist ein weiterer Aspekt, wie der Marienverehrung in der genuin insularen Überlieferung eine patriotisch-wundersame Bedeutung zugeschrieben wird. Mit Blick auf die tatsächliche Opferzahl in Höhe von neun Angehörigen der griechischen Marine scheint diese lokale Einschätzung jedoch nicht ungerechtfertigt.36 Auch in anderen Bereichen zeigt sich die Marienverehrung als zentrales Motiv der innergriechischen Kommunikation im Zweiten Weltkrieg, besonders in der Wiederstandspropaganda. Ein Plakat des Künstlers Geórgios Gunarópoulos zeigt beispielsweise einen Soldaten, hinter dem sich eine noch größere Darstellung der Jungfrau Maria erhebt, die scheinbar über den Soldaten wachend mit diesem in den Kampf zieht.37 Die beistehende Bildbeschriftung ergänzt: »Sieg, Freiheit und die Jungfrau Maria sind mit ihm« (zitiert nach Clogg 1997, 152). Die religiöse Aufladung des Wiederstandes gegen die italienische Aggression brach sich zwar insbesondere nach dem italienischen Ultimatum vom 28. Oktober 1940 seine Bahn,38 ihren Ursprung kann man aber auch in der gezielten italienischen Provokation und dem U-Boot-Angriff am 15. August vermuten. 33 Auch John Kolliopoulos und Thanos Veremis (Kolliopoulos/Veremis, 2010, 107) verweisen bei Ihrer Beschreibung des italienischen Angriffes auf die wichtige Bedeutung des 15. Augustes als Pilgertag der Ikone der heiligen Jungfrau Maria auf Tínos. 34 Vgl. zu den italienischen Provokationen Schreiber 1984, 390. 35 So beispielsweise bei Clogg 1997, 150, und Zelepos 2014, 153. 36 Vgl. die genaue Aufzählung der Todesopfer, unter Angabe der Namen und des Rangs bzw. der Funktion auf der Fregatte, auf dem offiziellen Erinnerungsmahnmal im Hafen der Stadt (Ab­ bildung 7). 37 Abbildung des Plakates bei Clogg 1997, 152. Vgl. zu Funktion Marias als Beschützerin in Konflik­ ten auch Boff 2008, 420f. 38 Vgl. Clogg 1997, 152f.

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Im Hafen des Hauptortes der Insel steht heute ein an die Opfer und die Fregatte erinnerndes Gefallenendenkmal. Abbildung 3 – Elli-Denkmal am Pier im alten Hafen von Tínos. Zentral im Bild ein stilisierter Schif fsbug mit der eingestanzten Aufschrif t »1940 ΕΛΛΗ«. Darunter eine Visualisierung der Elli, direkt links und rechts daneben zwei erläuternde Inschrif ten. Am unteren rechten Ende des Denkmals befindet sich zudem eine Errichtungs-Künstler-Inschrif t aus dem Jahr 2002 und ganz links im Bild (in einem Schutzkasten) die Kanone der Fregatte, welche während der Feierlichkeiten abgefeuert wird (© Foto Julian Zimmermann, 11. September 2018).

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Eine ähnliche museale Erinnerungsstätte an den Angriff findet sich zudem in der Kirche des Ortes selber: Abbildung 4 – Museale Kapelle zur Erinnerung an den italienischen Angrif f auf die griechische Fregatte Elli, vom Kirchentableau der Kirche Evangelístria aus zugänglich. Neben einer Rekonstruktion der Fregatte (rechts) finden sich hier auch original Überreste des Angrif fs (Torpedobruchstück, links) (© Foto Julian Zimmermann, 11. September 2018).

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Abbildung 5 – Original Torpedobruchstück des italienischen Angrif fes auf die Fregatte mit beistehender inschrif tlicher Erläuterung: »[Dies] ist ein Teil von einem der auf das Kriegsschif f Elli durch das italienische U-Boot abgefeuerten Torpedos am 15.08.1940« (© Foto Julian Zimmermann, 11. September 2018).

Das zentrale Gefallenendenkmal im alten Hafen der Stadt befindet sich in unmittelbarer Nähe des Endpunktes – einem bühnenartigen Straßentableu – der zentralen Straßenachse von der Kirche Evangelístria über die Odós Megalóchari und somit auch der Prozessionsroute. Abbildung 6 – Rundtableau an der Hafenpromenade und Endpunkt sowie Rednerbühne der alljährlichen Prozession. Im Hintergrund (mitte-rechts) ist zudem bereits das Mahnmal für die Fregatte Elli im Hafen zu erkennen (© Foto Julian Zimmermann, 11. September 2018).

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Das zentrale Denkmal aus dem Jahr 2002 erinnert zudem mit zwei zentral am Monument und neben einer Visualisierung der Fregatte angebrachten Inschriften an das einschneidende Ereignis. Die linke Inschrift thematisiert dabei das Motiv für die Errichtung. So habe die Gemeinde von Tínos dieses Monument zum Zwecke der Erinnerung für die zukünftigen Generationen an den Kampf und die Opfer der Vorfahren gegen Gewalt und Faschismus errichtet. Abbildung 7 – Visualisierung der Elli auf dem Elli-Denkmal im alten Hafen von Tinos, f lankiert von zwei Inschrif ten.

Inschrif t links: »Die Gemeinde Tinos überreicht dieses Monument an die zukünf tigen Generationen zur Erinnerung und zur Ehrung der Kämpfe und Opfer unserer Vorfahren gegen Gewalt und Faschismus.«, Inschrif t rechts: Auf listung der neun Todesopfer des Angrif fes (»Opfer des unmenschlichen/heimtückischen (»θυσίες του άνανδρου«) Torpedoangrif fes auf die Elli«); (© Foto Julian Zimmermann, 11. September 2018). Es geht der Gemeinde folglich um eine monumentale, visuelle und auch schriftliche Einschreibung der Erinnerung an die italienische Aggression in das kollektive Gedächtnis des Ortes und in die städtische Topographie. Nicht von ungefähr liegt das Denkmal an einer der zentralen Anlegestellen im Hafen, an dem auch etliche Pilger und Touristen nach ihrer Ankunft die Insel betreten. Die rechte Inschrift hingegen listet die Opfer des Angriffes auf, welche durch den extra als heimtückisch bzw. unmenschlich (άνανδρος) gebrandmarkten Torpedoangriff zu Tode gekommen sind. Der explizite Verweis darauf, dass es sich um einen Torpedo-Angriff eines U-Bootes gehandelt hat findet sich zudem auch an anderen Stellen39 und soll wohl auf die besondere Heimtücke eines unerwarteten und durch ein U-Boot ausgeführten Angriffs verweisen. Im weiteren topographischen Bezugs39 Beispielsweise auch in der kleinen musealen Erinnerungskapelle an der Kirche selber (siehe Ab­ bildung 4 und 5).

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rahmen dieses Denkmals, dem alten Hafen von Tínos, endet wie bereits erwähnt auch die alljährliche Prozession. Die festgelegte Route einer Prozession führt zumeist über symbolisch wichtige Orte und hat ebenso symbolträchtige Start- wie auch Endpunkte. Somit zeigt sich die Route als integraler Bestandteil der Prozessions-Syntax und als Medium der übermittelten Botschaft (vgl. Hölkeskamp 2015, 32, 47). Dies trifft auch auf Tínos zu, wo eine visuell-topographische Verbindung von Hafen und Kirche als Start und Schlusspunkt der Prozessionen entsteht, die nicht zuletzt den militärischen Erinnerungsort am Hafen mit der Kirche als sakrales Zentrum und Erinnerungsort der Revolutionskriege eindrucksvoll verbindet und als Zentralachse des Ortes das Stadtbild mit identitätsstiftender Bedeutungsauf ladung prägt.40 Die Verehrung der Ikone am 15. August sowie ihre inhaltliche Verknüpfung mit den Unabhängigkeitskriegen erhält durch die Ereignisse von 1940 eine weitere Dimension, die auch die italienische Aggression und die Fremdherrschaft im Zweiten Weltkrieg einschließt. Zum einen wird in der der Panajía geweihten Kirche selber in einem kleinen Museumsbereich an den Angriff am 15. August erinnert.41 Zum anderen lebt die Erinnerung daran in dem jährlichen kirchlichen Festakt Mariä Entschlafung fort. Diese Form der performativen Erinnerungskultur versteht sich in Gänze nur mit Blick auf den gesamten Entstehungsprozess des Festaktes,42 der seine Ursprünge in den Revolutionskriegen des 19. Jahrhunderts hat, dem durch die italienische Aggression im Zweiten Weltkrieg weitere Bedeutungsaufladung zukam und der bis heute, sich jährlich wiederholend, an orthodoxe Marienverehrung, Unabhängigkeitskrieg und Zweiten Weltkrieg erinnert. Gerade in dieser Wiederholbarkeit von gesellschaftlichen Praktiken – wie eben Riten oder Zeremonien – liege, so Karl-Joachim Hölkeskamp, ihre zentrale symbolisch-ordnende Kraft (Hölkeskamp 2015, 28f., vgl. auch Bachmann-Medick 2006, 111). Dieser vielschichtige performative Prozess sich überlagernder Erinnerungskulturen soll im Folgenden skizziert werden. Die Feierlichkeiten beginnen offiziell bereits am 13. August mit einer Abendandacht um 18.30 Uhr in der Kirche, der dann am nächsten Tag weitere Programmpunkte folgen (als Leitfaden durch den Ablauf dieses Festaktes dient das Programm der Feierlichkeiten 2017).43

40 Zu dieser gemeinschafts- und identitätsstiftenden Funktion von Prozessionen in Verbindung mit dem (städtischen) Raum vgl. Hölkeskamp 2015, 50 und 52. 41 Vgl. hierzu panagiatinou, »Geschichte der Kirche« und Abbildung 4 und 5. 42 Zur Wichtigkeit der Prozessanalyse bezüglich performativer Strukturen – somit auch zum Ent­ stehungsprozess – vgl. Bachmann-Medick 2006, 104. 43 Für die Recherchearbeiten und Kommunikation mit der Kirche und der Gemeinde vor Ort, eben­ so wie für die Auswertung und Übersetzung der Dokumente wie auch der öffentlichen Inschrif­ ten, sei an dieser Stelle Chrístos Liolios (Badenweiler) mein herzlichster Dank ausgesprochen.

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Abbildung 8 – Programm Mariä Entschlafung Tínos, 15. August 2017.

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Bereits am 14. August, am Tag vor dem christlichen Fest, spielt die Erinnerung an die italienisch-faschistische Aggression eine entscheidende Rolle. Denn die Abendandacht um 19 Uhr wird mit einer Kranzniederlegung am Kriegsgefallenendenkmal für die Fregatte Elli verknüpft, an der neben dem Kirchenvorsteher auch der Bürgermeister und der Vertreter der Regionalregierung Süd-Ägäis teilnehmen (Programmpunkt 2). Bereits hier zeigt sich die Verbindung von sakraler und erinnerungspolitischer Sphäre deutlich. Es folgt das Abendgebet durch den Metropoliten von Sýros-Tínos um 20 Uhr und eine Nachtandacht um 23 Uhr (Programmpunkt 3 und 4). Am 15. August kommt es dann zum Hauptakt der Festlichkeiten. Nach einem Frühgebet um 2.30 Uhr beginnen um 7 Uhr morgens die Musikkapellen der Kirchengemeinde und diejenige der Marine, begleitet durch das Glockengeläut der Kirche, eine erste Prozession durch die Straßen der Stadt, während gleichzeitig in der Kirche eine erste frühe Zeremonie stattfindet (Programmpunkte 5-7). Um 8.30 Uhr kommt es dann zur zentralen heiligen Messe in der Panajía, welche der Metropolit von Sýros-Tínos leitet (Programmpunkt 8). Bis zum Gottesdienst um 8.30 Uhr am 15. August ist lediglich die bereits erwähnte Anwesenheit des Musikcorps der Marine ein Indiz für die Durchmischung von sakraler und politischer Sphäre. Doch beim nächsten Programmpunkt um 9.30 Uhr wird diese Vermengung umso deutlicher. Von einem Marineschiff aus werfen Regierungsvertreter und die militärische Führung des griechischen Heeres einen (Blumen-)Kranz am »nassen Grab« der Elli in das Meer,44 während gleichzeitig die heute wieder restaurierte und im Hafen neben dem Denkmal aufgestellte kleine Kanone der Fregatte Kanonensalven abfeuert (Programmpunkt 9). Zudem bleibt während der ganzen weiteren Zeremonie eine heutige Fregatte der griechischen Marine, welche selbstverständlich auch den gleichen Namen »Elli« trägt, genau an dem Punkt stehen, an dem das griechische Kriegsschiff 1940 sank.45 Die versenkte Fregatte »Elli« wird folglich während der gesamten Feierlichkeiten geradezu personifiziert und dient als zentrales Mnemotop der Erinnerung an die italienische Aggression und den Zweiten Weltkriege. Die Durchmischung von Religion, Politik und militaristischen Elementen tritt im Verlauf der Feierlichkeiten somit deutlich zu Tage; das genutzte »Inszenierungsvokabular«46 verweist auf die verschiedenen zu bedienenden Bedeutungsebenen des Aktes. Der sakrale Ritus wird hier bewusst mit Komponenten der Weltkriegserinnerung an die italienische Aggression im Zweiten Weltkrieg verknüpft. Man darf zudem nicht vergessen, dass über all dem auch stets die Iko44 Vgl. hierzu die ›Kranzniederlegung‹ der Feierlichkeiten 2016. Siehe dazu: Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, min. 11-12,50. 45 Vgl. dazu: TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, min. 10,40-10,48 und min. 12. 46 Vgl. zum Begriff des Inszenierungsvokabulars vgl. Bachmann-Medick 2006, 106f., und Hölkes­ kamp 2015, 30-32.

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nen-Auffindung und somit auch der Widerstand gegen die osmanische Fremdherrschaft mitschwingt. Noch klarer wird diese Symbiose im nächsten Programmpunkt, der groß angelegten Mariä Himmelfahrts-Prozession, die von der Kirche über die Odós Megalóchari in Richtung Hafen führt und in der die Ikone eine zentrale Rolle einnimmt. Der durch Kirche, Zentralachse und Gefallenendenkmal mit der Erinnerungskultur an Unabhängigkeits- und Weltkrieg aufgeladenen städtische Raum47 erfährt durch den performativen Akt eine noch intensivere jährliche Einschreibung von Gedächtnis- bzw. Erinnerungskultur.48 Den Abschluss des Tages bilden darauffolgend der Empfang der Ehrengäste um 12 Uhr mittags in der Kirche und dann eine abschließende Prozession der Musikkapelle der Kirche durch die Straßen der Stadt um 20.30 Uhr (Programmpunkte 10-12). Von besonderem Interesse ist für die Analyse aber jene zentrale Prozession um 10.30 Uhr (Programmpunkt 10). Die Prozessionsreihenfolge folgt einer vorgegebenen Ordnung,49 welche alleine schon durch den performativen Akt und die Reihenfolge der Teilnehmenden die Symbiose von sakralem und militärisch-politischem Bereich verdeutlicht. Ebenso wird durch diese Verknüpfung die Marienverehrung über die Ikone – samt der implizit mitzudenkenden patriotischen Bedeutungsauf landung aus den Unabhängigkeitskriegen – mit der Erinnerung an den italienischen Angriff im Zweiten Weltkrieg verknüpft. Nachdem die geistlichen Würdenträger das Innere des Kirchenraums verlassen haben und die Ikone feierlich aus der Kirche getragen wurde,50 beginnt am Fuße des Kirchentableaus die Prozession gemeinsam mit den schon wartendenden51 übrigen Prozessionsteilnehmern. Auf die vorangehende Musikkapelle der Kirche Evangelístrias folgt die der Marine, an diese schließen sich Marinesoldaten an, erst im Offiziers- oder Jungoffiziersrang, dann die Marinematrosen. An die Marine anschließend folgen die auf einer Sänfte getragene heilige Ikone und der Metropolit von Sýros-Tínos, sowie weitere Geistliche.52 Den Abschluss bilden die politischen Ehrengäste und die teilhabende Gemeinde.53 47 Zur Verknüpfung von Räumen mit verschiedenen Bedeutungszuschreibungen vgl. Bach­ mann-Medick 2006, 308. 48 Zur Verbindung von Ritual/Handlung und Raum bzw. sich vermischenden Analysen im Sinne des performative turn und spatial turn vgl. Bachmann-Medick 2006, 309. 49 Allgemein ist es typisch für Rituale, dass diese vorgegebenen institutionellen Regeln folgen – so auch die Prozessionsreihenfolge – um somit gesteuert performativ Bedeutung evozieren zu können. Vgl. hierzu Martschukat und Patzold 2003, 8, und auch Hölkeskamp 2015, 41f. und 44f. 50 Vgl. TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, min. 1,30 bis min. 2,20. 51 Vgl.: TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, min. 4,20-4,30. 52 Vgl. dazu v.a.: TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, min. 14,40-15,10. Siehe für eine Luftaufnahme der Prozessionsaufstellung bei Beginn der Prozession: Ebd., min. 7,10-7,15 und min. 8. Vgl. für die Rei­ henfolge bei der Prozession auch: Ebd., min. 10,19-10,25. 53 Vgl. Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, ab min. 28.

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Ihr Ende findet die Prozession im alten Hafen von Tínos, wo sich die Prozessionsteilnehmer um ein Rundtableau versammeln und der Metropolit und der Regierungsvertreter eine Ansprache halten und ein Gebet sprechen.54 Zwar wechseln die Träger der Ikone während der Prozession ab, doch gerade beim symbolträchtigen Beginn im Hof der Kirche wird das religiöse Objekt durch die Marineoffiziere getragen.55 Die geistlichen Würdenträger folgen direkt hinter oder neben der Ikone.56 Die Verschmelzung von militärischer Erinnerungskultur und sakralem Bereich wird dadurch performativ zur Schau gestellt. Bei ihrem Weg hin zum Hafen bleibt die Ikone zentraler Bezugspunkt der Prozession. Die Gläubigen bilden eine Reihe auf der Hauptstraße, so dass die Ikone über diese hinweggetragen wird und die Gläubigen dabei zugleich die Ikone berühren können.57 Durch dieses sakrale Ritual58 wird die Gemeinde der Gläubigen in einem performativen Akt in den Ritus und die sakrale Erfahrung eingebunden. Die prunkvolle Ausgestaltung und Verzierung der Ikone gibt dem Prozedere eine zusätzliche qualitativ-spirituelle Betonung.59 Die zeitgleiche Anwesenheit der Marine sorgt trotzdem für eine stetige Verbindung dieser sakralen Erfahrung mit den sich überlappenden Erinnerungsmomenten an zwei verschiedenartige Fremdherrschaften, der langen osmanischen und der kürzeren italienisch-deutschen im Zweiten Weltkrieg. Durch diese Inszenierungsstrategie entsteht nicht zuletzt auch eine wahrnehmbare Sakralisierung des Profanen.60 Weltlich-politische Fremdherrschaftserinnerung wird somit – analog zur Sakralisierung des Ausbruches des Revolutionskrieges – in eine sakrale Sphäre gehoben.61 Die wichtige patriotische Bedeutungsauf ladung des Festaktes wird zudem durch die zahlreichen griechischen Nationalf laggen deutlich, welche die Inselbewohner aus Anlass des Festes an ihren Häusern aushängen, insbesondere natürlich

54 Vgl. dazu: Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, ab min. 44,45 bis min. 70. Siehe auch Abbildung 6. 55 Vgl. Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, ab min. 4,40 und min. 7,20-7,45. 56 Vgl. TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, min.12,40-13 und min. 14,05-14,20. 57 Vgl. Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, min. 23,15-24,05 und ab min. 24,20. 58 Ritual wird hierbei als nicht nur religiöse Handlung verstanden, sondern als »[…] generell auf die gemeinschaftsstiftende Darstellung, Verhandlung und Transformation bezogen.« (Martschu­ kat und Patzold 2003, 7). 59 Vgl. TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, ab min. 16,10. 60 Vgl. zur Sakralisierung des Profanen durch Inszenierungskulturen Martschukat und Patzold 2003, 7. 61 Somit lässt sich das Prozedere als eine sich jährlich wiederholende Herstellung kultureller Be­ deutung interpretieren (vgl. grundlegend zur Theorie der Herstellung kultureller Bedeutung durch soziale Praktiken: Bachmann-Medick, 2006, 104 und 110).

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die direkten Anrainer der Prozessionsroute.62 Dass es sich bei den Feierlichkeiten nicht um ein rein lokal wahrgenommenes Ereignis handelt zeigt zudem – neben der hohen Zahl an jährlichen Pilgern – die Tatsache, dass der Festakt vollumfänglich und live im griechischen Fernsehen ausgestrahlt wird.63 Nicht zuletzt rückt damit auch die sowohl sakrale als auch national-patriotisch aufgeladenen hohe Mobilisierungskraft der auf Tínos jährlich durchgeführten sozialen Praktiken in den Blick.64 Die religiösen Feierlichkeiten am 15. August auf Tínos bündeln auf mannigfaltige Weise verschiedene politische-, erinnerungskulturelle-, und sakrale Bedeutungsebenen. Eine vordergründig dezidiert sakrale Dimension wird dabei gezielt mit der säkularen Umwelt verwoben.65 Zwar steht die orthodox-religiöse Marienverehrung stets im Mittelpunkt, zugleich wird damit aber an die Befreiung von der osmanischen Fremdherrschaft erinnert. Durch die zahlreichen sich überlappenden performativ-sakral-militärischen Elemente des Festaktes (also durch das symbolische Vokabular66 wie Kranzniederlegung, Kanonensalven, Prozession etc.67) wird all dies zu einem sich jährlich wiederholenden lieu de mémoire der italienische Aggression 1940. Es zeigt sich an diesem Beispiel somit deutlich, wie gewinnbringend die Analyse der rituellen Praxis von Gesellschaften in Bezug auf Erinnerungsdiskurse sein kann. Besonders bemerkenswert ist hierbei zudem, dass zwar die italienische Aggression 1940 im griechischen kollektiven Gedächtnis äußerst negativ besetzt ist, weniger aber die italienische Besatzungszeit. Dies mag unter anderem daran liegen, dass die als noch negativer wahrgenommene deutsche Besatzung die Italienische in der Erinnerungs62 Vgl. hierzu: TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ, min. 2.30 und siehe auch: Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1, ab min. 8,50. 63 Die Ausstrahlung 2017 erfolgte beispielsweise auf dem TV-Sender ΣΚΑΪ, einem Privatsender mit Sitz in Athen, der in ganz Griechenland ausstrahlt. Die Prozession 2016 wurde u.a. live im WebTV des Senders PET 1 vollumfänglich übertragen. Vgl. dazu: Web-TV-Übertragung 15.8.2016 PET 1 (komplette Prozession) und TV-Übertragung 15.8.2017 ΣΚΑΪ (Ausschnitt). Allein der Namens­ zusatz ›Panellínio‹ der Kirche, also »Panhellenische (ganz Griechenland betreffende) geistliche Stiftung der Kirche Mariä Verkündung auf Tínos« formuliert bereits den überregionalen Cha­ rakter und Anspruch der Kirchengemeinde. 64 Vgl. grundlegend zur Mobilisierungskraft sozialer Praktiken: Bachmann-Medick, 2006, 111. 65 Vgl. dazu grundlegend Bachmann-Medick 2006, 111. 66 Vgl. zur Bedeutung der Analyse des »Inszenierungsvokabulars« bei der Interpretation perfor­ mativer Prozesse: Bachmann-Medick 2006, 106f. Siehe zudem auch zur Analyse von performa­ tiven Handlungen als Teil eines multimedialen kommunikativen Zeichensystems Hölkeskamp 2015, 27-29, und vgl. auch ebd., 30-32. 67 Bewusst werden hierbei also, wie dies Doris Bachmann-Medick allgemein für performative Akte festhält, »[…] kultische Handlungssequenzen […] oder mit kultureller Symbolik aufgelade­ ne konventionalisierte symbolische Handlungsweisen […]« zur Vermengung verschiedener Be­ deutungszuschreibungen instrumentalisiert (Bachmann-Medick 2006, 112).

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kultur überdeckt, faktisch jedoch forderte gerade die italienische Besatzungszeit in Griechenland – insbesondere in der Ägäis – zahlreiche Todesopfer durch die billigend in Kauf genommene Nahrungsmittelnot,68 welche sich auch durch die Schwäche des italienischen Besatzungsapparates erklären lässt (vgl. Rodogno 2010, 211). So zeigt sich auch im Kontext der griechischen Erinnerung an die Besatzungszeit eben jene »Simplifizierung der Erinnerung«, welche in Italien lange den Mythos der bravi italiani stützte und den Blick auf italienisch-faschistische Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg und der Besatzungszeit verschloss (vgl. Collotti und Klinkhammer 2000, 286f.). Noch ganz im Sinne dieser Deutung führt Richard Clogg die Hungersnöte in der Besatzungszeit alleine auf das harte Regime der NS-Besatzung zurück, ohne hierbei auch eine italienische Mitschuld mit zu diskutieren.69 Dass all diese patriotisch aufgeladenen Verknüpfungen mit Fremdherrschaftsund Aggressionserinnerung des insularen Festakts mit der Marienverehrung kulminieren, scheint ebenso wenig zufällig zu sein. In ihrer Rolle als Mutter und Beschützerin lässt sich die heilige Jungfrau Maria häufig in Kontexten der Bedrohung und der kriegerischen Auseinandersetzungen als mütterliche Beschützerin beobachten. In einer historischen Sichtweise fallen hier gerade auf den östlichen Mittelmeerraum bezogen die beiden Marienerscheinungen in Konstantinopel in das Auge. So soll dort das Eingreifen der Gottesgebärerin und Stadtpatronin die Stadt vor den anrückenden Awaren im Jahre 627 n. Chr. gerettet haben (vgl. Boff 2008, 418). Ebenso soll im Jahre 1422 eine Marienerscheinung auf der Stadtmauer Konstantinopels die byzantinischen Kräfte in der Stadt vor der Einnahme durch osmanische Truppen bewahrt haben.70 In einem aktuelleren zeitgenössischen Vergleich lässt sich zudem die Bedeutungsauf ladung der Mariä Himmelfahrtsfeierlichkeiten in dem kleinasiatischen Kloster Sumela71 heranziehen. Auch dort vermengt sich in signifikanter Weise die christliche Marienverehrung mit der Erinnerung an den erzwungenen griechisch-türkischem Bevölkerungsaustausch im Jahre 1923. Vergleichbar mit der Legende um die Ikonenfindung in Tínos, beruht auch die dortige Klostergeschichte zentral auf der wundersamen Auffindung einer Ikone der Jungfrau Maria. Teil dieser Ikonenlegende ist analog zu jener auf Tínos der in das 12. Jahrhundert datierende misslungene Versuch die Ikone mit einer Hacke zu zerstören, also ebenfalls eine wundersame Unverwundbarkeit der 68 Vgl. Zelepos 2014, 157 der von bis zu 300.000 Opfern im Winter 1941-42 ausgeht. 69 Vgl. Clogg 1997, 154 und siehe grundlegend zu der Frage italienischer Kriegsverbrechen in Grie­ chenland Santarelli 2004. 70 Vgl. Imber 1990, 94f. und für Beispiele der Marienanrufung in kriegerischen Kontexten des christlichen Westens: Boff, 2008, 419f. und zur gesellschaftlichen Bedeutung von Mariener­ scheinungen im Allgemeinen ebd. 427f. 71 Zur Klostergeschichte Sumelas (»Panajía tou Mélas«) vgl. grundlegend: Eid 2006, 148-151.

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christlichen Ikone. Auch die Marienikone in Sumela wird bis heute durch Gläubige für allerlei Wunderheilungen angerufen und verehrt – die Parallelen zur hier behandelten Studie sind evident.72 Abschließend lässt sich festhalten, dass die bezüglich der tiniotischen Ikone und ihrer Wirkungsgeschichte beschriebene und bereits für das 19. Jahrhundert und insbesondere für den Unabhängigkeitskrieg erkannte Verbindung von Sakralem und Politischem auf Tínos nicht nur in Form einer sozialen Inszenierungskultur (Bachmann-Medick 2006, 104) mit Bedeutung versehen, sondern als Form von Kultur und »Erinnerungskultur als Performace« (ibid.) Jahr für Jahr als Bedeutungskonstitution der insularen und auch griechischen Gesellschaft erneuert und somit in das 21. Jahrhundert getragen wird.

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72 Vgl. hierzu: Eid 2006, 150f. Eine intensivere und vergleichende Analyse der heutigen Praxis in Sumela mit der in Tínos würde sich anbieten.

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Übertragung der Prozession vom 15.8.2017 im griechischen Fernsehen auf ΣΚΑΪ (Skai) – Ausschnitt der Übertragung auf YouTube. Abruf bar unter: (zuletzt besucht: 22.06.2018).

Weitere Quellen Programm der Mariä Entschlafungs-Feierlichkeiten auf Tínos am 15.8.2017. Bereitgestellt durch die »heilige Stiftung Evangelístria von Tínos« (Abbildung 8).

Die Mittelmeerpolitik der Europäischen Union als Konsequenz einer »Flüchtigen Moderne«? Anspruch und Wirklichkeit ihrer (Mit-)Gestaltungsmöglichkeiten Martin Schwarz, Universität Vechta

Einige notwendige Vorbemerkungen In der Rückschau auf den Mauerfall und die damit angestoßene Wiedervereinigung Deutschlands, die 2019 ihr 30-jähriges Jubiläum zeitigen, fällt auf, wie sehr sich Europa seit dem Wendejahr 1989 verändert hat. Der Zusammenbruch der UdSSR hat in einer Umbruchphase von nicht einmal zwei Jahren die Landkarte des Kontinents nachhaltig verändert. Die Auf lösung der in Mittel- und Osteuropa gültigen Nachkriegsordnung hat neue Akteurskonstellationen und in der Folge neuartige Handlungsoptionen hervorgebracht, mit weitreichenden Folgen nicht nur für die euro-atlantischen Strukturen, sondern eben auch für die dynamische Absorptionskraft des EU-Binnenmarktes, wie er seit Veröffentlichung des Weißbuches in der Rede ist und ab 1993 mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages in Gang gesetzt wurde. Die Gleichzeitigkeit der Ereignisse – hier die Dismembration der Sowjetunion, dort die Initialzündung einer EU und damit einer Gemeinschaft von Staaten, die immer enger zusammenwächst – kumulierte in einer höchst bemerkenswerten Konstellation. Angesichts der damit verbundenen Implikationen für die internationale geo- und sicherheitspolitische Ordnung ging es nicht nur um die Neujustierung gutnachbarschaftlicher Beziehungen oder um die vor allem in Mittel- und Osteuropa virulente Frage der Rückkehr nach Europa. Im Fokus stand vielmehr die geostrategische und diskursive Neuausrichtung einer Europäischen Gemeinschaft, die sich mit Maastricht in eine Politische Union wandelte, zu diesem Zweck klarer als bisher zwischen intergouvernementalen und supranationalen Strukturen unterschied und mit einer Reihe neuer Aufgaben und Kompetenzen ausgestattet wurde. Geradezu intrinsisch für das Transformationsprojekt Europa wurde die wachsende Überzeugung bei den nationalstaatlichen wie europäischen Akteuren, dass es bei dieser EU um weit mehr ging als beispielsweise die Umformung der neuen Peripherie in eine Puffer- und

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Stabilisierungszone nach Osten (Russland) und Süden (Mittelmeerraum) hin. Sie handelten in der Absicht, neue Räume zu konstruieren, neue Kooperationsformen zu implementieren und neue Handlungshorizonte zu erschließen (Jessop 2000, 300). Ein schließlich in Amsterdam beschlossener Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts veranschaulicht die Reichweite einer solchen Imagination: Der durch europarechtliche Normen bestimmte EU-Regulationsraum sollte weltweit mit anderen Integrationsformaten in Verhandlungen über den Abbau von Handelshemmnissen treten und auf diese Weise die Ungleichzeitigkeiten zwischen Globalisierung und Regionalisierung ausgleichen helfen (Hudson 2003). Breitangelegte transnationale Koalitionen sollten vor allem eines: Sicherheit erzeugen (Moisio 2002; Pardo 2004). Die sich im Vorfeld der EU-Osterweiterung im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik erneut stellende europäische Identitätsfrage (Schmitt-Egner 2012; Csáky und Feichtinger 2007) hat mit dazu beigetragen, dass Brüssel die an die heutige EU angrenzende Außenwelt im Sinne einer Subraumpolitik untergliedert (Schwarz 2011). Die Anfänge machten 1992 der Ostseerat (der 1997 die Nördliche Dimension auf den Weg brachte) und die Schwarzmeer-Kooperation (als loser Kontakt zur Türkei und zu den Kaukasus-Staaten). Dem folgten 1994 die zwischenzeitlich mehrfach revidierte Asienstrategie (zuletzt im September 2018 präzisiert)1 und der 1995 gestartete Barcelona-Prozess gegenüber den Mittelmeerdrittländern. Die 2006 gestartete EU-Afrika-Strategie fokussiert auf die 54 Staaten des afrikanischen Kontinents. Die 2007 gestartete Zentralasienstrategie will genau wie die 2009 vorgestellte Östliche Partnerschaft den postsowjetischen Raum erschließen.2 Seit 2016 arbeitet die Hohe Beauftragte gemeinsam mit der Kommission an einer Globalen Strategie für die GASP (EEAS 2019). Diese Formate unterscheiden sich nicht nur im Institutionalisierungsgrad, sondern sind auch mit spezifischen Anreiz- und Förderinstrumenten ausgestattet, die in ihrer Gesamtheit seit dem Vertrag von Lissabon durch den seither im Auf bau befindlichen Europäischen Auswärtigen Dienst repräsentiert (EEAS) und den Dienst für außenpolitische Instrumente (FPI) unterstützt werden. Vor diesem Hintergrund kann man in der Tat zu dem Schluss kommen, dass die EU-28 hier eine spezifische Security Governance (Diedrichs 2008) auf baut, welche der sui generis-Debatte neue Nahrung verleiht und die als ein Indiz dafür zu sehen ist, dass die EU-Kommission eine eigene, sich aus den auf sie projizierten und dabei 1 Die Region Asien besteht demnach aus den vier Subregionen Südasien, Ostasien (bestehend aus den beiden Unterregionen Südost- und Nordostasien), Australasien (seit 2001) und Zentralasien (2007). 2 Der Vollständigkeit halber seien hier noch die Regionen Latein Amerika & Karibik (seit 1999), Mittlerer Osten & Nordafrika (seit 2009), Nordamerika und Pazifik genannt, für die jeweils spezi­ fische Politiken entwickelt werden bzw. schon in der Anwendung sind.

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doch divergierenden mitgliedstaatlichen Interessen speisende actor capability (so Brattberg und Rhinard 2012; Kratochvil 2013) auf baut. Worauf aber stützt sich eine solche Annahme, wenn doch der Schlüssel für die großen Konf likte (Israel, Iran, Jemen, Syrien) in Washington und Moskau zu verorten ist?

Der Barcelona-Prozess Die EU hat seit 1995 große Anstrengungen unternommen, um die politische Stabilität und die Demokratie auf Seiten der Mittelmeerpartner zu stärken, zumal sich der Europäische Rat von Madrid seinerzeit dafür ausgesprochen hatte, eine intensivere Politik des Dialogs, der Zusammenarbeit und der Assoziierung mit den Nachbarn der Union aufzubauen. Zwischen 2003 und 2009 entstanden so mehrere Grundsatzdokumente – z.B. die Sicherheitsstrategie –, mittels derer die konzeptionelle Basis für eine den geographischen Präferenzen der Mitgliedstaaten und der ordnungspolitischen Zielsetzung der EU geschuldete Nachbarschaftspolitik initiiert wurde. Um Stabilität, Sicherheit und Wohlstand in den Maghreb- und Maschriq-Staaten zu generieren, baute die EU einerseits auf den kooperativen Dialog mit den dortigen Regimen und etablierte andererseits ein multinodales, dabei f lexibel agierendes und im Zuständigkeitsbereich der ab 2009 institutionalisierten Hohen Vertreterin angesiedeltes, Netzwerk, das sich aus sieben bilateralen Kooperationsabkommen und der multilateralen Union für das Mittelmeer zusammensetzt. Das Versprechen einer bis 2010 einzurichtenden euro-mediterranen Freihandelszone samt Zollfreiheit (mit Ausnahme des sensiblen Agrarbereichs) sollte – basierend auf den zwischen 1998 und 2005 abgeschlossenen Europa-Mittelmeer-Abkommen – einen Raum für den politischen Dialog schaffen, durch Liberalisierung den Handel mit dem EU-Binnenmarkt fördern, ein politisches Lernen (auf Verwaltungsebene) initiieren sowie ganz allgemein die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und finanzielle Zusammenarbeit (wohlstandsfördernd und stabilitätssichernd) steigern. Angesichts der vielen Probleme im Mittelmeerraum – angefangen bei der fragilen Staatlichkeit im Gefolge des 2010 einsetzenden Arabischen Frühlings über die latent bis offen ausgetragenen ethnisch-territorialen Konf likte bis hin zu den Modernisierungsdefiziten in den Gesellschaften der Maghreb- und Maschriq-Staaten – fokussieren die Ansätze auf die großen Transitions- bzw. Transformationsthemen (Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit). Auf diese Weise will die Kommission – und mit ihr die mitgliedstaatlichen Regierungen – ihre Sprech- und Handlungsfähigkeit unter Beweis stellen, wenn sie Lösungen für den Nahost-Konf likt avisiert (Nahost-Quartett und Road map), die illegale Migration nach Europa eindämmt oder den in Form von Al Qaida bzw. ISIS auftretenden islamistischen Terrorismus bekämpft. Jährliche Berichte verzeichnen Fortschritte wie Mängel, ohne dass es

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dafür einheitliche Maßstäbe oder verbindliche, also sanktionsbewehrte, Kriterien gäbe (Stetter 2017, 110). Im Sinne der Methode der Offenen Koordinierung (MOK) bleibt es bei allgemeinen Aussagen zu Entwicklungstendenzen, die letztendlich nur an das Wohlverhalten der Partnerregierungen gekoppelt sind. Im Gegenzug stellt die EU über das Europäische Nachbarschaftsinstrument (ENI) für 20142020 15,4 Mrd. € zur Verfügung, von denen zwei Drittel in den Süden gehen (Brandes und Lippert 2018). Der eigens etablierte Euro-Med-Ausschuss weist in seiner Zusammensetzung aber weit über den Mittelmeerraum hinaus, da er neben den Mittelmeerpartnern auch die Mitglieder des Europäischen Wirtschaftsraums, die Staaten des Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses auf dem Balkan sowie die Schwarzmeer-Anrainer Moldau, Georgien und Ukraine (Stand Mai 2019) umfasst. Einerseits will sich die EU so mit einem Ring aus verantwortungsvoll regierten Staaten umgeben, die auf absehbare Zeit keinen EU-Beitritt anstreben können oder das wollen. Andererseits wirft das die Frage nach der Kohärenz auf, zumal der gesamte Ansatz ohne eine primärrechtliche Verankerung daher kommt und eigentlich als reine Willenserklärung fungiert (Demesmay u.a. 2012, 52), deren Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Integrationsangeboten aus dem Nahen Osten (Saudi Arabien, Türkei und Katar), den USA, aus Russland und China zunehmend relativiert werden muss. Umso interessanter ist daher die Feststellung, dass das Konzept seit seiner Initialisierung im Rahmen des Barcelona-Prozesses an schleichender Agonie leide und sämtliche Versuche einer Wiederbelebung gescheitert seien (Kausch und Youngs 2009, 963). Dabei reicht das geostrategische Interesse der EU an einer politischen Regulierung des Mittelmeerraumes bis weit in die 1960er Jahre zurück, da die Region seinerzeit als chronischer Krisenschauplatz galt, geprägt von endemischen Konf likten und innerstaatlichen Zerrüttungen, welche das Mittelmeer zu der problematischsten Flanke der europäischen Integration machten. Ungeachtet der Bemühungen von Seiten der Maghreb- und Maschriq-Staaten um eine vertiefte Zusammenarbeit – etwa im Rahmen der Arabischen Liga (gegründet 1945) oder der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (seit 1964 bzw. 1969) – blieb es bei einem fragmentierten geopolitischen Raum, der von den Wachstumseffekten der Industriestaaten abgekoppelt blieb. Die damalige Europäische Gemeinschaft hatte zwar eine Reihe von Handelsabkommen in der Region abschließen können, durch welche die Partnerländer einen limitierten Zugang zu dem ab 1970 gegebenen Gemeinsamen Markt erhielten. Man war sich aber im Klaren darüber, dass diese Verträge nur einen marginalen Einf luss auf die langfristigen Entwicklungstendenzen und die wirtschaftliche Stabilität der Mittelmeeranrainer haben würden (McMahon 1998, 98). In der Folge war es dann vor allem die Süderweiterung um Griechenland (1981), Spanien und Portugal (beide 1985), die einen Perspektivwechsel einleitete, der Gemein-

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schaft erstmalig einen Demokratiebonus und eine südliche Dimension verlieh, nach dem ersten Ölpreisschock (1973) die Notwendigkeit des Euro-Arabischen Dialogs implizierte und die noch bis heute wirksamen Verteilungsmechanismen auf den Weg brachte, welche die politischen und sozioökonomischen Disparitäten zwischen Nord und Süd ausgleichen (müssen). Letztlich waren es die gewaltsamen Austragungen von Konf likten sowie die volatilen Volkswirtschaften in der arabischen Welt und die dadurch ausgelösten Sicherheitsfragen, die in der Summe als ein qualitativ neues Bedrohungspotential wahrgenommen wurden, das nicht mehr nur von Staaten ausging und das auch nicht mehr klassisch militärisch zu definieren war: neben die latenten und akuten Regionalkonf likte traten mit dem Drohpotential der OPEC die Gefährdung der Energieversorgung, mit dem Drogen- und Waffenhandel die Dimensionen der Organisierten Kriminalität und mit den politischen und religiösen Extremismen der internationale Terrorismus. Als ursächlich für diese interdependenten Phänomene galten das verbreitete Demokratiedefizit und das sozioökonomische Wohlstandsgefälle zwischen den nördlichen und südlichen Anrainern, woraus sich letztlich das europäische Narrativ von der Notwendigkeit eines region buildings unter Federführung der heutigen EU entwickelte (Pace 2004). Die EU hatte bis dato gezeigt, wie aus statisch interagierenden, in den jeweiligen nationalen Verfassungskontexten verhafteten territorialen Einheiten eine neuartige politische Formation entstehen kann, so dass bestimmte Materien gleichzeitig in mehreren Zusammenhängen behandelt werden können. Demnach, so die gängige Interpretation, formieren sich – abhängig vom Kontext – Politikarenen, innerhalb derer durch Interaktion und Überschneidung eine fallbezogene Politikformulierung möglich ist, die mit einer gewissen identitätsstiftenden Wirkung einhergeht. Verstärkt wird der Effekt durch seine geschlossene räumliche Zuschreibung, den grenzübergreifende Charakter und die damit verbundenen Innovationspotentiale, die wiederum an die partizipierenden Akteure gekoppelt sind (Ache 2002). Auf diese Weise bietet sich den Teilnehmern die Chance, den eigenen, sich vom territorialen Bezug lösenden Handlungsraum auf Netzwerkstrukturen wie den Barcelona-Prozess rückzukoppeln und so den staatlichen Selbsterhaltungsimperativ gegen den capacity-expectations-gap (Hill 1998) zu behaupten. Gleichzeitig, so die Erwartungshaltung, öffnet sich für diejenigen Nachbarstaaten ohne eigene Beitrittsperspektive ein Fenster, durch das sie den Anschluss an den Binnenmarkt als das eigentliche Gravitationszentrum des europäischen Integrationsprojektes halten konnten. Die vorgegebenen Raumordnungsmuster waren also doch veränderbar, insofern sich hinsichtlich der funktionalen Verf lechtungen in den Netzwerken und den sie definierenden Politikprozessen die hierfür notwendigen Referenzmerkmale konsensual bestimmen ließen (Wagner 2006; Scherer 2006, 29). Das traf zwar auf den europäischen Integrationsprozess zu, lies sich aber so nicht auf den Mittelmeerraum und dessen Problemstruktu-

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ren bzw. geopolitischen Identitätsmuster übertragen. Auf der Suche nach entsprechenden Lösungsstrategien übertrugen die Mitgliedstaaten der EU ihre bisherigen Erfahrungswerte nun auf einen externen Raumausschnitt, für den sie im November 1995 die Barcelona-Erklärung vorlegten. Die Konstruktion hatte allerdings mehrere grundlegende Webfehler. Zum einen war und ist das die Perzeption des südlichen Mittelmeerraumes als Krisenregion; von einer Partnerschaft auf Augenhöhe konnte keine Rede sein. Dann befand sich die EU in einem Zielkonf likt, da sie sich angesichts der Entwicklung in der von Bürgerkrieg, Staatszerfall und islamistischer Eroberung bedrohten arabischen Welt gegen deren längerfristige Demokratisierung und stattdessen für die Stabilisierung der autoritären Regime ausgesprochen hat. Ferner musste die EU realisieren, dass der auf den Osloer Vereinbarungen (1993 und 1995) basierende und mit dem Nobelpreis (1994) belohnte nahöstliche Friedensprozess nach der Ermordung von Jitzchak Rabin (04.11.1995) in eine schwere Krise geraten und spätestens seit 1996 faktisch gescheitert war, wodurch eine der essentiellen Komponenten des Barcelona-Projekts wegbrach. Schließlich war es die EU selbst, welche die Rahmenbedingungen dadurch veränderte, dass sie ihre Mittelmeerpolitik nach dem islamistischen Terroranschlag in Madrid (11.03.2004) unter den Primat des Antiterrorkampfes und der Migrationsfrage (schon vor 2015) stellte und darüber mit Blick auf den Arabischen Frühling seltsam sprachlos blieb, obwohl dieser ab 2010/11 die Region erschütterte. Es waren denn auch diese Webfehler, welche die französische Regierung von Präsident Sarkozy dazu veranlassten, über eine Neukonfiguration von Barcelona zu sinnieren und mit der Mittelmeer-Union einen scheinbaren Neustart vorzuschlagen. In der Konsequenz lief das aber auf ein von Paris dominiertes Integrationsprojekt hinaus, das vor allem von Berlin als unvereinbar mit dem seit dem Unionsvertrag von Maastricht gültigen Kohärenzgebot betrachtet wurde und das deshalb erfolgreich verhindert werden konnte (Demesmay 2012).3

3 Um nunmehr künftigen nationalen Alleingängen vorzubeugen, differenziert der Vertrag von Lis­ sabon (2009) zwischen einer vertikalen (Art. 24 Abs. 3 UA 2 EUV: die Mitgliedstaaten respektieren die Rolle der EU in den ihr zugewiesenen Aufgabenbereichen) und einer horizontalen Kohärenz (Art. 21 Abs. 3 UA 2 EUV i.V.m. Art 7 und Art. 329 AEUV: die EU achtet auf die Interdependenzen zwischen der GASP und ihren anderen Policies unter Einbezug der Hohen Vertreterin). Damit die­ se Konstruktion auch hält, wurde sie institutionell abgesichert. Der Rat sorgt für die Kohärenz des Unionshandelns (Art. 16 Abs. 6 EUV), die Hohe Vertreterin wacht über die GASP (Art. 18 Abs. 4 EUV) und gemeinsam mit dem Rat über die Kohärenz der Union insgesamt (Art. 26 Abs. 2 UA 2 EUV). Zur Zielerreichung können gemäß Art. 215 AEUV Sanktionen erlassen werden. Ob diese Vorgehensweise tatsächlich als Raumordnungspolitik fungiert, wie zuweilen diskutiert, kann hier nicht näher erörtert werden, wäre vom Prinzip her durchaus denkbar.

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Die Mittelmeer-Union als Ausweg? Die schließlich am 13.07.2008 unter dem Dach der EU gegründete Mittelmeer-Union fungierte in der Folge als gemeinsame Angelegenheit und nicht als eine aus den singulären Interessen der Grenzanrainerstaaten erwachsende exklusive Kooperationsplattform (Kotzur 2014, 398). Die institutionellen Strukturen dieser Union für das Mittelmeer, die insgesamt 43 Mitgliedstaaten umfasst, basiert auf paritätisch besetzten Gremien und einer partiellen Multilateralisierung, da die Union den bisherigen Barcelona-Ansatz um die Wirkmechanismen der Europäischen Nachbarschaftspolitik ergänzen sollte. Alle zwei Jahre sollte es ein Gipfeltreffen mit rotierendem Vorsitz an der Doppel-Spitze geben – jeweils ein EU- und ein Nicht-EU-Mitgliedstaat sollten die Aufgabe gemeinsam wahrnehmen, was von Anfang an zu großen Abstimmungsproblemen führte. Flankiert werden sollten diese Treffen durch Vorbereitungen der Hohen Beamten, wie das im Rahmen der EU-Ratstreffen in Brüssel bekannt und eingespielt ist. Abgerundet wurde die Mittelmeer-Union durch die Euro-Mediterrane Parlamentarische Versammlung, eine eigens gegründete Kulturstiftung (die nach der 2003 ermordeten schwedischen Außenministerin Anna Lindh benannt wurde) und das dann in Marseille angesiedelte Generalsekretariat. Die sich so eröffnenden zusätzlichen Aktionsforen hatten vor allem eine Zielsetzung: Die Länder der Euro-mediterranen Partnerschaft sind durch eine Vielzahl an staatlichen Strukturen, Regierungsformen und Machtpraktiken gekennzeichnet. Diese reichen von den konstitutionellen Monarchien Jordaniens und Marokkos über die Präsidialrepubliken Algerien, Tunesien und Ägypten bis hin zu parlamentarischen Demokratien wie den Libanon und Israel. Während etwa Libyen als Beobachter registriert ist und im Bürgerkrieg versinkt, wurde Syriens Mitgliedschaft suspendiert. Die so häufig und pauschal als Autokratien beschriebenen Mittelmeeranrainer sind durch hohe Machtkonzentrationen (die Rolle des Militärs in Algerien und Ägypten), schwache Oppositionsgruppen (Marokko und Jordanien) und Korruption gekennzeichnet, während etwa die Lage bei den Bürgerrechten erhebliche Spielräume aufzeigt. Weitere Unterschiede ergeben sich aus der Art der Staats- und Verwaltungsapparate, die mal dem Territorial- (Ägypten) und mal dem Clan-Prinzip (Libyen) folgen oder ganz ohne die Attribute eines souveränen Staates auskommen müssen (palästinensische Gebiete). Angesichts der Heterogenität und vielschichtigen Fragmentierungen im Mittelmeerraum kann die Mittelmeer-Union ganz im Sinne Maulls als Erweiterung der außenpolitischen Kulturen der EU-Mitgliedstaaten (Maull 2001) gesehen werden, während dieser Effekt auf der Gegenseite unterblieb. Wohl auch deshalb boykottierten die Regierungen der Mittelmeeranrainer die Feierlichkeiten 2005, während sie 1995 noch fast vollständig in Barcelona anwesend waren.

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Von daher ist es interessant, dass die südlichen Mittelmeeranrainer auf den Barcelona-Prozess insofern reagieren, dass sie 1997 die Greater Arab Free Trade Area (GAFTA) starteten und somit Handelsliberalisierungen für Industrie- und Agrarprodukte arabischer Herkunft auf den Weg brachten. Das Agadir-Abkommen von 2004 bündelte ab Inkrafttreten (2007) die an die EU assoziierten Mittelmeerstaaten. Der eigentliche Impuls für diese beiden Projekte ging aber von der EU aus, was deren Dominanz in Bezug auf das politische Handeln der arabischen Staaten unterstreicht. So fällt die GAFTA-Gründung zeitlich mit der Implementierung der sogenannten Luxemburg-Gruppe zusammen, also jener Staaten, die 2004 der EU beitraten, darunter Malta, Slowenien und Zypern, 2013 dann auch Kroatien. Die nun verbleibenden Mittelmeeranrainer mussten gewahr werden, dass sich der EU-Fokus sukzessive gen Osten verschob, zumal 1997 das Partnerschafts- und Kooperationsabkommen mit Russland in Kraft trat und zeitgleich die von Finnland angestoßene Nördliche Dimension Gestalt annahm. Die Entwicklung verdrängte den Barcelona-Prozess von der Brüsseler Agenda, was sich auch in den ausländischen Direktinvestitionen spiegelte, die nach deutlichen Zuwächsen ab 2008 um gut die Hälfte einbrachen und sich seither auf staatliche Großprojekte konzentrieren (Bchir 2011, 331 u. 344). Auch die Tatsache, dass Migrationsbewegungen als Sicherheitsproblem betrachtet wurden, hat wie die reine Fokussierung auf die Blockade der Mittelmeer-Transitrouten sowie die Zurückhaltung gegenüber den islamistischen Oppositionsgruppen in den Zielländern dazu beigetragen, dass die Mittelmeer-Union in den Partnerländern als Rückschritt aufgenommen wurde. Die EU, so die Wahrnehmung, hatte sich längst vom Ring der verantwortlichen Regierungen verabschiedet und setzte stattdessen wieder auf stabile Regierungsverhältnisse, indem sie die islamistische Alternative und damit die Komplexität des politischen Islams insgesamt systematisch ausblendete (Kausch und Youngs 2009, 969). Während die Mittelmeer-Union nun im ersten Jahr ihres Bestehens vor allem formale Fragen wie das Statut des Sekretariats klären musste und über Personalangelegenheiten monatelange Verhandlungen geführt wurden, waren zumindest jene Kooperationskapitel umrissen, in denen die Mitgliedstaaten der Mittelmeer-Union künftig enger zusammenarbeiten wollten (Stetter 2017, 209): • sozusagen als Erbe des Barcelona-Prozesses waren dies Politik und Sicherheit; Wirtschaft und Handel; soziokulturelle Angelegenheiten sowie Gerechtigkeit und Rechtstaatlichkeit; • das Ziel einer Freihandelszone wurde erneut bekräftigt; • es wurden konkrete Projektarbeiten angekündigt: die Umweltsanierung des Mittelmeers; der Ausbau der intraregionalen Infrastrukturen (darunter eine Trans-Maghreb-Eisenbahn); die Verbesserung des Katastrophenschutzes, die Erschließung alternativer Energiequellen (der Solarenergieplan für den Mit-

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telmeerraum) und die Einrichtung von Universitäten (die Euro-Mediterrane Universität Piren (Slowenien) kam 2008, die in Fes, Marokko, folgte 2012). Als erstes Projekt konnte im Juni 2011 eine Meerwasserentsalzungsanlage für Gaza auf den Weg gebracht werden; 2012 waren schon insgesamt 13 und 2017 dann 47 Vorhaben in der Pipeline, die von regelmäßigen sektoralen Ministertreffen f lankiert wurden. Die Union hatte also ihre Arbeit aufgenommen, der große Durchbruch lässt aber bis heute auf sich warten. Das lässt sich wohl am ehesten damit erklären, dass das von der EU im Mittelmeerraum betriebene regional building vor allem dem EU-Anspruchsdenken entspricht, indem die Schlüsselfaktoren Demokratie, wirtschaftliche Anreizsteuerung und regionaler Multilateralismus mit Fragen der inneren Sicherheit (Proliferation nichtkonventioneller Waffen, freier Zugang zu strategischen Ressourcen, Reduzierung der illegalen Migration und Bekämpfung der Organisierten Kriminalität) verknüpft werden (Solingen 2003). Ausgehend vom territorialen Bezug, den Handlungssymboliken und dem formalen wie informellen Grad der Institutionalisierung (Kooperationsdichte und -tiefe) formt diese Logik ein wirkmächtiges Narrativ aus, das als Frame Mittelmeerraum die Reichweite und die Inhalte der EU-Policies gegenüber den Drittstaaten in der Region definiert (Schmitt-Egner 2000), dabei Handlungsalternativen reduziert und sie so in einer abgestuften Integration europäisiert. Eine solche Herangehensweise ist im Sinne eines Anpassungsregimes hierarchisch, da über die in der Zielregion gegebenen multinodalen Verknüpfungen einseitig ein Raumbezug erzeugt wird, in dem nationalstaatliches Verfassungsrecht und Europavertragsrecht interagieren, sich der Zeithorizont dank der geschaffenen Polaritäten relativiert, statische neben innovativen Elementen zum Einsatz kommen und die Deutungshoheit weitgehend in Brüssel verortet ist. Ein solches Modell kann ebenso funktional, exklusiv, lebensweltlich wie auch inklusiv sein, da es sowohl Staaten mit (z.B. Montenegro) und solche ohne Beitrittsperspektive (Marokko) einbindet. Sein Erfolg hängt einzig davon ab, dass das Narrativ Mittelmeerraum dialogisch verläuft, während der Aktionsmodus – hier die europäischen Sicherheitsängste – hinreichend f lexibel gehandhabt werden kann (Schwarz 2011, 53; Jones 2006, 420). Maßgeblich ist, dass sich die Anrainer an die hegemonial agierende EU anpassen – und nicht umgekehrt. Daraus folgert aber auch: • Es fehlt bislang ein korporativer Akteur, der den Repräsentanten der Subsysteme (Staaten) die im Konsens gefundenen Entscheidungen vermitteln und das System Mittelmeer-Union nach innen dadurch stabilisiert, dass er das Governance without Government einvernehmlich und konf liktfrei organisiert. Das setzt aber die Lösung des Nahost-Konf liktes, also die Verständigung zwischen Israel und den arabischen Staaten, voraus, die aktuell zusätzlich durch

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den Syrienkrieg und den sich zuspitzenden Konf likt USA-Iran überlagert wird. • Es fehlt bislang ein anerkanntes Regelwerk, dem von allen Beteiligten eine Sozialisierungsfunktion nach innen wie nach außen beigemessen würde. Da selbst offen ist, inwieweit die Mittelmeer-Union Sanktionen bei Nicht-Regelbefolgung verhängen kann, sind ihre Formate in erster Linie informell und entsprechend ergebnisoffen. • Es fehlen bislang Vorschläge, wie die Deckungslücken zwischen dem Vertragstext und der Vertragsauslegung so geschlossen werden, dass die Akteure keine eigenen Spielräume für die Durchsetzung ihrer (nationalen) Interessen definieren können. • Die Reichweite der Integration wird ausschließlich durch die Kooperationsbereitschaft der nach Exklusiv- und Teilhaberechten strebenden souveränen Akteure bestimmt. Fraglich ist somit der Einf luss, den die Kommission nehmen kann, wenn sie die actorness der EU stärken will, ohne darüber das Format an sich zu hinterfragen oder die bislang erreichten (marginalen) Fortschritte zu gefährden. Ein erster Ansatzpunkt war die Entpolitisierung durch die funktionale und die technokratische Zusammenarbeit, bei der die Einführung einer variablen Geometrie in den Strukturen es den bisher strukturell benachteiligten Gruppen von Partnerländern der Mittelmeer-Union möglich machen sollte, sich vom Nahost-Konf likt zu lösen. Im Ergebnis ist genau das Gegenteil eingetreten, die Mittelmeeranrainerstaaten und die EU-Mitgliedstaaten blockieren sich stärker als zuvor. Damit rückt nun verstärkt die EU-Kommission in den Vordergrund, deren actorness immer wieder in der Literatur angerissen und deren Gestaltungsanspruch just vom scheidenden Präsidenten der Kommission, Jean-Claude Juncker, immer wieder betont wurde.

Die actorness der EU als Denkfigur Die Literatur zur Rolle der Europäischen Union in den internationalen Beziehungen reicht bis zu Sjöstedts Pionierarbeit zurück, in der er schon 1977 darauf verwiesen hatte, dass ein Akteur im klassischen Sinne mit den Konzepten von Nation, Souveränität und Realpolitik verknüpft ist (Sjöstedt 1977). Von daher kann die EU im analytischen Sinne kein Akteur sein, obwohl es andere Auffassungen gibt, die das nahelegen. Ausschlaggebend ist die sprachliche Ebene, auf der das internationale System interpretiert wird, und wie sehr dabei der sui-generis-Charakter der EU mit Blick auf ihre Strukturen und politischen Realitäten Berücksichtigung findet. Dass die EU Einf luss auf die globale Ebene und das Internationale System

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nimmt, ist dagegen nicht mehr begründungsbedürftig. Wie aber kann sich ein Nicht-Akteur-Einf luss entfalten, wenn Attribute wie Macht und Raumwirkung doch allein Staaten zugestanden werden (Sjöstedt 1977, 17)? Die weitere Debatte hat schließlich den Fokus auf den Faktor der Präsenz gelenkt, also auf die auch für Nicht-Staaten kategorisierbare Sichtbarkeit im Internationalen System (Hill 2004, 107), die ihrerseits in die vier spezifischen Variablen Wahrnehmung, Autorität, Autonomie und inhaltliche Geschlossenheit konstruktivistisch differenziert wurde (vor allem Jupille und Caporaso 1998): • Wahrnehmung meint die Akzeptanz der EU als Verhandlungspartner; • Autorität spricht den Acquis Communautaire und damit die Rechtskompetenz der EU an, die zwar unmittelbar von den Mitgliedstaaten bestimmt ist, aber der Kommission spezielle Aufgaben wie die der Hüterin der Verträge zuweist; • Autonomie meint die Handlungsvollmachten und Kompetenzen einer Kommission, die sich selbst zunehmend als Service-Einheit versteht und deshalb mit dem Komitologieverfahren (System der delegierten Rechtsakte) die entsprechenden Voraussetzungen geschaffen hatte, selbst wenn die nun mit dem Vertrag von Lissabon wieder limitiert wurden; • inhaltliche Geschlossenheit beschreibt die Reichweite, mit der die EU nach innen und nach außen die eigenen politischen Präferenzen (zum Beispiel im Rahmen von Weißbüchern wie dem zur Zukunf t der EU vom März 2017) formulieren und umsetzen kann. Im Anschluss daran haben Bretherton und Vogler den multidimensionalen Anspruch einer solchen Betrachtungsweise hervorgehoben und darauf verwiesen, dass es der Gelegenheit bedarf, die durch die Regelwerke der GASP definiert ist, dass die Präsenz stärker gewichtet werden muss, also inwiefern sich Drittstaaten in ihrem Verhalten der EU anpassen, und dass es zuletzt einer Befähigung bedarf, also die Berechtigung zur Politikformulierung und deren Durchsetzung, die gerade im GASP-Bereich ohne den EuGH auskommen muss (Bretherton und Vogler 2006, 29). Die Narrative Norden und Mittelmeerraum sind gute Beispiele für eine solche Wirkungsmacht, da sie recht anschaulich die Durchsetzungsfähigkeit inhaltlicher Positionen und die Mitwirkungsmöglichkeiten von Seiten der Drittstaaten in den Fokus rücken, die das Gesprächsangebot der EU annehmen müssen, da sie sonst keinen eigenen Zugang finden oder daran auf Grundlage von kumulierter Sicherheitsbedenken der EU-Mitgliedstaaten gehindert werden können. Dabei ist es die EU-Kommission, die als Gatekeeper mitredet – nur handelt es sich bei der Union für das Mittelmeer um eine multilaterale Organisation, wo die EU-Kommission über das Gebot der Kohäsion involviert ist wie oben beschrieben. Von daher bietet es sich an, den actorness-Ansatz auf die Mittelmeer-Union zu spiegeln, wozu die genannten Kriterien wie folgt zu modifizieren wären:

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• Die Wahrnehmung der EU, die Möglichkeiten zum Handeln, die sich aus dieser Wahrnehmung ergeben, und nicht zuletzt die Autorität, mit der die EU in den Verhandlungen auftritt, wenn sie gemeinsam mit den beiden Vorsitzenden als Sitzungsleitung fungiert (zuletzt noch im April 2019), bestimmen den Kontext und damit die Auswahl der bevorzugten Optionen. • Die im Acquis zentral gebündelten Werthaltungen bedingen die Präferenzen und damit die prozeduralen Abläufe und die Auswahl der Policies, mit denen nach innen wie nach außen die inhaltliche Geschlossenheit gegenüber den Mittelmeerpartnern gewahrt wird. • Die vorhandenen Instrumentarien machen nur Sinn, wenn sie ganz im Sinn der Befähigung zur Anwendung kommen. Allerdings ließe sich so auch rechtfertigen, dass das gegebene Set nicht ausreicht und entsprechend erweitert wird, sofern das mehrheitsfähig ist, wodurch die Autonomie gemäß den Principal-Agent-Überlegungen steigen würde. • Solange die Kommission allenfalls als Beobachter involviert ist, kann sie ihre im Vertrag von Lissabon formulierten Kompetenzen nur dann nutzen, wenn sie dazu von den derzeit noch 28 EU-Mitgliedstaaten aufgefordert wird. Dieser letzte Punkt wäre somit der schwächste, wenn man die actorness der EU im Rahmen der Mittelmeer-Union entsprechend spiegelt. Dagegen sprechen aber die aktuell 6 militärischen und 10 zivilen Missionen (insgesamt mit einer Personalstärke von rund 6.000 Planstellen), die mit dem Politischen Sicherheitskomittee (PSK) konzipiert, unter dem Dach des EAD in der Zuständigkeit der Hohen Vertreterin operationalisiert und dann mit der Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten durchgeführt werden.4 Beispielhaft genannt seien hier wegen des Bezugs zum Mittelmeerraum (EUMS 2019): • die European Union Naval Force – Mediterranean (EUNAVFOR-MED) Operation SOPHIA, 2015-2019, richtet sich gegen den Menschenschmuggel und -handel auf den zentralen Migrationsrouten über das Mittelmeer, im Fokus stehen das Training der libyschen Küstenwache zur Durchsetzung des UN-Waffenembargos, Mannschaftsstärke: 400, Budget für das Jahr 2019: 2,7 Millionen Euro, befristet bis 30.09.2019;

4 Die Bandbreite der Aufgaben reicht vom Peace-keeping und der Konfliktprävention über die Stärkung der internationalen Sicherheit und der Unterstützung der Rechtstaatlichkeit bis zur Prävention von Piraterie und Menschenhandel. Erste Erfahrungen in dieser Hinsicht konnte die EU im Rahmen der EUFOR-Missionen sammeln, in deren Rahmen europäische Militäreinheiten unter dem GASP-Dach für jeweils eng begrenzte Zeiträume im Kongo (2003 und 2006), im Tschad (2008) und in der Zentralafrikanischen Republik (2014/15) zum Einsatz kamen.

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• die EU Border Assistance Mission (EU BAM) for the Rafah Crossing Point, seit 2005, in Kraft 2007, Training von Grenzpolizisten für den Fall der Rückkehr der palästinensischen Autonomiebehörde nach Gaza, Mannschaftsstärke: 16, Budget für das Jahr 2019: 2 Millionen Euro, befristet bis 30.06.2019; • die EU Police and Rule of Law Mission (EUPOL COPPS), seit 2006, Auf bau polizeilicher Sicherheitsstrukturen in den besetzen palästinensischen Gebieten, Mannschaftsstärke: 110, Budget für das Jahr 2019: 12,6 Millionen Euro, befristet bis 30.06.2019; • die EU Integrated Border Management Assistance Mission (EUBAM) in Libya, seit 2013, Flankierung der Reformen im Sicherheitssektor, Schulungen in den Bereichen Grenzschutz und Menschenrechte, Strafverfolgung und Bekämpfung der Organisierten Kriminalität, Mannschaftsstärke: 65, Budget für das Jahr 2019: 61,7 Millionen Euro, befristet bis 30.06.2019.5 Der Logik obiger Matrix folgend lernt die EU, ihre actorness zu entwickeln – ein Ansatz, der sich aus der Aufgabenstellung für die EU-Kommission in den Verträgen ergibt, da sie Paketlösungen selbst in den Bereichen formulieren kann, in denen sie bislang keine eigenen oder nur unzureichende Kompetenzen hat. Dafür sammelt sie Informationen, z.B. im Rahmen der genannten Missionen, bereitet diese qualitativ auf und leitet sie an die Adressaten im Sinne einer Ablaufoptimierung weiter. Die Kommission baut hierbei ganz zentral auf das Zusammenspiel von Vertrauensschutz und Verpf lichtungspotential, wodurch sie längst in der Lage ist, eigenständig Interventionsschwellen zu definieren und so die nationale Pfadabhängigkeit zumindest zu hinterfragen, wenn nicht sogar zu durchbrechen. Allerdings ist eine solche Konzeption immer noch von der Führungsspitze der Kommission und deren Wille zum politischen Handeln abhängig.

5 Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass die EU bei den Missionen zumindest den Ansatz kon­ zentrischer Ringe folgt. Während die hier genannten Missionen die unmittelbaren Anrainerstaa­ ten des Mittelmeers adressieren, zielen EUCAP Somalia (2012-2020), EUTM Somalia (seit 2014), Atalanta (2008-2020) gemäß des 2011 verabschiedeten Strategischen Rahmens für das Horn von Afrika auf den Schwerpunkt Terrorbekämpfung. Die Missionen EUCAP Sahel Niger (2012-2020), EUCAP Sahel Mali (2015-2021) und EUTM Mali (2013-2020, seit 2017 ergänzt um das Projekt G5 Sahel RACC) entsprechend dagegen der 2011 vorgelegten Strategie der EU für Sicherheit und Entwicklung in der Sahel-Zone (ergänzt seit 2015 durch den Aktionsplan für die Sahel-Zone 20152020), als Haupttransitbereich für die Migrationsströme nach Europa gilt. Konkret will sich die EU hier in den Bereichen Entwicklung, Good Governance und Bekämpfung des gewalttätigen Extremismus engagieren, sodass insbesondere Präventionsprojekte auf der Agenda des capacity buildings in den Zielländern stehen. (EEAS 2007, Rat der EU 2011 u. 2015; EUMS 2019). Der Aktions­ plan für die Sahel-Zone deckt somit das Hinterland der Mittelmeer-Union ab!

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Das Konzept der Flüchtigen Moderne Verbindet man die vorherigen und hier nur zu skizzierenden Überlegungen zur actorness der EU und damit auch der sie orchestrierenden Kommission mit dem Narrativ Mittelmeerraum, wie es vor allem von Jones (2006) herausgearbeitet wurde, fallen eine Reihe von Parallelen ins Auge. Für Painter (1995, 146) ergibt sich die Wirkungsmacht einer als politisch charakterisierten Geographie aus den Wirklichkeitsebenen, die durch das scripting des Narrativs so präzise wie möglich bestimmt werden. Ideen, so seine Erkenntnis, gerinnen durch die Handlungen der Akteure zu Wahrheiten, die folglich bis in die Problemdefinition und damit in die vorweggenommene Rechtfertigung wirken können (ebd.). Das Narrativ Mittelmeerraum, daran sei hier noch einmal erinnert, basiert auf den europäischen Sicherheitsbedenken gegenüber den arabischen Staaten und den von hier ausgehenden Problemkomplexen, die von der EU in der Summe als Gefährdungen eingestuft sind. Das aber bedingt mindestens zwei Wirklichkeitsebenen: die der objektiven und die der subjektiven Wahrheit, womit sich Überlegungen etwa zur Legitimation und solche zur Identitätsstiftung gegenüber stehen, die nicht zwangsläufig kompatibel sind, die aber den hier ebenfalls relevanten Faktor Wissen konditionieren (Bauman 2003, 110). Wissen an sich ist demnach ein sich aufgliederndes, dabei aber zusammenhängendes und letztlich an Knotenpunkten zusammenlaufendes Gewebe aus Vorgängen, auf die der Mensch situativ zugreifen kann, um neue Informationen zu verarbeiten. Spannend wird es, wo es um die Interpretamente geht, die ein solcher Prozess konditioniert, und wie diese dann sprachlich ref lektiert werden (Bauman 2003, 213). Der Aspekt ist keineswegs neu, wenn man sich der Arbeiten von Ludwig Wittgenstein, Ernst Cassirer, Maurice Halbwachs oder Michel Foucault erinnert, welche in der Gesamtschau Sprache als wirklichkeitserzeugendes Instrument sahen, das laut Bauman (2008, 215) moralisch zu werten ist. Das so angelegte Zeichenrespektive Symbolsystem Sprache speichert nicht nur kulturelle Codes und Werte, sondern ist auch sinnstiftend. Für Zygmunt Bauman ist eben diese Struktur die Ausgangslage für einen ganzen Katalog an postmodernen Angstzuständen (1997, 105ff.), die sich alle auf die mit der Globalisierung erklärbare Notwendigkeit einer sprachlichen Ref lexion über das Fremde, mithin Unbekannte zurückführen lassen. In enger Anlehnung an Ernst Bloch und dessen Diktum von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen mündet auch für Bauman die Konfrontation mit einzelnen Globalisierungsphänomenen wie der Entgrenzung und Migration in der Formulierung von neuen, die ethisch-moralischen Ansprüche der Gesellschaft transzendierenden Wünsche an die Leistungsparameter des Staates und damit an die Adresse der Politik (ebd.). Das geht weit über die Institutionalisierung von Gewohnheiten hinaus, da hier die Wirkmächte eines Zeitgeistes im Blick sind, welcher die Beharrungskräfte in der Politik herausfordert, die das hier in-

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teressierende Narrativ letztlich aus einer Machtposition heraus entwickelt. In der Selbstwahrnehmung ist es die EU, die für Frieden, Demokratie und Wachstum garantiert, und mit eben diesem Sendungsbewusstsein legitimiert sie die eigenen soziopolitischen Handlungen, indem sie diese ebenso wie ihre wirtschaftlichen Aktivitäten an das Narrativ koppelt. In der Diktion von Bauman (2005) ist es also die EU, die zwischen Ordnung und Chaos vermittelt, zumal Ordnung an sich nicht perfekt und damit begründungsbedürftig bleibt. Wenn aber ein Gegenstand – beispielsweise hier die Migrationsfrage – nicht mehr eindeutig ist, kann das aus der Perspektive der EU zu einer Unordnung führen, welche sogar die gesamte Struktur gefährdet, eben weil sie diese in Frage stellt. Die damit einhergehende Ambivalenz stärkt die Macht des Zufalls, konditioniert Handlungen, lässt Strukturen wirkungslos werden und selbst tradierte Verhaltensmuster (Stichwort Asylrecht) ins Leere laufen, weil der Flüchtling auf der Mittelmeerroute nicht mehr mit dem schutzbedürftigen Asylbewerber deckungsgleich ist. Aus diesem Grund müssen Bauman zufolge (2005, 22) immer präzisere Kriterien gefunden werden, um den Wunsch nach Sicherheit zu genügen – womit Bauman streng genommen Konstruktivist ist oder zumindest in diesen Kategorien denkt. Weil ein solcher Prozess unendlich ist, verbraucht er immer mehr Energie. Die Leerstellen aber bleiben, die Menschen sehen ihre Gewissheiten schwinden und reagieren zunehmend verunsichert, sowohl in Richtung der imaginären Gemeinschaften Nation als auch mit Blick auf andere Gesellschaften. Bauman schlussfolgert hieraus, dass die Bedeutung der symbolischen Formen als Anker für die sehr heterogenen imaginären Gemeinschaften immer wichtiger wird – das gilt dann auch für das Handeln auf der internationalen Ebene (Bauman 2003, 189f.) und das gilt erst recht für die EU. Wenn die Globalisierung immer schneller voranschreitet, werden auch die menschlichen Beziehungen immer brüchiger, was gravierende Folgen für die Strukturen und Institutionen hat, deren Ordnungsparameter nicht mehr greifen und die dadurch immer wieder neu begründet werden müssen. Während der Staat seine Handlungsspielräume schwinden sieht und dadurch seine Legitimation einbüßt, weil er keine adäquaten (Sicherheits-)Lösungen mehr anbieten kann, die dem Menschen eine verlässliche Orientierung bieten, wird selbst der Mensch an sich austauschbar und vom (moralischen) Subjekt zum reinen Objekt. Weil Gemeinschaft, Rechte und Ideale (wie Gleichheit, Humanität und Solidarität) ihre Bezugsquellen verlieren, werden zentrale Fragen neu gestellt, die eigentlich längst (seit den Tagen der Vertragstheoretiker) als beantwortet galten. Für Bauman hat der Nationalstaat daher seinen Zenit überschritten: er kann Sicherheit nur noch im Verbund (EU) gewährleisten und steht der Migration weitgehend schutz- weil sprachlos gegenüber. Indem er Narrative wie das vom Mittelmeerraum konstruiert, wird der Staat konsequenterweise zum Sicherheitsstaat, selbst um den Preis, dass

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Angst zum politischen Kapital gerinnt und die in internationalen Vereinbarungen verankerten ethischen Normen relativiert, die moralische Verantwortung für den Einzelnen austauschbar wird. Der Export von Sicherheit in die Zielländer der Mittelmeerpolitik ist also reiner Selbstzweck.

Fazit Sprache, so die Quintessenz, ist deshalb nur bedingt mit der konkreten Realität vereinbar, weil jegliche strikte und normfreie Trennung zwischen Wahrheit und Richtigkeit unhaltbar ist und die Loslösung von der Authentizität einer Aussage in deren Beliebigkeit mündet (Taylor 1986, 50). Der Sinn von Sprache liegt unmittelbar in ihrem Beitrag zur Identitätsbildung (Verstehen und moralisches Rechtfertigen). Von daher ist es von entscheidender Bedeutung, wer nun im Kontext der Mittelmeerpolitik die Deutungshoheit innehat, weil damit letztlich auch die innere Geschlossenheit angesprochen ist, die im Sinne Bauman’s über die Autorität (und nicht die Legitimität) der Handlung entscheidet. Das hängt mit Blick auf die EU von gleich drei Prämissen ab, die sich gegenseitig bedingen und dadurch das Zusammenspiel die actorness der EU definieren: Die Akteure – in dem Fall die Mitglieder der Mittelmeer-Union und die EU-Kommission – müssen das wollen, sie müssen die dafür erforderlichen Strukturen legalisieren und sie müssen akzeptieren, dass ein Fortschritt nur dann gelingt, wenn er auch mehrheitsfähig kommuniziert wird. Andernfalls, so warnt Bauman eindringlich, scheitert ein ideologisches Verharren an der Realität (Bauman 2009, 151f.). Die Mittelmeer-Union, von Frankreich 2007 als Neubelebung des Barcelona-Prozesses vorgeschlagen und 2009 umgesetzt, ist ein Schatten dessen, was sie sein will – und sein könnte. Woran liegt das? Das Narrativ Mittelmeerraum muss – anders als bisher geschehen – so umgedeutet werden, dass sich alle Adressaten in ihm wiedererkennen. Das wäre zumindest schon einmal ein Anfang. Die Region wurde immerhin erst durch die europäische Wahrnehmung zur Krisenregion, das Spannungsverhältnis zwischen der Stabilisierung und der Demokratisierung bleibt unlösbar, gerade weil die EU in der Frage der Flüchtlinge – durch ihre frühere Kooperation mit den Regimen – nicht glaubwürdig ist.

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Does Diversity Trump Specialisation? Die Perspektive des wissenschaftstheoretischen Pragmatismus auf eine Interdisziplinäre Analyse politischer Legitimität * Dannica Fleuß, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

1.

Legitimität, Anerkennung und Persistenz politischer Ordnungen als Zeit- und Disziplinen-übergreifendes Problem

Die Diagnose von »Krisen«, »Dysfunktionalitäten«, einem »Legitimitätsverlust« oder »Bedrohungen« der liberalen repräsentativen Demokratie ist ein etabliertes Sprachspiel in zeitgenössischen politikwissenschaftlichen wie öffentlichen Diskursen (Brodocz et al. 2008; Dahrendorf und Polito 2003; Offe 2011; Schaal 2016). Obgleich der analytische Gehalt derartiger Krisendiagnosen bezweifelt werden darf (Merkel 2013; Schaal et al. 2016), weist der Fokus zeitgenössischer Debatten auf die Bedeutung der Einstellungen und Haltungen der Bürger zum politischen System hin: Eine Erosion der Demokratieunterstützung bzw. -zufriedenheit gilt häufig als ein maßgeblicher Grund für Dysfunktionalitäten demokratischer Systeme (Ercan und Gagnon 2014; Klingemann 2000; Newton und Geissel 2012; Norris 1999, 2002).1 Damit wird auf die Bedeutung der empirischen Legitimität, also der unterstützenden Einstellungen und Haltungen der Bürger zum politischen System, verwiesen. Aus empirischer Perspektive ist politische Herrschaft, d.h. in letzter Konsequenz die Erzeugung von Folgebereitschaft durch die (potentielle) Anwendung von Zwang, vermutlich von jeher begründungs-, wenn auch nicht zwangsläufig rechtfertigungsbedürftig: Herrscher zu allen Zeiten und in allen

* Ich danke Dr. Carl O’Brien, Anne Hoss und Dr. Alexander Stulpe für hilfreiche Kommentare und Denkanstöße zu früheren Versionen dieses Manuskripts sowie allen Teilnehmern der Konferenz Texturen von Herrschaft im Mittelmeerraum für die inspirierenden Diskussionen. 1 Genau genommen wird in diesen Publikationen in den meisten etablierten Demokratien eine steigende Anzahl von »critical citizens« festgestellt, d.h. von Bürgern, die grundsätzlich demo­ kratischen Werten und Normen zustimmen, aber mit der aktuellen Funktionsweise des demo­ kratischen Systems unzufrieden sind.

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Regimetypen mussten ihren Bürgern Gründe geben, sich konform mit den Grundprinzipien der politischen Ordnung, ihren Gesetzen oder auch den Befehlen eines monarchischen bzw. autokratischen Herrschers zu verhalten, um bei moderatem Ressourcen- bzw. Repressionsaufwand Stabilität zu erzeugen. Der vorliegende Beitrag nimmt eine pragmatistische Perspektive auf den wissenschaftlichen Prozess und eine politikwissenschaftliche Perspektive auf die Frage nach den empirischen Legitimitätsbedingungen politischer Ordnungen zum Ausgangspunkt.2 Vor dem Hintergrund der theoretischen Grundannahmen und methodologischen Prämissen der Politischen Kulturforschung, die maßgeblich mit den politischen Einstellungen der Bürger zum politischen System befasst ist (Pickel und Pickel 2006, 2016; Westle 2010), plädiert der Beitrag konkret für eine verstärkt interdisziplinär ausgerichtete wissenschaftliche Auseinandersetzung mit zwei Fragen: (1) Unter welchen Bedingungen weisen Bürger eine unterstützende Haltung gegenüber der politischen Ordnung, der sie angehören, auf? (2) Mit welchen Mitteln können diesbezügliche Einstellungsmuster (von Seiten politischer Eliten oder zivilgesellschaftlicher Akteure) beeinf lusst werden? Mit dieser Thematisierung der Einstellungen der Bürger zur politischen Ordnung geht ein klassisches Mikro-Makro-Problem einher: Psychologische Phänomene (im klassischen Modell attitudes mit kognitiven, affektiven und behavioralen Komponenten)3 werden in Abhängigkeit von den formalen und informalen Strukturen politischer Ordnungen betrachtet und vice versa (vgl. Chilton 1988, 419; Gabriel 2016, 417). Mit empirischer Legitimität befasste Forschende sprechen in Anbetracht dieser Problemstruktur sehr diverse Ebenen und Forschungsfelder an: Sowohl Altertums- bzw. Geschichtswissenschaftler und Philologen als auch Sozialpsychologen, Sozialwissenschaftler und Kunsthistoriker oder Kulturwissenschaftler diskutieren in ihren Analysen jeweils (Teil-)Aspekte der übergeordneten Problemstellung. Dennoch werden die unterschiedlichen disziplinären Perspektiven selten systematisch in theoriegeleiteten Analysen kombiniert oder gar in interdisziplinären Projekten und Forschungszusammenhängen adressiert. Der vorliegende Beitrag bietet eine wissenschaftstheoretisch fundierte Argumentation für die interdisziplinär strukturierte Auseinandersetzung mit den Fragen (1) und (2), die auf den folgenden Kernprämissen beruht: Die Entstehung des modernen, disziplinär organisierten Wissenschaftssystems ist das Ergebnis evolutionärer Prozesse funktionaler Differenzierung (Luhmann 1992; Stichweh 1988) (Abschnitt 2.1). Diese Spezialisierung von Forschungszusammenhängen 2 Die Verfasserin verpflichtet sich hiermit nicht in toto der Position des wissenschaftstheoreti­ schen Pragmatismus. Selbiger bietet jedoch eine nützliche Folie für die Diskussion des poten­ tiellen Mehrwerts interdisziplinären Forschens. Die vorausgesetzte politikwissenschaftliche Perspektive ist in der disziplinären Zugehörigkeit der Verfasserin begründet. 3 Siehe hierzu klassisch: Eagly und Chaiken (1993) sowie Maio und Haddock (2010).

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ist eine notwendige Bedingung für bestimmte Formen wissenschaftlicher Erkenntnis und wissenschaftlichen Fortschritts. Vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Prämissen des Pragmatismus wird jedoch auch transparent, dass die Spezialisierung und Differenzierung wissenschaftlicher (Sub-) Disziplinen epistemologisch zuweilen mit einem hohen Preis erkauft wird (siehe Abschnitt 2.2): Aus John Deweys (1938) Perspektive erhöhen wissenschaftliche Auseinandersetzungen ihr »problem-solving potential« gerade durch eine Pluralität und Heterogenität von Problembeschreibungen und -definitionen sowie korrespondierenden Lösungsstrategien. Als politikwissenschaftlicher Ausgangs- und Referenzpunkt fungiert die Theorie David Eastons (1965b, 1965a) (Abschnitt 3.1). Auf dieser Basis illustrieren Abschnitte 3.2 und 3.3 den erkenntnistheoretischen Mehrwert des Einbezugs pluraler, verschiedenen disziplinären Kontexten entstammender Perspektiven auf die Analyse und Erklärung der empirischen Legitimität politischer Ordnungen. In »Schlaglichtern« verweise ich auf Forschungen aus zwei disziplinären Kontexten, die im Rahmen der politikwissenschaf tlichen Politischen Kulturforschung i.d.R. nicht explizit berücksichtigt werden: zum ersten auf philologische und altertumswissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Polybios’ Konzeption des Verfassungskreislaufs (ἀνακύκλωσις); zum zweiten auf kulturwissenschaftliche, präziser: ikonologische Analysen von symbolischen bzw. non-verbalen Manifestationen politischer Einstellungen. Hiermit wird der potentielle Erkenntnisgewinn des Einbezugs von Forschungsfeldern diskutiert, die der etablierten Politischen Kulturforschung sowohl historisch als auch methodologisch fernliegen und dadurch besonders geeignet scheinen, die Diversität der Blickwinkel auf die diskutierte Problemstellung zu erhöhen. Die einzelnen Abschnitte legen den Schwerpunkt auf den Erkenntnisgewinn, den eine politikwissenschaftliche Analyse aus einer Integration dieser heterogenen Perspektiven beziehen kann; verweisen aber auch auf den Zugewinn eines Einbezugs von Eastons Perspektive für die jeweils andere Disziplin. Auf Basis der in Abschnitt 2 eingeführten wissenschaftstheoretischen Überlegungen und der Illustrationen in Abschnitt 3 diskutiert der abschließende Teil des Beitrags die Potentiale und Herausforderungen interdisziplinären problemorientierten Forschens und schlägt »pragmatistische« Strategien für den Umgang mit ihnen vor (Abschnitt 4).

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2. Die Funktionale Differenzierung des Wissenschaftssystems und eine pragmatistische Begründung von Interdisziplinarität 2.1

Kontext: Die Herausbildung wissenschaftlicher Disziplinen und ihre Funktionen

Das europäische Wissenschaftssystem ist seit dem 20. Jahrhundert durch »auf der Rollenebene exklusive disziplinäre Differenzierung« gekennzeichnet (Stichweh 1988, 55). Aus dieser Perspektive ist das Wissenschaftssystem ein gesellschaftliches Teilsystem, bei dem sich Prozesse funktionaler Differenzierung historisch rekonstruieren lassen. Mit der Einrichtung weitgehend dem heutigen Modell entsprechender »wissenschaftlicher Universitäten« wurden im 18. bzw. 19. Jahrhundert im deutschen Sprachraum »historisch erstmals hinreichende Bedingungen für die Emergenz, Stabilisierung und Ausdif ferenzierungen zusätzlicher Systemebenen im Wissenschaf tssystem [geschaffen]« (Stichweh 1988, 61f.; Herv. im Original). Zentral für die zeitgenössische Form disziplinärer Differenzierung ist insbesondere die Entwicklung eines bestimmten wissenschaftlichen Kommunikationsmediums, konkret: der Fachzeitschrift. Mit ihr wurden »Kommunikationszusammenhänge [geschaffen], die sich ausschließlich thematisch binden«. In Konsequenz wird »[d]ie Fähigkeit zum problemgenauen – oder sachnahen – Anschließen an vorherige Kommunikationen anderer […] [zum] Kriterium, das den Ort jeder wissenschaftlichen Kommunikation selegiert« (Stichweh 1988, 64f.). Ein sich über die Zeit erstreckender Prozess funktionaler Differenzierung meint daher für das Wissenschaftssystem eine zunehmend (sub-)disziplinäre Organisationsform: Wenn man den Funktionsbegriff generell so faßt, daß er Problembezüge meint, d.h. eine Funktion immer die Beschreibung eines gelösten oder zu lösenden Problems ist, und wenn man sich gleichzeitig vergegenwärtigt, daß Disziplinen sich über zu­ nehmende Differenzierung disziplinenkonstituierender Problemstellungen progressiv unterscheiden, liegt es nahe, Disziplinendifferenzierung als interne funktionale Differenzierung des Wissenschaftssystems zu deuten (Stichweh 1988, 87; Herv. im Original). Funktionale Differenzierung impliziert, dass innerhalb eines Systems – hier also einer Disziplin oder Subdisziplin – eine bestimmte Problemstellung »Priorität genießt und allen anderen Funktionen vorgeordnet wird« (Luhmann 1997, 747).4 Aus 4 Luhmanns Erläuterungen zum Konzept »funktionaler Differenzierungen«, die er im Kontext der Besprechung gesellschaftlicher Teilsysteme einträgt, übertrage ich hier in Anlehnung an Stich­ weh (1988) Darstellung auf das »Wissenschaftssystem«.

Does Diversity Trump Specialisation?

dieser Spezialisierung resultieren nicht nur eine strukturelle, sondern auch eine »semantische Komplexitätssteigerung« in der Bearbeitung von Problemstellungen: »In der Sachdimension gibt es mehr Themen und mehr Tiefenschärfe in der Auf lösung von Themen, Texten und Beiträgen.« (Luhmann 1997, 764) Unter der Annahme, dass das Ziel wissenschaftlicher Betätigung ist, möglichst viel »tiefenscharfes« Wissen zu generieren, ist die funktionale Differenzierung des Wissenschaftssystems also zunächst positiv zu beurteilen: Sie verbessert seinen output durch eine quantitative und qualitative Steigerung des generierten Wissens; steigert durch die ermöglichten Spezialisierungen also den erzeugten epistemischen Mehrwert. Luhmann bemerkt jedoch zugleich, dass eine ausgeprägte funktionale Differenzierung den Austausch bzw. die Kommunikation zwischen verschiedenen (disziplinären) Systemen erschwert: »In der Zeitdimension […] [beschleunigt sich] das Geschehen […] mit der Folge, daß es zwischen den Systemen [also hier: zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen] zu Synchronisationsschwierigkeiten kommt« (Luhmann 1997, 765; Herv. D.F.).5 Hiermit deutet sich ein trade-of f bereits an, den ich im Folgenden noch expliziter thematisieren werde: Unter der Voraussetzung, dass unterschiedliche disziplinäre Zusammenhänge äquivalente Problemstellungen thematisieren und Lösungen zuzuführen versuchen, sind die in Spezialdiskursen erzeugten Forschungsfragen und -ergebnisse möglicherweise nicht mehr über Systemgrenzen hinweg kommunizierbar. Der folgende Unterabschnitt bezieht sich auf eine wissenschaftstheoretische Perspektive, für die eine Kommunizierbarkeit von Forschungsperspektiven und -ergebnissen über disziplinäre Grenzen hinweg indes von besonderer Bedeutung ist. Der abschließende Teil dieses Beitrages (Abschnitt 4) setzt beide Positionen vor dem Hintergrund der exemplarischen Analysen in Abschnitt 3 zueinander in Beziehung.

2.2

Wissenschaftstheoretischer Pragmatismus: Problemorientierte Forschung und Beschreibungspluralismus

Karl R. Popper argumentiert in einem populärwissenschaftlichen Beitrag, dass »alles Leben« – und damit auch jede forschende Tätigkeit – ein (mehr oder minder systematisiertes) »Problemlösen« darstelle (Popper 1996). Einen prima facie ähnlichen Ausgangspunkt wählt die pragmatistische Wissenschaftstheorie, die wissenschaftliche Forschung auf einem Kontinuum zu unserem alltäglichen Umgang mit »der Welt« verortet und wesentlich als problemlösende Tätigkeit begreift (vgl. Dewey 1938; Legg und Hookway 2019; Morgan 2014). In Poppers falsifikationisti5 Fraglich wäre an dieser Stelle allerdings, ob die von mir in Anlehnung an Deweys und Rortys Prag­ matismus identifizierten »Synchronisationsschwierigkeiten« von der gleichen Art sind wie von Luhmann angenommenen.

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scher »Logik der Forschung« beginnt der Forschungsprozess jedoch mit einer das Forschungsproblem bereits voraussetzenden Hypothese. Aus dieser Hypothese werden im nächsten Schritt empirisch prüf bare Aussagen deduziert, wobei diese empirische Prüfung entweder in ihrer vorläufigen Bestätigung oder ihrer Falsifikation münden kann. Im Falle einer Falsifikation müssen Forscher »konjektural« eine neue Hypothese generieren, d.h. das hier angedeutete trial and error-Verfahren beginnt von vorne (vgl. Fleuß et al. 2019; Popper 1935; Albert 1968; Carrier 2006). Damit geht der kritische Rationalismus davon aus, dass das (Forschungs-) Problem »gegeben«, bekannt, offensichtlich ist:6 Eine einzelwissenschaftliche, etwa eine physikalische Untersuchung kann ohne weitere Umschweife mit der Bearbeitung ihres Problems beginnen. Sie kann, sozusagen, mit der Tür ins Haus fallen; es ist ja ein ›Haus‹ da: ein wissenschaft­ liches Lehrgebäude, eine allgemein anerkannte Problemsituation« (Popper 1935, Vorwort). Ebenso wie Popper verortet Dewey die problemlösende Tätigkeit der Forscherin auf einem Kontinuum verschiedener »problemlösender« Alltagspraktiken, die sich bei allen lebendigen Wesen beobachten lassen: »The ›pattern of inquiry‹ that Dewey describes is common to the information-gathering of animals, practical problem-solving, common sense investigations of our surroundings and scientific inquiry« (Legg und Hookway 2019). Im Unterschied zu Popper geht Deweys pragmatistische Konzeption jedoch davon aus, dass die Problemidentifikation und -beschreibung bereits eine eigenständige wissenschaf tliche Leistung darstellt (vgl. Legg und Hookway 2019). Der von Dewey vorgeschlagene Prozess wissenschaftlicher Forschung wird idealtypisch in einem fünfschrittigen Kreislaufmodell repräsentiert (Dewey 1938, 105-14; Morgan 2014, 1047; Strübing 2007, 563):

6 Lediglich philosophischen Untersuchungen gesteht Popper in diesem Kontext zu, ihr eigenes Problem zuallererst etablieren zu müssen Dies freilich betrachtet Popper zunächst einmal als spezifische Herausforderungen philosophischer Forschungen, die gewissermaßen unter Recht­ fertigungsdruck stehen: »In einer anderen Lage findet sich der Philosoph. Er steht nicht vor einem Lehrgebäude, sondern vor einem Trümmerfeld (in dem es freilich auch Schätze zu entdecken gibt)« (Popper 1935, Vorwort).

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Abbildung: Forschungsprozess nach Dewey

In Ergänzung zu dieser eher schematischen Darstellung und unter Berücksichtigung von Deweys philosophischem und erziehungswissenschaftlichem Werk (vgl. v.a. Dewey 1986, 2001) kann sein pragmatistisches Verständnis des Forschungsprozesses vor allem durch die folgenden zentralen Merkmale gekennzeichnet werden: 1. Die Betonung der Bedeutung menschlicher Erfahrung (experience). John Dewey versteht wissenschaftliche Forschung in Logic – The Theory of Inquiry als eine spezifische Form der Erfahrung (Morgan 2014, 1047), spezifischer: als »the controlled or directed transformation of an indeterminate situation into one that is […] determinate in its constituent distinctions and relations« (Dewey 1938, 104f.). Erfahrung wird dabei stets als »embodied« und als Vermögen mit kognitiven und emotionalen Anteilen konzeptualisiert (Morgan 2014, 1046f.). 2. Die Anerkennung der Bedeutung von Interpretationsleistungen: Erfahrungen zu machen impliziert aus Deweys Perspektive stets eine interpretierende Tätigkeit: »Beliefs must be interpreted to generate action, and actions must be interpreted to generate beliefs« (Morgan 2014, 1946). 3. Die Betonung der Kontextabhängigkeit von Forschungstätigkeiten und die Fallibilität ihrer Ergebnisse: Da jede Form der Erfahrung – und damit: jede Form von Forschung – stets in einem konkreten raum-zeitlichen Kontext stattfindet,

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haben Untersuchungsergebnisse und Prognosen für zukünftige Ereignisse stets einen falliblen bzw. probabilistischen Status (Morgan 2014, 1046). 4. Die Akzentuierung der sozialen Dimension von Forschung: Die Entwicklung von Problemlösungsvorschlägen ist bei Dewey stets ein »diskursiver Akt«, der auf die »progressive stabilization of ideas through the testing of their practical consequences as would-be solutions« zielt (Strübing 2007, 565; Morgan 2014, 1048). Der Forschungsprozess ist damit für Dewey eng an die Aktivität des erfahrungsbasierten, interpretierenden Beschreibens und Wieder-Beschreibens geknüpft: Sowohl der Übergang von der »unbestimmten Situation« (1) zur Etablierung eines Problems bzw. einer Forschungsfrage (2), als auch die Bestimmung der Problemlösungsstrategie (3) und die diskursive Entwicklung von »ideas« (4), die experimentell bzw. quasi-experimentell7 überprüft werden (5) findet in kommunikativen – ergo sozialen! – Zusammenhängen statt und ist stets sprachlich vermittelt.8 In seinem »therapeutischen«, non-fundamentalistischen (Neo-)Pragmatismus greift Richard Rorty auf diese epistemologischen Prämissen zurück und vertritt einen explizit historizistischen Ansatz, der philosophische und wissenschaftliche Theorien als Sprachspiele bzw. Narrative konzeptualisiert (Rorty 1981, 7-10).9 Die im folgenden Abschnitt eingeführten disziplinären Perspektiven auf »empirische Legitimität« arbeiten nicht nur mit heterogenen historischen, konzeptuellen und methodologischen Kontexten. Sie bieten vor diesem Hintergrund auch in Form und Inhalt variantenreiche Problembeschreibungen, so dass sich sowohl die Potentiale als auch die Herausforderungen einer interdisziplinären Kooperation im Sinne des Pragmatismus besonders prägnant herausstellen lassen.

7 Deweys Forschungslogik erfordert keine im strengen Sinne experimentellen Untersuchungsde­ signs für die Überprüfung von Ideen bzw. Hypothesen, die auf generalisierbare Kausalerklärun­ gen durch die Isolation einzelner Variablen ausgerichtet sind. 8 Vgl. für die Repräsentation des Prozesses Strübing 2007, 563. 9 Rortys Ansatz ist dabei hinreichend selbstreflexiv, um diesen Anspruch auch auf seine eigene Theoriebildung anzuwenden: »[The approach of Philosophy and the Mirror of Nature] is pictures rather than propositions, metaphors rather than statements, which determine most of our philo­ sophical convictions« (Rorty 1981, 12; Rorty 1991, 9, 45).

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3. Potentiale und Herausforderungen Interdisziplinärer Kooperation zum Legitimitätsproblem 3.1

Empirische Legitimität und Bürgerunterstützung aus der Perspektive der Politischen Kulturforschung

Vor dem Hintergrund dieses pragmatistischen Verständnisses von Zielen und Verfahren wissenschaftlicher Forschung widme ich mich im Folgenden den Potentialen und Herausforderungen interdisziplinärer Kooperationen in der Erklärung und Analyse der empirischen Legitimität politischer Ordnungen. Sowohl den Mehrwert als auch die Herausforderungen illustriere ich durch »Schlaglichter« auf Ansätze aus verschiedenen disziplinären Kontexten, maßgeblich der Altphilologie bzw. Altertumswissenschaft und der kulturwissenschaftlichen Bildanalyse. Die Ausgangsfragestellung sowie die als kontinuierlicher Referenzpunkt dienenden Kernkonzepte entstammen dabei politikwissenschaftlichen Debatten. Mit »empirischer Legitimität« ist im Folgenden die faktische Zustimmung der Bürger einer politischen Ordnung zu ihren Kerninstitutionen, ihren fundamentalen normativen Leitideen sowie ihren zentralen politischen Handlungsträgern gemeint. Die Politische Kulturforschung – also die systematische vergleichende Erfassung und Erklärung der »patterns of orientation towards political objects« (Verba und Almond 1963, 13-15; siehe auch Gabriel 2016, 400) – begreift »empirische Legitimität« als eine zentrale Variable für die Erklärung der Stabilität bzw. Persistenz10 politischer Ordnungen. Dieser Beitrag steht damit vor der Herausforderung, heterogene, in unterschiedlichen zeitlichen bzw. disziplinären Kontexten situierte und mit unterschiedlichen historischen Gegenstandsbereichen arbeitende Thematisierungen einer breiten Problemstellung – den Bedingungen der empirischen Legitimität von Herrschaft – in einem konzeptuellen Raster zu diskutieren. David Eastons »general theory« bietet sich an dieser Stelle als Referenz an, weil sie aufgrund ihres hohen Abstraktionsgrades aus vielfältigen Perspektiven anschlussfähig und mit jeweils fach(kultur)spezifischen Terminologien sowie konkretisierenden Problembeschreibungen kompatibel ist. Eastons Theorie erhebt mit A Framework for Political Analysis und A Systems Analysis of Political Life den Anspruch »to illuminate the functioning of political systems in their entirety« (Easton 1965b, 8) und erläutert weiter:

10 David Easton, dessen Theorie hier den maßgeblichen konzeptuellen Referenzpunkt darstellt, »verwendet bewusst den Persistenz- und nicht den Stabilitätsbegriff […], um die Vorstellung einer statischen Ordnung abzuwenden und den dynamischen Charakter der Systemanalyse der Politik herauszustreichen« (Fuchs 2002, 359).

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In a way, theory building is like good photography. The details make better sense if we have first shot the broad scene so that we can see the proportions and better fit the bits and pieces of close-ups into a wider and more coherent frame. This is the very task of macroanalyses, the kind to be undertaken here (Easton 1965b, vii). A Systems Theory und A Framework legen dementsprechend die allgemeinen Bedingungen für die Persistenz politischer Systeme sowie die Mechanismen dar, mit denen diese Systeme auf internen und externen Stress reagieren (Easton 1965b, vii). Easton begreift die Persistenz politischer Systeme grundsätzlich als Funktion der Kongruenz von Struktur (politischen Institutionen) und Kultur (den Einstellungen bzw. Unterstützungsleistungen der Bürger oder Herrschaftsunterworfenen) (Lipset 1960; Pickel und Pickel 2016; Schaal 2004; Westle 2010). Entsprechend der klassischen »Hypothese der political culture-Forschung« geht Easton davon aus, »zu jedem Typ politischer Regime gebe es einen passenden Typ politischer Kultur« (Gabriel 2016, 406). Hiermit lassen sich die eingangs eingeführten Forschungsfragen folgendermaßen spezifizieren (vgl. Pickel und Pickel 2006, 79): (1) Unter welchen Bedingungen unterstützen Bürger das politische System, in dem sie leben, d.h. vor allem seine Kerninstitutionen, die fundamentalen Wertmuster der politischen Gemeinschaft sowie die im Amt befindlichen – herrschaftsausübenden – politischen Autoritäten? (2) Mit welchen Strategien können politische Eliten und zivilgesellschaftliche Handlungsträger die politische Unterstützung der Bürger aufrechterhalten oder befördern? »Politische Unterstützung« wird nach Easton in zwei Sub-Typen unterteilt, in dif fusen und spezifischen Support. Letzterer »besitzt einen konkret – teilweise personell – fassbaren Bezugspunkt der entsprechenden politischen Einstellungen in der Realität. Sie ist damit generell den politischen Herrschaftsträgern [als Objekt] zugewiesen« (Pickel und Pickel 2006, 80). Das Konzept diffuser politischer Unterstützung hingegen bezieht sich auf evaluations of what an object is or represents – to the general meaning it has for a person – not of what it does. It consists of a ›reservoir of favorable attitudes or good will that helps members to accept or tolerate outputs to which they are opposed or the effects of which they see as damaging to their wants‹ (Easton 1975, 444; Herv. D.F.). Diffuse politische Unterstützung kann sich auf zwei Weisen manifestieren: Zum einen durch »Vertrauen«, d.h. durch den Glauben daran, dass die eigenen Interessen im Regierungshandeln ohne explizite Kontrollmechanismen berücksichtigt und umgesetzt werden. Dieses Vertrauen ist in der Regel das Ergebnis von über die Zeit gemachten Erfahrungen mit einem politischen System (Pickel und Pickel

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2016, 550).11 Zum anderen kann sich diffuse Unterstützung im »Legitimitätsglauben« manifestieren, also in der Überzeugung, dass die Akzeptanz einer Ordnung »right and proper«, d.h. mit den eigenen moralischen Grundsätzen konform ist (Easton 1975, 447-53). Da »[e]ine Abnahme von support […] [für ein politisches System] letztlich die entscheidende Quelle von Stress dar[stellt]« (Fuchs 2002, 361), diskutiert Easton mögliche Quellen von diffuser und spezifischer Unterstützung sowie Strategien für die Beförderung einer unterstützenden Haltung der Bürger gegenüber dem politischen System. Für den dif fusen Support der Bürger, d.h. ihr Institutionenvertrauen und ihren Glauben an die Rechtmäßigkeit der fundamentalen Strukturen der politischen Ordnung, sind zwei Faktoren entscheidend: Zum einen können sie ein »spill-over effect« von über die Zeit erstreckten positiven Erfahrungen mit den Leistungen (outputs) des politischen System sein (Easton 1975, 446). Eine maßgebliche Quelle diffuser Unterstützung, die auf die im engeren bzw. alltagssprachlichen Sinne »kulturelle Einbettung« politischer Ordnungen verweist, liegt in Sozialisationserfahrungen (Easton 1975, 449). Easton weist auf einen dritten, häufig in der Rezeption seiner Theorie wenig beachteten Faktor hin, der bedeutsam für die Generierung und Erhaltung politischer Unterstützung sein kann: Symbolisch vermittelte Erfahrungen stellen vielfach Quellen politischen Supports dar; sowohl Erwachsene als auch Kinder sind mit symbolischen Interaktions- und Kommunikationsformen konfrontiert, die miranda and credenda of power (Merriam 1934) etablieren.12 Hiermit erlaubt der von Easton bereitgestellte theoretische Rahmen (a) eine systematische und theoriegeleitete Analyse der Bedingungen der empirischen Legitimität einer politischen Ordnung, also ihrer Unterstützung durch die Bevölkerung in den aufgezeigten Dimensionen. Auf dieser Basis können (b) Strategien der Erzeugung bzw. des Erhalts von politischer Unterstützung identifiziert werden (siehe Table 1, Easton 1975, 452), die durch politische Eliten oder Bürger nutzbar gemacht werden (können).

11 Vgl. einschlägig zum Konzept politischen Vertrauens Schaal und Weiss 2002. 12 »The special status of those in positions of authority, the rituals surrounding their selection and accession to office, the official ceremonies on formal political occasions, the symbols of office, the affirmation of faith on patriotic days, and pervasive ideological presuppositions have long been presumed to contribute in one or another way to the reservoir of more deeply rooted [sen­ timents]« (Easton 1975, 446).

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Schlaglicht 1: Legitimität, Stabilität und Wandel Politischer Ordnungen aus altertumswissenschaftlicher Perspektive

Die Beschreibung, Analyse und Erklärung des Erhalts und Verfalls von politischen Ordnungen ist von jeher auch13 unter Rekurs auf die Einstellungen der herrschaftsunterworfenen14 Bürger erfolgt. Dieser deskriptive Legitimitätsbegriff, der auf die faktische Akzeptanz einer politischen Ordnung durch ihre Bürger verweist, wurde maßgeblich von Max Weber in Wirtschaf t und Gesellschaf t entwickelt (vgl. Fleuß 2017, 16-18; Schliesky 2004, 151; Weber 2002; Zürn 2012). Auf diese Begriff lichkeiten greifen (Alt-)Historiker und Altertumswissenschaftler mit Vorliebe zurück, wenn aus der jeweiligen disziplinären Perspektive die Analyse der (In-) Stabilität und Legitimität politischer Ordnungen thematisch wird. So analysiert Hans-Joachim Gehrke unter Anwendung von Webers Typologie die Strukturen hellenistischer politischer Ordnungen und kommt zu dem Schluss, die hellenistischen Monarchien hätten ihre empirische Legitimität vor allem unter Verweis auf die »Leistungen bzw. Vorzüge [des Monarchen] auf magischem, religiösem, psychologischem, politischem, militärischem Gebiet« generiert. Hellenistische Könige konnten demzufolge – häufig unterstützt durch symbolische Repräsentationen der Herrscherfigur – den Eindruck erzeugen, sie seien »von den Göttern unterstützt, vom Glück begünstigt usw.« (Gehrke 1980, 252). Hiermit seien in dieser Epoche Exemplifikationen des Typus »charismatischer Herrschaft« dominant gewesen. Wie Breuer (1988) zu Recht kritisch anmerkt, bleibt damit jedoch aus analytischer Perspektive offen, warum eine bestimmte Strategie der Erzeugung von Akzeptanz bzw. Anerkennung seitens politischer Eliten in einem konkreten raum-zeitlichen Kontext erfolgreich war (Breuer 1988, 320ff.). Damit können die oben eingeführten Erklärungsraster der politischen Kulturforschung Eastons (1957, 1965b, 1975) eine zwar auf hohem Abstraktionsniveau angesiedelte, aber analytisch wertvolle Ergänzung der altertumswissenschaftlichen Analyse und Erklärung der empirischen Legitimität und Stabilität bzw. Persistenz historischer Ordnungen anbieten. Der Einbezug moderner sozialwissenschaftlicher – nota bene: explizit mit dem Anspruch, eine »general theory« zu formulieren ausgestatteter – theoretischer Rahmen bietet damit einen Systematisierungs- und Strukturie-

13 Andere erklärende Variablen wie die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit eines politischen Sys­ tems oder außenpolitische Rahmenbedingungen sollen damit nicht unterschlagen werden, werden in diesem Beitrag aber nicht explizit thematisiert (vgl. für einen Überblick u.a. Merkel 2010). 14 In demokratischen politischen Ordnungen sind herrschaftsunterworfene zugleich herrschafts­ beteiligte Bürger.

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rungsvorschlag für altertumswissenschaftlich erforschtes »Material«, der einen Perspektivwechsel beispielsweise auf archäologische Funde erlaubt.15 Obgleich die Anerkennungswürdigkeit, die Legitimität von »Herrschaft überhaupt«, erst in der frühen Neuzeit im strengen Sinne rechtfertigungsbedürftig – und damit zum Gegenstand theoretischer Debatten – wurde (kanonischer Bezugspunkt: Hobbes 1966), sind die empirischen Legitimitäts- und Persistenzbedingungen politischer Ordnungen keineswegs ein spezifisch neuzeitliches oder modernes Thema. Krisenhafte Umbrüche und Evolutionen von politischen Ordnungen bzw. Verfassungen stellen vielmehr einen klassischen Topos nicht nur in der Auseinandersetzung mit historischen Verfassungsevolutionen, sondern auch in den Hauptwerken griechischer bzw. römischer Geschichtsschreibung und Philosophie selbst dar: Sowohl Platon und Aristoteles als auch Polybios und Cicero integrierten erklärende Modelle für den empirisch beobachtbaren Wandel von Verfassungen in ihre politische Theorie und Geschichtsschreibung16 (Aristoteles 1989; Cicero 1826; Platon 1991a, 1991b; Polybius 2002; vgl. dazu Blösel 1998). Die hier genannten Autoren repräsentieren Verfassungsevolutionen als Kreislauf (anakýklosis) und beanspruchen für die diesem zyklischen Prozess zugrundeliegenden Gesetzmäßigkeiten klassischerweise zeitlose Gültigkeit. Polybios erklärt den Wandel empirischer politischer Ordnungen (u.a. griechischer poleis, Spartas und Roms) im 6. Buch der Historien unter explizitem Bezug auf Platons Politeia und Nomoi (Platon 1991a, B. III; 1991b, B. VIII) aus solchen unwandelbaren Gesetzmäßigkeiten (Polybius 2002, B. VI.9).17 Die »Naturgesetze« des Verfassungswandels resultieren maßgeblich aus Schwächen der menschlichen Natur: So degeneriert beispielsweise das – dem Gemeinwohl zuträgliche – Königtum aufgrund der Dekadenz und Hybris des Monarchen zur tyrannischen Herrschaftsform, die hinreichend viel Unzufriedenheit bei der adligen Elite erzeugt, um für einen Umsturz des monarchischen Regimes (d.h.: die Transformation zur Aristokratie) 15 Eine solche Analyse folgt der Hypothese, dass die beispielsweise auf Münzprägungen oder in architektonischen Strukturen widergespiegelten symbolischen Darstellungen von königlicher Macht nur dann wirksam die Unterstützung der Bevölkerung befördern, wenn sie auf die jeweili­ gen kulturellen Prägungen und sozialisationsbedingten Erwartungshaltungen der (z.B. im Falle des ptolemäischen Reiches überaus heterogenen!) Bürgerschaften sensibel reagieren. Einen solchen Ansatz hat die Autorin dieses Beitrages mit Simeon Tzonev (Basel/Oxford) im Rahmen eines Vortrages zum Thema »Stabilität, Legitimität und Anerkennung politischer Herrschaft in multikulturellen Kontexten – das Beispiel der ptolemäischen Dynastie« bei der Konferenz Texturen von Herrschaft im Mittelmeerraum erprobt. 16 Diese Ausdifferenzierung verschiedener Disziplinen existierte freilich in der griechischen bzw. römischen Antike noch nicht. 17 In der Übersetzung Shuckberghs (Polybius 2002, B. VI.9): »This is the regular cycle of constitu­ tional revolutions, and the natural order in which constitutions change, are transformed, and return again to their original state.«

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zu sorgen (Polybius 2002, B. VI.4; VI.57). In Polybios’ Erklärungen von Evolutionen bzw. Revolutionen politischer Ordnungen ist damit stets (a) die Tendenz der herrschenden Elite zur Hybris bzw. Dekadenz (bei Platon und Aristoteles der Verlust von μέτριον, d.h. von Mitte und Maß) bei den Herrschaftsunterworfenen mit (b) der Erosion der Unterstützung für eine Regimestruktur verbunden, die nicht mehr im Dienste des Gemeinwohls stand. Diese mangelnde Unterstützung bzw. die negativen Affekte der Herrschaftsunterworfenen sorgen in Folge für einen Umsturz der vorhandenen Ordnung. Den Kontrastpunkt zu diesen einem stetigen »Werden und Zerfall« unterliegenden Ordnungen bildet bei Polybios die Verfassung der Römischen Republik seiner Zeit (vgl. Blösel 1998, 44). Die stilisierte Darstellung der Mischverfassung der Römischen Republik wird als dynamisches, f lexibel auf empirische Anforderungen reagierendes und damit persistentes Regime ausgezeichnet (Walbank 2011, 14).18 Obgleich diese Darstellung auf den ersten Blick im Widerspruch zur Rede vom naturgesetzlichen Verfassungswandel zu stehen scheint, scheint Polybios hier die römische Mischverfassung »nicht im Gegensatz zum Gesetz der Anakýklosis, sondern [als] ihre naturgemäße Entwicklung« zu sehen (Taeger 1922, 109; siehe Blösel 1998, 51). In der Tradition platonischer und aristotelischer Mischverfassungslehren argumentiert Polybios, die römischen Kerninstitutionen zeichneten sich insbesondere durch ein ausbalanciertes Verhältnis der gesellschaftlichen Kräfte aus. Diese sorge dafür, dass die Dekadenz einer gesellschaftlichen Gruppierung, die zuvor als »interne« Ursache der Degeneration von politischen Ordnungen ausgezeichnet wurde, durch eine institutionalisierte »balance of power« kompensiert werden kann (Polybius 2002, B. VI.18). Im oben (Abschnitt 3.1) eingeführten begriff lichen Raster der Politischen Kulturforschung lässt sich diese Analyse folgendermaßen reformulieren: Die Persistenz einer politischen Ordnung ist immer dann bedroht, wenn die Herrschaftsunterworfenen negative Einstellungen, Haltungen und Affekte gegenüber den »dekadenten«, nicht mehr im Sinne des Gemeinwohls handelnden Eliten entwickeln. Eine institutionelle Ordnung, welche die Dekadenz im Amt befindlicher sozialer Gruppen dadurch zu kompensieren vermag, dass sie verschiedene gesellschaftliche Kräfte institutionell einbindet, hat folgerichtig die beste Chance, auch unter Bedingungen dieser Form internen Stresses zu persistieren. Wie auch Oskar W. Gabriel bemerkt, ist also »[d]ie Vorstellung, die politischen Wertorientierungen und Einstellungen der Bürger – und des Führungspersonals – seien 18 Einschränkend ist an dieser Stelle mit Blösel (1998, 48) anzumerken: »Wenn allerdings in Zeiten des Friedens, des Wohlstandes und der Hegemonie die Selbstheilungskräfte der Staatsord­ nung durch gegenseitige Kontrolle der Machtkomponenten ein Überhandnehmen eines der Teile wirkungsvoll schon im Keim ersticken, so gilt dies nur für den Idealzustand, in dem Poly­ bios die römische Verfassung darstellt.«

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für das Funktionieren politischer Systeme maßgeblich, […] seit der Antike zu finden […]«, obgleich »die Klassiker […] noch nicht die Begriffe ›Wertorientierungen‹ und ›Einstellungen‹ [verwendeten]« (Gabriel 2016, 399). Abgesehen von derartigen Kontextualisierungen des Paradigmas der Politischen Kulturforschung werden »klassische« Texte und die in ihnen thematisierten historischen Beispiele jedoch im Rahmen der politiktheoretischen und politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung selten in einer sie ernstnehmenden Rekonstruktion einbezogen. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive erlaubt die Abstraktion von historischen Vorläuferphänomenen und ihren anspruchsvollen Kontextualisierungen einerseits einen ausgeprägten Fokus »auf aktuelle Problemstellungen, die von der Geschichtswissenschaft nicht bearbeitet werden können«. Zugleich verleitet dieser Fokus auch, »gegenwärtige Entwicklungen mangels historischer Vergleiche […] vorschnell als neuartige Probleme [zu] interpretier[en] […], [obgleich] vergleichbare Problemkonstellationen […] bereits in der Geschichte nachweisbar sind und deren Kenntnis wiederum für Lösungsansätze hilfreich wäre« (Müller 2004, 337). In der Auseinandersetzung mit altphilologischen und althistorischen Forschungen sowie den hier beispielhaft für »klassische« Textdokumente stehenden Histories selbst wird jedoch auch Folgendes deutlich: Nicht nur der Verweis auf strukturell ähnliche oder unähnliche Phänomene bzw. Forschungsinhalte, auch die Auseinandersetzung mit der von Polybios angewendeten sprachlichen und argumentativen Form hat das Potential, Perspektivwechsel und alternative Problembeschreibungen zu initiieren. An dieser Stelle wäre freilich jeder Versuch vermessen, die einschlägigen philologischen Auseinandersetzungen auszuwerten.19 Einen Schwerpunkt der Polybios-Forschung stellen jedoch die »narrativen Techniken« dar (Walbank 2011, 1), in der sich die Theorie empirischer Legitimität des VI. Buches der Histories präsentiert. Polybios’ Selbstbeschreibung als »pragmatischer Geschichtsschreiber« suggeriert zwar (so umstritten die genaue Bedeutung dieses Terminus im Einzelnen sein mag), dass metaphorische Illustrationen und literarische Verfremdungen im Dienste einer faktengetreuen Rekonstruktion historischer Ereignisse zurücktreten (Walbank 2011, 6). Zugleich fordern verschiedene Aspekte seiner sprachlichen, argumentativen und rhetorischen Repräsentation geschichtlicher Abläufe zu expliziten Analysen der Metastrukturen des Textes, der angewendeten Erzähltechniken (vgl. u.a. Miltsios 2013; Sacks und Sacks 1981; Wiater 2010) und rhetorisch-politischen Strategien (vgl. Champion 2004) heraus. So argumentiert James Davidson in The Gaze in Polybius’ Histories, selbige böten eine bewusst multiperspektivische Darstellung: »Polybios, then, can be seen as writing through the eyes of others. He gives us sometimes different view points of the same event« (Davidson 1991, 13). Die Metastrukturen der His19 Vgl. für einen exzellenten Überblick über die »main trends in recent Polybian scholarship« Wal­ bank 2011.

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tories seien damit als »a series of concentric circles of spectators« repräsentierbar (Davidson 1991, 16). Die literarischen Mittel seiner Darstellung der historischen Abläufe, die er in seiner Theoretisierung der Bedingungen empirischer Legitimität und politischer Persistenz verarbeitet, erfüllen damit eine spezifische Funktion: Sie integrieren die Komplexität und Multiperspektivität realen politischen Geschehens bereits auf der Ebene der Darstellung. Polybios verfasst seine Theorie des Verfassungswandels und theoretisiert Bedingungen und Funktion empirischer Unterstützung der Bevölkerung für die Persistenz politischer Ordnungen freilich unter den Bedingungen eines noch nicht herausgebildeten funktional differenzierten Wissenschaftssystems sowie entsprechender Disziplinen-spezifischer Regularien und Konventionen (vgl. Abschnitt 2.1). Die daraus entstehenden Probleme, Polybios’ Auseinandersetzung im Kontext sub-disziplinärer Zusammenhänge ausschöpfend zu thematisieren, mögen heutige Forschende damit vor Herausforderungen stellen. Diese Herausforderung muss vor dem Hintergrund der pragmatistischen Forderung nach einem »Problem-Beschreibungspluralismus« jedoch, so das Plädoyer dieses Beitrages, nicht als Manko gewertet werden: Die Historien können vielmehr in ihrer Vielschichtigkeit, die literarische, historiographische, politologische und philosophische Elemente sowie eine Vielzahl stilistischer Mittel kombiniert, auch als Werk betrachtet werden, dem ein Problembeschreibungs-Pluralismus im Sinne Deweys (siehe Abschnitt 2.2) inhärent ist.

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Schlaglicht 2: Politische Unterstützung aus Kulturund Bildwissenschaftlicher Perspektive

In der jüngeren Forschungsliteratur betonen verschiedene Forschungsstränge der Politikwissenschaft die Bedeutung non-verbaler – symbolischer, expressiver, gesten- oder bildhafter – Kommunikation für den Ausdruck, die Entstehung und die Mobilisierung von politischen Einstellungen (Blair 2012; Dufour 2016; Ercan, Hendriks, und Dryzek 2018; Hendriks, Duus, und Ercan 2016; Schill 2012).20 Mit dem maßgeblich durch Mitchell (1995; 1997) eingeleiteten pictorial turn gelten visuelle Ausdrucksmittel für Politologen »nicht länger nur illustrativ, sondern indikativ und mehr noch: ko-konstitutiv für die jeweils untersuchten Phänomene und Prozesse« (vgl. Bogerts 2016, 506; Maasen, Mayerhauser, und Renggli 2006). Die Politische Kulturforschung greift dennoch verhältnismäßig selten auf diesen Analysegegenstand zurück. Ein Grund hierfür mag in den eklatanten methodischen und theoretischen Herausforderungen liegen, die eine Analyse von Bildern 20 Besonders dominant sind Bezüge auf non-verbale Mittel der Expression, Artikulation und Mo­ bilisierung von Einstellungen in der politikwissenschaftlichen Bewegungs- und Partizipations­ forschung, auf die an dieser Stelle auch maßgeblich verwiesen wird.

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und symbolischen Darstellungen als Indikator für die politischen Einstellungen einer Bevölkerungsgruppe oder als Mittel der (von Eliten oder der Zivilgesellschaft initiierten) Einstellungsveränderung birgt. Obgleich die Verwendung von bildlichen Darstellungen und Symbolen keineswegs ein neues, modernes oder gar »post-modernes« Phänomen darstellt (siehe dazu die altertumswissenschaftlichen Referenzen in Abschnitt 3.2), dürften sowohl die raum-zeitliche Entgrenzung der Verfügbarkeit von Bildern als auch die verbreitete Nutzung digitaler Medien zur Bilderzeugung und Distribution ihre Bedeutung für ein Verständnis von Bürgereinstellungen und ihren Entwicklungen noch einmal erhöht haben (Bogerts 2016, 505). Bogerts erläutert in der Einleitung zu ihrer Analyse von Street Art-Bildern, die unter anderem eine kritische Perspektive auf die Aktionsweise politischer Eliten im Rahmen der griechischen Finanzkrise einnehmen: Bildern wird eine Schlüsselrolle in der globalen Politik zugesprochen, weil sie vor allem durch ihre sprachübergreifende, emotionale und unmittelbare Wirkung […] essen­ tiell für die Erklärung von (außen-)politischen und öffentlichen Reaktionen auf bestimmte Ereignisse sind. Dies gilt sowohl für Wahlkampagnen als auch für Ka­ tastrophen, Krisen und Gewalt (Bogerts 2016, 505-506; Herv. D.F.). Obgleich Analysen der in analogen und digitalen Räumen verwendeten visuellen Darstellungen oder in Protesten (online und off line) verwendeten symbolischen Repräsentationen (Dufour 2016; Theocharis et al. 2015; Thorson et al. 2013; Vasilopoulou, Halikiopoulou, und Exadaktylos 2014) kein repräsentatives Bild der »patterns of orientation« der griechischen oder europäischen Bevölkerung im Kontext der Finanzkrise geben dürften, sind sie doch geeignet, die klassischen (häufig von close-ended questions dominierten) Mittel der quantitativen Umfrageforschung sinnvoll zu ergänzen. Eine sorgfältige Analyse visueller politischer Ausdrucksformen bietet insbesondere einen fundierten Eindruck von den komplexen affektiven bzw. emotionalen Gehalten der entsprechenden Positionierungen, die in Survey-Auswertungen grundsätzlich nicht abbildbar sind. Allerdings ist den meisten etablierten Theorie-Optionen, die aus politikwissenschaftlicher Perspektive für die Analyse der Generierung politischer Unterstützung Anwendung finden, »gemeinsam, dass sie aus pragmatischen oder aber normativen Gründen einen bestimmten [in aller Regel: verbalen bzw. propositional verfassten] Modus an politischer Kommunikation privilegieren« (Hofmann 2004, 312). Auch Müller konstatiert in ihrer Verhältnisbestimmung von Politologie und Ikonologie: Zu Unrecht werden Bilder bislang von der Politologie als politisches Quellenma­ terial ignoriert, weil sie als irrationale und alogische Phänomene betrachtet wer­ den, die im Widerspruch zum rationalen Anspruch politischer Willensbildung und

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Entscheidungsfindung stehen. Damit ist einer kulturwissenschaftlich orientierten Politologie ein wichtiges Analyseinstrumentarium verschlossen (Müller 2004, 335). Die hier in den Blick genommenen Ausdrucksformen politischer Einstellungen sind nur vor dem Hintergrund eines erweiterten Verständnisses Politischer Kultur sinnvoll thematisierbar (Beyme 2012, 25; 28): Das etablierte Paradigma Politischer Kultur blendet, so ein häufig ausgesprochener Vorwurf, nicht nur die Bedeutsamkeit von »kulturprägende[r] […] Geschichte, sie begleitende[n] […] Geschichten sowie […] [die] historischen Prägungen von Gesellschaften« systematisch aus (siehe Pickel und Pickel 2006, 106f.). Es klammert auch eine der »Deutungskultur« aus, die sich aus »kulturellen Aktivitäten, Prozesse[n] und Produkte[n]« zusammensetzt, die »wir aus einem traditionellen Vorverständnis heraus den ›Kulturbereich‹ der Gesellschaft nennen« (Rohe 1987, 42).21 Diese Deutungskultur steht jedoch in einer Wechselwirkungsbeziehung zu den politischen Einstellungen der Bürger (also der »Politischen Kultur« im engeren Sinne), da sie »auf die [alltägliche] Vorstellungswelt der Bürger trifft, sie aktualisiert, verfestigt, modifiziert oder verändert« (Sarcinelli 1989, 292f.). Daher kann es je nach Analysefokus erforderlich sein, selbige in die Analyse der empirischen Legitimität politischer Ordnungen einzubeziehen. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn die emotionale bzw. affektive Komponente der Genese und Veränderungen politischer Einstellungen im Fokus stehen soll. Wie bereits Sarcinellis klassische Auseinandersetzung feststellte, ist [symbolische Politik] in hohem Maße gefühlsadressiert. Sie ist nicht in erster Linie ausgerichtet auf die kognitive Auseinandersetzung, sondern primär auf die Mobi­ lisierung von Emotionen und auf die Stimulanz erwünschter Assoziationen (Sarci­ nelli 1989, 296). Für die Analyse der Bedeutung(en), politischen Funktionen und Wirkungen von Bildern und symbolischen Darstellungen im Allgemeinen bedarf es allerdings eines »interdisziplinären Rahmens«, der nicht nur das Fachwissen, sondern auch die methodischen Kompetenzen von Politik- bzw. Sozialwissenschaftlern und Kunst- bzw. Kulturwissenschaftlern »poolt« (Bogerts 2016, 512; Beyme 2012, 38). Methodische Zugänge für die Analyse symbolischer Ausdrucksformen sieht beispielsweise Müller (2004) in einer durch Aby Warburgs »kulturwissenschaftliche ›Grenzerweiterung‹ der Kunstgeschichte« (Böhme 1997, 10ff.) inspirierten historisch-kontextualisierenden Interpretation. Vor allem an Panofsky (1939) anschlie21 Beide Dimensionen Politischer Kultur – Politische Kultur im Sinne Eastons oder Almonds und Verbas (»Sozialkultur«) und Deutungskultur – sind dabei in einer komplexen Interaktionsbezie­ hung zu sehen, die in der Analyse berücksichtigt werden sollte (Rohe 1987, 42).

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ßenden ikonologischen Analyseverfahren wird dabei das Potential zugeschrieben, eine systematische Analyse symbolischer Ausdrucksformen in Analysen politischer Einstellungen und ihrer Genese zu integrieren (Hofmann 2004, 313-316). Eine bloße Übernahme eines idealtypischen Interpretationsverfahrens durch die Politische Kulturforschung ist zweifelsohne nicht hinreichend, dies kann »jedoch eine sinnvolle Erweiterung des politologischen Forschungsrepertoires dar[stellen]« (Müller 2004, 344). Nicht nur vor dem Hintergrund einer quantitativ erhöhten Präsenz und Wirkmacht von non-verbalen Ausdrucksformen im Zuge digitalisierungsinduzierter Entwicklungen bedarf es allerdings interdisziplinärer Auseinandersetzungen mit non-verbalen Manifestationen politischer Einstellungen sowie symbolischer Modi ihrer Beeinf lussung. Abschnitt 3.2 hat auf die Spezifika hellenistischer Herrscherdarstellungen sowie den Gebrauch von miranda and credenda of power (Easton 1975; Merriam 1934) als Mittel für die »Organisation politischer Unterstützung« verwiesen (vgl. auch Gehrke 1980); die Anwendung symbolischer Politik zur »Organisation von politischer Unterstützung« scheint damit auch kein Moderne-spezifisches Phänomen zu sein (Abweichendes suggeriert Sarcinelli 1989, 296f.). Eine Kollaboration mit kulturwissenschaftlichen Ansätzen kann daher auch geeignet sein, die affektiven bzw. emotionalen Quellen und Bedingungen politischer Unterstützung (sowie potentielle Strategien ihrer Beförderung oder Subversion) zu analysieren. Sie leistet folglich auch einen Beitrag, den »konventionellen« politikwissenschaftlichen Fokus auf kognitive und behaviorale Aspekte der Einstellungsgenese sinnvoll zu erweitern, der auch Befunden sozialpsychologischer Studien zur Einstellungsbildung nicht gerecht zu werden vermag (vgl. u.a. Kleef, Berg, und Heerdink 2014; Maio und Haddock 2010; Zajonc 1980).

4. Der Trade-off von Spezialisierung und Multiperspektivität: Potentiale und Herausforderungen von Interdisziplinarität 4.1

Potentiale: Vielfalt von Perspektiven, Expertisen und Beschreibungsformen

Die wissenschaftstheoretische Kernthese dieses Beitrags begreift disziplinäre Differenzierung als historisches Faktum, das wissenschaftlicher Praxis Bedingungen schafft, unter denen sie einer bestimmten funktionalen Anforderung gerecht werden kann: spezialisiertes, »tiefenscharfes« Wissen zu generieren (Luhmann 1997, 764). Aus der Perspektive John Deweys ist das Erfordernis nach interdisziplinärer Kooperation nicht nur aus den jeweils abweichenden Spezialisierungsfeldern, sondern prinzipieller zu begründen: »Erkenntnis« in Form von wissenschaftlichen Problemlösungen generiert Forschung vor allem dann, wenn

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sie in ihrem gesamten Prozess auf plurale Problemdefinitionen, -beschreibungen und Lösungsansätze zurückgreifen kann. Ihren Wert beziehen interdisziplinäre Kooperationen damit nicht allein aus sich ergänzenden bereichsspezifischen Zuständigkeiten der Teildisziplinen; sie resultiert nicht (allein) aus dem marktförmigen falsif kationistischen »Wettbewerb der Hypothesen« (Albert 1968, 49; Lakatos 1976; Popper 1935). Aus pragmatistischer Perspektive ist Interdisziplinarität vielmehr maßgeblich durch den epistemischen Mehrwert einer multiperspektivischen Betrachtung wissenschaftlicher Fragestellungen begründet. Kurzum: durch Problem-Beschreibungspluralismus. In knappen Schlaglichtern auf verschiedene Forschungsfelder und -paradigmen (siehe Abschnitte 3.2 und 3.3) hat dieser Beitrag auf heterogene wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit (Aspekten von) empirischer Legitimität verwiesen und ihren möglichen Beitrag zur Beantwortung der Fragen nach Erklärungen politischer Einstellungen bzw. den Bedingungen ihrer Veränderung aufgezeigt: 1. Polybios verfasste die Histories im Kontext eines noch nicht disziplinär strukturierten, funktional differenzierten Wissenschaftsystems. Neben Modellierungen der Bedingungen von Regimepersistenz und politischer Unterstützung in seiner Anakýklosis-Theorie finden sich in seinen Textfragmenten daher rhetorische und darstellerische Mittel, die die Grenzen der disziplinären Zuständigkeiten aus heutiger Perspektive sprengen. Positiv gewendet heißt dies jedoch auch: Polybios’ multiperspektivischer Darstellung – inklusive der verschiedenen »layers« der narrativen Strukturen der Histories – ist der von Dewey eingeforderte »Beschreibungspluralismus«, der unter modernen Rahmenbedingungen durch interdisziplinäre Kooperationen realisiert werden müsste, gewissermaßen noch inhärent (Abschnitt 3.2). 2. Bereits unter Bezug auf die Analyse archäologischer Funde – z.B. die Repräsentation hellenistischer Herrscher auf Münzprägungen oder in Statuen – konnte die Funktion symbolischer Kommunikationsmedien für die Erzeugung politischer Unterstützung aufgezeigt werden (Abschnitt 3.2). Auch Studien, die sich mit dem non-verbalen (bildhaften bzw. symbolischen) Ausdruck politischer Einstellungen gegenüber der europäischen und griechischen politischen Ordnungen während und seit der Finanzkrise beschäftigen (siehe Abschnitt 3.3), sind in der Lage, insbesondere die affektiven und emotionalen Gründe für den beobachtbaren Einstellungswandel zu identifizieren und die Komplexität der zivilgesellschaftlichen Deutungen, Haltungen und Positionen abzubilden. Der Einbezug historischer Untersuchungsgegenstände und Analysen sowie symbolischer Ausdruckformen in die Analyse der empirischen Legitimität politischer Ordnungen erhöht die Heterogenität der in wissenschaftlichen Problem-

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beschreibungen zu berücksichtigenden Gegenstände. Damit erhöht sich zugleich die Heterogenität der ihnen entsprechenden Problembeschreibungen sowie der methodischen Ansätze, die erforderlich sind, um sich ihnen in interdisziplinären Untersuchungsdesigns zu nähern. Die im Rahmen dieses Beitrages geforderte Interdisziplinarität in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit empirischer Legitimität ist damit folgendermaßen zu begründen: Die Fragen nach den Bedingungen empirischer Legitimität und den Mechanismen ihrer Erzeugung bzw. Aufrechterhaltung überschreiten – wie zahlreiche gesellschaftlich und politisch relevante Problemstellungen – die Grenzen disziplinärer Zuständigkeitsbereiche. Das in diesem Beitrag adressierte Mikro-Makro-Problem, d.h. die Beziehung zwischen individuellen Einstellungen sowie den Eigenschaften und (Dis-)Kontinuitäten von Regimestrukturen, setzt sich aus so diversen Aspekten und Gegenstandsbereichen wie der psychologischen Verfasstheit der Bürger, dem historischen Kontext politischer-sozialer Strukturen und der institutionellen Funktionsweise politischer Regime zusammen. Interdisziplinarität scheint vor diesem Hintergrund schon aufgrund der Beschaffenheit des Forschungsgegenstandes geboten. Auf Basis der Diskussion altertums- und kulturwissenschaftlicher Studien wurden so im Hinblick auf die Beantwortung der politikwissenschaftlichen Forschungsfragen nach (1) den Bedingungen und (2) den Strategien der Erzeugung politischer Unterstützung Faktoren betont, die in etablierten Politische Kulturforschungs-Diskursen vergleichsweise wenig Gewicht haben: (1) konnte die Bedeutung emotionaler bzw. affektiver, z.T. nicht in propositionale Gehalte übersetzbarer, Komponenten politischer Einstellungen verdeutlicht werden. In diesen Darstellungen wurde transparent, dass Bürger gerade unter komplexen Rahmenbedingungen politische Unterstützung oder Ablehnung nicht nur auf »rationale« Leistungsbewertung und dem hieraus generierten Vertrauen stützen. Dementsprechend bedienen sich (2) politische Akteure sehr häufig symbolischer Ausdrucks- und Kommunikationsformen – seien es hellenistische Herrscherbilder, aktuelle Wahlkampfplakate oder dem politischen Protest dienende Street Art. Vor dem Hintergrund des pragmatistischen Plädoyers für eine verstärkt interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Legitimitätsfragen verliert in disziplinär strukturierten Kontexten erworbenes Spezialwissen keineswegs an Wert; auch ist eine Auf lösung dieser Zusammenhänge aus wissenschaftstheoretischer Perspektive kein erstrebenswertes Ziel. Vielmehr geht es, im Anschluss an Aby Warburg, um »Interdisziplinarität bei vorausgesetzter Disziplinarität, ohne welche erstere nicht sinnvoll entwickelt werden kann« (Böhme 1997, 10; Herv. D.F.). Eine gehaltvolle Analyse und Erklärung politischer Unterstützung für konkrete politische Ordnungen kann jedoch in Anbetracht der dem Thema inhärenten Multiperspektivität nur mithilfe des von Dewey geforderten interdisziplinären Problembeschreibungspluralismus realisiert werden. Besonders deutlich wird der wissenschaftli-

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che Zugewinn in Anbetracht der Heterogenität der verschiedenen disziplinären Kontexte, Blickwinkel und Problembeschreibungen. Zugleich stellt diese Heterogenität, wie der folgende Abschnitt zeigen wird, eine fundamentale Herausforderung der interdisziplinären Zusammenarbeit dar.

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Herausforderungen: Übersetzungsprobleme und Inkommensurabiltäten

Aus den in Abschnitt 2 erläuterten wissenschaftstheoretischen Prämissen resultiert ein trade-of f: Die innerdisziplinäre, auf einheitlichen konzeptuellen Rahmen und methodischen Grundverständnissen sowie geteilten Problemdefinitionen 22 beruhende »Tiefenschärfe« geht notwendigerweise auf Kosten der von Dewey geforderten Multiperspektivität. Hiermit sind wir mit dem Befund konfrontiert, dass der Prozess wissenschaftlicher und disziplinärer Differenzierung den Pluralismus von Beschreibungen zwar gesteigert hat, in der Praxis der Analyse und Erklärung empirischer Legitimität jedoch selten explizit auf dieses Potential zurückgegriffen wird. Dies mag auch an den spezifischen Herausforderungen interdisziplinärer Kooperationen liegen, die sich vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Analysen dieses Beitrages folgendermaßen spezifizieren lassen: Die aus erkenntnistheoretischen Gründen grundsätzlich positiv zu bewertende Spezialisierung wissenschaftlicher Disziplinen ist – so Luhmann – in der Tendenz mit »Synchronisationsschwierigkeiten« zu anderen disziplinären Kontexten »erkauft« (Luhmann 1997, 764f., siehe Abschnitt 2.1). Das impliziert unter anderem, dass eine Forschungsproblem-orientierte Kooperation verschiedener Disziplinen (»inter-« oder auch »transdisziplinäre« Forschung) schon durch abweichende theoretische und methodische Grundverständnisse und Vokabulare erschwert wird. Dies wirft die Frage nach theoretischen und methodologischen (In-)Kommensurabilitäten der in verschiedenen Disziplinen angewendeten Forschungsparadigmata auf (Kuhn 1973): Während ein Teil der etablierten Politischen Kulturforschung weitgehend auf Basis quantitativer Surveys Einstellungsdaten erhebt und dann zu »patterns of orientation« aggregiert, wird der alleinige Rückgriff auf dieses methodische Instrumentarium von Seiten interpretativen Paradigmen verpf lichteter Kulturwissenschaftler, auch aber aus Perspektive einzelner Forschungsstränge der Politikwissenschaft, scharf kritisiert: Rohe (1987, 47) argumentiert, »Politische Kultur« [hier: Sozio- und Deutungskultur] lasse sich nicht mit den Methoden der quantitativen Umfrageforschung untersuchen; vielmehr 22 Diese Beschreibung ist insofern idealisierend, als auch innerhalb disziplinär strukturierter Zu­ sammenhänge zweifelsohne Theorien, Methoden und Spezifikationen von Forschungsproble­ men umkämpft sein können.

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müssten phänomenologische und hermeneutische Methoden zur Anwendung kommen. Auch die metatheoretischen und methodologischen Annahmen vieler kulturwissenschaftlich arbeitender Ansätze sind nur eingeschränkt in die der quantitativ arbeitenden Sozialforschung übersetzbar: Ikonologische Analysen politischer Phänomene stehen häufig poststrukturalistischen Paradigmen nahe (vgl. z.B. Heck 2014) und teilen folgerichtig weder die ontologischen noch die forschungspragmatischen Prämissen quantitativ orientierter Survey-Forschung. Im Rahmen einer interdisziplinären Analyse und Erklärung der empirischen Legitimität politischer Ordnungen müssen die entsprechenden Befunde und Verfahren also sorgfältig kommuniziert werden, um einander sinnvoll ergänzen zu können – und um ggf. die Grenzen der Vereinbarkeit der Paradigmen transparent zu machen. Dewey versteht Wissenschaft als soziale und kommunikative Praxis, die ihre »Problemlösungsvorschläge« in interaktiven, durch eine Vielzahl von Beschreibungen und Perspektiven inspirierten Feedbackloops schrittweise verbessert. Dieser Vorschlag ist zwar strictu sensu keine »Lösung« der hier aufgeworfenen Übersetzungsprobleme und Methodeninkompatibilitäten – er bietet aber ein ref lexives Verfahren, das eine wechselseitige Ergänzung und Kritik (scheinbar) inkommensurabler Praktiken möglich macht. Konkret ergeben sich damit die folgenden Imperative für eine gelingende interdisziplinäre Praxis: 1. Der wissenschaftliche Prozess muss als problemorientierte und fehlbare Aktivität verstanden werden. Die Fallibilität von wissenschaftlichen Prozessen sollte dadurch ref lektiert werden, dass diese von vornherein als iterative bzw. rekursive Verfahren konzeptualisiert werden. 2. Erkenntnis und wissenschaftlicher Fortschritt23 können nur durch eine Pluralität von Perspektiven erzielt werden. Der zentrale epistemische Mehrwert resultiert dabei nicht daraus, dass Ansätze auf einem »Wettbewerb der Ideen und Hypothesen« miteinander konkurrieren, sondern aus der Vielfalt der Beschreibungen von Forschungsproblemen und Problemlösungen. Diese tolerante Haltung gegenüber abweichenden Forschungsparadigmen kann maßgeblich zu einer gelingenden interdisziplinären, d.h. immer auch: sozialen und kommunikativen, Praxis beitragen. 3. Diese Kooperation muss innerhalb adäquater Rahmenbedingungen stattfinden: Forschung als sozialen Prozess des sprachlich vermittelten Austauschs von kontextuell situierten Erfahrungen zu begreifen, erhöht die Anforderung an die kommunikativen Kompetenzen Forschender sowie den Einbezug von 23 Zumindest aus der Perspektive Richard Rortys (Rorty 1979; 1991) wäre die Beschreibung der Wissenschaftsgeschichte als »Fortschritt« allerdings problematisch, da dies ein eindeutiges Kriterium für die Unterscheidung von besseren und schlechteren »Narrativen« sowie deren temporale Abfolge voraussetzt.

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– aus unterschiedlichen Traditionen oder der Inkommensurabilität von Vokabularen resultierenden – Übersetzungsproblemen.

Fazit Der vorliegende Beitrag hat vor dem Hintergrund pragmatistischer wissenschaftstheoretischer Prämissen für eine interdisziplinär ausgerichtete Erforschung der empirischen Legitimität politischer Ordnungen argumentiert. Die politische Unterstützung der Bürger stellt einen klassischen Topos politiktheoretischer und politikwissenschaftlicher Forschung dar. Zugleich wird sie aus sehr heterogenen disziplinären Perspektiven – wenn auch unter abweichenden Vorzeichen und unter Anwendung abweichender konzeptueller oder methodologischer Frameworks – intensiv diskutiert. Aus der Perspektive von John Deweys pragmatistischer Wissenschaftstheorie ist diese Pluralität von Fachvokabularen und Problembeschreibungen jedoch kein Hindernis, sondern der Grund für interdisziplinäre Kooperation: Plurale Problembeschreibungen stellen eine fundamentale Voraussetzung für gelingendes wissenschaftliches Problemlösen dar. Die in diesem Beitrag integrierten »Schlaglichter« auf heterogene disziplinäre Kontexte haben den trade-of f verdeutlicht, mit dem interdisziplinäre Praxis unter Bedingungen eines funktional differenzierten Wissenschaftssystems konfrontiert ist: Moderne sozialpsychologische oder ikonologische Studien erlauben einen präziseren, »tiefenschärferen« (Luhmann 1997) Blick auf einzelne psychologische Phänomene und ihre Erklärung als die Universalgeschichte Polybios’, zugleich gilt jedoch aus erkenntnistheoretischer Perspektive auch – in Abwandlung eines bekannten Theorems: diversity may trump specialisation!24 Wissenschaftliche Praxis steht damit (a) vor der Herausforderung, Spezialisierung und interdisziplinäre Kooperation in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Forschungsgegenstand sinnvoll aufeinander abzustimmen. Sie muss (b) für die Gestaltung eines Verfahrens Sorge tragen, das Übersetzungsprobleme und scheinbare oder tatsächliche Inkommensurabilitäten wissenschaftlicher Vokabulare auszutarieren hilft. Der abschließende Abschnitt dieses Beitrags schlägt vor, Deweys Verständnis von Wissenschaft als genuin sozialer und kommunikativer Praxis zum Ausgangspunkt für die Gestaltung eines solchen Verfahrens zu wählen.

24 Vgl. hierzu das diversity trumps ability-Theorem, das im Rahmen der Epistemic Democracy-Debat­ te sowie der Deliberationstheorie prominent wurde (Estlund 2008; Thompson 2014).

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Wiater, Nicolas: Speeches and historical narrative in Polybius’ Histories: approaching speeches in Polybius. In: Dennis Pausch (Hg.): Stimmen der Geschichte: Funktionen von Reden in der antiken Histographie. Berlin: De Gruyter 2010, 67107. Zajonc, Robert B.: Feeling and thinking: Preferences need no inferences. In: American Psychologist 35.2 (1980), 151-175. Zürn, Michael: Legitimacy. In: Helmut K. Anheier und Mark Juergensmeyer (Hg.): Encyclopedia of Global Studies. Thousand Oaks: SAGE Publishing 2012.

Repräsentation von Asymmetrien in Literatur und Kunst

Repräsentationen des Insularen Mittelmeerinseln als Orte der Vernetzung, Verbannung, Selbstfindung Sergio Corrado, Universität Neapel »L’Orientale« S’annuncia col profumo, come una cortigiana,  l’Isola Non-Trovata… Ma, se il piloto avanza,  rapida si dilegua come parvenza vana,  si tinge dell’azzurro color di lontananza… Guido Gozzano, La più bella!1

1.

Insel/Festland: ein Paradigma von Machtverhältnissen im Mittelmeerraum

Inseln gehören zum Mittelmeerbild. Kein Fotoband, kein Reiseführer, aber auch keine Geschichte der Mittelmeerländer wären ohne Inseln denkbar. Mittelmeerinseln sind seit jeher bewohnt, sie waren wichtige Produktionszentren in der Frühgeschichte und haben eine sehr wichtige ökonomische, militärische und kulturelle Rolle in der Antike gespielt, vor allem in der griechischen Welt. Eine der Weltmächte des späten Mittelalters, Venedig, ist eine Insel (die wiederum aus vielen Inselchen entstanden ist und deren städtische Identität ohne die Trabanteninseln der Lagune Murano, Burano, Giudecca und das Gemüse- und Obstproduktionszentrum Sant’Erasmo undenkbar wäre; vgl. Grydehøj und Casagrande 2019) – eine Insel, die andere Inseln im Ionischen Meer und der Ägäis kolonisierte. Eine kleine Insel wie Delos war heilig, als Geburtsstätte Apollons und der Artemis. Nach Capri, einer der ersten touristischen High-Society-Inseln der Welt, hatte der römische Kaiser Tiberius sein Hauptquartier verlegt und regierte von dort aus; 1 Die schönste! [1913] (Gozzano, Guido: Tutte le poesie. Milano: Arnoldo Mondadori Editore 1980, 283): »Sie kündigt an ein Duft wie Kurtisanen,/die Insel Nie-Entdeckt… Wenn vorwärts aber//der Pilot sich drängt, wie ein Truggebilde/verfliegt sie rasch in einer blauen Ferne…« (Übersetzung S.C.).

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dank eines gut organisierten Netzes von Besichtigungstürmen an der naheliegenden Küste sowie einer Flotte von schnellen Booten bekam er die wichtigsten Informationen – er war strategisch isoliert, jedoch kommunikationsmäßig gut angeschlossen. Auf verschiedenen Inseln im Mittelmeer hat man Gefängnisse gebaut und bis vor einigen Jahrzehnten Dissidenten verbannt, in Arbeits- und Konzentrationslager eingesperrt, gefoltert, liquidiert. Auf anderen hat sich eine europäische Hippie-Kultur entwickelt, die dort versuchte, sich den entfremdenden Mechanismen der Zivilisation und der zentralistischen Kontrolle des Staates zu entziehen, um ihren totalitätstrunkenen Glückstraum auszuleben. Im Zeitalter des Massentourismus stellen Inseln heute für viele Regionen des Mittelmeeres (und insbesondere für Griechenland) eine der wichtigsten Einnahmequellen dar. Auf einigen dieser Inseln kommen monatlich hunderte von Migranten an – sie sind der Sammelpunkt von Menschen, die vor Krieg, Gewalt, Armut und Hunger f liehen. Eine Ref lexion über das Mittelmeer ist ohne eine Ref lexion über Inseln undenkbar, und gerade dann, wenn es um die Texturen der Herrschaft geht, wie dem Gesagten schon zu entnehmen ist. Durch Seerouten, Handelswege und militärische Stützpunkte entsteht seit jeher im Mittelmeer ein sehr dichtes Netz von politischen, kulturellen und sozialen Beziehungen, in dem Inseln stets eine entscheidende Rolle gespielt haben – vor allem zu der Zeit, als die Kommunikationswege nur über Wasser und Erde gingen und den Nachrichten etwas Gegenständliches anhaftete, denn sie mussten regelrecht von Ort zu Ort transportiert werden. Und heute? Die Phänomenologie der Macht stellt sich heute natürlich anders dar als in vorelektronischen Zeiten. Was jedoch die Inseln an geopolitischer Zentralität verloren haben mögen, gewannen sie auf anderen Ebenen: Wenn das Mittelmeer heute als hochinteressantes Experimentierlabor für ökologische Projekte auf dem Gebiet der Energieherstellung und der Agrarproduktion, für die Wohn- und Esskultur, für gemeinschaftliche Lebensformen funktioniert, wenn es eine Art übernationales Atelier für Modedesign ist, dann hängt das größtenteils von der Existenz so vieler Inseln ab und von den Beziehungen zwischen ihnen und dem Festland. Und gerade diesen so problematischen Beziehungen verdanken Inseln (im allgemeinen, aber Mittelmeerinseln haben darin eine lange Tradition) eine theoretische Bedeutsamkeit: Thematiken wie das Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie, Separation bzw. Konnektivität, Individuum und Gruppe, aber auch zwischen einzelnen Wissensinhalten und einem übergeordneten Wissenssystem, die in vielen aktuellen philosophischen, anthropologischen und epistemologischen Reflexionen auftauchen, finden in der Inselwelt mit ihrem Netz von einzelnen Inseln und Archipelen eine stimulierende Inspirationsquelle und ein auf theoretischer Ebene produktives Modell.2 2 Nach Krasny bietet sich das Insulare heutzutage als »Erfahrungsgarant und Sinnstiftungsmus­ ter« an, denn: »Es verdichtet die Figuren von Einzigartigkeit, In-Sich-Geschlossenheit, Über­ schaubarkeit und Begrenztheit als Wunschreservat der Hypermoderne« (Krasny 2014, 187). Vgl.

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Ottmar Ette, der viel über Inseln und insulare Kulturen vor allem in der Karibik recherchiert hat, schreibt: »Wie auch immer die raumzeitliche Diskontinuität der Insel in Szene gesetzt sein mag: Sie ist stets verbunden mit der Frage nach der Macht, gleichviel, ob diese im jeweiligen Falle göttlichen und/oder menschlichen Ursprungs ist. Oder anders formuliert: Wer die Frage nach der Insel stellt, stellt immer auch die Frage nach der Macht« (Ette 2014, 43). Aber auch umgekehrt, möchte ich hinzufügen: Wer sich mit Machtproblematiken beschäftigt, kann in dem Paar: Inseln (bzw. Archipele)/Festland aufgrund besonderer topographischer Merkmale ein Paradigma von Machtverhältnissen finden, die ganz konkret mit der politischen Frage nach der Unabhängigkeit bzw. Abhängigkeit einzelner Elemente von einer größeren Einheit zu tun haben; darin bieten sich ihm also verschiedene Beispiele von Machtdispositiven, die sowohl die Dynamiken der Teilnahme zu einem artikulierten Ganzen (Partei, sozialer Gruppe, Nation usw.) als auch diejenigen der kommunikativen (Selbst-)Ausschließung regeln. Im ersten Teil meines Beitrags fokussiere ich mich nach einer kurzen Einführung zu den Island Studies stichpunktartig auf einige Erträge der kulturwissenschaftlichen Mittelmeerforschung, vor allem darauf, was die Funktion der Insel in der Antike und den Begriff der connectivity betrifft. Im zweiten Teil versuche ich, Vernetzung und Isoliertheit als die zwei wesentlichen, allerdings nicht unbedingt entgegengesetzten Modalitäten des Insularen zu konturieren, wobei ich mich auf politische bzw. soziokulturelle Institutionen wie Verbannung und Aussteigen konzentriere. Im dritten Teil wende ich mich an einige beispielhafte literarische Repräsentationen des Insularen – um mit einer offenen Frage im vierten und letzten Teil abzuschließen.

2. Insularität im Mittelmeer – eine kulturwissenschaftliche Perspektive Seit ungefähr 15 Jahren hat sich ein neues kulturwissenschaftliches und dezidiert interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsfeld eröffnet: die Island Studies. Zahlreiche Aufsätze zum Thema ›Inseln‹ sind bisher erschienen, vor allem in englischer, aber auch in deutscher Sprache und seit 2006 gibt die University of Prince Edward Island in Canada (gelegen an der Ostküste, nördlich von Maine) die Open-Access-Zeitschrift Island Studies Journal heraus.3 An dieser Universität dazu generell auch Moser 2005, und zu den Inseln, »die heuristische Funktion von Erkenntnis­ instrumenten« erfüllen, Moser 2005, 410; sowie auch Chiai 2016. 3 Vgl. www.islandstudies.ca. Eine andere Open-Access-Zeitschrift, die sich mit der Inselthematik be­ schäftigt, ist Shima: The International Journal of Research into Island Cultures, deren Titel dem Japani­ schen entlehnt ist – das Wort »Shima« wird meistens mit »Insel« übersetzt (www.shimajournal.org).

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ist zudem das Institute of Island Studies angesiedelt, das einen Master of Arts in Island Studies anbietet. Wirtschaft, Architektur, Soziologie, Ökologie, Navigationswissenschaft, sowie natürlich auch Geographie und die gesamten Naturwissenschaften liefern ihren Beitrag. Wie es nunmehr den geltenden epistemologischen Paradigmen entspricht, haben nicht nur humanistische Disziplinen wie Geschichte, Ethnographie, Altertumswissenschaften und besonders Archäologie, sondern auch Sprach- und Literaturwissenschaft eine wichtige Rolle bei der Etablierung dieses neuen Wissensgebiets gespielt. Was das Mittelmeer angeht, wurde in all diesen Disziplinen einerseits zu den Lebensformen und -bedingungen auf den Inseln geforscht und andererseits wurden deren in den verschiedenen Epochen stets neu diskursivierte Identitäten genealogisch rekonstruiert. Denn der Begriff ›Insel‹ ist selbstverständlich – es sei hier ohne jegliche Ironie gesagt – einer Revision auf der Basis des konstruktivistischen Ansatzes nicht entgangen, nach dem jede unref lektierte und unproblematische Definition von Insel verfehlt wäre, die darin eine vorgefundene Gegebenheit des Realen sehen würde anstatt das Produkt eines Diskurses bzw. einer Erfindung.4 Im Inseldiskurs geht es – in einem ersten, theoretischen Schritt – um nichts weniger als die Fixierung der Quintessenz einer Insel: die Insularität – doch worin besteht sie eigentlich? Von Wasser umgeben zu sein scheint kein unabdingbares Requisit zu sein, nicht nur weil das in einigen Fällen die Folge der Gezeiten oder von regelmäßigen Überschwemmungen ist, sondern auch weil man das Merkmal der Insularität im weiteren Sinne (oder aber metaphorisch) auch Ortschaften im Landesinneren oder in der Wüste zuschreiben kann. Auch Institutionen wie der Athener Pólis, die sich selbst als Insel stilisierte, oder schließlich Wohnblocks (den altrömischen insulae), Sprachinseln, und sogar Kochinseln, d.h. im Küchenraum zentral gelegenen, von allen Wänden getrennten Koch- und Arbeitsf lächen fasst man unter diesen Begriff. Zwar hat man in der Abgeschnittenheit eines Gebiets, in seiner – ich zitiere Christian Moser – »Marginalität, Begrenztheit und inneren Homogeneität« traditionsgemäß das Kriterium der Insularität identifiziert, doch solche angeblich wesentlichen Züge erleiden einen Verschiebungsprozess, denn sie kommen von keiner naturgegebenen morphologischen Qualität, sondern sind (um wieder Moser zu zitieren) »das Produkt einer symbolischen Praxis« (Moser 2005, 412), die sich im Laufe der Zeit oft anders gestaltet hat. Nun hat die Infragestellung univoker, angeblich objektiv-wissenschaftlicher Merkmale, die ein Erdteil haben sollte, um als Insel gelten zu dürfen, zur Rekonfiguration oder wenigstens zur Suspendierung des gesamten Bewertungssystems bezüglich des Gegensatzpaares Insel/Festland geführt. So hat Frauke Lätsch darauf hingewiesen, dass in der historiographischen Forschung zur Antike das Hauptin4 Siehe dazu Kópaka 2008 sowie Royle und Brinklow 2018 (Kapitel 1). Einen guten Überblick über diese für die Island Studies entscheidende epistemologische Problematik bietet Hayward 2016.

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teresse lange Zeit den kontinentalen Mächten Athen bzw. Sparta oder Rom vorbehalten war. In den Mittelmeerinseln hingegen, denen weder eine eigene kulturelle noch eine politische Identität zuerkannt wurde, sah man lediglich Instrumente und Objekte der hegemonialen Strategie jener Mächte. Ganz anders verhält es sich mit der protohistorischen Forschung, die den Inseln im Mittelmeer schon immer eine große Bedeutung beigemessen hat, so dass man »solchen prähistorischen Inselkulturen sogar das Attribut der Insularität hat absprechen wollen« (Lätsch 2005, 27). Es empfiehlt sich nun, unsere Aufmerksamkeit auf das Verhältnis zwischen Insel und Festland zu richten, weil sich dieses als Machtverhältnis darstellt, und uns als solches nicht nur dem Thema der Herrschaftsformen im Mittelmeerraum näher bringt, sondern auch deren Texturen, um den Begriff aus dem Titel unserer Tagung aufzugreifen. Denn zwischen Inseln und Festland – wie übrigens auch, und nicht minder bedeutend für ganze Gemeinschaften, zwischen einzelnen Inseln untereinander5 – spinnen sich viele Fäden jenes Macht- und Herrschaftsgewebes, das seit jeher einen guten Teil des kulturellen, sozialen und politischen Lebens des Mittelmeerraums strukturiert. Was das Verhältnis zwischen Insel und Festland betrifft, muss man konstatieren, dass es nicht immer das Festland war, das die dominante Rolle darin spielte. Als Beispiel möchte ich auf einen besonderen Fall hinweisen: Auf Altgriechisch bezeichnete man mit perée (περαίαι) gut definierte, klar abgegrenzte Gegenden, also Enklaven an der Küste des Festlandes, die einer von der Küste nicht weit entfernten Insel gegenüber lagen. Das Wort περαία heißt eben »die Gegend jenseits«, abgeleitet von dem Adverb und der Präposition πέρα, »jenseits«. Das Toponym Pérama, ein kleiner Hafen östlich von Piräus, getrennt durch einen schmalen Meeresarm von der im Altertum bedeutenden Insel Salamína, weist noch solche etymologische Spuren auf, denn es leitet sich ab von πέρασις, »Übergang«. Pérama wäre demnach vom Namen her ein Ort, der mit einer nahen Insel verbunden ist, zu dem man von der Insel aus hinüberfährt. Also: Jenseits von der Insel, nicht vom Festland – denn der hegemonische Ort in dieser Beziehung war nicht der Anlegeplatz an der attischen Küste, sondern eben die Insel, die den Festlandhafen als eigenen Besitz ansah und über ihn verfügte.6 Denken wir heute an die Inseln im Mittelmeer als an geographisch und ökonomisch periphere Orte, die von einem fernen Zentrum aus regiert werden, das ab und zu einen Minister hinschickt, um den Protest der Inselbevölkerung zu beschwichtigen und bessere Schiffs- bzw. Flugverbindungen zu versprechen, so sahen die Machtverhältnisse im Altertum ganz anders aus. Man denke an die Geschichte Großgriechenlands und der zwei5 »Island-to-island relations are under-theorized and attended by limited fieldwork or other forms of empirical research« (Stratford et al. 2011, 115). 6 Über die περαίαι siehe Constantakopoúlou 2007, Kap. 7: »Beyond insularity: islands and their pe­ raiai« (228ff.).

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ten griechischen Kolonisierung: Als Erstes haben die Kolonisatoren die Insel Pi­ thekoússai (heute Ischia) erreicht und dann von dort aus die gegenüberliegende Küste kolonisiert – so haben sie eine ›neue Stadt‹, eben Neápolis (heute Neapel), gegründet. Dasselbe geschah mit Ortygía, einem kleinen Eiland, das nur wenige hunderte Meter von der sizilianischen Küste entfernt lag und den Kern der zu gründenden Stadt Syrakus bildete. Es war also das Festland, das jenseits der Insel lag, nicht umgekehrt – was eben einer Umkehrung der heutzutage geltenden Machtverhältnisse gleichkommt; denn es war die Insel, die besser als Startpunkt zum Festland und als Kontrollpunkt desselben fungieren konnte, dank ihrer Überschaubarkeit und schutzversprechenden Isoliertheit, sowie ihrer verkehrsgünstigen Lage im Kommunikationssystem und in den Navigationsrouten. Aber das ist nur ein Beispiel für die Unstabilität der Grenzen zwischen Insel und Nicht-Insel, und somit der topographischen Machtverhältnisse, die im Laufe der Zeit zu einer Hegemonie des Festlandes evolvierten. Auf jeden Fall war schon in der Zeit der Pólis der Naturhafen Piräus eine Art Hub für Athen; dort wurden die aus den vereinzelten Ansiedlungen im Hinterland und die von den Inseln angelieferten Produkte getauscht und gehandelt. Und wir wissen, wie ein gewisser Athenozentrismus seit der nationalen Unabhängigkeit die Politik jeder griechischen Regierung stets geprägt hat: Man hat auf die Hauptstadt gesetzt und somit den Rest des Landes mehr oder weniger in eine periphere Dependance Athens verwandelt – was, wie Pétros Márkaris in seinem Athenbuch unterstreicht, städtebauliche Folgen selbst für Athen hatte.7 In ihrem berühmten Band The Corrupting Sea bestehen Horden und Purcell (2000) auf dieser diachronischen Flexibilität der topographischen Kategorien und im allgemeinen auf der Notwendigkeit, sich jeder Generalisierung zu enthalten, die auf traditionellen Bewertungen und hierarchischen Modellen basiert – erst dann kann man die Wandlungen jedes spezifischen Falles nachvollziehen. Dank ihres dekonstruktiven theoretischen Ansatzes – dekonstruktiv im Hinblick auf einheitliche Visionen einer angeblichen »Mittelmeerkultur« nach dem Beispiel Braudels – kommen sie diesen lokalen, sich immer neu definierenden Konfigurationen der Machtverhältnisse auf die Spur. Was für sie den Mittelmeerraum (und dessen Kulturen im Plural!) tatsächlich charakterisiert, ist das Netz der Verbindungen zwischen Orten, lokalen Kulturen, Sprachen, Inseln, Städten, Mikro- und Makroökonomien und Verwaltungssystemen. Dabei ist der entscheidende Begriff,

7 Márkaris schreibt, dass sich die verschiedenen Regierungen vor allem in den 1950er Jahren, nach der dramatischen Periode des Bürgerkriegs, für die einfachste Lösung entschieden haben: Sie haben Athen zur Vitrine des Landes gestaltet und den restlichen Teil Griechenlands (inklusiv Sa­ loniki) mehr oder weniger seinem Schicksal überlassen, was eine bis heute anhaltende Welle von hinzukommenden neuen Athenern mit der dazugehörenden Bauspekulation in Gang setzte (vgl. Μάρκαρης 2013, 162ff.).

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der sich seitdem etabliert hat, connectivity:8 eine Vernetzung, die nicht monolithische, einheitliche Systeme verbindet, sondern variable microecologies, die eben von anderen abhängig sind und deswegen die Grenzen ihrer Machtsphäre immer neu definieren, sowie ihre Autonomie und ihr Beeinf lussungspotential stets verhandeln müssen – militärisch, politisch, kulturell und ökonomisch.9 So gehören, in dem eben angeführten Beispiel, Insel und περαία einem einzigen ökologischen Mikrosystem an – so wie heute noch Pérama und Salamína, was man vor ein paar Jahrtausenden wohl umgekehrt formuliert hätte, nämlich: Salamína und Pérama. Es wundert nicht, dass der Inseldiskurs eine große Relevanz für die theoretischen Ansätze erhalten hat, die bei den Mittelmeerstudien auf eine Dekon­ struktion des Diskurses der longue durée Braudels abzielten – und wir werden bald sehen, wie gerade die Kategorie Zeit für die Definition des Inselparadigmas entscheidend war. Indem man das Paradigma der Insel als isolierten, vereinzelten, abgeschnittenen Lebensraums dekonstruiert, eröffnet sich die Möglichkeit, Inseln als Knotenpunkte eines Mittelmeernetzes, und als untereinander und mit dem (ferneren oder nächsten) Küstenland vernetzte Elemente zu betrachten. Die Fäden dieses Gewebes, die einen guten Teil der Texturen der Herrschaft im Mittelmeerraum abgeben, sind verschiedener Art, wie William Harris in Rethinking the Mediterranean betont: »Not only cabotage, longrange trade, piracy and migration, but many other forms of human and also non-human movement, including the spread of plants and of deseases« (Harris 2005, 23). Texturen der Herrschaft übrigens, die sich mehrerer Vertextungsformen bedienen und im Laufe der Jahrhunderte anders codiert wurden – von den antiken períploi (Texten mit Seeroutenbeschreibungen) zu den mittels technologischer Navigationsinstrumente hergestellten Kartographien, von den Zeitplänen der Passagierschiffe (die heutzutage für den Grad der Konnektivität jeder Insel entscheidend sind) bis zu den Routen der Handelsf lotten der Mittelmeermächte, aber auch zu denjenigen der mit Mi­granten überfüllten Boote auf dem Weg nach Lésbos, Agathonísi oder Lampedusa. Kolonisatorische 8 Dazu siehe Harris 2005, 95; über connectivity insbesondere in Bezug auf Inseln siehe auch Horden und Purcell 2000, 225-227, 346 (über die privilegierte Lage der Inseln) und 76 (Isoliertheit vs. Netz). 9 Gerade aufgrund dieses pluralistischen Ansatzes bevorzugen Lichtenberger und von Rüden den Terminus im Plural, wobei sie sich allerdings nicht nur mit Braudel, sondern auch mit Horden und Purcell und deren ihrer Meinung nach vereinfachender einheitlicher Mittelmeervision kritisch auseinandersetzen: »Research in the last few years shows that to understand the various forms of entanglement between the different regions of the Mediterranean the word ›connectivity‹ is far too broad and undifferentiated and can, therefore, easily imply a Mediterranean unity. Until we understand this complexity, we will be unable to say if the so-called ›connectivity‹ in the Me­ diterranean was a reason for the assumed similarities in later periods. Thus, we prefer to speak of ›connectivities‹ rather than of ›connectivity‹ because this widens the scope for discussion and helps to better understand the diversity of possible ways, extents and dimensions of connectivity within the Mediterranean« (Lichtenberger und von Rüden 2015, 11).

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Inbesitznahmen von kleineren oder größeren Inseln seitens der touristischen Veranstalter, Finanzierung bzw. Definanzierung der Schifffahrtsgesellschaften, die den Winterverkehr auch mit den entlegensten Inseln sichern, Reduzierung des Linienf lugverkehrs bei gleichzeitiger Vermehrung der Billig- und Charterf lüge zu den Urlaubsinseln des Ägäischen Meeres, aber auch Reduzierung der Fahrten mit großen Fähren zugunsten viel teurerer und schnellerer Highspeed-Verbindungen – all das sind kommerzielle Strategien, die die Fäden des Mittelmeergewebes jedes Mal anders ziehen und es somit jeweils umgestalten. Dabei ist Herrschaft, als Folge der Mittelmeerpolitik der Weltmächte mit ihren nach Hegemonie strebenden Expansions- und Kontrollstrategien, oder als Resultat einer mehr oder weniger imperialistischen Handelspolitik im Zeichen der globalisierten Ökonomie, keineswegs als ausschließlich von außen kommend zu denken. Denn sie spielt sich oft auf der lokalen bzw. nationalen Ebene ab – einer nationalen Ebene, auf der sich sehr oft ungleiche Entwicklungschancen für die verschiedenen Teile eines Landes ergeben, wie am Beispiel des modernen Athen gerade angedeutet wurde. Ein Beispiel aus dem Altertum bietet uns das Athener Imperium in der Zeit der Pólis, als die meisten Inseln der Ägäis in eine subalterne Position zu Athen gerieten. Christy Constantakopoúlou analysiert in ihrem Buch The Dance of the Islands: Insularity, Networks, the Athenian Empire, and the Aegean World, dessen Titel auf Kallímachos’ Hymne an Délos als Angelpunkt des Archipels anspielt, wie sich die Machtverhältnisse verschoben, als das Zentrum des Networks nicht mehr Délos und dann (schon näher zu Athen) Calauría (heute die Insel Póros, im Saronischen Golf) war, sondern Athen. Das religiöse Network mutierte zum imperialen – mit einer kulturellen Folge: Der Begriff des Insularen verwandelte sich aufgrund der Athener Kontrolle über die ägäischen Inseln, so dass sich die Pólis nunmehr metaphorisch als die ›Insel Athen‹ selbst darstellen konnte, indem es beide, nur scheinbar entgegengesetzte Hauptmerkmale des Insularen in sich vereinigte: »the concept of insularity was applied to imperial Athens while maintaining its complex features: ›island Athens‹ was both isolated and therefore safe, and also central to networks of communications. Insularity, in the case of the virtual island of Athens, did indeed move between the poles of connectivity and separation« (Constantakopoúlou 2007, 16).10 Also: Athen, die Pólis, als Insel – eine diskursive Inversion der Machtverhältnisse, die uns zwingt, diese Textur der Herrschaft quasi gegen den Strich zu lesen. In diesem Phänomen, das Constantakopoúlou »island-networking« nennt, konfiguriert sich eine Macht, die man sich nicht als monistisch vorstellen sollte, weil sich die Networks im Laufe der Zeit – aber auch topographisch – verschieben, so dass variable Schnitt- und Teilmengen entstehen. Deswegen sprechen Horden und Purcell von »shifting webs of casual, local, small-scale contacts radia10 Dazu siehe auch Constantakopoúlou 2007, Kap. 5: »The island of Athens« (137ff.).

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ting from slightly different centres in different ages« (Horden und Purcell 2000, 144). Ich denke dabei an die vielen ägäischen Inseln, die einerseits der Hegemonie Athens unterstehen, andererseits die ihnen gegenüberliegenden kleineren Eiländer für sich in Besitz nehmen. Dass die Einwohner vieler Inseln (auch heute noch) unbewohnte Inselchen (manchmal gar nicht so klein!) als Weideland für Schafe und Ziegen oder als Schlupfwinkel für Fischerboote benutzen, scheint mir das beste Zeugnis der mobilen oder f luiden Konnektivität im Mittelmeerraum. Auch die Toponomastik zeugt von solchen kolonialen Besitzverhältnissen: vor Mílos liegt Antímilos, vor Páros Antíparos, vor Psará Antípsara, vor Kéros Káto und Áno Antikéri, vor Paxós Antípaxos, vor Kýthira Antikýthira. Wenn nicht alle, so doch sicherlich viele oder gar die meisten Fäden der Herrschaftstexturen im Mittelmeerraum verknoten sich um die Küstenlinie einer Insel und verbinden sie mit dem Festland und anderen Inseln. Ihre Position garantierte den Inseln eine relevante Rolle im Netzwerk des Mittelmeerraums und eine im Vergleich zu heute beträchtliche Einwohnerzahl, denn, wie Horden und Purcell schreiben: »despite a malign tendency to see islands as isolated and remote, characterized principally by their lack of contamination and interaction, they in fact lie at the heart of the medium of interdependence: they have all-round connectivity« (Horden und Purcell 2000, 226f.).

3. Dialektik der Insularität Wir haben bisher einige Aspekte der erst in jüngster Zeit entstandenen Inselforschung und eines Inseldiskurses beleuchtet, der an den traditionellen Maßstäben und Betrachtungsweisen rüttelt, denen gemäß Inseln rückständige, vergessene Erdportionen in unvorteilhaften Positionen sind, die vom Fortschritt nicht oder kaum berührt werden. Christian Moser hat unterstrichen, dass sich seit jeher unterschiedliche Inselkonzepte entgegenstehen – zwei von ihnen haben sich schon in der Odyssee, dieser »Gründungsurkunde des europäischen Insel-Diskurses« (Moser 2005, 413), als entgegengesetzte topoi herauskristallisiert. Das lässt sich gut nachvollziehen, ruft man sich die magischen Inseln des Exils von Odysseus und andererseits Schería, die Phäakeninsel, ins Gedächtnis. Wird er auf den Inseln Aiaía und Ogygía, also bei Kirke bzw. Kalypso (aber auch bei Polyphem), gefangen gehalten und muss sich ihren magischen Ritualen und Bräuchen unterwerfen, so lernt Odysseus auf Alkínoos’ und Nausikáas zivilisierter Insel eine modellhafte soziale und kulturelle Ordnung kennen. Als letzte Etappe des Nóstos bringt ihn Schería also aus der Isolation, der mythologischen Zeitlosigkeit in die Gegenwart wieder und zur Ökonomie des Realen zurück. Einerseits wird die Insel als Möglichkeit (Kalypso) oder aber als Zwang (Kirke) erlebt, sich der Zeit zu entziehen, d.h. als geschlossener Ort; andererseits als ein im offenen Fluss der

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Zeit liegender – in diesem Gegensatz erkennt Moser eine Codierung der für den abendländischen Kulturdiskurs »grundlegende[n] Opposition zwischen Natur und Kultur« (ebd.). Und doch kann dieser Gegensatz, können diese zwei losen Fäden zusammengewoben werden und zwar durch das menschliche Wort, indem die verschiedenen Inseln in der Erzählung Odysseus’ vertextet werden. Diese für die abendländische Kultur so belangvolle connectivity, die der homerische Held produziert und ihn zur Herrschaft über die eigene Geschichte, zur Textur der (Selbst-)Herrschaft im Mittelmeerraum verhilft, ist eine narrative nicht minder als eine nautische.11 Betrachtet man die politischen und kulturellen Strategien, mit denen viele Inselgemeinschaften an ihrer Identität und ihrem Image, auch in Hinsicht auf ihr kommerzielles Anziehungspotential, arbeiten, kann man die Hypothese formulieren, dass diese Entgegensetzung von connectivity und Isoliertheit nicht als der richtige Weg erkannt wird; eher versuchen sie, die eigene Insel als eine an und für sich gut funktionierende Mikrowelt zu stilisieren, die dennoch zugleich an das globale Netz gut angeschlossen ist. So werden in touristischen Broschüren beide Dimensionen meistens miteinander verbunden, wenn man fabelhafte Urlaubsziele jenseits des Alltäglichen, Paradiese außerhalb der Zeit verspricht, die jedoch mit den modernsten Verkehrsmitteln in wenigen Stunden zu erreichen sind. So befinden sich viele Inseln des Mittelmeeres (natürlich nicht die kleineren und entlegeneren, die meistens über keinen Flughafen verfügen) in dieser zweifelhaften Situation: Sie kämpfen um Anerkennung als Knotenpunkte (oder mindestens: als gleichwertigen Teil) eines globalen Kommunikationssystems, wobei sie natürlich von der totalen connectivity profitieren, die das Web allen Erdwinkeln sichert; gleichzeitig aber verzichten sie nicht gerade leichten Herzens auf die eigene Inselidentität, die ihnen einen besonderen – und vom kommerziellen Gesichtspunkt her sehr wichtigen – Status verleiht: der Status von Orten, an denen man sich dem Netz entziehen kann, gerade weil sie zivilisationsmüden Touristen

11 Es ist sehr interessant, wie Moser die Funktion der Sprache und der narrativen Poiesis bei diesem Übergang unterstreicht, denn es sei gerade dank der öffentlichen und ordentlichen Erzählung der eigenen Peripetie vor dem Publikum an Alkínoos‘ Hof, dass Odysseus auch die Aufenthal­ te auf den zeitlos-magischen Inseln wieder in den Fluss der Zeitlichkeit hineinwebt (und somit deren Erfahrungspotential für sein Selbstbewusstsein aktiviert): »Die maritime Inselwelt, die während der Fahrt das Ansehen eines richtungslosen Fließens besaß, wird durch das Erzählen in einen homogenen und geordneten Raum überführt. Sie erlangt das Ansehen einer mnemoni­ schen Architektur. Die disparaten Inseln werden zu einer Kette von Orten zusammengefügt, die der Erzähler in seinem Gedächtnis abschreitet – zu einem Archipel der Erinnerung«; allerdings kann »[d]iese narrative und mnemonische Konstruktion von Raum« erst auf Schería gelingen, die vom »Kolonisierungs- und Kultivierungswerk der Phäaken« gezeichnet ist (Moser 2005, 418).

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oder Stadtmenschen einen (und sei es auch nur temporären) Unterschlupf bieten können.12 Es ist dieser doppelten Dimension geschuldet, dass nicht wenige Menschen auf Inseln ziehen, die der Stadt an der Küste gegenüberliegen, wo sich ihr Arbeitsplatz befindet; sie müssen dann die Mühe des alltäglichen Pendelns auf sich nehmen und protestieren daher sehr schnell gegen die zu spärlichen Verbindungen mit dem Festland. Die radikalsten unter ihnen wählen die Insel nicht nur als Wohnort, sondern auch als Ort, an dem sie ihrem Beruf nachgehen, und lassen sich – falls es möglich ist – dorthin versetzen. Ich denke an Ischia, Capri und Procida, die man mit einem kolonialistischen Ausdruck die »neapolitanischen Inseln« nennt, wo die Bourgoise seit jeher ihre Ferienwohnungen besitzt und hinfährt, um mal ›abzuschalten‹ – und es sind ganz sicher nicht die einzigen Fälle: Man denke auch an Elba oder aber – verkehrsmäßig weniger problematisch – an die Giudecca oder an den Lido oder an die anderen venezianischen Laguneninseln, oder noch an ʼÄgina und ihre Bedeutung für die Athener. Diesen doppelten Status könnte man als Dialektik der Insularität bezeichnen. Ich finde, auch darin stellen Inseln ein sehr interessantes Modell dar oder besser: ein soziales Experimentierfeld, auf dem das ambivalente Verhältnis der Einzelnen zu der eigenen Teilhabe an verschiedenen Netzsystemen getestet oder jedenfalls beobachtet werden kann. Eklatant scheint mir in dieser Hinsicht der Fall der Insel Capri, die neulich vehement dagegen protestiert hat, in eine Liste der ›benachteiligten kleineren Inseln‹ aufgenommen zu werden, für die ein politisches Projekt besondere Finanzierungsformen vorsah: Dieses Etikett wurde als demütigend für eine so elitäre und international renommierte Insel empfunden und unter touristischen Gesichtspunkten als ›unvorteilhaft‹ angesehen. Dieser Fall zeigt, wie schwierig es sein kann, die Texturen der Herrschaft, die an und für sich anthropologisch konstitutiv sind, zu interpretieren, die Richtung der Fäden zu lesen und die Bildung der Knoten zu entziffern.

4. Orte des (Selbst-)Exils — Mittelmeerinseln in der Literatur Der Anschluss an Internet und im allgemeinen die Digitalisierung haben den Inseln unbestreitbar eine neue Chance gegeben, dem unauf haltsamen Prozess der Modernisierung von Lebensformen teilzunehmen. Und trotzdem: Abgesehen von den ›pri12 »With fragile ecosystems and subtle demographic and social balances, island societies have had to reconcile and accommodate their (pseudo-)autonomy and dependence and their introver­ sion and extraversion. Small islands, in particular, are in vital need of exchanging with regions beyond the sea but also of maintaining and relentlessly recycling indigenous features and re­ sources that may guarantee their existence and identity« (Kópaka 2019, 153).

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vilegierten‹, dichtbesiedelten Küsten gegenüberliegenden Inseln, und den gut angeschlossenen, größeren bzw. in einem Archipel zentraleren, so wie den touristisch erschlossenen, leiden die meisten Inseln an ihrer Isolation und kämpfen um mehr connectivity. Denn die connectivity ist keine selbstverständliche Qualität einer Insel, sondern eher ihr Potential; wie jedes Netz, wie jeder Kommunikationsaustausch muss sie aktiviert werden – was nicht immer geschehen kann. Dass es tatsächlich nicht immer geschieht, bestätigt die vorherrschende Auffassung von Insel als einem unvorteilhaften Lebensraum, als einem Ort der Abge­schnittenheit, der im kontinuierlichen Fluss von Kommunikation und Warenaustausch als unproduktive Felsklippe zurückbleibt und vergessen wird – abgesehen von einigen Monaten im Jahr, wenn Bars, Hotels und Restaurants mehr verdienen als kleinere Unternehmen in zwölf Monaten auf dem Festland. Moser bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: »Der okzidentale Insel-Diskurs verhilft einem bestimmten Inseltypus, einer spezifischen insularen Raumordnung zur Vorherrschaft. Er verleiht der Insel das Ansehen einer Lokalität, an der der Raum über die Zeit dominiert. Die Insel wird in einem emphatischen Sinne als Ort begriffen« (Moser 2005, 408; Herv. im Original). Diese Inseltypologie findet in zwei Modalitäten des Insularen ihre Zuspitzung, die, so sehr sie auch grundsätzlich verschieden sind, paradoxerweise Ähnlichkeiten aufweisen, zumal beide mit der Frage der Kontrolle (und d.i. letztendlich: der Herrschaft) zu tun haben: die Verbannung bzw. das Aussteigen, das einer besonderen Form des Selbstexils gleichkommt. Für beide Modalitäten des Ausschlusses, sowohl die dramatische als auch die existentiell bedingte, haben sich gerade im Mittelmeer oft Inseln abseits von jeglicher bequemen connectivity als Straf- bzw. Wahlorte für einen neuen Anfang angeboten. Die Gleichsetzung der Insel mit einem peripheren, von der Geschichte abgeschnittenen Stück Land entspricht übrigens einem Inselparadigma, das im westlichen kulturellen Imaginären festverankert ist, auf der ästhetisch-literarischen, aber auch philosophischen Ebene am erfolgreichsten und auf der metaphorischen am produktivsten ist – man denke nur an die vielen Robinsonaden und an die insularen Utopien des europäischen künstlerischen Kanons. Es kann nicht verwundern, dass gerade diese Inseltypologie die tiefsten Spuren in literarischen Texten hinterlassen hat, wohl weil sie Eschatologien, Rettungsträumen und Abdriftsphantasien verschiedenster Art stets eine adäquate Kulisse geliefert hat. Es wäre unmöglich, auch nur einen Teil dieser literarischen Verarbeitungen des Inseltopos zu rekonstruieren; so muss ich mich hier mit einigen wenigen Textbeispielen von extremen Isolierungserscheinungen begnügen, die ich verschiedenen Literaturen entnehme und in aller Kürze präsentiere. Ich beginne mit Ugo Foscolo, einem der wichtigsten italienischen Autoren des 18. Jahrhunderts. Foscolo, Sohn einer griechischen Mutter, wurde, wie Dionísios Solomós, aber genau 20 Jahre zuvor, auf Zákynthos geboren. Er musste aus politischen Gründen seine Heimatinsel verlassen und als Exilant leben. In dem Sonett

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A Zacinto (An Zákynthos, 1803), das traditionell zum Unterrichtsstoff an italienischen Schulen gehört, vergleicht sich Foscolo mit Odysseus, den er beneidet, weil ihm selbst – im Unterschied zum griechischen Helden – die Rückkehr zur Insel nicht vergönnt sei, die somit eschatologische Züge annimmt: Né più mai toccherò le sacre sponde Ove il mio corpo fanciulletto giacque, Zacinto mia, che te specchi nell’onde Del greco mar da cui vergine nacque Venere, e fea quelle isole feconde Col suo primo sorriso, onde non tacque Le tue limpide nubi e le tue fronde L’inclito verso di colui che l’acque Cantò fatali, ed il diverso esiglio Per cui bello di fama e di sventura Baciò la sua petrosa Itaca Ulisse. Tu non altro che il canto avrai del figlio, O materna mia terra; a noi prescrisse Il fato illacrimata sepoltura.13 Interessant ist, dieses so schmerzliche Bild der Insel mit demjenigen zu vergleichen, das aus einigen Briefen und Tagebucheintragungen Napoleons hervorgeht, wo dieser die enorme Wichtigkeit unterstreicht, die Kérkyra und Zákynthos für die Franzosen hätten, weil diese Inseln aufgrund ihrer strategischen Lage das von ihm erdachte Netz militärischer Stutzpunkte geschlossen und Frankreich die Kontrolle über die ganze Adriatische See garantiert hätten (vgl. Potts 2010, 40ff.). Der besondere Wert, der Zákynthos in Foscolos Sonett zugeschrieben wird, liegt dagegen gerade in seiner Einzigartigkeit, in seinem Ausgeschlossensein aus der geschichtlichen Zeit, die für den Dichter nur Exil und Schmerz bedeutet hatte; Zákynthos ist in seinen Versen ein Ort des Gedächtnisses und der Melancholie, eine 13 Foscolo 1957, 151: »Niemals mehr werde ich berühren diese Küsten/wo mein Körper lag, als ich noch ein Kind war,/oh mein Zákynthos, das sich in dem Meer der/Griechen spiegelt, wo als Jung­ frau Venus//ward geboren, die mit ihrem ersten Lächeln/fruchtbar machte diese Inseln, deren makellose/Wolken sowie dein Laub der nicht verschwieg,/der von den Irrfahrten im Wasser sang und//von einem Schicksal so anders als das meine,/denn vom Ruhm und Unglück wie verschönt/ küsste Odysseus sein Ithaka, das karge.//Von deinem Sohn nichts als einen Gesang/wirst du er­ halten, oh Muttererde meine, uns/prophezeit das Schicksal ein Grabmal ohne Tränen« (Über­ setzung aus: www.italienisch-lehrbuch.de/uebungen/inhaltsangabe/foscolo/gedicht_001.htm).

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Art Toteninsel, auf der er nicht einmal sterben darf, die negative qua unerreichbare Variante der mythologischen Insel des Odysseus. Eine besondere Beziehung zur Zeitlichkeit scheint sich im Leben auf der Ky­ kladeninsel Kouros – ein von Don DeLillo in seinem Roman The Names (Die Namen) erfundener Name – zu entwickeln. Dort besucht James Axton, der Protagonist des Romans – ein Amerikaner, der in Athen wohnt und für einen multinationalen Konzern arbeitet – regelmäßig seine Frau, von der er getrennt lebt, und sein Kind. Die kleine Insel liegt abseits touristischer Routen und übt ob ihrer Ausgeschlossenheit von der Modernität eine nicht unrelevante Macht auf Axton aus, weil sie für ihn zu einem Ort von Schuldgefühlen wird. Das geschieht nicht zufällig, denn in ihrer angeblichen Zeitlosigkeit ist die Insel doch verbunden mit einer unheimlichen Vergangenheit, die so begraben ist wie einige Kapitel seiner Ehe: Axtons ehemalige Frau arbeitet nämlich bei archäologischen Ausgrabungen. Wenn Axton Athen verlässt und sich auf die Insel begibt, trifft er also auf eine komplexe zeitliche Dimension, die teilweise von ihm Besitz ergreift. Die erste Beschreibung der Insel zeigt uns ein typisches kykladisches Bild im Sommer, am Nachmittag, dessen ästhetisches Gesetz DeLillo in der Permanenz des Räumlichen, oder vielleicht: der Verräumlichung der Zeit sieht: »In den ummauerten Gärten hing Wäsche, immer dieses Gefühl von verwirklichtem Platz, Alltagsgegenständen, häuslichem Leben, das sich in dieser modellierten Stille vollzieht« (DeLillo 2006, 17). Aber es handelt sich – wie gesagt – um eine nur partielle Zeitlosigkeit, denn auf Kouros werden Objekte aus dem Altertum, also aus einer tiefen Vergangenheit, ans Licht gebracht, so wie die Formen der Chóra an die des Meeresgrunds erinnern, der an die Oberf läche getragen wird. Kouros ist also eine Insel, die Axton sein Unbehagen in Athen verdrängen lässt, auf der er jedoch kein völliges Vergessen suchen kann, die deswegen für ihn langfristig keine Chance zum Aussteigen darstellt. Ein Aussteiger, womöglich der erste der deutschen Literatur, ist hingegen Hölderlins Hyperion. Wie konstruiert Hölderlin sein Griechenlandbild? Wenn wir den Roman lesen, sehen wir eine mentale Karte des östlichen Mittelmeeres vor uns, auf der wir den Bewegungen, den Ortsveränderungen des Protagonisten folgen können, die ihn zumeist auf Inseln führen. Dass Hölderlins Griechenland ein imaginiertes, nur mittels Büchern und Erzählungen erdachtes ist, macht diesen Text und seine Konstruktionsweise für uns noch interessanter. Er wird gewoben durch die Beschreibungen der Seerouten Hyperions in ihre verschiedenen Richtungen – von Tínos aus über Smírna, Calauría (heute Póros), Athen, Korinth bis Salamína. Betrachtet man sein Werk im Allgemeinen ist die Denkfigur Hölderlins nicht so sehr die einzelne Insel, weil ihn die Welt der Antike in ihrer Gesamtheit und als lebendige Einheit interessiert; deshalb – das wissen wir auch aus der berühmten Lyrik – ist seine Denkfigur eher der Archipel. Und wie baut er das entsprechende Bild auf? Im Hymnus Der Archipelagus spricht Hölderlin von den Inseln im Plural, er nennt auch einige davon beim Namen, doch disponiert er seine Objekte, wie

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von oben zusammengebunden in einem Akt des Sehens, in eine geschichtlich-mythologische Ordnung. Und auch im Roman wird dieses harmonische Ganze durch Erhebungen entworfen – in einem doppelten Sinne: die Erhebungen des Ichs, und damit meine ich Hyperions Begeisterung, aber auch die Erhebungen der Erde, denn Hyperion besteigt oft Anhöhen, um dem Objekt seines Schauens, und d.h. seinem klassizistischen Traum, von oben herab genaue Konturen zu verleihen: Auch denk ich gerne meiner Wanderung durch die Gegenden von Smyrna. Es ist ein herrlich Land, und ich habe tausendmal mir Flügel gewünscht, um des Jahres einmal nach Kleinasien zu fliegen. Aus der Ebne von Sardes kam ich durch die Felsenwände des Tmolus herauf. […] Um Mittag war ich auf der Höhe des Gebirgs. Ich stand, sah fröhlich vor mich hin, genoß der reineren Lüfte des Himmels. Es waren selige Stunden. Wie ein Meer, lag das Land, wovon ich heraufkam, vor mir da (Hölderlin 1970, 595). Er besteigt auch den Berg der Insel Délos, die das Zentrum dieses Mittelmeernetzes bildet und von der in Der Archipelagus steht: »[…] erhebt zur Stunde des Aufgangs/Delos ihr begeistertes Haupt […]« (Hölderlin 1970, 270, V. 14-15). Aber trotz dieses einheitlichen, konstruktivistischen, synthetischen Blicks lässt Hölderlin seinen Hyperion auf Salamína als Eremiten enden, abseits der tragischen Modernität, von Geschichte und Zeit, versunken in Natur und Melancholie – ein Vorläufer der hauptsächlich europäischen, zu gutem Teil deutschen Aussteiger, die sich schon in den 1960er, und dann noch mehr in den 1970er und 1980er Jahren auf den griechischen Inseln niedergelassen haben. Damals gab es kein Internet, aber diese Generation von Aussteigern wollte ja gerade nicht auf den Inseln leben, die gut angebunden waren – sie wollten sich jeglicher connectivity entziehen, weil diese für sie eine Form der Kontrolle und der Machtausübung darstellte, eine Textur der Herrschaft, aus deren Fängen es galt, sich zu befreien. Wie schon angedeutet, kann man im Phänomen des Aussteigens eine Art Selbstexil sehen. Ganz anders jedoch, viel tragischer sind die Lebensgeschichten derjenigen, die seit jeher auf Mittelmeerinseln verbannt worden sind. Der Faschismus hat bekanntermaßen Dissidenten, Kommunisten, Homosexuelle und andere mit dem Regime Inkompatible auf Inseln verbannt: die Tremiti-Inseln in Apulien, sizilianische Inseln wie Pantelleria (heute von der Mailänder Schickeria besucht, und wo Giorgio Armani sein luxuriöses Buen Retiro gebaut hat), Lipari, Favignana, Lampedusa (heute paradoxerweise Migranten-Hub und Tor zum europäischen Netz), Ustica, und dann Ventotene und Ponza in Latium – heute alles Orte eines mehr oder weniger luxuriösen Tourismus. Noch dramatischer gestaltet sich der Fall der griechischen Verbannungsinseln, die sowohl unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs, während des griechischen Bürgerkriegs, als auch während der Junta der Obristen in den 1970er Jahren in Arbeitslager und Folterzentren verwandelt wurden. Abgesehen von den Inseln, auf die Dissidenten

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verbannt wurden, wie Ikaría, Léros, Ágios Efstrátios, um nur einige zu nennen, sind es zwei Inseln, die noch heute im nationalen Gedächtnis Trauer auslösen: Járos und Makrónissos. Beide sind heute unbewohnt. Auf Járos, das nicht weit ab von Délos liegt, steht bis heute ein riesiges Gefängnisgebäude, das die Zellen des Lagers beherbergte – ein spektrales Bild, vor allem im Kontrast mit der paradiesischen Schönheit der Strände und der kykladischen Landschaft. Auf Makrónissos, gegenüber von Kap Soúnion, sind nur die Gefängnismauern übriggeblieben. Auf beiden Inseln starben Tausende von Inhaftierten; heute stellen sie eine Art archäologischer Ruinenstätte des diktatorischen Terrors dar. Wenn Makrónissos, einer Toteninsel im wahrsten Sinne des Wortes, in ihrer Verlassenheit etwas Tragisch-Mythologisches anhaftet, so auch wegen der von Jánnis Rítsos 1949 dort geschriebenen, heimlich in der Erde vergrabenen und ein Jahr später wiedergefundenen Gedichte. Auf diesem trocknen, desolaten Eiland, wo die Inhaftierten in verschiedenen Lagern in getrennten, voneinander isolierten Gruppen lebten und starben (an Hunger, an Folter), hat sich für Rítsos die Zeit in Stein verwandelt: Sie f ließt nicht mehr, sondern ist versteinert, kann keine Veränderung mit sich bringen. So sind die Verse des Gedichts Ἕτοιμοι (Bereit) die perfekte poetische Codierung des Ausschlusses der Insel aus dem Netz der Kommunikation und des menschlichen Handelns, letztendlich der Geschichte – die Insel der Verbannung wird der Zeitlichkeit entzogen und in einen unbeweglichen, sterilen Ort verwandelt. Rítsos’ Verse geben mit lyrischen Mitteln diesen Akt einer Herrschaft über das Individuum wieder, die insofern total und ausweglos ist, weil er das Individuum auch von den anderen isoliert, wie den Zeugnissen und Dokumenten über die Lebensbedingungen auf Makrónissos zu entnehmen ist: Ἔρχουνται, φεύγουν οἱ μέρες – ἡ πέτρα δέν ἀλλάζει. Κάποτε περνάει ἕνα καράβι ἕνα σύγνεφο ἀφήνουν πίσω τους λίγο ἴσκιο ἕνα μικρό παράθυρο ἀνοιγμένο στά χρόνια τοῦ δέντρου. Δέν ἀλλάζει τίποτα. Μήτε ἡ καρδιά, μήτε ἡ πέτρα ἁλλάζει. Πέτρινο τό κρεβάτι πού κοιμόμαστε πέτρινο τό ψωμί ὅπου ἀκονίζουμε τά δόντια μας πέτρινο τό χέρι ὅπου ἀκουμπάει τό σαγόνι της ἡ νύχτα.14 14 Ρίτσος 1957, 10: »Es kommen, es gehen die Tage – / der Stein ändert sich nicht. / Ab und zu fährt ein Schiff vorbei / eine Wolke / sie lassen ein wenig Schatten hinter sich / ein kleines Fenster / ge­

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5. Schluss: Connectivity oder Abdrift? Eine detaillierte, vergleichende Analyse der heutigen Lebensformen auf den vielen Mittelmeerinseln, eine Kartographie der jeweiligen Verbindungsnetze, Kommunikationswege und Handlungsgebiete, so wie eine Bestandsaufnahme der multiplen literarischen und ästhetischen Codierungen des Insularen im Mittelmeerraum stehen noch aus. Als provisorischer Schluss des vorliegenden Beitrags, der sich allerdings hauptsächlich mit der griechischen Inselwelt beschäftigt hat, kann man sagen, dass auch nur für dieses weite aber begrenzte Gebiet kein einheitliches Inselparadigma gelten kann. Fragt man sich, ob und auf welche Weise Mittelmeerinseln ein verwendbares theoretisches Modell abgeben können, muss man demzufolge gut differenzieren – und bescheiden akzeptieren, dass die gestellten Fragen schließlich ohne Antwort bleiben. Den topographisch und geographisch begünstigten Mittelmeerinseln gemeinsam ist der Balanceakt zwischen dem Versuch, die eigene connectivity zu intensivieren und zu erweitern, und dem Bedürfnis, die inselhaften Merkmale der eigenen Identität inmitten des globalen Kommunikationsf lusses zu bewahren, die jede einzelne von ihnen doch letztendlich unverwechselbar macht – was ich oben Dialektik der Insularität genannt habe. Sie verstehen sich entweder als Küstenverlängerungen oder jedenfalls als gut angeschlossene Alternativen zum Stadtleben, dessen Vorteile sie wenigstens teilweise, und sei es auch in verminderter Form, sichern und teilweise durch andere, inselspezifische ersetzen können. Nicht selten berufen sich diese Inseln auf ihre verlorene Zentralität, die sie in der Antike oder noch in vormodernen bis modernen Epochen hatten, wobei sie versuchen, wieder an alte Traditionen anzuknüpfen, alte Arbeitstechniken, Produktionsweisen, Methoden des Landanbaus philologisch zu dokumentieren, neu zu entdecken und den fortschrittlichsten technologischen Standards anzupassen. Sie entwickeln einen selbstbewussten Inseldiskurs, der sich kultureller Institutionen bedient und als Konstante die Musealisierung der handwerklichen Tätigkeiten, die Zurschaustellung von Werkzeugen und Materialien, die Werbung für die Natürlichkeit der autochthonen Lebensmittelproduktion und der lokalen (und d.h. immer: unverwechselbaren) Gastronomie – interessante Experimente, die allerdings nicht selten kitschige, selbstgefällige Akzente aufweisen.15

öffnet in die Jahre des Baumes. / Es ändert sich nichts. / Weder das Herz noch der Stein ändern sich. // Steinig das Bett, wo wir schlafen / steinig das Brot, an dem wir unsere Zähne schleifen / steinig die Hand, wo die Nacht ihr Kinn stützt« (Übersetzung S.C.). 15 Selbstverständlich garantiert der Hinweis auf die eigene Tradition keineswegs eine (auch tou­ ristisch-kommerziell) erfolgreiche Selbstdarstellung: »Insofar as there is any continuity with former traditions of representation, islands now often express a sense of loss rather than pro­ mise« (Edmond und Smith 2003, 8).

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Andererseits haben viele, meistens kleinere, bergige oder abgelegene Inseln unvorteilhafte Verbindungen mit dem Verkehrsnetz und bleiben ganz abhängig vom Warenimport aus dem Festland; sie kennen das Phänomen der Entvölkerung, die meisten Felder liegen brach, ihre kleinen Anlegestellen können im Winter keinen regulären Linienverkehr garantieren, haben kein Krankenhaus, keine Apotheke. Aber gerade aufgrund dieser fehlenden connectivity haben sich einige dieser Inseln in Labors verwandelt, wo vor allem junge Leute aus Nordeuropa in den letzten Jahrzehnten nach alternativen Lebenserfahrungen gesucht haben. Dabei haben sie hauptsächlich mit einer anderen Zeitlichkeit experimentiert, anders im Vergleich zu den Produktions- und Kommunikationsrhythmen, die ihre metro­politanischen, auf dem Leistungsprinzip basierenden Existenzen kennzeichneten. Es ist gerade diese Inseltypologie, die sich tief in das Imaginäre aufeinander folgender zivilisationsmüder Generationen eingeprägt hat, die geeignete Orte für ihre Utopien und privatistischen Regenerationsträume in den mittelmeerischen Inseldörfern suchten.16 Auf diesen abgelegenen Inseln (Alicudi, Stromboli, Folégandros, Amorgós, Anáfi unter anderen) haben sie tatsächlich eine exotische, bis zur europäischen Währungsunion billige Erlösungsvariante gefunden, einen moderat abenteuerlichen Weg zur Weltf lucht. Haben solche Inseln in dieser Hinsicht ausgedient? Nachdem sie die Kulisse für literarische und ästhetische Verklärungen, ökosoziale Utopien, eskapisti­sche Phantasien, für dramatische Selbstausgrenzung und gleichzeitig dionysische Selbstüberhöhung wie auch kollektive Begeisterung geliefert hatten, haben sie nun in Zeiten von Googlemaps, jetzt, wo man sich in wenigen Sekunden detaillierte Karten, Bilder und Rezensionen von den entlegensten Winkeln des Mittelmeers herunterladen kann, ihre Funktion eingebüßt?17 Wenn man mit Sloterdijk feststellt, dass die »weltf lüchtige[n] Energien«18 immer erhalten bleiben, ist es vielleicht nicht denkbar, dass solche Inseln, sicherlich in neuen kulturellen und politischen Konstellationen, noch als Orte eines wenigstens individuellen Widerstands fungieren können, als Orte der Weigerung, sich dem Netz anzuschließen, nicht nur als Relaxmaßnahme für wenige Tage, sondern als Akt der Redefinition 16 Das ist auch die Inseltypologie, die Deleuze im Sinne hat, wenn er schreibt: »Von den Inseln träu­ men, ob mit Angst oder mit Freude, heißt davon träumen, daß man sich trennt, bereits getrennt ist, fern von den Kontinenten, daß man allein und verloren ist – oder aber träumen, daß man wieder bei Null beginnt, daß man neu erschafft, daß man von vorne anfängt. Es gab abgedrif­ tete Inseln, aber die Insel ist auch das, wohin man driftet« (Deleuze 2003, 11). 17 »In a globalised world the idea of the island would seem to have lost much of its traditional re­ sonance. Once there were no more islands to discover, some of their imaginative potential was inevitably lost« (Edmond und Smith 2003, 8). 18 Sloterdijks »erste These rechnet mit einem Gesetz der Erhaltung weltfluchthafter Energien: die Impulse, der Welt zu entfliehen, können der Welt zu keiner Zeit verloren gehen. Was historisch zur Disposition steht, ist allenfalls die Weltfluchtrichtung« (Sloterdijk 1993, 110).

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der Machtverhältnisse – oder ist diese Art der Selbstfindung, diese Strategie des Abdriftens nunmehr für immer obsolet geworden?

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Goldgrund/Tiefenraum Politiken der Perzeption in Richard Mosse’ Incoming Ulrich Meurer, Universität Wien Abbildung 1: Standbild aus Richard Mosse: Incoming (HD-Video, 2017). © Richard Mosse

1. Präoptik Mythischer Auszug des Volkes Israel, vierzigjährige Flüchtlingserfahrung, Irrweg über den Sinai, zur Ebene von Moab, zum Jordan und ins Gelobte Land: Was man die judeo-christliche, die westliche und zuweilen die europäische Kultur nennen wird, das nimmt zumindest einen seiner Anfänge offenbar am südöstlichsten Saum des Mittelmeers. Der Raum aber, in dem diese Kultur ihre Einsetzung erfährt, und ihr langer Weg durch die ägyptische Wüste sind eng verschränkt mit einer spezifischen Weise des Sehens. Gewährsmann hierfür ist etwa Georges Didi-Huberman, der seine Studie über den Licht-Künstler James Turrell mit einem knappen Einführungskapitel zum Buch Exodus beginnen lässt: In der homogenen Fläche des Sinai folge der Zug der Migranten keiner vorgeschriebenen Blicklinie,

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ihre Flucht orientiere sich nicht am Fluchtpunkt. Stattdessen sei der Ort dieses weiten Gehens »ein riesiges Monochrom«: Der Mensch geht im sengenden Gelb des Sandes, und dieses Gelb hat für ihn kei­ ne Grenzen mehr. Der Mensch geht im Gelb, und er versteht, dass der Horizont selbst, wie scharf er dort auch sein mag, dort hinten, ihm nie als Grenze oder als »Rahmen« dienen wird. Er weiß nun genau, dass jenseits der sichtbaren Grenze der gleiche glühende Ort liegt, der immerzu weiter geht, immer gleich und gelb bis zur Verzweiflung. Und der Himmel? Wie könnte er diese farbige Einkerkerung lindern, er, der nur einen Mantel aus glühendem Kobalt bietet, den man nicht unmittelbar anschauen kann?« (Didi-Huberman 2009, 9-10). Solch ein Gehen, so Didi-Huberman, kennt in der Abwesenheit jeder Spur und jedes Pfades weder Zentrum noch Ziel; umso mehr aber bilde die weiträumige, entleerte Wüste den angemessenen visuellen Ort, um schließlich die Abwesenheit selbst als allmächtig und unendlich souverän anzuerkennen. Mit ihr schließt man darum einen Bund, man gibt ihr einen Namen – das Tetragrammaton JHWH –, allerdings ohne ihr je tatsächlich begegnen und ohne sich je ein Bild von ihr machen zu dürfen. Trotz sporadischer Leuchtfeuer, Wolkentürme oder der Kerbe, die jene Abwesenheit quer durch das Rote Meer zieht, gibt sie keinerlei Markierung, von der aus man mit der Konstruktion eines kontinuierlichen Spatiums beginnen, keinen Punkt, an dem man ein Raster aus Vektoren befestigen könnte. Also geht man (in nicht endender Hoffnung) ewig auf die Abwesenheit zu, ohne etwas zu wissen von Dimension oder Repräsentation – nur von dem Fleck, der absoluten Lokalität direkt vor den Füßen, »den Nacken zu einem immer rauheren Boden [gebeugt]« (ibid., 10), während man das Dunkel der nächtlichen Wüste und ihr tägliches Monochrom durchstreift. Damit also, mit der Migration in einer Fläche ohne Ferne, begönne ein parcours, der diverse Räume, Regime visueller Perzeption und ihre je eigenen Ansprüche auf Herrschaft durchläuft – mit der monochromen Ebene, dem mediterranen Südosten, Nahen Osten, Osten der Nahsicht, der sich um einiges später niederschlagen wird im hellen Goldgrund und der byzantinischen Ikone. Denn es gibt ein gemeinsames Feld, eine Konvergenz zwischen Migration und Byzanz, die eben ihre Arten des Sehens betrifft, ihre Wahrnehmung und Konstruktion einer spezifischen Spatialität, deren Politik über das nur ›Ästhetische‹ hinausreicht. Mithin lässt Didi-Huberman auf sein Bild der Ur-Migration gleich darauf dasjenige einer eng verwandten Erfahrung folgen: Zweitausenddreihundertfünfundfünfzig Jahre später gehe der Mensch nicht mehr in den Wüsten, sondern im Labyrinth der Städte und betrete dort die Basilica di San Marco. Im venezianischen Kirchenraum, vor der Pala d’oro, der vergoldeten Front des Hauptaltars, ist es jetzt »nicht mehr das brennende Gelb der Wüste, sondern ein rieselndes Gelb,

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ein Gelb, das das feuchte Licht Venedigs in f lüchtigen Wellen überall um [den Sehenden] herum ausstrahlt, hier und da, ohne dass er jemals genau weiß, woher es kommt, wo es sich bricht« (ibid., 16). Wiederum ein leuchtender Schirm, der über keinen Brennpunkt verfügt, sondern eine Brenn-Fläche aus Gold darstellt, einen nicht zu ortenden Fleck erhöhter Intensität: Hier ist also unser Mensch auf Distanz gehalten gegenüber der Pala d’oro. Er kann keines ihrer Details erkennen, er könnte niemandem genau beschreiben, was er sieht. Strahlenbündel legen sich um das Objekt wie ein Schleier oder ein Licht­ schrein. Nichts aber kann seine aufglänzende monochrome Frontalität verschat­ ten. Die goldene Fläche erscheint wörtlich, sie tritt dort hervor, aber weil sie als Glanz erscheint, kann niemand sagen, wo genau sich dieses Dort befindet (ibid., 17). Abermals entziehen sich Umgebung und Retabel der Vermessung oder Fixierung durch den Blick, indem sie unauf hörlich oszillieren zwischen der Ferne göttlichen Lichts, der Nähe einer Oberf läche, deren Schimmer mir entgegenzukommen scheint – Didi-Huberman nennt das »un lointain qui s’approche«, »eine Ferne, die sich nähert« –, und schließlich der unsicheren Position des Betrachtenden, der sich durch eine Zone bewegt, in der »der Glanz […] keine gleichbleibende Eigenschaft des Gegenstandes [ist]: Er hängt vom Gang des Betrachters ab und von seiner Begegnung mit einer Licht-Orientierung« (ibid.). Und abermals ist es das diffuse Gold, in dem die Abwesenheit auf paradoxe Weise sinnfällig wird.1 Die Weit-Sicht hingegen, die die gleichgültige Wüste überblicken, den Kirchenraum einnehmen und (in) ihnen ein Ende setzen würde, die schließlich alles anwesend sein ließe und für das Auge anordnete, wird es erst viel später geben; die Perspektive, die den Raum mit Tiefe ausstattet und einer Optik aus Strahlen überantwortet, die dort am Horizont und ebenso hier in meinem Auge konvergiert, muss noch erfunden werden. Der parcours würde darum zunächst weiterführen zu jener Erfindung der Renaissance, die Europa gehört (ein dreidimensionales, humanisierendes Sehen, in dem sich das westliche Temperament ref lektiert sieht [Folda 2012, 166]) und unser mediales, epistemisches, politisches Sehen fraglos bis 1 Bereits laut Dionysius Areopagita manifestiert sich das Paradoxon einer Visualisierung des Unsichtbaren oder Entzogenen besonders im byzantinischen Gold, das zu Gott im Verhältnis »unähnlicher Ähnlichkeit« stehe: »[Dem] Dunkel der unaussprechlichen Dinge [ist] die Offen­ barung vermittels der unähnlichen Gebilde in dem Gebiet des Unsichtbaren mehr angemessen« (II, 3). »Meine Ansicht ist nun, daß das Charakteristische des Feuers die größte Gottähnlichkeit der himmlischen Geister andeute. […] Da nun die Gotteskundigen das wissen, so kleiden sie die himmlischen Wesen in vom Feuer entlehnte Formen und offenbaren so deren Gottähnlichkeit« (XV, 2). »Dem Erze ist entweder der Charakter des Feurigen oder des Goldfarbenen gemäß den früher angegebenen Gründen beizulegen« (XV, 7) (Dionysius 1911). Vgl. auch Didi-Huberman 2009, 20-21.

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heute anleitet. Darauf hin aber mündet er in die Frage, ob diese teilende und invasive Optik am Ende womöglich zurückführen könnte zur opaken, prä-optischen Fläche, zum Monochrom oder Goldgrund; in die Frage auch, ob die vielen zeitgenössischen Migrationen – von Syrien oder Afrika, über Sand- und Wasserf läche – mit einem Exodus aus der Herrschaft der Perspektive einhergehen könnten, um uns einen alternativen Modus des Visuellen vorzuschlagen. Der würde dann nicht allein die Räume des Archaischen und Sakralen, gelbe Wüste und goldene Basilica bewohnen: Wie bereits Didi-Huberman von den atopischen Perzeptionen des Heiligen zum vollends säkularen ›Ganzfeld‹ und den Skyspaces James Turrells übergeht, rufen sie genauso etwa ein Foto-Projekt auf, das das Monochrom zum Merkmal einer äußerst weltlichen und gegenwärtigen U-Topie macht …

2. Incoming Im Oktober 2016 installiert der Fotograf Richard Mosse ein extrem sensibles Kamerasystem auf einem Hügel in der Nähe von Molyvos, einem Hafenort im Norden der griechischen Insel Lesbos. In der Nacht ist von hier, bei völliger Dunkelheit, selbst der nahe Küstenstreifen mit bloßem Auge nicht zu erkennen. Auf dem Bildschirm von Mosse’ computergesteuerter Wärmebildkamera, die auch bei dunstiger Atmosphäre über mehr als dreißig Kilometer thermische Strahlung registriert, erscheinen derweil immer wieder Gruppen Flüchtender, die von Schleppern durch die Berge und zum Strand des gegenüberliegenden türkischen Festlands geführt werden. Am 28. Oktober zeichnet die Kamera auf, wie ein großes Holzboot mit über dreihundert Passagieren fünf Kilometer vor der Insel sinkt; sie nimmt wahr, was von der Uferlinie unsichtbar bleibt – Scharen von Körpern, die sich in den Wellen aneinanderklammern und zügig von der Strömung abgetrieben werden, und – einige Stunden später – die griechische Küstenwache und Fischer aus den benachbarten Dörfern, die Überlebende aus dem Wasser ziehen. Während in dieser Nacht beinahe einhundert Menschen sterben, hält die Kamera die Tragödie, die sich entfaltet, in glühenden Grauskalen fest – »the life-giving warmth left by the hands of rescue workers desperately working to resuscitate victims, their skin appearing on screen as a pallid white in contrast to the black f lesh of the surrounding figures« (Mosse 2017b, o. S.).

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Abbildung 2: Standbild aus Incoming. © Richard Mosse

Solche ›unnachgiebige Aisthesis‹ ist eines der Schlüsselmerkmale von Richard Mosse’ Projekt Incoming, für das er gemeinsam mit dem Kameramann Trevor Tweeten über zwei Jahre den beiden zu jener Zeit meistbegangenen Fluchtrouten nach Europa folgt – der einen von Syrien, dem Irak und persischen Golf über die türkische Ägäis zum Camp Moria auf Lesbos und von dort über Athen und Idomeni durch den Balkan bis zum Auffanglager auf dem Gelände des ehemaligen Berliner Flughafens Tempelhof; der anderen von Somalia oder dem Senegal durch die Sahara nach Libyen und von dort über das Mittelmeer nach Sizilien oder Lampedusa, in den ›Dschungel‹ von Calais und – so die Hoffnung – nach Großbritannien. Die Bilder, die im Rahmen dieses Großunternehmens entstehen, siedeln dabei auf eigentümliche Weise außerhalb fotografischer Sehgewohnheit. Sie zeigen eine streng monochrome Palette – von grellem Weiß und f lüssigem Lichtgrau bis zu scheinbar eigenschaftslosem Anthrazit und dichtem, bleiernem Schwarz –, da der Apparat vollends farbenblind ist (und darum auch gleichgültig gegenüber der Hautfarbe der Menschen2). Zuweilen mögen die Aufnahmen wie Negative wirken, und zugleich entziehen sie sich einer derartigen fototechnischen Einordnung, indem sie recht eigentlich nichts anderes liefern als eine Karte re2 Paul K. Saint-Amour warnt indessen davor, das gleichförmig-spektrale Weiß aller Figuren als hoffnungsvollen Universalismus zu lesen, der alle Menschen – jenseits von ›Rasse‹ oder ›Ethnie‹ – nur als gleichberechtigte Existenzen erkenne: »[Such] a reading would have to ignore the cogniti­ ve dissonance experienced by viewers who look on whited-out images of bodies they know to be predominantly black and brown. The heat maps trade on this cognitive dissonance – indeed, they might be seen as devices for both triggering and thematising it. The result is not a naïve embrace of race-blind universalism but an object lesson in how the technological effacement of racial visi­ bility functions as a warrant and alibi for state racism« (Saint-Amour 2018, 18).

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lativer Temperaturunterschiede. Darum auch findet man hier keine ›Porträts‹, sondern nur desubjektivierte, ebenso schemenhafte wie schematische Formen von Gesichtern als bloße Spuren eines biologischen Lebens, deren fast graphische Flächigkeit eine Art marmorierter Patina aus wärmeren und kühleren Zonen aufweist – und in deren Mitte das befremdende Schwarz der Augenhöhlen. Abbildung 3: Standbild (Detail) aus Incoming. © Richard Mosse / Christus-Medaillon, Hosios Loukas (Diez/Demus 1931, 32)3

Durchweg zeigen die Aufnahmen überreiche und scharf konturierte Details, Stoffstruktur, rauhen Stein, poliertes Metall, und zugleich scheinen sie nah an der Grenze zu Simulation und Abstraktion. Und schließlich stauchen die übergroßen Distanzen zwischen Objekt und Objektiv den Bildraum; sie tilgen seine vertrauten Dimensionen und Staffelungen und zeigen uns Küstenstreifen, Hüttencamp oder urbane Landschaft ein ums andere Mal – wie bei einem in Kupfer

3 Da im folgenden die Affinität der Aufnahmen Mosse’ zu byzantinischen Bildverfahren die Argu­ mentation anleitet, sei hier bereits angemerkt, dass die ästhetische Nähe des Wärmebilds zum Fotonegativ an spezifische Gestaltungsmuster byzantinischer Mosaike erinnert. So beschreibt Otto Demus eine Christus-Ikone im Kloster Hosios Loukas, die – um vom Glanz des umgebenden Goldschmucks nicht verschluckt zu werden – in invertierten Lichtwerten ausgeführt ist, »which […] recalls the inverted tonality of photographic negatives: the face itself is comparatively dark […]. Yet the highlights do not appear on the raised motifs of the face-relief […]. They are concen­ trated in the grooves and furrows of the facial relief – almost, in fact, in those places where one would expect to find the deepest shadows. […] It is as if light were breaking through the features« (Demus 1955, 36).

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gestochenen frühneuzeitlichen Stadtpanorama – als eigentümliches Ineinander von Frontal- und Draufsicht.4 Abbildung 4: Lager Moria, Lesbos. Standbild aus Incoming. © Richard Mosse

Diese unwirklich-hyperrealistischen Bilder liefern das Material für eine Installation, die im Frühjahr 2017 in der Curve Gallery des Barbican Centre in London ausgestellt wird. Sie zeigt das 52-minütige HD-Video Incoming in höchstmöglichem Auf lösungs- und Kontrastgrad, das man auf drei separate, konkav gekrümmte und nicht weniger als acht Meter breite Bildwände projiziert, begleitet von einem nicht minder immersiven und erhaben anmutenden Soundtrack aus synthetischen und Umgebungsklängen des Komponisten Ben Frost (Barbican 2017, o. S.). Die Videowände sind umgeben von einer Serie monumentaler Stills und Fotografien, die unter dem Titel Heat Maps ein weites Panorama der Flüchtlingslager vom Libanon bis Deutschland aufspannen, und zudem von Formationen kleinerer Schwarz-Weiß-Flachbildschirme mit audiovisuellen Arbeiten wie etwa Mosse’ Grid (Moria).

3. Blickwinkel eines Straßenköters Einerseits, so der Kunstkritiker und Theoretiker Charlie Mills, mag dieses Arrangement von Bildern der Flucht und Migration auf ein gewisses ästhetisches Wohlgefallen zielen, auf sublimen Schauder und Überwältigung. Andererseits aber 4 Siehe auch Saint-Amour 2018, 15: Mosse’ Heat Maps »compress a great many depth planes into a single picture surface«. Sie wirken daher »[like] the tiny castles, bays, and towns that occupy the horizon lines of so many late-medieval European paintings«.

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zersetze es dabei die vermeintlich etablierten Grenzlinien zwischen Gegenwartskunst, Dokumentarfilm und den Techno-Bildern des militärisch-industriellen Komplexes; es existiere »somewhere between this trifecta of modern aesthetics, bringing to attention the slippery nature of their ›distinct‹ and separate fields« (Mills 2018, 10). In der Tat ist laut Richard Mosse die besondere Art, auf die seine Kamera sieht, das Ergebnis von Jahrhunderten militärischer Forschung (Mosse 2017b, o. S.), ein Gedanke, der wohl ganz und gar in Einklang steht mit der These Paul Virilios von der Entwicklung der Kriegstechnologie als einer Entwicklung von Medien kinematographischer Fernsicht, die er besonders im siebten Kapitel von Guerre et cinéma entfaltet – angefangen mit dem ersten Einsatz eines Suchscheinwerfers im Russisch-Japanischen Krieg, der eine Zukunft erhelle, in der die Ermittlung, die Überwachungsmaschinerie sich bald schon synchron zur Kriegsmaschinerie entwickeln sollte, bis die eine in der anderen aufging, in den Techniken, mit denen im Blitzkrieg die Ziele anvisiert wurden, im Film-MG der Jagdflieger, vor allem aber im Blitz von Hiroshima, dem Atomblitz, dessen blendende Helle die Schlagschatten der Wesen, der Dinge, buchstäblich photo­ graphierte […] – ehe die Entwicklung weiterging zur Lenkstrahlenwaffe, zum ge­ bündelten Lichtstrahl des Laser (Virilio 1989, 153). Jener Gedanke findet überdies seine sachliche Bestätigung, indem die für Incoming eingesetzte Vorrichtung (eine ›Horizon HD‹ Mittelwellen-Infrarot [MWIR] Wärmebildkamera) von der italienisch-britischen Firma SELEX ES Ltd, mittlerweile Leonardo, einem multinationalen Konzern für Telekommunikations-, Sicherheits- und Rüstungstechnologie hergestellt ist5 – zuvorderst zur Luftaufklärung und Überwachung von Küsten und Meer, aber ebenso als Späh- und Zielvorrichtung für Waffensysteme. Dass diese Kamera – selbst eine genehmigungspf lichtige Waffe, die laut International Traf fic in Arms Regulations strengsten Ausfuhrbeschränkungen unterliegt – jetzt dazu verwendet wird, ein Bildprogramm moderner Migration zu entwerfen, dass Flüchtende hier mittels eines Apparates porträtiert sind, »that sees as a missile sees« (Barbican 2016, o. S.), folgt dabei einer bedrückenden Logik: Längst hat sich heute der Blick militärischer Technik, jenseits aller Schlachtfelder und territorialisierten Kampf handlungen, den Flucht- und Migrationsbewegungen zugewandt; längst ist Migration zum ›Konf likt‹ geworden, dem mit soldatischen Mitteln begegnet wird. Längst auch ist es dieser militärische Blick, der Fragen ziviler Subjektivität beantwortet und zwischen bios und zoē entscheidet – wer

5 Mein besonderer Dank gilt Richard Mosse, ohne dessen bereitwillige Auskunft der Produzent und genaue Typ der Kamera kaum hätte festgestellt werden können.

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Bürger sein mag, wer staatenlos und wer reduziert auf seine nackte Existenz. Mit Anthony Downey: In our modern world, unaccountable sovereign power reveals a nexus where tech­ nology, surveillance and migration coalesce – under the paradigm of a military in­ dustrial complex that is intent on privatising the realm of the visual and the means of envisioning reality – to ultimately determine who is and who is not the subject of »bare life« (Downey 2017, 24).6 Allerdings erscheint die Fokussierung auf den Aspekt militärischer Kontrolle beinahe zu eng umschrieben, um erhellen zu können, was in den Bildern von Incoming vorgeht, wenn sie mit Auf klärungstechnologie gegen Auf klärungsideologie zu operieren suchen, und wie dabei die beiden Leitterme (geopolitischer) ›Herrschaft‹ und (materieller) ›Textur‹ verf lochten sein mögen. Um den absoluten Blick der Überwachung mit jenem Ineinander von schimmernder Vagheit und unbeirrter Präszision abzugleichen, um eine genealogische Verbindung oder auch eine Opposition zwischen dem Monitoring von Migration und der planen Visualität byzantinischer Ikonen herzustellen, wäre zunächst vielmehr anzuerkennen, dass das spezifische Sehen der Militärtechnologie selbst einer noch viel umfassenderen symbolischen Ordnung aufruht – namentlich dem, was im weitest möglichen Sinne als phänomenologischer ›Perspektivismus‹ bezeichnet werden könnte. Schon die ›Perspektive‹ im engeren Sinn – ein Sehprinzip, das in der Antike entwickelt, im arabischen Mittelalter als allgemeine Lehre von der Optik verwissenschaftlicht und schließlich in der italienischen Renaissance auch von der Kunst adoptiert wird – gibt ein Machtinstrument ab: Nicht allein der Titel von Hans Beltings einschlägiger Studie Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte 6 Downeys Rekurs auf die Unterscheidung Giorgio Agambens zwischen zoē und bios, einem allein reproduktiven ›nackten‹ Leben und einem gesellschaftlich und politisch qualifizierten Leben, schließt hier direkt an Richard Mosse’ eigene Perspektivierung von Incoming an, insofern ihm zufolge das Projekt Migrant*innen als nationslose, entmächtigte bloße (Wärme-)Spuren biolo­ gischer Existenz darstelle (zumal die Buchpublikation zu Incoming einen Auszug aus Agambens Homo Sacer: Souveräne Macht und bloßes Leben enthält). Derweil freilich sieht Charlie Mills eben hierin die Gefahr, dass Mosse’ Arbeit ästhetisch wie technologisch die Exklusion der ›Subalter­ nen‹ durch westliche Nationen unwillentlich wiederholt, anstatt sie tatsächlich in Bild und Spra­ che einzusetzen. Vor dem Hintergrund der kritischen Ansätze Hannah Arendts, Agambens und Gayatri C. Spivaks fragt Mills, ob die – an sich bereits bedenkliche – Ästhetisierung von Migration womöglich gleichfalls nur für die Flüchtenden spreche (Mills 2017, 7) und kaum hinreiche, um mit der Grundlegung von Staatsmacht in der Differenzierung von bios und zoē zu brechen: »The re­ fugees and migrants displayed are, whilst wholly aestheticized, a biological fact tout court. This may be problematic in so far as it dehumanises the Other to the level of bare life […]. However, is this not exactly what they are, politically speaking, in the eyes of the Western nation-sates?« (ibid., 9).

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des Blicks legt nahe, dass das darin abgehandelte Perspektivkonzept verhäkelt ist mit geographischer Differenz, kultureller Einvernahme und politischer Einf lusserweiterung. Ihr viertes Kapitel zur »Globalisierung der Perspektive« zeichnet zudem nach, wie die Missionierung Chinas durch die Jesuiten im 16. Jahrhundert, die niederländische Präsenz im Japan des 18. Jahrhunderts, der britische Anspruch in Indien und die französischen Expeditionen im Mittleren Osten des 19. Jahrhunderts offenbar sämtlich bemüht sind, die traditionelle Visualität der je ›anderen‹, bereisten und kolonisierten Kultur durch den eigenen vorzüglich perspektivischen Modus auszutauschen (Belting 2008, 54-57). So ist es eine Sache der Kunst, der Politik und der politikgewordenen Religion, wenn sich etwa der ottomanische Islam dagegen verwahrt, die erhöhte Position Gottes aufzugeben zugunsten einer Wiedergabe der Welt aus dem niederen »Blickwinkel eines dreckigen Straßenköters« (Orhan Pamuk in Belting 2008, 61): Wer perspektivisch zeichne, mache sich zum »Sklaven der Ungläubigen« (ibid., 62). Damit aber ist man von der ›Perspektive‹ als optischer Technik und künstlerischer Darstellungsmethode bereits hinübergewechselt zum ›Perspektivismus‹ als einem umfassenden visuellen Weltverständnis. Mehr noch: Es ist wohl gerade jener Einwand des Islams, der Einsatz der Perspektive stelle einen Fall vom Göttlichen ins bloß Kreatürliche dar, der den Schlüssel zu ihrem so unnachgiebigen wie paranoiden Despotismus liefert. Denn die Perspektive ist weniger Herrschaft, weil sie einer Ratio oder einem geometrischen Gesetz folgte, das die Welt für und um den Menschen anordnen und alles ihrem Konstruktionsprinzip unterstellen würde. Sie ist vielmehr unausweichlich zur Macht verurteilt, weil sie immer zu wenig sieht und sich darin als zutiefst defizitär erweist. Ihre Tiefenillusion beruht wesentlich auf dem visuellen Verlust, auf Überlappung und Verstellung eines Dings durch das andere, auf Größenabnahme, Unschärfe, dem Verblassen der Farben und zunehmend prekärer Sichtbarkeit in der Ferne (Da Vinci nennt das die Prospettiva de’ perdimenti, die Perspektive des Verschwindens [Da Vinci 2008, 113; Ludwig 1885, 32]; Heinrich Wölff lin wird es als »Unfassbarkeit« oder »das Unbegrenzte« bezeichnen, wenn auf diese Weise »die einzelnen Gegenstände sich nicht ganz und völlig klar darstellen, sondern theilweise verdeckt sind« [Wölfflin 1888, 20]).7 Der ideale perspektivische Raum hat darum etwas Unheimliches – 7 Elke Grittmann weist in ihrer Untersuchung zum ›politischen Bild‹ darauf hin, dass Ernst Gom­ brich den Realismusanspruch einer Abbildung nicht auf dessen Übereinstimmung mit der Wirk­ lichkeit zurückführt, sondern auf die Reproduktion von Wahrnehmungsprinzipien, die den Ein­ druck von subjektiver Zeugenschaft vermitteln: »Das Prinzip der Darstellung oder Aufnahme beruhe darauf, dass im Bild nur das zu sehen sein darf, was von einem Augenzeugen von einem Standpunkt zu einem Moment gesehen werden kann.« Nicht nur folge ganz allgemein die Ent­ wicklung der Zentralperspektive und ihre Illusion von Räumlichkeit diesem Prinzip; genauso ent­ scheidend sei für Gombrich Leonardos ›Prospettiva de’ perdimenti‹: »Es handelt sich dabei um ein reines Phänomen der Wahrnehmung und nicht um eine wie immer geartete Eigenschaft der

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nicht weil er sich zuweilen traumhaft leer und unbewohnt gibt, wie es anschaulich Francesco di Giorgio Martinis Ansicht einer Idealstadt aus dem späten 15. Jahrhundert zu demonstrieren versteht, sondern weil sich hinter den Mauern, Säulen, Bogengängen und womöglich sogar auf den freien, ins Licht getauchten Flächen etwas zu verbergen scheint und trotz aller Berechnung das Unerwartete in ihm lauert; er ist gerade nicht das Duchschaubare und Beherrschbare; sein konstitutiver Aspekt des Verschwindens macht, dass ihm stets eine verhaltene Angst innewohnt. Abbildung 5: Francesco di Giorgio Martini: Vedutta di città ideale (um 1490, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin)

Umso enger aber ist daher die Perspektive an die Überwachung gekoppelt – denn sie muss ihren Mangel ausgleichen; sie muss in diesen undurchsichtigen Raum eindringen, um gegen das eigene Unwissen anzugehen (darin besteht ihr ›epistemischer‹ Zug). Sie sieht nur von einem Punkt, ihr Blick ist eingeschränkt, einäugig, und kann darum – von Florenz bis Frontex – niemals auf hören, in der vor ihr liegenden und von ihr hergestellten Erstreckung das potenziell Ungesehene anzunehmen, sich vorzustellen und ausforschen zu wollen. Tatsächlich ist es mit Wölff lin eben jenes Element der Unfassbarkeit, das, indem es alle perspektivische Repräsentation heimsucht, einen zentralen Impetus für die Vorstellungskraft darstellt, ja sogar selbst, noch vor jedem Rezipienten, das tiefe Begehren nach Entdeckung in sich trägt.8 Was mithin den ›Perspektivismus‹ ausmacht – auch dann, wenn moderne Überwachungstechnik längst nicht mehr im traditionellen Sinn perspektivisch operiert und die optische Spur durch digitale BildgebungsWirklichkeit« (Grittmann 2007, 113). Insofern identifiziert auch Gombrich den konventionellen Realitätseffekt eines perspektivischen Bildes als ›Weltverlust‹. 8 Vgl. Wölfflin 1888, 20: »[Die] Gegenstände sind übereinander geschoben, schauen nur theilweise hervor, wodurch dann die Phantasie aufs höchste gereizt wird, das Verborgene sich vorzustellen. Man meint, es sei der Trieb des Halbversteckten selbst, sich an’s Licht herauszuringen.«

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verfahren ersetzt hat –, das ist ein wahnhafter und angstvoller Wille zur Macht und zur visuellen Ermächtigung in einer Umgebung, die ihr unweigerlich entkommt.

4. Tessera Einerseits also ist die Kamera, die Richard Mosse zum Einsatz bringt, die Perfektionierung dieses Perspektivismus. Sie unterwirft sich Raum und Menschen unabhängig sogar von sichtbarem Licht und von der Nähe der Objekte und macht damit scheinbar den letzten Schritt von der mechanischen Überwachung zum Mysterium des ›Allsehenden Auges‹, das die vielfältigen Sünden der Menschheit in den Blick nimmt. Aber am äußersten Pol oder Ende des Perspektivismus, im Moment seiner Vollendung, geschieht das vollends Ungedachte: Incoming führt vor, wie der sonst von Lichtstrahlen durchlaufene Tiefenraum unversehens umschlagen kann in Fläche und Abwesenheit, in Didi-Hubermans »sengendes Monochrom« ohne Horizont, in dem ›unsere‹ Kultur als Migration ihren Ursprung hat. Das markiert unsere Rückkehr zur Wüste und zur Ikone: Als ›post-perspektivische‹ Bilder – das heißt, in zeitlicher Nachfolge des Perspektivismus, als dessen Fortführung ins Extrem und zugleich als dessen kritische oder widerständige Wendung – scheinen sowohl Incoming als auch Mosse’ Heat Maps eine Visualität zu restituieren, die wesentliche Eigenschaften des ›Byzantinischen‹ aufweist, sein Licht, seine Aggregatstruktur, seine Präsenz, seine ›Ferne, die sich nähert‹ … Zunächst evoziert die Installation den Bild- und Wahrnehmungsmodus des Mosaiks (dies auf mindestens drei Ebenen: durch die räumliche Zusammenstellung mehrerer Kanäle oder Teile, die einander ergänzen und ref lektieren; durch die Herstellung einiger dieser Teile mittles Kompositverfahren; durch die mediale Struktur der Bilder, die sämtlich digital codiert und als Raster von Pixeln projiziert werden). Was etwa die großformatigen Heat Maps vorstellen, ist keine kontinuierliche Vista und kein einheitliches Panorama. Stattdessen existiert jede der immensen Lager-Landschaften nur als ein Konstrukt aus fast eintausend separat aufgezeichneten Einzelaufnahmen, die von Mosse’ Assistent Steven Broady manuell und über mehrere Wochen mit einem Bildbearbeitungsprogramm entzerrt, in ihren Lichtwerten angeglichen und in einen Rahmen eingepasst worden sind (Saint-Amour 2018, 15).

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Abbildung 6: Lager Souda, Chios. Standbild aus der TV-Dokumentation Brilliant Ideas: Richard Mosse (Oonagh Cousins, UK, 19. März 2018). © Bloomberg LP MMXVII

Die ›allsehende‹ SELEX-Kamera – die wohl zu Unrecht die Typenbezeichnung ›Horizon‹ trägt – erweist sich als vollkommen unfähig, ein Weitwinkel-Bild oder Establishing shot herzustellen; sie kann keinen Überblick geben, keine große Bühne öffnen. »Instead, it divides the picture area into a grid of square areas and sequentially fills in each square with thermographic data, a motion-controlled arm repositioning the camera head for each square« (ibid.). Obwohl bis zu dreißig Kilometer von ihrem Gegenstand entfernt, liefert sie daher lediglich Teilbilder wie aus größter Nähe: Die Broschüre des Herstellers gibt an, dass sie ihre außergewöhnlich hohe Auf lösung einem »ultra narrow field of view« von nicht mehr als 0.6 Grad verdankt.9 Was daher wie eine weite Aussicht erscheinen mag, ist in Wahrheit ein minutiös rekonstruiertes Mosaik und Kachelwerk von segmentierten Ausschnitten oder kleinen Szenen.10 Auf den ersten Blick mag eine solche Anordnung von ›Szenen‹, die nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern ein Gesamtbild oder narratives Kontinuum simulieren, keineswegs dem Charakter des klassischen byzantinischen Bildprogramms entsprechen. Tatsächlich kontrastiert Otto Demus in seiner so altehr-

9 Informationsblatt für die SELEX Horizon SD/HD Thermal Imaging Camera (2014 © Copyright Selex ES Ltd): https://www.uk.leonardocompany.com/documents/1458024/14369146/body_mm07756_ Horizon_MWIR_LQ _.pdf 10 Paul K. Saint-Amour sieht darum nicht zuletzt die im 1. Weltkrieg entwickelte Technik des ›Fotomosaiks‹, die Kompilation einer großen Zahl von Luftaufnahmen zu einer fotografischen Karte des Einsatzgebietes, als Vorläufer der von Mosse angewandten medialen Strategie (SaintAmour 2018, 16-17).

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würdigen wie einf lussreichen Untersuchung byzantinischer Mosaikdekorationen ein derartiges Arrangement mit dem Bildschmuck mittelbyzantinischer Kirchen, denn dort seien die Bilder »not links in a continuous chain of narrative, they must not f low into one another«; und das formale Verfahren, um ihre Trennung zu gewährleisten, sei »the separate framing of each single receptacle« durch Architekturelemente (Demus 1955, 14). Gleichwohl korrespondieren die Heat Maps und mehr noch Mosse’ Grid (Moria) merklich mit Demus’ Beschreibung eines »almost indiscriminate covering of the walls with mosaic pictures which is found in […] Venice and other colonial outposts of Byzantine art«: In einer der Kuppeln südlich des Hauptportals von San Marco etwa bilden die kleinen Panele, dicht bevölkert mit Figuren und Landschaftsmotiven, a continuous sequence without completely destroying the separate identities of the single scenes. […] The little figures are still closely packed together; indeed, the whole looks like a close procession rather than a series of scenes following each oth­er in time. […] The dividing lines have disappeared as such; divisions are go­ verned by the scenery, which itself is reduced to a thin network of lines. The move­ ment is leisurely and, in spite of the comparative smallness of the figures, some­ how monumental (ibid., 71). Abbildung 7: Standbild aus Richard Mosse: Grid (Moria) (16-teilige FlachbildschirmInstallation, 2017). © Richard Mosse

Worum es hierbei aber geht – die immer changierende Relation, die anhaltende Kalibrierung im Verhältnis von Einzelteil und narrativer Zusammenfassung –, das bestimmt im selben Maße auch die zweite, gleichsam ›tiefere‹ Ebene des

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Mosaiks. Auf ihrem medialen Grund nämlich bilden sich die Szenen auf der Kirchenwand ebenso wie auf dem Videoschirm als Aggregate von aus Stein oder Glas gefertigten Tesserae bzw. als Anordnungen von Pixeln oder LED-Punkten, deren Mosaike laut dem Komplexitätstheoretiker und Biologen Georges Chapouthier jeweils einer zweifachen Operation aus juxtaposition (die akkumulative und heterarchische Reihung identischer oder ähnlicher Einheiten) und integration (die Differenzierung und Kombination der ursprünglichen Einheiten zur Generierung eines Gegenstands höherer Komplexität) unterliegen. Durch diesen doppelten Prozess lassen die Segmente eines jeden Mosaiks – ob Lebewesen, urbanes System oder stellare Konstellation – eine Gesamtheit entstehen; wie im Falle der individuellen Organe eines Organismus vereinigt die Mosaikstruktur jedoch die Komponenten, ohne dabei deren autonome Eigenschaften zu tilgen: »A convenient model for these juxtaposition and integration processes is the art of the mosaic: small ceramic tiles – tesserae – are juxtaposed and integrated in a mosaic to depict a figure, yet each individual tile retains its own distinctive features (shape, size, texture and colour)« (Chapouthier 2018, 11). Während aber Chapouthier die Kompositstruktur des Mosaiks allein durch dieses Zusammenwirken von juxtaposition und integration hinreichend definiert sieht, will es – zumindest für eine angemessene Annäherung an Affinitäten zwischen ›Postkinematographie‹ und ›Byzanz‹ – doch scheinen, als müsste darüber hinaus die je spezifische Art der Mosaiksteine in Rechnung gestellt werden, ihre besondere Weise der Anordnung und vor allem das Wechselverhältnis zwischen Medientechnik und Perzeption, der Einf luss von Chapouthiers ›Verkettung plus Integration‹ auf den Prozess der Wahrnehmung. Mit anderen Worten: ein Mosaik inkorporiert nicht lediglich Segmente in einem umfassenden Bildschema; es macht zugleich die Spannung zwischen Teil und Totalität als Spur des Mediums spürbar. Das ist bereits wohl seinem Bauprinzip eingeschrieben, der Unterbrechung der Linie und Körnung der Fläche, das im Betrachten die Aufmerksamkeit unweigerlich zwischen Fragment und kontinuierlichem Ganzem, zwischen Kachel und Bild oszillieren lässt. Darum – und obwohl Otto Demus zunächst den Aspekt der Kontinuität und Kohäsion in den Vordergrund stellt und in einem eigenartigen Moment der Medienvergessenheit byzantinische Mosaike sogar als »monumental paintings« (Demus 1955, 13) bezeichnet – unterstreicht er besonders die spätantike Methode, den Mauergrund wellenförmig zu modellieren, um so das Funkeln der goldenen Tesserae zu steigern, eine Technik, die Medieneigenschaften ausstellt, weil sie die Pixel als Qualität des Bildes sichtbar macht. Und seinerseits realisiert Mosse dieses Differenzprinzip des Mosaiks, indem er etwa Moria (Grid) als Bildwand unterschiedener und asynchron bewegter Einzeleinstellungen konzipiert (»This piece […] was edited rather like a musical round – each screen is playing back the same piece of footage at different intervals« [Mosse 2017a]), an deren Rändern die Umrisse menschlicher Körper und Gegenstände

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zuweilen abbrechen. Aber nicht allein die prägnante räumliche wie zeitliche Rasterung dieses Lagerbildes im ›Grid‹, sondern auch dessen Gegensatz zur sorgfältig geglätteten Heat Map, die dasselbe Motiv nun als fortlaufendes Panorama zeigt, macht die mediale Spannung und den Umlauf zwischen Gliederung und Ganzheit augenfällig: dort mobile Fragmente, hier ein großf lächiger Überblick – selbst wenn auch der bei gewissenhafter Inspektion an einigen wenigen Stellen die haarfeinen Linien der Bildränder noch ahnen lässt.

5. Taktil Marshall McLuhans ausladender Versuch zum ›Medienverstehen‹ wartet daraufhin mit noch einer weiteren Eigenart des Mosaiks auf: Von seidenen Netzstrümpfen (McLuhan 1994, 29) bis zu illustrierten Magazinen (227), vom Mosaik elektrischer Information (185) bis hin zum Fernsehbild (223) sei es die niedrige Auf lösung, die das Auge in eine Hand verwandele, um das Gesehene in der Berührung zu erkunden und zu vervollständigen. Ein Mosaik verfüge über keinerlei zentralen Blickpunkt, stattdessen sei es verteilt, sinnlich und fordere in höchstem Grade eine Nahwahrnehmung und Beteilgung der Rezipierenden heraus. In der Moderne verschiebe darum ein »powerful mosaic and iconic thrust in our experience« (227) nicht nur das gesamte menschliche Sensorium ins Taktile; obendrein spricht McLuhan diesem taktilen Mosaik – im Sinne auch des politischen Impetus von Incoming, wenn sich dessen Ästhetik gegen die monokulare Fernsicht westlicher Auf klärungstechnik wendet – einen deutlich gemeinschaftsgründenden Charakter zu: »[The] mosaic form has become a dominant aspect of human association; for the mosaic form means, not a detached ›point of view,‹ but participation in process« (210). Es ist freilich nicht allein der Rekurs auf das Mosaik (als Form wie als mediale Basis), der Richard Mosse’ Projekt an eine Politik des Taktilen bindet. Berührung als Teilnahme, wie sie McLuhans Medienanalyse bekundet, Berührung als das ganze Gegenteil eines Konvergenzpunktes, einer Er/Klärung, einer Distanz gerät hier zur grundlegenden Qualiät der Bildpraxis, und sie schlägt außerdem die Brücke zu einem besonderen Zug visueller Theorie in Byzanz. Was uns durch den Wärmeblick von Incoming fühlbar entgegentritt, das ist das Material und die Materialität des Details, die Beschaffenheit von trockenem Webstoff, glattem Stahl oder menschlicher Haut – die Spuren und Abdrücke von Restwärme, wo sich eben noch Körper oder Hand auf eine Oberf läche gelegt haben. Oder auch Verzerrungen und Störf lecken, wenn eine Hitzequelle außerhalb des thermalen Index der Kamera liegt.

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Abbildung 8: Standbild aus Incoming. © Richard Mosse

(Und fast will man vermuten, dass diese besondere Physis der Bilder bereits in der komplexen Mechanik und schieren Gegenständlichkeit des dreiundzwanzig Kilogramm schweren Kameraapparates angelegt ist. Seine Optik besteht aus Germanium, einem Metall der Seltenen Erden, dessen Kristalle unter Laborbedingungen gezüchtet, poliert und mit einer opak-grünen, irisierenden Schutzschicht versiegelt werden; die Frontlinse ähnelt einem tellergroßen schimmernden Smaragd; der Kadmium-Tellurid-Sensor muss elektrochemisch auf -323 Grad Celsius gekühlt werden [Mosse 2017b, o. S.] …) Solch eine Verf lechtung von Optik und Haptik mag derweil Vorstellungen vom ›taktilen Sehen‹ aufrufen, wie sie in der byzantinischen Kunstgeschichte kursieren. So fasst etwa Roland Betancourt zusammen: Byzantine historians have often favored a theory in which sight has the ability to physically touch the image as if kissing and embracing its surface, an idea de­ veloped in primary sources through metaphors and literary tropes. This is a model of extramission, a theory of sight wherein the eyes emit rays that graze the body of the object […]. [Haptic] extramission has projected itself as an all-encompass­ ing theory of visual perception, wherein viewer and object are […] linked as one through the intimate tactility of sight (Betancourt 2016b, 660). Einerseits zwar tituliert Betancourt hier und andernorts die haptische Auffassung visueller Perzeption in Byzanz als »misguided idea« (ibid., 684), die sich einzig – und ungerechtfertigt – an eben jener Theorie der Extramission orientiere und dabei alle anderen antiken Modelle vom Sehen ignoriere. Andererseits jedoch

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bleibt es fraglich, weshalb Betancourts Kritik an der Dominanz der Extramission im kunsthistorischen Diskurs zugleich die gesamte, so viel weiter gefasste Vorstellung eines byzantinischen ›taktilen Sehens‹ invalidieren sollte: Würde die rituelle Praxis des Berührens, Umarmens und Küssens einer Ikone nicht einen wie immer gearteten Effekt auf den Akt des Sehens üben und ihren Abdruck auch im Visuellen hinterlassen? Oder wäre die Annahme einer Intromission – gleich ob im metaphorischen Sinne und kognitiv oder im konkreten Sinne und sensuell –, bei der nun das Objekt Strahlen aussendet, die das Auge des Betrachters berühren, nicht gleichfalls geeignet, ein Modell des Taktilen zu stützen? Ob aber die Haptik in byzantinischen Beschreibungen des Sehprozesses als Sprachbild oder wissenschaftliche These zu verstehen ist, ob sie im Auge oder im Gegenstand ihren Ausgang nimmt, ob sie unvermittelt oder über ein transparentes Medium sich vollzieht (all diese Aspekte sucht Betancourt im kritischen Quellenstudium zu klären) – in jedem Fall vermag sie, die thermischen Bilder von Incoming mit einem weitverzweigten Diskurs zur byzantinischen Visualität in Kontakt zu setzen. Abbildung 9: ›Dschungel‹, Calais. Standbild aus Incoming. © Richard Mosse

Und wenn man darüber hinaus die Frage nach den Texturen der Herrschaft, nach den ihr eigenen Oberf lächenattributen und ihrer äußeren Beschaffenheit beim Wort nehmen will, erwiese sich die materialle Fühlbarkeit der Wärmeaufzeichnungen womöglich als eben jenes widerständige Element, das sich der Herrschaft der Perspektive und ihrer raumgreifenden visuellen Logik entzöge: Statt der invasiven Struktur des Sehens nunmehr die sensible Textur medialer Abtastung.

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6. Gold Von hier ist es nicht weit zum Goldgrund, zur vergoldeten Bildf läche und ihrem spezifischen Schimmer, der, wie Andreas Cremonini in seiner zuerst phänomenologischen (Merleau-Ponty), dann intersubjektiven (Sartre) und schließlich psychoanalytischen (Lacan) Annährung an Glanz, glance und glans konstatiert, stets »mein Auge zu berühren scheint. Im Spiegel-Spiel des Glanzes eröffnet sich eine Art ›Rein-Raus-Spiel‹: Der Bewegung des Eintauchens in die Tiefe des Glanzes antwortet eine Bewegung des Entgegenkommens des Lichts« (Cremonini 2005, 219) – eine weitere ›Ferne, die sich nähert‹. Im Gegensatz aber zur Materialität all der Objekte, die an Flucht und Migration teilhaben, der stumpfe Sand, das gleißende Wasser, die marmorierte Haut, die deshalb sämtlich als taktile Aspkete einer ›migratorischen Welt‹ gelten mögen, betrifft das Gold nun vielmehr die Qualität der Bilder selbst, die dichte und lichte Oberf läche von Foto und Videoprojektion. Abbildung 10: Standbild aus Incoming. © Richard Mosse

Die schwelenden, lichtemittierenden Bildschirme und Bewegtbilder von Incoming, die großformatigen digitalen C-Prints, die wie Abzüge auf Aluminium wirken, sogar die begleitende Buchpublikation in metallischem Triplex-Druck nähern sich der komplexen Visualität und gleichsam verschlossenen Oberf läche vergoldeter Ikonen. Sie repräsentieren nicht mehr nur; sie verfügen über einen eigenen intensiven Lichtwert, eine eigentümliche, halb nach innen gewandte Leuchtkraft, die kaum zu entscheiden erlaubt, ob die Bildf lächen undurchsichtig erscheinen, ref lektieren oder selbst Licht abgeben. Dieser Visualität zwischen Fläche, Spiegel und Helligkeit (und damit vielleicht der Korrelation von Incoming und Goldgrund) mag der Begriff der ›Luminosität‹ am nächsten kommen. Und sogar seine historische Wandelbarkeit und theoreti-

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sche Komplexität würden wohl auf gewisse Weise dem ebenso komplexen Phänomen jenes Glanzes entsprechen: Während sich zeitgenössische Bestimmungen des Luminosen zumeist schlicht auf Farbtöne beziehen, die durch ein transparentes Medium wahrgenommen werden (obwohl dabei jede glasierte, metallische, glänzende oder f luoreszierende Oberf läche die Unterscheidung zwischen einfacher Objektfarbe und ›luminoser‹ Farbe allemal problematisch macht [Batchelor 2014, 50-51]), eignen sich andere – und ältere – Fassungen dieses Konzepts nicht nur, ebenso die besondere graue, farbenblinde Luminosität oder die In/Differenz zwischen Opazität und Leuchtkraft in Richard Mosse’ Szenerien zu fassen. Vielmehr verweist das Luminose immer auch auf eine Art von Licht und Sicht, die sich radialer Logik und linearer Raumdurchquerung verweigert: Jacques Lacan etwa dient es dazu, das Sehen dem Diktat der Strahlenoptik zu entwinden und es stattdessen in einem point lumineux entspringen zu lassen, in dem »Rieseln, dem Feuer, dem Springquell der Ref lexe. Zweifellos pf lanzt sich das Licht in der Geraden fort, aber es bricht sich, es diffundiert, es übergießt, es füllt – denken wir daran, daß unser Auge eine Schale ist – aus der das Licht auch überquillt« (Lacan 2015, 100).11 Und bereits die mittelalterliche Philosophie trennt lux, das Licht als ›Substanz‹ und Strahl, der von einer Quelle ausgeht, von lumen, dem ›spirituellen Körper‹ und der Fülle des Lichts, das von einem Gegenstand zurückgeworfen und im Raum verteilt wird (Riedl 1942, 5). In dieser Hinsicht gehört zunächst die Ikone wohl ganz der Sphäre des lumen an; denn der byzantinische Künstler, so wiederum Demus, »never represented or depicted light as coming from a distinct source, but used […] its effects in the space between the picture and the beholder’s eye« (Demus in Betancourt 2016a, 259). Insofern offenbar vermittelt diese diffundierende und den Betrachter affizierende Luminosität darauf hin zwischen Byzanz und der Ästhetik von Incoming: neuerlich keine Lichtquelle, auch keine Figuren oder Objekte, die durch einen Schein mit bestimmbarem Ursprung illuminiert wären oder ihn ref lektierten (schließlich registriert die SELEX Horizon ausschließlich unsichtbare Strahlung). Hingegen ist es die Bildf läche selbst, die Licht sammelt, hortet, intensiviert und freigibt, so dass sich lumen nicht länger nur auf die formale Disposition der Darstellung beschränkt, sondern zum Medium gerät, das sowohl das Bild als auch die Rezipierenden umgibt. Am Ende also füllt das goldene Monochrom den Abstand, in dem Repräsentation und Objektivierung gründen. In seinen Bemerkungen zur »history of looking at Byzantine art« deutet Rico Franses die Herauf kunft der Renaissance, mit der die Verwendung des Goldgrundes an Ansehen verlieren wird, als »watershed in 11 Demgemäß – und weil Lacan in der Folge auf die Wirkung von Ikonen und das Blickschema in den »bewundernswerten byzantinischen Mosaiken« eingeht – nehmen seine Vier Grundbegrif fe der Psycho-Analyse einen zentralen Platz in den Interpretationen von Goldgrund und Divinität durch die byzantinische Kunstgeschichte ein; vgl. etwa Franses 2015.

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relation to both vision itself and painting« (Franses 2003, 20): Zuvor hätten sich das dämmerige Licht orthodoxer Kirchen und das Funkeln des Goldes noch duldsam gezeigt gegenüber dem Vagen, Obskuren und Ununterschiedenen. Nun aber verlange das neue visuelle Regime, that no bothersome reflections dazzle the eye and make areas difficult to see. Everything must be delivered up so that our gaze can march unimpeded across the surface of the scene, easily grasping all details, all colours that cross its path. No dark corners where objects withdraw from visibility. We now live the imperious reign of vision (ibid.). Eine jede Referenz, Reaktivierung, Invokation spröder Mosaikstruktur, der Taktilität, des rieselnden und körperlichen Goldes von Byzanz müsste darum fast unausweichlich auf jenes Regime – dem wir selbst nach wie vor angehören und das unverändert einen »heightened sense of its own importance« (ibid.) kultiviert – mit der zutiefst politischen Devise ›prekärer‹ Sichtbarkeit antworten: Das byzantinische Sehen ist prekär, weil es sich keinen Gegenstand als schon gegeben und im Blickfeld anwesend vorstellt. Was man im Goldgrund der Ikone sieht, das ist mit Betancourt vielmehr die bloße Voraussetzung visueller Wahrnehmung, transparente chōra, reine Potenzialität, die erst als Aktualität sich verwirklicht, indem sie eine Form oder einen Körper aufnimmt. Wenn so das Immaterielle einen Ort (topos) und unverhoffte Plastizität gewinnt, dann geschieht das nicht als Akt kognitiver Erfassung, sondern als ein wesentlich unsicheres ›Ereignis‹ der Emergenz, »where all is not always already immanent but bursts upon the viewer’s perceptual horizon in a f lash of light« (Betancourt 2016a, 267). Ein Großteil der Ikone beruhe damit nicht auf Präsenz, sondern setze sich zuallererst mit ihrer Möglichkeit auseinander. Und ähnlich wie Betancourt – und der byzantinische Philosoph Michael Psellos, auf den dieser sich beruft – versteht Didi-Huberman das Monochrom ziselierten Goldes als Inszenierung vor allem potenzieller Darstellbarkeit (Didi-Huberman 2009, 20). Es erscheine entleert, verlassen von jedem sichtbaren Gegenstand; aber gerade hierdurch – indem dieser Ort heimgesucht werde von einer längst vergangenen oder irgend zukünftigen Anwesenheit – gestatte er die seltene »Erfahrung seiner Figurabilität« (ibid., 34). Der Immanenz von Farbe wie auch Gold gehe es darum, »diesem Ort die elementare absolute virtuelle Macht einer Figurabilität ohne ›Figuren‹ zu geben« (ibid., 45). In jedem Fall wird dabei deutlich: insofern sich diese unauf hörliche Erfindung und Aussicht auf das Sehen, seine granulare Materialität und metallische Luminosität als Züge einer weithin marginalisierten visuellen Ordnung kaum versöhnen lassen mit der Optik von Renaissance und europäischer Auf klärung – im philosophiegeschichtlichen wie militärischen Sinn –, insofern sie die dominanten Raum- und Herrschaftsideen des Westens in dichte Flächigkeit senken und

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ihn mit prä-optischen Abwesenheiten, Möglichkeiten und Mannigfaltigkeiten konfrontieren, betreffen sie nicht mehr nur die ›Kunst‹, sondern gewinnen zugleich an politischer Relevanz. Richard Mosse dokumentiert auf solche Weise die Migrationen aus Syrien oder dem Maghreb als monochromen Flächeneffekt und ›Brenn-Fläche‹, an der die neuzeitlich-f lorentinische Raumsicht abgleitet; und darin, an einem Ort ohne weitere Attribute, versammeln sich formelhafte menschliche Figuren. Dieser ästhetisch-politische Modus gehört selbst schon zum Gehen in der Wüste; er gehört zur Ikone; und offenbar wohnt er, an verborgener und nun von Mosse hervorgekehrter Stelle, auch zeitgenössischen Bildgebungsverfahren inne. Auf seinem Grund wäre der militärischen Ausspähung der Migrationen aus dem globalen Süden oder Nahen Osten vielleicht zu begegnen – mit einem Blick, der zugleich Unsichtbarkeit zuließe, Kontaktnahme und die Potenzialität einer ›Ferne, die sich nähert‹. Denkfigur dieses Sehens wäre eben der Goldgrund, die goldbedampfte Folie, die man den Ankommenden um die Schultern legt.

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Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha Narrative Versionen der neugriechischen Identität und die Entdeckung der osmanischen Vergangenheit Griechenlands als Kulturerbe Anastasía Antonopoúlou, Nationale und Kapodistrias Universität Athen

I. Einführendes Das Leben des Ismail Ferik Pascha – Spina nel cuore (1989)1 ist der erste Roman von Rhéa Galanáki, einer der bekanntesten und erfolgreichsten Autorinnen Griechenlands. In ihrem frühen Werk, das hauptsächlich aus Gedichten und Erzählungen besteht, stellt sie die Frage nach Geschlechtsidentität und Geschlechterordnung in der patriarchalischen Gesellschaft. In den Romanen der Spätphase, an deren Beginn der zu untersuchende Roman steht, verschiebt sie den Schwerpunkt – ohne die Geschlechterproblematik aufzugeben – auf die Frage, wie Geschichte verstanden und dargestellt wird. Ismail Ferik Pascha wurde vom Lesepublikum positiv aufgenommen, ist bis heute für die Literaturwissenschaft in Griechenland von zentralem Interesse und auch international Gegenstand von Dissertationen geworden (u.a. Sourbati 1992; Kosmas 2002; Katsan 2003; Aleksić 2007). Roderick Beaton (1994, 292) zufolge wird in Galanákis Roman zum ersten Mal in der griechischen Literatur anerkannt, dass zum Erbe des modernen Griechenland auch seine Geschichte als Provinz des osmanischen Reichs gehört. Der Roman, so Beaton (ebd.), kann als Parabel für die griechische Identität gelesen werden. Auch Niehoff-Panagiotidis (1998, 70f.) sieht in dem Erfolg des Romans ein Zeichen dafür, dass Griechenland zum ersten Mal seine osmanische Geschichte akzeptiert. Entsprechend war der Roman Ausgangspunkt für eine Diskussion um die Auseinandersetzung mit einer vergessenen, verdrängten osmanischen Vergangenheit und ebnete den Weg für die Entstehung einer Reihe von literarischen Texten zu dieser Problematik (Akritidou 2019; Willert 2019; vgl. auch Abschnitt IV im vorliegenden Text). 1 Originalausgabe: Ρέα Γαλανάκη: Ο βίος του Ισμαήλ Φερίκ Πασά. Spina nel cuore. Μυθιστόρημα. Αθήνα: εκδ. Άγρα 1989.

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Die Handlung des Romans Das Leben des Ismail Ferik Pascha spielt im 19. Jahrhundert auf Kreta und in Ägypten und dreht sich insbesondere um den historisch bedeutsamen kretischen Aufstand gegen die omanische Herrschaft (1866-1868). Die fiktive historische Biographie des Ismail Ferik Pascha ist eng an dieses Ereignis gebunden. Ismail Ferik Pascha war von Geburt Grieche und Christ und hieß in seiner Kindheit auf Kreta Emmanuil Papadákis. Im Jahr 1823 wird er als kleiner Junge während eines früheren Aufstands gegen die Osmanen von der osmanischen Armee nach Ägypten verschleppt. Emmanuils Eltern werden getötet, sein Bruder Antónios nach Istanbul deportiert, von wo es ihm gelingt, zuerst nach Odessa und dann nach Athen zu f liehen. Dort wird er ein erfolgreicher und wohlhabender Händler und effektiver Unterstützer des kretischen Unabhängigkeitskampf gegen die Osmanen. Emmanuil wächst in Kairo zusammen mit dessen Sohn Ibraim im Haus des Vize-Königs von Ägypten Muhammad Ali mit der Kultur der Osmanen auf. Er wird Moslem, bekommt den Namen Ismail und besucht nach dem Brauch der Osmanen, die intelligentesten der gefangenen Knaben zu künftigen Staatsbeamten heranzuziehen, eine Elitemilitärschule. Ismail macht eine militärische Karriere und steigt sogar an der Seite des Kronprinzen Ibrahim bis zum Amt des Kriegsministers auf. Im Jahr 1866, nach dem Tod des von ihm geliebten Ibrahim, wird er als ägyptischer Heerführer nach seiner Heimatinsel Kreta entsandt, um zusammen mit den Türken den kretischen Aufstand niederzuschlagen. Der Kriegsgegner Ismail steht nun als Eroberer auf dem heimatlichen Boden. Seine Aufgabe, den Aufstand niederzuschlagen, wird er jedoch nicht vollenden: Er stirbt bei einem heimlichen Besuch seines leer stehenden Elternhauses, Ort der Bewusstwerdung und Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit.

II. Textualisierung der Geschichte. Ferik Pascha als griechischer Historiographic Metafiction-Roman Sehr früh hat die Literaturwissenschaft betont, dass der Roman kaum als historischer Roman im traditionellen Sinne bezeichnet werden kann. Er gilt daher zurecht als ein Beispiel der historiografischen Metafiktion (Sourbati 1992; Yannakaki 1994),2 eine Richtung des postmodernen historischen Romans, die die traditionelle Form der Gattung seit den 1960er Jahren stark verändert hat.3 Das Konzept der 2 Vgl. Hutcheon 1988 und 1995. Zu den Hauptcharakteristika des Genres gehören die subversive Behandlung der Geschichte, die Hervorhebung von marginalisierten Ereignissen oder Figuren, die produktiven Anachronismen, Ironie und Parodie sowie die Verwischung der Grenze zwischen Fiktion und Geschichtschreibung (vgl. auch McHale 1987). 3 Hutcheon verwendet den Begriff zur Analyse von literarischen Texten, die sich zwar auf histori­ sche Stoffe beziehen, gleichzeitig dabei aber ihr subjektives Erkenntnisstreben kritisch reflektie­

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Historiographic Metafiction steht auch in einem engen Verhältnis zur Metahistory, d.h. zu modernen Geschichtstheorien, wie sie hauptsächlich von Hayden White in den 1970er und 1980er Jahren entworfen wurden (vgl. vor allem Kosmas 2002). Die Figur des Ismail Ferik Pascha ist historisch belegt. Galanáki hat eingehende Quellenstudien und Recherchen auf Kreta und in Ägypten betrieben. Selbst Kreterin und in Heraklion geboren, hat die Autorin zugleich auch mündliche Überlieferungen zur Person Ferik Pascha berücksichtigt, der, wie sie in ihren »nachträglichen Bemerkungen«4 zum Roman erwähnt, ein ferner Vorfahre ihrer Familie war. Eine von den Versionen seiner Lebensgeschichte hatte sie schon als Kind von ihrem Vater gehört (G. 2008, 201ff.).5 In einer »Anmerkung«, die dem Roman vorangestellt ist, bemerkt die Autorin: »In den schriftlichen Quellen, der historischen Forschung und der mündlichen Tradition sind nur wenige gesicherte Fakten aus seiner Lebensgeschichte erhalten geblieben. […] Die meisten überlieferten Daten betreffen seine Rolle im Verlauf des kretischen Aufstandes gegen die osmanische Herrschaft 1866-1868« (G. 2001, 7).6 Im Nachwort der griechischen Ausgabe bestätigt sie, dass »keines von den Ereignissen, die den Aufstand betreffen, erfunden ist« (G. 2008, 206), in den »Anmerkung« der deutschen betont sie, dass die »Persönlichkeit des Ismail Ferik Pascha, so wie sie die Literatur wiederzugeben strebt, […] zum größten Teil als frei erfunden betrachtet werden« »kann« – und »sogar« betrachtet werden »muss« (G. 2001,7). Die persönlichen Konf likte und Identitätsspaltungen werden tatsächlich aus der Innenperspektive des Helden geschildert, sind daher Fiktion, aber, wie die Autorin bemerkt, ohne den Bezug zur Realität der Ereignisse hätten sie keine Glaubwürdigkeit (G. 2008, 206). Das Verhältnis von Geschichte und Mythos, Realität und Fiktion, archivarischem Wissen und legendenhafter Tradition wird im Roman mehrfach thematisiert. Schon seine Struktur weist auf dieses Verhältnis hin. Der Roman besteht aus zwei längeren Teilen und einem kurzen, »Nachschrift« genannten dritten. Der erste Teil wird als Mythos und der zweite als Geschichte (Historie) charakterisiert. Im ersten Teil mit dem Titel Mythos der ägyptischen Jahre wird die Lebensgeschichte Ismails – seine Gefangenschaft auf Kreta und seine osmanische Karriere – in der dritten Person aus der Perspektive eines auktorialen Erzählers ren: »those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexive and yet para­ doxically also lay claim to historical events and personages« (1988, 5). 4 Galanáki hatte einen detaillierten Text zur Entstehung des Romans publiziert, den sie in den spä­ teren Ausgaben des Romans als »Nachträgliche Bemerkungen über den Roman Das Leben des Ismail Ferik Pascha« eingehen ließ. Diese »Bemerkungen« sind nicht in die deutsche Ausgabe aufge­ nommen worden. Sie werden, wenn nicht anders vermerkt, in meiner Übersetzung zitiert (A.A.). 5 Mit der Sigle G. 2008 und der Seitenzahl werden nach der griechischen Ausgabe von 2008 (vier­ te Auflage) die »Nachträglichen Bemerkungen über den Roman Das Leben des Ismail Ferik Pascha« zitiert. 6 Mit der Sigle G. 2001 und der Seitenzahl wird nach der deutschen Ausgabe von 2001 zitiert.

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beschrieben. Zu dieser Lebensgeschichte gehören auch Ismails inniges Verhältnis zu Ibrahim, das nicht frei von homoerotischen Andeutungen ist, die mit ihm gemeinsam unternommenen Reisen nach Europa, sein Interesse für die Fortschritte in Wissenschaft und Technik und eine Korrespondenz mit dem Bruder bis zu seiner Entsendung nach Kreta. Der zweite Teil mit dem Titel Tage der Heimkehr und der Historie ist in der ersten Person in Tagbuchform geschrieben. Der Protagonist spricht selbst von seiner Rückkehr nach Kreta, von seinen Kindheitserinnerungen, von seinem Weg in den Tod. Dieser zweite Teil enthält zahlreiche historische Informationen über die Kriegsereignisse während des kretischen Aufstands. Es scheint zunächst jedoch »paradox« (Tziovas 2003, 257), dass ausgerechnet der Teil Mythos auktorial und der Teil Geschichte hingegen aus einer subjektiven Optik erzählt wird.7 In der Kritik ist oft von Ironisierung der Geschichte die Rede (vgl. z.B. Niehoff-Panagiotidis 1998, 58) oder auch von Parodie (Thalassis 1991, 101),8 ein Charakteristikum, das oft in Historiographic Metafiction-Romanen auftaucht. Tatsache bleibt, dass die Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte im Roman in Frage gestellt wird, die Grenze wird f ließend gemacht. In Frage gestellt wird auch die Hierarchie zwischen Mythos und Geschichte, also die Überlegenheit der Geschichte gegenüber dem Mythos aufgrund ihrer vermeintlichen Zuverlässigkeit (Thalassis 1991, 102, und Kosmas 2002, 123). Der dritte und kürzeste Teil des Romans, der »Nachschrift« betitelt ist, ist wieder in der distanzierten Er-Form geschrieben. Ein neutraler Erzähler berichtet über Ismails Tod, von dem es vier verschiedene, aber gleichwertige Versionen gibt. Zwei Versionen zufolge ist er von Omer Pascha vergiftet worden, der in Ismail einen »heimliche[n] Christ[en] und Philhellene[n]« sah (G. 2001, 175), einen Verräter also, eine dritte Version besagt, dass er bei der letzten Schlacht auf der Hochebene verwundet wurde, und zwar von einer griechischen Kugel, von einer Kugel des Bruders Antonios gleichsam, da der den Kampf der Kreter finanzierte. Die vierte und letzte Version berichtet von seinem Freitod. Er habe sich im Elternhaus das eigene Messer, das er stets als Talisman bei sich trug, ins Herz gestoßen. Auch für den Tod der Mutter gibt es drei Varianten, die im ersten Teil des Romans erzählt werden. Der Roman von Galanáki gibt also für ein Faktum mehrere Varianten, und der Protagonist ref lektiert darüber, dass die Wahrheit keine einzige Form haben kann: Mir war schon lange klar, daß ein Faktum niemals nur eine einzige Wahrheit ent­ hielt. Doch diese Erkenntnis allein war weniger aussagekräftig als die hierarchi­ 7 Yannakaki (1994, 125) hat darauf hingewiesen, dass diese Bewegung zur ersten Person die all­ mähliche Verinnerlichung der Geschichte andeutet. 8 Thalassis zufolge wird im Roman die Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte völlig de­ konstruiert, so dass die Begriffe am Ende synonym erscheinen (ebd. 101). Zum Aspekt der Paro­ die in der Historiographic Metafiction vgl. Hutcheon 1989.

Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha

sche Abstufung der Wahrheiten, die von keiner unsichtbaren Hand fortgewischt werden konnten: Diese Auseinandersetzung begann sich nämlich zu einem richti­ gen Krieg auszuweiten, der immer mehr zum Ausgangspunkt verschiedener Spe­ kulationen wurde (G. 2001, 126). Selbst dort wo Namen und Ortschaften unanfechtbar real sind – und der Roman nennt bei der Beschreibung des Aufstandes akribisch die tatsächlichen Namen und authentischen Orte –, äußert der Protagonist seine Bedenken, ob auch alle anderen Einzelheiten der Erzählung real seien: Nach all den Gedanken, die ich mir über mein Leben gemacht hatte, konnte mir der Mann nicht gleichgültig sein, mit dessen Hilfe ich endgültig in die Geschichte mit ihren unanfechtbaren, in der Wirklichkeit verankerten Namen und Orten ein­ gehen würde (G. 2001, 100). Was Ferik Pascha problematisiert, ist sein Eingehen in eine Geschichte, die aufgrund der Realität der Namen und Orte den Eindruck erweckt, dass auch alle ihre anderen Details genauso real sind (vgl. Thalassis 1991, 102). Im Roman werden keine absoluten und eindeutigen historischen Wahrheiten erzählt. Galanáki selbst notiert in ihren nachträglichen »Bemerkungen«: Es würde mir gut gefallen, wenn der Leser neben seiner eigenen unanfechtbaren Auffassung der Geschichte akzeptierte, dass es nicht nur eine einzige Version der Geschichte gibt, sondern mehrere, über das gleiche Ereignis mehrere Auffassun­ gen und Abweichungen (G. 2008, 208). In diesem Sinne steht sie Linda Hutcheon sehr nah: »Metafiction teaches its reader to see all referents as fictive, as imagined« (1988, 153), und an anderer Stelle: Historiographic metafictions are not ›ideological novels‹ […]. They do not seek through the vehicle of fiction, to persuade their readers of a ›correctness‹ of a par­ ticular way of interpreting the world. Instead they make their readers question their own (and by implications others‹) interpretations. They are more ›romans à hypothèse‹ than ›romans à thèse‹ (Hutcheon 1988, 180). In diesem Sinne vertritt der Roman die These, dass jede Narrativierung der Geschichte zu einer Veränderung, selbst Verfälschung ihres Gegenstandes führt. »Die Geschichtsdarstellung beinhaltet Phantasie«, bemerkt die Autorin und ergänzt, dass dies eine »schriftstellerische Versuchung« für sie darstellte (G. 2008, 207). Die Aussage erweist sich den Hauptthesen von Hayden White (1973) verwandt. Bei White wird die Möglichkeit einer objektiven und authentischen Ge-

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schichtsdarstellung abgelehnt, da die Geschichte nur als textuelle, sprachliche Konstruktion existiert und daher ebenso wie die fiktive Literatur das Medium der Erzählung nutzen muss. Galanáki relativiert die Möglichkeit einer neutralen Geschichtsschreibung, einer einzigen Darstellung der Nationalgeschichte Griechenlands und dekonstruiert dadurch den Didaktismus des traditionellen historischen Romans (vgl. dazu Kosmas 2002, 195). Dieser Didaktismus des historischen Romans, so Kosmas weiter, der sich nicht nur auf die historischen Informationen bezieht, sondern vielmehr auf die Festigung einer nationalen Mythologie, stellt die Grundlage für eine nationalistische Pädagogik im Sinne von Homi Bhabha dar, als eine »nationalist pedagogy, giving the discourse an authority that is based on the pre-given or constituted historical origin in the past« (Bhabha 1994, 145; Herv. im Original). Galanáki zeigt auch die andere Seite des kretischen Aufstandes und schildert z.B. die Gräueltaten, die Griechen gegen die Muslime verübt haben (G. 2001, 92f.), die in der griechischen Geschichtsschreibung verschwiegen werden (vgl. Niehoff-Panagiotidis 1998, 60). So steht der Roman im Gegensatz zu den Wahrheiten der traditionellen griechischen Historiographie, aber auch zu früheren literarischen Darstellungen des kretischen Aufstands.9 Im Roman erfolgt somit eine Revision des kollektiven historischen Gedächtnisses. Strategisch lässt Galanáki die Geschichte nicht aus der Perspektive eines aufständischen Kreters erzählen, sondern aus der eines Gegners: »Die Person von Ismail Ferik Pascha als Feind gab mir die Möglichkeit, von den ersten Monaten einer Revolution zu erzählen, dabei auch von Einzelheiten und Schatten, die als antiheroisch, widersprüchlich, selbst verräterisch galten« (G. 2008, 205). So konstruiert Galanáki das Andere einer ethnozentrischen Narration (Akritidou 2019, 405). Für die Erzählhaltung des Romans ist es wichtig, dass die Stimme des Anderen hörbar wird. Zu betonen ist auch, dass Galanáki sich der Vergangenheit mit Blick auf die Gegenwart nähert. In ihren »Bemerkungen« notiert sie, dass sie sich im Roman zwar auf eine bestimmte Epoche der Vergangenheit bezieht, diese aber als sehr modern und gegenwartsbezogen betrachtet und zwar in zweifacher Hinsicht, erstens zur Interpretation der heutigen Epoche und zweitens zum besseren Verständnis von bestimmten Aspekten des 19. Jahrhunderts (G. 2008, 204). Der Neubearbeitung der Vergangenheit liegt ein modernes Interesse zugrunde. Die Frage einer multiplen Vergangenheit wird im Roman in Verbindung mit der multiplen Persönlichkeit des Protagonisten in Verbindung gebracht, die im Folgenden weiter diskutiert wird.

9 Wie z.B. in Pantelis Prevelakis Werk Armes Kreta (Παντέρμη Κρήτη 1945); vgl. dazu Kosmas 2002, 96.

Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha

III. Die multiple Persönlichkeit des Ismail Ferik Pascha und die moderne griechische Identität Bei dem Roman handelt es sich zweifellos auf mehreren Ebenen um ein Narrativ über Identität (Tziovas 2003, 250). Ismail Ferik Pascha, ist Grieche und Osmane, Europäer und Orientale, Moslem und Christ. Seine angedeutete, latente Homosexualität verweist auch darauf, dass er nicht nur zwischen den Nationen und Religionen, sondern auch zwischen den Geschlechtern bewegt. Scharfe Trennungen und klare Identitätsbestimmungen werden hier aufgelöst und in Frage gestellt. Rhéa Galanáki zeigt durch ihren Protagonisten die Unmöglichkeit einer festen und unwandelbaren nationalen Identität. Anders als der traditionelle historische Roman, der Sourbati (1992, 124) zufolge als Vehikel des Nationalismus-Diskurses fungiert, verwendet Galanáki hier die Strategien der Historiographic Metafiction mit dem Ziel, das Analogon einer zeitgenössischen Identitätsversion zu erforschen, die nicht als eine monosemantische Einheit durch nationalistische Klassifikationen bestimmt ist, sondern als ein Topos von Gegensätzen verstanden wird. Galanáki notiert in ihren »Bemerkungen« über den Protagonisten: »Er war in allem widersprüchlich, doppelt. Ich habe versucht, soweit es möglich war, das simple Psychogramm, die plakativen Darstellungen zu vermeiden. Die nüchterne Verinnerlichung der Gegensätze sollte das menschlichste Element, das verwandteste zwischen Ismail und uns heute darstellen« (G. 2008, 208). Schon der Titel des Romans verweist auf kulturelle Verf lechtungen, indem er sich auf drei verschiedene Kulturwelten bezieht, in denen sich der Protagonist bewegt: Griechenland, den Orient und den Westen (vgl. Thalassis 1991, 100; Tziovas 2003, 259; Calotychos 2003, 272). Das Wort Βίος legt die Assoziation Griechenland und Orthodoxie nahe, indem es auf die Hagiographien oder Synaxarien (liturgische Bücher) der orthodoxen Tradition verweist, die Darstellungen des Lebens von Heiligen enthalten. Die Tatsache, dass nach dem Wort Βίος der Name eines osmanischen Paschas folgt, gehört zu den subversiven Ironien des Romans (Batsaki 2013, 229). Der Titel verweist ebenso ironisch auf den bekannten Roman von Níkos Kazantzákis, Alexis Sorbas (1946), dessen griechischer Originaltitel auch das Wort Βίος enthält: ein Roman, der – besonders durch seine populäre Verfilmung – mit Stereotypen von Griechentum und Männlichkeit verbunden ist (vgl. dazu Calotychos 2003, 272). Der Name Ismail Ferik Pascha konnotiert das Osmanische, und der Untertitel, spina nel cuore (ein Dorn im Herzen) den Westen, denn so wurde in einem venezianischen Manuskript des 13. Jahrhunderts die aufständische Insel Kreta charakterisiert. Drei Welten mit Differenzen und Überschneidungen, die auf die traditionellen Spannungen griechisch-osmanisch und orientalisch-west-

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lich hindeuten, werden hier gegenübergestellt.10 Der Roman zeigt deutlich die Spaltung der Persönlichkeit von Ismail in ein doppeltes Ich: er hat zwei Namen, zwei Familien, zwei Religionen, zwei Heimaten. Es gibt zahlreiche Szenen in dem Roman, die auf den Tod und die Wiedergeburt des Protagonisten hindeuten. Sein erstes Leben auf der Lasithi-Hochebene auf Kreta erfährt bei seiner Verschleppung aus einer Höhle durch die Osmanen ein gewaltsames Ende, dem eine ebenso gewaltsame Wiedergeburt in sein zweites ägyptisches Leben folgt. Aus der Höhle, die die Gebärmutter symbolisiert, kommt er als »Neugeborener« heraus (G. 2001,15),11 und das einzige Beweisstück seines früheren Lebens ist ein Messer, »eine rostige grüne Klinge« (G. 2001, 14), das er in der Höhle fand und das er als Talisman bis zum Ende seines Lebens bei sich trägt (G. 2001, 52, 57, 73, 88, 189). Seitdem hat er »sein Leben dem Lauf der Schwerter geweiht« (G. 2001, 73, 77; vgl. auch 14). Sein ägyptisches Leben, das fünfzig Jahre dauert, ist das bewusste Leben des Erwachsenen, verbunden mit Ausbildung und militärischer Karriere. Sein griechisches Leben, das mit seiner Kindheit identifiziert wird, ist unausgesprochen in seiner Erinnerung als traumhafte, imaginäre Welt auf bewahrt und in Form von verdrängten Bildern eng verbunden mit seiner Mutter. Als er als Erwachsener nach Kreta zurückgekehrt, wird diese unsichtbare Welt in die sichtbare eintreten, was man als die Wiederkehr des Verdrängten deuten könnte, oder, wie es im Text heißt, als »die Revolution der Bilder«.12 Sein zweiter Aufenthalt auf Kreta dauert bezeichnenderweise wiederum neun Monate. In der Schlussszene in seinem unheimlichen Elternhaus, wo er sich mit seiner Vergangenheit und mit den Phantasmen seiner Eltern versöhnt, erfährt er eine neue »Wiedergeburt«, die ihn zum Tod führt. Es wird mehrfach betont, dass der Protagonist die zwei deutlich getrennten Teile seines Lebens separat hält, den Kontakt zwischen ihnen und damit die Herstellung einer Ganzheit verhindert (vgl. Anagnostopoulou 2011,146). Ismail wird die zwei Teile nie versöhnen können, obwohl es auch Momente gab, wo er zwischen ihnen Brücken zu schlagen versucht (G. 2001, 42f.), jedoch vergebens, da die eine Identität die andere bekämpft und er sich zwischen den beiden gefangen genommen fühlt: »Wer hatte mich stärker an sich gefesselt, die verlorene Heimat oder Ägypten?« (G. 2001,150). Er erlebt seine Identität wie eine offene Wunde (G. 2001, 77). Anders als der Bruder in Athen, der seine Kindheit »als übergangslos 10 Tziovas (2003, 259) bemerkt eine weitere Verflechtung: Der Name der beiden Brüder, der Kam­ banis-Papadakis, Sohn des Frangios, lautet, weist auf eine griechisch (Kambanis-Papadakis)-ve­ nezianische (Sohn des Frangios) Verflechtung hin. 11 Vgl. auch: »daß er mit den Ellenbogen auf dem Rücken aus der Höhle geführt worden war, um ein neues Leben als Gefangener zu beginnen« (G. 2001, 15). 12 So heißt es wörtlich im griechischen Originaltext (G. 2008, 72). In der Übersetzung »Bilderflut in seinem Inneren« (G. 2001, 65). Vgl. dazu Kolitsi 2007, 534.

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ins Heute reichende Erinnerung« erlebte, musste seine Kindheit für ihn eine »verdrängte Erfahrung« bleiben (G. 2001, 76). Das »Gefühl der Trauer« konnte er nie »nach außen zeigen«, so bedrückte ihn die »stumm angewachsene Trauer« (G. 2001, 77). Im Moment einer möglichen Wiedervereinigung – der wäre beim Besuch des verlassenen Elternhaus – kommt der unlösbare Konf likt zum Vorschein, die Lage wird ausweglos, und Ismail stirbt. Dort macht er die Feststellung, dass das Ich ein Anderer ist, sein Ort ist ein Zwischenraum. Die Spaltung seiner Identität zeigen auch zwei Versionen seines Todes, in denen er entweder von den Türken als Verräter vergiftet oder von den Griechen als ein Fremder und Unerwünschter getötet wird. Auch die zwei Gräber, die für ihn errichtet werden – ein Ehrengrab in Kairo und ein Kenotaph auf Kreta – verweisen weiter auf Ismails gespaltene Existenz im Spannungsfeld von zwei Kulturen.13 Eine der zentralen Ambivalenzen im Charakter Ismails ist die Unsicherheit in Bezug auf seine Männlichkeit. Die Erotik in seinem Leben ahnt man nur durch seine nicht ausgelebte und uneingestandene Liebe zum Kronprinzen Ibrahim, der für ihn das einzige Schöne darstellt. So kann man von einer doppelten Identitätskrise sprechen, da sie sowohl die national-religiöse Seite seines Ichs als auch seine Geschlechtsidentität betrifft (Aleksić 2007, 154). Der Roman fokussiert an keiner Stelle auf sein Familienleben in Ägypten.14 Wir erfahren, dass er nach dem Tod von Ibraim »standesgemäß« heiratete und so »die Trauer über den Verlust des geliebten Freundes« »milderte« (G. 2001, 49). Er hat also einen Harem mit mehreren Frauen und Kindern, doch die einzige weibliche Figur, mit der er sich vertraut fühlt, bleibt bis zum Ende seine Mutter bzw. die Erinnerung an sie. Er identifiziert ihr Bild mit dem Bild der ersten Ehefrau seines Harems (G. 2001, 85) oder er projiziert es auf das Bild des engen Freundes Ibraim. In den meisten Erinnerungen an Ibrahim verwendet Ismail ein Vokabular mit erotischen Konnotationen: Und dennoch war Ibrahim da – genauso schön, wie ich ihn in Erinnerung hatte – und setzte sich neben mich auf den Boden. Er legte seine Hand auf meine Schulter und blickte zum Kloster. Da haßte ich ihn zum ersten Mal aus ganzem Herzen da­ für, daß er niemals den Wunsch verspürt hatte die Herbstlandschaft meiner Kind­ heit zu sehen, während ich mich ihm ganz gewidmete hatte […]. Ich haßte ihn dafür, 13 Es ist nicht zufällig, dass der Roman von Galanáki in der Forschung mit Orhan Pamuks White Castle (vgl. Calotychos 2003) und mit Georgios Vizyinos’ Moskóv – Selim (vgl. Tziovas 2003) vergli­ chen wird. Beide Texte thematisieren die Identitätsspaltung zwischen einem westlichen Selbst und einem orientalischen Anderen. 14 Die Überlieferungen über das persönliche Leben der historischen Figur waren auch gespalten, einige Quellen wollten ihn unverheiratet bis zu seinem Tod, andere sprachen von einem Harem und Kindern. Eine Ehe, die auf einer Liebesbeziehung basiert, würde die Absichten des Romans verwickeln, bemerkt die Autorin, die sich selbst für eine konventionelle standesgemäße Ehe entschied (G. 2008, 209f.).

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daß er als Sohn eines herausragenden Herrschers vorgab, mich zu lieben […]« (G. 2001, 113).15 Aber auch in dieser Hinsicht vermeidet die Autorin die klaren Bestimmungen und eindeutigen Konnotationen: »Sichtbar wird eine starke Beziehung zu Ibrahim, die ich aber vorsichtig vermied ans Licht zu bringen und sie so zu bestimmen, dass sie monosemantisch würde« (Galanáki 2008, 211). Alles beginnt in dieser Höhle, die das Trauma seines Lebens versinnbildlicht: sie ist der Ort seines ersten Todes und seiner Wiedergeburt, der Ort des Verlustes seiner Familie, ein Ort, der auch mit den Ambivalenzen seiner Gender-Identität verbunden ist. Sein Ort wäre eher draußen zwischen den kämpfenden Männern, er aber bleibt mit den Frauen und Schwachen in der Höhle.16 So haben seine Erinnerungen an die Höhle, in denen die Gestalt der Mutter vorherrscht, immer einen Hauch von Schamgefühl, dass es ihm nicht gelungen war, sich als Mann zu erweisen. Er gehorcht seiner Mutter nicht, die ihn zu sich zurückruft, er geht weiter in die Höhle, als wollte er die Tiefen seiner Seele entdecken. Das sich Entfernen von der Mutter und der Fund des Messers signalisieren das Verlassen der mütterlichen Sphäre und den Übergang in die Sphäre der Macht des Vaters und seine Bewegung im »Lauf der Schwerter« (G. 2001, 73, 77). Die Lebensbewegung von Ismail wurde oft psychoanalytisch interpretiert. Auf der Basis von Julia Kristevas Theorie analysiert Dimitris Tziovas (2003, 265ff.) Ismails Leben als einen Übergang von der semiotischen zur symbolischen Phase und schließlich als eine Rückkehr zur semiotischen, eine Kreisbewegung also. Das Semiotische wird mit dem Nonverbalen, mit optischen und akustischen Eindrücken, als eine verdrängte, unbewusste Sprache verstanden, die Kristeva (1974) auch mit dem Begriff Chora umschreibt. Das Semiotische ist weiterhin mit dem Mütterlichen und mit Weiblichkeit assoziiert, mit Phantasien und Wünschen, die außerhalb der Grenzen des patriarchalen Systems liegen. Das Symbolische auf der anderen Seite wird mit der Sprache, mit dem Vater, mit Verhaltensnormen, Sprachmustern und Rollenverteilungen des 15 Ismails ambivalente Geschlechtsidentität wird auch durch sein Verhältnis zu seinem Bruder ge­ zeigt. Obwohl sie verschiedene Wege gegangen sind, werden der Moment ihrer Trennung und die Angst vor ihrer Gefangenschaft so beschrieben: »Beide fühlten, daß in solchen Zeiten die strenge Erziehung, die schon heranwachsenden Männern Zärtlichkeiten verbot, keine Rolle mehr spielte. Sie verloren kein Wort drüber, duldeten schweigend die klammernde Hand des anderen Körpers, da großes Gerede die geheime Quelle der Zärtlichkeit zum Versiegen ge­ bracht hätte. Denn sie erwuchs aus einer schlagartig hereinbrechenden Verzweiflung, die da­ rauf gründete, daß die zarte Wange des Bruders an die der Mutter erinnerte und der Schweiß ihrer langen Wanderung nach Milch roch« (G. 2001, 23; vgl. dazu auch Aleksić 2007, 158f.). 16 »Sein angestemmter angestammter Platz war also unter der Leichen der hingemordeten Män­ ner auf dem Marktplatz, und zwar genau neben seinem toten Vater« (G. 2001, 15; vgl. dazu Aleksić 2007, 141, und Calotychos 2003, 272).

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Patriarchats verbunden. So würde die Szene in der Höhle bedeuten, dass der Protagonist das verborgene schützende semiotische Reich der Mutter verlässt (Tziovas 2003, 267), um in das Reich des Symbolischen einzutreten. Die ägyptischen Jahre sind in der Tat mit der symbolischen Ordnung verbunden (Macht des Vaters, Sprache, Ausbildung, Karriere). Tziovas (2003, 268) liest die Nostalgie des Protagonisten für seine Heimkehr (νόστος), als Nostalgie für das Semiotische und die Negierung des Symbolischen. Rückkehr zur Chora wäre als Rückkehr zur Mutter und zur Heimat zu verstehen. Ismail kann die zwei Sphären, die in ihm weiter in problematischen Analogien existieren (Tziovas 2003, 268), nicht harmonieren, das verursacht eine ständige und verwirrende Ambivalenz. Zu einer Klärung dieser Ambivalenz kommt es in der Wiederkehrepisode. Seine Erfahrung im Elternhaus führt ihn zu seinen Wurzeln und zu seiner Muttersprache zurück. Dort wird er zum kleinen Jungen, er ist nicht mehr der Besatzer und der Herrscher, sondern »schwach und hinfällig« (G. 2001, 163): »Die Tür, an die ich mich preßte, war plötzlich in die Höhe geschossen, während ich zu einem Kind geworden war« (G. 2001, 162f.). In einer Szene, die stark an die νέκυια‹ das Totenopfer des Odysseus erinnert, führt er ein gespenstisches Gespräch mit der ganzen Familie. Besonders wichtig wird hier die Figur des leiblichen Vaters, der in seinen Erinnerungen bei seinem osmanischen Leben völlig abwesend war. Die Mutter war die einzige Person, an die er sich immer erinnert hatte, wobei er sicher war, dass sie ihn immer bedingungslos liebte, unabhängig davon, was er tat und was aus ihm geworden war. Der Vater dagegen fehlte immer in seinen Gedanken. Εr weiß, dass die Verdrängung des Vaters in seiner Erinnerung mit seinem Schamgefühl zu tun hat, dass er damals nicht mit den Männern gekämpft, sondern Zuf lucht in der Höhle gefunden hatte. Nun kommt er als verlorener Sohn zurück und bittet um Vergebung und die Anerkennung des Vaters. Im Reich der Schatten, versöhnt er sich mit ihm: »Deshalb heiße ich dich willkommen, obwohl mir die Entscheidung sehr schwer fiel. […] Du mußt wissen, daß ich den gewaltsamen Tod dem Verlust der Ehre immer vorziehen würde« (G. 2001, 165f.). Die Versöhnung bedeutet eine letzte Wiedergeburt für Ismail-Emmanuel, die ihn aber zum Tode führt. Ihm gegenüber war ich der verschlossene und bockige Junge geblieben, der sich mit seinem Bruder verbündete. Er hatte in Ägypten von mir als osmanischem Wür­ denträger nichts wissen wollen, sondern gewartet, bis ich als Kind wieder in das­ selbe Haus treten würde, bevor er mich wahrnehmen konnte. Und sei es auch nur als Person, die seine eigenen Lebensentscheidungen weiterführen würde. Er hatte darauf gewartet, mich weinen zu sehen (G. 2001, 167). Der Vater beansprucht ihn für sich selbst, für seine Religion, für seine Heimat und Nation. Auf dieser Grundlage argumentiert Tatjana Aleksić (2007, 144ff.), im Gegensatz zu Tziovas, dass die Lebensgeschichte des Protagonisten eigentlich

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nicht die Bewegung von der Macht des Vaters zurück zum mütterlich Semiotischen beschreibt, sondern die von der Macht des zweiten Vaters Mohammed Ali zurück zu seinem leiblichen Vater und zu dem was er repräsentiert: Heimat, Nation, Sprache, Religion. Er tauscht die angenommene Identität mit der ursprünglichen, er vollzieht die Bewegung von Ismail zu Emmanouil, zu einer individuell-familiären Selbsterkennung, die ihn tiefer im Bereich des Vaterrechts etabliert. Unabhängig davon, wie man die Lebensbewegung des Protagonisten interpretiert, die »letzte Erkenntnis« (G. 2001, 188) am Ende des Romans ist eine andere. Der Protagonist kommt zur Erkenntnis, »daß es demnach keine Heimkehr gab und auch niemals geben konnte« (G. 2001, 189): Jahrelang war er davon ausgegangen, daß er seine verlorene Unschuld dort wie­ derfinden würde. Doch es würde ihm nicht vergönnt sein, das Ende der Unschuldi­ gen zu teilen, solange er nicht einer von ihnen wurde. In dieser Nacht also lächelte ihm die Unschuld in seinem alten Heim wie der wiedergefundene Schutzengel der Erinnerung zu. Er konnte das Wunder kaum glauben und streckte seine Kinder­ hand aus, um den Engel zu berühren. Da erst sah er die schwarzen Nattern, die sich um das strahlende Gesicht schlängelten, und wich zurück. Plötzlich durchzuckte ihn der Gedanke, daß nichts so unschuldig war oder sein konnte, daß es nicht ver­ lorenginge. Und daß es demnach keine Heimkehr gab und auch niemals geben konnte (G. 2001, 188f.). Eine Rückkehr zur Unschuld des Semiotischen erweist sich als trügerisch, ebenso wie die Rückkehr zur symbolischen Ordnung des Vaters. Es gibt keine Heimkehr. Sein Freitod ist nicht auf die Unmöglichkeit einer Rückkehr zu einer einheitlichen nationalen und familiären Identität zurückzuführen, sondern eben auf die Erkenntnis, dass eine solche nicht existiert. Der ganze Roman wird in der Tat durch die Idee der zyklischen Rückkehr strukturiert, als mythischer νόστος,17 dem aber immer die Symbolik der Gerade (Nil, Lauf der Schwerter) entgegengesetzt wird (vgl. Calotychos 2003, 273). Der zyklische Weg ist daher nicht selbstverständlich und unproblematisch. Beaton (2015, 470f.) bemerkt, dass dadurch nicht nur der alte Mythos des νόστος widerlegt wird, sondern auch der neue Mythos der nationalen Wiedergeburt Griechenlands aus dem Geiste der Antike. Die Heimkehr des Helden erweist sich als unmöglich, seine Sehnsucht als tödlich. So weist er die Identitäten des Osmanen und des Griechen von sich. Das ist seine »letzte, innerliche Entblößung« (G. 2001, 132). 17 Maronitis (1992) und Christodoulidou (2005) betonen, dass der νόστος zu der tieferen ideolo­ gischen Basis des Romans gehört, der eng mit dem Tod verbunden ist. Nach dem Prototyp der homerischen Odyssee bestimmt es die geheime ideologische Achse der Mythisierung vom An­ fang bis zum Ende des Romans.

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Galanáki dazu: »Der Konf likt ideologischer Elemente (Nationalität, Religion u.a.) musste von dem Schlachtfeld zum Gebiet der inneren psychischen Konf likte gebracht werden. Geschichte sollte also die Projektion der inneren Welt meines Romanhelden sein, der bis zum Ende keine starke ideologische Stütze haben würde. Nur eine endlose Einsamkeit. Die historischen Ereignisse sollten Schichten der Begründung einer psychischen Qual sein, die Studie einer ›innerlichen Entblößung‹, wie ich es im Buch formuliere« (G. 2008, 206). Die Erkenntnis betrifft Beaton zufolge (2015, 471) nicht nur den Protagonisten Emmanouil/Ismail, sondern das ganze Griechentum: wie der Protagonist den osmanischen Teil seines Lebens nicht tilgen kann, genauso kann Griechenland die osmanische Periode seiner Geschichte nicht ausstreichen.

IV. Die Dekonstruktion von Stereotypen und Nationalmythen All die Schwierigkeiten von Ismail-Emmanouil verweisen auf kollektive nationale Fragen und entlarven die Unmöglichkeit einer reinen, monolithischen Nationalidentität. Im Licht der Fragen, die der Roman von Galanáki stellt, kann die moderne griechische Identität nicht als das idealisierte eurozentrische Konstrukt betrachtet werden, das seit den griechischen Unabhängigkeitskriegen (1821-1827) sorgfältig kultiviert wird, sondern muss als eine Mischung von orientalischen und westlichen Einf lüssen verstanden werden. Als metahistorischer Roman dekonstruiert Galanákis Werk nationale Mythen wie etwa die unveränderbaren Unterschiede zwischen Griechen und Türken. Vor dem Hintergrund verschiedener literarischer Werke der griechischen Literatur des 20. Jahrhunderts,18 fasst Kosmas (2002, 184) die stereotypen Bezeichnungen für die beiden Völker zusammen. Die Türken werden als Barbaren, autoritär und gewalttätig, ungebildet und respektslos, dumm, dick und träge dargestellt, als haschischrauchende Pädophile; im Gegensatz dazu erscheinen die Griechen als kultiviert und rechtschaffen sowie als aufrichtige und leidenschaftliche Freiheitskämpfer. Galanáki vereinigt in einem Subjekt die beiden Kategorien, die in den bisherigen historiographischen und literarischen Quellen als konträr, ja feindlich und gegenläufig betrachtet wurden. Das Andere, Feindliche wird nun als Teil des Ich verstanden (Akritidou 2019, 405).19

18 Vor allem von Aris Fakinos, Nikos Kazantzakis, Pantelis Prevelakis, Ismini Kapandai und Maria Lambadaridou-Pothou. 19 Der junge Emmanouil erkennt sich selbst im Gesicht des osmanischen Eroberers, Hassan Pa­ scha, zum ersten Mal als das zukünftige Andere. Dieser war auf Kreta von seinem scheuenden Pferd gestürzt und getötet worden: »Der Junge hob den getöteten Reiter vorsichtig hoch […] und ließ ihn sogleich wieder erschrocken fallen: Das Gesicht des Eroberers glich seinem eigenen Gesicht« (G. 2001, 16f.). Das Erkennen von sich selbst im Gesicht des Anderen kündigt schon im

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Die Tradition der Darstellung von harten Gegensätzen und reinen Identitäten beginnt schon in der europäischen philhellenischen Literatur, die in der Zeit der griechischen Unabhängigkeitskriege entsteht. Ich werde dieses Phänomen im Folgenden kurz am Beispiel des deutschen Philhellenismus20 veranschaulichen. Dieser beginnt am Anfang des 19. Jahrhunderts auch politische Dimensionen anzunehmen und Auswirkungen zu haben. Die griechischen Unabhängigkeitskriege gegen das Osmanische Reich werden tatkräftig von den Deutschen unterstützt, vor allem durch die Gründung von zahlreichen philhellenischen Vereinen, die der griechischen Sache auch finanziell helfen, und von Freiwilligengruppen, die nach Griechenland gehen, um auf der Seite der Griechen zu kämpfen (vgl. Quack-Eustadiades 1984; Heß, Agazzi und Décultot 2009). Parallel dazu entsteht eine umfangreiche philhellenische Literatur, in erster Linie Gedichte, Lieder und Liedersammlungen, die den griechischen Aufstand besingen.21 Sie stammen meist von unbekannten und heute vergessenen Dichtern, aber auch von bekannten, wie Wilhelm Müller oder Adelbert von Chamisso.22 Dass diese Bewegung kein eindimensionales Phänomen war, sondern ein komplexes, hat die Forschung vielfach betont. Vor allem sind die zahlreichen Projektionen im Kontext dieser Bewegung schon früh hervorgehoben und immer wieder bestätigt worden (vgl. Arnold 1896, 132; Scheitler 1994/1995; Polaschegg 2005, 241-275). Drei Aspekte ragen besonders heraus: Viele demokratisch gesinnte Deutsche sahen die griechischen Aufstände als Erhebung eines Volkes gegen eine staatliche Willkürherrschaft und Unterdrückung, sie fungierten daher für sie als Projektionsf läche für die damals in ihren Augen notwendige und angestrebte Demokratisierung Deutschlands. Für andere stand die Religion im Vordergrund. Die Ereignisse in Griechenland nahmen sie als einen Akt der Befreiung einer christlichen Minderheit von ihren islamischen Unterdrückern wahr, als einen Kampf zwischen Christentum und Islam. Für die Gebildeten schließlich, die die Antike verehrten, war die Befreiung Griechenlands mit der Wiederbelebung des antiken Ideals identisch. Diese verschiedenen BeVoraus sein späteres Leben an, aber auch seinen Tod als Eroberer auf der Insel (Calotychos 2003, 273). 20 Der deutsche Philhellenismus entsteht bekanntlich im Deutschland des späten 18. Jahrhun­ derts als eine zunehmende Griechenlandbegeisterung aufgrund der Beschäftigung mit der griechischen Antike, eine Epoche in der man die Wurzeln der eigenen Kultur entdeckte. Die­ se Tendenzen prägten die Literatur und die Kunst der Zeit, die Epochen der »Klassik« bzw. des »Klassizismus«, die die Gegenwartsideale auf die verklärte Antike projizierten. 21 Vgl. z.B. die Sammlung philhellenischer Gedichte von Michael Busse (2006). Dazu sollten auch die zahlreichen Romane der sogenannten Unterhaltungsliteratur gezählt werden, sowie Dra­ men, die den griechischen Unabhängigkeitskrieg thematisieren; vgl. dazu Puchner 1996. 22 Wilhelm Müller: Lieder der Griechen (1821), Neue Lieder der Griechen (1823), Neueste Lieder der Griechen (1824), Missolunghi (1826); Adelbert von Chamisso hat mehrere philhellenische Balladen verfasst, bekannt ist sein Gedichtzyklus Chios (1829).

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deutungen des griechischen Aufstandes werden immer wieder in der deutschen philhellenischen Literatur thematisiert. Die absolut gesetzten Oppositionen – die Neugriechen stehen für Demokratie, Christenheit und antikes Ideal und die Osmanen für absolutistische Willkürherrschaft, Islam und Barbarei – bestimmen zum größten Teil die Rhetorik dieser Literatur (vgl. Polaschegg 2005, 253ff.; Wetzel 1999). Besonders wird auf den religiösen Aspekt abgehoben: Allah! ruft der Moslem, hauet Greise nieder, Kinder, Frauen; Christus! ruft der Raja, schauet Himmelwärts mit Hochvertrauen (aus: Adelbert von Chamisso, Chios). Die Bildlichkeit und Ästhetik dieser Lyrik trägt oft den Charakter von Gewalt und Grausamkeit, die einseitig die Osmanen betrifft (Polaschegg 2005, 255ff.), die respektlos grausam die Gegner quälen und töten, Mütter und Jungfrauen schänden und Kirchen zerstören. Unverkennbar distanziert sich Galanáki von diesen beiden literarischen Traditionen, indem sie bereits im doppelten Namen ihres Protagonisten die beiden Religionen und kulturellen Welten verbindet. Nicht zufällig ist der ursprüngliche Name des Protagonisten Emmanouil (Εμμανουήλ), die griechische Version des Namens »Immanuel«, der im biblischen Hebräisch »Gott mit uns« bedeutet. Sein zweiter Name ist Ismail, also der des Sohnes von Abraham und Agar, Urvater des Islams (vgl. Kosmas 2002, 200f.). Galanáki fragt in ihrem Roman auch kritisch nach dem Anteil des philhellenischen Westens bei der Entstehung und Kultivierung eines einseitig griechischen eurozentrischen Bewusstseins nach der Gründung des neugriechischen Staates (1830), bei dem jeder Bezug zur osmanischen Vergangenheit getilgt war. Die Konstruktion einer stabilen Nationalidentität mit Wurzeln in der Antike und Blick auf Europa entsprach der ideologischen Auffassung der ersten griechischen Regierung unter dem deutschen König Otto und seinen Nachfolgern, die damit auch den aktuellen europäischen Strömungen folgten. Die neue Hauptstadt Athen sollte den europäischen Visionen zufolge eine Symbol-Stadt werden, und den antiken klassischen Geist widerspiegeln. Die meisten Gebäude, zumeist auch von Deutschen Architekten errichtet, wiederholen Rhythmen und architektonische Charakteristika des klassischen Griechenland. In seinem ersten Brief beschreibt der Bruder Antonios Athen wie eine fremdbestimmte Stadt, als Vision, Traum und Mythos der Westeuropäer: Antonis schrieb ihm, Athen werde, ohne seine Symbolkraft jemals eingebüßt zu haben, als neue Stadt wiedergeboren. Die Art und Weise, in der die Europäer es sich über Jahrhunderte hinweg als Marmorstadt erträumten, lenkte die Pläne der

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Architekten in eine bestimmte Richtung bei dem Versuch, ihrer Vision Gestalt zu verleihen. Die unbedeutende Festung der Türken, das ausgedörrte Land rings um das gegen Ende des Aufstandes zerstörte Dorf, mit halbverschütteten antiken Ruinen übersät, mußte nun zum einen dem Mythos, der den europäischen Geist geprägt hatte, und zum anderen den Erfordernissen einer modernen Hauptstadt gerecht werden (G. 2001, 61) In dieser Epoche wird das Kontinuitätsideologem von allen Seiten verstärkt: Die ununterbrochene Kontinuität des Griechentums seit der Antike aufzuzeigen, die auf dem Argument der gemeinsamen Abstammung, sowie der Sprache, der Traditionen und der Sitten basierte, war die wichtigste Bestrebung des neugegründeten griechischen Staates. Dadurch konnte er auf dem Spielfeld der Staatenbildungen Europas im 19. Jahrhundert seine Existenzberechtigung sichern (vgl. Damaskos 2011, 75-87). Der Historiker Konstantinos Paparrigopoulos (1815-1891) schildert in seinem großangelegten fünfzehnbändigen Werk Geschichte der griechischen Nation (1860-1876) eben diese Geschichte als eine lineare und kohärente Entwicklung »ohne Risse und Brüche« (Damaskos 2011, 75) von der Antike bis zur Gegenwart, wobei Byzanz als Verbindungsglied dargestellt wird. Die Konzeption der griechischen Nation als eine untrennbare und kontinuierliche Einheit hat zur Gestaltung von festen nationalen Identitäten geführt. Die Illusion, mit der Generationen von Griechen aufgewachsen sind, ist das über Jahrhunderte einheitliche Griechentum (Damaskos 2011, 76). Charakteristisch dabei ist, dass vor Paparrigopoulos schon der deutsche Historiker Johann Wilhelm Zinkeisen (1803-1863) in seinem Werk Geschichte Griechenlands vom Anfange geschichtlicher Kunde bis auf unsere Tage (Leipzig 1832) die griechische Geschichte als ein Kontinuum des gleichen Volkes im gleichen geographischen Raum über einen Zeitraum von 3000 Jahren und mit Byzanz als Verbindungsglied dargestellt hatte (vgl. Kosmas 2002, 202). Das ideologische Konstrukt der Kontinuität wurde nicht nur von der Geschichtschreibung, sondern auch von zwei weiteren Wissenschaften, der Archäologie und der Architektur, vertreten und damit weiter erhärtet. Die Ausgrabungen, die im 19. Jahrhundert vor allem von deutschen und griechischen Archäologen systematisch betrieben wurden, haben zu beeindruckenden Entdeckungen geführt, die als materielle, sichtbare Belege für die glorreiche Vergangenheit Griechenlands und für ihre Kontinuität bis zur Gegenwart dargestellt wurden.23 Archäologische und Aufräumungsarbeiten wurden nach der Gründung des griechischen Staates zuerst vor allem in der neuen Hauptstadt Athen durchgeführt: »Die Hauptstadt Athen sollte als idealer städtischer Raum auf dem attischen Boden Gestalt annehmen, in einer bewussten Abkehr von der aktuellen und allgegenwärtigen Vergangenheit 23 Zu der Frage, wie nationale Imagination und archäologisches Material wechselseitig auf einan­ der wirken vgl. Hamilakis 2007.

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des türkischen Dorfes« (Lang-Grypari 2012, 76). Schwerpunkt dabei waren die Arbeiten auf der Akropolis, die unter der Leitung von griechischen und vor allem deutschen Archäologen und Architekten wie Ludwig Ross oder Leo von Klenze durchgeführt wurden. Wir lesen bei Galanáki: »Denn geplant sei, Athen solle das Alte und das Moderne, die Zeichen der Geschichte und die Symbole der Macht sowohl vereinen als auch einander gegenüberstellen. Zwei symbolische Zentren seien bestimmt worden, in deren Umfeld sich die Stadt entfalten sollte: die Akro­ polis und der Königspalast« (G. 2001, 61f.). Charakteristisch dabei ist, dass alle osmanischen Überreste zerstört oder entfernt wurden, so dass das Monument in seiner alten reinen antik-klassischen Schönheit strahlen konnte (vgl. Hamilakis 2007, 57ff.; Mylona 2014, 122-147). So konnte der Architekt Leo von Klenze, Baurat des Königs Otto, in seiner festlichen Anasprache an den König anlässlich des Beginns der Restaurierungsarbeiten auf der Akropolis betonen: Die Spuren einer barbarischen Zeit, Schutt und formlose Trümmer werden, wie überall in Hellas, auch hier verschwinden, und die Überreste der glorreichen Vor­ zeit werden als die sichersten Stützpunkte einer glorreichen Gegenwart und Zu­ kunft zu neuem Glanze erstehen (Klenze 1838, 384). Im Roman erfährt Ismails Kenotaph auf Kreta das gleiche Schicksal wie andere Monumente, materielle Spuren der osmanischen Vergangenheit in Griechenland: Der Kenotaph überdauerte eine ganze Weile – genauso lange, wie Ismail Ferik Pa­ scha insgesamt auf der Insel und in Ägypten gelebt hatte. Im dritten Jahrzehnt des folgenden Jahrhunderts wurden die Gräber auf dem Gelände des türkischen Fried­ hofs durch Bauarbeiten an einer Volksschule zerstört, da diese Gräber nunmehr ein für allemal einer anderen Nation, einer anderen Staatsreligion und anderen Gegebenheiten unterworfen waren. Sie waren auch mit dem europäischen Bild unvereinbar, das die Stadt mit einer bewundernswerten Geschwindigkeit von sich zu entwerfen suchte (G. 2001, 187). Die Relikte aus der Antike als materialisierte Symbole für eine gemeinsame Vergangenheit sollten eine identitätsstiftende Funktion erhalten. Eine idealisierte, europäisch-philhellenische Vergangenheit, aus der die Gegenwart ihre Legitimierung schöpft, ihren Rhythmus und ihre Ästhetik, haben sich Griechen wie Antonis zu eigen gemacht: Er [Antonis] hatte im Zentrum der Stadt ein dreistöckiges Haus mit einem großen Garten errichtet. […] Er hatte aus dem westlichen Europa Kristallgläser, Silberbe­ steck und die übrigen Einrichtungsgegenständen heranschaffen lassen. Deutsche Kunstmaler hatten die Wände und Decken geschmückt. […] Die Veranda stützte

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sich auf dorische Marmorsäulen und überschattete den Hauseingang durch eine marmorne Deckentäfelung. Er schrieb, in Attika schienen die Menschen direkt dem Marmor zu entspringen […] (G. 2001, 62). Das Haus von Antonis ist offensichtlich nach der Ästhetik des Neoklassizismus gebaut, wie die großen öffentlichen Bauten Athens.24 Bereits in den ersten Jahren der Herrschaft König Ottos wurden die Institutionen zum Schutz und zur Ausgrabung antiker Monumente geschaffen. Im Jahr 1866 hatte Athen das erste große Museum, vom bayerischen Architekten Ludwig Lange im strengen klassizistischen Stil entworfen, das den Namen Archäologisches Nationalmuseum erhielt. In der Zeit des Historikers Paparrigopoulos waren die Assoziationen für die meisten noch klar. Auch Antonis hatte sich die neoklassizistische Ästhetik zu eigen gemacht, Ismail dagegen erkennt den Konstruktionscharakter der europäischen orientalischen Mode dieser Epoche. Der Roman distanziert sich von der europäischen Bewegung des Orientalismus, der aus eigener Sicht stereotype Bilder des Orients produziert. Der Protagonist ref lektiert über das Konstruierte dieser Bilder auf eine Weise, die Edward Saids (1989) Thesen sehr nah ist. Die ägyptischen Landschaften in den Medaillons [gemalt nach der Art der klassi­ fizierenden französischen Schule] schufen in dem nach allen Seiten geschlossenen Salon die Illusion eines freien Ausblicks. Nichts war echt, schloß er, obwohl alles authentisch war (G. 2001, 52). An anderer Stelle ist mit Ironie, charakteristisch für den postmodernen Roman, vom Blick des Westens auf den Orient die Rede: In Europa stand die Orientmode in einer Hochblüte […]. Denn fast alle Maler und Schriftsteller waren dem Zauber des pharaonischen und vor allem des osma­ nischen Orients erlegen. Das Geflecht von Licht und Schatten, das diese Zweige auf die Paletten der Maler warfen, vereinte Verbotenes und Ersehntes. Alles, was Ismail Ferik Pascha in Europa von dieser Mode zu Gesicht bekam, waren hübsch gemalte Schlachtengemälde, Porträts von Haremsdamen und Marktszenen, aus denen er schloß, daß sie die Wirklichkeit mit voller Absicht in einer solchen Schön­ heit abbildeten, die er in Ägypten niemals gesehen hatte (G. 2001, 72).

24 Katharevousa, eine Sprachform, die dem Altgriechischen näher stand, wurde als Amtssprache eingeführt, Ortsbezeichnungen wurden hellenisiert. Bedeutend war auch der Beitrag der Volks­ kunde, die durch die Rückführung zeitgenössischer Sitten und Gebräuche auf die entsprechen­ den antiken die Kontinuität bestätigte (vgl. dazu Herzfeld 1982 und Ladikos 2019).

Rhéa Galanáki: Das Leben des Ismail Ferik Pascha

Die beiden alten Kulturen Griechenland und Ägypten werden als Leinwand verwendet, auf die eurozentrische Imagination die eigenen Phantasien im Rahmen zunehmender europäischer Hegemonie projiziert (vgl. Aleksić 2007, 165). Der Roman bleibt solchen Bildproduktionen gegenüber skeptisch.

V.

Abschließende Bemerkungen. Galanákis Roman und die neugriechische Literatur: Eine neue Imagination der osmanischen Vergangenheit

Der Roman Das Leben des Ismail Ferik Pascha spielt in dem historisch und politisch bedeutsamen Moment der Gründung des neugriechischen Staates. Sein Novum ist, dass er die osmanische Periode der griechischen Geschichte ins Zentrum stellt, nicht nur als koloniale Vergangenheit, sondern auch als ein Erbe, das Teil der griechischen nationalen Psyche ist. Der Roman berührt eine sensible Frage und geht mit ihr vorsichtig und ohne zu provozieren um. Mit Strategien der doppelten Identität von Ismail und seinem mythischen νόστος bietet er den Leserinnen und Lesern Material für eine neue Imagination25 der historischen Vergangenheit. Der Roman wurde in seinem Erscheinungsjahr 1989 zunächst eher zögerlich rezipiert (vgl. Komas 2002, 91; Akritidou 2019, 85ff). Die meisten Rezensionen fokussieren auf die Analyse des individuellen Bewusstseins; Interpretationen mit Schwerpunkt auf der osmanischen Vergangenheit beginnen erst ab den späteren 1990er Jahren und im Rahmen von neuen ideologischen Prozessen und Verfahren, in denen diese Epoche nun nicht mehr ausschließlich als türkisches Joch, sondern eher als kulturelles Erbe betrachtet wird, das gerettet werden muss (vgl. Akritidou 2019, 72-84; Willert 2019, 1-26). Man bemerkt auch innerhalb der griechischen Literatur nach 1989 eine bemerkenswerte Wiederbelebung des historischen Romans (vgl. Kosmas, 74f.) und im Rahmen dieser Entwicklung ein Interesse für die osmanische Vergangenheit. Den Ausgangspunkt bei dieser Entwicklung stellt zweifellos das Erscheinen des Romans von Galanáki dar. Tziovas (2017, 32) hat darauf hingewiesen, dass die griechische Literatur der 1990er Jahre sich mit Aspekten der verdrängten Vergangenheit zu beschäftigen beginnt, insbesondere mit denen der kulturellen Alterität, die mit der osmanischen oder balkanischen Vergangneheit zu tun haben. Für Calotychos (2013, 123) ist gleichfalls wichtig, dass die neugriechische Literatur der letzten Jahre die osmanische Vergangenheit thematisiert 25 »How else can any past, which by definition comprises events, processes, structures, and so forth, considered to be no longer perceivable, be represented in either consciousness or dis­ course except in an ›imaginary‹ way? Is it not possible that the question of narrative in any di­ scussion of historical theory is always finally about the function of imagination in the produc­ tion of a specifically human truth?« (White 1987, 57).

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und die Rolle, die diese Vergangenheit für die Konstruktion der neugriechischen Identität gespielt hat. Dabei wird die griechisch-türkische Beziehung jenseits jeder nationalistischen Dämonisierung literarisch neu entworfen (Calotychos 2013, 123). Der neue historische Roman versucht das Griechische nicht in der Annahme der hellenischen Kontinuiät seit der Antike oder seit Byzanz zu entdecken, sondern im synchronen Kontakt mit dem Anderen, mit dem Fremden. Romane von Nikos Themelis, Rhéa Galanáki, Alexis Panselinos, Soti Triantafyllou, Diamantis Axiotis, Maro Douka und Thodoros Grigoriadis, die sich im Bereich dieser Problematik bewegen und Familiengeschichten vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart erzählen, haben grosse Resonanz beim Lesepublikum gefunden (Kotsia und Chatzivasiliou 2003, 192). So werden in der Literatur verschiedene narrative Versionen der osmanischen Vergangenheit entworfen. Ähnlich wie Galanáki erzählt Diamantis Axiotis in seinem Roman Το ελάχιστον της ζωής του (Das Wenigste seines Lebens, 2002) eine fiktive Biographie, die des in Griechenland geborenen und christlich aufgewachsenen späteren Vize-König von Ägypten Muhammad Ali, und fokussiert dabei auf seine multiple Identität aufgrund seines doppelten Erbes: christlich-orthοdox und muslimisch. Calotychos (2013, 148) hat in Bezug auf diese Romane betont, dass sie nicht einfach den zweipoligen Gegensatz ›Grieche-Türke relativieren, wie die ältere Kritik annahm, sondern den dritten Raum einer osmanischen Alterität einführen, der ägyptischen, die andere Charakteristika aufweist als die des hegemonialen Osmanen. Es ist also von Bedeutung, dass bei beiden Romanen der Ort der Entfaltung einer osmanischen Identität nicht das Zentrum des osmanischen Reiches ist, sondern das periphere Ägypten. Batsaki (2013) sieht in Galanákis Werk die Hervorhebung des Mittelmeers als eines dynamischen Raumes für kulturelle Wechselwirkungen und Ägyptens als eines dritten Raums für die Artikulation hybrider Identität und postkolonialer Kritik. Maria Akritidou, die sich in ihrer Dissertation mit der diskursiven Konstruktion des Ostens und des osmanischen Erbes in der griechischen Literatur nach 1989 beschäftigt, fokussiert unter anderem auf die Romane Αθώοι και φταίχτες (Unschuldige und Schuldige) von Maro Douka (2004) und Ιμαρέτ (Imaret26) von Yannis Kalpouzos (2008). Beide Romane verarbeiten die osmanische Stadt des kosmopolitischen Zusammenlebens in der letzten späten Phase der osmanischen Periode, die heute fast unsichtbar geworden ist. Bei beiden Romanen wird durch die Beschreibung von materiellen osmanischen Relikten das für viele Jahre marginalisierte osmanische Kulturerbe hervorgehoben. Insbesondere zeigt der Roman von Maro Douka die kretische Stadt Chania am Anfang des 21. Jahrhunderts als Gedenkort, an dem die materiellen Spuren der osmanischen Zeit auf eine verdrängte und vergessene Vergangenheit verweisen, die zu retten sei. Die Stadt wirkt wie ein offenes 26 Mit dem türkischen Wort »Imaret« wurden in der osmanischen Zeit Armenhäuser und Verpfle­ gungsstätten für Arme und Mittellose bezeichnet.

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Archiv, wie ein »Palimpsest« der Geschichte (Akritidou 2019, 401). Durch das Narrativ einer Familiengeschichte wird das Fremde zum Eigenen gemacht. Ähnlich verfährt Axiotis, indem er die Stadt Arta (Epirus) mit ihren osmanischen Monumenten zur Protgonistin seines Romans macht. Der Erfolg dieser Romane lässt sich im Rahmen einer neuen Aneignung der historischen Vergangenheit Griechenlands und in dem der Entstehung eines neuen Vergangenheitsdiskurses in Bezug auf das osmanische Erbe verstehen.27 Heute ersetzen Erzählungen über hybride Kulturidentitäten mit doppelter Herkunft und multiplem Erbe das frühere Narrativ der Entfaltung eines ethnischen, sozialen und individuellen Subjekts in der neugriechischen Literatur (vgl. Lampropoulos, 2002, 64). Auch geographisch wird durch die Literatur gezeigt, dass der griechische Raum nicht geschlossen ist, sondern offene Horizonte hat, ein Raum wo sich Individuen und Massen ständig bewegten. Vermischungen aller Art seien daher – das zeigt der neuriechische historische Roman – nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel in der neueren Geschichte Griechenlands (vgl. Lampropoulos, 2002, 68).

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»Der Blick des Wissenschaftlers« Konstruktionen des Fremden im Reisebericht Reise in den Orient (1840) von Karl Eduard Zachariä von Lingenthal Aglaia Blioumi, Nationale und Kapodistrias Universität Athen

Der vorliegende Beitrag wird sich dem weitgehend unbekannten Bericht Reise in den Orient von Karl Eduard Zachariä von Lingenthal widmen, der einem griechischen Lesepublikum erst 2016 durch die Übersetzung des Juristen Spyros Trojanos in der Reihe der Athener Akademie, Yearbook of t the research centre for the history of Greek law, bekannt wurde. Der Reisebericht erstreckt sich über den Zeitraum von 1837 bis 1838, ist 1840 in Heidelberg erschienen und führt von Wien, Venedig, Florenz, Rom, Neapel nach Athen, Saloniki und Trapezunt. Das Buch ist insofern ein besonderes Fundstück, als es sich sowohl um einen wenig bekannten Text über damalige griechische Städte und Landschaften handelt, als auch eine seltene Sparte des wissenschaftlichen Reiseberichts darstellt: denn der Anlass der Reise war die Suche nach unbekannten Quellen zum byzantinischen Recht. Wissenschaftliche Reiseberichte, sowohl altertumskundliche als auch architektur- und archäologiehistorische, naturwissenschaftliche etc., haben eine lange Tradition und wurden zum Teil von bekannten Autoren geschrieben. Das Besondere an Zachariäs Buch ist jedoch, dass er, ausgehend von der Erforschung der Quellen, detailgenaue Beschreibungen von Bildungsinstitutionen wie der Athener Universität, von Bibliotheken und Handschriften in den Vordergrund rückt. Der Reisebericht hat zudem einen populärwissenschaftlichen Charakter, was folglich eine neutrale Haltung in Bezug auf das Beschriebene vermuten lässt. Vor diesem Hintergrund sollen die Darstellungsstrategien mit Blick auf das Fremde in meinem Beitrag erhellt und es soll gefragt werden, ob durch den wissenschaftlichen Blick Normalisierungsprozesse jenseits von Imagination und Verklärung in Gang gesetzt werden. Parallel dazu werde ich versuchen, den Text im gattungsspezifischen Kontext der Orientberichte und literarhistorisch im Rahmen der Restaurationszeit zu sichten, um ihn literaturwissenschaftlich einzugrenzen.

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Literarische Orient-Rezeption im 19. Jahrhundert Ab dem späten 17. Jahrhundert kann beim Lesepublikum ein großes Interesse für das Osmanische Reich konstatiert werden, wobei das Hauptinteresse Syrien, Palästina, Mesopotamien, Teilen der Arabischen Halbinsel und Teilen Nordafrikas gilt (vgl. Rapp 2016, 86). Nach Osterhammel gab es bereits im 17. und 18. Jahrhundert verschiedene Typen von Reisezielen, wobei der erste Typus den islamischen Mittelmeerraum betraf, der »von Marokko bis hoch in den Balkan reichte« (Osterhammel 1989, 226). Folglich kann man bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts von einem intensiven Orienttourismus sprechen (vgl. Rapp 2016: 91). Der »Orient« ist ein vielfältiges diskursives Feld. Aus heutiger Sicht handelt es sich um eine »phantasmatische Größe« (Dunker 2014, 279), während man im 18. und 19. Jahrhundert noch glaubte, ihn räumlich eingrenzen zu können. Über die genannten geographischen Räume hinaus wurden im Rahmen dieser »phantasmatischen Größe« kulturell unterschiedliche Regionen miteinander verschmolzen. Nach Patrut gleicht die Darstellung des kollektiven Imaginären im Hinblick auf den Osten bzw. Südosten in vielerlei Hinsicht den Darstellungen der Kolonien und des Orients, wobei unter Orient ein im Bezug zum Okzident asymmetrisches Diskursfeld verstanden wird (vgl. Patrut 2014, 226). Exemplarisch hierfür stehen Zeitgenossen wie Franz Josef Sulzer (1727-1791), der jenen Völkern die Selbständigkeit absprach (vgl. Patrut 2011, 171f.): Der Historiker und Geograph Franz Josef Sulzer […] versuchte, mit abfälliger Ironie die Unfähigkeit der Walachen (wie auch der Griechen und anderer Osteuropäer) nachzuweisen […]. Mit der Unfähigkeit, ein durchdachtes Regelwerk der eigenen Sprache aufzustellen, geht jene zur Selbstregierung einher« (ibid). Zu dieser Zeit war es auch nicht selten, Afrika mit dem Orient zu konnotieren (vgl. Rapp 2016, 39). In Deutschland verband sich eine Reise oft mit wissenschaftlicher Forschung, während Reiseführer wie Meyers Türkei und Griechenland (1888) das Orientbild popularisierten (Rapp 2016, 99). Aufgrund der großen Zahl der Griechenlandreisenden entstand bereits im frühen neunzehnten Jahrhundert eine deutsche Reiseliteratur über Griechenland, wobei britische Reisende impulsgebend waren (vgl. Schober 2015, 2ff.). Renommierte Reisende waren unter anderem Johann Jakob Bachofen (1815-1887), der Archäologe Karl Friedrichs (1831-1871), Hugo von Hofmannsthal (1874-1929), Gerhard Hauptmann (1862-1946) und Martin Heidegger (1889-1976) (vgl. auch Mylona 2014, 16). Als Stellvertreter mit philologisch-historischer Expertise, die selbst Quellenstudien betrieben, wären neben Zachariä der Historiker Karl Mendelsohn-Bartholdy (1838-1897) oder der Byzantinist und Neogräzist Karl Krumbacher (1856-1909) zu nennen. Zachariäs Reisebericht fügt sich

»Der Blick des Wissenschaftlers«

literarhistorisch in die Reiseliteratur der Restaurationszeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, wobei sich seine Reise, wie bereits erwähnt, mit wissenschaftlicher Forschung verbindet.

Zur Person Zachariäs von Lingenthal Karl Eduard Zachariä von Lingenthal wurde 1812 als einziger Sohn des berühmten Staatsrechtslehrers Karl Salomo Zachariä in Heidelberg geboren. Der Titel von Lingenthal, nach den gleichnamigen Gütern südöstlich von Heidelberg, wurde seinem Vater 1842 vom Badener Herzog Leopold verliehen (vgl. Τρωιάνος 2016: 13). Karl Eduard Zachariä studierte Philosophie, Geschichte, Philologie, Mathematik sowie auch neuere Sprachen, anschließend Rechtswissenschaft bei seinem Vater, bei Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) und Friedrich August Biener (1787-1861), also bei Koryphäen der damaligen Rechtswissenschaft. Ab 1832 begab er sich auf Reisen in verschiedene europäische Länder, um byzantinische Handschriften zu erforschen. Obwohl er 1842 außerordentlicher Professor wurde, gab er 1845 die Universitätslauf bahn auf, kaufte das Rittergut Großkmehlen in der Provinz Sachsen, wo er sich der Landwirtschaft und deren wissenschaftlicher Erforschung widmete (vgl. Fischer 1898). Im Jahr 1850 wurde er an die Seite von Otto von Bismarck in das Erfurter Parlament gewählt (Τρωιάνος 2016, 19). Seine Reise von Wien nach Trapezunt dauerte 14 Monate. In dieser Zeit entstanden der Reisebericht und eine Reihe von wissenschaftlichen Artikeln, die in verschiedenen Zeitschriften erschienen. Nach Trojanos ist Karl Eduard Zachariä der Begründer der juristischen Byzantinistik, und trotz seiner landwirtschaftlichen und politischen Tätigkeiten ist er der rechtswissenschaftlichen Forschung zeitlebens treu geblieben (vgl. Τρωιάνος 2016, 22). Zachariä hat ein sehr umfangreiches juristisches Werk hinterlassen. Sein wichtigstes Buch Jus Graeco-Romanum gilt als die beste und vollständigste Sammlung von byzantinischen Rechtsquellen und der Novellen von Justinus II. bis 1453 (Fischer 1898). Im Vorwort der griechischen Übersetzung wird zudem betont, dass Zachariä durch seine Forschungen bewiesen habe, dass das Byzantinische Recht nicht nur eine Übersetzung des Römischen Rechts war, sondern ersteres aus der Verbindung des griechischen und des römischen Rechts entstanden ist (vgl. Παπαρρήγα-Αρτεμιάδη 2016, 10). Dieser Hintergrund des wissenschaftlichen Werks deutet schon auf die Entstehungsbedingungen des Reiseberichts hin. Wichtig ist zudem, dass Zachariä über exzellente Griechisch-Kenntnisse verfügte, die ihm den Kontakt zu den Einheimischen ermöglichten. Außerdem besaß er einen wissenschaftlichen Eifer, der – das sei hier vorweggenommen – den Auf bau und die Darstellungsweise des Buches beeinf lusst hat. Dadurch wird der Fokus vornehmlich auf die Beschrei-

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bung von Bibliotheken und Handschriften gelegt, und ein sachlicher Schreibstil dominiert.

Zur Erzählstruktur von Reise in den Orient Das Vorwort des Reiseberichts ist zum Verständnis von Ziel, Motivation und Voraussetzungen der Reise aufschlussreich. Das Buch beginnt mit dem Satz: »Eine große Vorliebe für Alles, was griechisch ist, führte mich im Jahre 1830, während ich vorzugsweise dem Studium des römischen Rechts oblag, auf das griechisch-römische oder byzantinische Recht« (Zachariä 1840, v). Diese Vorliebe für Alles, was griechisch ist, hinterlässt Spuren eines Philhellenismus als besondere »orientalische Figuration« (Rapp 2016, 66), wie er in der philologischen Forschung genannt worden ist, und der die Griechenbegeisterung in der Zeit des griechischen Freiheitskampfes und danach bezeichnete. Zachariäs Philhellenismus aber wird schon bald in wissenschaftliche Bahnen gelenkt und verfällt nicht der häufig anzutreffenden Schwärmerei des Philhellenismus (vgl. Blioumi 2016, 63). Entsprechend werden im ersten Absatz im Folgenden die Beweggründe seiner wissenschaftlichen Bemühungen offengelegt: Das byzantinische Recht ist von großer Bedeutung […], aber bis auf die neuere Zeit von den Romanisten nur wenig beachtet worden (Zachariä 1840, v). […] Ich wollte die großen Bibliotheken von Wien, Venedig, Florenz und Rom und die noch im Orient vorhandenen Bibliotheken untersuchen, von deren verborge­ nen Schätzen so viel gefabelt wurde, und welche zum wenigsten für das byzantini­ sche Recht einige Ausbeute hoffen ließen (Zachariä 1840, vii). Der Orient wird hier als geographische Bezeichnung im Sinne des heutigen Nahen Ostens verwendet. Nicht Schwärmerei ist demzufolge der Beweggrund der Reise, sondern eine wissenschaftliche Hypothese, was wiederum einen distanzierten Umgang mit dem Fremden und überhaupt mit Stereotypen erwarten lässt. Schließlich hatte die Reise »im Ganzen 14 Monate gedauert, und die Kosten hatten nahe an 6000 Gulden betragen« (Zachariä 1840, vii). Es wird also gemäß des Standards der Reiseliteratur in der Restaurationszeit penibel Auskunft über Motive, Ziele und Umstände gegeben. Der »Orient« im Titel stellt zweifelsohne eine räumliche Fixierung dar, was im Kontext der Anlage des Buches zu untersuchen ist. Die Erzählabschnitte folgen chronologisch den Reisestationen, die bereisten Städte werden in jeweils einem Kapitel angeführt und ihre Überschriften jeweils mit einem genauen Datum versehen. Im Anhang befinden sich Landkarten des Berges Athos in zwei Versionen.

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Die Tatsache, dass bereits auf dem Deckblatt des Reiseberichts hierauf hingewiesen wird (»Mit einer Kharte des Berges Athos«; Zachariä 1840, iii) entspricht ebenfalls der Konvention der Orientliteratur und der Reisebeschreibungen jener Zeit. Landkarten anzuführen und in gewisser Weise die Welt zu vermessen, hat auch rezeptionssteuernde Funktion. In diesem Fall wird nicht nur auf diese eine Karte verwiesen, weil es zu einem ›richtigen‹ Reisebericht dazugehört, sondern auch, weil der Mönchsstaat des Athos als kaum erforschte Region eine gewisse Exotik hat und das Fernweh der Zeitgenossen zu stillen verspricht. Ähnlich exotisch wirken im Anhang Briefe von griechischen Geistlichen in griechischer Sprache sowie türkische Fermane (Vollmachten) in deutscher Übersetzung. Solche Fermane gab es in Zachariäs Zeit beispielsweise für die Besichtigung der Akropolis (vgl. Löschburg 1998, 192). Im Reisebericht nahm er im Anhang einige dieser Genehmigungen auf, mit denen er sich im Osmanischen Reich frei bewegen konnte (Weithmann 1994, 131f.). Meines Erachtens hat dies gleichzeitig eine Art ethnographische Funktion, da es sich um eine »mediale Dimension kultureller Differenz« handelt (Werkmeister 2014, 110; Herv. im Original). Die Wiedergabe der osmanischen Fermane, die den Text komplementieren, unterstützt die exotisierende Wirkung der Darstellung und dadurch die politisch-kulturelle Differenz Orient-Europa.

Darstellungstechniken Die wichtigsten Darstellungstechniken, auf die ich mich im vorliegenden Beitrag konzentrieren möchte, sind die populärwissenschaftlichen Darstellungsstrategien, ethnographische Perspektiven sowie zeitgeschichtliche Elemente. Der gesamte Text ist durch einen populärwissenschaftlichen Schreibstil gekennzeichnet. An mehreren Stellen werden penibel die handschriftlichen Befunde angeführt, etwa die des Klosters Vatopedi auf Athos: Die Bibliothek des Klosters ist sehr bedeutend; sie füllt zwei Zimmer, und enthält eine große Menge schöner und alter Handschriften […], juristische HSS. fanden sich 19, einige ziemlich alt, aber nichts Unbekanntes enthaltend. Wichtiger sind zwei neuere Chroniken (Zachariä 1840, 269). Im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse des Buchs wird erwartungsgemäß die Justiz des neugegründeten griechischen Staates eingehend beschrieben. Trojanos vermutet aufgrund des Unterkapitels »Rechtszustand« des neunten Kapitels über Athen, dass Zachariä auch bei Gerichtsprozessen präsent gewesen ist (Τρωιάνος 2016, 32). Kurz davor, im Unterkapitel »Universität«, werden Fakultäten, Seminare und Professoren der Athener Universität angeführt. Die Darstellungen wirken über

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weite Strecken wie eine Wiedergabe der Studienordnung, wobei die abschließenden Ref lexionen hier von Interesse sind: Der Autor räumt ein, dass die Gelehrtenanstalten Athens zwar noch vieles zu wünschen übrig ließen, doch seitdem »Ruhe und Ordnung« herrsche und Athen zur Hauptstadt gewählt worden ist, sei das Geleistete außerordentlich: »so darf man nach dem bisher Geleisteten mit Zuversicht hoffen, daß die Universität Athen und die mit ihr in Verbindung stehenden Institute einen überraschenden Aufschwung nehmen werden« (Zachariä 1840, 123). Obwohl die Gründe dieses Optimismus nicht erwähnt werden, kann Zachariäs monarchiefreundliche Grundhaltung hier angeführt werden: »Ruhe und Ordnung« sowie 1834 die Verlagerung der griechischen Hauptstadt von Nauplion nach Athen gehen auf die Pläne König Ottos von Bayern zurück, und auch die Athener Universität war von König Otto aufgebaut worden. Im Weiteren heißt es: »Und dem erlauchten Sprößling des bairischen Könighauses, den der Wunsch des Volkes auf den griechischen Thron gerufen hat, dürfte es leicht werden, sein Land in den Formen einer väterlichen Einherrschaft zu regieren« (Zachariä 1840, 116). Offenkundig spricht sich Zachariä vorbehaltlos für die Monarchie aus. Doch auch wenn er damit ein asymmetrisches Diskursfeld innerhalb einer »phantasmatischen Größe« entwirft, die keine Option für die Selbstregierung des griechischen Volkes offen zu lassen scheint, sind im Gesamttext bei der Darstellung des Fremden oder Anderen positive Wertschätzungen und Anerkennung des Fremden zu konstatieren. Über die populärwissenschaftlichen Perspektiven hinaus bietet Reise in den Orient auch ethnographische Perspektiven, und die Beschreibung der Einheimischen wird mit kritischen Kommentaren versehen. In Anlehnung an Werkmeister verstehe ich ethnographische Texte im weitesten Sinne als Texte, »deren Thema und Gegenstand die Ref lexion von (fremder) Kultur ist« (Werkmeister 2014, 110). Äußerliche Eindrücke von solchen fremden Kulturen werden meist auch ausgiebig dargestellt. So heißt es im Athener Kapitel: Eine ebenso chaotische Mannichfaltigkeit der Gegensätze bietet dem Auge das lebhafte Treiben auf den Straßen und öffentlichen Plätzen. Hier sieht man Grie­ chen mit der rothen Mütze, gestickten Jacke und der albanesischen Fustanelle oder den weiten türkischen Hosen, dort Malteser mit der braunen Wollenmüt­ ze […], dort wieder andere Griechen oder Ausländer, mit Hüten und Röcken oder Fracks nach französischem Schnitte. […] Bald hört man bairisch, französisch, eng­ lisch, maltesisch, italienisch, bald albanesisch, bald endlich neugriechisch in den verschiedensten Dialekten reden. […] So zeigt sich überall altes und neues Wesen, orientalisches und europäisches Treiben in bunter Abwechslung und unvermischt nebeneinander. Und grade dieses Chaos von verschiedenen Sitten und Gebräu­ chen, dieses Gewirre von Gegensätzen ist es, welches nicht nur dem fremden Be­

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obachter, sondern den Regierenden und Regierten selbst ein klares Erfassen der Verhältnisse wesentlich erschwert (Zachariä 1840, 113f.). Ähnlich wie andere Griechenlandreisende (vgl. Weithmann 1994, 134) liefert Zachariä lebendige Beschreibungen von Land und Leuten. Generell waren kritisch-ref lexive Passagen keine Seltenheit in Reiseberichten, auch nicht in den ersten Reiseführern der Restaurationszeit. Unverkennbar ist in Zachariäs Darstellungsweise die Pose des Forschers, der im Modus seiner wissenschaftlichen Überlegenheit das Betrachtete nach eigenen Maßstäben interpretiert. Für Zachariä steht der multikulturelle Charakter Athens für Chaos, der keine klaren Verhältnisse erlaubt. Das Nebeneinander der Ethnien und Kulturen wird gemäß dem Orienttopos als »Gewirre von Gegensätzen« wahrgenommen. Diese Gegensätze sind es jedoch gleichzeitig, die die große Anziehungskraft des Orients ausmachen (vgl. Rapp 2016, 102) und denen Zachariä einen hohen Stellenwert beimisst – wohlwissend, dass er dadurch dem Verlangen des Publikums nach Exotik entgegenkommt. Das Byzantinische oder Anatolische wird im Athener Kapitel zudem in eine Art Nord-Süd-Gefällte eingebettet: Die Kultur und Zivilisation, die sich unter den Mitgliedern der gebildeteren Klas­ sen findet, ist demnach bald eine europäische oder abendländische, bald eine byzantinisch=orientalische, welche die Keime einer ganz eigenthümlichen Gestal­ tung in sich trägt, wenn sie auch gegenwärtig mit der abendländischen Zivilisation noch nicht auf gleicher Stufe der Vervollkommnung steht (Zachariä 1840, 115). Die zivilisatorische Ungleichheit der Kulturen zeigt, dass auch Zachariäs Darstellung auf der Grundkonzeption eines angenommenen gesetzmäßigen Fortschritts der Menschheit basiert, den einige Zivilisationen noch nachzuholen haben. Die byzantinische Kultur, die der Autor mit der orientalischen zu einer »byzantinisch=orientalischen« verbindet, wird entsprechend auch in den höheren sozialen Schichten noch als rückständig und, gemessen an der europäischen, als noch nicht ausgereift wahrgenommen. Obgleich der Unterschied zwischen Kultur und Zivilisation angesprochen wird, ist zu betonen, dass dieser nicht in der Tradition der deutschen Geistesgeschichte als Kultur versus Zivilisation im Sinne der Höherwertigkeit von Kultur gegenüber der Zivilisation konzipiert ist (vgl. Lisson 2013, 247). Vielmehr stellen Kultur und Zivilisation bei Zachariä eine Einheit dar, die in den Gegensatz abendländisch versus orientalisch-byzantinisch mündet. Diese Dichotomie lässt allerdings ebenfalls keinen Freiraum, um zwischen dem deutschen und hellenischen Volk jene kulturellen Analogien anzunehmen, die seit der Auf klärung von Winkelmann, Lessing, Voß, Schiller, Herder oder Humboldt propagiert werden

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(Lisson 2013, 248). In Zachariäs Reise in den Orient werden Hellas und der Hellenismus als Wiege der abendländischen Zivilisation nicht problematisiert, aber auch nicht mit dem zeitgenössischen Griechenland in Verbindung gesetzt. Der angenommene höhere abendländische Zivilisationsstand dient jedoch als Sprungbrett, um Kulturvergleiche anzustellen. Mit dieser Darstellungsstrategie grenzt sich der Reisebericht von einer schwärmerischen Darstellung Griechenlands ab. Interessanterweise ist es jedoch genau diese kritische Haltung, die ihn an anderen Stellen dazu bringt, vor dem vorbehaltslosen Transfer europäischer Normen auf Griechenland zu warnen. Im selben Abschnitt heißt es: Aber ebenso einleuchtend ist es, daß hier einstweilen an eine vollkommene Durch­ führung europäischer Institutionen nicht zu denken sein dürfte. Sondern man wird es dem Laufe der Zeiten überlassen müssen, dass sich aus jenen verschie­ denartigen Elementen eine einheitliche Zivilisation hervorbilde, auf welche eine dauerhaftere Organisation der öffentlichen Zustände gegründet werden könne (Zachariä 1840, 115). Hier wird eine gewisse relativistische Sicht deutlich, da der Autor der Ansicht ist, dass Griechenland keine europäischen Normen aufoktroyiert werden sollten. Denn aus seiner Sicht können die fraglos als höher eingestuften europäischen Normen erst dann übernommen werden, wenn die Zivilisation ein gewisses Niveau erlangt hat. Nicht zu übersehen ist an dieser Stelle ebenso, dass auch eine Vorstellung vom Orient konstruiert wird. Wenn nur Einheitlichkeit zur Vervollkommnung führen kann, aber kulturelle Vielfalt und Multikulturalismus den Orient ausmachen, kann dieser nur als rückständig wahrgenommen werden. Andererseits ist jedoch auch nicht zu übersehen, dass die in anderen Berichten von Griechenlandreisenden anzutreffenden negativen Bilder bei Zachariä oft eher positiv konnotiert sind. So wird etwa das häufig erwähnte Misstrauen der Griechen gegenüber den Europäern (vgl. Katsanakis 2010, 80) thematisiert und mit eigenen positiven Beispielen konterkariert. Im Rahmen einer anekdotischen Darstellung interkulturellen Kontakts wird beispielsweise von einem europäischem Reisenden berichtet, der in einem Kloster zwei Evangelien gestohlen hat, indem er den Mönchen versicherte, dass er sie ausleihen wollte. Zachariä kommentiert: »Es ist kein Wunder, wenn die Mönche mißtrauisch werden gegen Fremde, wenn dergleichen zu Tage kommt« (Zachariä 1840, 273). Da die Herkunft des Reisenden nicht bekannt ist und der angebliche Leihschein auf Französisch verfasst ist, kann an dieser Stelle von einer Kritik an der europäischen Zivilisation gesprochen werden, die das Stereotyp des orientalischen Gauners ins Gegenteil wendet. In anderen Reiseberichten wird oft auch auf »die Unbildung des orthodoxen Klerus« hingewiesen und dies ist »ein häufiger Gegenstand abendländisch-auf-

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klärerischer Häme« (Weithmann 1994, 132). Bei Zachariä dagegen trifft dies nicht zu, bei ihm werden im Gegenteil die Organisation und Funktion des orthodoxen Klerus eingehend und sachlich beschrieben. Im Kapitel über Thessaloniki ist diesen Beschreibungen ein ganzes Unterkapitel gewidmet: Der Einfluß, den die Geistlichen als Richter und Beschützer der Griechen auch in weltlichen Angelegenheiten besitzen, wird noch dadurch erhöht, daß sie durch Leitung des Jugendunterrichts eine große Macht über die Gemüther erlangen. Die griechischen Unterrichtsanstalten in der Türkei sind regelmäßig bischöfliche oder Klosterschulen (Zachariä 1840, 205f.). Im Allgemeinen bin ich den geistlichen Herren in Saloniki zu ganz besonderem Danke für die Bereitwilligkeit und Güte verpflichtet, mit welcher sie meinen Wün­ schen zuvorkamen und meine Forschungen zu unterstützen sich angelegen sein ließen (Zachariä 1840, 208). Dabei ist zu betonen, dass es auch bei den Beschreibungen von einfachen Priestern nicht zu abwertenden Äußerungen kommt. Es ist zu vermuten, dass die Wertschätzung, die der Klerus bei Zachariä erfährt, auf dessen Funktion in der Ausbildung der griechischen Bevölkerung zurückzuführen ist. Als der Reisende beispielsweise in das Dorf Arachowa auf dem Peloponnes gelangt, versammeln sich mehrere Vorsteher und Bewohner um ihn: »Sie klagten, daß es ihnen bis jetzt noch nicht möglich gewesen sei, einen Schullehrer für ihre Kinder zu erhalten« (Zachariä 1840, 159). Auch im Athener Kapitel heißt es, dass die Griechen »durchgängig von außerordentlicher Lernbegierde beseelt sind« (Zachariä 1840, 118). Der in diesem Kapitel konstatierte Fortschrittsoptimismus ist sicherlich auch mit der hohen Lernbereitschaft der Griechen in Verbindung zu bringen, die wiederum entscheidend vom Klerus unterstützt wurde. Charakteristisch ist jedoch, dass der nüchterne Blick des Wissenschaftlers, der sich auch im Schreibduktus niederschlägt, nicht wie bei anderen Autoren (vgl. Schulz-Nieswandt 2017, 106) im Kontext von Orthodoxie aufgegeben wird. Damit ist Zachariä fern von Idylle und Mystisierungen. Interessant an Zachariäs Darstellungsstrategien ist der anekdotische Charakter gängiger Orientmotive, die Eingang in seinen Text gefunden haben. Ähnlich wie in anderen deutschen Reiseberichten (vgl. Dürbeck 2007, 81) verspricht der Autor, durch seine Augenzeugenschaft und das Vor-Ort-Sein authentische »Beobachtungen« zu liefern, wie er oft betont. Deren Funktion ist es, populäre Darstellungsweisen zu gewährleisten, die bei der Leserschaft Erfolg verheißen. In vielen Reiseberichten wird der Orient etwa zum Ort der Geister und Zauberer (vgl. Rapp 2016, 66). Solche gängigen Orienttopoi tauchen anekdotisch auch bei Zachariä auf. Im Dorf Larigorwi, dem heutigen Arnea auf der Halbinsel Chalkidiki, war eine

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Frau, die ihr Kind auf dem Rücken trug, erschrocken, als der Reisende mit der Lorgnette am Auge an ihr vorbeiging, »sie glaubte, ich habe ein ›böses Auge‹, und stammelte eine Menge Beschwörungsformeln, um ihr Kind vor Unheil zu bewahren« (Zachariä 1840, 216). Die Themen Magie oder magische Kräfte werden unmittelbar danach in der Anekdote mit dem Maultierverleiher erneut aufgegriffen. Dieser befolgt den Ratschlag des Reisenden und findet seine Maultiere wieder, »aber das Entlaufen der treuen Thiere und das Wiederfinden auf dem bezeichneten Wege wollte ihm lange als Zauberei erscheinen« (Zachariä 1840, 216). Das Einf lechten von Anekdoten hat ähnlich wie bei anderen Autoren die Funktion, das Erzählte zu beglaubigen und dem Publikum ethnographische Informationen zu übermitteln (vgl. Dürbeck 2007, 105). Die Ähnlichkeit dieser Darstellungsstrategie des Erzeugens von Authentizität zu der anderer Autoren des 19. Jahrhunderts wie etwa Adelbert von Chamisso liegt auf der Hand. Auch dieser stellt sich anekdotisch in verschiedenen Situationen als Ich-Erzähler vor, der die Fremden zu Reaktionen veranlasst. Gelegentlich hat es den Anschein, als habe Zachariä die Reaktionen der Einheimischen auch bewusst provoziert (warum trug er etwa auf der Straße seine Lorgnette?), um den tiefen Glauben der Einheimischen an Magie und Zauberei zu enthüllen bzw. zu bestätigen. Es geht hier offenbar nicht um ein neues Verständnis des Fremden, sondern um die Bestätigung gängiger Orientvorstellungen beim Lesepublikum. Im Unterschied zu den Darstellungen anderer Reisender dieser Zeit wie etwa Hermann von Pückler-Muskau pendeln die von Zachariäs jedoch nicht zwischen Realität und Märchenwelt (Rapp 2016, 102), sondern geben im überlegenen Forschergestus und in sachlichen Beschreibungen das gängige Orientbild wieder. Dieser populärwissenschaftliche Blick trägt nicht nur zur Bestätigung von gängigen Orientvorstellungen, sondern auch zur Konstruktion des Orientdiskurses bei, zumal Zachariä über generelle Regelungen im Umgang mit dem Orient ref lektiert. In pseudowissenschaftlicher Manier bestätigen die genannten ›Experimente‹ mit den Einheimischen den Gegensatz zwischen dem Eigenen und dem Fremden, der Vertreter des Abendlandes stellt in der Begegnung mit den Einheimischen seine Überlegenheit heraus (vgl. Rădulescu 2018, 74). Insofern ist Zachariäs Buch nicht nur ein wichtiges Epochenzeugnis für die Beschreibung Griechenlands, sondern auch für das Verständnis der Diskurskonstruktionen des Orients als Projektionsf läche.

Zeitgeschichtliche Elemente Karolina Rapp hat betont, dass man sich im 19. Jahrhundert auf »die Verwandtschaft der Weltsprachen [konzentrierte]« (Rapp 2016, 67), daher verwundert auch nicht die Stellungnahme Zachariäs zu Thesen des Orientalisten Jakob Philipp

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Fallmerayer (1790-1861), der für seine (heute widerlegte) Behauptung bekannt ist, dass die antiken Griechen ausgestorben und durch Albaner und Slawen verdrängt worden seien. Nachdem er sich damit kurz auf einer phonologischen Lautebene auseinandersetzt und die Affinität insbesondere des Athener Dialekts mit dem antiken Attischen Dialekt hervorhebt, schreibt er: Es wird noch genauerer Untersuchungen bedürfen, bis man aus solchen Ver­ wandtschaften den erforderlichen Beweis führen kann, daß sich die griechische Sprache unter den Bewohnern von Griechenland in ununterbrochener Fortpflan­ zung erhalten hat, daß mithin die heutigen Griechen wenigstens theilweise als Nachkommen der alten Hellenen betrachtet werden können und müssen (Zacha­ riä 1840, 162). Die Stellungnahme kann als ambivalent bezeichnet werden, zumal er zu der Dorfgegend Tsakonia angibt, dass dort gewiss altgriechische Segmente zu beobachten sind, was auch Fallmerayer zugab und Zachariä dort selbst feststellen konnte. Man könnte auch erwarten, dass Zachriä die Abhandlung Ueber die Sprache der Zakonen des Philologen Friedrich Wilhelm Thiersch (1784-1860) bekannt war, ebenso wie dessen 1833 auf Französisch verfasstes zweibändiges Werk De l’état actuel de la Grèce et des moyens d’arriver à sa restauration (vgl. Quack-Manoussakis 2008, 197). Ebenso müsste Zachariä eine Reihe anderer Gelehrter dieser Zeit kennen, wie Theodor Kind, Johann Wilhelm Zinkeisen, Eugen von Bayern u.a., die sich vehement gegen die Thesen Fallmerayers gewandt hatten (Quack-Manoussakis 2008, 196). Doch Zachariä geht auf die Thesen nicht ein und beschränkt sich auf seine eigene Position. Dies ermöglicht ihm jedoch, in seinen Äußerungen ambivalent zu bleiben und die Griechen seiner Gegenwart bis zu einem gewissen Grad als Nachkommen der antiken Griechen gelten zu lassen. Fallmerayers Thesen wurden zu seiner Zeit auch als Zivilisationskritik verstanden (Brenner 1990, 258). Doch auch in dieser Hinsicht hält sich Zachariä zurück, zumal im Text keine Zivilisationskritik formuliert wird, der Autor bringt vielmehr durchgehend das Vertrauen auf die eigene Wissenschaft zum Ausdruck. Im Kapitel »Konstantinopel« heißt es: Auf dem Vorderdecke des Schiffes befand sich ein Sklavenhändler, der gegen zwanzig junge Sklavinnen aus Oberägypten zum Verkauf nach Konstantinopel führte. Diese Schwarzen waren erbärmliche Geschöpfe, die sich ein Weißer nur schwer für seines Gleichen zu halten entschließen konnte: menschliche Gefühle, wie Betrübniß, Neugierde, Heimweh, und Scham, waren ihnen völlig fremd. […] der geistigen und leiblichen Wohlfahrt der Schwarzen ist gewiß die Sklaverei unter den Weißen mehr als Anderes förderlich, und aus Menschenliebe und zum Besten

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der Schwarzen sollte man nicht mehr verlangen, als daß ihre Sklaverei milde und menschlich sei (Zachariä 1840, 277f.). Dies ist ein Beispiel, das zeigt, wie Humanismus argumentativ in die Vorstellung umschlagen kann, Schwarze seien von Natur aus für die Sklaverei prädestiniert. Allerdings steht Zachariä mit dieser Ansicht nicht allein; in zahlreichen Reiseberichten bereits des 18. Jahrhunderts wird wie selbstverständlich von der »Inferiorität des Negers« ausgegangen (Brenner 1990, 267). In Bezug auf den Orient ist jedoch von einem weiten Diskursfeld auszugehen. Obgleich der Orient im deutschen Verständnis des 19. Jahrhunderts nicht selten mit Afrika assoziiert wurde, werden auch Griechen oder Südländer unter Osmanischer Herrschaft nicht wie die Afrikaner an den Maßstäben des Sozialdarwinismus gemessen. Dennoch werden Griechen, wie bereits erwähnt, nicht auf demselben zivilisatorischen Stand wie die Europäer verortet, was bedeutet, dass sie – obschon viele im geographischen Orient leben – eine Zwischenposition zwischen Orient und Okzident einnehmen. In diesem Sinne stellt Zachariäs Reisebericht ein wichtiges Zeitdokument dar, in dem die zivilisatorischen Abstufungen des Orients aus westlicher Sicht deutlich werden. Die Morgenländer fallen zwar insgesamt »reduktionistischen und stereotypen Einstufungen« zum Opfer (Rădulescu 2018, 74), doch die Zuschreibung des spezifischen Grades der Inferiorität hängt von der geographischen Position ab. Der Reisebericht wendet sich selbstverständlich auch den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der bereisten Regionen zu, wie etwa der Athener Akropolis, der Stadtmauer in Thessaloniki oder dem Topkapı-Palast in Konstantinopel und anderem. Für meinen Kontext ist jedoch wichtig, dass der Autor auf gängige Imagination nicht explizit eingeht. Im Kapitel Konstantinopel heißt es, dass er »am andern Morgen die Dardanellen [verließ], ohne Troja besucht zu haben, damit [ihm] der Schauplatz der homerischen Heldenthaten in einen poetischen Schleier gehüllt bliebe« (Zachariä 1840, 277). Konkrete Anschauung fördert seiner Ansicht nach also nicht die Imagination, sondern führt zu Desillusionierungprozessen, was als Distanzierung von der mentalitätsgeschichtlichen Tradition des »romantisch-empfindsamen Werkes« (Jagodzinski 2014, 202) gelesen werden kann.

Reiseführer, Reiseanleitung Im Hinblick auf die gattungsspezifische Konsistenz würde ich den Text als Vorläufer der Reisehandbücher bezeichnen, die populärwissenschaftliche Intentionen mit Reiseanleitungen verbinden. Gelegentlich wird in Reise in den Orient über das Vorhandensein oder das Fehlen von Karten der bereisten Region unterrichtet. Der erste Baedeker erschien 1835, und darin war durchaus auch Platz für persön-

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liche und kritische Ref lexionen (vgl. Brenner 1989, 341, 344). Zudem besteht eine Verbindung zwischen Textauf bau und persönlichen Beweggründen des Schreibenden: Zachariäs Reisebericht fügt sich der populärwissenschaftlichen Intention und deshalb gilt sein Interesse in den bereisten Räumen hauptsächlich den Bibliotheken, den Archiven und Dokumenten. Erst wenn diese beschrieben sind, kommen Land, Leute und Ref lexionen an die Reihe, was jedoch durchaus kompatibel mit den praktischen Reisebüchern jener Zeit ist. Bei der Darstellung des Fremden und des Eigenen fällt auf, dass es nur wenige explizite und implizite Rückschlüsse auf das Eigene gibt, was die wenig politisierende Schreibhaltung unterstreicht. Anders als gelegentlich in der Reiseliteratur der Biedermeierzeit zu finden (vgl. Hentschel 2010, 127), sind bei Zachariä keine politischen Untertöne zu vernehmen, die bei der Beschreibung des Fremden das Unbehagen am Eigenen kritisch kommentieren. Politisch ist Zachariäs Haltung nur insofern, als er die Monarchie des bayrischen Regenten befürwortet sowie aufgrund seines Selbstverständnisses, einer überlegenen abendländischen Zivilisation anzugehören – überlegen in dem Sinne, dass diese eine höhere zivilisatorische Entwicklungsstufe erreicht hat. Bezeichnenderweise wird in dieser Argumentation Hellas vollends ausgeklammert. In einem zweiten Schritt wird dadurch die Bindung Griechenlands an den Orient möglich. Im abendländischen Verständnis der zivilisatorischen Etappen werden die Afrikaner in der untersten positioniert, während der Orient eine Zwischenstufe einnimmt. Der populärwissenschaftliche Schreibstil dominiert im ganzen Text, was eine verklärte philhellenische Darstellungsweise und eine entsprechend poetische Sprache nicht auf kommen lässt. Zachariäs sachliche Schreibhaltung bringt ein facettenreiches realitätsnahes Zeitdokument hervor, und das liefert ein aussagekräftiges Bild von der allmählichen Modernisierung der Region, wie z.B. das Kapitel über die Athener Universität anschaulich zeigt.

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»Der Blick des Wissenschaftlers«

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Gegen Herrschaft: Algerischer Rap von Piratage zu Autonomie El Houma, Algier1 Wir haben das Mikro der Propaganda gestohlen, wie der kleine Omar. Wir treten im richtigen Moment auf mit der Technik der Angriffsspitze* in traditionellem Gewand. Eine Bombe des Wissens in einer Wiege mitten auf der Hauptstraße. Alle treten nach draußen, schockiert, aber unverletzt – weder Zivilisten, noch Polizisten. Oh, Kasbah, du ziehst Männer mit Härte auf. Das Leben in deinem Inneren ist ein Kampf mit der Daïra* und der APC,* eine Administration verkleidet als Fallschirmjäger: Befehle aus Washington DC [3x]2 (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016) Diese Lyrics von Rabah Donquishoot und Diaz, beides Mitglieder der legendären Rap-Band MBS (Le Micro Brise le Silence, dt. »Das Mikro bricht das Schweigen«), sind auf das Jahr 2016 datiert, aber das exakte Alter der Botschaft ist schwer festzustellen. Die Schlacht um Algier gibt uns ihre eigene Zeitlichkeit vor. Sie kann jeder Zeit wieder begonnen werden. Sie wird jederzeit wieder begonnen. 1 Lyrics, Text, Übersetzung: Farid Belhoul, Luc Chauvin, Viktoria Luisa Metschl. Alle Übersetzungen soweit nicht anders angegeben von Chauvin/Metschl. 2 * Fr.: la pointe, Anspielung auf Ali La Pointe aka Ali Ammar (1930-1957), algerischer Revolutionär, der während der Schlacht um Algier gemeinsam mit Hassiba Ben Bouali, Mahmoud und Omar von der französischen Armee in ihrem Versteck in der Kasbah in die Luft gesprengt und auf diese Wei­ se ermordet wurde. * APC = Assemblée Populaire Communale, kommunale Verwaltungseinheit Algeriens. * Daïra = Untereinheit von Wilaya, die die administrative Unterteilung des nationalen Territoriums von Algerien darstellt.

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Du willst handeln, beginne mit der Vorbereitung der Schlacht um Algier! Oh mein Gott, nur Blockaden – Die Schlacht um Algier! Ein kleines Projekt oder die ganz große Nummer – Die Schlacht um Algier! Nichts geschieht ohne Bewegung – Die Schlacht um Algier! Kämpfen bis wir siegen – Die Schlacht um Algier! (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016) Das Datum 2016 beinhaltet 60 Jahre Bataille d’Alger, 50 Jahre Bataglia di Algeri (ALG/ IT 1966, Regie: Gillo Pontecorvo) und mehr als 20 Jahre MBS-Rap. Diese Eckdaten stellen die notwendigen Koordinaten zur Verfügung, um den algerischen Rap als ein Anti-Herrschaftsinstrument verstehen lernen zu können. Als ein mit Wörtern bewaffneter Arm der internationalen Hip-Hop-Bewegung leistet er Widerstand gegen globale und lokale Dominanzverhältnisse, unter denen seine Akteurinnen und Akteure stehen. Darüber hinaus aber ist er gegen Herrschaft im Sinne einer autonomen Verhaltensweise, die die Binarität Herrschaft vs. Widerstand überschreitet und neue Räume des Zusammenlebens und des Sprechens schafft. Autonomie ist damit als materiell im alltäglichen Leben und als linguistisch in der algerischen Sprache und in der Verwobenheit dieser beiden Aspekte zu verstehen. 60 Jahre Bataille d’Alger zeigt das politische Gedächtnis der musikalischen Kreation an. Die Aktualisierung des Kampfes um Unabhängigkeit findet durch die Überlagerung der global verfügbaren Codes des Rap mit den spezifischen Geschichten und Erfahrungen des Landes, der urbanen Räume insbesondere, statt. 50 Jahre Bataglia di Algeri umfasst kulturelles Gedächtnis und ästhetische Forderung. Diese bilden den materiellen Grund des künstlerischen Schaffens. Die Verwendung des Bildmaterials von Pontecorvos Kinoproduktion für den Videoclip des Songs bewirkt Aneignung, Kritik und Neuausrichtung von Geschichte und Filmgeschichte Algeriens, inklusive deren Herrschaftsansprüche, die auch hier eine »post«-koloniale Allianz zwischen europäischer Dominanz und lokalen Eliten eingeht. Über 20 Jahre MBS, weltweit bekannte Chiffre des algerischen Rap, heißt auch Bilanz ziehen aus den Entwicklungen der Spiel-, Sprach- und urbanen Räume der Autonomie, die der Hip Hop in Algerien geschaffen hat, um im Realen aufrecht (debout) und in Bewegung zu bleiben, neue Räume zu schaffen. Rap ta les Anciens Dj’did…3

3 Auf Deutsch ungefähr zu übersetzen mit »Rap der neuen Alteingesessenen«; siehe: MBS ft. ZAK »Ancien Jded«.

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Abbildung 1 – Algier, Rue Hocine Belladjel, © Katharina Noemi Metschl

Algerischer Rap oder die neuen Grenzgebiete des globalen Hip-Hop Planeten In Algier 1997 erscheint das erste Album Ouled El Bahdja (dt. Die Kinder der Leuchtenden [~ Stadt], Deckname für Algier) von MBS und feiert einen großen Erfolg. Innerhalb weniger Monate werden 60.000 Kassetten verkauft und im November 1998 wird das zweite Opus Aouama (dt. »Die Schwimmer«) veröffentlicht. 1999 unterschreibt MBS aus Algier-Hussein Dey einen Plattenvertrag mit Universal und bringt das dritte Album, das den Namen der Band als Titel trägt, heraus. Im Jahr 2000 tut die Gruppe Intik, ebenfalls aus Algier, das Gleiche. Damit wird der Rap aus der Hauptstadt zum internationalen Sprachrohr des algerischen Hip-Hop. Das gesamte Jahrzehnt der algerischen 1990er Jahre ist von Hip-Hop-Bewegungen unterschiedlicher Intensität geprägt. Dieser erste Akt der Geschichte des algerischen Rap ist zwar von einer Unsichtbarkeit innerhalb der offiziellen wie natio-

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nalen Kultur des Landes gekennzeichnet, Algier aber wirkt als Epizentrum der Bewegung. In den Lyrics kommt vor allem auf ungeschönte und emotionale Art die Gewalt der 1990er Jahre zum Ausdruck, derer die Bewohnerinnen und Bewohner der Hauptstadt Zeuginnen und Zeugen wurden. Die Brigades Anti-Massacre, eine weitere Gruppe aus Algier, sind der Widerhall eines Schreis der städtischen Jugend, die in den Entwicklungen nach dem Volksaufstand von 1988, welche letztlich zum algerischen Bürgerkrieg führen, nur selten Gehör findet. Die Aufnahmen der ersten Rapper im improvisierten Stil des sogenannten System D4 sind zunächst außerhalb der Hauptstadt und der sehr begrenzten Milieus einiger Jugendlicher weitestgehend unbekannt – bis zur Veröffentlichung des Albums von MBS, dank der Unterstützung und des Engagements von Produzent Chérif Af lah. Die ersten Aufnahmen und Demo-Tapes werden mit äußerst wenig Mitteln und in einem sehr gewaltvollen Klima erstellt. Ausgangssperren und Sicherheitsrisiken machen es schwierig sich zusammenzufinden. Durch den steigenden Einf luss der Front Islamique du Salut (FIS) und die militärische Repression, als Reaktion auf die zunehmende Präsenz bewaffneter Gruppen, werden Versammlungsräume und kulturelle Räume nach und nach geschlossen. Aufgenommen wird zu Hause mit einfachen Kassettenrekordern oder im Auto dank des Autoradios, das die einzige Musikquelle darstellt. Obgleich die zweite Hälfte der 1990er Jahre den Rap zu einer Ausdrucksform macht, die gegenüber dem damaligen Kontext als widerständisch beschrieben werden kann, pocht die Relokalisierung der globalen Codes des Hip-Hop, die der Rap ins Szene setzt, auf eine umfassendere Lektüre der sozialen Welt, die sich im Laufe der Zeit rund um die Handlungsweisen des Hip-Hops erschafft.

In Oran In Oran findet bereits 1992 im Centre Culturel Français ein Konzert der Gruppe Deep Voice, bestehend aus den zwei DJs Chemsou und Kada, statt, welches zum berüchtigten Datum der Bewegung wird. Hier, in der Hauptstadt der Region der Oranie, sind die Folgen des Bürgerkriegs weniger stark in Form von Terror und Gewalt spürbar. Entlang der Promenade der Corniche trägt zudem die Tradition von Nachtclubs und Räumen, die der Raï Musik gewidmet sind, zur Beibehaltung eines gewissen Grads an Nachtleben rund um Musik bei; ganz im Widerspruch zum sehr streng geregelten Sozialleben während der Jahre, die unter dem Einf luss der FIS standen. Dennoch verzeichnet man denselben Rückzug in private Räume und die Vernachlässigung von Kultur im öffentlichen Raum.

4 Das système de la démerde bezeichnet die Techniken, sich im Leben mit den wenigen Mitteln, die einem in nicht-privilegierten Klassenverhältnissen zur Verfügung stehen, durchzuschlagen.

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Die Rap-Bewegung wird im kleinen, geschlossenen Kreis unter Freunden und schließlich begeisterten Anhängerinnen und Anhänger losgetreten, akzentuiert von Privat-Vorstellungen, Proben, die ebenfalls in Autos in den Stadtvierteln von Oran stattfinden, und Demo-Tapes, die durch die Hände der Rapper und im Land umher wandern. 1997 erscheinen die ersten Kassetten. Fada Vex, Mitglied von T.O.X (Theory of Xistence), erinnert sich: Wir hörten spanische Radiosender und freitags nachts blieben wir immer wach, weil da spielten sie immer Rap und was es Neues gab vom amerikanischen Rap. Am Anfang schlug uns einfach die musikalische Dimension in Bann. Nach und nach habe ich dann angefangen zu recherchieren. Ich habe die Liedtexte auf eng­ lisch auswendig gelernt. Zusätzlich haben uns die Verwandten aus der Diaspora in Frankreich Kassetten mitgebracht. Und dann kamen die Satellitenschüsseln.5 T.O.X wird 1996 von Fada Vex aus Oran und seinem Bruder Banis gegründet und veröffentlicht 1998 ein erstes Album mit acht Nummern unter dem Titel Mechi Besah (dt.: »Das ist nicht wahr«). In der Zwischenzeit kommt es in der Stadt zu mehreren Bühnenauftritten. Hier sind das erste Konzert auf der ehemaligen Place Pigalle in Oran und mehrere Auftritte, die von Studierenden ab Ende des Jahres 1995 organisiert werden, zu nennen. Nach und nach bilden sich immer mehr Rap-Bands, was auch mit der zunehmenden Verbreitung des Satelliten-Fernsehens und dadurch des Empfangs von ausländischen Sendern zusammenhängt, wodurch dem amerikanischen und französischen Hip-Hop mehr Raum geboten wird und dieser sein Publikum unter den algerischen Jugendlichen findet (vgl. Bekkar 1998). Ab 1998 öffnen sich durch den Erfolg von MBS und Intik kleine künstlerische Freiräume und ein junges Publikum, das sich in den Botschaften und Sprach-Praktiken dieser Jugendlichen aus den ärmeren Stadtteilen der Hauptstadt (wie Hussein Dey) wiederfindet, wird gewonnen. Auf Einladung des Radiosenders Beur FM tritt MBS im November 1998 auf dem Konzert »L’Algérie à Paris« an der Seite von Cheb Khaled und Cheb Mami auf, steigert dadurch den Bekanntheitsgrad und findet vor allem die materiellen und finanziellen Mittel, um ihre Kunst auszuüben – nicht zuletzt auch außerhalb Algeriens. In Oran geht T.O.X nach 1996 weiter seinen Weg und ruft zur Nachahmung auf. 1999 wird die Kompilation Wahrap (eine Fusion der Wörter »Wahran« = Oran und »Rap«), darauf fünf Nummern von T.O.X, aufgenommen und zwei Jahre später ebenfalls in Frankreich veröffentlicht. Im selben Jahr nimmt die Band an dem internationalen Jazz Festival »Nancy Jazz Pulsation« in Frankreich teil. Mit DJ Redha-Jay tritt den zwei Brüdern ein drittes Mitglied bei. Die Gruppe setzt fort 5 Interview von Luc Chauvin mit Cheikh Malik, Fada Vex, Oran, 24. Mai 2009.

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mit Konzerten in ganz Algerien und zunehmenden Kollaborationen mit Talisman, Abrasax, Fedayin, Rafale-A und anderen. Xenox (aka Hakim Lakhdar-Barka) wurde in Maraval, einem Stadtviertel von Oran geboren. Vom amerikanischen und französischen Rap beeinf lusst, beginnt er mit den Gruppen aus der Nachbarschaft zu rappen und schließt sich letztlich der Band Messagers aus seinem Viertel an.6 1999 nimmt er mit dieser Band am ersten nationalen Hip-Hop Konvent in Oran teil. Mit der Gruppe Fedayin, die er gemeinsam mit dem Künstler Abrasax gründet, und dem Oraner Label Third rap records macht er 2003 zum ersten Mal Studioaufnahmen. Wenig später verlässt Xenox Algerien und kommt noch im selben Jahr in Paris an. Seither hat er zahlreiche Solonummern aufgenommen und rappt weiterhin auf Algerisch. Wie anderswo auch, fasst der Hip-Hop als kulturelles Genre in der algerischen Gesellschaft durch mediale Verbreitung Fuß, aber vor allen Dingen auch durch das Zusammenspiel von leicht wiederverwendbaren Codes, direkt getaktet mit den Bedürfnissen einer vom Herrschaftssystem in Abseits gedrängten Jugend. Die Geschichte des Hip-Hop ist von dieser Beziehung zum Globalen geprägt, die auf einer Selbstermächtigung von Akteurinnen und Akteuren beruht, die sich gegenseitig wiedererkennen, zusammenfinden und autonome Kontaktzonen der Globalisierung schaffen. Diese Geschichte konfrontiert uns mit einem konkreten Phänomen von Deterritorialisierung und Relokalisierung von Kultur sowie den Praktiken der Autonomie gegenüber globalen wie lokalen Machtstrukturen. Daïra – APC – Befehle aus Washington DC [3x] (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016)

Linguistische Autonomie: Hybridisierung durch Sprache Hip-Hop als globalisiertes kulturelles Genre bietet also eine Palette von Codes an, die allen Akteurinnen und Akteuren zur Verfügung stehen, die sich wie die Schwarzen Jugendlichen in den Ghettos der USA in den 1980er Jahren mit einer politisch-kulturellen Bewegung identifizieren, die Mündlichkeit, Selbstbestimmung und eine Ökonomie des »Sich-Durchschlagens« bejaht. Diese Elemente sind das Zentrum der Sorgen dieser Jugendlichen in dem Maße wie sie von den kapitalistischen Gesellschaften vernachlässigt werden. Die Hybridität des Hip-Hop formt eine Facette von einer in der materiellen Realität verankerten Autonomie. Sie ist Reaktion auf den Druck, unter dem die Jugendlichen stehen und der sie an der Frontlinie zu vielfältigen kulturellen Referenzen, Entfremdung, Individualismus und Schwerfälligkeit der Gesellschaft plaziert. Das Hybride des Hip-Hop erlaubt eine verfeinerte Lektüre von dessen 6 Interviews von Luc Chauvin mit Xenox, Juni 2009/Januar 2014.

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spezifischer Ästhetik, insbesondere des Raps, der die Kraft der Worte in den Vordergrund gerückt hat: eine Sprengkraft die immerzu dem speak up der Schwarzen Befreiungsbewegung in ihrer Gesamtheit und der Geburt des emceeing gedenkt.7 Rap kann eine direkte Rede übermitteln, in der Wörter »Waffen« darstellen, wie Greg Thomas in Erinnerung ruft: »For there is an aesthetics of fire at heart of HipHop or at least its emceeing. Either actually or potentially guerrilla, it is about the power of heat and speech, explosiveness, alchemy or Nommo,8 and often what Carolyn Cooper labels the ›lyrical gun‹« (Thomas 2006, 310). Händigt eure Bomber aus – wir geben euch unsere Flows (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016) Der Flow erschafft ein aktives Zuhören, wie es Anthony Pecqueux beschreibt, und erlaubt, Rap-Produktionen als ein Ensemble von »geteiltem Lied-Raum« zu verstehen, wodurch die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Kontextualisierung beachtet wird (Pecqueux 2007, 135). Er wird zum symbolischen Ort, an dem ästhetische Autonomie und politische Autonomie zeitgleich und gemeinsam am Werk sind. Der dem Rap eigene Flow macht es möglich, die jeweils einzigartige Stimme der Rappenden abzuliefern (to deliver), während diese Stimme gleichzeitig in einem materiellen Kontext verankert wird, in dem die Künstlerinnen und Künstler zu Handelnden werden. Der Sprechakt stellt zwar eine gemeinsame Sprache im Gleichgewicht mit der spezifischen Stimme der Rappenden (der MCs = Masters/ Mistresses of Ceremony) zur Verfügung, aber macht diese Sprache nicht unbedingt sofort übertragbar oder verständlich. Die Sprache stellt »Hör-Fallen« auf, die dem Flow seine Form geben, aber die sich auch in anderen Sprechakten, wie Refrain, Zwischenrufe oder Aufforderungen, ausdrücken. Der Sprechakt der Rappenden ist die Quelle der Hör-Pisten: diese werden durch Flow, Stimme, Performance und Zuhören in das Reale eingeschrieben, um zu einem Punkt zu gelangen, an dem ein neues, einzigartiges Wahrnehmungsmedium im geteilten Raum geschaffen wird. Sie regen eine aktive Teilnahme im Hören an. Die Erfahrung der Relokalisierung des Rap führt damit in den Prozess des künstlerischen Schaffens und dessen Aussagekraft eine Horizontalität ein. Sie fordert jegliche politische

7 »[…] emceeing did not necessarily originate from hip-hop. In fact, emceeing was around befo­ re the days of slavery, long before civilization blessed mankind with a microphone. The earliest pioneers of emceeing were African griots or poets, who delivered their rhythmic folk tales over drums and other forms of instrumentation. Little did they know back then that they were innova­ ting an art form that would directly influence rap music« (Adaso 2018). 8 Swahili, Ausdruck, der die »Macht der Wörter« bezeichnet.

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Passivität heraus, wie es 1968 der kollektive »Appel von Havanna an die Intellektuellen«, welcher in Sociologie de Frantz Fanon zitiert wird, formuliert. Der Imperialismus hat es durch unterschiedlichste Doktrinen der Indoktrinierung darauf abgesehen, die soziale Unterwerfung und die politische Passivität sicher­ zustellen. Zeitgleich visiert eine systematische Bemühung die Mobilisierung von Technikern, Wissenschaftlern und Intellektuellen an, die gemeinhin im Dienst der kapitalistischen und neokolonialen Absichten und Interessen stehen. Auf diese Weise werden Talente und Fähigkeiten, die eigentlich für Fortschritt und Befrei­ ung zum Einsatz gebracht werden könnten und sollten, tatsächlich zu Instrumen­ ten der Kommerzialisierung von Werten, der Degradierung der Kultur und der Bei­ behaltung einer sozialen und wirtschaftlichen Ordnung des Kapitalismus (Lucas 1971, 175). Die Verlagerung von passiv zu aktiv vollzieht sich in der Bewusstwerdung und in der Bestätigung des Sinns durch die Neuansiedelung eines Ungehorsams im Sprechakt, affirmiert durch Ko-Äußerungen der Anwesenden (vgl. Pecqueux 2007, 173) und gesteigert durch die tatsächliche Bestätigung eines Wiedererlangens von Macht durch Worte. Dieser Ungehorsam schafft infolgedessen Momente der Autonomie in einem Lebenskontext, der ansonsten von Diskriminierung und Abwertung bestimmt ist. Der Flow des algerischen Rap kann damit als eine Ausdrucksform junger Algerier_innen in ihrer eigenen Sprache betrachtet werden. Es besteht keinerlei Zwang in Umgangssprache, Dialekt oder Sprache der Populärkultur zu rappen, wie es jenes Paradigma nahelegt, das auf einer okzidentalo-zentristischen Vision der Erschaffung von Hip-Hop fußt – so etwa die Ansätze von Manuel Boucher, der Rap als »Ausdrucksweise der Schlitzohren« liest (Boucher 1998), oder Christian Béthune, für den sich Rap als »Ästhetik außerhalb des Gesetzes« darstellt (Béthune 1999). Tatsächlich rappt der algerische Rap mal auf Hocharabisch, mal auf Französisch, mal auf Kabylisch,9 mal auf Englisch. Gemäß der Auffassung, dass ein Lied einen geteilten Raum darstellt, erfüllt der Flow die Funktion einer direkten Bestimmung. Er zeigt das »von« und das »für« an. Er trägt das sprachliche Merkmal derer, die rappen, da er sich als solches von den anderen verstanden weiß. In einem Tempus des Politischen und Ästhetischen bringt er ohne Unterlass die aufgebrochene Dialektik zwischen Singularität und Kollektiv ins Spiel. Anders ausgedrückt spiegelt er das Erschaffen einer Sprache durch geteilte sprachliche Praktiken wider und nimmt daran teil – innerhalb einer Gesellschaft, die sich durch eine vielfältige Sprachlandschaft auszeichnet. All die Sprachen in Algerien stellen in der Tat einen Verankerungspunkt des Hybriden und der Relokalisierung des Hip-Hop dar. 9 Siehe u.a. den Track »Yemma« auf dem Album Micro Brise le Silence von MBS.

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Die algerische Gesellschaft ist eine Vielsprachengesellschaft. Obwohl die offizielle Landessprache des algerischen Staats seit der Unabhängigkeit Arabisch ist, weisen die tatsächlichen sprachlichen Praktiken sehr viel eher auf einen Kontext hin, der von der gesprochenen algerischen Sprache bestimmt wird (Benrabah 1999, 59). Darüber hinaus werden auch die Sprachen Tamazigh und Französisch weitreichend im Alltag verwendet (Taleb-Ibrahimi 1996, 60). Dort jedoch, wo Analysen, die den klassischen soziolinguistischen Schemata folgen, von »Vielsprachigkeit« oder »Dualismus« sprechen, um Situationen wie die in Algerien zu beschreiben, in denen Sprachen je nach Personengruppe, Umgang oder sozialem Milieu unterschiedlich angewendet werden, drängt eine Untersuchung des Flows im Rap darauf, eher von einer algerischen Sprache in Form eines »linguistischen Kontinuums« zu sprechen. Jede Person in Algerien hat, sobald sie Hocharabisch im Grundschulunterricht lernt, eine gewisse Anzahl sprachlicher Register zur Verfügung, die sie auf dem Markt der Sprachen zum Einsatz bringen kann. Man kann ein komplexer werdendes Kontinuum beobachten, da sich immer mehr Varianten in die Stufen der Sprach-Leitern einfügen. Die Idee des Kontinuums ermöglicht es, sich die Verf lechtung der Sprache mit sozialen Normen vorzustellen – von den Normen, die am obersten Ende angesiedelt werden (Hocharabisch und Französisch) bis zu den Umgangssprachen, die der jeweiligen Region oder Stadt zu eigen sind. Die algerische Sprache, die in diesem Kontinuum zum Ausdruck kommt, ist also eine hybride Sprache. Sie ist mehr als nur die Summe der vorhandenen Sprachen und sehr viel mehr als deren Mischung. Die algerische Sprache zeichnet sich durch das Entlehnen aus dem Französischen, Kabylischen, Spanischen, Italienischen und der nordafrikanischen Variante des gesprochenen Arabisch aus. Mehr noch spiegelt sie eine aktive Hybridisierung wider, die Interkulturalität und Gegenkulturalität – Folgen der Kolonisierung sowie der Arabisierungspolitiken nach der Unabhängigkeit – entspringen (Benrabah 1999, 55; McDougall 2006): sie ist das Kennzeichen einer populären Praktik, die gezwungen ist, sich in den Redewendungen der überwiegenden Mehrheit auszudrücken und sich der Abriegelung des Sprachmarkts durch die Machtspiele der Herrschaftsbeziehungen bewusst ist. Oft stellen Französisch als Sprache der Elite und Arabisch als Sprache der Religion Marker gesellschaftlicher Dominanz dar, die für die »Erben« der herrschenden Klassen stehen (vgl. Bourdieu und Passeron 1964). Dadurch birgt das Hybride des Algerischen ein Potential, das sich stets den sozialen Umständen zufolge verändert. Das Algerische der algerischen Sprache in Form des Kontinuums beinhaltet sowohl das Erbe des kolonialen Französisch und die Verwendung der Berber-Sprachen durch das koloniale System, wie auch das revolutionäre Gewicht des Hocharabischen während der Revolution und weitere mannigfaltige kulturelle Einf lüsse des ganzen Territoriums. Zwischen der Sprache der Macht, die immer noch Französisch ist, und der arabischen Sprache verbunden mit dem Islam und dem Nationalismus (McDougall 2006, 235; vgl. Colonna 1975), stellt das Kontinuum der algerischen Sprache einen

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politischen Akt der Hybridisierung dar, eine gewollte Positionierung oder auch die Tat des »Überlebens« durch eine populäre Praktik im Inneren des Kampfes um Vorherrschaft, dessen Grenzen von den Sprachen gezogen werden. Der Flow des Rap macht die Verwendung der algerischen Sprache als autonome Praktiken des Volkes nachvollziehbar. Er kommt innerhalb des Kräftespiels um Herrschaft und um Sprachen voll zum Tragen, da er die Existenz der algerischen Sprache an sich affirmiert. Er ist sowohl Bestätigung als auch Kreation im Gesprochenen. Das aktive Zuhören wiederum ermöglicht, die implizite Teilnahme der Zuhörenden, und mehr noch den ständigen Aushandlungsprozess des Werks hervorzuheben. Die algerische Sprache ist kein gesprochenes Arabisch, sondern ein vielfältiges Kontinuum, das die soziale Realität der Wörter, die aus anderen Sprachen entlehnt werden, bereits absorbiert hat. Sie ist »algerisch« im Sinne eines gesellschaftlichen Resonanzraums, den sie nur in den sozialen Welten des heutigen Algeriens finden kann. Eine Analyse des Flows und der Äußerungen im Song »Fouq el Bank« (dt. »Auf der Bank«), in welchem es um die Beschreibung und Kontemplation des Alltagslebens im Viertel geht, liefert ein Beispiel der Relokalisierung des Rap in Oran sowie eine Erläuterung zur algerischen Sprache als politischer Akt der Hybridisierung. In den Lyrics von Xeno ist die Verwendung von zahlreichen Wörtern französischen Ursprungs allgegenwärtig und vollzieht sich in zwei Variationen: eine intralinguistische oder »endolinguistische« Variation (Kouras 2008, 101) sowie eine interlinguistische oder »exolinguistische« Variation. Alle von Xenox verwendeten Wörter, deren Entlehnung sich in das endolinguistische Register einschreibt, nehmen durch die Praktik der Ko-Äußerung eine neue Dimension an. Diese Resemantisierung veranschaulicht, dass die verwendeten Wörter zur Beschreibung eines sozialen Alltags, der die Mehrheit der algerischen Jugendlichen betrifft, sehr viel mehr von einem unablässigen Verhandlungs- und Bestätigungsprozess von Seiten der Sprechenden im jeweiligen Kontext abhängen, als von jeglicher Referenz auf ihre sprachliche Herkunft: » psychologique «, »  fragiles «, » tragique «, » à part «, » jamais «, » avocat «, » les BM «, » les Mercédès «, » cendrier«, » même « sind als solche unverständlich in einem okzidentalo-zentristischen frankophonen Sprachraum. Jedes einzelne Wort wirft einen auf eine algerische Realität zurück, von welcher dieses bereits resemantisiert wurde. Was als Entlehn-Vorgang aus der französischen Sprache beschrieben werden kann, muss deshalb als Beweis einer Handlung der Hybridisierung gelesen werden, welche vom Sprechakt selbst abhängt. Der Flow, wie ihn die Codes der Rap-Songs transportieren, richtet sich an die Menschen und fragt nach einer Bestätigung durch ein Verständnis von Seiten derer, die dieselbe Realität teilen. Diese Erfahrung des Hybriden durch das Sprechen wird von der algerischen Sprache hervorgebracht. Sie ist also keineswegs ein Aufeinanderfolgen von Lehnwörtern oder Positionierungen gegenüber festgeschriebenen, oder jedenfalls institutionalisierten Spra-

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chen wie Französisch oder Arabisch. Es ist wichtig zu zeigen, dass sich der für den Rap spezifische Rahmen des Flows in Algerien relokalisiert, weil das Material zur Hybridisierung dort bereits vorhanden ist. Die algerische Sprache existiert nur im hybriden Moment und fordert eine ständige wechselseitige Bestätigung. Analysiert man die Syntax der Verse, stellt man fest, dass diese Konstante der wechselwirkenden Affirmation die Ausdrucksweise der algerischen Sprache strukturiert und insbesondere die Wahl des Satzbaus beeinf lusst. Im Französischen ist das Subjekt dem Verb vorangestellt, während im Arabischen das Verb vor dem Subjekt platziert wird. In dem Lied »Fouq el Bank« werden beide Syntaxen abwechselnd verwendet. Der Wechsel folgt keiner festen Regel außer dem Sprechakt selbst, welche wie der Flow zur Teilnahme, durch die Fähigkeit den Sinn zu dechiffrieren, verpf lichtet. Beispiele: Ennass yfoutou 3lik (dt.: Die Leute gehen vor deiner Nase an dir vorbei). Das Subjekt geht dem Verb voran, obwohl beide Wörter aus der arabischen Sprache stammen. Ebenso im Satz: El mass’ouline le3binhenna 3erfine 7alet el meskine (dt.: Die Verantwortlichen täuschen vor, die Situation des Armen zu kennen). Heblou b’chômage (dt.: Die Arbeitslosigkeit hat uns verrückt gemacht). Hier wiederum wird der Satzbau des Arabischen befolgt, obwohl ein französisches Wort entlehnt wird. Das Verb steht an erster Stelle und die Aktion wird ins Passiv durch die Präposition »bi« ins Passiv gesetzt. Die Hybridisierung drängt darauf, grammatikalische und syntaktische Besonderheiten gemäß der Situation, auf die Bezug genommen wird, anzuordnen. Die Interkommunikation und die Fabrikation eines »Codes, der uns gehört« (Auzanneau 2001, 6), durch den sich der Rap auszeichnet und der durch den Flow erkennbar wird, erlauben es den Akteurinnen und Akteuren, gegenüber einer potentiell zu bewältigenden Vielfalt Stellung zu beziehen. Die Eigenschaft des Raps, Globales und Lokales zu vermischen steht mit der Fähigkeit zur Desemantisierung und Resemantisierung der algerischen Sprache in Verbindung. Schlussendlich ist das Hybride sowohl erstes Merkmal der algerischen Sprache als auch des Flows im Rap: es ist weder notwendige Voraussetzung noch Konsequenz, sondern stellt die Dynamik selbst dar. Es beinhaltet jene Handlungen, durch welche das Hybride im Alltag Form annimmt und im Mittelpunkt einer Dialektik zwischen Politik und Ästhetik, Singularität und Kollektiv wirkt. Das politische Handeln der Relokalisierung des Raps in Algerien kann als Echo der algerischen Sprache aufgrund des ständig notwendigen Aushandlungsprozesses analysiert werden. Die Erwerbsmodalitäten dieser besonderen ›Alphabetisierung‹ sind zahlreich, weil sie je nach Kontext des sprachlichen Verständigungsprozesses variieren. Sie reagieren daher auf sehr unterschiedliche Bedürfnisse: von der Notwendigkeit, ein Wort zu finden, für das es im Arabischen keine Entsprechung gibt, bis zur realistischen Herangehensweise, lieber einen Ausdruck zu verwenden, den alle – aufgrund von dessen »Algerianisierung« – verstehen, die Suche nach einer »Neutralisierung« oder einer Widerstandstechnik gegenüber den Sprachen der

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Eliten, oder schlichtweg die Lust am Erfinden. Erfahrung allein garantiert den wirkungsvollen Einsatz des Sprechakts, auf gleiche Art wie nur das Zuhören im Rap einen Song vollenden kann: durch die Performanz.

Angewandte Autonomie: Vom Zusammenbasteln und ›Piratieren‹ Als sich der Hip-Hop in Algerien relokalisierte, fand er sich in einem Kontext der Marginalisierung der Jugend und in einer Gesellschaft wieder, die mit den Realitäten der Länder des »globalen Südens« in den Fängen des wirtschaftlichen Imperialismus des »globalen Nordens« kämpft. Die alltägliche Praxis des Zusammenbastelns, der bricolage, um sich im Leben durchzuschlagen war und ist die Realität der Bevölkerung angesichts einer sozialen Benachteiligung und/oder mangelnder Unterstützung von Seiten der Institutionen. Populärkultur bringt ein solches Sich-Durchschlagen zum Strahlen und braucht dazu nur wenig materielle Mittel. Als eine Populärkultur veranschaulicht der Rap einerseits die Praktiken des materiellen Zusammenbastelns, um Rap-Musik zu »machen«, mit ihr zu experimentieren und sie zu performen. Andererseits stellt Rap auch eine symbolischere Form des Zusammenbastelns dar, nämlich die der autonomen, algerischen Sprache, die mit den Codes spielt und Piraterie befürwortet. Das algerische Wort piratage, welches den aktiven Vollzug der Piraterie, den Raubzug, das Piratieren benennt, bringt diese Logik des zeitgleich materiellen und symbolischen Eingriffs gut zum Ausdruck. Die von der Sprache des Hip-Hop im Allgemeinen und vom algerischen Rap im Besonderen geschaffene Autonomie ist Widerspiegelung der alltäglichen Praktiken der Hybridisierung. Die Autonomie ist eine Umgangsform mit, sowie Einstellung gegenüber einer aufgezwungenen Hybridität als Folge der Ko-Existenz in »eine[r] zweigeteilte[n] Welt« (Fanon 1981, S. 34) unter kolonialer Besatzung. Durch eine Relokalisierung der Befreiung in die Gegenwart der Populärkultur drängt sie darauf, eine letzten Endes gelebte Pluralität als Reichtum wahrzunehmen und sich jeder Herrschaft zur Gänze zu entziehen. Durch die Aneignung der französischen Sprache, neben vielen anderen, schreibt sich der algerische Rap zur Gänze in das anti-koloniale Erbe einer neuen, befreienden Sprache ein und nutzt ohne Hemmungen eine weltweit praktizierte und anerkannte Sprache zur Übermittlung einer vollkommen algerischen Botschaft. Algerische Schriften haben die Forderungen des Befreiungskampfes im 20. Jahrhundert in der ganzen Welt verbreitet und sich des Französischen bedient, um eine algerische Literatur zu schaffen, wie beispielsweise Mourad Bourboune, Kateb Yacine, Bachir Hadj Ali, Anna Gréki, Djamel Amrani und viele weitere. Am Knotenpunkt der Hybridisierung wird das Kulturelle einer Sprache und damit die sogenannte Interkulturalität selbst überwunden, die Annahme einer kulturellen Essenz schon lang für

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nichtig erklärt. Der Rap ist würdige Erbin dieser Kulturrevolution. Er nimmt die Pluralität nicht als eine erlittene, sondern als eine aktive an.

Algerischer Rap: Erbe und Piratin einer neu zu definierenden Kulturrevolution Das algerische Piratieren, das die algerischen Jugendlichen betreiben, erhält seine politische Bedeutung durch die eingangs genannten Koordinaten einer Kulturkritik als Erbe des antikolonialen Kampfs. Der Diskurs der Dekolonisierung hat jede kulturelle und soziale Kritik zu großen Teilen durchdrungen und sich im Laufe der Jahre und angesichts des Versagens der Institutionen, diesen universellen Forderungen gerecht zu werden, erneuert. In der Tat haben Machtverhältnisse und die Sakralisierung der FLN (Front de Libération Nationale) als langjährige Einheitspartei des algerischen Staates eine Kritik, die vom Volk ausgeht und die seit Ende des Befreiungskriegs vorhandene Populärkultur wertschätzt, rasch verhindert, weil die Essenz dieser Kritik eine Emanzipation des gesamten Volkes zum Ziel hatte und nicht zögerte, die Beziehung zu den staatlichen Institutionen zu entheiligen. Die Übergabe oder das Vermächtnis dieser Kritik vollzogen sich notgedrungen an den Rändern der Gesellschaft und betreffen vor allen Dingen die jüngeren Generationen. Genau diese Passage der scharfen Kritik an institutionellen Sphären, die von den sozialen Rändern ausgeht, wird vom algerischen Rap hervorgehoben: ein wiederangeeignetes Erbe – »piratiert« wie damals die revolutionäre Beziehung zur französischen Sprache des kolonialen Frankreich. Die Bewegung verlagert sich erneut in den modernen Kontext, aber funktioniert auf die gleiche Weise der Verschmelzung von Ästhetik und Politik.10 Die heutige Kritik des Raps kann deshalb so stark sein, weil sie dank der Waffen und Gewohnheiten einer kritischen Theorie und Praxis der post-Unabhängigkeitsjahre direkt wiedererkennbar ist. Die algerischen Machthabenden repräsentieren, in den Augen der Jugend, sowohl die Quelle dieser kritischen Beziehung als auch ihre Totengräber. Das unverkrampfte Verhältnis des algerischen Raps zur 10 So wie der Rap die Sprache entwendet, um Neues zu kreieren, nimmt das algerische Kino sei­ nen Anfang, als jene Algerier, die als technische Hilfskräfte am unteren Ender der Hierarchie im französischen Fernsehen in Algier arbeiteten, sich der Befreiungsbewegung anschließen und in den Untergrund gehen – nicht, ohne vorher die technische Ausstattung der französischen Rundfunkanstalt entwendet zu haben, um damit selbstbestimmte Bilder der algerischen Na­ tion produzieren zu können (vgl. Dadci 1980, 294; Djerbal 2019, 31) Zu Beginn vereint, wird mit dem späteren Wiederzuziehen der (neo)kolonialen Schlingen der Unterschied zwischen einem freien, unabhängigen Kino für und mit einer neuen Bildsprache und einem institutionalisierten Kino, das in einer schematischen Gegen-Propaganda verharrt und zu keinen neuen Formen fin­ det, deutlich.

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Sprache stellt einen bestärkenden Verankerungspunkt in der vielfältigen Sprachlandschaft dar. Seine »kriegerische« Ästhetik fördert das Wieder-Freilegen von positiven Anspielungen auf die Bilder von geachteten historischen Persönlichkeiten, weil auch diese eine politische Verantwortung gegenüber der Vielfältigkeit der kulturellen Räume in Algerien trugen. Abbildung 2 – Hommage an Larbi Ben M’hidi (19231957), Algier 19.04.2019, © Katharina Noemi Metschl

Diese Persönlichkeiten sind im Rap und in den urbanen Räumen, in denen er klingt, stets anwesend. Eigennamen der Heldinnen und Helden des algerischen Volks sind für die fortgesetzten, großen und kleinen Schlachten von Algier und anderen Städten wichtige Orientierungs- und Versammlungspunkte, um sich zusammenzufinden. À Hassiba, à Audin, sur Didouche, Ben M’hidi oder dem Boulevard Frantz Fanon. Das Gedächtnis ist in die Struktur der Stadt, aber mehr noch in die alltägliche Verabredungssprache eingeschrieben. Auch die Figur von Matoub Lounes11 – als Sänger des kabylischen Volkes, aber auch als Symbol des Widerstands und als 11 Matoub Lounes war kabylischer, algerischer Künstler, Dichter, Sänger und Schriftsteller. Als Sänger stets engagiert gegen die Machthabenden in Algerien und für die Anerkennung der ka­

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Märtyrer – taucht häufig auf. Bereits im Jahr 2004 sang ihm MBS den höchsten Ruhm. Und Band-Mitglied Diaz widmet »Chikh Lounes« mit dem Song »Arezlou« auf dem 2017 erschienen Album El Houma eine Solo-Hommage. Auch Fugi, Rapper des Untergrunds und bekannt für seine bissigen Texte in schonungslosem Umgang mit den Machthabenden, singt in kabylischer Sprache und würdigt Matoub Lounes mit dem Lied ‫( كرهوين يك جيت زوايل‬dt. »Sie hassen mich, weil ich arm bin«). Abbildung 3 – Hommage an Matoub Lounes auf einer Demonstration am 29.03.2019 in Algier, © Hocine Lamriben

bylischen Kultur, nahm er an allen Kämpfen gegen Autoritarismus und islamistischen Extremis­ mus teil. Lounes wurde 1998 ermordet.

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Der junge Rapper Mc Majnoon betitelt sein Mixtape aus dem Jahr 2014 Frantz Fanon und ruft damit eine weitere revolutionäre Figur auf die Bühne, die seit dem Befreiungskrieg in Vergessenheit geraten ist und von vornherein nicht konform mit den Standards der identitätspolitischen Referenzen ist, weil Schwarz, nicht muslimisch und kein geborener Algerier. Deymed, ein weiteres Mitglied von MBS, schreibt in dem Track »Ma Nsinach« ‫( مانسيناش‬dt.: »Wir haben nicht vergessen«), den er 2010 mit El Herraz Nomade releast, eine Geschichte der Gegenwart. Indem auch er Frantz Fanon als Referenzfigur nennt, analysiert er die heutige Situation in Algerien und schlägt ein Gegen-Denken, einen »Anti-Virus« gegen die hegemoniale Denkart vor, welche Traumata, Erinnerungen und geteilte Verantwortungen des Bürgerkriegs unter dem »zivilen Versöhnungsabkommen« von 1999 und den islamistischen Diskursen begraben hat: Die Jugendlichen sind 1988 umsonst gestorben Im Namen der Demokratie führt man eine verdorbene Mentalität aus dem Ausland ein Unter der Vormundschaft von Amerika und England Das Land hat sich live in Luft aufgelöst […] Wer ein leeres Gehirn hat, wird schnell in Kanonenfutter umgewandelt Der Antivirus: Ibn Khaldoun und Frantz Fanon […] Du musst gut filtern, mein Bruder, gut filtern Pass auf, dass du nicht in die Falle trittst.

Quatre-vingt-huit, les jeunes ‫ ماتو‬pour rien ‫بسم الدميوقراطية جابولنا عقلية مپورية‬ ‫من الخليج‬ ‫تحت رعاية ماريكان أو‬ ‫النڨليز‬ ‫]…[ تخلطت لبالد‬ Chair à canon ‫اليل مخو خاوي تخالص عليه‬ ‫ إبن خلدون و فرانتزفانون‬L’antivirus ]…[ ‫غربل مليح يا خو‬ ‫ فالفخة‬.… ‫غربل مليح … بالك أطيح‬

Die Autonomie des Hip-Hop kämpft hier gegen die Entfremdung als Produkt wie Motor der Kolonisierung an. Mehr noch als seine Teilnahme an der Revolution als Journalist, Aktivist, Botschafter und Arzt, ist es Fanons Theorie des Kampfes gegen die koloniale Entfremdung, die hiermit aktualisiert wird. Der Appel Fanons, den bewaffneten Kampf und den Kampf gegen die Entfremdung zu verbinden, hallt im Willen zur Autonomie und Piraterie der Praktiken des Hip-Hop nach. Es geht darum, die psychische Gewalt des Kolonialismus und ihr Gegenmittel zu denken, welches über einen lediglich anti-kolonialen Kampf hinauszureichen hat. Sich als algerisch zu behaupten durch Plünderung eines Kontexts und eines multiplen kulturellen Erbes, stellt eine notwendige Bedingung dar, um sich aus den Windungen der Entfremdung und also der Beherrschung, die mit 1962 nicht geendet hat, zu befreien. Die dazugehörige Ästhetik wird wiederbelebt, indem sie politisch gesehen auf eine neue Landkarte projiziert wird. Sie verfügt über ein Koordinatensystem des lokalen und internationalen, des Spezifischen und des Allgemeinen. Der Rap funktioniert wie eine aktualisierte Erinnerung der dekolonialen Zeit, die sich keiner linearen Einteilung in pre- oder postkolonial unterwirft und auch die anti-koloniale Zeit überschreitet (vgl. Fanon 1963, 170). Er stellt damit Anhaltspunkte bereit, die aus einer Ära stammen, in welcher eine

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politische Sprache sich von Praktiken der Emanzipierung aller Individuen geleitet wissen wollte. Wie zur Zeit der Selbstverwaltung der 1960er Jahre, als die Landwirte (fellahs) und die Poetinnen und Poeten ein Recht darauf hatten, sich politisch auszudrücken, machen sich die Rappenden eine Erkenntnis zunutze, die der Hip-Hop-Kultur und seiner Relokalisierung auf dem afrikanischen Kontinent eigen ist, um die Pf licht zum Handeln ihrer Generation zu erfüllen: »Da sieht man, dass die Minderheiten, zur Gänze im Widerstand befindlich, die Routen der Mainstream-Kultur umleiten, deren Bewegung entwenden und die Medien dennoch einnehmen konnten« (Senghor 2015, 13). Der Platz eines Märtyrers ist im Paradies, nicht mit ’ner Tasse Kaffee für 200 DA neben dem Moment der Märtyrer. Halt das aus oder werd’ verrückt oder warte auf den Frieden des Nobelpreises (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016) Die Geschichte der Entstehung des Songs »La Bataille d’Alger« ist ein anderes Beispiel des Piratierens. Sie verleiht der Verbindung zwischen Selbst-Organisation, musikalischem Schaffen und einer Autonomie des Überlebens in einer der Welten des algerischen Hip-Hop materiellen Ausdruck. Das Lied entstand dort, wo der materielle Grund der Dinge Überleben bedeutet: soziales Überleben durch einen autonomen Raum, der Arbeit und Begegnungen in Freiheit gleichermaßen erlaubt. In den Räumlichkeiten des Projekts El Houma,12 das Diaz in Algier entwickelt hat, siedeln Arbeit, Unterkunft und künstlerisches Gestalten im alltäglichen Leben am selben Ort. Die Geschichte des Songs setzt Prämissen einer wahrlich politischen Autonomie. An der Schnittstelle zur Welt des Hip-Hop, in Augenblick und Raum des alltäglichen Lebens des Volks, will diese Autonomie ihre Rechte um ihre eigenen Ausdrucksweisen, lobend und ermutigend, um jeden Preis zurückerlangen. Die Entwendung, das Kapern, wie es der Song »La Bataille d’Alger – Version 2016« betreibt – basierend auf den Bildern des legendären gleichnamigen Films, der 1966 bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig den Goldenen Löwen erhielt – ist eine Art der Propaganda. Es ist eine Art und Weise auszudrücken, dass die materielle Aneignung des Schaffensmoments nicht nur die Bebilderung des Musikvideos ermöglicht hat, sondern dass es darüber hinaus um die Übermittlung einer Botschaft geht: zu sagen, dass es an jenem Punkt des Überlebens, an dem sich die jungen Menschen aus dem Volk befinden, keinerlei Problem darstellt, Urheberrechte und Kopierschutzmaßnahmen zu unterschlagen. Denn sie halten sich schon jetzt in einer Welt auf, in der solche Rechte nichts als fremde 12 Vgl. (zuletzt besucht: 25.03.2019).

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Kodizes in ihrem Leben darstellen. Gleichermaßen stellt es für sie auch kein Problem dar, die politische Inszenierung des revolutionären Erbes der echten Schlacht um Algier zu entheiligen, um dadurch einen tatsächlich revolutionären Geist der Bevölkerung, den sie als von den Machthabenden beschädigt sehen, besser wieder hochhalten zu können. Das Profane macht keine Angst, denn der Hip-Hop, die Lieder und die Wiederverwendung eines Erbes, welches die Rappenden als das ihre betrachten, hilft dabei, Heiliges neu zu erschaffen. In »La Bataille d’Alger« werden die Heldinnen und Helden der Bevölkerung, allen voran Ali La Pointe, in einem Lied-Zeit-Raum des Teilens resakralisiert, indem die Figuren der Vergangenheit entwendet und in die Geschichte der Gegenwart eingefügt werden. Der Außenseiter von damals, den sich das Lied als Widerständler entlehnt – »mehrerer Diebstähle schuldig« (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016), die ihn in die Kerker des Kolonialismus brachten –,13 ist das Echo der modernen Außenseiter oder anders gesagt, der Musiker selbst, der Jugendlichen in den einfachen, volkstümlichen Stadtvierteln, die man nicht aufhört zu verurteilen für ihre Art zu reden, für ihre Musik und für ihr alltägliches Sich-Durchschlagen, welches bei Bedarf auch illegalen Praktiken erfordert, sei es bei Urheberrechten oder bei etwas Geld um über die Runden zu kommen. Der Song »La Bataille d’Alger – Version 2016« ist klarerweise ein Aufruf zur fortgesetzten Revolution. Mittels der ›Entführung‹ historisch verankerter Codes, die zwar politisch konfisziert worden sind, aber paradoxerweise seit der Ausstrahlung von Pontecorvos Film weit und breit in der Populärkultur zirkulieren, verbreiten die zwei Rapper Rabah Donquishoot und Diaz einen ganz deutlichen Aufruf dazu, »aufrecht« zu bleiben und jederzeit »bereit« zu sein. Das Entwenden und Entführen dienen dem Verwischen der Spuren, indem das Original-Datum, 1954, mit dem Datum der Jetzt-Zeit des Lieds, 2016, verschwimmt. Beide gehen ineinander auf, weil eines Tages der Tag kommt, an dem »die Jungen oder die Älteren die Geschichte umschreiben können« (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016) – sei es jene des Unabhängigkeitskampfes oder die der gegenwärtigen Welt, in welcher die Beschreibungen der Rapper oft kunstvoll von Anknüpfungspunkten an die Gegenwart durchzogen sind. Die ehemals für den bewaffneten Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus versteckten Waffen sind heute zu den Waffen der Künstler geworden: »Gib mir das Mikro, sodass ich es in einem Haus verstecke«, um schließlich mit Mut, Piraterie und Wiederaneignung »vom Randstein zum Oscar« aufzusteigen (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016). Die Entwendung ist nicht lediglich eine Theorie des musikalischen Codes. Sie ist eine gute Begleitung, einem kulturellen Instrument gleich, eine Waffe im Dienst eines 13 »Der Vollständigkeit ihres Körpers auf der Spur, bestätigt die Poesie heute mehr denn je, dass im Herzen der ehrlichen Menschen (diesen ›Schurken der Selbstverwaltung‹!) die Revolution niemals verloren ist« (Sénac 1983, 19f).

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richtig zu verstehenden Klassenkampfes, nämlich jenem einer jungen Generation, die verstanden hat, dass sie von einem postkolonialen politischen System nichts erwarten kann. Was bleibt sind kulturelle Piraterien, die echte Stellungnahmen in der algerischen Gesellschaft ankündigen; was bleibt sind Taten: »Ich dringe ins System ein, wie Hassiba in die Milk Bar«, singt Diaz (Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS] 2016). Der große Umsturz der Geschichte, der Ruhm der Märtyrerinnen und Märtyrer und ihr Gedenken werden ohne jegliche Zurückhaltung upgedated nach dem Prinzip »Arbeit – Zeugnis – Analyse«, das der algerische Hip-Hop für sich selbst aufgestellt hat.14 Seit seiner Entstehung in den US-amerikanischen Ghettos als Musik des Protests geltend, trägt Hip-Hop stets die Elemente der Subversion mit sich, die vor allen Dingen einer jugendlichen Subkultur der Ghettos zugehörig ist. Genau diese Subversion gilt es wahrzunehmen: es handelt sich nicht um politische Musik oder Protestmusik. Es handelt sich um eine Populärkultur, die durch ihre Formen, ihre Codes und ihr mobilisiertes Erbe jeder und jedem und in erster Linie allen von den Machtspielen der legitimierten Kulturen Ausgeschlossenen die Möglichkeit lässt, sie zu ergreifen und zu nutzen. Ein alltäglicher Antivirus gegen politische Passivität. l’analyse, témoignage ‫خــدّمتي‬ la crise‫شكون ڨال حــلّو‬ ‫أنا نـهـدرو نـتا تـسـمع‬ ‫يا تـشكـر يـا نتـڨـطّع‬ ‫نربّع تخميمة‬ ‫و ستيلو يعاود يقلّع‬ l’analyse, témoignage ‫خــدّمتي‬

Mein Job ist Zeugnis abzulegen und zu analysieren wer hat behauptet, dass die einen Ausweg aus der Krise gefunden haben ich rede, du hörst zu entweder du hälts Elogen oder ich werde mich in 1000 Stücke teilen ich erlange ein Reflexionsvermögen und mein Stift setzt von neuem an Mein Job ist Zeugnis abzulegen und zu analysieren

Quellen Bataglia di Algeri (ALG/IT 1966, Regie: Gillo Pontecorvo). Rabah Donquishoot ft. Diaz [MBS]: »La Bataille d’Alger – Version 2016«. In: El Houma, Azart 2016. MBS: »Khedemti«. In: Le Micros brise le silence, Universal Music 1999. MBS ft. ZAK: »Ancien Jded«, 2011 (zuletzt besucht: 20.05.2019).

14 Vgl. (zuletzt besucht: 29.03.2019).

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Bibliographie Adaso, Henry: The Art of Emceeing Explained, 02.01.2018, https://www.liveabout. com/art-of-emceeing-2857348 (zuletzt besucht: 20.05.2019). Auzanneau, Michèle: Identités africaines: le rap comme lieu d’expression. In: Cahiers d’Études Africaines 41.163/164 (2001), 711-734. Bekkar, R.: Écoute et regards: la télévision et les transformations spatiales en Algérie. In: Susan Ossman (Hg.): Miroirs maghrébins, Itinéraires de soi et paysages de rencontre. Paris: CNRS Éditions 1998, 177-185. Benrabah, Mohamed: Langue et pouvoir en Algérie. Histoire d’un traumatisme linguistique. Paris: Séguier 1999. Béthune, Christian: Le rap, une esthétique hors la loi. Paris: Éditions Autrement 1999. Boucher, Manuel: Rap, expression des lascars. Significations et enjeux du rap dans la société française. Paris: L’Harmattan 1998. Bourdieu, Pierre, und Jean-Claude Passeron: Les Héritiers. Les étudiants et la culture. Paris: Minuit 1964. Colonna, Fanny: Instituteurs algériens 1883-1939. Algier: Presses de la fondation nationale des sciences politiques 1975. Dadci, Younes: Première histoire du cinéma algérien. Paris: DADCI 1980. Djerbal, Daho: Vom kolonialen zum emanzipierten Subjekt. Das algerische Kino vor der Herausforderung der Unabhängigkeit. In: Elisabeth Büttner und Viktoria Metschl (Hg.): Figurationen von Solidarität. Algerien, das Kino und die Rhythmen des anti-kolonialen Internationalismus. Berlin: Vorwerk 8 2019, 24-41. Fanon, Frantz: The Wretched of the Earth. New York, Grove Press 1963. Fanon, Frantz: Die Verdammten dieser Erde. Übersetzt von Traugott König, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981. Kouras, Sihem: Le Français dans la chanson rap algérienne. Une analyse socio- pragmatique. Magisterarbeit betreut von Dr. Mohamed-Salah Chehad, Université Mentouri, Constantine, April 2008. Lucas, Philippe: Sociologie de Frantz Fanon: contribution à une anthropologie de la libération. Algier: Éditions SNED 1971. McDougall, James: History and the culture of nationalism in Algeria. Cambridge, Cambridge University Press 2006. Pecqueux, Anthony: Voix du rap. Essai de sociologie de l’action musicale. Paris: L’Harmattan 2007. Sénac, Jean: Clous. In: Ders.: dérisions et Vertige, trouvures. Arles: Actes Sud, 1983, 19-20. Senghor, Fatou Kande: Wala Bok, Une histoire orale du Hip-Hop au Sénégal. Dakar: Éditions Amalion 2015. Taleb-Ibrahimi, Khaoula: Les Algériens et leur(s) langue(s). Algier: Éditions El Hikma 1996.

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Autorinnen und Autoren

apl. Prof. Dr. Monika Albrecht lehrt Kulturwissenschaften an der Universität Vechta. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen kritischer und vergleichender Postkolonialismus, Memory Studies und Erinnerungspolitik, Transkulturalität und Migration, Gender und Diversity sowie der deutschsprachigen Kultur und Literatur vom 19. bis zum 21. Jahrhundert. Letzte Veröffentlichung Postcolonialism Cross-Examined: Multidirectional Perspectives on Imperial and Colonial Pasts and the Neocolonial Present (Routledge 2019). Prof. Dr. Anastasia Antonopoulou lehrt am Fachbereich für Deutsche Sprache und Literatur der Nationalen und Kapodistrias Universität Athen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Vergleichende Literaturwissenschaft (mit besonderem Schwerpunkt in den deutsch-griechischen Literaturbeziehungen sowie in den intermedialen Beziehungen),  Gender Studies und Übersetzung literarischer Texte. Assist. Prof. Dr. Aglaia Blioumi lehrt Neuere deutsche Literatur an der Nationalen und Kapodistrischen Universität Athen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen deutschsprachige Migrationsliteratur, Interkulturelle Literaturwissenschaft, Literatur- und Kultursemiotik, Reiseliteratur, Interkulturelle Literaturdidaktik. Letzte Veröffentlichungen: Erinnern für die Zukunf t. Griechenland, Polen und Deutschland im Gespräch (Hg.). (zusammen mit Bogumil-Notz, Sauerland, LIT Verlag 2016); Hellas als imaginierte Entedeckungsreise. In: Rădulescu, Perrone Capano, Galiardi, Wilke (Hg., Frank&Time 2018). Prof. Dr. Sergio Corrado ist Ordinarius an der Universität Neapel »L’Orientale« und lehrt dort Deutsche Literatur und Kultur. Forschungsschwerpunkte: Lyrik des 20. Jahrhunderts (v.a. Rilke); Ästhetik des 18. Jahrhunderts; kulturwissenschaftliche Themen (Archiv, Gedächtnis, Postkolonialismus, Arbeit, Performativität, Insularität) in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur (u.a. Goetz, Kracht, Timm); Literatur und Ökonomie (Narrative der Krise); Repräsentationen des Mittelmeers und insb. Griechenlands in der deutschsprachigen Literatur.

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Europas südliche Ränder

El Houma (im vorliegenden Band: Farid Belhoul, Luc Chauvin, Viktoria Luisa Metschl) ist ein in Algier angesiedeltes Kollektiv und zugleich digitale Plattform, am Schnittpunkt der Erfahrungen von algerischem Rap und urbanen Populärkulturen in Algerien und entlang der Mittelmeerküste entstanden. El Houma versucht das Handeln und kulturelle Schaffen der algerischen Jugend durch unterschiedliche Initiativen wie die Internet-Plattform, ein Webradio und ein WebTV weiterzureichen und zu übersetzen, indem die Initiativen der Bewohner_innen des Stadtviertels Hussein Dey in Algier unterstützt werden. Dr. Dannica Fleuß forscht und lehrt als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg und als Associate am Centre for Deliberative Democracy and Global Governance, University of Canberra (Australien). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der modernen Politischen Theorie und Philosophie, der Deliberationsforschung sowie der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Demokratietheorie und – messung. Dr. Ulrich Meurer (www.ulrichmeurer.com) lehrt an verschiedenen europäischen Universitäten und bedenkt dabei die Schnittstellen von Bildästhetik und politischer Theorie, die ideologischen Implikationen von Mediengeschichte und derzeit besonders die Politiken der Freundschaft in der amerikanischen (Bewegt-)Bildkultur. Publikationen u.a.: Übersetzung und Film. Das Kino als Translationsmedium (Hg., Bielefeld 2012); Topographien. Raumkonstruktionen in Literatur und Film der Postmoderne (München 2007); zahlreiche Aufsätze zu Film und Medienphilosophie. Dr. Martin Schwarz ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Politikwissenschaft an der Universität Vechta. Seine Forschungsschwerpunkte sind zum einen der Europäische Integrationsprozess und zum anderen die vergleichende Politische Kulturforschung mit dem Fokus auf die USA und Deutschland. Letzte Veröffentlichung Wolfgang Gieler; Markus Porsche-Ludwig, Martin Schwarz (Hg.): Handbuch Außenpolitik Amerika. Eine grundlegende Einführung in die Außenpolitik der Staaten Nord-, Mittel- und Südamerikas (LIT 2019). Dr. rer. soc. Sevasti Trubeta vertritt die Professur Kindheit und Dif ferenz (Diversity Studies)  an der  Hochschule Magdeburg-Stendal. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Border Studies, Kritische Rassismusforschung, Medikalisierung, Disability Studies, Eugenik, Minderheiten insb. Roma. Letzte Publikation: »Vaccination and the Refugee Camp…« (Journal of Ethnic and Migration Studies, 2018); letzte Monographie: Physical Anthropologie, Race and Eugenics in Greece (1880s-1970s) (Brill Academic Publishers 2013).

Autorinnen und Autoren

Julian Zimmermann ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Graduiertenkolleg »Metropolität in der Vormoderne« der Universität Regensburg Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geschichte Italiens und Roms im Spätmittelalter, der Geschichte des Mittelmeerraums, Antikenrezeption und Erinnerungskulturen sowie der historischen Raumforschung und der Erforschung materieller Kulturen. Aktuelle Veröffentlichungen: Transformation and Continuity in Urban Space. The Smartphone as a Companion to Digital Teaching-learning Processes in Extracurricular Learning Settings, in: JEMMS 12 (2020) [im Druck].

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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze

Sexueller Exzeptionalismus Überlegenheitsnarrative in Migrationsabwehr und Rechtspopulismus 2019, 222 S., kart., 32 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4708-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4708-6

Rainer Guldin, Gustavo Bernardo

Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., 39 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3

Stephan Günzel

Raum Eine kulturwissenschaftliche Einführung 2017, 158 S., kart., 30 SW-Abbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-3972-8 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3972-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kulturwissenschaft Katrin Götz-Votteler, Simone Hespers

Alternative Wirklichkeiten? Wie Fake News und Verschwörungstheorien funktionieren und warum sie Aktualität haben 2019, 214 S., kart., Dispersionsbindung, 12 SW-Abbildungen 19,99 € (DE), 978-3-8376-4717-4 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4717-8 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4717-4

Thomas Hecken, Moritz Baßler, Elena Beregow, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Annekathrin Kohout, Nicolas Pethes, Miriam Zeh (Hg.)

POP Kultur & Kritik (Jg. 8, 2/2019) 2019, 180 S., kart. 16,80 € (DE), 978-3-8376-4457-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-4457-3

Zuzanna Dziuban, Kirsten Mahlke, Gudrun Rath (Hg.)

Forensik Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2019 2019, 128 S., kart., 20 Farbabbildungen 14,99 € (DE), 978-3-8376-4462-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4462-7

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