Europa: Wird es republikanisch oder kosakisch? [2., vermehrte und veränderte Aufl.]

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Curope. K

Europa:

Wird

es

republikanisch

oder.kosakisch ?

Eine auf die Memoiren Napoleon's, das Testament Peter des Großen und viele andere gewichtvolle Documente geſtüßte Abhandlung

über

die unserem Welttheil drohenden Gefahren und die Mittel zu deren Abwendung als

Vorlage für einen europäiſchen Kongreß.

Sweite veränderte und vermehrte Ausgabe.

Leipzig : E.

L. Kasprowicz.

1866 ,

Erster Theil.

1.

Vor or zwei Jahren erschien diese Broschüre zum ersten Male in der Schultheß'schen Offizin in Zürich. Es war dieß zur Zeit der lezten Kämpfe in Polen und in Kaukasien , als Napoleon III. mit der Aufforderung zum Kongresse den leßten Versuch machte, die Angelegenheiten Europas , unter der Mitwirkung aller Staaten dieses Welttheils , zu ordnen.

auf natürlichen , gerechten und dauerhaften Grundlagen

Wir ergriffen jene Gelegenheit , um die Völker und deren Regierungen darauf hinzuweisen , was für Gefahren ihnen von Seiten Rußlands drohen und forderten sie auf, den leßten Verzweiflungskampf der Polen und Tscherkesſſen zu benußen , um Rußland von der Ostsee und dem Schwarzen Meere zu verdrängen und, durch die Wiederherstellung Polens und die Vereinigung der Kaukasusländer mit der Türkei, Europa und Vorderaſien vor der Ueberfluthung Rußlands sicherzustellen . Wir suchten damals darzuthun , daß „ für Rußland auf die Länge der Zeit es keine andern Grenzen geben könne, als : den Don, die Waldaihöhe und den Wolchow oder die Adria , den Böhmerwald und die Elbe." Europa , ob aus Indolenz , Furcht , Eifersucht , Mangel an beſſerer Einsicht , edleren Gefühlen, Thatkraft , Opferwilligkeit - oder aus was immer für Ursachen , bleibe dahingestellt Europa hat inzwiſchen Polen und den Kaukasus fallen und so die lezte Gelegenheit unbenußt vorübergehen laſſen , Rußland unschädlich zu machen. Daß dieß ge= schehen würde, haben wir vorausgesehen , als wir unsere Schrift publizirten , daher nannten wir sie ,, die zum legten Male in der Wüste erschallende Stimme." Wir haben sie aber dennoch erhoben , weil wir er für unsere Pflicht gehalten , was auch geschehen mochte , Europa zu warnen , solange es noch Zeit war , die ihm drohende Gefahr abzuwenden und zugleich edle Nationen vor der Vernichtung zu retten aber auch ein Zeugniß gegen diejenigen zu haben , durch deren Schuld 1 Europa.

2 so viel Unheil geschehen und so große Gefahren über Europa heraufbeschworen sind : denn sie werden auch hauptsächlich deren Folgen zu tragen haben. Es kann nun keine Rede davon sein , Rußland hinter den Don nach Aſien hinauszudrängen.

Polen und der Kaukasus, die bis dahin

als Angriffsbaſis Europas gegen Rußland dienen konnten, ſind jezt die vortheilhaftesten Offensivstellungen Rußlands gegen Europa und Vorderasien geworden , wie wir das weiter unten darzuthun beabfichtigen. Indem wir nun wieder die Gelegenheit ergreifen - wo von dem Zusammentreten eines europäischen Kongresses die Rede ist , welcher die Angelegenheiten Europas ordnen und die stehenden Heere , wenn nicht gänzlich beseitigen , so doch bedeutend vermindern soll - um unsere Schrift und die in derselben niedergelegten Ansichten und Rath= ſchläge zum zweiten Male zur öffentlichen Kenntniß zu bringen, sehen wir uns veranlaßt , dieselben dahin zu modifiziren, daß wir davon abſtehen , die eine von den von uns aufgestellten Alternativen ausgeführt zu sehen und werden neue , wenn auch weniger radikale , aber um so leichter auszuführende Mittel angeben, wie der andern unserer Alternativen und um so mehr jenen auf dem Titelblatte angeführten vorzubeugen sei. Wir erscheinen zum zweiten Male mit den sibyllinischen Büchern vor Europa.

2. Es ist bekannt , daß Napoleon auf St. Helena kurz vor seinem Tode zu seiner Umgebung gesagt hat : ,, Europa wird in 50 Jahren republikanisch oder kosakisch. “ Es sind seitdem schon 45 Jahre verflossen und es frägt sich nun , ob Napoleon's Voraussicht sich bestäti= gen wird ; ob es möglich, ob es wahrscheinlich ist , daß Europa in den nächsten 5 Jahren republikanisch oder kosakisch werden könne; was für Gründe für die Wahrscheinlichkeit der einen oder der andern Alternative vorliegen und wie dieser Katastrophe nöthigenfalls am zweckmäßigsten vorgebeugt werden könnte. Oder ist dieser Ausspruch Napoleon's eine bloße Chimäre , eine von jenen politischen Prophezeiungen und Horoskopen , die uns die politischen Kannegießer und Zeitungsschreiber zu Dußenden alle Tage auftischen und obgleich sie täglich durch die Ereigniſſe Lügen gestraft werden , doch nicht unterlassen , neue wieder vorzubringen . Wer ist denn überhaupt im Stande die Zukunft vorauszusagen ? Die Zeiten der Offenbarung derselben, die Zeiten der Propheten find längst vorüber.

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Und doch, nicht nur die Propheten Israëls haben die Unterjochung Palästinas durch die orientalischen Despoten , sondern auch Demosthenes die Unterwerfung Griechenlands durch den König von Macedonien vorausgesagt und umsonst seine Landsleute mit den beredtsten Worten vor derselben gewarnt. Ebenso sagte den Polen schon im Jahre 1605 ihr berühmter Kanzelredner Peter Skarga : ,, Es wird eine Zeit kommen , wo ihr ohne Könige sein werdet , ohne Vaterland, verbannt auf fremder Erde und verachtet von denen , die ehedem aus Furcht euch Hochachtung bewiesen." Und viel bestimmter noch äußerte sich im Jahre 1661 König Johann Kasimir von Polen vor dem öffentlichen

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Reichstage : „ Bei unserer innern Zwietracht haben wir die Angriffe des Auslandes und die Theilung der Republik zu fürchten. Der Moskowiter - wollte Gott , daß ich ein falscher Prophet sei - wird uns Ruſſinien und Lithauen entreißen , Brandenburg wird sich Großpolens und Preußens bemächtigen , und auch Desterreich wird bei dieser Zerstückelung die Gelegenheit benußen wollen und sich Krakau aneignen.“ Im Jahre 1720 betrieb England einen großartigen Plan einer europäischen Coalition gegen Rußland und stellte damals dem deutschen Kaiserhofe vor , daß , wenn man nicht mit gemeinsamen Kräften den Zaren in die Wälder und Sümpfe ſeines Landes zurücktreibe, so werde Rußlands furchtbare Macht für alle Zukunft den europäischen Frieden stören und zunächst Polen als eine leichte Beute sich aneignen." Auch der vielgeprüfte König Stanislaus Leszczyński wendete sich mit beredter Stimme in einer besondern Schrift im Jahre 1733 an den polnischen Adel und beschwor ihn , eine Reform der Verfassung vorzunehmen , das Liberum Veto aufzugeben , dem Bürgerſtande politische Rechte zu gewähren und die Bauern aus dem Joche einer harten Dienstbarkeit zu befreien. ,, Trete aber", prophezeite der königliche Schriftsteller ,,, keine Befferung der Zustände ein , so würde Polen die Beute eines Eroberers werden oder die benachbarten Mächte würden das Land unter sich theilen." Aber obgleich alle diese Warnungen wohlbegründet waren und mit den beredtsten Worten gemacht wurden , so hat man sie doch unbeachtet gelassen so erfolgten die hätte abwenden Vernunft gehört

und ihre heilſamſten Rathschläge nicht befolgt. Und für die Welt traurigſten Katastrophen , welche man können , wenn man frühzeitig auf die Stimme der hätte.

Sollte troß dieser traurigen Erfahrungen auch die von Napoleon angekündigte Katastrophe über Europa hereinbrechen müssen und nicht abgewendet werden können ? Wenn eine Gefahr wirklich vorhanden sein sollte und ein Mittel ihr vorzubeugen , so müßte man freilich un1*

4 verzüglich ans Werk gehen eine sehr kurze.

denn die Frist von fünf Jahren iſt

3. Aber um zunächſt die eine der Europa von Napoleon geſtellten Alternativen ins Auge zu faſſen , ist denn wirklich eine Gefahr, eine Möglichkeit vorhanden , daß in den nächsten 5 oder 15 Jahren eine allgemeine Revolution in Europa ausbreche und eine Republik proklamirt werde ? Sind nicht alle Völker Europas mit ihren Zuständen, Regierungen und Herrschern zufrieden ?

Und wenn auch hie und da

etwas zu wünschen übrig bleibt , wollten sie nicht die Verbesserung der etwaigen Uebelstände lieber der Fürsorge ihrer Fürſten und der Zeit überlaſſen, als Ruhe, Ordnung , Eigenthum und Leben durch eine Revolte in Gefahr sehen ? Und wenn sie's auch versuchten , haben nicht die Herrscher Mittel und Kräfte genug, um jedes derartige Beginnen mit Gewalt niederzuhalten ? Ist denn überhaupt ein Widerstand der unorganiſirten , unbewaffneten Massen möglich gegen eine regelmäßige , wohlbewaffnete und gedeckte Militärmacht , wenn nur der Machthaber nicht schwankt und nicht nachgiebt, besonders heute bei der Vervollkommnung der Waffen und der Communicationen ? Das Schicksal des Königs beider Sicilien ist eine Antwort darauf. Man kann sich unmöglich Illuſionen hingeben. Die Wahrscheinlichkeit für eine republikaniſch - revolutionäre Bewegung hat seit dem Tode Napoleons jedenfalls nicht abgenommen , sondern außerordentlich zu= genommen. Zunächst war die französische Revolution bis dahin die einzige in ihrer Art. Man konnte also annehmen , daß sie auch die einzige bleiben würde. Die französische Republik hat sich nicht halten können. Man behauptete, daß Republiken nur möglich wären in so kleinen Gemeinwesen wie Hellas, Rom und die Schweiz , daß größere auf die Länge der Zeit nicht haltbar wären und überhaupt bald in Oligarchien ausarteten , welche neben der Freiheit und Gleichheit Weniger, die Sklaverei der Massen nothwendig mit sich brächten, wie dies in Griechenland, Rom , Genua , Venedig , Polen , Holland und in Nordamerika der Fall gewesen wäre. Aber seit jener Zeit haben sich die Revolutionen in Frankreich schon zwei Mal wiederholt und jedes Mal schlugen sie immer ge= waltigere Wellen um sich herum. Im Jahre 1830 haben ſie Belgien, Braunschweig und Polen in ihren Strudel mit fortgerissen und im Jahre 1848 außer Polen auch noch Irland, Italien , Oestreich, Preußen, Baden, Sachsen , Schleswig-Holstein , Ungarn. Ob sich das nächste Mal , wie damals , die gewaltigen Sturm-

5 fluthen an den Grenzen Rußlands brechen werden , nachdem auch dieses in seinen politischen und socialen Grundfesten neulich erschüttert worden ist das ist nun die große Frage, welche man mit absoluter Gewißheit nunmehr weder zu verneinen , noch zu bejahen im Stande ist. Nicht nur die Polen und die Lithauer , nicht nur die Finnen und die Deutschen in den Ostseeprovinzen , sondern auch die Kosaken und Kleinruſſen , die ehemaligen Republiken von Twer , Pskow und Nowgorod, die Hauptstädte von Moskau und Petersburg ,, die Altgläubigen in der Umgegend von Kaſan und der mittlern Wolga , der Kaukasus und Sibirien verlangen ihre Autonomie, die Kaufleute das freie Versammlungs- und Vereinsrecht , die Gebildeten die Preß-, Rede- und Lehrfreiheit , der Adel und die Bürger fordern Theilnahme an der Verwaltung und Gesetzgebung des Reichs, um den vielfachen Mißbräuchen, der Verschleuderung und Veruntreuung der öffentlichen Gelder , der Verkäuflichkeit der Richter , der systematischen Demoralisation des Volkes aus politischen und finanziellen Gründen , den immer größeren Verlegenheiten des Staatsschaßes , dem drohenden Ruin des Reiches vorzubeugen. Selbst die Soldaten verlangen dringend und ungeduldig die Verkürzung ihrer Dienstzeit. Ja das Militair war es grade , welches schon vor 40 Jahren bei der Thronbesteigung Nikolaus ' die erste Verschwörung und Revolution in Rußland machte, um eine FöderativRepublik zu gründen , welche alle slavischen Länder umfassen sollte. In Deutschland ist außer den Kämpfen in der Kammer und in der Presse für die Rechte und Freiheiten im Innern , das Feldgeſchrei nach Einheit, nach einem einzigen Bundesstaate allgemein und gewaltig. Auch die Italiener mit Garibaldi und Mazzini an der Spize wollen sobald als möglich alle Theile Italiens zu einem Ganzen vereinigen, die Griechen alle Theile des ehemaligen Griechenlands , die Serben alle Theile des alten Reiches des Zaren Stephan Duszan , welches die Osmanen zertrümmert, die Bulgaren und die Irländer sehnen sich immer ungeduldiger nach ihrer Unabhängigkeit und Verbesserung ihrer socialen Lage, die Rumänen beanspruchen Siebenbürgen , die Bukowina und Bessarabien , und die Polen lechzen nach ihrer alten Freiheit, Einheit und Unabhängigkeit. Die Skandinavier drängen immer mehr nach ihrer Vereinigung und der Wiedererlangung Schleswigs . Die Ungeduld der Spanier mit der bourbonischen Weiber-, Priester- und Soldatenwirthschaft wird immer größer und der Wunsch derselben und der Portugiesen nach einer Vereinigung wird immer lauter. Selbst die Belgier und die franzöſiſchen Schweizer ſind nicht der Vereinigung. mit ihrem Mutterlande abgeneigt , nur möchten sie nicht gern die Freiheiten einbüßen , die sie jezt genießen. Um desto ungeduldiger und

6 heftiger verlangen die Einwohner Frankreichs die ihnen vorenthaltenen Rechte und Freiheiten und um dieselben zu erlangen und zu wahren, ſind ſie bereit zum vierten Mal die Revolution zu machen , und zum dritten Male die Republik zu proklamiren und alle übrigen europäischen Völker mit sich fortzureißen, wie sie es schon einige Mal früher gethan haben. Die Fähigkeiten , die Energie und die Vorsichtsmaßregeln Napoleon's sind keine hinlängliche Garantie dagegen. Auch Louis Philipp war entschlossen , Paris seiner Dynastie zu opfern und hat es zu diesem Zwecke hauptsächlich mit detachirten Forts umgeben, und man war allgemein der Ueberzeugung , daß solange Louis Philipp lebt , Ruhe und Ordnung in Europa gesichert seien. Aber die Entſchloſſenheit und Energie von Hunderttausenden hat bald die ſeinige zum Weichen gebracht. Es wäre leicht möglich, daß Louis Napoleon im' entſcheidenden Augenblicke es nicht besser ginge. Alsdann wird man mit keiner andern Dynastie, dessen kann man sicher sein, in Frankreich den Versuch machen , aus dem einfachen Grunde, weil es schon keine einzige giebt , mit der der gemachte Verſuch nicht mißglückt wäre. Man würde um so lieber und entschlossener zur Republik greifen, als nach dem lezten Bürgerkriege die nordamerikaniſche Republik ſich glänzend bewährt hat und als Muster eines in kürzester Zeit durch Freiheit groß, mächtig , aufgeklärt , wohlhabend und glücklich gewordenen Staates hingestellt werden kann , und gewiß zur Nachahmung ihrer Institutionen anzureizen nicht verfehlen wird. Erscheinen nun den Völkern Europas ihre gegenwärtigen Laſten` und politischen Zustände als unerträglich , ſo ſtellen ſich die Mittel, mit denen sie aufrecht gehalten werden , als noch unhaltbarer. Die stehenden Heere würden alle Staaten Europas in Kurzem banquerott machen und sie außer Stande seßen , sie noch ferner zu unterhalten. Mit der Abschaffung der stehenden Heere aber würden sich die Verhältnisse und Zustände Europas faſt von selbst nach dem Wunsche der verschiedenen Völker ordnen. Unser Welttheil würde nach der Abschaffung der stehenden Heere in wenigen Jahren kaum wieder zu erkennen sein. Nicht nur daß sich die Grenzen der Staaten anders gestalten, einige derselben gänzlich verschwinden und andere ganz neue entstehen, nicht nur daß die Verfassungen , Regierungsformen sich änsondern Europa würde so rasch an Einwohnerzahl, dern würden Neichthum und Communicationen , Bildungs- und Wohlthätigkeitsinstituten zunehmen , wie - Nordamerika. Man denke nur , daß die größere Hälfte der Einkünfte jedes Staates für das Militair , also für unproduktive Zwecke verausgabt werden.

Was würde Europa daher gewinnen, wenn es die größere

7 Hälfte seiner jährlichen Einkünfte nicht nur nicht verschleudern, sondern für produktive Zwecke verwenden würde. Aber es werden nicht nur die Hälfte der Einkünfte , sondern 3 4 Million der kräftigsten Menschen, welche fortwährend in Europa unter Waffen stehen, der Produktion entzogen . Eigentlich sind in den ſtehenden Heeren sämmtlicher europäischer Staaten 3,087,000 Mann eingereiht ; dazu kommen noch über 200,000 Marinesoldaten , zuſammen also 3,287,000 . Die unmittelbaren Staatsausgaben für das Kriegswesen belaufen sich jährlich auf 825 Millionen Thaler. Wenn wir nun annehmen , daß das Militair wenigstens soviel jährlich produziren oder verdienen würde, als es kostet , so macht das über 12 Billion oder genau 1650 Millionen Thaler jährlich , welche das europäische Gemeinwesen jährlich von seinen Einkünften gleichsam ins Wasser oder Feuer wirft. Es ist also rein unmöglich, diese Verhältnisse auf die Länge der Zeit zu halten, wenn es nicht nur die Regierungen, sondern auch die Völker von Europa selbst wollten. Aber nicht nur die Völker, sondern auch viele Regierungen sehen ein, daß man den allgemeinen Wünschen und Bedürfnissen Rechnung tragen muß und fordern daher die Monarchen Europas zu einem Kongresse wiederholt auf, um dieſe mißlichen Verhältniſſe, ſolange es noch Zeit ist, auf friedlichem Wege zu ordnen. Man hat sich bei der Schweiz und Nordamerika überzeugt , daß, um die Ordnung im Innern und die Sicherheit nach Außen aufrecht zu halten, es durchaus keiner stehenden Heere bedürfe, daß im Gegentheil die Kampffähigkeit der Nation ſich nicht nur vermindere , ſondern ungeheuer zunehme, wenn man außer den Militaircadren gänzlich die ſtehenden Heere abſchaffe und das Militairweſen mit dem Schulwesen, die Militairpflicht mit der Schulpflicht verbinde. Beschränkt man den bisherigen Schulunterricht auf fünf Vormittagsstunden ( wobei man blos zwei Stunden wöchentlich einbüßt) und widmet einen Theil des Nachmittags der Pflege des Körpers , der Gymnastik , den Turn-, Tanz-, Schwimm-, Reit-, Fecht-, Schieß- und Militairübungen überhaupt, einen Theil der erweiterten Ferien aber den Militairmanövern so würde man nicht nur um das zehnfache zahlreicheres, geübteres, kräftigeres und aufgeklärteres Militair haben, sondern man würde auch die physische und intellektuelle Entwickelung der ganzen Nation ungemein erhöhen. Die Manöver der Erwachsenen hinwieder , zu denen nicht alle Militairpflichtigen alle Jahre hinzugezogen zu werden brauchten , würden nicht eine Laſt, ſondern eines der angenehmsten Schüßen- und Volksfeste werden. Da es nun so viele Soldaten als erwachsene und gesunde Männer geben würde, so würde die Freiheit und Unabhängigkeit jedes Volkes nach Innen und Außen zehn Mal

8 mehr gesichert sein , als gegenwärtig. Freilich würden dann auch die Regierungen nach Innen und Außen nichts gegen den Willen des Volkes und seiner Repräsentation durchzusehen im Stande ſein , es würden dann Eroberungen in Europa unmöglich zu halten und zu machen sein.

4. Sollten aber diese Tendenzen doch nicht zum Durchbruche kom= men, sollten die Regierungen dieser Bewegung Herr werden, das persönliche Regiment der Monarchen über den Volkswillen der Parlamente siegen, die jeßigen territorialen und politischen Zustände und Verhältnisse mit Gewalt aufrecht erhalten werden dann ist freilich die Abschaffung der stehenden Heere unmöglich und die größte Wahrscheinlichkeit dafür vorhanden , daß derjenige von den europäischen Staaten, der am größten , am volkreichsten ist , am absoluteſten regiert wird und das zahlreichſte ſtehende Heer zur Verfügung hat daß mit einem Worte das unzugängliche und eroberungsſüchtige Rußland mit der Zeit die Oberhand über die übrigen mit einander uneinigen , gegen einander eifersüchtigen , durch einander feindliche Parteien innerlich zerrissenen und geschwächten , und einzeln ihm nicht gewachsenen Staaten gewinnen würde. Wenn Rußland mit Gewalt der Waffen nicht dazu gezwungen wird , kann es von seinem Standpunkte aus nicht eher die Waffen

ablegen, die stehenden Heere abschaffen , bis es ſein Hauptziel , bis es das ihm von Peter dem Großen gesteckte Ziel erreicht oder wenig= stens bis zu offenen Meeren vorgedrungen ist. Denn sonst, so groß und mächtig es auch sein mag , ist es in der freien Bewegung , in der Entwickelung seiner Kräfte mehr gehindert als das kleine Griechenland und Portugal, mehr als Holland und Schweden und zwar nicht nur durch das Klima, welches seine Flotte acht Monate des Jahres hindurch im Eise festhält, sondern auch durch so schwache Staaten, wie die Türkei und Dänemark, welche die Eingänge zu seinen Häfen beherrschen. Das kann , das wird es unmöglich auf die Länge der Zeit ertragen , ſondern muß immer schlagfertig bleiben , um jede Gelegenheit wahrzunehmen , die es an das erwünschte Ziel führt. Solange aber Rußland in Waffen ist, können unmöglich seine Nachbarn entwaffnen. Es kann Rußland , Preußen und Desterreich außerdem solange die stehenden Heere nicht abschaffen , als Polen unter fie getheilt bleibt. Die Kriegsbereitschaft der Theilungsmächte zieht wieder nothwendig die der übrigen Staaten nach sich. Italien kann auch wegen Desterreich, Desterreich nicht Venetiens und Italiens halber

9 entwaffnen. Also man kann andererseits zur Abschaffung der stehenden Heere nicht schreiten, solange man die.jeßigen territorialen und politischen Zustände aufrecht erhalten will , solange man nicht allen Nationen Europas und ihren unverjährten Rechten Gerechtigkeit wiederfahren läßt. Ist aber die von Rußland her Europa drohende Gefahr nicht eine blos eingebildete , wird es durch den Besit eines großen Theils von dem unbezähmbaren Polen grade in seiner aggreſſiven Politik nicht aufgehalten und unschädlich gemacht ? Iſt Rußland , wie man ſagt, nicht wirklich ein Coloß auf thönernen Füßen , der keinen ernſten Stoß auszuhalten im Stande ist ? Uns erscheint eine solche Behauptung als eine freiwillige Selbst= täuschung, als eine Beschwörung der nahenden Gefahr nach Art des Straußes. Haben denn die ruſſiſchen Heere nicht schon öfter Europa nach allen Richtungen siegreich durchschritten ? Haben sie nicht mehrmals den Frieden vor den Thoren von Konstantinopel und Paris diktirt ? Hat nicht mehrmals die Existenz der Nachbarstaaten Rußlands blos von seiner Gnade abgehangen ? Hat nicht Rußland Jahrzehnte hindurch den entschiedensten Einfluß auf die innern Angelegenheiten der europäischen Staaten ausgeübt ? Sind sie jezt von seinem drückenden Einflusse ganz frei ? Aber es könnte scheinen, daß wir die Gefahr übertreiben, welche Europa von Seiten Rußlands droht und wir wollen darüber das Urtheil eines der competentesten Richter, den es nur geben kann, hören, wir wollen Napoleon's I. Aussprüche in dieser Angelegenheit an= führen. Er sagt unter andern in seinen Memoiren : „ Nach meiner Berechnung war das ruſſiſche Reich zu umfaſſend, als daß es in das durch mich umgeschaffene europäische Syſtem hätte eintreten können, folglich müßte man es, um die Einheit dieſes Syſtems nicht zu stören , außer Verbindung mit dem übrigen Europa stellen." „ Dieſer politiſchen Demarkation müßten dauerhafte Grenzen angewiesen werden , die im Stande wären , dem ganzen Gewichte Rußlands zu widerstehen, das mit Gewalt auf den Standpunkt zurückgeführt werden sollte, den es vor hundert Jahren einnahm.“ ,,Nur die Masse meines Reiches hatte Kräfte genug , um solche Noch glaube ich, daß es eine politische Gewaltthat auszuführen. Möglichkeit für mich gewesen wäre, dies zu vollbringen, und bin jezt noch überzeugt, daß dieses das einzige Mittel war, die Welt vor einem Ausbruche der Kosaken zu schüßen." „Zur Ausführung dieses Planes war es nothwendig , Polen auf einer sichern Basis wiederherzustellen und die Ruffen zu schlagen, um

10 ſie zu zwingen, die ihnen mit dem Degen vorgezeichneten Grenzen anzunehmen." „ Nichts war vernünftiger als dieſer Plan , deſſen Scheitern man früher oder später noch bedauern wird ; denn Europa durch wechselſeitiges Uebereinstimmen unter ein und daffelbe Syſtem ' gebracht, nach der Form, welche die Zeitereigniſſe erheischten , umgewandelt, würde das größte Schauspiel dargeboten haben, das wir in den Annalen der Geschichte finden. Doch zu viele Vorurtheile verblendeten die Augen der Menschen, als daß sie die Gefahr dort hätten erblicken sollen, wo ſie ſich befand , ſie glaubten sie von der Seite befürchten zu müſſen, woher die Hülfe kam ." ,,Das erste Hinderniß , das meinen Plänen in Betreff Polens entgegengestellt wurde, war von Seiten Desterreichs, das den von ihm in Besitz genommenen Antheil wiederabzutreten verweigerte." ,,Ich glaubte gegen diesen Hof Rücksichten beobachten zu müſſen, und diese einzige Schwachheit trug die Schuld von dem Mißlingen meines Unternehmens, weil von dem Augenblicke an , in dem ich auf diesem Punkt nachgab, es mir unmöglich wurde, die Sache der polnischen Unabhängigkeit frei vor die Augen der Welt zu führen. Ich sah mich gezwungen ein Land, auf dem die Sicherheit von Europa ruhen ſollte, zu zerstückeln ; durch meine Schwachheit erweckte ich Mißvergnügen, und vorzüglich unter den Polen selbst, die einsahen, daß ich sie meinem eigenen Nußen opferte.“ Aus dem Angeführten wollen wir unterdeß nur konſtatiren , daß Napoleon I. wirklich Europa durch Rußland als höchst gefährdet ansieht, daß er der Meinung ist, nur die Maſſe ſeines Reichs hätte Kräfte genug gehabt, Rußland aus Polen nach Asien zu verdrängen, daß Europa nur durch die Wiederherstellung des ganzen ehemaligen Polens gegen Rußland geschüßt werden könne, endlich daß die allzugroße Ausdehnung dieses Reichs es unserm Welttheile so gefährlich mache. Unserer Ansicht nach ist es nicht der Umfang Rußlands allein, der es Europa so gefährlich macht ; in noch höherem Grade ist es ſein rauhes Klima, feine unzugängliche Lage, seine geographische Stellung in der Nähe der wichtigsten kommerziellen und ſtrategiſchen Punkte der Welt, ſeine Verfaſſung, Tradition, ſeine Sitten und Tendenzen, sowie die ethnographischen, religiösen und politischen Verhältniſſe ſeiner unmittelbaren Nachbarschaft. Darin hat ſich nun die Voraussicht Napoleon's auf das schlagendſte bewährt, daß wenn irgend Jemand, nur er im Stande war, Rußland aus Europa zu verdrängen und Polen wiederherzustellen, als er auf der Höhe seiner Macht stand und über die vereinigten Kräfte von Europa verfügte. Seit der Zeit hat sich Rußland fortwährend ver-

11 größert und konsolidirt. Es hat das Amurgebiet , die Steppen der Kirgisen, den Kaukasus und Turkestan erobert und obgleich es oft die Verträge gebrochen, Europa bedroht und zu Protestationen, Drohungen, Rüstungen und sogar zum Kriege veranlaßt hat , so hat dieses doch nie sich soweit zu einigen, zu entschließen und troß mehrjähriger Kriege ſoviel Kräfte zu entwickeln vermocht, um Rußland auf immer unſchädlich zu machen , indem man es von der Ostsee und dem Schwarzen Meere verdrängte und ihm durch die Wiederherstellung Polens die Ueberfluthung unseres Welttheils unmöglich machte. Rußland ist troß seines ungeheuren Umfanges blos von einer einzigen, von der westlichen Seite europäischen Heeren zugänglich, aber auch hier denselben seines rauhen Klimas wegen höchst ge= fährlich, wie dies der Feldzug nach Moskau im Jahre 1812 und der gegen Sebastopol im Jahre 1855 hinlänglich bewiesen. Der in Rußland beinahe 8 Monate des Jahres mit einer ununterbrochenen Schlittenbahn andauernde strenge Winter macht es jedem europäischen Heere rein unmöglich einen durchgreifenden Angriffskrieg gegen Rußland zu unternehmen oder vielmehr mit bedeutendem Erfolg durchzuführen. Ein feindliches Heer darf, ohne sich der höchsten Gefahr auszuseßen , in Rußland nicht überwintern. Es muß alſo freiwillig vor dem Winter das aufgeben, was es in den 4 Sommermonaten gewonnen, und darf ſich daher nicht tiefer, als 60 Tagemärsche in das Innere Rußlands hineinwagen , um während der übrigen 60 Tage des Sommers ſich Wenn dieser Staat daher seine ungefährdet zurückziehen zu können. Weſtgrenzen in einen guten Vertheidigungszustand seßt, so ist er beinahe unangreifbar. Europa ist daher insofern in großem Nachtheil , als es Rußland gegenüber hauptsächlich blos auf die Defenſive angewiesen ist. Rußland dagegen ist auch in einem Angriffskrieg Europa dadurch überLegen, daß es dasselbe während des Winters angreifen kann, dessen Beschwerden es eher, als die Europäer auszuhalten im Stande ist. Suwarow ging mit den Russen während des Winters sogar über die Alpen. Es ist eine seit Anbeginn der Geschichte feststehende Thatsache, daß nie oder nur vorübergehend nördliche Völker von südlichen, sondern immer südliche von nördlichen unterworfen werden. Derjenige , der einmal die Tropenländer besucht hat, wird es ganz natürlich finden. Die fortwährende Hiße dieser Gegenden ermattet gänzlich den Geiſt und Körper des Menschen, zwingt ihn einen großen Theil des Tages zur völligen Unthätigkeit, erlaubt ihm auch während der übrigen Tageszeit keine anstrengende Thätigkeit und auch die geringe Abkühlung der Luft während der Nacht erfrischt ihn wenig. Dort ist aber nicht nur

12 eine bedeutendere Anstrengung nicht möglich , sondern für gewöhnlich auch nicht nöthig , weil die üppigste, reichste und mannigfaltigste Vege= tation, welche die Früchte ein paar Mal des Jahres zur Reife bringt, dem Menschen ohne sein Hinzuthun von selbst im Ueberflusse beinahe Alles bietet, was er zu seinem Unterhalte bedarf. Und er braucht in dieſem milden Klima an Kleidung, Wohnung und Speise höchst wenig. Aber nicht nur die Einwohner der Tropenländer , sondern auch die der füdlichen Länder von Europa leben meistens von den billigen, das ganze Jahr hindurch frisch auf den Markt in Unmaſſen gebrachten Baumfrüchten. Alle diese Umstände bringen es mit sich , daß die Einwohner der Südländer schwächer, weniger arbeitſam, vorsorglich und tauglich ſind große Anstrengungen und Strapazen, beſonders im Kriege zu ertragen, als die der Nordlande, welche durch den steten Wechsel von Hiße und Kälte im Sommer und Winter, am Tage und in der Nacht ungemein abgehärtet und wegen der Kargheit der Natur und der Kürze des Sommers zur angestrengten Arbeit gezwungen werden, um sich mit hinlänglichen Vorräthen auf den langen Winter zu versehen und durch den Genuß von größeren Quantitäten von Speisen, namentlich von Fleischspeisen, eine bedeutendere Körperkraft, Ausdauer und Kampfluſt erlangen. Da nun andererseits die Nordlande von Natur arm und wenig an= ziehend, wenn nicht ganz für die Bewohner der südlichern Striche unerträglich dagegen die Südlande für die Nordlande durch ihren Naturreichthum, ihre Naturschönheiten und Annehmlichkeiten höchſt lockend sind - so ist es ganz natürlich , daß Länder wie Palästina, Phönizien, Aegypten durch nördlichere Nachbarn, wie die Babylonier, Assyrier, Meder, Perser diese wieder ebenso , wie die Indier und Chinesen - durch die Völker Mittelaſiens oft unterworfen wurden und daß es nicht umgekehrt der Fall gewesen war ; — daß in Europa die Griechen und in Vorderaſien und Afrika die genannten Völker durch die nördlicher wohnenden Macedonier, diese wieder durch die Römer ; die Römer und Italiener durch die Deutschen ; die Deutschen und Romanen hinwieder durch Normannen, Dänen, Angeln, Sachsen und die Schweden überfluthet und bewältigt wurden - während Italien durch das südlichere Griechenland (Großgriechenland, Erarchat), Deutschland durch die Römer (zur Kaiserzeit), die Romanen durch die Araber (in Spanien und Sicilien) nur vorübergehend ― die Deutschen aber durch die Italiener und die normänniſchen oder skandinavischen Länder noch gar nicht durch ihre südlichern Nachbarn unterworfen wurden außer wenn wir etwa die jeßige Eroberung Schleswigs für den Anfang einer solchen ansehen wollten.

13 Nördlicher aber als Japan und China, als Indien und Persien, Arabien, Palästina , Phönizien und Aegypten , nördlicher als die Mongolei, Turkestan und ganz Mittelasien , als Griechenland und Macedonien, Rom, Italien, Spanien, Portugal, Frankreich und England , nördlicher als Deutschland und die normänniſchen oder ſkandinavischen Staaten, nördlicher als irgend ein Staat der Vergangenheit war und der Zukunft sein kann - ist Rnßland ― durch welches auch Schweden seine wichtigsten Besigungen verloren hat und zu Waſſer und zu Lande sehr bedroht ist, ebenso wie das mittlere und überhaupt das ganze Europa und Asien.

5. Aber Rußland ist ja groß genug und hat keine Erwerbungen mehr nöthig. Ja, es leidet schon an seiner überschweng= lichen Größe und droht deßwegen von selber auseinander zu fallen und auf diese Weise das gewöhnliche Schicksal aller allzugroßen Reiche zu theilen. Es ſieht dieses selber ein und ist bereit , nicht nur keine Erwerbungen mehr zu machen , sondern bedeutende Theile des schon Erworbenen seinen treuen Bundesgenossen zur Belohnung für ihre treuen Dienste freiwillig abzutreten. “ Nichts iſt verkehrter, verhängnißvoller und für die Freiheit Europas gefährlicher , als diese in den höchsten und weitesten Kreisen der Bureaukratie und des Volkes Mitteleuropas gehegten und gepflegten An- und Absichten. Was Rußland will, das hat doch wohl Peter der Große deutlich genug in seinem politischen Testamente ausgesprochen. Es lautet : Im Namen der hochheiligen und untheilbaren Dreieinigkeit. Wir Peter, Kaiser und Selbstbeherrscher aller Reuſſen u. s. w. allen Unseren Abkömmlingen und Nachfolgern auf dem Thron und in der Regierung der russischen Nation." ,,Der gütige Gott, von dem Wir Unser Dasein und Unsere Krone haben , hat uns beſtändig mit seinem Licht erleuchtet und mit ſeiner göttlichen Hülfe gehalten . Nach dem Plane der Vorsehung iſt das russische Volk berufen zur allgemeinen Herrschaft über Europa für die Zukunft. Die andern Nationen in Europa befinden sich in einem völliger Hinfälligkeit nahen Zustande verlebten Greiſenalters oder eilen dem mit raſchen Schritten entgegen. Es kann nicht schwer halten, daß ſie ſchnell und unzweifelhaft der Unterjochung durch ein junges neues Volk unterliegen, sobald dies seine volle Kraft erreicht hat und ganz ausgewachsen ist." ,,Nach dem Rathschlusse der Vorsehung ist eine ewige Bewegung der Völkerströmungen von Nordosten gegen Südwesten geordnet ; es

14 war dieselbe, welche einst das herabgekommene römische Volk durch die Invasion der germanischen Barbaren erneuerte. Diese großen Wanderzüge der Nationen von den Polarländern her sind dem Nilstrom vergleichbar, der mit seinem befruchtenden Schlamm die Gefilde Aegyptens zu befruchten kommt." „ Rußland fand Ich vor als einen Bach ; Ich hinterlaſſe es. als einen Fluß ; unter Meinen Nachfolgern muß es ein großes Meer werden, beſtimmt, das verarmte Europa zu befruchten. Seine Wogen werden überströmen troß aller Dämme und Deiche, welche schwächliche Hände ihm entgegen zu sehen vermöchten, falls meine Nachkommen es verstehen, seinen Lauf zu leiten. Dazu übergebe ich ihnen das Vermächtniß der folgenden Unterweiſungen, deren stete Beachtung und Befolgung Ich ihnen einſchärfe, ſowie einst Moses dem Volke Israël die Geseztafeln empfahl.“ 1. „ Das ruſſiſche Volk stets auf dem Kriegsfuße erhalten , ein Volk von Soldaten, abgehärtet durch Disciplin, stets zur Verwendung bereit. Dem Heere nur gerade soviel Kost geben , als nöthig ist, um die Finanzen sich erholen zu lassen und die Truppen zu ergänzen. Die geeignetsten Gelegenheiten zum Angriff wählen. Krieg dem Frieden, Frieden dem Kriege dienstbar machen, immer zu dem Zwecke, das Gebiet Rußlands zu vergrößern, ſein Gedeihen zu fördern.“ 2. " Durch alle möglichen Mittel aus den gebildetſten Völkern Europas die geschicktesten Heerführer und Männer von Gelehrsamkeit und Bildung in den russischen Dienst ziehen , so daß Rußland die eigenthümlichen Vorzüge aller Völker gewinnt, ohne seine eigenen zu verlieren." 3. Bei allen Gelegenheiten sich in die innern Angelegenheiten und Streitigkeiten des übrigen Europa miſchen , vorzüglich des deutschen Reiches .“ 4. ,,Polen zerrütten durch Erregung fortwährender Unordnungen und Parteikämpfe. Die Regierenden kaufen . Durch den Reichstag Einfluß auf die Königswahlen gewinnen. Unsere Kandidaten wählen lassen, sie unter Protektion nehmen, kraft dieses Protektorates das Land beseßen, bis es Zeit ist, ganz darin zu bleiben. Wenn die benachbarten Mächte dieser Politik Schwierigkeiten machen, sie für den Augenblick durch eine Theilung des polnischen Gebietes beruhigen, bis es Zeit, ihnen das Hingegebene wieder abzunehmen." 5. Von Schweden so viel Gebiet nehmen, als zu bekommen ist, und es zum Angriff reizen, damit Gelegenheiten gewonnen werden, es zu unterwerfen. Zu dem Zwecke Schweden von Dänemark isoliren und umgekehrt und ihre Eifersuchten sorgfältig nähren.“ 6. „ Die Gemahlinnen für die ruſſiſchen Prinzen aus deutschen

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Häusern wählen, um die Familienverbindungen zu vervielfältigen, die Wechselbeziehungen beider Völker enger zu ziehen und durch Vermehrung der Quellen unseres Einfluſſes es dahin zu bringen , daß Deutschland von selbst mit uns gemeine Sache macht." 7. ,,Handelsbündniß vorzugsweise mit England suchen , das uns am meisten für seine Flotte braucht und uns am nüßlichsten für die' Entwickelung der unsrigen werden kann. Unser Bauholz und unsere andern Roherzeugnisse gegen sein Gold umſehen und zwiſchen seinen Kaufleuten und Seeleuten und den unsrigen einen fortwährenden Verkehr erhalten, an dem sich die lettern heranbilden." 8. „ Uns unablässig im Norden an dem Baltischen , im Süden an dem Schwarzen Meer ausdehnen." 9. ,,Konstantinopel und Ostindien so viel wie möglich näher kommen. Wer dort herrscht , wird der wahre Herr der Welt sein. Zu dem Zwecke unablässig Krieg anregen , abwechselnd gegen die Türkei und gegen Persien ; Werfte am Schwarzen Meere anlegen. Dieses -- beiwie das Baltische Meer Schritt vor Schritt in Beſiß nehmen des ist zur Erreichung jenes Zweckes nothwendig. Den Verfall Persiens beschleunigen. An dem perſiſchen Meerbusen vordringen. Wenn möglich, den. alten Handelszug durch Syrien herstellen und geradeswegs auf Indien, den Stapelplaß der Welt, losgehen. Wenn einmal da, können wir das Gold Englands entbehren." 10. ,,Das Bündniß Desterreichs mit Eifer suchen und pflegen. Offen den Gedanken Desterreichs an eine künftige Herrschaft über Deutschland unterstüßen, aber in Geheim die Eifersucht der deutschen Fürstenhäuser anfachen. Es dahin bringen, daß beide Theile Rußland um Hülfe angehen, und über Desterreich eine Art von Protektorat ausüben als Vorbereitung zu der künftigen Beherrschung." 11. Das Haus Desterreich für die Vertreibung der Türken aus Europa gewinnen und seine Eifersucht auf den Besiz Konstantinopels dadurch neutralisiren, daß man es entweder in Kriege mit andern europäischen Staaten verwickelt oder ihm ein Stück von der Eroberung abgiebt, das ihm zu gelegener Zeit wieder abzunehmen.“ 12. ,,Planmäßig dahin arbeiten, die in Ungarn und im südlichen Polen zerstreuten schismatiſchen Griechen um uns zu sammeln ; uns zu ihrem Mittelpunkt , ihrem Rückhalt machen und vorläufig einen überwiegenden Einfluß zu gewinnen durch eine Art von politischer oder priesterlicher Oberherrlichkeit. In dem Maße, wie dieß ausgeführt wird, haben wir Freunde inmitten unserer Feinde erworben." • 13. ,,Wenn Schweden getheilt, Persien unterworfen , Polen unterjocht, die Türkei erobert, unsere Armeen zusammengezogen , das Schwarze und Baltische Meer von unseren Flotten bewacht sind, dann

16 müſſen wir einzeln und im tiefsten Geheimniß erst dem Wiener und dann dem Versailler Hofe den Vorschlag machen , mit uns die Herrschaft der Welt zu theilen. Wenn der eine annimmt , was nicht fehlen kann bei gehöriger Bearbeitung des Ehrgeizes und der Eitelkeit, so ist er als Werkzeug zu brauchen , um den andern zu vernichten, dann der übrig bleibende zu vernichten in einem Kampfe, deſſen Ausgang nicht zweifelhaft sein kann, wenn Rußland schon den Osten und einen großen Theil Europas besißt." 14. ,,Wenn, was nicht wahrscheinlich ist , beide Mächte das Anerbieten Rußlands ablehnen, so wird es nothwendig sein sie in einen Streit zu verwickeln , in dem sie sich gegenseitig erschöpfen. Dann muß Rußland, den entscheidenden Augenblick ergreifend , seine bereit gehaltenen Truppen über Deutschland ausgießen und gleichzeitig zwei Flotten von dem Schwarzen und dem Baltischen Meere unter bewaffneter Begleitung, mit asiatischen Horden gefüllt, in das Mittelländische Meer und den Ocean schicken und Frankreich überschwemmen. Wenn die beiden Länder unterworfen sind, wird der Rest Europas uns leicht und ohne einen Schlag zufallen " ,,So kann und so muß Europa unterworfen werden." Und wie Peter verordnete , so handelte er auch. Um im „ getheilten deutschen Reich, wie er sich ausdrückte, festen Fuß zu faſſen“, stellte er an den deutschen Kaiser und die Stände das Ansinnen, ihm für das an Rußland annectirte, ehemals zum Reich gehörige Livland die Reichsstandschaft , Siß und Stimme am deutschen Reichstag zu übertragen und als er damit nicht durchdrang , wollte er zur Erreichung desselben Zieles Livland gegen Mecklenburg austauschen. Er quartirte bereits 40,000 Ruſſen in Mecklenburg ein, und brandſchaßte, allen Vorstellungen des Kaisers Karl VI. zum Troß , dieses Herzogthum und das Fürstenthum Eutin und die Reichsstadt Lübeck. „ Im deutschen Reiche", meinte Peter,,, brauche man bloß zu angeln , um reichlich zu fischen“, und ließ darum im Jahre 1717 nach Paris melden, daß er bereit sei, auf den ersten Wink des französischen Machthabers mit einer Armee von 80,000 Mann, wann und wo es nöthig, in das Herz von Deutschland einzudringen.

Und gleichzeitig , als der

Zar für Preußen die wärmsten Sympathien heuchelte , schloß er im Jahre 1718 mit Karl XII. von Schweden, seinem früheren Todfeind, einen Vertrag ab , worin er, um Mecklenburg zu erwerben und den preußischen König Friedrich Wilhelm I. zur Rückgabe Stettins und aller schwedischen Eroberungen zu nöthigen, ein Heer von 80,000 Mann in Brandenburg einrücken zu lassen versprach. Bloß der plögliche Tod Karl's XII. verhinderte die Ausführung dieses Traktates . In demselben Geiste und aus demselben Grunde, wie Peter, trat

17 auch die Kaiſerin Elisabeth gegen Preußen auf Seiten Desterreichs und der im Jahre 1753 in Moskau versammelte Reichsrath stellte als Staatsmarime auf: „ man dürfe nicht blos keine weitere Ausdehnung des preußischen Staates gestatten , sondern müsse denselben auf seine früheren Grenzen zurückführen." Katharina II., indem sie genau in die Fußtapfen Peter's trat und seinen Absichten gemäß handelte, ließ im Jahre 1768 beim Beginn des Krieges gegen die Türken erklären : „ Wie Peter I. und die Zarin Anna lediglich um ihre Glaubensbrüder vom türkischen Joch zu erlösen, zu wiederholten Kämpfen mit den Türken bewogen worden , so habe lediglich der brünstige Eifer für den orthodoxen Glauben die jezt regierende Kaiſerin Katharina vermocht, nochmals die Ausführung desselben gottgefälligen Werkes zu verſuchen. “ Und indem sie einen großen Theil der Türkei und Polens mit Rußland vereinigte, hat sie den bedeutendsten Schritt zu der Verwirklichung der Pläne Peter's des Großen gethan. In den Memoiren des russischen Dichters und Ministers Ga= briel Dierzawin finden wir die Notiz , daß Katharina sagte: ,,Wenn ich hundert Jahre herrschen könnte, so würde ganz Europd dem russischen Scepter unterthan sein." Ein anderes Mal äußerte sie : ,, Ehe ich sterbe, will und muß ich die Türken aus Europa vertreiben , den Uebermuth der Chinesen demüthigen und den Handel mit Indien eröffnen." Wir wissen auch, wie Alexander I. mit Napoleon I. bei einer Zusammenkunft in Erfurt im Jahre 1808 die Herrschaft Europas und der Welt unter sich zu theilen beschlossen. Der in alle Staatsgeheimnisse tief eingeweihte russische Minister Pozzo di Borgo äußerte am 14. October 1814 in einer geheimen Denkschrift an Kaiser Alexander I.: Rußlands neuere Geschichte habe fast ausschließlich die Zerstörung Polens zum Gegenstande ; dieſe ſei in der Absicht unternommen, Rußland in unmittelbaren Verkehr mit den übrigen Völkern Europas zu ſeßen und ihm einen weitern Schauplag für die Anwendung seiner Macht und seiner Talente, für die Befriedigung seines Stolzes , seiner Leidenschaften und Intereſſen zu eröffnen ; die Folgen dieſes gelunge= nen Planes zerstören, hieße die Einheit der Regierung antasten." Und deutlicher noch als Pozzo di Borgo betont Graf Nesselrode, daß „ Rußlands polnische Zwecke in Deutschland liegen “. Noch im Jahre 1837 sprach sich eine russische Denkschrift dahin aus : ,,die korrekte russische Politik habe die deutschen Staaten unter sich, die Fürsten gegen die Völker und umgekehrt die die Fürsten mit Mißtrauen und Eifersucht zu erfüllen , ſie alle in die Abhängigkeit Rußlands gerathen und je Europa.

Völker gegen dann würden nach Umſtän2

18 den zur Entschädigung für dieſes ſelbſt und für Andere , die kleinern Staaten auch geeigneten Falls zur Vergrößerung Preußens dienen.“ Vor dem Beginne des orientalischen Krieges, als Kaiser Nikolaus den systematischen Vernichtungskampf gegen alle Elemente der polnischen Nationalität bereits für vollendet hielt und mit Hülfe des assimilirten Polens den Sieg der Zarenpolitik seit Peter I. bereits besiegelt glaubte und wie Katharina II. nicht eher sterben zu können schien, als bis er die Türken aus Europa vertrieben, sagte er am 21. Februar 1853 zu dem englischen Gesandten Lord Seymour: " Um die Franzosen kümmere ich mich sehr wenig, und wenn ich von Rußland spreche, spreche ich ebenso gut von Oesterreich ; haben die englische Regierung und ich, ich und die englische Regierung vollkommenes Vertrauen , Eines zu des Andern Absichten, ſo kehre ich mich nicht um das Uebrige." Die deutschen Fürsten sah er schon für seine Vasallen an und behandelte sie als solche, wie es außer andern die Olmüßer Affaire zur Genüge beweist. Und wenn Rußland bei allen ſeinen Schritten sich immer nur vom Staatsinteresse hätte leiten lassen und nicht einmal dasselbe dem Legitimitätsprincip, ein ander Mal den Familienverhältnissen der Dynastie, sodann dem allgemeinen Conservatismus und Pietismus , dann wieder der Moskwitisirung und Schismatisirung , einmal der Großmuth, ein andermal der Ueberhebung, bald dem Obſcurantismus und der Grenzsperre, bald dem Communismus opferte - wenn es in den lezten Jahrzenden auch befähigte, nicht nur übermüthige, Staatsmänner gehabt oder verwandt hätte, es würde wenigstens schon im Besize der größeren Hälfte von Desterreich (im Jahre 1849) und der Türkei sein, namentlich wenn es vor dem Beginne des orientalisches Krieges hinlänglich vorbereitet und beim Beginne deſſelben energiſch von europäischer und aſiatiſcher Seite zu Lande und zu Waſſer auf Konſtantinopel vorgegangen wäre, sich mit den Serben , Bulgaren, Armeniern und Griechen in Verbindung gefeßt und schlimmsten Falls durch den Balkan und Taurus gegen die Verbündeten gedeckt hätte — und nicht auf halbem Wege stehen geblieben , mit der Pfandnahme der Donaufürstenthümer sich begnügt und so lange gedroht hätte , bis die Verbündeten Zeit gewonnen die Dardanellen zu paſſiren, Konstantinopel und die Donau zu decken und das Schwarze Meer zu beſeßen. Doch aus dem Angeführten sehen wir , wie zähe Rußland an dem Plane Peter's des Großen festhält und wie sehr es sich schon dem von ihm gesteckten Ziele genähert hat. Nur daß es jezt ſtatt Mecklenburgs den Besit von Holstein für sich beansprucht und erstrebt ; ob mit ebenso wenig Recht und Aussicht auf Erfolg, wie im Anfange des 18. Jahrhunderts jenes - das ist eben die Frage. Es ist die Frage, ob der Wiener Hof gegenwärtig mit der Ueberlassung Holsteins

19 an Rußland ebenso viel Schwierigkeiten machen würde , mit der Mecklenburgs .

als damals

Aber das sehen wir doch ganz klar , daß Herzog Alba nicht Unrecht hatte, als er im Juli des Jahres 1571 die in Frankfurt versammelten Reichsstände dringend bitten ließ,,,man sollte doch die fernere Ausfuhr von Kanonen, Panzern , Flinten und sonstigen Kriegs- · bedürfnissen nach Rußland untersagen , denn wenn Rußland die militärische Bildung und die militärischen Hülfsmittel des übrigen Europas je sich aneignen sollte , so werde es sicherlich dereinst als furchtbarer Gegner nicht blos des deutschen Reiches , sondern des ge= sammten Abendlandes werden. “ Zu denken, zu behaupten oder sich einreden zu laſſen , wie das sogar Staatsmänner thun, Rußland wäre zu groß und könne sich nicht halten und werde freiwillig ohne mit dem Schwerte und durch das Aeußerste dazu gezwungen zu sein, einen Theil von seinen westlichen Besigungen abtreten, seinen guten Nachbarn für Polizeidienste zum Präsent machen - das heißt das Wesen Rußlands und der Geschichte der lezten Jahrhunderte völlig verkennen.

Rußland will nicht nur seine

Besitzungen im Westen nicht schmälern , sondern es will sie daselbst, wie das unlängst der Golos (die Stimme) frei ausgesprochen , ebenso und eben deshalb erweitern , wie und weil es Preußen im Norden gethan. 6. Obgleich Rußland an Größe alle Reiche alter und neuer Zeit übertrifft , mehr als die Hälfte von Europa und den sechsten Theil der ganzen bewohnten Erde besißt, fast ununterbrochen sich durch drei Erdtheile erstreckt und troßdem von drei Seiten europäischen Heeren unzugänglich ist ― so ist es doch noch weit davon entfernt am Ende seiner Wünsche zu sein , alle ihm leicht zugänglichen Länder erobert, alle ihm homogenen Elemente mit sich vereinigt und einen natürlichen Abschluß gefunden zu haben. Rußland will zunächst alle slavischen Länder mit sich vereinigen. Der Aufruf der russischen Patrioten an die polnischen Brüder ist einer der neuesten und schlagendsten Be= weise dafür.

Es bedarf auch nicht eines Genies Peter's des Großen, um zu begreifen, wie viel Rußland in seinem Streben zur Weltherrschaft durch die Vereinigung aller slavischen Völker mit seinem Reiche gewinnen würde, indem es dadurch seine Grenzen bis an das Aegäische und Adriatische Meer, bis an den Böhmerwald und die Nordsee vorschieben und die Dardanellen und den Sund gewinnen würde. Wie es jezt schon von Norden, Often und Süden europäischen Heeren und 2*

20 Flotten unzugänglich ist , so würde es fortan auch vom Westen her fast unangreifbar werden. Das Schwarze Meer und die Ostsee würden, ähnlich wie jezt das Kaspiſche Meer , russische Binnenseen werden, zu denen der Zutritt, wie zu den in dieselben sich ergießenden Flüssen fremden Schiffen und Flotten gegen den Willen Rußlands unmöglich wäre. Rußland, so ungeheuer es auch sein möchte, würde auch dann noch eine fast unangreifbare Festung sein, wenn es sich bis an das Gelbe, Persische und Rothe Meer ausdehnen würde. Die zu allen den genannten Meeren oder ihren Meerbusen führenden engen Wasserstraßen würden äußerst bequeme und vortheilhafte Ausfallthore bilden, durch die Rußland unverhofft überall und zu jeder Zeit seine Feinde überfallen und hinter denen es im Falle der Noth sicheren Schuß finden würde. Abgesehen von den Erwerbungen in Asien , würde Rußland auf diese Weise in Europa allein, außer andern, die ganze Türkei sammt den Donaufürstenthümern , ganz Oesterreich , die östliche Hälfte von Preußen, Sachsen, Mecklenburg und Holstein und somit schönere, wichtigere und reichere Länder erhalten, als seine bisherigen alle ſind ; an Einwohnern aber noch einmal soviel, als es deren gegenwärtig besigt und zwar meistens stamm ፡ und glaubensverwandte , befreundete Nationen, sowie alles beinahe alte Kulturvölker , die im Stande wären, die Bildung im eigentlichen Rußland mächtig zu heben, den Handel, die Industrie, Kunst und die Wissenschaften rascher befördern und entwickeln zu helfen. Und was vielleicht nicht weniger, als alles bisher genannte, zu bedeuten hätte : Rußland würde auf . diese Weise in den Besiz aller der alten , direkten , und kurzen durch die Dampfschiffahrt und die auszuführenden Eisenbahnen und Kanäle jezt unendlich wichtigeren Wege des orientalischen Handels gelangen, jenes Welthandels, dem alle bisherigen Kulturstaaten alter und neuer Zeit , der Reihe nach von Babylonien bis Großbritannien ihre Schäße, Bildung, Macht und ihr zeitweiliges Uebergewicht in der Welt zu verdanken hatten. Wahrlich sind das Alles Ziele würdig eines Eroberungsstaates. Man wird vielleicht sagen , daß es unausführbare Pläne , unschädliche Träumereien wären. Nicht so ganz, wie man glauben möchte. Rußland war schon zum Theil in dem Beſize derjenigen Länder, die es seinem Reiche einzuverleiben trachtet. Die Türkei hat es im Jahre 1829, Ungarn und Galizien im Jahre 1849 und Preußen schon im Jahre 1759 völlig in seiner Gewalt gehabt. Es hatte aber damals noch Grund genug , diese Beute freiwillig fahren zu lassen. Denn Polen, obgleich geschwächt und unterdrückt, stand noch immer · drohend in seinem Rücken. Ist es aber einmal von dieser Seite sicher gestellt, dann wird es Niemand in seinem Vordringen aufzuhalten im

21 Stande sein. Es ist bekannt, wie die Mehrzahl der Einwohner Desterreichs und der Türkei mit Rußland entweder durch die Nationalität oder Religion oder durch beides zugleich eng verwandt iſt, und von ihm zum Theil seine Erlösung von der Fremdherrschaft fordert und erwartet. Und diese Völker sind mit die tapferſten und abgehärtetſten in Europa. In einer so günſtigen Lage war noch kein Eroberungsstaat vor dem Beginne seines leßten und wichtigſten Unternehmens zur Vollendung seiner Weltherrschaft. Welche Großmacht würde einem solchen Reize auf die Länge der Zeit widerstehen können , besonders wenn sie, ähnlich wie Rußland schon zwei Mal , den vereinten Kräften von ganz Europa die Spiße zu bieten wagte und nicht ohne Erfolg ? ,,Rußland wird aber ," sagte Proudhon , „ nach der Regulirung der Bauernverhältnisse und nach Vollendung seiner Eisenbahnen zehn Mal so kräftig sein, wie vordem." Welche Großmacht würde nicht die Vereinigung der ihr verwandten und befreundeten Völkerschaften mit ihrem Reiche mit allen ihr zu Gebote stehenden Mitteln zu bewirken suchen , besonders wenn sie so herrliche Länder, Poſitionen und Naturgrenzen als Mitgift ihrer Unterwerfung darbringen würden , wie es mit den österreichiſchen und türkischen der Fall sein würde ? Kann man sich wundern , wenn eine solche Macht, wie Rußland eine iſt, die beiden einzigen Schlüſſel zu ſeinem Hause in den Händen so schwacher Staaten , wie Dänemark und die Türkei ſind , nicht lassen will ? Um einen so herrlichen Preis , wie die Gewinnung der slavischen Länder und der genannten Meerengen ist , wird es zehn und zwanzig Mal ſeine Eriſtenz auf das Spiel ſehen, kein Opfer und keine Mittel scheuen, wie es dies während des orien= talischen Krieges und bei der Niederdrückung des lezten polnischen Aufstandes bewiesen. Es kann in den Händen Desterreichs und Preußens nicht polnische Provinzen lassen, die von ihnen einmal als Hebel angewendet werden könnten , um ihm das ganze ehemalige Polen zu entreißen. Es sieht ein , daß ohne die Vereinigung aller ehemals polnischen Landestheile zu einem Ganzen, die polnische Nation durch keine auch noch so weit gehende Konzeſſionen zufrieden zu stellen , um jeden Preis aber zu gewinnen und zu versöhnen sei , indem die Vernichtung und Ent= nationaliſirung derselben , welche daſſelbe mit den andern Theilungsmächten in ein Paar Jahren zu vollbringen gedachte, es ein volles Jahrhundert von weiterer Ausbreitung in Europa und von der Ent wickelung abhalten und noch Jahrhunderte lang , wenn nicht auf im mer, abhalten und im Falle eines europäischen Krieges in die größte Gefahr bringen und nicht nur bei den Abendländern , sondern auch bei allen Slaven um die Sympathie bringen könne. Andererseits

22 fühlen aber die Ruſſen , daß sie mit dem Aufgeben des Panflavismuš und der Eroberungspolitik nicht nur bei ihren Glaubens- und Stammgenossen im Auslande, ſondern selbst bei ihren Unterthanen alles Ansehen verlieren würden. Rußland, wie es einmal gestellt ist, kann nicht mehr zurück. Es muß vorwärts. Kann man von einer Großmacht, wie Rußland eine ist, erwarten , daß sie ihre Flotte ewig in die starren Gewässer des Eismeeres sperren wird und auf immerdar aus demjenigen Meeresbecken werde bannen lassen , in welches ihre und Europas bedeutendste Flüsse münden und dessen Gestade fast das ganze Jahr hindurch vom Eise frei sind, wird man es von ihr nicht vielmehr als sehr natürlich finden , daß sie auf jede Weise darnach trachtet , die Pforten zu einem solchen Becken in ihre Hände zu bekommen ? Herr P. v. Tschihatschef, correspondirendes Mitglied des Instituts , auswärtiges Mitglied der namhaftesten europäischen Akademien und gelehrten Gesellschaften, einer der bedeutendsten Jünger Alexander von Humboldt's, und ohne Frage der beste Kenner von Vorder- und speciell von Kleinaſien, das er ſeit achtzehn Jahren bereift, wie nach allen Höhen und Tiefen durchforscht und beschrieben hat, sagt in seinem Prachtwert : ,, Le Bosphore et Constantinople": ,, Auf jeden Fall könne Rußland nicht gedeihen, solange ihm das Schwarze Meer nicht zu freier Verfügung stehe und solange es für seine Marine blos die Ostsee habe, wo sechs Monate im Jahre kein Wasser in flüssigem Zustande vorhanden sei ; dies ſei ungefähr ebenso , als wenn man England zwingen wollte, seine Kriegsschiffe in die Baffins- und Hudsonsbay , oder in die Melvilleſtraße einzuſchließen, ohne daß es wagen dürfte , ſie im Aermelmeer zu zeigen.“

7. Daraus, daß Rußland solche Absichten und Tendenzen hat, geht noch gar nicht hervor, daß es dieselben der ganzen Welt offen geſteht und die Länder und Staaten, die es einzunehmen gedenkt , alle auf einmal angreift. Es kann sich die Sache leichter machen , wenn es nicht zu hastig verfährt und die Staaten einzeln , einen nach dem andern , und, wie bis jeßt, mit der Andern Hülfe vornimmt. Mißglückt ihm der Versuch einmal, so wird es ihn bei einer bessern Gelegenheit zum zweiten und nöthigenfalls zum zehnten Mal wiederholen. Ursprünglich, ehe sich bei ihm die Idee des Panflavismus herausgebildet hat, scheint es zunächst an die Eroberung der Türkei gedacht zu haben. Später, nach der Verschwörung und Revolution der Dekabristen im Jahre 1825 und namentlich in Folge des orientalischen Kriegs, während deſſen es sich überzeugt hat, daß es auf seine bisherigen

23 Bundesgenossen, die deutschen Großmächte, die es seiner Meinung nach, mit den höchsten Wohlthaten überhäuft hat , bei seinem wichtigsten Unternehmen, welches die Eroberung der Türkei ist, nicht zählen kann und weil es von dieser durch die Donaufürstenthümer getrennt wurde, ist es förmlich gezwungen , sich zuvor wenigstens in den Besitz von Galizien und Ungarn zu ſeßen, ehe es an die Eroberung der europäischen Türkei denken kann. Würde es wohl Bundesgenossen zu einem solchen Unternehmen finden ? Gewiß mehr als es deren bedürfte; denn schlimmsten Falls würde es wohl mit Desterreich allein fertig werden können. Von Montenegro, Serbien und Rumänien bis Preußen, Italien und Frankreich, mit der einzigen Ausnahme von England , wären beinahe alle Staaten Europas bereit, an einem Unternehmen Rußlands gegen Desterreich Theil zu nehmen, wenn sie sich nur über den Preis einigen Ja ! in dem Augenblicke wo könnten , um den es geschehen sollte. wir dieses schreiben, hat es sogar den Anschein , als wenn Rußland mit Serbien, Montenegro, Italien, Preußen, Nordamerika, Chili und Peru zum gemeinsamen Vorschreiten gegen Mexico , Spanien , Desterreich, Frankreich einig geworden wären. Doch von allen dieſen Staaten, die an dem Unternehmen Rußlands gegen Desterreich und andere Länder Europas und Asiens, jezt und in der Zukunft, voraussichtlich Theil nehmen würden, wollen wir blos einen, Frankreich , in dieſer Die Interessen Beziehung einer nähern Betrachtung unterziehen. Frankreichs und Rußlands kollidiren nirgends mit einander. Dieſe beiden Staaten können sich über Deutschland , über den Suezkanal, über den Indus , Himalaya und Hoangho freundschaftlich die Hände reichen und auf diese Weise die Weltherrschaft unter sich theilen. Daß sie es thun können, wußten und erklärten einander Napoleon I. und Alexander I.; daß sie es thun werden , dafür bürgt der Umstand, daß sie es thun können. Nachdem Rußland die Polen und Tscherkessen ganz darniedergeworfen, iſt es durch Nichts mehr aufzuhalten, von Kaukasien aus die ganze asiatische Türkei einzunehmen, ebenso wenig wie Frankreich durch irgend welche Rücksichten gehindert sein würde, von Algier aus die afrikaniſche Türkei und namentlich Tunis und Aegypten zu beseßen, um auf diese Weise die Vollendung und Erhaltung des Suezkanals und den freien Verkehr auf demselben , sowie auf dem Rothen und Mittelländischen Meere zu sichern . Dadurch würde Englands Monopol im Welthandel und Alleinherrschaft zur See der Todesstoß verſeßt sein , jener Todesstoß , den schon Napoleon I. durch seine Expedition nach Aegypten auszuführen unternommen hatte, ehe noch eine französische Kolonie in Nordafrika

24 gegründet, eine direkte Verbindung zwischen dem Indischen und Mittelländischen Meere als möglich gedacht und die Dampfkraft entdeckt oder vielmehr angewendet worden war. Vom Augenblicke der Ausführung dieser Verbindung und der Befißergreifung Aegyptens durch Frankreich und Vorderaſiens durch Rußland, würde England keinen Tag mehr seiner Beſißungen in Ostindien und Neuholland und der übrigen in Asien und Australien ſicher ſein. Auf passende Gelegenheit zur Ausführung seiner Pläne würde Rußland nicht lange zu warten , sie auch nicht mit Haaren herbeizuziehen brauchen. Sie kommen von selbst und ziemlich rasch nach einander. Es brauchte blos Dänemark , Frankreich und Italien die Hand zu reichen , um auf einmal am Ziele aller seiner Wünsche zu sein. 8. Wenn aber eine von den deutschen Großmächten durch Rußland angegriffen sein sollte, würde ihr nicht die zweite zu Hülfe kommen ? Das ist möglich. - Und würde nicht auch England ſich bewogen fühlen den Eroberungen Rußlands entgegenzutreten , besonders wenn es schon zwei Großmächte zu diesem Zwecke vereinigt sehen würde ? Das ist nicht unmöglich, aber zweifelhaft, besonders seit der Zeit, als Rußland beinahe bis vor die Thore Ostindiens vorgedrungen ist, ohne von England daran gehindert worden zu sein. Sollten nun diese zwei oder drei Großmächte etwa noch mit Hülfe Schwedens und der Türkei Rußland nicht gewachsen sein, wenn es auch mit Frankreich, Griechenland, Italien 2c. verbunden sein sollte ? Könnten sie ihm nicht sogar gefährlich werden, wenn sie die Unabhängigkeit Polens in ſeinen alten Grenzen proklamiren würden?

Wir kommen nun an einen Punkt, wo es sich recht eklatant zeigt, wie sehr die Lage der Dinge in der lezten Zeit zu Gunsten Rußlands ſich geändert, was für bedeutende Fortschritte Rußlands Eroberungspolitik in Europa gemacht , obgleich es die Grenzen in dieſem Welttheile nicht erweitert hat. Denn Polen wird zwar nicht unbedingt mit Rußland gegen das Ausland , aber unter keiner Bedingung mehr mit dem Auslande gegen Rußland kämpfen. Es ist bekannt, daß seit der Tatarenschlacht bei Liegniß, wo der Piastenfürst Heinrich gefallen , seit der Türkenschlacht bei Warna , wo der Jagiellone Wladislaus, König von Polen und Ungarn, den Heldentod gestorben, seit der Schlacht bei Mohacs, wo der Jagiellone Ludwig, als König von Ungarn und Böhmen , gegen die Türken fiel - die Polen fortwährend mit uneigennüßiger Aufopferung von Land und

25 Leuten, wie bei Wien unter König Sobieski, für die Freiheit, Sicherheit und Unabhängigkeit Europas gegen Tataren, Türken, Mongolen, Petschenegen, Moskowiter 2c. gekämpft haben. Während Polen gegen dieſe aſiatiſchen Horden Jahrhunderte hindurch unausgesezt kämpfte, die ihm alle Jahre seine Saaten zerstörten, unzählige Dörfer und Städte verbrannten und Tausende von Männern und Weibern in die Sklaverei abführten, die Peſt und die Heuschrecken einschleppten da hat Europa , durch Polen geschüßt , ruhig ſeine Aecker bebauen , Handel und Gewerbe treiben , Künste und Wiſſenschaften pflegen und an Reichthum und Einwohnerzahl zunehmen können. Trozdem haben die westlichen Nachbarn Polens nie eine Gelegenheit vorübergehen laſſen, um ein Stück von dieſem Lande loszureißen und mit Gewalt zu entnationalisiren . Als der hochgebildete Westen zur Zeit der Kreuzzüge und später die Juden verfolgte, sowie die Arianer, Hussiten, Hugenotten, Calvinisten , Lutheraner , Independenten da nahmen sie alle die rohen Sarmaten gastfreundlich auf, gestatteten ihnen freie Ausübung ihrer Religion und ertheilten ihnen Bürgerrechte. Polen wurde mit Juden , Böhmen , Mähren , Italienern , Deutschen, Schotten, Franzosen , Holländern überfüllt. Auch dem Großmeister des Kreuzordens, Albert , hatte es zum Protestantismus überzutreten erlaubt , ihn mit dem zum Fürstenthum verwandelten Ordenslande Preußen belehnt - obgleich es dasselbe als fälliges Lehn einzuziehen berechtigt und im Stande war ja sogar dasselbe mit der Mark Brandenburg zu verbinden gestattet. Unterdessen hatten auch die Polen die Macht der Türken und Tataren gänzlich gebrochen. Man fing eifrig in Polen . an einer zeitgemäßen Umgestaltung der Zustände, Verhältnisse, Rechte und Verfaſſungen zu arbeiten an. Man begann in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts mit der Verbeſſe= rung der Schulen und Beschränkung des Veto, welches durch die Conſtitution vom 3. Mai 1791 gänzlich abgeschafft wurde, im deutschen Bundestage aber noch bis zu diesem Augenblicke besteht und von den deutschen Mächten nicht seltener mißbraucht wird , als es in Polen der Fall war. In dem Sinne übrigens und in der Bedeutung, wie in Polen, ist es in allen konstitutionellen Staaten geseßlich, nämlich als Recht, gegen diejenigen Beschlüsse der gefeßgebenden Versammlung · zu proteſtiren , welche der Geschäftsordnung oder den Grundgeseßen, der Constitution, entgegen sind. Vor dem Ausbruche der französischen Revolution hat man die Ausarbeitung einer neuen Conſtitution begonnen, die vier Jahre später am 3. Mai 1791 fast einstimmig an-

. genommen wurde und man hat ohne alles Blutvergießen beinahe dieſelben Grundſäße und Rechte zum Geſeß erhoben , zösische Revolution proklamirte.

welche die fran=

26 Aber seit dem Augenblicke des Entstehens des preußischen Staates und der preußischen Dynaſtie und der Errettung Desterreichs und Wiens durch die Polen, fingen diese Staaten an mit den Feinden Polens gegen dasselbe zu konſpiriren und ſich zu verbinden. Zuleßt beseßten ſie zugleich mit Rußland im tiefſten Frieden und ohne jede Kriegserklärung einzelne Theile von Polen angeblich zum Schuße der Dissidenten , die vor den Verfolgungen der intervenirenden Mächte Schuß in Polen gesucht und gefunden hatten. Mit einem Worte : es geschah im christlichen , civiliſirten Europa, was noch nie zuvor im Heidenthum und in der tiefsten Barbarei geschehen war : Polen, die Schußmauer Europas gegen die Barbarei und den Despotismus Asiens, wurde getheilt. Europa schwieg dazu. Wenn es wenigstens geschwiegen hätte. Aber schon im Jahre 1763 seßte man im Miniſterrath zu Paris auseinander, daß „Frankreich kein Interesse habe, sich um polnische Angelegenheiten zu bekümmern, selbst wenn es zu einer Theilung Polens käme." Die vorzüglichsten deutschen, holländischen und französischen Schriftsteller und Schriften der damaligen Zeit verleumdeten Polen für Geld. Voltaire bekam dafür außer andern Geschenken einmal 50,000 Livres, ein andermal 4000 Dukaten. Dem ungeachtet haben die Polen auch nach dem Verluste ihrer Unabhängigkeit beinahe an allen Kämpfen der civiliſirten Völker für die Freiheit, Unabhängigkeit und den Fortschritt einen nicht unbedeutenden Antheil genommen. Unter Kosciuszko und Pulawski haben ſie die Unabhängigkeit der Nordamerikaner mit erkämpfen helfen . Sie haben in allen Schlachten der franzöſiſchen Republik mitgefochten, ſowie die modernen Ideen und Grundsäge durch ganz Europa verbreitet. Die Namen der Generale Dombrowski und Poniatowski sind auf ewig mit dem Napoleons verknüpft. Sie haben in allen Freiheitskämpfen der Italiener und Ungarn mitgefochten. Sie haben durch das Ergreifen der Waffen zur Wiederherstellung Polens mit Hülfe und auf die Aufforderung der Deutschen im Jahre 1848 Rußland von der Intervention in Deutschland abgehalten, für die Errungenschaften der Deutschen in Wien , Dresden und Baden gekämpft. Sie haben die Verbündeten im lezten orientalischen Kriege gegen die Uebergriffe der Russen erfolgreich unterſtüßt und hätten den leßtern auf immer Schranken gesezt, wenn die Alliirten sich hätten entschließen und einigen können, ihnen in ihr Land zu folgen, die Ruſſen vom schwarzen Meere und der Ostsee gänzlich zu verdrängen und Polen wiederherzustellen . Rußland sah und fühlte, daß wenn es sich wollte auf alle Fälle sicher stellen und weitere Fortschritte in der Eroberung Europas machen, es vor Allem die Polen entweder für sich gewinnen oder vollständig vernichten müßte. Ein paar Jahre hindurch hat es alle möglichen

27 Versuche gemacht , um die Polen durch Scheinreformen und Scheinconceſſionen für sich und seine Eroberungspolitik zu gewinnen. Aber indem es die polnische Nationalität und die katholische Religion scheinbar in einer Provinz begünstigte und bevorzugte, verfolgte und unterdrückte es dieſelben in den andern ; indem es freisinnige Rechte und Einrichtungen verkündete, verfuhr es auf die willkürlichste und empörendſte Weise. Es blieb auf dem halben Wege stehen und wandte halbe Mittel an ; und da es zuleßt einſah, daß das polnische Volk sich nicht, ähnlich wie die öffentliche Meinung Europas, irreführen und mißbrauchen Lasse so beschloß es dasselbe zum Kampfe zu provoziren , um es auf einmal völlig auszurotten . Nur zögernd und auf das Aeußerste gebracht , haben die Polen die Herausforderung angenommen. Ungerufen und zur Unzeit hat sich Europa , durch die Kniffe Englands dazu verlockt , in diesen Kampf gemischt , durch ihre Interventionsdrohungen den Polen ihre einzigen thätigen Alliirten, die revolutionäre ruſſiſche Partei , entfremdet , den Kampf erbittert und verlängert aber, obgleich mit Ausnahme der preußischen Regierung und der Parlamente und fast die ganze Kampfe Polens gegen Rußland entgegen getreten waren - so

Kreuzzeitung , alle Regierungen und Preſſe Europas ihre Ehre in dem eingeseßt und dem lezteren drohend hat ihnen allen Rußland Troß ge=

boten, sie durch seinen Uebermuth herausgefordert und sich über sie in ihren amtlichen Antworten lustig gemacht - und sie alle zusammen haben nicht vermocht , sich zur That aufzuraffen , zu vereinigen und offenbar die leßte Gelegenheit , welche der Kampf der Polen und Tscherkessen ihnen darbot , zu benußen , um Rußland auf immerdar unschädlich zu machen. Ein Staat nach dem andern , — England, welches seinen Zweck, Frankreich mit Rußland und die Polen mit den Russen entzweit zu haben , erreicht hatte , voran - trat von der Intervention ab. Und wie zulegt nur noch Frankreich , Schweden, Norwegen , Dänemark, Italien mit dem Papste und die Türkei auf --dem Plage blieben da hielten sie es für selbstverständlich , daß sie allein einen so ungleichen Kampf gegen Rußland nicht unternehmen dürfen. Uneingedenk der beleidigenden Herausforderungen Rußlands , beeilte sich nun jeder Staat , sich sobald als möglich in das beste Einvernehmen mit Rußland zu sehen. Und wie man die Polen zuvor insgeheim und öffentlich begünstigt, so verfolgte man sie jest aus eben demselben Grunde. Obgleich also die Polen auch nach der Zerstückelung ihres Vaterlandes unzählige Male nicht nur für ihre Freiheit und Unabhängigkeit die Waffen ergriffen und mit Ruhm geführt haben, sondern für J

28 alle civilisirten Völker der alten und neuen Welt , obgleich sie ihr Vaterland ebenso im Intereſſe Europas , als in ihrem eigenen wiederherstellen wollten - haben es doch jedes Mal alle Völker nach der Reihe und auch alle insgesammt und zu gleicher Zeit preisgegeben, und wie Napoleon in Betreff seiner selbst zugesteht , ihrem Eigennuße, ohne Rücksicht auf die Zukunft , geopfert. Die Bourbonen und alle übrigen Dynaſtien im Jahre 1772 , die franzöſiſche Republik in den Jahren 1794 und 1795 , die italieniſche in dem Jahre 1797, das französische Kaiserreich in den Jahren 1807-1811 , die Orleanisten im Jahre 1830 , die französische Republik im Jahre 1848 , und die Deutschen haben sie gar im Jahre 1848 dafür zuſammengehauen , daß sie die Waffen nicht niederlegen wollten , welche sie auf ihre Aufforderung zugleich mit ihnen zur Wiederherstellung Polens gegen Rußland er= griffen hatten - freilich erst nachdem sie in Betreff der Intervention Rußlands in Deutschland beruhigt und sichergestellt waren. Die Ungarn opferten die Polen (und sich dadurch freilich auch) im Jahre 1849, als sie den General Bem und Dembinski, nach Vertreibung der Deſterreicher aus Ungarn , nicht nach Galizien und Polen vordringen laſſen wollten. Die Verbündeten während des orientalischen Krieges . Endlich haben sie alle europäischen Staaten im Jahre 1863 preisgegeben. Außerdem haben die Repräsentanten des deutschen Volkes sowohl im Jahre 1848 als im Jahre 1863 Theile des ehemaligen Polens in den deutschen Bundesstaat einzuverleiben beschlossen , Preußen und Oesterreich aber , obgleich die Polen nicht nur nichts Feindseliges gegen ſie unternommen, sondern auch durch ihre amtlichen Organe auf das ſtrengste verboten haben , irgend etwas Feindseliges zu thun - doch nicht unterlassen , dieselben auf das grausamste auf militairiſchem , adminiſtrativem und gerichtlichem Wege , mit Hintanseßung aller Rückfichten, zu verfolgen. Wenngleich nun die Russen sie noch viel grausamer verfolgten und verfolgen - freilich nach einem lange und erbitterten Kampfe als die Deutschen - grausamer als irgend jemals ein ſiegreicher Feind den besiegten - so ist doch auf einmal die öffentliche Meinung der Polen, wenn nicht gänzlich, so doch überwiegend ebenſo entſchieden zu einem Zusammengehen mit den Ruſſen umgeschlagen , wie sie bis da= hin dem entgegen war. Alle schließen sich jezt der Partei der Weißen, der Politik Wielopolski's an, wenn auch Viele sein persönliches Auftreten , ſein provozirendes Verfahren , welches hauptsächlich die leßten Katastrophen heraufbeschworen , rügen und bedauern . Wie auffallend auch diese Wendung der öffentlichen Meinung auf den ersten Blick erscheinen mag, so konsequent und logisch ist sie doch. Die Polen sagen : „ Wir haben uns nun mehr als hinlänglich überzeugt, daß uns die

29 Russen mehr schaden können , als ganz Europa zu helfen vermag . Wir sind nicht im Stande gewaltigere Anstrengungen zu machen, größere Thaten zu vollbringen , bedeutenderez und uneigennüßigere Opfer für Europas Unabhängigkeit , Sicherheit und Wohlfahrt , für die Freiheit und Entwickelung jedes Volkes im Beſondern zu bringen, als wir das während der ganzen Dauer unserer Geschichte sowohl vor als nach dem Verluste unserer Selbstständigkeit gebracht haben. Für alles dieses haben wir nichts als schwarzen Undank geerntet , wenig schöne, doch immer leere, oft verführerische und verrätherische Worte ; zulezt hat uns jedes Volk , nachdem wir ihm eben die größten und uneigennüßigſten Dienste geleistet haben, seinem Eigennuße geopfert, ausgelacht und verleumdet. Unsere weiteren Bemühungen und Opfer für die Sicherstellung und Wohlfahrt Europas würden keinen Nußen mehr bringen und eine Schwäche, wofür sie meistens immer angesehen waren, nicht eine Dienstleistung von unserer Seite sein. Wenn die Völker troß allem dem , was bis jest geschehen , noch nicht begriffen oder sich zu Herzen genommen haben , wie gefährlich ihnen Rußland und wie nüßlich und unentbehrlich Polen und seine Wiederherstellung ſei , ſo werden sie es auch nicht eher begreifen , bis sie es fühlen , bis sie von Rußland unterjocht sein werden. Andere, bessere Mittel , als die bisher angewendeten , um den Westen zur Beihülfe und die deutschen Großmächte wenigstens zur Neutralität in unserem Kampfe mit Rußland zu bewegen, stehen uns jedenfalls nicht mehr zu Gebote, und wenn die nicht hingereicht haben , helfen keine andern mehr. Wenn ganz Europa einen Kampf mit Rußland scheut, so müſſen wir, so waffenlos wie wir sind , es um so mehr thun , besonders da wir ihn mit zwei andern Großmächten zugleich zu führen, unter keiner Bedingung, vermeiden können . Wir müssen die Uebermacht Rußlands als eine unleugbare Thatsache freimüthig anerkennen und mit ihr als einer solchen abrechnen , unser Verhältniß genau und klar zu ihr feſt= stellen und darnach handeln, um das -kräftig und konsequent zu erstre= ben, was möglich und unentbehrlich ist und die Kräfte nicht zu zer= splittern und auf Unerreichbares zu vergeuden , um nicht anders zu denken und anders zu handeln , sich und die Seinigen zu belügen und zu betrügen , sich in unentwirrbare Widersprüche zu verwickeln und dadurch die Lebenslust und den Lebensmuth zu Allem zu rauben. Um uns und Andern das Schönste, die Freiheit und Unabhängigkeit zu erwerben, dürfen wir nicht das Nothwendigste, unsere Existenz, auf das Spiel sehen , welche jezt bedroht ist , wie sie es noch nie gewesen war. Wenn uns nun Rußland mehr schaden , als Euso frägt es sich, ob uns auch Rußland ropa nußen kann oder vielmehr nicht mehr nußen, als Europa schaden kann -

30 - da wir uns niemals in einen Gegensaß mit ganz Europa seßen wollen und zu sehen brauchen - ob uns nicht Rußland allein mehr und eher als ganz Europa nüßlich werden kann — wenn wir uns demselben innig und aufrichtig anschließen , ohne irgend etwas von unseren Rechten aufzugeben , als die Königswahl. Und so glauben sie denn , daß wenn es sich bei ihnen nicht gleich um das Höchſte, um die vollständige Freiheit , sondern um das Erste , um die Existenz nicht um die Unabhängig = keit, sondern zunächst um die Einheit handeln muß sie dieselbe eher erhalten, wenn sie mit Rußland zusammen gehen , das entschieden entschlossen ist, seine Eroberungen in Europa fortzusehen und dies nicht anders thun kann , als indem es zunächst die ehemals polnischen Landestheile, die es noch nicht besißt, an sich reißt als wenn sie mit einer oder der andern von den übrigen Großmächten wieder einmal gegen Rußland vorzugehen versuchten. Damit glauben sie endlich einmal den Boden der Realpolitik zu betreten. Diese Politik ist ihnen um so bequemer und sicherer , als sie schon ihre Früchte genießen können , wenn sie in einem Kampfe Rußlands gegen irgend einen Staat Europas bloß streng neutral bleiben. Und ihre Neutralität ist von einer ungeheuern Bedeutung für Rußland. Denn ohne Hülfe der Polen ist Rußland schlechterdings nicht beizukommen , wie man das aus der Campagne Napoleon's I. in Rußland und der Verbündeten während des orientalischen Krieges deutlich sehen konnte. Rußland aber findet überall , wo es einfällt , besonders bei der Neutralität Polens , Unterstüßung , sowohl in der Türkei , in Oesterreich, als auch in Preußen. Die Sache gestaltet sich aber noch ganz anders, wenn, durch die Vereinigung des sogenannten Westrußlands mit dem Kongreßkönigreich bewogen , die Polen sich solidarisch mit den Russen verbinden und einen thätigen Antheil am Kriege nehmen. Die beiden vorzüglichsten slavischen Nationen ergänzen sich gegen= ſeitig auf eine ganz merkwürdige Weiſe. Sind die Ruſſen ausdauernd, abgehärtet, systematisch, ſtandhaft, gehorsam und widerstandsfähig gleich den Spartanern des Leonidas und den Römern des Fabius Cunctator -so find die Polen unternehmend, verwegen, überraschend, persönlich tapfer , ritterlich und opfermüthig gleich den Athenern des Miltiades. und Themistokles und den Macedoniern Alexander's des Großen. Es ist fast unglaublich und doch wahr, daß sie die Engpässe von Samoſïëra und die Befestigungen von Smolensk, welche die Napoleonische Garde nicht zu nehmen im Stande war , zu Pferde erstürmt haben,

31 daß und das und

sie unzählige Male Konstantinopel auf den Dnieprkähnen überfallen geplündert, und zu Pferde ohne Kähne in voller Rüstung über Meer auf die dänischen Inseln unter Czarnecki hinübergesezt sind dieselben genommen haben , daß sie einen zehnmal zahlreichern

und wohlbewaffneten Feind mit Sensen , Piken und wenig Flinten aus Krakau im Jahre 1846 , aus Miloslaw und Wreſchen im Jahre 1848 geschlagen haben und 1863 und 1864 beinahe zwei Jahre hindurch fast ganz waffenlos Rußland vollauf beschäftigt hatten.

9. Wenn sich nun die Ruſſen und Polen ſolidariſch verbinden , einen Aufruf an ihre Stamm- und Glaubensgenossen zum gemeinsamen Handeln erlassen, fliegende Kolonnen der russischen Koſaken und polnischen Ulanen mit reitender Artillerie ( gleich den Schaaren Lissowski's während des dreißigjährigen Krieges ) zur Unterstüßung der Slaven und die russische Flotte der griechischen , dänischen , italienischen und französischen zu Hülfe schicken und mit dem Gros ihrer Armeen gegen die Mitte Europas vordringen - so würde die Lage des leßtern unzweifelhaft sehr bedroht sein um so mehr, als alle Russen, welche wir in der lezten Zeit zu sprechen Gelegenheit hatten - und darunter waren nicht nur höhere Militairs und Diplomaten , sondern auch Universitätsprofessoren uns versicherten, daß man in Rußland allgemein entschlossen ist, namentlich seit der Zeit des orientalischen Krieges , im Falle eines Krieges mit Mitteleuropa - Alles bis zur Elbe mit Feuer und Schwert durch die Horden der Baſchkiren , Kalmüken und Kirgisen zu vernichten , was ihnen Widerstand leiſten würde , dagegen alle besiglosen Leute , die sich ihnen bedingungslos ergeben würden , reichlich mit Ländereien im tiefen Rußland zu ver= sehen. Würden nicht die Türkei und die deutschen Großmächte in Gefahr sein , alle ihre Besizungen an die Verbündeten und an das deutsche //Reich" (den Rheinbund) zu verlieren und England, falls es am Kampfe Theil nähme, Irland und die normannischen Inseln an Frankreich, Gibraltar an Spanien, Malta und Gozzo und das Capland an Italien, Ostindien vielleicht an die Russen oder Franzosen und die amerikanischen Besißungen an Nordamerika ? Wenn Nordamerika mit 32 Millionen Einwohnern während des legten Krieges von beiden Seiten auf einmal 2 Millionen Soldaten ins Feld stellen konnte, so könnte demnach Rußland bei entsprechender Militaireinrichtung, Bildung und Wohlhabenheit 4¾ Millionen Soldaten aufstellen. Der Pariser Correspondent der Kölnischen Zeitung vom 10. Febr. d . I. schreibt : „ In vertrauten Gesprächen soll_Na=

32 poleon III. darauf hingewiesen haben, daß bei der Ausdehnung Rußlands tief nach Asien ins chinesische Reich hinein dem Zarenreiche stets eine kriegerische Reiterbevölkerung von 25 Millionen Einwohnern, d. i. fast 10 Millionen streitbaren Männer zu Gebote ständen. Die Geschichte habe gezeigt, daß die kriegerischen Reiterstämme des Ostens, wenn sie in Schwärmen auf den Westen hineingebrochen , jedesmal alle Hindernisse überwältigt hätten, die ihnen eine selbst überlegene Cultur in den Weg gestellt. Aehnliches würde auch noch heute der Fall sein, wenn , einem verheerenden Heuschreckenschwarme gleich, Rußland seine Reiterhorden über Europa losließe ; ihnen gegenüber würden sich gezogene Kanonen und Miniégewehre und alle die neueren Errungenschaften der europäischen Kriegskunst unzureichend erweisen.“ Wir wiederholen : man wird die Gefahr nicht abwenden, sondern vergrößern , wenn man sie leugnen oder nach Art des Straußes wird beschwören wollen. Man muß ihr muthig und ruhig , aber auch unbefangen und scharf ins Antlig ſchauen, um ihr mit Aussicht auf Erfolg begegnen zu können. Nach der Berechnung des Verfaſſers der militairischen Briefe aus Norddeutschland in der Kölnischen Zeitung vom December 1865 beträgt gegenwärtig die Stärke der russischen Infanterie 818,000 Mann, die Artillerie 50,000 Mann mit 1290 Feldgeschüßen , die regelmäßige Kavalerie 50,000 Mann, die unregelmäßige Kavalerie 200,000 Mann mit 176 leichten Feldgeschüßen und dazu die ent= sprechende Anzahl Pioniere, das Geniekorps und 24 Bataillone unregelmäßige Infanterie. Summirt man nun alle diese Zahlen zusammen, so ergiebt sich, daß der Kriegsetat der ruſſiſchen Armee , nach ihrer legten Organisation , bei weitem über eine Million Truppen " Für einen Staat mit nahe an aller Waffengattungen beträgt. 80 Millionen Einwohnern ", sagt jener Militairschriftsteller, ist dieses Verhältniß auch gar kein großes . Wenn wir . nun auch die Ueberzeugung hegen, daß der Kaiser Alexander weder Geld, noch Offiziere, Aerzte und Militairbeamte genug besißt , um eine solche große Armee mobil machen zu können , so glauben wir doch, daß mit den Fortschritten der innern Reformen sich auch die Offenſivkraft des russischen Reiches von Jahr zu Jahr noch immer bedeutend verstärken wird ... durchschneiden erst zweckmäßige strategische Eisenbahnen die weiten Flächen des russischen Reiches ― und man baut jezt mit Eifer daran , ist der jezt noch herrschende unangenehme Uebergang , den die Aufhebung der Leibeigenschaft , dieses Ereigniß von der unermeßlichsten Bedeutung , augenblicklich erzeugt , überwunden , die neue Militairorganiſation vollſtändig in das Fleiſch und Blut des Heeres eingedrungen , dann vermag ein kühner und ehrgeiziger Kaiser von

33 Rußland auch für einen Offenſivkrieg über eine Heeresmacht zu ges bieten, der selbst Frankreich, augenblicklich noch weitaus der stärkſte Offensivstaat in Europa, nicht gewachsen ist. Unsere jezige Generation wird es wahrscheinlich nicht mehr erleben ( ? ) , daß das in Rußland concentrirte Slaventhum das Germanenthum mit einem Kriege bedroht; aber kommen wird und muß nach geschichtlicher Nothwendigkeit auch dereinst für uns in Deutſchland diese blutige Zeit, und wehe uns und unſerer Kultur und Bildung , wenn wir dann nicht vollständig auf diesen Riesenkampf gerüstet sind ! Mit unserer unglücklichen Bundesmilitairverfaſſung, unseren kleinlichen, in sich uneinigen Kontingenten, oder gar mit Freiſchärlern , Bürgerwehren , Volksversammlungen und geschwäßigen Kammerreden vermögen wir dieſer ſtarken , einigen , in ſich concentrirten Kraft des ruſſiſchen Kolosses wahrlich nicht zu widerstehen und nur allein die preußische Armee , verstärkt durch ein unbedingtes Aufgehen aller kleinen und mittlern deutschen Kontingente, wird einen ebenbürtigen Gegner Rußlands zu bilden im Stande ſein ; alles Uebrige, was wir sonst ihm entgegenzusehen vermögen , ist leerer Schein und werthloser Tand." Wenn aber voraussichtlich weder Desterreich, Frankreich noch Rußland dieses Aufgehen der kleinen und mittlern deutschen Staaten in Preußen ohne entsprechende Recompensation gestatten und diese Gefahr eines Offenſivkrieges der mit Slaven und Romanen verbundenen -Ruſſen an Deutschland unmittelbar herantritt - was dann ? — Das Nächste wäre wohl , die Verbündeten zu entzweien und sie Rußland abwendig zu machen. Aber wodurch ? — durch glänzendere Versprechungen und Aussichten auf größere, vortheilhaftere Erwerbungen ? Aber was könnte für Frankreich vortheilhafter sein , als Belgien und die Rheinstaaten, Nordafrika und die Nilländer, Irland und die Normannischen Inseln, Hinterindien und Australien ? Was für Dänemark lockender als Schleswig und Holstein ? Was für Italien erwünschter , als Venetien, Tyrol , Malta und das Capland ? Was für Griechenland ersehnter, als Albanien oder Epirus , Theſſalien, Candia und die übrigen griechischen Inseln ? Es ist absolut unmöglich ihnen größere Vortheile zu bieten.

Aber die Slaven wird es doch nicht schwer sein zu entzweien und den Ruſſen abwendig zu machen? Auch die nicht, solange die Russen und Polen einig bleiben ; solange diese beiden Brüdervölker zusammengehen, folgen ihnen die übrigen Slaven blindlings und lassen sich durch Nichts davon abhalten. Denn sie wissen und wiederholen es fortwährend , daß ,,nur die Uneinigkeit, nur die sorgfältig unter ihnen gesäete und unterhaltene 3 Europa.

34 Zwietracht der Grund davon ist, daß von den zahlreichen Slavenvölkern, welche von der Mündung der Elbe bis zu den Quellen der Oder und von den Quellen der Saale bis zu der Mündung der Memel wohnten, Nichts gar Nichts weiter geblieben iſt, als die zahllosen Wendengräber. Wären sie einig geblieben , hätten sie sich alle dem mächtigsten Staate unter ihnen, Polen, innig angeschlossen, ohne Rücksicht auf Sympathie und Antipathie, auf Religion und Regierungsform desselben, hätten sie sich solidarisch mit demselben auf immerdar verbunden und es vor Allem gescheut, Verbindungen mit Fremdlingen gegen ihre Stammgenossen einzugehen - hätten sie mit einem Worte ihren Partikularismus, ihre schrankenlose Freiheit und Unabhängigkeit nicht höher, als ihre Eristenz geachtet - sie würden alle, bis zu die= sem Tage , wie die Lithauer und Kaſſuben , mit allen ihren Eigenthümlichkeiten noch fortbestehen und mit Polen einen mächtigen Staat bilden. Deswegen haben auch wir uns stets an Polen gehalten, von ihm oft Hülfe und unsere Regenten erbeten , ihm auch vielfach unsere Unterſtüßung sogar unaufgefordert zukommen lassen. Ja, wenn Polen die Interessen des Landes und Stammes höher geachtet hätte, als die Rücksichten auf den Papst und den Kaiser, wenn es Böhmen und Ungarn, die sich mit ihm öfter, ähnlich wie Lithauen, vereinigen wollten, nicht zurückgewi.sen hätte es würde heute noch im Besiße von Preußen, Pommern , der Laufiß, Schlesien, Böhmen und Ungarn s.in und Rußland, Preußen und Oesterreich, die es getheilt haben, würden wahrscheinlich gar nicht existirt haben ; wir und die Polen würden bis heute noch frei und unabhängig sein. Etatt dessen sind wir Weft= und Südſlaven alle aus Mangel an Einheits- und Solidaritätsgefühl an den Rand des Verderbens gebracht und in unserer Existenz bedroht. Daher wollen wir fortan der Einheit und Solidarität der Slaven jede andere Rücksicht hintanseßen . Hätten wir uns ähnlich, wie die Polen , im Jahre 1848 durch die Phrasen der Wiener und Magyaren von Freiheit und Unabhängigkeit, von Haß gegen Desterreich hinreißen lassen und hätten uns der Losreißung Ungarns von Oesterreich nicht mit Wert und That widersett --- so würde Desterreich, und wir mit ihm, zwischen Ungarn und cinem deutschen Bundesstaat getheilt worden sein und wir würden alsdann nicht Kraft genug gehabt haben , um dem konzentrirten Drucke, einerseits der Germanijirung , anor rseis der Magyarijirung, widerstehen zu können . Ungarn , von der See gänzlich abgeſchnitten, würde ich auch einem einheitlichen Kais.rreich deutscher Nation von 65 Millionen Einwohnern geg niber nicht haben halten können . Wenn wir alio der Solidarität der Stammgcnoffenj haft im Jahre 1848

35 nicht jede andere Rücksicht geopfert hätten, würden wir österreichischen Slaven bis zu diesem Augenblick wahrscheinlich gar nicht mehr exiſtiren, die Polen der in Deutschland einverleibten Provinzen Preußen und Posen wohl ebenso wenig und ein preußisch-deutscher Militärstaat von 77 Millionen Einwohnern würde oder könnte wenigstens jezt schon in Verbindung mit Schweden Finnland, die russischen Ostseeprovinzen und das gegenwärtige Königreich Polen beseßen , um sie auch in kurzer Zeit völlig zu germanisiren. Rußland , der Hülfe der bedeutungslos gewordenen österreichischen Slaven baar , würde auch mit den Polen auf das Innigste vereint alsdann kaum Kräfte genug haben , um sich einem so gewaltigen , in sich konzentrirten, reichen und intelligenten Reiche widerſeßen zu können . Dieß würden ungefähr bis dahin die Folgen der Verbindung der Polen mit fremden Stämmen der Magyaren und Deutschen gegen die Slaven sein, wenn dieſe leßteren nicht solidariſch und energiſch dagegen aufgetreten wären. Wenn nunmehr auch die Polen dieſe Solidarität der Slaven zu theilen sich geneigt zeigen , sie wenigstens nicht ver= lezen wollen, so wird uns um so weniger irgend Etwas von derselben abzubringen im Stande sein - denn nun sehen wir seit Jahrhunderten zum ersten Male den Augenblick gekommen , wo wir eine der wichtigsten gemeinsamen Angelegenheiten erledigen können. Die Gewinnung der Gestade nicht nur innerer , sondern auch offener Meere ist für alle Slaven eine Lebensfrage, die kein einziges von diesen Völkern allein , auch Rußland allein, zu lösen nicht im Stande ist und wozu fie andrerseits alle noch der großen phyſi= schen und materiellen Mittel Rußlands unumgänglich nothwendig haben. Der Verlauf der Geschichte beweist es hinlänglich, daß welches Uebergewicht in der Welt einer der Slavenstaaten durch die ausgedehntesten Bisigungen augenblicklich auch erlangen mag , schaft er und die Slaven überhaupt schließlich doch nur eine secundäre Rolle in der Welt zu den wichtigsten Momenten und Interessen stets

ohne diese Errungenund im Allgemeinen spielen vermögen , in bedroht sind und von

Stellung zu Stellung gedrängt, zuleßt schen, daß ihnen alle ihre Le= bensadern unterbunden, Wasser und Luft ihnen entzogen werden können. So ist es den Polen und Weſtſlaven, so den Serben, Jllyriern und Südilaven von Seiten der Deutschen, Italiener und Griechen ergangen, so zum Theil den Russen in Folge des orientalischen Krieges und so würde es zulegt allen Slaven ergehen , wenn sie sich nicht zusammenraffen, sondern wieder trennen und entzweien laſſen.“

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10. Nun wenn es auch nicht gelingt, die österreichischen Slaven von der Solidarität mit ihren Stammgenossen abzuziehen, so wird man es nicht an den eindringlichſten Vorstellungen fehlen lassen , um die Polen für sich zu gewinnen und zunächst mit den österreichischen Slaven zu entzweien, indem man ihnen vorstellt , daß diese Slavenwelt in dem Untergange Polens den Triumph und die Anerkennung ihrer Sache fuche“, von einer " sogenannten polnischen Frage " rede (die „Zukunft“ vom Oktober 1865) , und verlange, daß „ die galiziſchen Polen ihre Nationalität auf Galizien beschränken und in diesem Königreich ihr österreichisches Vaterland anerkennen möchten , daß sie gegen einen Panpolonismus und gegen die Wiederherstellung eines sogenannten historischen Polens protestire, welches die Geschichte mit unwiderstehlicher Kraft zertreten habe. " Besonders aber wird man sich bemühen , die Polen gegen ihre Erbfeinde, die Moskowiter zu wenden. Man wird ihnen alles das Unglück ins Gedächtniß zurückrufen , welches die Russen über sie ge= bracht, alle jene Schand- und Gräuelthaten , deren sich diese, ihre angeblichen Brüder, gegen sie schuldig gemacht haben. Man wird sie erinnern an jenen Aufruf Katharina's II. vom 24. Juni 1768 an die wilden Horden der Zaporoger-Kosaken und Haidamaken zum Kampfe gegen die Polen , welche durch die Conföderation von Bar beschlossen hatten, die Ruſſen aus ihrem, damals noch freien und ſelbſtſtändigen, Vaterlande hinauszudrängen, an jenes Edikt, in welchem die " heilige Katharina “ bloß im Intereſſe der von den Polen und Juden verfolgten heiligen Religion , dem Maximilian Zelazniak, Kolonel und Anführer der Zaporoger, mit seinen eigenen Leuten und den ruſſiſchen Truppen und den Kosaken am Don , in Polen einzurücken befahl , um auszurotten und niederzumeßeln mit Hülfe Gottes alle Polen und Juden, Verräther unserer heiligen Religion, jene verruchten Meuchler , jene Treubrüchigen , Verleger der Geseze, jene Polen, die den falschen Glaubeu der ruchlosen Juden beschüßen und ein treues und unschuldiges Volk unterdrücken . . . deren Namen und Andenken ihr für immer vernichten sollt." Wie alsdann die Zaporoger und Haidamaken gleich reißenden Wölfen über Polen herfielen , und angefeuert durch russische Popen Alles niederbrannten und mordeten , zu Tausenden ohne Unterschied des Standes und Alters , Frauen und Kinder , Greise , Mönche und Nonnen, die nicht zur schismatiſchen Kirche gehörten , abschlachteten, daß wer seine Rechtgläubigkeit beweisen wollte, Edelleute und Prieſter umbringen mußte. Wie man Galgen fand , an denen ein Adlicher,

37 ein Mönch, ein Jude und ein Hund neben einander hingen mit der Inschrift : Alles ist gleich. Wie man einige Hundert Menschen bis an den Hals in die Erde grub und ihnen die Köpfe abmähte . . . Wie man besondere Vorschriften gab, auf welche Weise die gefesselten unglücklichen · Schlachtopfer langsam zu erdroffeln , zu erdolchen oder durch andere fürchterliche Todesqualen zu martern wären . Wie in der Stadt Human allein , in der sich von weit und breit aus den Dörfern und Städten Frauen, Kinder und Greise geflüchtet hatten, an 16,000 Menschen gemordet worden seien. Daß die ruſſiſchen Truppen in Polen damals noch wo möglich die Grausamkeiten der Haidamaken überboten. Wie der russische Kolonel Drewiß die Kriegsgefangenen entblößt an die Bäume band und seinen Soldaten Befehl gab, an ihnen, wie an Zielscheiben, ihre Geschicklichkeit im Schießen zu üben. Wie er ganze Haufen von Unglücklichen zuſammenkettete, ihnen die Köpfe mit Senſen abhauen und dieſen Mordscenen zu seiner Belustigung den Anblick von Carusselspielen zu geben wußte. Den Ge = fangenen schaarenweise die Hände abhauen ließ und sie in die Felder trieb, bis sie ausgeblutet zur Erde fielen. Wie er die Kunst erfunden und betrieben, polnische Bauern und Juden lebendig schinden zu lassen, sodaß ihre Haut die polnischen Nationalfarben darstellte. Daß es Niemand anders, als die Russen waren, welche, wie Kain an Abel, an ihren Stammgenossen bei der Theilung Polens sich des Brudermordes schuldig gemacht haben. Daß die russischen Brüder es waren, welche nach der Verwundung und Gefangennahme Kosciuszko's und der Erſtürmung Pragas unter Suwarow 30,000 Einwohner dieſer Vorſtadt Warschaus, ohne Unterschied des Alters und Geschlechts auf das Grausamste niedergemehelt haben. Daß sie es waren , welche Kinder zu Tausenden ihren Müttern entriſſen und zu Janitscharen erziehen oder im Elend umkommen ließen; daß sie die studirende Jugend verfolgt, gefoltert und in Gefängniſſen oder Bergwerken haufenweiſe verſchmachten ließen ; daß sie die Univerſitäten in Polen kaſſirt, alle öffentlichen Bibliotheken, Muſeen und Archive nach Rußland geschafft, die ruſſische Sprache in Amt und Schule eingeführt , alle Aemter mit Ruſſen beseßt, Hunderttausende von Gütern konfiscirt, katholische Klöster kassirt und Kirchen geschlossen , Millionen Katholiken zum Uebertritt zur griechischen Kirche mit Gewalt gezwungen , Millionen Einwohner in die Steppen und Eisfelder Rußlands verbannt, Hunderttausende in die Regimenter gesteckt und in den Kämpfen mit den Bergvölkern aufge= rieben und so das Land durch massenweiſe Deportation und Rekrutirung entvölkert und durch das Raubsystem solcher Proconsuln und Paschas, wie Paschkiewitsch, Murawiew 2c. völlig ruinirt haben.

38 Ihr beruft euch auf die Betheurung des Kaisers an dem frischen Grabe seines ältesten Sohnes und bei der Vereidigung des jezigen Thronfolgers , daß zwar weder er noch seine Nachkommen die Trennung Polens von Rußland je zulaſſen würden und er daher euch nochmals vor Träumereien warne , euch aber den lezten Aufſtand nicht nachtragen werde und versichere , daß er alle ſeine Unterthanen, die Ruſſen, Polen und Deutsche , gleich lieb habe und glücklich sehen und machen wolle. Aber obgleich euch der Kaiser gleich lieb hat , wie die Russen, so zahlen doch nur Polen und Katholiken immer größere Kontributionen- ; werden doch nur katholische Kirchen geschlossen und dem Verfalle überlassen ; wird nur die Taufe katholischer Kinder mit 12 Silberrubel besteuert ; werden nur Polen und katholische Bischöfe und Geistliche ohne Verhör und Urtheil in entlegene Gegenden Rußlands deportirt. Obgleich der Kaiser euch gleich lieb hat, wie die Ruſſen, ſo werden doch alle Katholiken und Polen, die ihrer Religion und Nationalität treu bleiben wollen, aus den Aemtern gejagt und Russen an deren Stelle gesezt wird überall im Reiche ruſſiſch, deutſch, franzöſiſch, ja chinesisch und kalmückisch - nur nicht polnisch -zu drucken, zu schreiben und zu sprechen erlaubt.

Wer von den Polen in Westrußland es

troßdem thut, wird mit immer höhern Geldstrafen belegt. Für das Tragen der Trauer und der Nationaltracht wird nur der Pole bestraft, nicht auch der Russe, Tartar oder Finne. Der Kaiser hat euch gleich lieb , wie alle seine Unterthanen , aber nur den Polen erlaubt man nicht Grundeigenthum in den ehemals polnischen Landestheilen zu erwerben, Anleihen in den Kreditinstituten zu machen, nur die Zahl der polnischen Jugend beschränkt man bei der Aufnahme in die Universitäten und Gymnasien des Kaiserreichs auf den zehnten Theil der Schülerzahl jeder Unterrichtsanstalt.

Macht euch also keine Illusionen . Wer auch in Petersburg auf dem Throne sigt : in den polnischen Landestheilen herrscht mit absoluter Machtvollkommenheit ein Igelström , Paschkiewitsch , Murawiew , Berg oder Kaufmann. Worauf stüßt ihr denn diesen Thatfachen gegenüber eure Hoffnung auf Gleichberechtigung der polnischen Nationalität mit der ruſſiſchen, der katholischen Religion mit der griechischen, worauf euren Glauben , daß man endlich einmal die westLichen Provinzen des Reiches , daß man alle ehemals_polniſchen Landestheile in adminiſtrativer Hinsicht mit dem Königreich Polen zu einem Ganzen vereinigt ? Wie hat man euch denn auf diese einzige Bitte, die ihr auf die loyalste Weise in der Welt, durch die Stände

39 des Königreichs und der verschiedenen Gouvernements von Westrußland an die Stufen des Thrones gerichtet, geantwortet ? Als wenn es sich nicht um eine einfache und unschuldige Administrativmaßregel, ſondern um die Losreißung der ehemals polnischen Landestheile von Rußland gehandelt hätte, antwortete man mit Deportation der Petenten. Und als unmittelbar vor dem Ausbruche des Aufstandes Graf Andreas Zamojski und während desselben der Erzbischof Felinski vom Großfürſten- Statthalter gefragt wurden , wo= mit man die Polen beruhigen , zufriedenstellen und versöhnen könne und diese antworteten , daß einzig und allein nur durch die Vereinihat gung der ehemals polnischen Landestheile mit dem Königreiche man auch von diesen nicht den Einen ins Außland verbannt und den Andern im Innern Rußlands internirt ? Man hat also lieber Millionen Familien , den Staat und ſeine Finanzen ruiniren , lieber die Gefahren einer Revolution in Polen und Rußland, eines allgemeinen Krieges mit Europa heraufbeschwören wollen, als eine einfache Administrativmaßregel treffen, welche eine der schreiendsten Gewaltthaten der Welt einigermaßen wieder gut machen, die davon betroffene Nation versöhnen , vieler Millionen Herzen ge= winnen, sich auf immer verbindlich machen und das Reich dadurch von ungeheuren Unkosten, Schwierigkeiten, Schäden und Gefahren befreien würde - ohne seinerseits die geringsten Unbequemlichkeiten, Nachtheile oder Gefahren zu verursachen. Also nicht eine Versöhnung , Verſtändigung und Einigung will man mit euch — sondern aus Neid, Haß und Stolz eines beunruhigten Gewissens - eure Vernichtung und Ausrottung ebenso wie der Raubmörder sich nicht mit dem Gute seines Opfers begnügt , sondern ihm auch zugleich mit dem Eigenthum das Leben nimmt , damit es nicht sein Gewiſſen beunruhigen, gegen ihn vor der Welt zeugen und die Hülfe und Gerechtigkeit anrufen könne. Wie den neidischen Kain nur des Bruders Blut und Tod , so kann auch die herrschſüchtigen und unduldsamen Russen nur die gänzliche Vertilgung und Ausrottung des polnischen Brudervolkes befriedigen aber kein treues Bündniß, keine innige Freundschaft und aufrichtige Bruderliebe. Macht euch keine Illusionen ! Eure Treue und euer Gehorsam gegen das Herrscherhaus und die Landesgeseße genügen nicht. Das Beispiel des Grafen Zamojski, des Erzbischofs Felinski und des Markgrafen Wielopolski mögen euch als warnendes Beispiel dienen ! Um gelitten zu werden , müßt ihr alle eure Sitten und Gebräuche, alle Denkmäler und Traditionen , eure Sprache und Nationalität, jede Selbstständigkeit und Eigenthümlichkeit aufgeben . Das sagte bei ſei= ner Rundreise im Sommer des Jahres 1865 gerade heraus General

40 Kaufmann, der General- Gouverneur von Lithauen, den auf sein Geheiß versammelten Edelleuten des Kreises Grodno. " Seit den leßten Ereignissen habt ihr noch durch Nichts bewiesen, daß ihr aufrichtige Unterthanen Rußlands seid. Erst wenn ihr aufrichtige Ruſſen ſeid, könnt ihr hoffen, daß euch diejenigen Wohlthaten werden, welche für andere Theile des Landes bereitet sind - widrigenfalls werdet ihr hier als Fremde behandelt, denn dieses Land ist nie polnisch, sondern immer russisch gewesen , wie dies historische Dokumente beweisen. Die Treue besteht nicht darin , daß man sie zu Papier ausdrückt, oder zahlt, was befohlen wird. Noch immer tragt ihr euch mit verschiedenen Hintergedanken im Kopfe herum. Ihr bemüht euch immer noch eure Söhne in polnische Schulen zu schicken, laßt auch Gouvernanten vom Auslande kommen , wollt auswärtige Wirthschaftsbeamte haben , ſprecht polnisch mit Frau und Kindern ... Solche Gesinnungen geſtatten es ― er wird nicht der Regierung den Belagerungszustand aufzuheben 20 Jahre und länger , wenn nöthig , dauern. Ich werde bald in Petersburg sein und dem Kaiser vorstellen , daß aus Rücksicht auf das Wohl des Landes der Kriegszustand noch nicht aufgehoben werden kann . Lebt wohl."

Glaubt nicht, daß es bloß die russischen Beamten sind, die so sprechen und handeln. Noch viel schlimmer ist die so genannte freie Presse in Rußland. Gleich die erste Nummer der Moskauer Nachrichten ( Moskowskija Wiedomosti ) vom Jahre 1865 schreibt : „ Die polnische Frage hat zwei Seiten : die nationale und religiöse. Als eine politisch - nationale Frage ist sie bloß eine innere Frage Rußlands ; denn Polen als Staat kann nicht politiſch neben Rußland und dessen Nationalität bestehen. Hier ist ein Vergleich unmöglich; ſogar jeder Schein einer solchen Existenz würde schon die Quelle neuer Kämpfe und Unglücksfälle für Rußland werden. Die Pflicht des Gewissens und das Wohlwollen für Leute von polnischer Abstammung verbietet uns durchaus irgend eine Aussicht auf eine politische Existenz der polnischen Nationalität zu machen, die keine Zukunft hat. Ganz anders verhält sich die Sache mit der religiösen Seite der polnischen Frage. Die polnische Nationalität muß sich mit der russischen aſſimiliren ; ´widrigenfalls würde es keine Ruhe im Innern Rußlands geben , sogar dessen Existenz würde nicht möglich und dauerhaft sein. Aber der römisch - katholische Glaube kann sehr gut neben dem römisch- orthodoxen blühen und bestehen , wenn er nur mit der polnischen Nationalität bricht. Auf der Trennung der Interessen der Religion und Nationalität in Polen beruht unsere Aufgabe und alle Bedüfnisse unserer Nationalpolitik."

41 Es möchte darnach mancher fromme Katholik, besonders einer oder der andere in der Fremde erzogene Priester unter den Polen vielleicht zu denken versucht sein , daß man , wenn nicht überall , so doch in manchen Fällen und Orten , die Sprache, die Nationalität aufgeben könnte, um den heiligen Glauben , um das Seelenheil zu retten. Nein , nein ! Macht euch keine Illusionen : ihr müßt Alles, auch euren Glauben aufgeben und gegen die ruſſiſche Staatsreligion eintauschen , wenn ihr der Ehre und der Vortheile eines russischen Staatsbürgers theilhaftig und nicht als Verdächtige oder Rebellen behandelt werden wollt.

Hört, was der Tag" (Den), ein anderes Organ der öffentlichen Meinung am Ende des Jahres 1865 sagt : „ Es haben unsere patriotischen Zeitschriften der lezten Zeit mit Begeisterung ein Mittel be= grüßt, welches die Adminiſtration des nordwestlichen und des südwestlichen Rußlands angewandt, namentlich die Einführung der Lehre des römisch-katholischen Glaubens in den öffentlichen Unterrichtsanstalten in der russischen , statt der bisherigen polnischen , Sprache und zwar in der Absicht , damit bei der dortigen Bevölkerung der Begriff des Katholicismus nicht zuſammenfließe mit dem Begriffe der polniſchen Nationalität und damit die katholischen Einwohner Katholiken bleiben können, ohne zugleich Polen zu bleiben. Dies Mittel ist scheinbar voller Weisheit und von einer die Zukunft voraussehenden Vorsorge für das Wohl des Landes diktirt ; unserer Ansicht nach iſt es jedoch nicht nur im Principe falsch , sondern es führt auch nicht zum Ziele. Es versteht sich von selbst , daß wenn man bis jezt in den von der Regierung unterhaltenen Unterrichtsanstalten die Lehre des römischkatholischen Glaubens in polnischer Sprache auf Kosten des Staatsschaßes vorgetragen hat - es ganz gerecht ist , anstatt der polnischen, die russische Sprache einzuführen .

Aber wir glauben, daß der ruſſiſche

Staat durchaus kein Interesse und keine Pflicht hat , für die Lehre von dem Papismus auf Staatskosten zu sorgen, ohne Rücksicht darauf, ob die Lehre in russischer, polnischer oder lateinischer Sprache vorgetragen wird. Man mag dieſen Lug und Trug lehren , wie man will und am besten kann. Wir dürfen das wohl erschweren , aber nicht fördern. Wir sehen daher kein Bedürfniß, dem römisch- katholischen Lügengewebe den polnischen Charakter zu benehmen. Wer diesen Charakter nicht tragen will, der mag, indem er dem Polonismus abſagt, auch dem Latinismus entsagen und nicht etwa zu glauben verfucht ſein, daß wenn er Rom für ſein geistiges Vaterland anſieht , er auch Rußland für sein Vaterland ansehen darf. Denn nur derjenige kann mit Recht

ein Russe sich nennen , welcher mit der russischen

42 Nationalität, nicht nur phyſiologiſch, ſondern auch geistig verbunden ist. Das russische Leben hat sich derartig gestaltet, daß die Staatskirche das kräftigste Mittel der Ruſſifizirung ist. Nach dem legten Aufstande war ein Augenblick, der zum Theil noch fortdauert , wo eine eifrige Propaganda der Staatskirche, durchaus nicht im Interesse der Wahrheit (!) unternommen, einen bedeutenden Theil der westrussischen Bevölkerung aus den Neßen des Latinismus befreien konnte. statt diesen Augenblick zu benußen, den Polonismus kompromitirt war, lebhaften und thätigen Propaganda sucht der Staat für die katholischen

Aber an=

wo der Latinismus so sehr durch anstatt den breitesten Weg zu einer des Staatsglaubens zu eröffnen, Einwohner von Westrußland aller-

hand Mittel und Wege auf, wie er den Latinismus durch einen Compromiß mit der Idee der ruſſiſchen Nationalität vereinigen und ver= söhnen kann, d . h. er trennt diese Idee von der Idee der Staatskirche und macht sie zu einem gleichgültigen Gefäß, das jeden Inhalt in ſich aufnehmen könne. Die Staatsreligion ist aber, wie wir gesagt haben, die hauptsächlichste geistig-organische Kraft der ruſſiſchen Nationalität (!) , hinter welcher dieſe leztere sehr wenige Attractionseigenschaften beſißt (!), welche andere Nationalitäten zu assimiliren im Stande wären ; so hat sie z . B. nicht den Reiz einer höhern Kultur , durch welche so stark das deutsche Element auf das polnische im Großherzogthum Posen einwirkt. Wir hatten Gelegenheit ein Lehrbuch der römisch-katholischen Religion in russischer Sprache uns anzusehen , welches für die Lehranstalten von Westrußland ausgearbeitet war. Die Lehre vom Papste ist dort auf eine ganz farblose Weise vorgetragen und alle charakteriſtiſchen Unterschiede des katholischen vom orthodoren Glauben sind auf eine merkwürdige Weise vermischt. Diese ganze Arbeit ist jeder Aufrichtig= keit bar, daß es unmöglich ist anzunehmen, es werde irgend ein Geiſt= licher den katholischen Katechismus nach diesem russischen Handbuche anders , als nur der Form wegen vortragen. Es unterliegt keinem Zweifel, daß er in der geheimen Ohrenbeichte, im Verkehr mit seinen Schülern diesen Lug und Trug (!) ersehen wird. Es wird uns vielleicht Jemand einwenden , daß wenn wir annehmen, die ruſſiſche Nationalität wäre ohne die Staatsreligion unmöglich und es könnte nur der ein Russe genannt werden, welcher zu einer Kirche mit dem russischen Volke gehöre ob es nicht eine Ungerechtigkeit gegen die andersgläubigen Unterthanen Rußlands wäre, die ihm so oft Beweise ihrer Ergebenheit gegeben hätten ? Db wir sie deswegen von der Brüderſchaft ausschließen sollen, weil sie nicht eines Glaubens mit uns sind ? Wir denken auch gar nicht daran, sie von unſerer bürgerlichen Geſellſchaft, in wie weit dieſes bei dem Mangel

43 einer religiösen Gemeinschaft möglich , auszuschließen ..... doch allem Scheine des Fortschrittes ungeachtet , wenn wir von Jemanden sagen, daß er der Unsrige, daß er ein Ruſſe ſei, so wollen wir damit sagen, daß er rechtgläubig ist. Mit einem besondern Stolze pflegen auf dieſe Eigenschaft ihres Ruſſenthums unsere Ruſſen mit deutſchen Namen zu weisen, unsere von Wiesen , von Meydem, Rosen , Riegelmann 2c. 2c. Und wahrlich , es giebt keinen Bauer , der sie nicht für vollständige Ruſſen anerkennen würde, wenn er sich überzeugt hat, daß sie rechtgläubig sind , wenngleich ihre Namen auch nicht heimathlich klingen. Aber es ist nicht der Unsrige, wird der Bauer von jedem Galizyn, Gagarin, Martynow, Szuwałow 2c. sagen, weil sie sich von der religiösen Gemeinschaft mit ihm getrennt haben. In wie hohem Grade das Bekenntniß nicht nur ein ſubjektives, persönliches, sondern auch ein sociales Element im Leben des russischen Volkes bildet , können wir am besten daraus ersehen , daß die Verbindung der Nationalität mit dem Bekenntniß einen ungeheuern Einfluß , auch abgesehen von dem Grade des persönlichen Glaubens , ausübt. Mancher Gläubige mag in seinem Innern nicht ganz orthodox sein, aber das ist schon Sache seines Gewissens, das zu untersuchen Niemand das Recht hat. Aber äußerlich ist zwischen ihm und dem Volke kein Unterschied , steht er mit ihm unter einer Fahne , bekennt er mit ihm öffentlich und amtlich ( einen Glauben.“ Alfo nach einem ächt russischen Begriffe von Gewiſſensfreiheit, - könnt ihr glauben, was ihr wollt , wenn ihr nur äußerlich das bekennt und verrichtet, was euch die Staatskirche zu thun und zu glauben befiehlt. Widrigenfalls werdet ihr nicht für ruſſiſche Vollbürger gelten. Laßt euch nicht täuschen ! Aller liberaler Phraſen ungeachtet, haben die Russen noch keinen Begriff und kein Vorgefühl von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und den Menschenrechten überhaupt. Persönliche Ueberzeugung, Glaube, Wahrheitsliebe und Wahrheitstreue, Offenheit, Selbstgefühl, Nationalität, persönliche Würde - sind für sie Dinge, welche man, wie die Uniform um der äußern Symmetrie wegen , je nach Befehl oder Umständen aus- und anziehen kann und muß , und in der äußern schablonenartigen Gleichheit der Formen, Zustände und Einrichtungen bei allen Einwohnern ihres Reiches sehen sie die Vorzüge derselben. Wie vor Kurzem der Kaiser Nikolaus nicht in der Intelligenz und Selbſtthätigkeit, nicht im Selbstgefühl und persönlichen Muth - sondern in der möglichst genauen Gleichheit der Größe, Kleidung, Farbe, Frisur und automatenmäßigen Bewegung den Vorzug und die Bedeutung seiner Truppen sah und suchte - ebenso suchen die heutigen Staatsmänner und Publiciſten Rußlands den Werth und die Kraft der Nation nicht in der innern Aufklärung, Einsicht, Ueberzeugung,

44 nicht in dem innern Gefühle, der gegenseitigen Achtung und Liebe der Einwohner, sondern in dem, was sie, nach erzwungener Verläugnung ' ihrer innigsten Gesinnung , äußerlich thun und laſſen.

Solange ihr irgend eine persönliche , nationale oder confeſſionelle Eigenthümlichkeit und Selbstständigkeit behalten wollt — solange giebt es für euch in Rußland kein Heil, keine Ruhe, kein Erbarmen , keine Hoffnung! Euer aufrichtigstes Wohlwollen , die größten Opfer von einer Seite für das Wohl des polnischen und russischen Volkes und für die Gleichberechtigung aller Stände, Bekenntniſſe und Nationalitäten unter denselben, wie ihr sie durch Wort und That im leßten Aufſtande und während der ihm vorhergehenden Bewegung vor aller Welt Augen bewiesen wird man nicht anerkennen, sondern verläugnen und ver= leumden, euch nicht zum Verdienst, sondern zum Verbrechen anrechnen. Selbst wenn ihr eure historischen Rechte auf Lithauen und Reuſſen und die Sonderſtellung des gegenwärtigen Königreichs Polen aufgeben und euch gänzlich und aufrichtig ohne jegliche Hintergedanken den gemeinsamen und höhern Interessen der Völker des russischen Imperiums widmen wolltet , mit dem Troste oder Wahne , als Erſaß für die Selbstständigkeit und Unabhängigkeit eures Vaterlandes , einen größern Einfluß und ausgebreiteteren Wirkungskreis zu finden durch eure ältere Kultur , höhere Intelligenz , Gesittung und Entwickelung der persönlichen Selbstständigkeit , Individualität und Charakterfestig= feit auch das ist vergeblich ! Man begreift in Rußland keine andern Dienste , als Sklavendienste, kein anderes Verhältniß unter den Menschen , als das einer absoluten Herrschaft und eines unbedingten Gehorsams , keine höhere Tendenz als die Gewinnsucht, kein höheres Gut als das materielle. Der Moskowite ist kein Europäer, sondern ein europäiſirter Aſiate, kein Slave, sondern ein slavisirter Mongole, kein selbstständiger Bürger eines seit Alters her freien und civilisirten Staates, sondern ein Freigelassener einer dahomeischen Despotie. Er hat also keinen Begriff von Recht und Eigenthum, von edleren Gefühlen und Tendenzen, von uneigennüßigen Opfern und Diensten , von objektiver Wahrheit und wird sie auch bei Niemandem vorausſeßen und reiner Idee oder anerkennen , sondern Jedem solche Motive seiner Handlungsweise unterschieben, von welchen er selber in entsprechender Lage sich leiten läßt.

Unter den polnischen Schriften haben sich zwei gefunden , welche die aufrichtige Einigung der Polen mit den Ruſſen im gemeinsamen

45 Interesse anempfahlen, und die eine von ihnen rieth den Polen zu dem Zwecke die Frage wegen Lithauen und Reußen ruhen zu laſſen und die andere, daß man sogar die von Lithauen , Reußen und den übrigen Landen Rußlands gesonderte Stellung des Königreichs Polen aufgebe, um sich desto ungehinderter der Kultivirung und Hebung des russischen Reiches hingeben zu können. Was antwortet darauf der „ Russische Invalide“ , eines von jenen amtlichen Blättern Rußlands, welche bei der Rekrutenaushebung oder vielmehr Proscription in Polen in der Mitte Januars des Jahres 1863 meldeten, daß die Polen mit Stolz und Freuden zum russischen Militärdienst gingen und sich freuten das Land der Demonstrationen und Unordnungen zu verlassen , und als zum Theil mit aus Verzweiflung und Empörung über diese Verleumdung ein paar Tage darauf der polnische Aufstand ausbrach , wieder behaupteten , daß die Polen eine Bartholomäusnacht gegen die Andersgläubigen in ihrem Lande vorbereitet und ins Werk gesezt hätten , jenes Blatt , welches die Feuersbrünste in Rußland und Polen einer ſyſtematiſchen und organisirten Brandlegung der Polen zuschrieb, jenes Blatt, welches beinahe ebenso viele Unwahrheiten und Verleumdungen sich zu Schulden kommen läßt, als es den Namen Polen nennt - dieses Blatt, indem es von der Insinuation ausgeht , daß nur der polnische Adel und die Emigranten national gesinnt und alle Polen, welche nicht unter russischer Herrschaft sind , zur polnischen Emigration und Propaganda gehören während doch die ganze Bewegung und der leßte Aufſtand in Polen notorisch von der Mittelklasse gegen den Willen des Adels ausging und die Emigration jeder Initiative und Leitung der Landesangelegenheiten förmlich entsagte ― schreibt unter Anderm : ,,Vor einigen Monaten theilten wir unsern Lesern mit, daß eines der wenigen Organe der polnischen Propaganda im Auslande zum ersten Male das Wort im Intereſſe der Einigung der polnischen Prätenſionen mit Rußland ergriff. Das « Posener Tagesblatt » (Dziennik Poznański) hat drei Leitartikel dem Empfange einiger Polen durch den Kaiser gewidmet , welche nach Petersburg zum Begräbnisse des Thronfolgers gekommen waren, übernahm die Rolle eines Vermittlers und hat zum ersten Male den Gedanken der Einigung ausgesprochen. Das « Poſener Tagesblatt » ließ Gerechtigkeit widerfahren den liberalen Tendenzen der russischen Regierung und hat den ungeheuren Einfluß der schon vollführten und in Ausführung begriffenen Reformen auf die Geschicke der Civilisation in Rußland, sowie auf die polnische Sache anerkannt. Aber es hegte Zweifel an dem Gelingen des begonnenen Werkes und besonders daran, ob Rußland genug eigene Kräfte dazu habe und rieth die polnische Intelligenz zu Hülfe zu rufen.

Das

46 « Pofener Tagesblatt » fühlte sich nicht durch die Worte point de rêveries beleidigt , denn ihnen folgte sogleich die Versicherung des Monarchen, daß er alle seine Unterthanen, die Polen nicht ausgenommen, gleich lieb habe. Das « Posener Tagesblatt » glaubte auf dieſer Grundlage seine Bedingungen stellen zu müssen. Es ging darauf ein, daß der Gedanke der Vereinigung Lithauens und Reußens wenigstens solange vertagt werden müßte, bis eine neue Generation erzogen werden würde, aber es verlangte, daß dieſer Zeitraum dazu benußt werden müßte, um die Herzen der Polen sowohl im Königreich , als auch in Lithauen und Reußen zu gewinnen , um den Polen und Reußen gleiche Rechte, Religionsfreiheit, Freiheit der Ueberſiedelung von einem Orte zum andern, die freie Wahl der Beschäftigung zu verleihen und den Militärdienst zu verkürzen 2c. Wir wissen nicht, was mehr in dieſen Bedingungen zu bewundern ist, ob die Naivetät der polnischen Emigration (?) , die vor zwei Jahren mit Gift (?) und Dolch ihre Agenten bewaffnet und jezt ihre Capacitäten zur Vollstreckung der liberalen Reformen in Rußland offerirt, die verrätherische und hinterlistige Prätension Lithauen und Reußen mit Polen gleichzustellen, um die Herzen der Polen zu ge= winnen, oder die heuchleriſche Demuth, welche die Stirn vor der Thatsache nur deswegen neigt, weil es und solange es eine Thatsache ist. Das Merkwürdige der Stellung von Bedingungen läßt ſich nur dadurch erklären , daß nur der Stärkere ohne sich etwas zu vergeben, zuerst die Hand zur Einigung bieten und Conceſſionen machen kann. Die polnische Verschwörung ist aber besiegt und schwach , deswegen Wir fragen, was verlangt sie, daß man ihr giebt, was sie begehrt. hatten wir nöthig sie zu besiegen , um hinterher auf alle rungen einzugehen. Die polnische Emigration , welche Flüchtlingen ganz Europa überfluthet hatte, weiß sichtlich was sie will und womit sie die Welt bethören soll. des Auslandes wankt unter den Füßen der polnischen

ihre Fordemit ihren selber nicht, Der Boden Revolution,

deswegen möchte sie auf das alte Terrain ihrer Thätigkeit zurückkehren. Sie verlangt Nichts mehr und Nichts weniger , als daß Rußland in der guten Hoffnung, ihre Herzen zu gewinnen , ihre eigenen Brüder die Reußen (Kleinruſſen) in Westrußland aufgeben möchte, daß die Regierung dem polnischen Adel die Bauern wieder ausliefern (?) und der polnischen Intelligenz die Leitung Rußlands überlaſſen möchte, die nicht nur für Rußland Nichts gethan (? Fürſt Czartoryski , Graf Sierakowski 2c.) , aber auch für Polen (gegen den Willen Rußlands) Nichts auszurichten vermocht und das Volk in Finsterniß und Stla verei erhi.li (hat nicht der polnische Adel durch seine Petitionen nicht nur die Emancipation der Bauern in Polen , sondern auch in Rußland

47 herbeigeführt ?). Dieß Alles ist nur eine schlecht verhüllte Absicht die alte Ordnung der Dinge wieder herzustellen , diesen Hauptzweck der › polnischen Revolution , welche (die Gleichberechtigung aller Stände, Nationalitäten und Bekenntnisse proklamirte , sowie das volle Eigenthumsrecht den Bauern auf die von ihnen besessenen Bauerngrundstücke zuerkannte und sie sogar von der Zahlung der Zinsen an die Edelleute von diesen Grundstücken befreite) in Folge der letzten Reformen in Polen ihrer Kraft und Mittel verlustig geht und auf alle mögliche Art und Weise wenigstens einen Theil ihres frühern Einflusses zu behalten bestrebt ist (durch die gewaltsame Schismatiſirung und Moskwitisirung Reußens , Lithauens , Polens und der Ostseeprovinzen, sowie durch die immer größere Rekrutenaushebung und Belastung der Bauern sorgt die Regierung am meisten für die Revolutio = nisirung selbst der Massen seines Imperiums) . Die polnischen Revolutionäre besorgen nicht nur die Militärmacht, sondern für sie ist auch die Befreiung der Bauern (?) , die Aufhebung der Klöster , die Reformen der Adminiſtration, mit einem Worte Alles, was sie der Quellen ihrer früheren Bedeutung beraubt, sie außerhalb des Kreiſes des Polenthums stellt und ihnen den Boden unter den Füßen entzieht ein Gegenstand der Furcht und Sorge. Um die Wiederherstellung der alten Zustände zu ermöglichen , ist die Emigration bereit , auf Lithauen und Reußen auf solange zu verzichten , bis eine neue Generation heranwächst, welche sie in einem größeren Hasse gegen Rußland erzieht (dafür sorgt die Regierung durch ihre Gewaltmaßregel hinlänglich), als die jeßige war, welche sich eben noch ein Mal von der Schwäche und Tollheit der polnischen Leiter überzeugt hat. Der zum ersten Male von dem « Posener Tagesblatt» angeregte Gedanke der Einigung rief in der polnischen Publiziſtik einen ungeheuren Sturm von Protesten und eine ganze Fluth von Betheuerungen eines unversöhnten Hasses gegen Rußland (?) hervor. Doch hat das « Posener Tagesblatt» nicht umsonst seinen Gedanken ausgespro= chen. Die Captation der Regierung , die Reaktivirung früherer Zustände, die Gewinnung des Einflusses auf die Reichsangelegenheiten und die Möglichkeit dadurch die Absichten der Regierung zu durchkreuzen , wurde der Gegenstand einer ernsten Ueberlegung in dieſen Kreisen der Emigration (?), für die ein unerbittlicher Haß gegen Rußland das Hauptmittel ist , mit dem sie sich in Gunſt bei Europa zu sezen suchen. Wir haben schon unsern Lesern das Programm des «Vaterlandes » (Ojczyzna , eine in Zürich erscheinende polnische Zeitschrift) mitgetheilt, auch schon von der polnischen Broschüre gesprochen, welche neulich unter dem Titel erschien : « Unsere Politik Rußland gegenüber, wie soll die sein ? »

Der Gedanke von der Versöhnung ist

48 darin sehr gründlich und mit großer Offenheit dargelegt ; ſie verlangt schon keine Conceſſionen, ſondern beweist die Nothwendigkeit derselben von Seiten der polnischen Revolution. Das fehlerhafte Verfahren. der Polen , welche mit bewaffneter Hand die Verbindung mit Rußland lösen und die alte polnische Republik wiederherstellen wollen , iſt dort sehr gründlich erörtert und noch nie hat ein Pole seinen Landsleuten solche Worte der Wahrheit mit solcher Entschiedenheit gesagt und sich so wenig von allgemein unter den Polen gültigen Ansichten bestimmen lassen, wie der Verfasser der genannten Broschüre. Indem sie den Mangel einer realen Grundlage der träumerischen Theorien der Polen nachweiſt und denselben gänzlich zu entsagen räth , schlägt die Broschüre eine neue Art der Versöhnung vor .... Es ist noch gar nicht lange her , als die polnische Propaganda in den Organen der Emigration keine Möglichkeit der Versöhnung sah, denn sie verlangte, daß Rußland zuerst die Hand ihr reichen und Concessionen machen sollte. Sie hat endlich das Unpassende eines solchen Verlangens eingeſehen und will nun selber Conceſſionen machen, mit aufrichtigem Herzen, „, ohne geheime Hintergedanken.“ Sie entsagt jezt allen Revolten und Verschwörungen, allen Träumereien von einer politischen Unabhängigkeit, sogar der Selbstständigkeit des jezigen Königreichs Polen. Sie entsagt dem , was sie unwiderruflich verloren hat und dann ist es freilich nicht so schwer und so großmüthig , wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Und solche Opfer müssen noch um so geringer erscheinen , wenn sie gebracht werden, um Vortheile zu erringen. Ist das Ziel dieſer Opfer ein anderes, als nur um Rußland zu hintergehen , um für die Concessionen ausgedehnte Gelegenheit zu gewinnen auf den staatlichen und nationalen Organismus Rußlands schädlich (?) einzuwirken, in denselben Elemente der Auflöſung (?) einzuführen, dem polniſchen Einfluſſe, der polnischen Herrschaft (! ?) und Poloniſirung (! ?) Rußlands Thür und Thor zu öffnen. Diese Hoffnungen sind sehr deutlich skizzirt und auf Beiſpiele geſtüßt. Wir unternehmen es hier nicht , die Fähigkeit des polnischen Elements zur Erreichung dieses Zieles zu prüfen , aber wir sehen doch ganz klar, daß die angebliche Versöhnung „ ohne ge= heime Absichten“ , ſich nicht einmal Mühe giebt , die Absicht zu verheimlichen, den polnischen Einfluß auf ruſſiſche Angelegenheiten zu begründen. Diese Absicht blickt in allen Conceſſionen durch, die man Rußland angeblich zu dessen Vortheil macht. Das Wohl Rußlands dient nur als Maske, als vorgespiegelter Vorhang , hinter welchem auf friedlichem Wege die Unterwerfung (?) der russischen Nationalität, die Vergewaltigung ( ? eher wohl Geltendmachung) der Geseße des rufſiſchen Volkes, die Umgestaltung der ruſſiſchen Regierung und der Ein-

49 richtungen des Reiches zum Ruhm und Nußen der polnischen (und russischen) Nationalität und des polnischen (und ruſſiſchen , heilſamen) Einflusses erzielt werden soll. Das polnische Element will mit dem Culturelement einer andern Nationalität in die Schranken treten. Was für eine Rolle soll in diesem Kampfe das ruſſiſche Element spielen ? Soll es ein passiver Gegenstand des Streites sein ? Es wird hin= und hergerissen, wie ein leb- und kraftloses Wesen , bald von der Hand der einen, bald der andern Intelligenz. Es ist selber an und für sich nichts als nur ein Werkzeug , wenn es dies gestattet. Es ist zugleich lächerlich und schmerzlich zu sehen , zu was für Ungereimtheiten fremde Intelligenzen die Eitelkeit und das Eigenlob führt, die sich bei ihnen herausgebildet haben in Folge der viele Jahrhunderte anhaltenden Paſſivität des russischen Selbstgefühls, das man einzuschläfern stets eifrig bemüht war , welches aber jezt aus dem ihm beigebrachten bewußtlosen Zustand erwacht ist (und diejenigen schlaftrunken und blindlings verfolgt und verdirbt, die es aus demselben erweckt haben) . Schlaf, schlaf ſagen sie ihm ( ??) - wache nicht auf ( ? ), wir einigen uns mit dir, während deines Schlafes (vereint mit dir) beſorgen wir dein (und unser gemeinſames) Wohl, ohne irgend welche geheime Hintergedanken , in der reinſten Absicht . Schlafe, wir überlaſſen dir Kongreßpolen und werden uns dereinſt Rußlands bemächtigen (es wäre lächerlich so etwas träumen zu wollen - denn gesagt ist es nirgends - aber noch lächerlicher ist es , so etwas besorgen zu können). Um unser Wohlwollen darzuthun , verlangen wir gar nicht eine Amneſtie von deiner Regierung ; vielleicht wird ſie uns selber unaussprechlich überraschen , wird den Belagerungszustand aufheben, die Kriegsgerichte und die (geheimen) Untersuchungen schließen (was die Beamten in den ehemals polnischen Landestheilen werden zu verhindern wissen, weil sie sonst bei gefeßlichen Zuständen nicht nach Willkür würden schalten und walten und alle Taschen vollstopfen können) , wird uns unsere deportirten Mitarbeiter zurückberufen und die Freiheit wiedererstatten nach Willkür (heißt beim russischen Amtsblatte der geseßliche Zuſtand nach Aufhebung des Belagerungszustandes und der Ausnahmemaßregel) wieder schalten und walten zu können. Wir haben keine geheimen Absichten (und wenn sie auch Jemand hätte, so würden das unschuldige und unschädliche Träume ſein), wir wollen uns blos versöhnen ... schlafe ( deinen tobsüchtigen Freiheitsrausch, dein delirium tremens , in welchem du gegen Freund und Bruder, gegen dein eigenes Fleisch und Blut wüthest , aus, und wache als ein vernünftiger und gesitteter Mensch wieder auf!) . Ist nicht solcher der Inhalt der Versöhnung „, ohne geheime Absichten ?" Es ist ein altes Lied mit einer neuen Melodie. Ein alter Europa. 4

50 Lug und Trug mit einer neuen Lockspeise. Wann werden endlich alle Versuche zu Ende sein, die man fortwährend macht, um die Welt und Rußland zu hintergehen ? Wohl noch nicht so bald , wenn noch in Rußland selbst der Gedanke der Versöhnung hin und wieder angetroffen wird , wo er ohne jede kritische Erwägung ( ? ) auftritt und wo der falsche ( ! ) Schmerzgeſchrei der niedergeschlagenen polnischen Intrigue ( ? ) Wiederhall findet. Es giebt noch eine Theorie der Versöhnung , welche im Schoße der rrſſiſchen Geſellſchaft entwickelt wird , der Versöhnung im Namen der russischen Humanität und Großmuth ( oder vielmehr im wohlverstan= denen gegenseitigen Intereſſe ) , der Versöhnung , welche vergißt, daß unsere nächste ( ? ) Aufgabe die Sicherstellung von Westrußland gegen eine neue Invaſion der polniſchen Intelligenz ( und nicht etwa des Auslandes ! ) iſt, und daß ruſſiſche Nationalintereſſen uns näher liegen als die polnischen ( weil der Kaiser von Rußland bloß zum Schein und auf Zeit König von Polen ist, und jedes Compagnongeschäft wie jede Ehe bloß zu dem Zwecke geschlossen wird, um seinen Compagnon oder seine Ehehälfte möglichst auszubeuten). Es finden sich auch in Rußland einzelne isolirte Kreise der Gesellschaft, welche für die Ver= söhnung mit der Emigration und der Verschwörung (andere Polen als konspirirende polnische Emigranten kennt der russische Invalide nicht), für freiwillige Vergiftung ( ! ) Rußlands, für Preisgeben Weſtrußlands (von Seiten des Kaisers Alexander II . von Rußland zu Gunsten desselben Alexander's II., als König von Polen, und seiner Nachkommen) im Namen der Humanität, jener Lande, die Jahrhunderte lang geknechtet und tyranniſirt waren ( und die, wenn ſie während dieſer Zeit mit dem Großfürstenthum Moskau vereinigt wären , zugleich mit ihm von der Mongolenherrschaft und hernach von Jwan dem Grauſamen , ähnlich wie das bis dahin große Nowgorod , beglückt worden wären) von denselben Elementen , die eben an der Pforte Rußlands den Einlaß und die Nückkehr fordern. Die Wunden sind noch nicht geheilt, welches dieses Element ( das Mongolenthum ? ) dem ruſſiſchen Volke geschlagen , noch sind.frische Bandagen auf diesen Wunden und es werden schon wieder neue Versuche gemacht , diese Bandagen herunter zu reißen und die Wunden wieder zu erneuern. Wir haben von einer in Rußland vorhandenen Neigung zur Versöhnung mit dem polnischen Adel (ein polnisches Volk kennt nämlich der russische Invalide nicht) vernommen , welcher die Gewalt (der Bruderliebe ? ) über das russische Volk verloren , und wir bewundern nur die Unverschämtheit ( ? den Muth ) der ruſſiſchen Pſeudopubliciſten (Patrioten gegenüber den durch sie in ihrem Raubſyſteme bedrohten Be= amten in Weſtrußland und Polen und gegenüber den ruſſiſchen Zeit-

51 schriften , welche von jenen Beamten besoldet werden) , welche die eigenen Nationalrechte ( der Willkürherrschaft ) , die Würde Rußlands (die Schande Rußlands ) in den Koth treten und welche den egoistischen Absichten ( gerechtesten Ansprüchen und hochherzigsten Absichten) des polnischen Adels (Volkes) ein ganzes Land mit Millionen ruſſiſcher (klein- und weißrussischer) Einwohner zum Opfer bringen (als rechtmäßiges Eigenthum der polnischen mit Rußland vereinigten Krone zurückerstatten) wollen . Wahrlich ! (ſagen auch wir) ein würdiges Ge= schäft für russische Patrioten.“

Ihr sehet also , Polen ! daß sowohl die Regierung von Rußland, als auch alle Organe der öffentlichen Meinung mit keinem Opfer von eurer Seite zu versöhnen sind, daß sie euch sowol in nationaler, religiöser als auch in materieller , ja sogar in intellektueller und mora= lischer Hinsicht gänzlich zu vernichten beschlossen haben und dieſes Vorhaben mit unerbittlicher Strenge , Consequenz und Grausamkeit ausführen. Nicht also in einer Vereinigung , sondern in einem Kampfe mit Rußland ist eure , sowie aller Andersgläubigen und anders Sprechenden in Rußland einzige Rettung, in welchem ihr Nichts zu verlieren und Alles zu gewinnen habt. Ihr werdet doch nicht immer Alles verkehrt machen, Aufſtände beginnen, wenn in ganz Europa ein tiefer Friede herrscht, und sich ruhig verhalten , wenn ein allgemeiner Krieg ausbricht und von mehreren Staaten gegen Rußland unternommen wird und zwar hauptsächlich in der Absicht, um Polen in seinen alten Grenzen wiederherzustellen, indem man sich durch lange und bittere Erfahrungen endlich von der Nothwendigkeit feſt überzeugt hat, daß das alte Unrecht wieder gut gemacht werden müſſe ? Man wird ähnlich wie im Jahre 1848 versprechen, daß man ihnen Galizien und die Provinzen Posen und Preußen wieder geben, und alle Länder zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meere bis an den Dniepr und die Düna oder sogar bis an den Don und den Wolchow wird erobern helfen , unter der Bedingung jedoch , daß sie einen deutschen, etwa einen österreichischen Prinzen , zum Könige wählen . Den übrigen Slaven Desterreichs und der Türkei verspricht man Autonomie und nationale Gleichberechtigung , ernennt slavische Stätthalter und Kanzler für alle slavischen Provinzen , läßt alle Gefeße und amtlichen Verordnungen in allen ſlaviſchen Dialekten drucken, macht einen Czechen zum Unterrichtsminister, einen Kroaten zum Feldmarschall, einen Ruthenen aus Ungarn zum kaiserlichen Stallmeiſter und einen ſlowakischen Mauſefänger zum Grafen und Alles schreit : 4*

52 Slava ! zivio ! morituri sumus pro rege nostro ! Die Engländer liefern Waffen und Subſidiengelder und beſehen mit den Schweden das Baltische und mit den Türken das Schwarze Meer. Bald sind die Ruſſen aus Deutschland und Polen verdrängt , die Geftade des Schwarzen Meeres bis zum Don durch die Oesterreicher, die der Ostsee bis zum Wolchow von den Preußen beseßt, und - bleiben in ihrem Besize. Den Polen, welche gegen das Aufdrängen des österreichischen Erzherzogs, als König von Polen, protestiren, gestattet man eine Republik Warschau, unter denselben Bedingungen , wie die frühere von Krakau, etwa zwiſchen den Flüſſen Bug, Kschna, Wieprz, Piliza und Bzura zv bilden , so daß die neuen Beſizungen von Oesterreich und Preußen durch die Piliza und Pripez geschieden würden . Sollten die Polen Schwierigkeiten machen, so räumt man unter ihnen etwas gründlicher auf, wie im Jahre 1848 . Hat Frankreich etwa während des Krieges Nordafrika oder Belgien und die Rheinlande ; Italien , Venetien und Tyrol ; Dänemark, Schleswig ; Griechenland , Albanien und Kreta beseßt und wollen es in Güte nicht herausgeben , so läßt man ihnen das um des lieben Friedens willen. Der Kaukasus verbleibt den Türken und Finnland den Schweden. Auf diese Weise würde Rußland zu Paaren getrieben und auf immer unschädlich gemacht werden. “

,,Damit aber überhaupt die Russen nicht in Versuchung kommen , Eroberungen in Europa machen zu wollen, muß man schon früh dafür sorgen , daß sie sich den Franzosen und Polen und diese ihnen wieder nicht zu sehr nähern . Zu dem Zwecke muß man unausgesezt und unermüdlich ein gegen= seitiges Mißtrauen und Haß unter ihnen nähren. Man muß dafür sorgen, daß die russische Dynastie den pariſer Parvenü fortwährend in respektabler Distance von sich fernhält , dieser hinwieder durch die gesuchte Kälte und Hoheit des Petersburger Hofes empfindlich gemacht wird , daß einerseits die russische Regierung durch die angeblichen Machinationen Frankreichs zur Revoltirung Polens, Ungarns u. s . w., andrerseits das Gouvernement von Frankreich durch die beabsichtigte Coalition der Nordmächte in fortwährendem Mißtrauen , Besorgniß und Gereiztheit gegen einander erhalten werden. Ueber die Machinationen der Polen werden dem russischen Gouvernement unablässig die haarsträubendsten Berichte gemacht , Beweise geliefert. Sie werden als unverbesserliche Revolutionäre dargestellt, die durch keine Concession zu beruhigen und zufrieden zu stellen sind, und die sie nur , wenn sie ihnen gewährt würden , als Schwäche der

53 Regierung ansehen und zu verbrecherischen Zwecken ausbeuten würden; - als eine anarchische Race, die bloß durch die willkührlichste Gewaltherrschaft im Zaume gehalten werden kann ; - welche ihre Nationalität und Religion , die ihnen verbrieften Rechte, Occupationspatente, Stipulationen des Wiener Congresses, die Versicherungen und Versprechungen der Monarchen bloß als Mittel gebrauchen, um damit. Propaganda zu machen und der Regierung Verlegenheiten zu bereiten, welche die administrative Vereinigung der ehemals polnischen Landestheile mit Congreßpolen in der Absicht wünschen , um später immer mehr russische Landestheile an sich zu reißen , zu polonisiren und zu katholisiren ; ― Schulen, Aemter und Militairchargen nur deswegen haben wollen , um die Russen selbst in Rußland aus allen einflußreicheren Stellungen zu verdrängen. Man stellt sie als Giftmiſcher dar, welche nicht nur das ganze ruſſiſche Militair , sondern auch das ganze russische Volk vertilgen wollen, indem sie den Branntwein, das Waſſer vergiften und die Luft verpesten wollen ; als Mordbrenner, die sich verschworen haben, alle Städte und Dörfer Rußlands niederzubrennen und nebenbei auch die ihrer Feinde und Gegner in Polen. Man giebt sie für Magier aus , die mit Hülfe eines Buches , „ polnischer Katechismus " genannt , alle Ruffen mit sammt dem Katkow beheren, so daß sie dieselben als Werkzeuge zu ihren Zwecken gebrauchen, indem sie die Stüßen des russischen Reiches, die Gutsbesizer der Ostseeprovinzen, vermittels erschlichener Ukase verdrängen und sich ihrer Habe bemächtigen . Es wird das Alles nicht wirkungslos bleiben. Etwas bleibt immer davon kleben. Zur Erfindung , geſchickten Inscenirung und Inſinuation , konfidentionellen Mittheilung und entsprechenden Verwendung von der= gleichen Sachen müßten besondere Bureaur geschaffen werden , damit fie dergleichen Dinge systematisch, mit Erfolg und ohne Aufsehen zu betreiben im Stande sind . Es müßten zu diesem Zwecke auch in Rußland, Deutschland, Belgien und Frankreich Organe gegründet und gewonnen werden , die alles Dargebotene eiligst publiziren , gehörig ausbeuten und verarbeiten. Wenn troß alledem die russische Regierung sich doch zu sehr dem französischen Gouvernement und der polnischen Nation nähert, ſo muß man einige leichter zugängliche Minister, Gouverneure und Generale gewinnen, die durch eine empörende Note, Verordnung oder Gewalt= that, welche man in Rußland nie desavouirt , wie verkehrt und grausam sie auch sein mögen , um nicht die Autorität und Infallibilität alle Annäherungsversuche mit der Regierung zu kompromitiren einem Schlage zu Nichte machen. Der Franzose fühlt sich beleidigt, die Polen greifen zu den Waffen oder erheben ein Zetergeſchrei , wel-

54 ches in der französischen und abendländischen Presse Wiederhall findet, es beginnen Vorstellungen und Abweisungen , Demonstrationen , Verdie alle folgungen, Deportationen , Executionen , Confiscationen zu dem Vortheile derer ausfallen , die sie geschickt herbeigeführt und ihren Zweck erreicht haben. Auf diese Weise ruinirt die russische Regierung selber ihr Land , ihre Capacitäten und Finanzen und verdammt sie zur Unthätigkeit. Mit Hülfe der gewonnenen Persönlichkeiten und Organe in Rußland muß die Vernichtung des polnischen Elements , die Koloniſation und Germaniſirung der ehemals polnischen Provinzen besonders im Westen der Weichsel möglichst befördert werden, um im Falle eines Zusammenstoßes mit Rußland eine starke Partei im Lande selbst für sich zu haben und mit eben solchem Erfolg, wie früher in den Kämpfen mit Polen , eine Provinz nach der andern als eine germanisirte für sich zu gewinnen. So, mag sich Mancher denken, könnte der von Rußland her drohenden Gefahr . vorgebeugt werden. Wir wollen nicht bestreiten, daß solche Mittel eine gewisse Zeit hindurch reüssiren könnten, doch nicht immer, nicht auf lange. Sie sind auf die Dummheit aller, und die Verderbtheit der einflußreichsten Leute einer ganzen und großen Nation berechnet und darauf gerichtet, dieſelbe dahin zu bringen , daß sie sich selber entmanne und eine Wunde offen halte, welche ihr fortwährend die edelsten Lebensfäfte entzieht und eine gesunde Entwickelung, einen höhern Aufschwung, eine kräftige Unternehmung unmöglich macht.

11. Es kann nicht ausbleiben ,

daß mit der Zeit nicht wenigstens

einige Wenige unter einer Bevölkerung von 80 Millionen nicht nur die Einsicht und Fähigkeit, sondern des herrschenden Terrorismus ungeachtet, auch den Muth haben werden , ihren Landsleuten begreiflich zu machen , daß wenn sie sich solange zur Unthätigkeit verdammen wollen, bis sie (die Franzosen völlig passiv und) die Polen unschädlich gemacht, sie vielleicht nie oder erst nach Jahrhunderten würden Etwas unternehmen können, denn die Polen würden allen ihren Gewaltmaßregeln gegenüber sich wenigstens ebenso zäh beweisen, wie die Böhmen den Deutschen gegenüber ; daß die Franzosen aber und Polen durch die Berücksichtigung ihrer Intereſſen , die den ruſſiſchen durchaus nicht widerſprechen, jeden Augenblick und auf immer völlig gewonnen werden können ; daß die Ruſſen die Schwierigkeiten und Gefahren, welche ihnen die Polen bis dahin bereitet haben und zu bereiten etwa noch im Stande wären, durch ihre Unduldsamkeit , Gewaltthätigkeiten und Erpressungen selber heraufbeschworen haben und heraufbeschwören, daß

55 wenn sie ihnen ihre Sprache, Religion, Gebräuche' und Einrichtungen hätten lassen wollen , sie schon seit mehr als hundert Jahren deren ganzes Territorium, ewige Freundschaft und Bundesgenossenschaft und mit ihnen vereint alle Slavenländer hätten gewinnen können. Aus den unlängst publizirten Bruchstücken der Memoiren August Poniatowski's, geht es nämlich hervor, daß ſein ganzes Streben , wie aller Patrioten unter der Führung der Czartoryski's , dahin gerichtet war, durch die Heirath des Königs mit der Kaiſerin Katharina eine folche Union von Polen und Rußland herbeizuführen , wie die von Polen und Litthauen durch die Hedwig's mit Jagiello geschlossene gewesen war. Die Russen werden begreifen, wieviel sie durch diese freiwillige Vereinigung und völlige Gleichstellung beider so nah verwandter und ihrer Cultur nach doch so verschiedener Nationen , nach Innen und Außen während der leztverflossenen hundert Jahre hätten gewinnen können. Denn noch mehr , als in ihren Kriegseigenschaften ergänzen einander oder bedürfen vielmehr der gegenseitigen Ausgleichung die politischen und socialen Eigenschaften und Zustände dieser beiden Völker. Um wie viel die Polen zu viel Eigensinn , Selbstgefühl, Unabhängigkeitssinn, Offenheit und Selbstständigkeit des Charakters haben mögen, um wie viel sie zu sehr rechthaberisch , ungebunden und hartnäckig sein mögen — um soviel haben die Russen zu wenig Sinn und Gefühl für Recht und Billigkeit , Freiheit und Unab= hängigkeit , um soviel zu wenig Selbstständigkeit und Offenheit des Charakters. Um wieviel die Exekutiv- und Centralgewalt bei den Polen zu sehr geschwächt und gebunden war, um soviel war sie zu ſehr ungebunden und willkürlich bei den Russen. Durch die freiwillige Vereinigung und den freundschaftlichen Verkehr hätten die Gegensäße der beiden Nationen sich gegenseitig nicht abgestoßen , sondern angezogen und ausgeglichen.

Die Polen wünschten die Exekutivgewalt überhaupt

gekräftigt und die Centralgewalt des Monarchen insbesondere gestärkt und erblich zu sehen, was sie auch durch die Konſtitution vom 3. Mai zu bewirken trachteten und durch die Personalunion mit Rußland erreicht hätten. Eine starke Regierung ist das erste Erforderniß eines Staates und am schwierigſten zu erlangen, wo sie mangelt. Die Staaten von Süd- und Centralamerika würden viel glücklicher sein , wenn ſie weniger Freiheit und eine kräftigere Adminiſtration hätten. Das Königreich Griechenland hat Ueberfluß an Freiheit und Mangel an Ordnung und Regierungsgewalt. Es würde unter österreichischem oder ruſſiſchem Regime besser gedeihen, als bisher unter eigenem. Nach der Union Polens mit Rußland hätte sich die russische Dynastie hinwieder in Polen gewöhnt, sowohl streng nach dem Geseze zu verfahren, als auch die Rechte und Freiheiten des Volkes zu achten.

56 Innerhalb 20 Jahren , also bis zum Jahre 1811 sollten in Polen nach der Constitution von 1791 allmählig alle Einwohner gleiche bürgerliche und politische Rechte mit dem Adel erhalten; alſo jedwede Art von Eigenthum erwerben , die Richter , Bürgermeister , den Ge= meinde- Kreis- und Komitatsrath , so wie Deputirte in den Reichstag. wählen, alle Schulen besuchen und alle Aemter bekleiden dürfen. Diese Rechte hätte sich alsdann auch der russische Adel, Bürger- und Bauernstand nicht lange vorenthalten lassen. Die Emancipation der Bauern in Rußland wäre demnach wenigstens ein halbes Jahrhundert früher erfolgt. Die Gleichberechtigung der Glaubensbekenntnisse und Natio= nalitäten, die Preß-, Lehr-, Gewerbe und Handelsfreiheit , das freie Versammlungs- und Vereinsrecht hätten sich aus Polen, wo sie seit Jahrhunderten geſeßlich gesichert und geübt waren, auch bald nach Rußland den Weg gebahnt , Rußland hätte nicht halb so viel stehende Heere unterhalten müssen, um Polen im Zaum zu halten. Die dadurch ersparten Gelder hätten zur Vermehrung der Schulen und Communicationsmittel verwendet werden können. Die Kontrole der freien Presse, der Gemeinde-, Kreis-, Gouvernements- und Reichsräthe hätten der Verschuldung des Staatsschaßes, der Verwahrlosung der Finanzen und der Bestechlichkeit der Beamten vorgebeugt, die Geſeßgebung und Verwaltung geordnet. Die Künste und Wiſſenſchaften , der Handel und die Induſtrie hätten sich in Folge der vermehrten und Jedem zugänglich gemachten Unterrichtsanstalten, Verkehrsmittel, der unparteiſchen Gerichtspflege und Verwaltung der Preß- und Vereinsfreiheit und der übrigen freien Institutionen so sehr in Polen und Rußland während der lezten hundert Jahre entwickelt, daß sie wenigstens denen anderer Nationen des Abendlandes gleichgekommen wären. Die griechischkatholische Dynastie hätte einerseits den Einfluß der Fanatiker und Ultramontanen unter den römischen Katholiken von Polen ferngehalten, andrerseits wäre die griechische Geistlichkeit in Rußland durch die Concurrenz der römisch-katholischen aus ihrer Indolenz und moralischen Versunkenheit geriſſen worden und in Folge deſſen im Stande geweſen, auf die Moralität des Volkes einen wohlthuenden Einfluß auszuüben und wenigstens die widerſinnigſten Sekten von Rußland wieder in den Schoß der orthodoxen Kirche zurückzuführen. Es wäre der vereinten Regierung von Polen und Rußland , bei ſtrenger Festhaltung der Gleichberechtigung der Glaubensbekenntniſſe , leicht gewesen , mit dem Papst ein Concordat abzuschließen , vermöge deſſen anstatt der latei= nischen die slavische Liturgie in die katholische Kirche Polens und Rußlands hätte eingeführt werden können , wodurch das Verſtändniß und die Annäherung beider vereinten Nationen befördert worden wäre und auch eine bestimmte Anzahl von Cardinälen aus den Reihen der

57 polnischen und russischen Geistlichkeit ernannt werden mußte, wodurch auf die Wahl des Papstes und die Verwaltung der katholischen Kirche ein bedeutender Einfluß hätte gewonnen werden können . In Folge der vermehrten Sittlichkeit und Wohlhabenheit, der Aufklärung und Bekehrung der widersinnigsten Sekten, einer bedeutenden Verminderung der stehenden Heere hätte sich die Bevölkerung von Rußland und Polen in der Zeit von hundert Jahren wenigstens noch einmal so stark vermehrt , als es der Fall gewesen iſt, ſodaß dieſe beiden Staaten heute anstatt 80 Millionen zugleich mit Galizien und den Provinzen Posen und Preußen etliche 200 Millionen Einwohner zählen würden, besonders wenn man bedenkt, daß bei gesicherten Rechtszuständen und freien Inſtitutionen die größere Hälfte derjenigen Bevölkerung, die in die verschiedenen Länder der neuen und alten Welt aus Europa ausgewandert ist , sich nach dem nahen Polen und Rußland gewandt hätte und nicht nur deren Einwohnerzahl und Steuerkraft, sondern auch deren Kapitalien, Aufklärung, Fabrikwesen, Handel und Industrie ungemein vermehrt hätten. Und doch würde weder Rußland noch Polen bei den zahlreichen Bildungsanstalten und freien Institutionen das Ueberhandnehmen der fremden Elemente zu besorgen gehabt haben, denn diese würden in solchem Falle viel schneller sich aſſimiliren und viel weniger als jezt bemerklich und verderblich sein. Friedrich der Große und diese fremden Elemente wußten einer solchen Entwickelung und Wendung der Angelegenheiten durch die Theilung Polens unter die drei nordischen Mächte vorzubeugen, welcher Umstand das Wiedergutmachen des einmal gemachten Fehlers ungemein erschwerte. Daher sträubte sich auch Peter der Große , als ihm schon im Jahre 1710 der preußische Hof bestimmte Theilungspropoſitionen machte , wonach für die Ruhe und die wahren Interessen der pol= nischen Nation“ Livland und Lithauen an Rußland, Polnisch Preußen und Samogitien an Preußen und das übrige Polen als Erbstaat an August II. von Sachsen und Polen fallen sollte und ließ auf einen neuen Theilungsplan von Seiten Preußens erklären : „ Es wäre ihm an der Acquisition mehrer fast wüsten Länder, da ihm ohnedem Polen, so gut als wenn es schon sein wäre , offen stände, so viel nicht gelegen, daß er um deswillen die Republik über den Haufen werfen und sich einen mächtigen Nachbarn auf den Hals ziehen sollte.“ Daher hat gleich der Kaiser Paul den Fehler seiner Mutter wieder gut machen und die Einheit und Unabhängigkeit Polens unter der russischen Dynastie wiederherstellen wollen. Ebenso der Kaiser Alexander I., worin ihn sein Freund und Premierminister, der Fürst Adam Czartoryski und eine zahlreiche polnische Partei unterſtüßte.

Eben

dasselbe schien auch der Großfürst Konſtantin Nikolajewitsch während

58 +

seiner Statthalterschaft in Polen beabsichtigt zu haben und hat sowohl der Marquis Wielopolski, wie Graf Andreas Zamojski , der ganze polnische Adel im Königreich und in den ehemals polnischen Provinzen, als auch ein großer Theil des polnischen Bürgerſtandes erſtrebt, wie ſie das durch zahlreiche Adreſſen an den Kaiſer und dessen Stellvertreter offen ausgesprochen. Aber es haben sich immer Elemente und Persönlichkeiten gefunden,

welche der aufrichtigen Versöhnung und Vereinigung zweier Brudervölker, der zwei mächtigsten und ausgezeichnetsten unter den slavischen Nationen vorzubeugen gewußt haben , Leute, welche in den entſcheidenden Kreisen die Ueberzeugung hervorzubringen verstanden , daß Rußland dann erst groß, mächtig und glücklich sein könne , wenn alle ihm untergebenen Völker eine Sprache sprechen , einen Glauben bekennen, dieselben Geseße, Sitten und Einrichtungen haben und daß jeder der anders spricht, anders glaubt, anders sich kleidet und einzurichten trachtet, als die Regierung befiehlt, ein Hochverräther ist , daß der Staat lieber ganze Stände, ganze Völker und Millionen Chriſten ausrotten soll (wenn er sich auch dadurch fortwährend die größten Wunden schlagen und Gefahren heraufbeschwören sollte), als daß er die Gleichberechtigung verschiedener Sprachen und Religionsbekenntniſſe und die Autonomie verschiedener Länder zugeben sollte. Und das vollbringt denn auch die Regierung zu Nuß und Freude ihrer Feinde! Sollte fie , sollte das russische Volk das niemals wahrnehmen ? Sollten sie nicht einsehen, daß ein Staat sich eher zu Grunde richtet, ehe es ihm gelingt, die Religion , die Nationalität, das Selbstgefühl und die Traditionen eines Volkes zu vernichten ? Daß ein kultivirtes Volk, wie die Perser, Juden, Araber, Griechen, Italiener, Polen 2c. unsterblich und erhaben sind über die Bosheit und Verrücktheit sowohl einzelner Menschen und Dynastien, als auch ganzer Generationen , daß sie nach einer Unterjochung, Zerstückelung und Verfolgung von Jahrhunderten und Jahrtausenden wie ein Phönir aus der Asche wieder auferstehen ? Die Breslauer Zeitung v. 6. Jan. d. J. sagt ganz richtig : „ Solche Exterminationsmittel à la Kaufmann können das Land ruiniren und an den Bettelſtab_bringen, aber zu glauben , daß man auf dieſem Wege der Barbarei den Hauptzweck , d. H. die Russifizirung in nationaler und religiöser Hinsicht erreiche, dazu muß man in hohem Grade verblendet sein." Sollten die Russen das nicht einsehen, daß die italienische Nationalität in Deutschland, die polnische in Rußland trog der grausamsten

59 Verfolgungen Fortschritte gemacht hat und machen wird ? Daß wenn es Rußland wirklich gelingen ſollte, das zu erreichen, was es ſeit einem Jahrhunderte hauptsächlich anzuſtreben scheint, was es aber auch in Taufend Jahren nicht erzielt, nämlich die polnische Nation und ihre Religion , Sitten , Gebräuche, Traditionen , Tendenzen und Eigenthümlichkeiten zu vernichten und alle seine Unterthanen zu ruſſifiziren , in ächte Moskowiter zu verwandeln ________ dieß der größte Schaden sein würde, der ihm zugefügt werden könnte ? Daß ein solches nach einer Schablone von Oben herab vorgeschriebenes Kasernenleben einer ganzen Nation sie zu einer willenlosen Heerde herabwürdigen , ihr alle Kraft und Fähigkeit ein selbstständiges Leben zu führen, entziehen und aus dem Kreise der lebens- und kulturfähigen Völker stoßen würde ? Tödtend ist jede Einförmigkeit und Eintönigkeit. Je größer aber neben Gemeinsamkeit der Hauptmerkmale und Hauptintereſſen, gegenseitiger Zuneigung , inniger Solidarität und kräftiger Centralregierung - die Selbstständigkeit der einzelnen Menschen, Gemeinden, Kreise, Gouvernements, Provinzen, Landschaften, Völkerschaften, Vereine und Geſellſchaften eines großen Staates und je mannigfaltiger deren Fähigkeiten , Bildung , Eigenthümlichkeiten, Neigungen, Charaktere und Einrichtungen ſind desto größer ihre Lebens- und Kulturfähigkeit , desto rascher ihre Entwickelung , desto gewaltiger ihre Machtentfaltung. Denn jeder hat da Gelegenheit seine Kraft und Fähigkeit, ſeine Einfälle und Projecte nach allen Richtungen hin zu erproben, alle haben genug Gelegenheiten einen Jeden genau kennen zu lernen und zweckmäßig zu verwenden. Wenn nun die fähigſten und praktischsten Leute aus den verschiedenen durch sie selber auf das mannigfaltigste mitverwalteten Vereinen , Gesellschaften , Unternehmungen, Gemeinden , Bezirken und Landschaften des Reiches zur Berathung des allgemeinen Wohles oder irgend eines öffentlichen oder Privatunternehmens durch das Zutrauen ihrer Mitbürger oder ihren eigenen Antrieb berufen werden, dann bieten sie eine hinlängliche Garantie , daß sie nicht einseitige und werden.

verkehrte Einrichtungen treffen

Jedes Gemeinwesen jedoch, jede Inſtitution, jedes Volk hat seine Licht- und Schattenseiten , seine Vorzüge und seine Fehler und die Russen und Polen haben sie auch. Aber wie manche Eigenschaften der Ruſſen, die ihnen selber sogar nicht immer vortheilhaft sind , wie 3. B. der blinde Gehorsam gegen die Obrigkeit auf die Polen den wohlthuendsten Einfluß ausüben können , ſo ſind andrerseits die Ei= genthümlichkeiten der Polen , sogar die ihnen selber schädlichen zur Entwickelung der Russen so unentbehrlich, wie bei der Brodbereitung der Sauerteig zur Belebung des gekneteten Teiges.

60 Wie die Polen ohne die Russen schwerlich jemals zur Einheit ihres ehemaligen Staates und zu einer kräftigen, durchgreifenden Executivgewalt kommen würden - so würden die Ruffen ohne die Polen kaum jemals zur Freiheit im Innern, zur Offenheit , Freimüthigkeit und Selbstständigkeit des Charakters, zum Gefühl der persönlichen Würde, zur Unparteilichkeit und Unbestechlichkeit der Beamten , zur moralischen und intellektuellen Erhebung der Geistlichkeit und des ge= meinen Volkes kommen. Die Ruſſen fürchten, haſſen und verfolgen gerade die Eigenſchaften der Polen am meisten, welche zu ihrer Erlösung, Wohlfahrt und Erhebung am unentbehrlichsten ſind - eben weil sie deren Weberlegenheit und Kraft fühlen und sich noch nicht entschlossen haben , sie ſelbſt zu erstreben. Wenn irgend Etwas das ruſſiſche Volk aus seiner Verkommenheit und Apathie herausreißen und in angeſtrengtem Streben nach Vervollkommnung erhalten kann so ist es der Wetteifer mit dem polnischen Volke, sodaß, wenn es keine polnische Nation mit allen ihren guten und schlechten Eigenschaften gebe, man eine schaffen müßte, um die russische emporheben und entwickeln zu können . • Man hat bis dahin die gegenseitigen Eigenschaften und Kräfte verkannt und unterschäßt und deren Werth , wie so oft, im blutigſten Kampfe, bei der äußersten Anstrengung einerseits und der abſoluten Unmöglichkeit andrerseits , sich gegenseitig zu Grunde zu richten , genauer kennen gelernt. Die Ruſſen überzeugen sich , daß obgleich sie lange an der Entnervung der polnischen Nation gearbeitet , ihre Kraft glaubten völlig gebrochen zu haben und sie zum Kampfe zur Winterzeit provozirten, wie sie ganz unvorbereitet und unbewaffnet war - dieselbe ihnen doch die größten Gefahren bereitet hat und kaum in zwei Jahren völlig niedergeworfen werden konnte, und obgleich gegen sie die grausamsten Mittel angewendet wurden , um sie auszurotten , sie doch ungebrochen dastehn. Wie gefährlich könnte sich nun die Sache gestalten, wenn die Polen wohl vorbereitet und bewaffnet zum Kampfe schreiten und von einem oder mehreren Staaten Europas thätig und kräftig unterstüßt würden ? Die Zeitgenössischen Jahrbücher" (Sowremiennaja Lietopis), eine wöchentliche Zugabe zu den ,, Moskauer Nachrichten " (Moskowskija Wiedomosti), schreibt unter anderm in einem Artikel , welcher überschrieben ist : „ Eine russische Ansicht über die polnisch-russische Frage", was folgt : "/ Die polnische Frage hört nicht auf uns mit ihrer Laſt zu erdrücken, indem sie uns von allen Seiten beunruhigt und schreckt. Wohin wir auch unsern Blick werfen , ob auf unsere äußeren politischen Angelegenheiten , oder auf die Consolidirung und Entwickelung

61 unserer innern Bedürfnisse überall tritt uns die polnische Frage entgegen. Wohin auch die Ruſſen ihr Augenmerk richten mögen, be= gegnen sie ihr wider Willen überall ; überall rennen sie an dieselbe an und finden an ihr die unüberwindlichsten Hinderniſſe. Indem sich• der Geiſt in diese innern Angelegenheiten und Verhältnissen vertieft, ist er im ersten Augenblicke im Begriffe zu verzweifeln , sich so nach allen Seiten durch diese polnische Frage gebunden zu ſehen, und fragt sich selber, wie es möglich ist, wie das winzige Königreich Polen in seinem jezt unbedeutenden Umfange und einer kaum 5 Millionen zählenden Bevölkerung mit einer so gewaltigen Last uns erdrückt, welches die eigentlichen Ursachen dieser Erscheinung sein mögen, daß eine jede Bewegung in diesem winzigen Winkel des russischen Imperiums , ob sie von Innen begonnen oder von Außen hineingetragen sein mag, uns alle erzittern macht und das ganze Reich erschüttert. Daß wir durch die polnische Frage an Händen und Füßen gebunden sind das unterliegt keinem Zweifel. Das sieht sowohl jeder Staatsmann, als auch jede Privatperson auf das deutlichste. Der lette Aufſtand in Polen ist niedergeworfen ; die daſelbſt angewendeten Mittel verheißen eine stufenweiſe Umgestaltung des Landes zu Gunsten des Volkes , aber die polnische Frage droht uns noch immer für die Zukunft mit derselben Gefahr, wie zuvor.“ Obgleich die ganze patriotische Bewegung und der bewaffnete Aufstand der legten Zeit in Polen von der Mittelklasse ausging und die erstere zum Theil als Protestation gegen das verschwenderische Le• ben und unwürdige Betragen der polnischen Magnaten dem Zaren gegenüber entstanden , der Aufstand aber gegen den ausdrücklichen Willen des Adels ausgebrochen war und erst spät , verhältnißmäßig sehr wenig und niemals aufrichtig von ihm unterstügt wurde - so will doch die russische Bureaukratie und die ihr dienende Preſſe der Welt einreden und weiß machen und glaubt es zuleßt selber, weil ihre Taschen es plausibel finden , daß nur der Adel in den ehemals polnischen Landestheilen patriotisch gesinnt ist und Revolutionen macht. Die „ Zeitgenössischen Jahrbücher“ ſagen dann weiter : ,,Was für Erfolg auch radikale Mittel haben würden , die man im Königreich Polen zur Schwächung und Demüthigung des Adels unternehmen möchte, so kann man doch nicht annehmen, daß der ge= waltige Widerwille gegen das ganze Syſtem des ruſſiſchen Lebens und das tief eingewurzelte Gefühl und Bedürfniß der Unabhängigkeit Polens gänzlich in ihm erlöschen und nicht wenigstens neue Versuche zu Revolten gemacht würden. Alle diese Tendenzen und Unterneh= mungen finden immer einen lebhaften Anklang und Wiederhall bei den Gutsbesitzern von Westrußland , welche dieselben mit ihren leb-

62 haftesten Sympathien begleiten und mit Wort und That zu unterstüßen stets bereit sind. So dienen unsere westlichen Gouvernements, welche der polnischen · Sache unerschöpfliche Mittel zu bieten im Stande ſind , gleichsam als Quellen zur Unterhaltung und Erweckung von sinnlosen Hoffnungen sogar bei den polnischen Patrioten des Königreichs und bewirken, daß jede Bewegung, jede auch die geringſte Unordnung im Königreich und jede polnische Agitation im Auslande für uns höchſt wichtig und ge= fährlich wird. Wenn wir vollständig Herren der westlichen Provinzen und derselben ganz sicher wären, dann würden alle polnischen Unruhen nicht den hundertsten Theil der bisherigen Bedeutung für unz haben und würden in moraliſcher und materieller Hinsicht nicht in so großartigem Maßstabe ganz Rußland erschüttern.“ Die russische Bureaukratie und deren Publizistik bilden sich nun ein, daß mit Beseitigung des polnischen Adels die städtische und ländliche Bevölkerung von Lithauen , Kleinrußland 2c. zu ächten Moskowitern, zu einer geist- und willenlosen Masse umgeschaffen wird, welche sich einreden läßt , daß sie durch die Russen aus der Sklaverei der Polen befreit und zu der glücklichsten der Welt gemacht worden ist. Mit denselben Hoffnungen hat sich die Bureaukratie in Preußen in Bezug auf die polnischen Bauern nach der Robotablösung im Großherzogthum Posen geschmeichelt. Die ruſſiſche Bureaukratie und ihre Publizistik kann sich ebenso wie die preußische im Jahre 1848 enttäuschen nachdem sie die entseßlichsten Barbareien begangen, Millionen Menschen unglücklich gemacht, die schönsten Provinzen ruinirt, die Staatswirthschaft zerrüttet und die Finanzen in noch größere Verwirrung gebracht hat. Wenn die russische Regierung ihr System nicht ändert, wenn die russischen Bureaukraten und Popen die Moskowitifirung, Schismatiſirung und Maßregelung der Finnen, Esthen, Lithauer, Polen, Weiß- und Kleinrussen 2c. nicht laffen, dann können sie sich zu spät überzeugen , daß sie die gefährlichsten und erbittersten Feinde gerade in den befreiten und mit Landeigenthum versehenen Bauern dieser Völkerschaften finden werden , in denen sie ihre hauptsächlichste Stüße suchen. Wie das lezte Mal in Polen der Adel durch die Städter zur Bewegung fortgerissen wurde, so könnten künftig die Städter und der Adel durch die Bauern und ihre gebildeten durch die zahlreichen Mißbräuche, Gewaltmaßregeln , Unbilden, Bedrückungen und Plackereien empörten Söhne zu Widerſeßlichkeiten hingerissen werden . Die Kölnische Zeitung sagt im Leitartikel der Nr. 11 v . d. J.:,,Die Bauern werden ( in den ehemals polnischen Landestheilen durch die Eigenthumsverleihung) rasch emporkommen. Aber wird bei größerem Wohlſtande und größerer Bildung nicht auch die Dumpfheit und Gleich-

63 gültigkeit der ländlichen Bevölkerung schwinden, an welcher in manchen Gegenden sich die Kraft des leßten polnischen Aufſtandes brach ? Wird die russische Regierung nicht zuleßt darüber belehrt werden , daß die polnische Nationalität ebenso unzerstörbar ist , wie die katholische Kirche?"

12. So lange als Rußland die verschiedenen zur herrschenden Nation und Kirche nicht gehörenden Völker und Bekenntnisse und besonders die Polen , ihre Religion , Nationalität , ihre Sitten und Gebräuche verfolgt und ihnen mit den Großruffen gleiche Rechte nicht gewährt, die Autonomie des alten Polens, soweit es unter russischer Herrschaft ist, nicht wiederherstellt, mit einem Worte , so lange es die aufrichtige Zuneigung und Bundesgenoſſenſchaft der Polen nicht gewinnt - fann es auch auf die Sympathie der übrigen nicht ruſſiſchen Griechen und Slaven Nichts bauen und keine auswärtigen Kriege unternehmen, um dieſe Völker mit sich zu vereinigen.

Denn keins von dieſen Völkern

wird Lust haben sich so wie die Polen wegen ihrer nationalen Eigenthümlichkeiten hintenangeſeßt oder verfolgt zu ſehen und den Ruſſen zur Liebe vernichten zu lassen Im Gegentheil sie würden in solchem Falle ihre Waffen gegen die Russen wenden, wenn sie dieselben unterjochen wollten und um so mehr alle zwischen ihnen wohnenden nicht slavischen Völker. So lange die russische Regierung durch (die_That an den Polen nicht beweist und darthut , daß sie die Autonomie im ausgedehntesten Sinne des Worts zu respektiren versteht und entschlossen ist, so lange wird sie aller Bemühungen ihrer Politiker, Diplomaten, Publicisten und Agitatoren ungeachtet keine aufrichtige Sympathie, keine Freunde, keine Bundesgenossen gewinnen, auf die sie sich verlassen, mit denen sie etwas Wichtigeres unternehmen könnte - am wenigsten aber unter den slavischen und romanischen Völkern . Wenn die Regierungen von Rußland und Frankreich auch noch so eifrig bestrebt sein sollten ein Schuß- und Trußbündniß mit einander zu schließen und noch so aufrichtig wünschten , es auf immer zu erhalten, so wird es doch nicht wegen der öffentlichen Meinung in Frankreich möglich sein, so lange die Polen von den Ruſſen nicht zufriedengestellt sein werden. Auf das erste Nothgeſchrei der in Polen verfolgten Nationalität und Religion, reißen alle auch noch so künstlich, aufrichtig und sorgfältig geknüpften Bande zwischen Rußland und den katholischen und slavischen Völkern und Staaten. Sie werden wegen dieſes Nothgeschreies zwar keinen Krieg gegen Rußland unternehmen, sie wer-

64 den aber auch keinen im Bunde mit Rußland gegen einen Dritten führen können und führen wollen. Die Interessen der romanischen und slavischen Völker überhaupt und dieser Völkerstämme und der Russen insbesondere kollidiren nirgends mit einander, sondern kommen vielmehr einander überall entgegen, aber troß des dem Westen vorgeworfenen Materialismus haben die katholischen Völker desselben nie sich dazu bewegen und verführen laſſen, der materiellen Vortheile wegen allein, mit Rußland durch dick und dünn zu gehen und die Intereſſen der Kultur und Humanität , welche Rußland in Polen zum Schaden beider mit Füßen trat, Preis zu geben. Darin zeigt sich auf eine eklatante Weise die Macht und Bedeutung der öffentlichen Meinung. Die vereinzelten Stimmen im entgegengesetzten Sinne, die erkauften oder erheuchelten Gunstbezeugungen und Acclamationen zu den Akten der russischen Barbarei in Polen sind sehr unzweideutiger Natur, welche die öffentliche Meinung des Abendlandes irrezuführen nicht im Stande sind , höchstens die der Russen selber. Bündnisse mit andern europäischen Völkern und Staaten, als den eben genannten, sind für Rußland nicht nur unnüß und unproduktiv, sondern auch gefährlich. Sie haben sich bei entschiedenen Schritten, namentlich bei den Kriegen mit der Türkei jedesmal als unzuverlässig gezeigt. Es war von Seiten des Kaiſers Nikolaus und ſeines Kabinets ein unerhörtes , unverzeihliches Verkennen der gegenſeitigen Interessen und Standpunkte, wenn er von England und den deutschen Großmächten erwartete und verlangte , sie sollten bei der Eroberung der Türkei durch Rußland gleichgültig oder ihm sogar gegen Frankreich im Fall der Noth behülflich sein. England und Deſterreich sollten ihm freiwillig den ausschließlichen Beſiß der kürzesten Wege des asiatischen Handels : das Schwarze, Adriatische , Rothe und Perfische Meer , die untere Donau, den Euphrat und Tigris überlassen ! Sie sollten ihm das gefährliche Material zu einer Seeherrschaft, die griechischen Matrosen überliefern , sie sollten ihm allein die Donaumündungen, den Bosporus und die Dardanellen , den Canal von Otranto und Suez , die Meerenge von Babelmandeb und Ormuz : die Schlüssel zu ihren wichtigsten Beſizungen , zu den wichtigsten Positionen der ' Welt, zur Weltherrschaft selber übergeben ! Rußland kann noch so große Beweise von Freundschaft den germanischen Großmächten geben , ihnen noch so große Opfer bringen, ſo kann es doch unmöglich von ihnen verlangen und erwarten, daß sie aus Dankbarkeit , aus Liebe zu Rußland ihre Lebensadern sich selber unterbinden , die Grundfesten ihrer Eristenz untergraben ſollen ! Was Wunder, wenn bei einem so verkehrten Verfahren , wie es

65 die russischen Staatsmänner in der Leitung der innern und äußern Angelegenheiten , besonders in Bezug auf Polen und Frankreich be― obachten sie aus ihren natürlichen Freunden und Bundesgenossen, den Polen und Slaven , den Franzosen und Lateinern die gefährlichsten Feinde machen , von ihren Vertrauten aber und durch Gefälligkeiten und Opfer geworbenen Bundesgenossen sich im Stiche gelassen und verrathen glauben? Könnte aber Rußland, wenn es auch wollte und die korrektesten Mittel und Wege dazu wählte , der zwiefach an dasselbe gestellten Aufgabe Genüge thun : einerseits die Nationalität , Religion und die historischen Rechte eines jeden mit ihm vereinigten Volkes zu respektiren und zu pflegen , andererseits alle stammverwandten Völker zu einem organischen Ganzen , zu einem lebensfähigen Staate zu vereinigen, der nicht der Gefahr ausgeseßt wäre, bei der ersten besten Gelegen= heit in ſeine natürlichen Bestandtheile auseinander zu fallen ? Ist nicht Rußland vielmehr darauf hingewiesen , um seiner Selbſterhaltung willen , die fremdartigen Bestandtheile seines Reiches entweder gänzlich aufzugeben , oder mit Nachdruck zu assimiliren , alle, die es nur bis jezt erworben hat und künftig noch erwerben wird ? Mit andern Worten : wie verhalten sich zu einander die beiden Tendenzen der Neuzeit , einerseits die Tendenz nach Selbstständigkeit einer jeden , wenn auch noch so winzigen Nationalität, andererseits das Streben nach Vereinigung aller stammverwandten Elemente ? Iſt Ist eine oder keine von diesen Zeitideen lebensfähig und von praktischer Bedeutung , oder sind gar alle beide zugleich ausführbar, unaufhaltsam und mit einander zu vereinigen ? Ist es möglich und nothwendig einerseits z. B. alle deutschen , andererseits alle skandinavischen , drittens alle slavischen, sodann alle iberischen Völkerschaften als solche zu ebenso vielen organiſchen , kräftigen , einheitlichen Staatsorganismen zu vereinigen und zugleich die Eigenthümlichkeit und Autonomie eines jeden der das Ganze bildenden Volks- und Staatsindividuen aufrecht zu erhalten ? Davon , ob ein Volk die Anforderungen des Zeitgeistes richtig oder falsch auffaßt, hängt sein Wohl und Wehe , nicht nur des Augenblicks , sondern seiner ganzen Zukunft ab . Derjenige , welcher die Ideen und Bedürfnisse seiner Zeit richtig auffaßt und ihnen Genüge leistet, der beutet sie auch aus und wird von der ganzen Mitwelt getragen und befördert, wer sie aber verkennt , verleugnet und bekämpft, wer ihren Fortschritt aufhalten will , der wird von dem unaufhaltsamen Rade des Zeitgeistes zu Boden geschleudert und zermalmt, wenn er auch noch so groß und mächtig wäre. 5 Europa.

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So wurde die ungeheure spanische Monarchie zertrümmert , welche unter Philipp II. die Autonomie und Religionsfreiheit der winzigen Niederlande erdrücken wollte, so das polnische Reich, welches im Beſize von Schweden und vom Großfürstenthum Moskau dieſen unter Sigismund III. Waſa die katholiſche Religion aufzudringen suchte , so das deutsche Kaiserreich, welches den Protestantismus im 30jährigen Kriege und die Freiheitsideen der französischen Revolution durch die Coalitionskriege bekämpfte und so würde auch der russische Koloß unfehlbar in Trümmer gehen , wenn er sich den Ideen und Bedürfnissen der Zeit widerseßen sollte. Daß zu diesen die Religionsfreiheit und die Gleichberechtigung der Bekenntnisse gehört , ist wohl unbestritten und geht auch aus dem eben angeführten zur Genüge hervor. Ebenso gewiß ist wohl auch, daß die politischen Freiheiten einerseits und die nationale Einheit und Selbständigkeit eines jeden Volkes andrerseits , wie immer , so besonders jezt , wo die Maſſen am politischen Leben sich betheiligen , zu den am lebhafteſten gefühlten Bedürfnissen, Ideen und Tendenzen der Gegenwart gehören. Es ist der natürliche Drang aller Menschen nach Unabhängigkeit und Gleichberechtigung, es ist die natürliche Folge der amerikanischen, französischen und der übrigen Revolutionen , daß alle politischen und nationalen Individuen und Körperschaften, der einfache Bürger sowohl, als die Dorf- und Stadtgemeinde, die Kreis- oder Kantoneinheiten, die Gouvernement- und Provinzialkörperschaften und besonders die durch Gemeinschaft der Sprache , Sitten und Gebräuche während eines Zeitraums von Jahrhunderten oder Jahrtausenden zu einem untheilbaren Ganzen gebildeten einzelnen Völkerschaften immer ungestümer die Einheit und Selbstständigkeit , sowie die Gleichberechtigung mit andern verlangen. Das Prinzip der Nationalität , der Autonomie und Dezentralisation, des Selfgovernments aller Gemeinden und Staatskörperschaften ist das allgemeine und immer gewaltiger erhobene Feldgeschrei der Gegenwart. Bis dahin ganz unbekannte, unbeachtete oder vergeffene Völkerschaften tauchen in Europa hervor, machen ihre Nationa= lität geltend und gewinnen täglich an Bedeutung. So z. B. die Basken , Bretonen , Irländer , Flamländer , Plattdeutsche, Thüringer, Sachsen, Allemannen , Franken , Schwaben , Baiern , Tyroler und die übrigen deutschen Völkerschaften , sodann die Serben , Böhmen , Bulgaren , Ruthenen , Rumänen , Lithauer, Finnen u. a. m. , die mehr oder weniger in leßter Zeit ihrer Nationalität Geltung verschafft haben. Um so gewaltiger und unwiderstehlicher ist das Drängen und Ningen nach Einheit, Gleichheit und Selbstständigkeit derjenigen Völker, welche die Wohlthaten, Rechte und Früchte der Freiheit und Ci-

67 viliſation Jahrhunderte lang genoffen haben, als da find die Griechen, Italiener, Ungarn , Polen und Dänen. Die Sprache , Religion , die Sitten, Geſeße und Gewöhnheiten der alten Griechen, Römer, Gallier ſind nicht mehr im Gebrauche, aber die Traditionen , Errungenschaften, Tendenzen, der Geiſt dieſer Völker iſt unsterblich und wirkt ungebrochen in ihren Nachkommen . Die Rheingrenzen Galliens , wie sie zu Cäsar's (und Napoleon's) Zeiten bestanden , Rom als die Hauptſtadt und die Alpen als die Grenzen Italiens , Athen als die Metropole und die Acroceraunischen und Cambunischen Berge als Grenzen Griechenlands werden nie aufhören die Ideale und Zielpunkte der Bestrebungen jeder Generation dieser Länder zu sein, mögen sie besezt und bewohnt werden, von wem sie wollen. Aus eben den Gründen werden die Bewohner Ungarns und Po-

lens, wie zahlreich und verſchiedenartig ihre Völkerschaften auch sein, wie stark sich auch ihre Sprache und Religion modifiziren möge, immer nach Einheit und Selbstständigkeit , immer nach den Grenzen hier der Stephane und Ludwige zwischen den Karpathen und der Adria - dort der Boleslave und Jagiellonen zwischen dem Baltischen und Schwarzen Meere - Jahrhunderte und Jahrtausende hindurch unaufhaltsam ringen. Und viele Reiche und Dynastien werden entstehen und vergehen , ehe sie die Sprache und Religion dieser beiden Völkergruppen verändern. Das ist die Unsterblichkeit der Kultur , das die Bedeutung der historischen Rechte. Es zerschellt, wie Glas, jedes Staatsschiff, welches gegen diesen Meeresfelsen blindlings anstürmt. Es wäre auch traurig um die Menschheit , wenn die Existenz der einzelnen Nationen , ihre Kultur, Religion, Nationalität , ihre Sitten und Gebräuche ― die allmähligen Produkte Jahrhunderte- und Jahrtausende-langer Arbeit und Bildung, von der Gnade und Ungnade eines Siegers , von der Willkür eines Tyrannen oder Despoten , von dem Gutdünken einer siegreichen Barbarenhorde abhängen sollten. Auch die Gemeinde-, Gau-, Provinzial-, Volks- und Staatsgenossenschaften sind meistens die allmähligen Produkte, die Gebilde von Jahrhunderten und Jahrtauſenden der Kultur und die Beachtung und Konservirung der Einheit und Selbstständigkeit derselben ist der erste, elementare Begriff der Politik und Civilisation. Ist aber die Autonomie der verschiedenen Gemeinden und Völkerschaften eines Staates mit dessen Einheit , Thatkraft und Bestand vereinbar ? Würde der Staat in seiner Lebensfähigkeit, Machtentfal= tung und Eristenz auf die Länge der Zeit nicht gefährdet sein , wenn er nicht die verschiedenen Bestandtheile , aus denen er zusammengesezt ist, per fas et nefas zu absorbiren , zu assimiliren suchte , sowohl in 5* ,

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Betreff der Nationalität und Religion , als auch der Gesetzgebung und der Institutionen, Sitten und Gebräuche ? Mit andern Worten : ist neben der Geltendmachung, Erhaltung und Gleichberechtigung jeder wenn auch noch so geringfügigen Nationalität , die Vereinigung verschiedener Völkerschaften, Nationen zu einem Staatsganzen, iſt die Vereinigung z . B. nicht nur aller deutschen Volksstämme zu einem Bundesstaate, ſondern auch aller skandinavischen Staaten zu einem ſkandinavischen Reiche und aller slavischen Völker mit Belaſſung und Gleichberechtigung aller ihrer Sprachen zu einem einzigen großen Staatsganzen ausführbar, sodaß es Dauer und Lebensfähigkeit verspräche ? Diese Frage reduzirt sich eigentlich auf die, ob in einem Staate, in welchem neben der Autonomie der Gemeinde, noch die eines Kreises besteht, welcher mehrere Gemeinden umfaßt , die eines Gouvernements, welches mehrere Kreise begreift , die einer Provinz , eines Königreichs, oder Generalgouvernements, welches aus mehreren Gouvernements zusammengeſeßt iſt — auch noch autonome Ländercomplere bestehen könnten , welche mehrere autonome Provinzen , Generalgouvernements, Völkerschaften oder Königreiche in ſich faſſen ? Wir sehen, daß die zwei scheinbar einander entgegengesezten Tendenzen der Dezentralisation, der Geltendmachung der Nationalitäten und Autonomie aller Gemeinden und Völkerschaften einerseits, und die Vereinigung aller stammverwandten Nationen zu einem Ganzen andrerseits sich im Grunde als eine und dieselbe Zeitidee erweisen

und die zweite nur durch die Realisirung der ersten in unsern Zeiten möglich ist. Das erste Beispiel der Realiſirung dieser Doppelidee , welche als solche jezt erst zum Bewußtsein der Massen kommt , gab Polen , mit dem sich schon seit dem 14. Jahrhundert freiwillig verschiedene Völker und Staaten vereinigten, als da waren Rothrußland, Lithauen, PreuBen, Livland, Kurland 2c. mit Beibehaltung ihrer vollständigen Selbst= ſtändigkeit und Gleichberechtigung mit dem Kronlande, nicht nur in Sprache und Religion , sondern auch in der gesonderten Adminiſtration, Gesezgebung, in der Heeresorganiſation, in Münze u . s. w. Und Polen wurde immer größer und mächtiger, solange es die Eigenthümlichkeiten der mit ihm vereinigten Völker und Staaten respektirte. Als aber nach dem Aussterben der Piasten und Jagiellonen die auswärtige, undulösame Dynastie der Wasas auf den polnischen Thron er= hoben wurde, durch welche der Einfluß der fanatischen Jesuiten allmächtig wurde und man in Folge dessen begann die Katholiken, vor den Dissidenten, zu bevorzugen , das mit Polen eben vereinigte Schweden und Rußland mit der römischen Kirche wieder vereinigen zu wollen

69 da begann auch der seiner Grundidee und Miſſion untreu gewordene kolossale Staat in seinen Grundfesten zu wanken und die Schweden- und Kosakenkriege haben es auch neben und in Folge der Bevormundung durch die unduldſamen Jesuiten zu Grunde gerichtet. Fanatischer, einseitiger , verkehrter , verdorbener und gefährlicher für die Aufklärung, Erziehung und Anleitung des Volles als die Je― fuiten ist aber die griechisch-katholische Geistlichkeit von griechischer und großrussischer Abstammung , unduldſamer, als die schwedische und sächsische Dynastie in Polen , hat sich bis jezt die gottorpsche in Rußland erwiesen. Wenn sich das nicht ändert, so hat das koloſſale Rußland dieselbe Katastrophe zu gewärtigen, wie sie das nicht minder be= deutende Polen der Vergangenheit durchgemacht hat. Dieselben Ursachen bringen dieselben Wirkungen hervor. Auf der Grundlage derselben Idee der Föderation wie Polen, find die Vereinigten Niederlande und die Schweiz zwar nicht groß und mächtig , aber sehr kräftig , reich und glücklich geworden. Die Verschiedenheit der Abstammung, der Sprachen und Religionsbekenntnisse hat in keinem von den genannten drei Staaten ein Hinderniß der Vereinigung, aber auch keinen Gegenstand der Benachtheiligung gebildet. Eine solche Gleichberechtigung der Sprachen und Bekenntnisse und Provinzialeinrichtungen wie in Polen , Holland und der Schweiz, herrschte auch in dem bisherigen Königreich Savoyen, wo die französische Sprache neben der italienischen in den Kammern, Gerichtshöfen, Schulen 2c. gebraucht wurde. Aber allmächtig ist diese Idee der Autonomie und Föderation erst seit der Entstehung der Vereinigten Staaten von Nordamerika, seit dem ungeheuren Anwachsen ihrer Bevölkerung, ihres Reichthums und ihrer Macht innerhalb eines Jahrhunderts , ſeit der Bewährung der Kraft ihrer Freiheiten und Inſtitutionen , der Gleichberechtigung und Selbstständigkeit aller Bürger , Sprachen , Bekenntnisse , Gemeinden ― und Staaten in dem leßten Bürgerkriege seit der Proklamation der Grundrechte durch die franzöſiſche Revolution, ſeit der Geltendmachung der Rechte der Nationalität in Italien , Savoyen , auf Griechenlands Jonischen Inseln, in Rumänien und in den Elbherzogthümern , seit der allgemeinen Annahme des Grundgeseßes des englischen Selfgovernements , der Dezentralisation , der historischen Rechte, der Autonomie und Conföderation der Gemeinden , Landschaften nnd Nationen ge= worden. Durch die Annahme und aufrichtige Durchführung dieser Doppelidee ist Desterreich im Begriffe sich völlig zu regeneriren und zur größten , hoffnungsvollsten und einflußreichsten Macht in Europa zu erheben.

70 Auf den Grundsäßen der Autonomie und Conföderation iſt auch Norwegen mit Schweden verbunden und wünscht noch Dänemark mit ihm zu einem skandinavischen Reiche vereinigt zu werden, wie es schon einmal durch die Kalmarische Union vereinigt war. Die erste Nummer der „ Blätter fürs Volk von dänischen Skandinaven“ enthält interessante Details zur neuesten Geschichte der Bestrebungen eine Fö= deration aller skandinavischen Staaten auf der Grundlage der Automie eines jeden derselben zu bilden , von denen wir einige hier mittheilen. Zuerst wird die Frage beantwortet : was ist Skandinavismus ? und warum ist er für Dänemark nothwendig ? In ruhiger, klarer, leicht verständlicher Weise wird dann dargethan , „ daß Dänemark ſich mit Schweden und Norwegen vereinigen muß, wenn wir nicht die Theilung unseres Vaterlandes und die Vernichtung des dä= nischen Volkes erleben wollen. Als selbstständiger Staat können wir nicht existiren und durch die Personalunion mit den Herzogthümern, wodurch Einzelne eine Art von Schein-Daſein für Dänemark schaffen wollen, ist geistiger Untergang, materielle Schwächung und völlige Abhängigkeit von Preußen selbstverständlich, weshalb nur Thoren oder Landesverräther solche Plane hegen können." Es werden dann die Vortheile geschildert, die für Dänemark aus der Vereinigung der drei nordischen Reiche resultiren und in Betreff der Möglichkeit, diese Vereinigung zu Stande zu bringen , verweist die Schrift auf den Plan Karl's XV., den die Völker des Nordens und vorzugsweise wir Dänen uns recht ans Herz legen müſſen . „ Er hat sich stets als aufrichtigen Skandinaven gezeigt. Er war es , der darauf drang , daß Schweden und Norwegen sich mit Dänemark verbinden sollten . Als König Friedrich starb, wurde der Widerstand der schwedischen Staatsmänner zu groß nicht des Königs mehrmals große bekommen, ohne

und es wurde nichts aus der Allianz ; aber das war Schuld . Im Laufe des Winters machte der König Anstrengungen , ein bereitwilligeres Ministerium zu es erreichen zu können ; als konstitutioneller König

mußte er sich seinen Miniſtern fügen. Aber was er konnte, das that er. Zuerst, als die preußische Regierung in Stockholm anklopfen ließ, ob man sich nicht mit Preußen über eine Theilung Dänemarks einigen wolle dieß wissen wir mit Sicherheit, aber nicht, wo die Grenze gelegt werden sollte — da wies König Karl dieses Anerbieten mit Verachtung zurück. Und dann , als unsere Noth im Wachsen nar, that er einen ungewöhnlichen Schritt , um eine Verbindung zu Wege zu bringen , welche die Zukunft des ganzen Nordens sicher stellen könnte. Während des ersten Waffenstillstandes , als die Conferenz in London zusammen war, sandte König Karl einen Brief an Chriſtian IX. und einen an den damaligen Premier-Miniſter Dänemarks , Monrad,

71 in welchem er die Errichtung eines Staatenbundes zwischen den drei Reichen vorschlug. Derselbe sollte den dänischen Theil von Schleswig mit umfaſſen , zu dessen Vertheidigung Schweden und Norwegen aus allen Kräften helfen würden , — nicht mit einer gewissen geringen Streitmacht, wie es während der Allianz -Verhandlungen beabsichtigt war. Für die äußern Angelegenheiten und das Vertheidigungswesen sollte eine gemeinsame Regierung eingesezt werden . Die geseßgebende Gewalt mit dem Rechte der Genehmigung in diesen Angelegenheiten sollte in geseglicher Weise von den einzelnen Versammlungen , den beiden Reichstagen und dem Storthing, auf eine gemeinsame Versammlung übergehen , in der Art zusammengeseßt , daß die eine Kammer, das Unterhaus, von den Völkern selbst nach der Volkszahl, die zweite Kammer, das Oberhaus, von den besondern Versammlungen und zwar gleich viele von jeder gewählt würde, - ein großes Zugeſtändniß, da hiernach Schweden, welches 4 Millionen Einwohner zählt , nicht mehr Männer im Oberhause haben würde, als Norwegen, welches 1½ Million, oder Dänemark , das etwas darüber hat. Endlich forderte König Karl den däniſchen König zur Abſchließung eines Familienpactums auf, welches die Vereinigung der drei Kronen auf einem Haupte an= bahnen könnte. Der dänische und der Conseil-Präsident gingen vorläufig bereitwillig auf diesen Gedanken ein. Gleich nach erhaltener Antwort wandte sich König Karl an seinen Premier-Miniſter, Baron de Geer , und bekam deſſen Einwilligung , auf dem eingeschlagenen Wege weiter zu gehen ; namentlich war de Geer bereit mit Monrad in Unterhandlung zu treten, wovon dieser sogleich benachrichtigt wurde. Dieß ist wichtig. So lange König Karl mit seinem Plane allein ſtand, konnte er nicht sicher sein, Männer zur Ausführung deſſelben zu finden, und so konnte das Ganze zu nichts führen , da Schweden ein konstitutionelles Land ist. Nun war es indessen ausgemacht, daß von Seiten des schwedischen Premier-Ministers auf Entgegenkommen zu rechnen war, und er ist der bedeutendste Mann des jezigen Ministeriums .

Aber was geschehen sollte, mußte schnell geschehen. Monrad arbeitete deshalb einen Vorschlag zu einem Familienpactum aus . E3 dauerte aber eine Zeit lang, ehe derselbe überſandt wurde, und gleichzeitig erfolgte eine Antwort, worin er den Wunsch äußerte, die nähern Verhandlungen möchten aufgeschoben werden, und andeutete, Skandinavien würde, ſeiner Anschauung nach, doch Vortheil davon haben, die Verbindung mit Holſtein und dadurch mit Deutſchland beizubehalten. Monrad gab diese Antwort schwerlich gutwillig ; sie klingt lächerlich, zu einer Zeit, wo deutsche Truppen unseren General HegermannLindencrone aus Jütland herausgejagt und faſt die ganze Halbinsel besezt hatten. Rußland hatte sicher die Hand im Spiele,

72 denn gleichzeitig damit hatte es wohl Chriſtian IX. Hoffnung gemacht, Schleswig -Holstein in Personal - Union mit Dänemark zu bekommen. Jedenfalls war natürlicher Weise Monrad's Antwort genügend , die Unterhandlungen abzubrechen , die von schwedischer Seite unter der ausdrücklichen Vorausseßung eingeleitet waren , daß die gemeinschaftliche Vertheidigung sich auf den dänischen Theil von Schleswig beschränken solle. Man kann es König Karl nicht verdenken , wenn er keine Heeresmacht auf die Beine bringen wollte , um König Chriſtian zu helfen, deutsche Truppen aus deutschen Ländern zu vertreiben. In hohem Grade ist es zu beklagen , daß König Karl's Vorschlag , der eine bemerkenswerthe Verwandtschaft mit den Ansichten hatte, die der Gesandte Frankreichs gleichzeitig auf der Londoner Conferenz geltend machte , von dänischer Seite nicht bisher aufgenommen wurde. Wer weiß , wie viel Blut hätte gespart, wie viel Hohn und Schmach hätte vermieden werden können , im Fall die dargebotene Hand nicht zurückgestoßen worden wäre ! In Karl's XV. ebenso uneigennüßigem, als klugem Vorschlage ist der Zukunftsgedanke des Nordens zum ersten Male in praktischer Form ausgesprochen. Ueber die Einzelheiten der Ausführung können die Ansichten wohl verschieden sein ; aber immer ist es doch dieser Gedanke , der wieder aufgenommen , der verwirklicht werden muß, wenn Dänemark und der Norden gerettet werden sollen.“ Auf die Verdächtigungen , daß König Karl XV. einen centraliſtiſchen Panskandinavismus zu bilden beabsichtige , in welchem die schwedische Nationalität die herrschende sein sollte, antwortet das stockholmer officiöse Blatt Posttidning im October 1865 : „ daß die skandinavischen Reiche sich nicht verschmelzen lassen, sondern ihre politische Individualität behalten und einen Staatenbund mit gemeinsamer Volksvertretung bilden müßten."

Die Idee der Conföderation aller slavischen Völker , welche zur Zeit der Jagiellonen durch Polen , obwohl ohne klares Bewußtsein größtentheils realisirt war , wurde durch die Verschwörung der Dekabriften, welche bei der Thronbesteigung des Kaiſers Nikolaus im Jahre 1825 zum Ausbruch kam , wieder erneuert, und zwar in einem vollständig und klar aufgestellten Programme, welches von dem Slavenkongresse in Prag im Jahre 1848 acceptirt, vervollständigt und in einer Proklamation an die Völker Europas verkündet wurde. Dieser Idee bemächtigte sich das russische Gouvernement zur Zeit Nikolaus und suchte es als Panslavismus unter allen Slaven populär zu machen und für seine Zwecke, für sein Streben nach der Weltherrschaft auszubeuten . Und weil die slavischen Völker alle, mehr oder weniger,

73 in ihrer nationalen Existenz bedroht sind und einsehen, daß es einzeln jedem von ihnen schwer wird, seine Unabhängigkeit zu erringen, ſo iſt es Rußland nicht schwer geworden , alle dieſe Völker dadurch für sich zu gewinnen, daß es ihnen weis machte, es allein sei im Stande und Willens, sie vom fremden Joche zu befreien und zu einem Ganzen zu vereinigen. Unter welchen nicht gesagt. Die Slaven dieß nur unter der Form und Aufrechthaltung einer

Bedingungen dieß geschehen würde, wurde dachten , es verstände sich von selbst , daß der Conföderation und mit Beibehaltung vollständigen Autonomie und Gleichberech-

tigung aller slavischen Sprachen, Religionsbekenntniſſe und hiſtoriſchen Staatengruppen geschehen könnte, das ruſſiſche Gouvernement dagegen dachte nur an die Russifizirung und Schismatisirung aller Slaven. Hätte Rußland im Jahre 1849, als nach der Niederwerfung des magyarischen Aufstandes die Magyaren sich ihm freiwillig anboten und und nicht minder Böhmens , alle Völker Galiziens , Ungarns -Vereinigung Mährens und Illyriens die mit Rußland sehnsüchtig wünſchten und mit Bestimmtheit erwarteten, entschloffen zugegriffen – so wäre Desterreich und die Türkei nicht mehr zu retten geweſen . Rußland wäre bis an die Ufer des Adriatischen Meeres vorgedrungen, und hätte außer Galizien und Ungarn , wenigstens noch die Moldau und Walachei, Serbien und Montenegro gewonnen. Die Türkei wäre eine Enclave Rußlands geworden. Doch höher als die angebliche Befreiung und Vereinigung seiner Stamm- und Glaubensgenossen , höher als die Erwerbung der Weltherrschaft schlägt Rußland seinen Beruf an, gegen die Fortschritte des Um also Bundesgenossen revolutionären Zeitgeistes anzukämpfen. gegen diesen ärgsten aller Feinde zu haben, hat es während der Coalitionskriege gegen die französische Republik und das französische Kaiserreich gekämpft, die stammverwandte Republik Polen, welche sich freiwillig mit ihm vereinigen wollte, als jakobinisch unter seine stammfeindlichen Nachbarn vertheilt und jezt Ungarn Desterreich wiedererobert und wiedergegeben, in der Erwartung, daß dieſes ihm dafür, nach Niederwerfung der Revolution , zur Verſpeiſung der Türkei verhelfen würde, um sich sodann selber als ein schmackhaftes und reif gewordenes Ochsenstück dem gnädigen Gaumen Rußlands preiszugeben.

13. So ein verkehrtes und gefährliches Verfahren Rußlands in dieſen und vielen andern Angelegenheiten, besonders aber das Verfolgen der polnischen und kleinrussischen Nationalität und der katholischen Re-

74 ligion, hat die österreichischen und türkischen Slaven etwas stußig und die Böhmen und Bulgaren, zum großen Theil auch die Illyrier und " Serben zulegt völlig dem russischen Panslavismus abwendig gemacht. Und die Partei der slavischen Föderaliſten wird gegenüber der der centralistischen Panslaviſten nicht nur unter den österreichischen und türkischen, sondern auch unter den russischen Slaven und Unterthanen, nicht nur unter den Polen , Lithauern , Finnen, Kosaken , Klein- und Weißrussen, die ihrer Mehrzahl nach zu den Föderalisten gehören, sondern auch unter den Nachkommen der alten Republiken von Pskow und Nowgorod und selbst unter den Großruſſen täglich bedeutender. Die Föderaliſten in Großrußland sind zwar noch nicht sehr zahlreich, bilden keine compakte Maſſe, keine selbständige Partei , treten nicht öffentlich als solche auf, haben kein sichtbares Oberhaupt ( Großfürst Konstantin und Fürst Suwarow sind sich nicht ganz klar , und nicht konsequent und entschieden genug) und kein eigenes Organ (denn der " Golos “, obgleich er für die Unabhängigkeit und Selbſtändigkeit der herrschenden Kirche iſt und der freiſinnige „ West “ sind noch weit davon entfernt , die Idee des historischen Rechts , der Autonomie und Gleichberechtigung der Glaubensbekenntnisse und Nationalitäten überhaupt in ihrer Reinheit aufzufassen und hoch zu halten ) , zählen aber mehr oder weniger entschiedene Anhänger in den Reihen aller gegenwärtigen Parteien Rußlands , namentlich in der1 ) Regierungs- oder deutschen Partei , deren Organe das ,,Journal de St. Pétersbourg", der „ Russische Invalide“, die ,,Deutsche Petersburger Zeitung u . s. w.; 2) die Centralistisch - constitutionelle oder Englische Adelspartei , deren Organ die „ Moskauer Zeitung " (Moskowskija Wiedomosti) ; 3) die Slavophilen - democratische oder Altrussische = Partei, deren Organ der „ Tag “ ( Den ) iſt, der jezt nur heftweiſe erscheint ; 4) die Nihilisten oder radicale Socialisten- und Republikanerpartei , deren Organe der ,,Zeitgenosse" ( Sowremiennik) und das „ Russische Wort" (Russkoje Slowo) find. Die meisten Anhänger oder Gönner zählen Föderalisten unter den

aber die slavischen

5) Konservativen , die man deswegen auch Föderativ - Konstitutionelle Partei nennt, deren Organe eben der „ Golos" und ,,West" sind. Beide haben schon eine Verwarnung erhalten. Der erstere, weil er der Eroberungspolitik Rußlands in Mittelasien entgegentrat, der andere wegen eines Artikels über das Finanzwesen, in dem er darauf dringt , es möge eine allgemeine Landesversammlung

75 über die Finanzfragen entscheiden, und wegen des Abdrucks einer Rede, die Herr Gr. Stroganow im Gemeinderath von Odessa gehalten und welche dem Finanzminister geradezu vorwirft, die kaiserlichen Befehle zu entſtellen und nach eigener Willkür zu interpretiren , zweierlei Wörterbücher zu haben , eines für die Ausgaben und eines für die Einnahmen u . s. w. Ihre Hauptstüße scheinen die Föderalisten in Großrußland unter den Raskolniks oder Altgläubigen, deren Zahl auf 12 Millionen ſich beläuft , zu suchen und zu finden. Darin aber stimmt die Föderaliſtenpartei aller Slawen mit allen centraliſtiſchen Parteien Rußlands völlig überein , daß die Erekutivgewalt überhaupt und deren Centralorgan insbesondere mit der möglichst großen Machtfülle und den ausgedehntesten Vollmachten zur persönlichen Initiative und dem weitesten Spielraum zur selbständigen Thätigkeit ausgestattet sein müſſe. Ueberall bei den Slaven, wo der nationale Geist sich Bahn brechen konnte, stand an der Spiße der freiesten Staaten ein mit großer Machtvollkommenheit ausgestatteter Fürst :

so in Polen zur Zeit der

Jagiellonen, so in den Republiken von Twer , Nowgorod , Pskow, Polozk u . s. w. , wo meistens lithauische Fürsten als Possadniks auf Lebenszeit berufen , so bei den Kosaken , wo die Atamane auf Lebenszeit gewählt wurden, so in Böhmen und Ungarn zur Zeit der Ziskas, Prokope, Podiebrads, Corvine und Jagiellonen, so in den Republiken von Ragusa, Montenegro, in dem Fürstenthum Serbien u. s. w . Die russische Regierung ihrerseits hat einen so wichtigen Schritt zur Emancipation und Selbſtändigkeit der Bauern, Gemeinden, Kreiſe, Gouvernements und der Presse gemacht, daß sie bloß noch einen zweiten auf der einmal von ihr betretenen Bahn zu machen braucht, um für sich nicht nur die Centraliſtiſch-konstitutionellen und Slavophilen , sondern auch die Konservativen und Föderaliſten zu gewinnen und zwar den, die Autononie und Gleichberechtigung aller Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse , sowie die Mitwirkung der Delegirten aller Provinzial- und Landesrepräsentationen bei der Gefeßgebung und Verwaltung des ganzen Reiches zu begründen ; eher wird ſie jedenfalls die innern Zustände, besonders die Finanzen zu ordnen, den Kredit , das Vertrauen und die Zufriedenheit zu begründen und ihre passive Stellung zu verlassen nicht im Stande sein.

Sie wird die Vervollständigung der Reformen um ſo mehr beschleunigen müssen, als sonst ihr und der ganzen russischen und europäischen Gesellschaft die größte Gefahr von Seiten der republikanischen Nihilisten droht. Die innern Zustände von Rußland sind von so

76 eigenthümlicher Art, daß wenn ſie alle von einer Perſon auch noch so unparteiiſch und objektiv dargestellt werden , übertrieben und unwahrscheinlich erscheinen , deßwegen laſſen wir hier einige Darstellungen folgen, wie sie in den dem ruſſiſchen Gouvernement nicht feindseligen Corresponzen verschiedener Blätter gegeben sind. Unter andern lautet eine Correspondenz vom September 1865 aus Zarskoje Sielo im ,,Journal de Bruxelles" wie folgt: „ Ich habe schon den Serno- Solowijewitsch erwähnt, einen jungen Mann von 25 Jahren, der im Verdachte ist, Verschwörungen ange= zettelt zu haben und der schon 3½ Jahr in der Festung gefangen ge= halten wird. Zwei sehr bedeutende Staatsräthe, der Fürst Suwałow und der General Nazimow versuchten ihn zu erlösen, indem sie ihren Collegen vorstellten, daß eigentlich keine Beweise gegen ihn vorliegen. Das half aber nichts. Er wurde durch das Gericht zu schwerer Arbeit in die Bergwerke nach Sibirien auf Zeitlebens verurtheilt, zuvor aber wie ein Raubmörder auf dem Pranger ausgestellt. Und doch iſt dieſes ein beinahe unschuldiges Opfer. Seine Ansichten sind wirklich sehr extrem und radikal, aber er gehörte zu keiner Verschwörung. Seine Leidensgenossen , die Dichter Michailow und Tschernischewski , welche ihm nach Sibirien vorangingen, gehen an Auszehrung zu Grunde. Diese Executionen vermindern aber nicht im Geringsten die Zahl der Unzufriedenen. Mehr als jemals spaltet sich Rußland in zwei sehr ausgeprägte Parteien : in Leute, welche der Regierung aus Noth oder aus Ambition dienen, und in Rothe , deren Ansichten die äußersten Grenzen eines abscheulichen Absurdums erreichen. Ihrer Ueberzeugung nach sind Religion , Familie , Staat , Eigenthum Fabeln eines alten Weibes. Aber sie gehen noch weiter und verbreiten die verkehrteste Demoralisation. Im Mittelstande findet man schon eine große Anzahl von Personen, die in wilder Ehe leben und zwar nicht aus augenblicklicher Verirrung, ſondern aus Grundſaß, wie ſie ſelber behaupten ! Das ist das Ende der Welt oder wenigstens der gegenwärtigen Regierung in Rußland. Das ist die schrecklichste Auflösung der menschlichen Geſellſchaft, wie man sie nur je im fieberhaften Traumgesichte. geschaut hat. Herzen erscheint ihnen als Socialiſt und er nennt sich übrigens. selber so. Hier wird er als Reaktionär behandelt und beinahe in Bann gethan. Soweit sind unsere Freunde des Fortschritts schon gegangen ! Und nun, merkt es wohl, giebt es einen Punkt, in dem sie völlig mit der Regierung übereinstimmen und das ist der Haß des Abendlandes. Die Regierung verlangt von denen, die ihr dienen, den Haß des Katholicismus und der liberalen (monarchiſch-konſtitutionellen) Institutionen. Die Nihilisten (so nennen sie sich selber) stimmen mit

77 dieſem Programme völlig überein, aber vervollſtändigen es und verkünden den Krieg dem Christenthum in allen seinen Formen . Was bereitet uns das für eine Zukunft ! Die konstitutionelle Partei exiſtirt leider nicht mehr ! Die Tagesblätter verhöhnen dieselbe, indem sie eine aristokratische Constitution besorgen ; die Nihilisten, welche ihrem schönen Ausdruck gemäß tabulam rasam machen wollen, sind ihr aus demselben Grunde ebenfalls abgeneigt und die Regierung ebenso ', denn die Regierung heißt in diesem Augenblicke die Gebrüder Milutin und diesen ist es ganz angenehm Niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen. Dem einen von ihnen legt man folgende abscheuliche Worte in den Mund : Ich will, daß der Bauer gesättigt sein soll, daß er gut eſſen und trinken soll, damit er sich mit einem gutgefüllten Magen hinter dem Ofen wälzen kann ; ich will , daß er einen guten Pelz und gute Stiefeln haben soll — aber ihn zu bilden und aufzuklären , ihm Freiheit zu geben das wäre eine Dummheit." So also spricht der Herr, zu dessen Lobeserhebungen den pariſern Dekonomiſten es schon an Worten zu gebrechen anfing ! Er arbeitet emfig an dem Ruin des Adels ; hernach kommen die Nihilisten, welche endlich Alles durch vollſtändige Zerstörung nivelliren. Der Zar freut sich, daß sein liebster Sohn dem Throne näher gerückt ist. Dieses Gefühl theilt die Kaiſerin nicht, welche über den Verlust des ältesten Sohnes untröstlich sich auf ein neu (vom Fürsten Galizin) erworbenes und verschwenderisch eingerichtetes Gut (Jlinskoje an der Mündung des gleichnamigen Flusses in die Moskwa, 4 Meilen von Moskau entfernt) zurückgezogen hat. Der gegenwärtige Thronfolger (zu dessen Haushofmeister der Fürst Suwarow ernannt ist), iſt wenig bekannt, wenig gebildet , zeichnet sich durch große Herzensgüte aus und man versichert, daß er weit davon entfernt ist, die grausamen Mittel zu billigen, die in Polen und Rußland angewendet werden ; er hat aber noch keine Stimme im Reichsrathe. Die Regierung, geſtüßt durch Katkow (den Redakteurr der " Moskowskija Wiedomosti “), welchem Herr Schedo -Ferroti mit Recht entgegentritt, verbreitet das Gerücht, daß es die Polen sind, welche Rußland durch Feuerbrände verHeeren. Aber Personen, welche von den mit Brandunglück betroffenen Orten kommen, behaupten, sie rühren von Diebesbanden her , welche die durch dasselbe entstandene Verwirrung benußen und außerdem noch von zwei Arten von Verbrechern : von ruinirten Kaufleuten, die nachdem sie ihre Habe in Sicherheit gebracht, ihre Läden anzünden und sich sogleich für bankerott erklären, und von Beamten , welche durch gerichtliche Untersuchung gefährdet, zum Feuer ihre Zuflucht nehmen, um mit den Häusern zugleich die Papiere zu verbrennen , welche den

78 Beweis ihrer Unterschleife liefern konnten. Einige haben sogar die Regierung im Verdachte, daß sie zu diesem Mittel greift, um die Polen und Nihiliſten bei der Maſſe verhaßt und für sich ungefährlich zu machen, was mir aber unglaublich scheint. Jedenfalls wird es allgemein angenommen, daß die Brände von Petersburg, deren Ursachen bis jezt unbekannt sind, durch die reaktionäre Partei angestiftet worden sind, um die Freunde der Freiheit bei dem Monarchen und dem Volke verhaßt zu machen.“ Zur Charakteriſtik der Nihiliſten wollen wir noch anführen , daß ihr Organ, der „ Zeitgenosse“, im November vorigen Jahres vom Minister des Innern die erste Verwarnung erhalten hat : „ wegen Schwä= chung der Grundsäße der Ehe, wegen Bestreitung des Besitzrechtes der Capitalisten, wegen Verwerfung des Eigenthumsrechtes und wegen Behauptung, daß die besigenden Claſſen dem Nationalwohlstand schädlich und unſittlich seien." Eine zweite Verwarnung hat der Zeitgenosse“ erhalten, weil er über die Bedeutung der orthodoxen Kirche in Bezug auf die vaterländische Geschichte unpassende Urtheile fällt, sich über den Umsturz von Thronen und Altären und über Verspottung der Achtung vor der Religion beifällig äußert und die Erbauung. der Nikolaibahn als Volksbedrückung , sowie das Bauen von Eisenbahnen überhaupt als ein Unheil für die arbeitenden Claſſen darstellt.“ Das „ Russische Wort" (Russkoje Slowo), das zweite Organ der Nihilisten, hat die erste Verwarnung erhalten, „ weil es über Ehe, Eigenthum, Ehre und Moral ſocialiſtiſche und communiſtiſche, vom äußersten Cynismus getränkte , Aussprüche gethan." Die zweite wegen zweier Artikel, welche die Grundlagen der christlichen Religion und socia= listische Theorien haben verbreiten wollen." Die durch diese Verwarnungen gegebene Charakteriſtik der Nihilisten und die oben angeführten Nachrichten des ,,Journal de Bruxelles" über dieselben, gewinnen an Bedeutung , wenn man sie mit einer gleichzeitigen Petersburger Correspondenz der ,,Indépendance Belge" über die Stimmung der Kosaken vergleicht. Sie lautet folgender Maßen: ,,Es ist euch wohl bekannt, daß im Süd-Osten vom europäischen Rußland Gegenden sind , welche von Kosaken bewohnt werden und unter dem Namen der Lande (Zemlia), als : Land der doniſchen, der uralischen, der orenburgischen und der Kosaken des Aſowschen oder Schwarzen Meeres ( Czarnomorzi ) bekannt sind. Diese kriegerischen Stämme haben bis zu diesem Augenblicke beinahe ihre vollständige Autonomie in der Verwaltung der Localangelegenheiten und zugleich ihre eigenthümliche Organiſation, ihre Rechte und Freiheiten aus den Zeiten der polnischen Republik bewahrt." (Nach dem Kriegsetat giebt es in Rußland 9 verschiedene Kosakenlande , welche zusammen über

79 200,000 Mann unregelmäßige Kavallerie , 24Bataillone zu Fuß und 176 leichte Feldgeschüße haben und nöthigenfalls ins Feld ſtellen müſſen, und zwar: 1 ) Donische Kosaken 58 Regimenter mit 112 leichen Feldgeschüßen ; 2) Kuban-Kosaken 12 Regimenter zu Pferd, 9 Bataillone zu Fuß, 24 leichte Feldgeschüße ; 3) Kosaken am Terek oder kaukasische Linien-Kosaken 19 Regimenter zu Pferd, 24 Geſchüße und 3 Bataillone zu Fuß ; 4) Kosaken des Asowschen Meeres zum Küstenſchuß ; 5) Koſaken von Aſtrachan, 3 Regimenter zu Pferd zum Küſtenſchuß ; 6) Kosaken von Orenburg 12 Regimenter zu Pferd ; 7) Kosaken vom Ural 12 Regimenter zu Pferd ; 8) Kosaken der sibiriſchen Linie an der ſibiriſch-chineſiſchen Grenze 10 Regimenter zu Pferd ; 9) Kosaken am Amur, 6 Regimenter zu Pferd, 12 Bataillone zu Fuß, 16 Geschüße.) „ Die jezt eben erfolgte Verwandlung der Lande der orenburgischen Kosaken in ein Gouvernement, kam zuerst in dieser Provinz zu Stande, weil sie die wenigsten Traditionen besigt und man daher vorausseßte, daß sie weniger unlieb diese Veränderung hinnehmen würde, als andere. In diesem Sinne ließ sich das Organ des Kriegsministeriums vernehmen, indem es zugleich erklärte , daß wenn die erste Veränderung dieser Art gute Früchte tragen würde, man mit den übrigen Koſakenländern ähnlich verfahren würde. (Seit dem ist schon die Auflöſung der asowschen Kosaken erfolgt) . Diese , wie es scheint , nuglose und jedenfalls unbequeme Reform ist die Folge der Anforderungen der= jenigen Schule unſerer Staatsmänner, welche nach dem Vorgange von Herrn Schmerling von der Gleichmäßigkeit der Organiſation des ganzen russischen Reiches träumen . Zwiſchen dieſen Herrn und dem geweſenen österreichischen Minister ist nur der Unterschied , daß Herr Schmerling Desterreich centraliſiren wollte, um ihm freiſinnigere (?!) Institutionen, als die geweſenen localen , zu verleihen , während unsere Centraliſten auch diejenigen Landestheile dem gegenwärtigen Centraliſationsſyſteme unterordnen wollen, die bis dahin gewisse Privilegien und Freiheiten genossen haben. Dem Wunsche dieser Herren gemäß, müßte man auch die Grundrechte Finnlands, die Autonomie der Kosaken und die armseligen Ueberreste der den Polen noch belassenen Sonderrechte entreißen. Es handelt sich nun darum, zu erfahren, wie diese Reformen der Centraliſten diejenigen aufnehmen , deren alte Rechte sie aufheben. Was das anbetrifft, da kann ich euch versichern , daß der lezte Ukas, welcher das Land der Kosaken in Gouvernements zu verwandeln verspricht,

eine große Unzufriedenheit in jenen Ländern hervorgerufen

80 Namentlich zeigt sich unter den donischen Kosaken eine Aufregung, welche leicht schwere Folgen nach sich ziehen kann , denn die dortige Jugend ist ziemlich gebildet und mit den Fortschrittsideen vertraut ... Ihr wißt, daß ich im Geringſten nicht zu denjenigen gehöre , die bei der ersten besten Gelegenheit Lärm schlagen, doch glaube ich, daß das,

hat.

was ich angeführt, hinlänglich meine Besorgniſſe rechtfertigt.“ Es genügt daran zu erinnern, daß zur Zeit der ersten Theilung Polens dieselben donischen Kosaken unter der Anführung Pugaczew's, durch die unter ihnen internirten Barer Konföderaten dazu veranlaßt, 1 einen höchst gefährlichen und furchtbaren Aufstand gemacht haben und zwar ebenfalls aus dem Grunde, weil man ihnen ihre Autonomie und Freiheiten nehmen wollte. Ein zweiter Aufstand dieser Kosakenhorden und ihre Verbindung mit den Nihilisten , den unzufriedenen Parteien und unterdrückten Nationalitäten und Glaubensbekenntniſſen , würde eine furchtbarere Katastrophe, als die französische Revolution, sein und die Verwüstung Rußlands und Europas zur Folge haben können .

Doch ist es nicht unmöglich und unwahrscheinlich, daß die rufsische Regierung durch die Erfahrungen ihres eigenen Reiches und diejenigen anderer Staaten Europas belehrt, die Sache nicht auf die Spiße und ihre Unterthanen nicht ferner zu verzweifelten Schritten treiben wird, welche die höchsten Gefahren herbeiführen können. Andererseits darf man auch nicht außer Acht lassen , daß der natürliche Lauf der Dinge, daß der Fortschritt selbst in Rußland stärker ist, als der ihm etwa entgegengeseßte , wenn auch kräftigste Wille einzelner Menschen. Nachdem Rußland einmal den Strom der Bewegung beschritten hat , wird es zum Theil von selbst weiter getrieben. Die Emancipation der Bauern und die Eigenthumsverleihung an dieselben ist selber im Stande, Leben und Fortschritt in die veralteten Zustände Rußlands zu bringen , die gleich einer vulkanischen Kraft , nicht nur die Eisdecke eines todten Waſſers, sondern selbst die Erdrinde bersten zu machen und himmelhoch emporzuheben vermag . Und dort, wo kurz zuvor eine dürre Steppe gewesen, sprudeln auf einmal zahllose Quellen hervor, fließen lustig Bäche und Ströme , lagern sich Seen und treibt die lebendigſte und mannigfaltigſte Vegetation. Wir können heute kaum eine Ahnung davon haben, was für gewaltige und großartige Veränderung und Bewegung in wenigen Jahren diese eine Maßregel der Regelung der Bauernverhältnisse allein in Rußland zur Folge haben wird . Sie wird auf alle Verhältnisse des Staates zurückwirken, dieselben erfrischen, beleben, verändern, verbessern, was sie zum Theil auch schon bewirkt hat. Und die russische Regierung ist auf dem Wege der Reformen bei

81 dieser einen Maßregel nicht stehen geblieben. Obwohl sehr vorsichtig, hat sie doch noch andere Veränderungen und Verbesserungen vorgenommen , namentlich auf dem Gebiete des Heerwesens , der Juſtiz, der Presse und der Gemeindeeinrichtungen , die ihrerseits auch nicht ohne Wirkung bleiben werden. Doch wir wollen in der Beurtheilung derselben wieder Jemand anderen sprechen lassen. Unter der Aufschrift : Die neuen Provinzialinstitutionen in Rußland“ hat die Kölnische Zeitung vom 21. September 1865 (Nr. 262) fol= genden Auffah abgedruckt : ,, Durch die Bauern- Emancipation hat der ruſſiſche Adel nicht nur eine 'gänzliche Umgestaltung seines materiellen Daseins erfahren, er hat durch dieselbe auch einen großen Theil seines politischen Einflusses eingebüßt ; denn es ist sicher keine Kleinigkeit , die unbedingte Herrschaft über 20 Millionen Menschen zu verlieren , aus denen zum großen Theil die Armee ergänzt wurde. Es blieben dem Adel aber noch immer die Vorrechte , welche ihm durch die Urkunde der Kaiſerin Katharina II. im Jahre 1785 übertragen worden waren. Diese Urkunde verlieh dem Adel eine corporative Organisation, durch welche er zu einer geschlossenen Masse vereinigt wurde , während er durch die neu eingeführten Adelsversammlungen die Ermächtigung erhielt, aus seiner Mitte diejenigen Beamten zu wählen , denen fast alle polizeilichen und adminiſtrativen Functionen im Gouvernement übertragen wurden. Durch das in der neuen russischen Gesetzgebung hervortretende Princip , welches die radicale Beseitigung aller Privilegien anstrebt, ist auch dieses anders geworden , und namentlich rauben die neuen Provinzial - Institutionen dem Adel auch den lezten Reſt ſeiner früheren Bedeutung. Das Gesetz vom 1. Januar 1864 verleiht dieſen Institutionen das Recht, über die Kapitalien und Landsteuern der Provinz zu verfügen , namentlich lettere zu repartiren, und überträgt ihnen die Leitung aller Bau- und Aſſecuranz - Angelegenheiten , die Sorge für das Volksverpflegungs- und Volksbildungswesen , mit einem Worte, die Verwaltung aller innern Intereſſen der Provinz . Die durch einen festgeseßten Census zur activen Wahl berechtigten Mitglieder der drei Stände, der Landbeſizer , Städter und Bauern, wählen die Deputirten der Kreis -Landtage , und diese wieder die Deputirten der Gouvernements - Landtage. Beide Versammlungen treten periodisch zusammen und berathen die Angelegenheiten der Provinz ; die Ausführung der von ihnen getroffenen Anordnungen übernehmen permanente Behörden, die gleichfalls durch Wahl geschaffen werden : die Kreis- und Gouvernements - Landämter. So weit ist die Sache in der besten Ordnung. Europa.

Nun sind aber .6

82 zum ersten Male in Rußland zum ersten Stande nicht ausschließlichdie Edelleute, sondern ganz allgemein die Landbesiger gerechnet, und der Census , welcher dieselben zur activen Wahl berechtigt , beträgt nur 200-650 Deßjätinen (855½ -2780½ preuß. Morgen) Land, sodaß eine Menge nichtadliger Besizer an den Wahlversammlungen Theil nehmen kann. Da nun jeder Besizer , gleichviel ob groß oder klein, nur eine Stimme hat, so ist die Zahl der großen adlichen Befizer auf den Wahlversammlungen oft in der Minorität. So ist bei einer Wahlversammlung der Landbesiger der Fall vorgekommen , daß von 80 Wählern 70 nur 14,000 Deßjätinen, die andern 10 dagegen drei oder vier Mal soviel Land , als jene 70 zuſammen besaßen, und doch gebot jeder der 10 großen Besizer , ebenso wie jeder der 70 kleinen , nur über eine Stimme. Dies war aber noch der eigentliche aristokratische Theil der Wähler , der nicht einmal die Hälfte der Deputirten zum Kreis - Landtage wählte ; die andern Deputirten wurden von den Städtern und Bauerngemeinden gewählt. So herrscht denn bei diesen neuen Institutionen das demokratische Element in unverkennbarer Weise vor. Dazu kommen noch eigenthümliche Localverhältnisse. In einzelnen Theilen des Landes giebt es nämlich fast keine Edelleute. Aus diesem Grunde sind im Kreise Nowo - Usen des Gouvernements Samara gar keine Edelleute , sondern ein Beamter, drei Geistliche und 18 Bauern in den Kreis - Landtag gewählt worden. Aber auch in mehreren andern Gouvernements ist der Adel bei den Wahlen in der Minorität geblieben. So wurden z . B. im Gouvernement Kostroma 134 Edelleute , 7 nichtadelige Landbesizer, 46 Geistliche, 29 Kaufleute, 2 Bürger, 5 Perſonen verſchiedener Stände und 146 Bauern zu Kreis - Landtags - Deputirten erwählt ; es kommen also auf sämmtliche 369 Gewählte nur 134 Edelleute. Es war dies durchaus kein parti pris von Seiten der Bauern ; im Gegentheil, diese leztern zeigten dem Adel viele Rücksichten. Wenn man nun bedenkt , daß die Wahlen doch verhältnißmäßig nur kurze Zeit nach der Aufhebung der Leibeigenschaft Statt fanden, die Erinnerungen an frühere Zeiten also wohl noch mitwirken konnten, so spricht es sehr zum Vortheil des gesunden Sinnes im Volke , daß es in einem Falle, wo das Geseß den niedern Classen die Möglichkeit gewährte , die höhern von der Betheiligung an der Leitung der An= gelegenheiten der Provinz fern zu halten , die ihm gegebene Freiheit nicht mißbrauchte und der Intelligenz seiner ehemaligen Herren volle Rechnung trug. Wenigstens ist in Folge dieses ersten Wahlversuchs die Stellung des Adels in den Provinzial - Inſtitutionen im Allgemei= nen immer noch eine sehr günstige.

Wird das aber auch in Zukunft so sein?

Schwerlich !

Der

83 Adel ist in einer sehr schwierigen Lage und muß seine Güter fast à tout prix verkaufen. Dadurch wird sich der Stand der nichtadeligen Besizer sehr verstärken und der große Landbesig muß mehr und mehr in den Hintergrund treten. Dazu kommt noch Eines . Der Dienst in den permanenten Landämtern wird sehr gut befoldet , denn die Mitglieder erhalten selten weniger als 800, meiſt 1000, ja, fogar 1500 Rubel jährlich. Wenn nun die Bauern erst die ihnen dem Gutsbesizer gegenüber noch anhaftende Blödigkeit werden ablegen ge= lernt haben, werden sie es doch am Ende wünschenswerth finden , die fetten Stellen ihren Freunden und Gevattern , und nicht den Edelleuten , zukommen zu laſſen. So kann es denn wirklich dahin kommen, daß die eigentliche Intelligenz ganz von der Verwaltung der Angelegenheiten der Provinz ausgeschlossen wird . Mischt sich dann noch eine ihres Zieles sich bewußte Agitation ein , so kann ein Element von der reinſten demokratischen Färbung zur Herrschaft kommen. Die Geschichte der Entwickelung des russischen Volkes ist übrigens so reich an Wundern , daß sich nach den Geseßen der einfachen Logik nichts vorherbestimmen läßt ; wir müssen also wohl die Zeit auf die in dieſer Hinsicht aufzuwerfenden Fragen antworten laſſen. Bisher haben sich eigentlich nur zwei Organe der russischen Preſſe mit Freimuth über diese Verhältnisse geäußert : die „ Moskauer Zeitung" (Moskiewskija Wiedomosti) und der „ Tag " (Den). Die „ Moskauer Zeitung“ sieht den Organismus des englischen Staatslebens, überhaupt die Organiſation der engliſchen Gesellschaft als ihr Ideal an und wünſcht natürlich, auch das ruſſiſche Volksleben mutatis mutandis darnach eingerichtet zu sehen ; ſie erblickt daher in dieſer Beseitigung des Adels eine große Gefahr für das Land und prophezeit, daß die zur Herrschaft gelangte rohe Volksmasse ihrerseits unter die Botmäßigkeit der ersten besten schlauen Demagogen gerathen werde. Als das geeignetſte Mittel, der Intelligenz, d. h . dem Adel, das Ruder zu sichern, hatte sie vorgeschlagen, daß alle Functionen der ProvinzialInstitutionen von den Erwählten unentgeltlich sollten übernommen werden ; sie hatte diese Ansicht mit dem ihr eigenen Eifer vertheidigt, mit derselben aber doch nicht durchdringen können. Das slawophilistische Blatt, der „ Tag", zollt dagegen den neuen Inſtitutionen den unbedingtesten Beifall. Der „ Tag" erscheint gleichfalls in Mostau und wird von einem höchst geistvollen Manne, Herrn Akſakow, redigirt. Leider ist derselbe aber so vernarrt in sein Slawophilenthum , daß er alles Unglück , welches Rußland in lezter Zeit heimgesucht , den Reformen Peter's des Großen zuschreibt und das Ideal russischer Zustände in der Zeit des Zaren Alexei Michailowitsch, Vater Peter des Großen, sieht. Der ganze Beamtenstand ist ihm ver6*

84 haßt, weil er ein Produkt der Reformen Peter's des Großen ist ; überhaupt hat er einen Zahn gegen alle Gebildeten, weil sie sich eine dem Volke fremde Bildung angeeignet nnd in Folge deſſen alles und jedes Verständniß für die Wünsche und Bedürfnisse des Volkes verloren haben. Er vergißt hierbei unter vielem Anderen auch das , daß nicht die Reformen, wie sie Peter der Große im Sinne gehabt, sondern die schwache und einseitige Weiterführung derselben, die stets mehr die äußere Form, als das innere Wesen im Auge gehabt, den Zwiespalt, der zwischen den Gebildeten und dem Volke in Rußland allerdings besteht, herbeigeführt hat. Ja , selbst die Lauheit, mit welcher der Adel die ihm durch die Adels-Urkunde der Kaiserin Katharina II . verliehenen Rechte bisher benußt hat, rechnet der „ Tag" demselben zum Verdienst an. Wenn der Adel während der Adels - Versammlungen allerlei wilde Exceffe beging , statt sich um die eigentlichen Geschäfte zu kümmern, so sieht Herr Aksakow darin einen formellen Proteſt gegen die große Lüge , in welcher der russische Adel sich durch die Stellung, die ihm Katharina gegeben, verstrickt hatte, und er behauptet, sans sourciller , daß nur das richtige russische Gefühl den Adel vor der " gefährlichen deutschen Wohlanständigkeit " gerettet habe. Der „ Tag" ist natürlich ganz zufrieden , daß nun die Geseßgebung selbst seinem Lieblingswunsche entgegenkommt und den Adel allmählig dem Volke einverleibt. Er, der sonst gegen alles Nichtruſſiſche ſo bitter böse ist, lobt daher auch die Provinzial-Inſtitutionen, obgleich in denselben keine Spur eines urrussischen Elements vorhanden ist. Was sagt aber der Adel selbst zu alle dem ? Vorläufig hat sich nur der moskauer Adel ausgesprochen, und zwar in einer Adresse an den Kaiser, welche in der Sizung der Adels-Versammlung vom 11 . (23.) Januar 1865 mit einer Mehrheit von 270 Stimmen gegen 31 angenommen wurde und ,,in welcher er um Verleihung einer Landesvertretung durch Deputirte des Adels (?) petitionirt." Ehe aber noch die Adreſſe abgeschickt worden war, wurde die Versammlung auf Grundlage eines Senatsbefehls vom 13. Januar v. J. , welcher alle von der Versammlung gefaßten Beſchlüſſe für ungültig erklärte, geſchloſſen . Nachdem in dieser Adreſſe zuerst die Bitte um Einberufung der Vertreter des ganzen Reiches ausgesprochen, wird dann Folgendes gesagt : ,,Auf diesem Wege, Majestät, werden Sie die Bedürfniſſe unſres Vaterlandes in ihrem wahren Lichte erkennen. Sie werden das Vertrauen zur Executivgewalt wieder herstellen, eine pünktliche Erfüllung der Geseze für alle und jeden und ihre Anwendung auf die Bedürfnisse des Landes erreichen. Die Wahrheit wird ungehindert bis zu Ihrem Throne gelangen ; äußere und innere Feinde werden schweigen, wenn das Volk, in der Person seiner Vertreter um den Thron

85 geschaart, beständig darauf achten wird, daß nirgends der Verrath sein Haupt erheben könne.“ Im September v. J. wurde die Moskauer Adelsversammlung zum zweiten Male berufen , tagte bis zum 18. (30.) November und bewies den Muth und die Vaterlandsliebe , wieder auf den Adreßentwurf zurückzukommen, in welchem der Kaiser um Verleihung einer Volksvertretung gebeten werden sollte. Mit 161 Stimmen gegen 28 hat ſiè die Gründe für ihren Schritt und die Erklärung, daß ſie keine erklusiven Rechte für sich beansprucht habe, in das Sizungsprotokoll aufgenommen, damit der Adel jeden Anlaß zu Mißverſtändniſſen und falschen Auslegungen entferne, das Vertrauen seines Kaisers recht fertige und sein richtiges Verhältniß zum Volke befestige." Man hatte nämlich die Sache nicht nur möglichst zu vertuschen , sondern auch zu entſtellen und dadurch unpopulär zu machen gesucht , indem man ge= flissentlich die falsche Nachricht verbreitete , daß der Adel bloß um die Vertretung des ruſſiſchen Adels und nicht um die Vertretung des gan= zen russischen Volkes petitionirt habe. Es ist charakteriſtiſch für die freie Presse in Deutschland und die Korrespondenten derselben aus Rußland, daß soweit uns bekannt, keine einzige deutsche Zeitung den ganzen Tert dreier für die Entwickelung und das Wohl Rußlands so höchſt wichtiger Documente, als da sind die Januar - Adreſſe und das November-Protocoll des Moskauer und die Adreſſe des Riäsaner Adels in Betreff der Verleihung einer Constitution für Rußland und keine einzige einen dieser Bewegung günstigen Bericht gebracht hat. Die Adelsversammlung in Riäſan hat nicht nur eine ähnliche Adreſſe, wie jene moskauer vom Januar v. J. zu votiren , sondern lettere noch zu beglückwünschen beschlossen ; als sich der Gouverneur dem widersezen wollte, wurde sein Schreiben ruhig bei Seite gelegt, der Glückwunsch nach Moskau telegraphirt und eine Deputation nach Petersburg mit der Adresse abgeschickt. In Petersburg empfing der Minister des Innern (Walujew) dieselben und nachdem sie ihr Anliegen ſchriftlich mitgetheilt , forderte er die drei Herren , welche mit dem Adelsmarschall die Deputation bildeten , auf, nach Hause zu reisen ; Andere Adelsver= nur legterer wurde in Petersburg behalten. ſammlungen Rußlands haben sich noch nicht zu der Höhe der Einsicht und Selbstverleugnung oder des Muthes und Patriotismus zu erheben vermocht , um die Wünsche und Bedürfniſſe des Landes nach Volksvertretung , Gleichberechtigung , Vereins- und Versammlungsfreiheit 2c. offen darzulegen. Der Referent der Kölnischen Zeitung über die Verhältnisse in Rußland sagt noch : „ Ganz Rußland ist davon überzeugt , daß die Provinzial-Inſtitutionen nur die Vorstufe

86 zu einer weiteren Entwickelung der politischen Organiſation des Landes find." 14. Wenn sich das bewähren , wenn Rußland Delegirte aller Provinzial- und Landtagsrepräsentationen zur Mitwirkung bei der Gesezgebung , Verwaltung und besonders bei der Ordnung der Finanzen berufen, die Autonomie und Gleichberechtigung aller Nationalitäten und Glaubensbekenntnisse und völlig gesicherte Rechtszustände begründen sollte so würde es mit einem Male alle Slaven und orientalischen Christen und sogar die Polen und Rumänen für sich gewinnen, in Folge deſſen mit den Franzosen und andern katholischen und romanischen Völkern ein inniges , aufrichtiges , zuversichtliches und dauerhaftes Schuß- und Truzbündniß schließen und dann schwerlich von dem Vordringen bis zur Elbe , dem Böhmerwald , dem Adriatischén, Aegäischen, Rothen und Perſiſchen Meere abgehalten werden können. Die immer größere Erleichterung der Communication durch Eisenbahnen, Dampfschiffe, Telegraphen und andere neuere Erfindungen und Einrichtungen gestattet die Bildung, Verwaltung, Consolidirung und Aufrechthaltung zehn Mal größerer Staaten, als es in den vorhergehenden Jahrhunderten möglich war. Wenn nun England vor der Anwendung der neuern Communicationsmittel im Stande war, so bedeutende Beſigungen in so ungeheuren Entfernungen von einander zu erwerben und zu behaupten, als da sind Westindien und Ostindien, Nordamerika, das Kapland und Auſtralien — um wie viel leichter muß es, nach der Erfindung und Anwendung der neuern Communicationsmittel , den slavischen Völkern, welche mit ihren ungeheuren Beſizungen eine compacte Masse bilden , werden , ſich zu einem Staate zu vereinigen. Aber sie bilden nicht nur eine enggeschlossene Phalanx, sondern sie behaupten auch, wie wir das oben angedeutet haben, eine so günstige strategische Stellung , daß sie allen Völkern gefährlich werden und sich selber beinahe unangreifbar machen könnten. Obgleich nun diese Stellung Rußlands ungemein ſtark und drohend sein würde, so wäre doch die Vereinigung aller Slavenvölker noch keine Eroberung aller Staaten Europas durch Rußland und wenn auch die romanischen Nationen einerseits und die germanischen andrerseits, gleich den slavischen , sich zu einem Bundesstaate oder Staatenbunde vereinigen würden, so würde es Rußland schwer werden , jemals über den Böhmerwald hinaus Eroberungen in Europa zu machen. Aber so leicht und wahrscheinlich die Vereinigung aller dicht an

87 einander und unter einander wohnenden Slaven erscheint, ſo ſchwierig und unwahrscheinlich die der, durch große Gebirge und Meere von einander getrennten und durch drei Welttheile vertheilten , Romanen, und noch schwieriger und unwahrscheinlicher diejenige der Germanen, deren Wohnstätten und Beſizungen durch alle Welttheile zerstreut, durch das besprochene Vordringen Rußlands auseinandergeriſſen und deren Sprachen so sehr von einander verschieden sind. Doch wie sich auch die Verhältnisse der romanischen , germanischen und der übrigen europäischen und außereuropäischen Völker und Staaten zu einander gestalten sollten, Rußland würde, wenn es irgend wie die Wohlthaten der Civilisation , der Freiheit und des Friedens zu fühlen und zu schäßen gelernt hätte , sich wohl hüten seine Eroberungen über den Böhmerwald hinaus auszudehnen und sich unnöthiger Weise den größten Gefahren auszuseßen. Denn jede Eroberung Rußlands über den Böhmerwald, die Alpen , den Suezkanal, den Himalaya , die chinesische Mauer und den Großen Ocean würde der Abrundung feiner Grenzen, der Consolidirung seiner Stelung (nicht nüßlich, sondern schädlich sein und die höchst wichtige Freundschaft der Lateiner und Nord-Amerikaner aufs Spiel seßen. So dürften besonnene Regierungen, aufgeklärte Völker und gemäßigte Herrscher Rußlands denken und handeln. Demungeachtet würden ſie, vermöge ihrer vortheilhaften Weltstellung, ein entschiedenes Uebergewicht auf die Angelegenheiten der andern europäischen und außereuropäischen Staaten ausüben. Aber kriegerische , herrsch- und eroberungssüchtige Monarchen, wie Alexander der Große , Karl XII. , Peter I., Katharina II., Friedrich der Große, oder durch revolutionäre Umwälzungen zur Herrschaft gelangte Feldherren , wie Cäsar und Napoleon, würden diese vernünftige Mäßigung nicht immer beobachten , höchst gefährliche und verderbliche Eroberungskriege gegen das Abendland unternehmen und ganz Europa durch Kosaken überschwemmen , wie es Peter I. und Katharina II. wirklich beabsichtigt , Herzog Alba und Napoleon vorausgeſagt und Maria Theresia bei der Unterzeichnung des Theilungsactes von Polen geahnt zu haben scheint, als ſie ſchrieb : „ Wenn ich schon längſt todt bin , wird man erfahren , was aus dieſer Verlegung von Allem , was bisher heilig und gerecht war , hervorgehen werde."

Bweiter

Theil.

15. Aus allem bisher Angeführten scheint es nicht nur möglich, sondern auch höchst wahrscheinlich zu sein, daß Europa sowohl den Ausbruch einer social - republikanischen Revolution , als auch den Ueberfall der Kosaken zu gewärtigen habe, und daß dieser lettere, nicht weniger von Seiten der Selbstherrscher, als auch der Demagogen Rußlands, zu fürchten sei. Was aber die Situation ganz besonders gefährlich macht, ist der Umstand , daß ein Unternehmen, sowohl der Ruſſen, als der Republikaner in Europa, eventuell auch auf die Unterstüßung Seitens der Staaten von Nordamerika rechnen kann , wie es die Haltung derselben, während der leßten Bewegung der Polen in Rußland und der Fenier in Irland, und der Unternehmungen der Franzosen und Spanier in Amerika , bewiesen hat. Wann dieser Sturm über Europa hereinbrechen wird , das wird und kann uns weder der Czar , noch Bakunin, Mieroslawski , Hecker , Steffens , Ledru Rollin , Mazzini, Kossuth , Garibaldi , Johnson , noch andere dergleichen Leute sagen. Das ist aber sicher , daß er jeden Augenblick, bei der ersten besten Gelegenheit losbrechen kann und zwar nicht ohne Aussicht auf Erfolg. Wenn wir aber bei einer solchen Lage der Dinge einer beſtimmt formulirten Voraussicht , Erklärung und Behauptung eines der größten Genies , Kriegers und Staatsmänner , den die Welt je hervor= gebracht hat, begegnen , daß Europa im Verlauf von wenig Jahren republikanisch oder kosakisch werde - so sollte man dies nicht übersehen oder gering achten , sondern ernstlich in Erwägung ziehen und keine Mühe und Opfer scheuen , um diese Katastrophen denn die ― eine schließt die andere nicht aus von unserem Welttheile abzuwenden. Aber ist es überhaupt möglich , so kann man fragen , dieſer fatalen von Napoleon gestellten Alternative auszuweichen ? Giebt es und was giebt es für Mittel und Wege, um sowohl dem Ausbruche einer allgemeinen social - republikanischen Revolution ,

als auch einem all-

89 gemeinen internationalen Kriege vorzubeugen ? Kann man Einrichtungen treffen , um einerseits die Volksmaffen zu befriedigen und sie von Empörungen abzuhalten , andererseits um der Eroberungsluft Rußlands Schranken zu sehen?

Es giebt nicht nur Mittel und Wege, um dieses zu bewirken, sondern dieselben sind zum Theil schon von Napoleon selber angege ben, zum Theil sind sie von der öffentlichen Meinung, den Parlamenten , und sogar von einigen Regierungen und Monarchen Europas dringend gefordert worden. Sie lassen sich kurz in den Worten zu= sammenfassen : Gewährung der Freiheit , Einheit und Selbstständigkeit an alle Nationen Europas, Gleichberechtigung aller Stände , Bekenntnisse und Nationalitäten in allen Ländern , Autonomie der einfachen und zusammengesezten Gemeinden und Staaten , effective Mitwirkung der Landesrepräsentation bei der Gesetzgebung und Verwaltung eines jeden Staates, und endlich und ganz vorzüglich Abschaffung oder bedeutende Verminderung der stehenden Heere. Ist dies Alles aber auszuführen ohne sich großen Gefahren von auf Innen und Außen auszuseßen , ohne Kriege zu unternehmen dem bloßen Wege der Verständigung ? Wir glauben es , sowie alle Diejenigen , die einen europäischen Congreß zu dieſem Zwecke wünschen und fordern. Ja wir glauben nicht nur, daß die eben von uns angeführten Maßregeln auf friedlichem Wege ausführbar, ſondern ſogar daß dieſelben, bei einigermaßen gutem Willen der Betheiligten, leicht und zum Vortheil und zur allseitigen Befriedigung auszuführen seien. Und eben weil wir dieser Ueberzeugung sind, haben wir diese Schrift zu verfassen unternommen. Eine der Maßregeln , zu deren Durchführung die Regierungen Europas gewiß am schwersten zu bewegen sein möchten , die aber für das Wohl der Völker entschieden die wichtigste sein würde , wäre unzweifelhaft die Abschaffung der stehenden Heere ― und doch würden die Regierungen gewiß selber die Initiative zu derselben ergreifen, wenn die übrigen von uns erwähnten Maßregeln durchgeführt , namentlich wenn die internationalen Verhältnisse zur Zufriedenheit Aller geordnet wären - denn dann würden die stehenden Heere als ganz überflüssig sich erweisen und könnten durch andere Heeresorganisationen in jeder Hinsicht viel vortheilhafter erseßt werden. Aber auch die internationalen Verhältnisse sind vielleicht leichter, als man glaubt , zur Zufriedenheit Aller zu ordnen , wenn man bei dem Arrangement nur die wirklichen Bedürfnisse, realen Verhältnisse und gemäßigten Wünsche der Völker und Staaten würde berückſichtigen und ausführen wollen. Eine kurz vor Neujahr in London ohne Angabe des Verfaſſers

90 und Verleger's erschienene Broschüre unter dem Titel ,,Le Moribond de l'Europe" schlägt zur Pacifizirung Europas durch einen europäischen Congreß folgende Territorialveränderungen vor : 1 ) Galizien an ein unabweislich zu rekonstituirendes Polen ; 2 ) Venetien an Italien ; 3) Dester= reichs zum deutſchen Bunde gehörige Länder an Preußen ; 4) an Deſterreich die europäiſche Türkei und eventuell auch Griechenland ; 5) Kleinaſien an Rußland ; 6) Syrien, die Euphrat- und Tigrisländer an England ; 7) Nordafrika an Frankreich. Preußen sollte außerdem die Suprematie über Deutschland erhalten. Darauf würde wohl außer Preußen kein einziger europäischer Staat eingehen. Zunächst würde die franzöſiſche Regierung bei einer so bedeutenden Vergrößerung Preußens kaum durch den Anschluß von Belgien, Holland und der Schweiz an Frankreich das Gleichgewicht hergestellt sehen und nie durch auch noch so große außereuropäische Besizungen. Destreich würde unter keiner Bedingung seine Stammländer gegen andere, Sicheres gegen Unsicheres eintauschen und die Mehrzahl der österreichischen Bevölkerung, besonders die Slaven der Trennung der cisleithanischen von den transleithanischen Landen und dem Anschluß an Preußen auf das hartnäckigste sich widerseßen. Eher würde sich ganz Desterreich sammt den Donaufürstenthümern an einen preußischen Bundesstaat anschließen. Rußland wird nie freiwillig und für keine Recompensation in die

Trennung Polens von seinem Reiche einwilligen. England scheut jeden weitern Erwerb von Ländereien, ebenso wie jede bedeutendere Vergrößerung der europäischen Beſißungen durch andere Großmächte ; es würde unter keiner Bedingung die Theilung der Türkei unter die europäischen Großmächte gutheißen und am wenigsten die Besißergreifung Aegyptens durch Frankreich. liebsten den status quo aufrecht erhalten.

England würde am

Worauf aber Großbritanien und die andern Großmächte unserer innigsten Ueberzeugung nach eingehen könnten und sollten, wäre, daß aus den Staaten des deutschen Bundes , mit Ausnahme Desterreichs, ein deutscher Bundesstaat , unter dem Namen eines deutschen Kaiserreichs unter der Hohenzollernschen Dynaſtie mit gemeinſamern Parlament, Heerwesen, Handelsſyſteme und einer gemeinsamen Kriegsflotte und Vertretung nach Außen gebildet würde. Daneben könnte die Autonomie und Souverainetät der einzelnen deutſchen Staaten, ähnlich wie die Gothas, und sogar der Bundestag als Senat oder erste Kammer beſtehen. Daß dadurch nicht nur der Wohlstand nach Innen, sondern auch die Kraft der deutschen Nation nach Außen ungemein gewinnen würde, unterliegt keinem Zweifel. Aber eben deswegen können un1

91 möglich solche Vorgänge den Nachbarstaaten gleichgültig bleiben , und wenn sie dieselben nicht nur nicht hindern , sondern fördern sollen , so müssen auch sie in ähnlichem Grade gekräftigt werden . Zunächst würden sie auf keinen Fall gestatten daß zum deutschen Bundesstaate Länder geschlagen würden, die bis dahin noch nicht zum deutschen Bunde ge= hört haben. Frankreich würde in solchem Falle ohne Zweifel Belgien beanspruchen , für dessen gegenwärtige Dynaſtie es als Erſaß die mericanische Kaiserkrone in Bereitschaft hält. Kaiſer Maximilian von Merico ist bekanntlich kinderlos und hat die Schweſter des Königs von Belgien zur Frau. Italien müßte Venetien erhalten, und Desterreich müßte dafür, sowie für Galizien (mit Ausnahme der Bukowina) : Bessarabien, die Moldau, Walachei, Serbien und Bosnien, unter der Bedingung der Aufrechthaltung der Autonomie , sowie der Gleichberechtigung dieser Länder und aller seiner Nationalitäten bekommen. Griechenland bekäme Thessalien, Epirus und Kreta . Die Türkei fönnte für die an Oesterreich und Griechenland abgetretenen Provinzen ganz Arabien erhalten, damit es dort mit Hülfe der europäischen Staaten die Sanitätsmaßregeln gegen den Ausbruch der Cholera streng durchführen und aufrechterhalten könnte. Alle ehemals polnischen Provinzen hinwieder müßten zu einem Ganzen vereinigt und mittelst einer Personalunion mit Rußland verbunden werden , unter der Bedingung , daß ſie eine vollständige Autonomie und freiſinnige Conſtitution bekämen, daß der jedesmalige Thronfolger von Rußland Statthalter von Polen sein müßte , daß blos Eingeborene die Aemter verwalten und die Garnisonen von Polen bilden dürften. Auf diese Weise würde Frankreich 536 Einwohner gewinnen.

Meilen und 5 Millionen

Preußen würde 4725 Meilen und 18 Millionen Einwohner erwerben, dagegen 1714 Meilen Land und 42 Millionen Einwohner verlieren, so daß es einen reinen Gewinn von 3000 Meilen und über 12 Millionen Einwohner hätte. Desterreich würde ungefähr 6000 □ Meilen und 9 Millionen Einwohner erwerben und 1876 Meilen und 7 Millionen Einwohner verlieren , so daß es einen reinen Gewinn von 4000 Meilen und 2 Millionen Einwohner hätte. Italien würde 456 Meilen und über 2½ Millionen Einwohner gewinnen. Meilen und 92 Millionen Einwohner Rußland würde 3134

92 erwerben und 1000 Meilen und 1½ Millionen Einwohner einbüßen, sodaß es einen reinen Gewinn von 2134 □ Meilen nnd 8 Millionen Seelen hätte. Griechenland würde ungefähr

1000

Meilen und 1 Million

Einwohner gewinnen. Und die Türkei würde an Territorium ungefähr 7000 Meilen verlieren, und 47,000 Meilen gewinnen und an Einwohnern 8 Millionen verlieren und auch nicht viel mehr gewinnen, also blos an Land einen reinen Gewinn von 40,000 Meilen erzielen. Da aber die Türkei doch nicht auf die Länge der Zeit zu halten ist, so dürfte es am zweckmäßigsten sein, um in Europa mit einem Male einen dauerhaften Zuſtand und Frieden zu begründen, daß man an Desterreich die europäiſche, an Rußland die aſiatiſche und an Frankreich die afrikanische Türkei überließe. Die Dardanellen und der Bosporus, wie auch der Suezkanal und die Straße von Bab el Mandeb würden für neutral erklärt und auch nicht leicht geschlossen werden können , weil die gegenüberliegenden Ufer jeder dieſer Waſſerſtraßen nicht im Besiße eines , sondern jedesmal zweier verschiedenen von den genannten Staaten sein würden , die sich wohl ebenso schwer jemals über die Schließung derselben einigen dürften, wie Spanien und England über die Schließung der Meerenge von Gibraltar. Auf diese Weise würde Desterreich noch das Volk der Bulgaren und eventuell der Arnauten und Griechen erhalten. Rußland die christlichen Armenier und Kurden, von denen es schon einen Theil besigt, sodann die kleinasiatischen Griechen, syrischen Maroniten und Drusen und eventuell die Araber. Frankreich außer den mahometanischen Arabern und Mauren in Nordafrika, noch die christlichen Kopten in Aegypten und die halbchristlichen Abeſſynier. In solchem Falle würden dieſe Großmächte gewiß nichts gegen den Anschluß ganz Hollands (das rein deutsch ist und dessen zwei Provinzen schon zum Deutschen Bunde gehören) mit dessen herrlichen und ausgedehnten , aber wenig bevölkerten Kolonien, welche außer andern beinahe die ganze Inselwelt Hinterindiens umfassen, an Preußen oder vielmehr an den Deutschen Bundesstaat, einzuwenden haben. Somit würde Frankreich noch gewinnen : 45,000 6 Millionen Einwohner, zusammen 45,536 Meilen und Einwohner, so daß es im Ganzen haben würde 55,536 482 Millionen Einwohner. Preußen würde hinzubekommen 19,641 Meilen und

Meilen und 11 Millionen Meilen und

22 Millionen Einwohner, zusammen 22,000 Meilen und 34 Millionen Einwohner, so daß es im Ganzen hätte 27,103 Meilen und 54 Millionen Einwohner.

93 Desterreich würde noch hinzubekommen 5000 □ Meilen und 9 Millionen Einwohner, zusammen 9000 Meilen und 11 Millionen Einwohner, so daß es im Ganzen hätte 20,752 Einwohner.

Meilen und 46 Millionen

Rußland würde noch gewinnen 31,000 Meilen und 16 Millionen Einwohner, zusammen 33,000 □ Meilen und 24 Millionen Einwohner, so daß es im Ganzen hätte 433,000 Meilen und 99 Millionen Einwohner. Mit diesen Territorial-Veränderungen und Anordnungen sollten, unserer Meinung nach, die hauptsächlichsten Bedürfnisse und Bestrebungen der Völker und Staaten erfüllt und sogar ihr Ehrgeiz be= friedigt sein. Sowohl die Selbſtändigkeit und Mannigfaltigkeit der deutschen Volksgruppen und Staatenbildungen, als auch die Einheit Deutſchlands in Gesezgebung, Handels- und Communicationswesen, in Heer, Flotte und Repräsentation nach Außen würden gewahrt sein. Die preußischdeutsche Handels- und Kriegsmarine würde durch die Vereinigung mit der holländischen und durch die Gewinnung der Nordseeufer und der Mündungen des Rheins auf das herrlichste sich entfalten und das Auswanderungs- und Kolonialwesen durch die Erwerbung der außereuropäischen Besizungen Hollands und durch die Beseßung herrenloser Inseln und Landſchaften Auſtraliens auf das vortheilhafteste organiſirt und Jahrhunderte lang ausgebeutet werden können. Dieses alles wird aber nicht eher möglich sein, als bis Desterreich gänzlich vom Deutschen Bunde aufgegeben wird, welches seinerseits erst dann im Stande sein wird, sich zu konsolidiren und abzurunden , nachdem es aufgehört hat, Mitglied des Deutschen Bundes zu sein und mit Preußen um das Uebergewicht in Deutschand zu wetteifern. Desterreich würde dafür die herrlichsten , von drei Seiten vom Meere umspülten, von der vierten von den höchsten Gebirgen gedeckten, in der Mitte von dem bedeutendsten Flusse durchströmten Länder Europas erhalten und damit die höhere Aufgabe, 9 verschiedene Völkerschaften nämlich: Deutsche, Griechen, Romanen, Albanesen, Magyaren Russinen, Bulgaren, Serben oder Illyrier und Tschechen brüderlich zu vereinigen und sie glücklich und sich selber mächtig zu machen. Rußland würde die Mündungen und Quellen seiner wichtigſten Flüsse und damit die nicht minder schöne Aufgabe erhalten, das an den Ufern dieser Flüsse (Niemen , Weichsel , Dniester) wohnende unglückliche Brudervolk mit seinem Schicksale zu versöhnen, um in Liebe mit ihm vereint die höchsten Aufgaben der Menschheit in Geſittung, Kunst und Wissenschaft, Gewerbe und Handel, Wohlstand, Macht und Einfluß zu erstreben - wozu ihnen die Gewinnung der so sehr nöthigen

94 und begehrten Geſtade stets offener und freier Meere (des Persischen, Rothen und des Mittelmeeres ), sowie der wichtigsten und ältesten Kulturländer (Vorderafiens) hinlänglich Gelegenheit darbieten würde. Die Kultivirung Aſiens würde ihnen auf Jahrhunderte genug lohnende Beschäftigung darbieten. Frankreich würde durch den Anschluß Belgiens und die Aufrechthaltung der Autonomie deſſelben, und durch die Beſeßung der wichtigſten Punkte Nordafrikas die Union aller romanischen Völker anbahnen, indem dadurch Spanien und Portugal, Italien (und die Schweiz) in die Mitte zwischen französische Beſizungen zu liegen kämen. Die Kolonisirung und Kultivirung von Afrika, Central- und Süd -Amerika würde die nächste und gemeinsame Aufgabe der Lateiner sein. Nach der Ausführung dieſer Maßregeln und Einrichtungen müßten und könnten dann, ohne Gefahr für irgend Jemand von irgend welcher Seite, die stehenden Heere, wenn nicht gänzlich abgeſchafft, so doch wenigstens so weit vermindert werden, daß in der Regel jeder Staat ungefähr (ähnlich wie in Nordamerika) nur Tausend Soldaten auf eine Million Einwohner unter Waffen in Europa halten dürfte. Denn von Eroberungen wenigstens in diesem Welttheile könnte nicht füglich die Rede mehr sein. Durch Arrangements , wie sie eben angegeben, würde die Einheit und Autonomie einer jeden Nation , einer jeden Völkerschaft Europas, so vollständig hergestellt und gesichert, die Grenzen der Staaten so abgerundet , natürlich und vortheilhaft, die Lasten der Bürger so vermindert sein , daß bei einer ausgedehnten Einrichtung des Wehrsystems nach Art des schweizerischen und nordamerikaniſchen, neben dem allgemeinen Wohle und allſeitiger Zufriedenheit, auch die Ruhe und Sicherheit nach Innen und Außen auf das vollkommenste gewahrt wäre. Damit soll nicht gesagt sein, daß fortan keine Besißveränderungen Es würden sich under Staaten Europas mehr stattfinden könnten. zweifelhaft auch künftighin mehrere Staaten mit einander freiwillig zu einem Ganzen vereinigen , Provinzen sich von einem Staate loslösen und mit dem andern verbinden . Es würde nur der große Unterschied stattfinden, daß sie, wenigstens in Europa, nicht leicht mit Gewalt und wider Willen, zu ihrem Nachtheil , von dem einen losgelöst und an den andern geschlagen , mit einem Worte , erobert werden könnten, sondern daß sie dies freiwillig und zu ihrem Vortheil thun würden, ohne daran lange gehindert werden zu können. Nicht Waffengewalt, sondern die Uebung strenger Gerechtigkeit , gute Unterrichtsanstalten, Communicationsmittel, Handels- und Gewerbe-Geseze und Einrichtungen, kluge und vortheilhafte Finanzwirthschaft, wirksame und doch nicht läſtige Polizei, Armen- und Wohlthätigkeitspflege würden die Mittel sein, mit

95 denen man künftighin Eroberungen machen dürfte. Wahrlich! Mittel, würdig Europas und des neunzehnten Jahrhunderts !

16. Preußens Regierung , obgleich sie sich manche unverantwortliche Gewaltthaten, sowohl nach Außen wie nach Innen , hat zu Schulden kommen lassen, besißt unstreitig viele gute Eigenschaften, die ihm trog . ſeiner territorialen Zerriſſenheit und Gefährdung durch die benachbarten Großmächte, gewiſſe Aussicht und Berechtigung zur Erweiterung ſeiner Beſigungen gestatten. Preußen hat die besten oder mit die besten Unterrichtsanstalten, Communicationsmittel, Poſtanſtalten, Militaireinrichtungen , mit die freieſten Gemeindeeinrichtungen , das unbestechlichste und mit Ausnahme weniger Höfe das unabhängigſte Gerichtswesen , und was nicht weniger als das Vorhergehende zu bedeuten hat : es hat die geordnetsten und blühendsten Finanzen. Wäh= rend alle andern Staaten des europäischen Continents auf das tiefste verschuldet sind, in immer größere Schulden verfallen, mit ihren Einfünften nicht ausreichen können, aus Mangel an Geld die dringendsten und nüglichsten Einrichtungen, Anstalten und Bedürfnisse des Staats unerfüllt lassen, ihren Feinden und Concurrenten oft weichen und nachgeben, die vortheilhafteften Situationen zu Zwangsmaßregeln unbenußt laſſen müssen ist dagegen Preußen fortwährend mit bedeutenden Geldvorräthen versehen, stets schlagfertig und verschafft sich oft dadurch die Vortheile des Sieges , ohne sich den Nachtheilen des Krieges auszusehen. Durch gute Wirthschaft und Geldvorräthe haben die Hohenzollern ihre Herrschaft begründet, oft und sogar in der neuesten Zeit auf das vortheilhafteste erweitert und werden oder können sie wenigstens noch ins Unendliche erweitern . Wenn sie die Kaiserkrone des deutschen Bundesstaates erlangen und ihre guten Einrichtungen noch vervollkommnen, wenn sie besonders die Autonomie und Gleichberechtigungen der verschiedenen deutschen Bundesstaaten , Religionsbekenntnisse , Nationalitäten (Lithauer, Polen, Wenden, Wallonen, Dänen), politiſchen Parteien streng aufrecht halten und pflegen würden, so könnten sie mit · ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, daß sich Preußen und dem deutschen Bundesstaate mit der Zeit, außer ganz Holland , auch Dänemark, Norwegen und Schweden , ja wenn Rußland seine Unduldſamkeit den Andersgläubigen und Anderssprechenden gegenüber nicht aufgeben sollte, auch Finnland und alle Ostseeprovinzen, ganz Desterreich, wenn dieſes wieder zum Bach'schen Syſteme zurückkehren sollte , die Schweiz und sogar vielleicht England anschließen würde , sodaß es allmählig der

1 96

Mittelpunkt für die Vereinigung aller germanischen Staaten dieses und der andern Welttheile werden könnte . Dergleichen Eventualitäten sind schon in den Gesichtskreis von Alltagsbetrachtungen gezogen worden. Das stockholmer officielle Blatt ,,Post och Inrikes - Tidningar" vom October v. J. brachte einen längern Artikel über den Skandinavismus , der mit Q (Quant, Privatsekretär des Königs von Schweden) unterzeichnet war , in welchem es unter Anderm heißt : ,, Von einer Verschmelzung der drei skandinavischen Länder kann keine Rede sein, sondern nur von einem Bunde, der sich dem germanischen Mitteleuropa und England anzuschließen habe. Ein fest organisirtes Skandinavien müsse sowohl den Deresund , als die Häfen des nördlichen Eismeeres beherrschen und seine Flotten seien die natürlichen Alliirten der jest entstehenden deutschen Seemacht an der Ostsee . England , Skandinavien und Deutschland haben gemeinsame Interessen . " Durch diese Idee und Tendenz veranlaßt, hat der Hof und das nement von England Preußen nicht unbedeutende Dienste wäher uv Go rend des leßten polnischen Aufstandes , des dänischen Krieges und der Gasteiner Convention geleistet . Aus diesen Neigungen und Erwä = gungen sind auch die Heirathen des englischen Thronfolgers mit einer dänischen Princessin und der englischen Prinzessin mit dem Kronprinzen von Preußen entstanden . Das Alles sind nicht zu verachtende Symptome

einer sehr wichtigen Bewegung der Geister . In dem Streben nach der Hegemonie über die germanischen Völker hat Preußen weniger die Concurrenz Desterreichs und Englands , als die Nordamerikas zu besorgen . Es ist möglich und sogar wahrscheinlich, daß wenn nicht ganz Großbritannien, so wenigstens Theile davon , wie z . B. Jrland , eher mit Nordamerika als mit Preußen sich vereinigen würden .

17. Desterreich , glaubt man ziemlich allgemein , sei dem Untergange geweiht , könne sich unmöglich auf die Länge der Zeit halten und müsse bei der ersten besten Gelegenheit in die verschiedenen Bestandtheile zerfallen , aus denen es zusammengesezt ist. Es kann auch unmöglich geleugnet werden , daß in Desterreich beinahe alle Zweige der Verwaltung bis jest nicht nur vernachlässigt, sondern corrumpirt worden sind , so das Unterrichts- , Gerichts- und Adminiſtrationswesen , besonders in den außerdeutschen Gegenden , sodann das Post- und Handelswesen und ganz vorzüglich das Finanzwesen. Denn alle diese und andere Institutionen wurden zu andern Zwecken verwendet und mißbraucht , als sie ihrer Natur und ursprünglichen Bestimmung nach dienen sollten . Sie alle wurden großen Theils

97 der Marotte geopfert , alle Einwohner Oesterreichs zu Katholiken und Deutschen zu machen, obgleich es kaum einen Beamten , geschweige denn einer Staatsmann , in Desterreich giebt , der im Ernste daran glaubt, daß dieß selbst nach Verlauf von Jahrhunderten möglich zu machen wäre. Da es sonst keinen Sinn hat, so entsteht ganz unwillkürlich, aber naturgemäß und nothwendig , sowohl bei den Beamten als bei der Bevölkerung die Vorstellung, daß dieses und Alles andere im Staate zur Bequemlichkeit und zum Nußen der Beamten — und nicht zum Wohle des österreichischen Volks, Staats und Gemeinwesens geschieht. Die natürliche und nothwendige Folge dieser Verhältniſſe ist die Bildung der österreichischen Bureaukratie, die sich als Selbstzweck fühlt und gerirt und das Volk und den. Staat zu seinem Vortheile ausnutt. Was Wunder, wenn Veruntreuungen und Bestechlichkeit der Beamten allgemein , wenn das Volk, dem das Recht und die unentbehrlichsten Institutionen vorenthalten werden, steuerunfähig, der Staat geld- und kreditlos , kriegs- und banquerott wird.

vertheidigungsunfähig gemacht und

Es ist richtig, daß es keinen buntſchäckigern Staat in der Welt giebt und gegeben hat, als der österreichische iſt. Er besteht aus acht Hauptnationalitäten und drei Hauptreligionsgemeinschaften, die beinahe alle gleich zahlreich in ihm repräsentirt sind . Und kaum von zwei dieſer Nationalitäten (der czechischen und magyariſchen) ist der Schwerpunkt in Desterreich , von den sechs andern (der deutschen, polnischen , ruſſi= schen, romänischen, serbischen und italieniſchen) und von allen Bekenntnissen ist er außerhalb des österreichischen Staates : die Italiener in Venetien und Südtyrol wollen sich von Oesterreich sobald als möglich loslösen und mit Italien vereinigen , die Polen und Ruſſinen sehnen sich nach der Vereinigung mit Polen und Rußland, die Walachen von Siebenbürgen und vom Banate nach der Union mit dem rumänischen Staate, die Kroaten , Slavonier, Dalmatiner und die Slaven vom Litorale, von Görz, Gradiska, Krain, Kärnthen und Steiermark wünschen die Vereinigung mit dem Fürstenthume Serbien , die Magyaren wollten sich von Desterreich trennen und selbst die deutschen Desterreicher wollten sich im Jahre 1848 mit dem deutschen Bundesstaate vereinigen. Und troß alle- und alle - dem irren , nach unserer festesten Ueberzeugung, alle diejenigen gewaltig , die da behaupten, daß ganz Dester= · reich auseinander fallen müsse. - Nein. Es ist keine innere Noth= wendigkeit dafür vorhanden. Im Gegentheil. Wenn die österreichische Regierung die nicht zu realiſirenden Marotten aufgiebt, zu welchen namentlich die Germanisirung und Benachtheiligung der nichtdeutschen 7 Europa.

98 und nichtkatholischen Einwohner zum Vortheil der deutschen und katholischen, sowie das Streben nach Hegemonie über Deutschland und Italien gehört , wenn es bei Zeiten vortheilhaft losschlägt ,, was unmöglich auf die Länge der Zeit zu halten ist, wenn es namentlich Venetien und Südtyrol an Italien , Holstein an Preußen möglichst theuer verkauft und die ruſſiſchen und polnischen Landestheile gegen die Donaufürstenthümer eintauscht dann kann es mit einem Male seine Finanzen in Ordnung bringen , ſein Militair ohne die geringſte Gefahr bedeutend reduciren , seine Einkünfte auf produktive Inſtitutionen verwenden und seine Völker aufgeklärt , wohlhabend , glücklich machen und sich dieselben auf. immer verpflichten. Daß Oesterreich Venetien und Galizien früher oder später aufgeben muß , ist wohl ſo ziemlich unzweifelhaft. Geschieht dieß in Folge eines Krieges, so muß es freilich auf jede Remuneration und Compenſation verzichten, stürzt sich in noch größere Schulden und läuft Gefahr, außer diesen beiden Ländern noch andere Gebietstheile zu verlieren. Doch abgesehen von diesen beiden Königreichen und von Holſtein, auf dessen Erwerb und Erhaltung selbst der Wiener Hof sich wohl keine Hoffnung macht , sind bedeutend mehr Gründe für das Zusam= menhalten, als für das Auseinanderfallen der übrigen österreichischen Länder und Provinzen vorhanden. Wer das Auseinanderfallen von ganz Desterreich in seine natürlichen Bestandtheile für wahrscheinlich und nothwendig hält , oder wer da glaubt, daß sie bloß durch den Kitt des deutschen Elements zuſammengehalten würden und zuſammengehalten werden könnten , der kennt entweder die innern Verhältniſſe dieses Reiches nicht genau oder will sie nicht kennen , und hat sich nicht die Mühe gegeben , fie genauer zu betrachten und zu erwägen. Die zwischen den Alpen und Karpathen ansässigen Völker sind so in einander geschachtelt und verzweigt, daß sie unmöglich sich trennen können, ohne daß eins und das andere von ihnen den empfindlichsten Schaden leidet und seine Existenz der größten Gefahr ausseßt. Im Verlaufe von Jahrhunderten sind sie in einander gewachsen , wie die Siamesischen Brüder , und eine gewaltsame Trennung derselben würde ihr Tod sein. Im Jahre 1848 hätten sich die österreichischen Deutschen sowohl einer deutschen Republik als auch einem deutschen und daß Kaiserreiche unter Friedrich Wilhelm IV. angeſchloſſen dieses nicht geschehen, daß damals kein deutscher Bundesstaat zu Stande kam , ist kein anderer Grund , als nur der , daß das deutsche Parlament alle österreichischen zum deutschen Bunde (und preußiſche nicht zum Bunde) gehörigen Länder mit dem deutschen Kaiserreiche vereinigen wollte, und daß die nicht deutsche Bevölkerung dieſer Länder auf

99 das entſchiedenste dieſem Anſinnen entgegentrat, zunächst durch den Slavenkongreß in Prag. Andrerseits werden nicht nur die auswärtigen Mächte, die deutschen Völker und Regierungen, nicht nur Preußen jemals zugeben, daß Oesterreich das Uebergewicht und die Oberherrschaft in Deutſch= * land erlange sondern auch ganz besonders seine eigenen Völker, welche es verhindert haben und verhindern müssen , daß Deutschland in Desterreich oder Desterreich in Deutschland aufgehe, oder daß Desterreich zwischen Deutschland und Ungarn getheilt werde. Nicht die Anwendung des Grundsages : divide et impera durch die österreichischen Staatsmänner, wie man fälschlich, obgleich ziemlich allgemein behauptet, nicht die österreichische , nicht die russische Regierung hat es zunächſt verhindert , daß sich im Jahre 1848 Ungarn nicht von Desterreich trennte , sondern dieselben Volkselemente und Volksintereffen, die den Anschluß der österreichisch- deutschen Länder an Frankfurt verhindert haben. Das Zerfallen , die Theilung Desterreichs zwischen Deutschland und Ungarn im Jahre 1848 hat Niemand anders als die Böhmen und Serben aus ihrem wohlverstandenen Nationalintereſſe verhindert und werden es auch künftighin mit allen Kräften immer verhindern müssen, freilich bloß das Oesterreich zwischen und nicht hinter , den Alpen und Karpathen. An der Festhaltung von Venetien und Galizien haben sie kein Intereſſe. Im Gegentheil sie würden sie sobald als möglich los ſein wollen, nur womöglich im Guten und mit Vortheil. Das Interesse an der Aufrechthaltung eines solchen österreichi= schen Staates hat darin seinen Grund , daß die Böhmen oder vielmehr die slavischen Tschechen nicht nur das zum deutschen Bunde gehörige Königreich Böhmen , die Markgrafschaft Mähren und das Herzogthum Schlesien bewohnen, in denen die Deutschen kaum den fünfsondern auch das nordwestten Theil der Bevölkerung ausmachen liche Ungarn, wo unter dem Namen der Slowaken beinahe die Hälfte der ganzen 7 Millionen zählenden tschechischen Nation ansässig ist. Ebenso find die gleichfalls 7 Millionen zählenden Serben oder Illyrier sowohl auf die zum deutschen Bunde gehörenden Provinzen (Steiermark, Kärnthen, Krain, Görz, Gradisk, Iſtrien , Trieſt) , als auch auf die zu Ungarn zählenden Länder (die serbische Wojewodschaft, das Temeſer Banat , das Königreich Kroatien und Slavonien und die Militärgrenze), sodann auf das österreichische Dalmatien und außerdem auf die türkischen Beſigungen (Kroatien, Bosnien , Herzego = wina, Nisch) und endlich auf das Fürstenthum Montenegro und Serbien vertheilt. Es ist also ganz natürlich , daß die österreichischen und ungari7*

100 schen Serben unter Jelachich sowohl die Ungarn bekämpften , welche sich von Desterreich losreißen, als auch die deutschen Desterreicher (die Wiener) , welche sich dem deutschen Bundesstaate in Frankfurt an= schließen wollten , und daß sie darin von ihren Landsleuten aus türfisch Serbien unter dem General Kniazewitsch unterstügt wurden. Denn durch den Anschluß der zum deutschen Bunde gehörigen österreichischen Länder an einen deutschen Bundesstaat, würden die böhmi- · schen und illyrischen Slaven von ihren Landsleuten in Ungarn ge= trennt und der Germaniſation preisgegeben sein. Aber wenn auch nur Ungarn sich von Oesterreich losreißen und Desterreich einem centraliſtiſchen deutschen Kaiserreich nicht einverleibt sein würde , so würden doch die Tschechen und Serben unter zwei Staaten getheilt sein. In ihrem Intereſſe iſt es daher ganz besonders, daß bei aller Autonomie die verschiedenen österreichischen Lande zwischen der Eger und der Save ſo eng als möglich mit einander verbunden werden. Nachdem nun auch die Magyaren bemerkt haben, daß sie bei einer Losreißung von Desterreich nicht nur gegen die österreichische Staatsgewalt, nicht nur gegen die Deutschen, sondern auch gegen die tschechi= sche und illyrische Bevölkerung zu kämpfen hätten — so haben, wenn nicht alle, so doch die Meisten und Einſichtigſten unter ihnen alle ſeparatistischen Tendenzen auf immer aufgegeben . Und selbst wenn es ihnen wirklich gelingen sollte einen ganz unabhängigen magyarischen Staat zu errichten , so würden sie ihn nicht halten können, indem er gänzlich vom Meere abgeschnitten wäre. Aus eben dem Grunde können auch die Böhmen nicht an eine völlige Losreißung von Deſterreich denken und ebenso wenig ſie, als die Magyaren, Walachen und Deutsche die Losreißung der Südſlaven von Deſterreich zugeben . Alle diese Völker sind ineinandergewachsen, durch die Donau und das Adriatische Meer unauflöslich an einander gekettet und durch die Alpen, den Böhmerwald, das Erzgebirge, Riesengebirge, die Sudeten und Karpathen in einen gemeinsamen Zwinger auf ewig eingepfercht. Außerhalb dieser natürlichen Grenzen nun gehören noch zu Desterreich die Polen und Russen in Galizien und die Italiener in Venetien und Südtyrol. Und da es vorderhand rein unmöglich ist alle Polen, Russen und Italiener mit Oesterreich zu vereinigen , so wäre es gerathen, die österreichischen, welche doch immer mit ihren Brüdern ſich zu vereinigen suchen werden, bei Zeiten für Geld und gute Worte freiwillig aufzugeben und gegen solche Völker einzutauschen, deren bedeutender Theil schon eng mit Oesterreich verbunden und der Reſt leichter zu erlangen ist, als alle Italiener, Polen und Ruffen. Solche ;

101 Völker sind die Walachen in Bessarabien, Moldau und Walachei und die Illyrier im Fürstenthum Serbien, türkisch Kroatien, Herzogowina, Nisch und Montenegro. Auf diese Weise würde Desterreich außer 2 Millionen Einwohner und 4000 Meilen mehr , als es jezt hat, noch die ganze untere Donau, das ganze rechte Ufer des Dniester , die Mündungen dieſer beiden Flüsse und die zwischen denselben liegenden Geftade des Schwarzen Meeres und damit viel leichter als jezt zu vertheidigende Grenzen gegen Rußland (die Karpathen und den Dniester) und Italien (die Alpen) erhalten. Aber was mehr als das Alles zu bedeuten hätte es würde statt der jeßigen zwei ganzen Völker (die Tschechen und Magyaren) und der Bruchſtücke von sechs andern (Polen, Deutsche, Italiener, Rumänen, Jllyrier) , vier ganze Nationen (Tschechen, Magyaren, Jllyrier und Rumänen) und nur zwei kleine Bruchstücke einer fünften (Deutſche) und sechsten (Ruſſen) Nation beſigen. Wie ungeheuer Oesterreich dadurch an Conſolidirung, Kraft, Sicherheit und Bedeutung gewinnen würde , braucht nur erwähnt , um be griffen zu werden. Seine Aufgabe würde alsdann ungemein einfach, flar und leicht sein. Desterreich ist im Begriffe und durch seine ethnographischen Verhältnisse und Zustände vor allen Staaten der Welt dazu berufen und genöthigt die Formen des Föderativsystems am reinsten und konsequentesten durchzuführen und auszubilden. Versteht es seine Völker zu befriedigen und zu beglücken, wozu Nichts weiter nothwendig wäre, als sie bloß sich selber zu überlassen, so würde die Donaukonföderation eine ungemeine Anziehungskraft auf die benachbarten Völker ausüben.} Wenn die Türken sich nicht außerordentlich mit Reformen, Fortschritten, guten Einrichtungen und Concessionen für ihre Völker beeilen, wozu bis jezt noch gar keine Aussicht vorhanden ist , so dürften ſich alsdann zunächst die Bulgaren , Albanesen und vielleicht auch die Griechen an die Donaukonföderation anschließen , wodurch Desterreich Konstantinopel gewinnen und bis an den Bosporus , das MarmaraMeer, die Dardanellen und den Archipelagus gelangen würde. Gesezt Rußland würde zu derselben Zeit an das aſiatiſche Ufer dieser Meere und Meerufer gelangen , aber seine Centraliſation , Unduldsamkeit und Verfolgung Andersgläubiger und der unterworfenen Nationalitäten nicht aufgegeben, die Willkür und Bestechlichkeit seiner Beamten nicht beseitigt , eine ordentliche und moralische Finanzwirthschaft nicht eingeführt , die Gleichberechtigung der Glaubensbekenntnisse und Nationalitäten nicht gesichert, die Autonomie der Gemeinden und Völkerschaften nicht begründet haben --- so könnte es leicht geschehen, daß es nicht nur seine polnischen und rutheniſchen, sondern .

102 alle seine europäiſchen und aſiatiſchen Besitzungen an Desterreich verlieren oder vielmehr, wie das Königreich beider Sicilien seine Dynastie gegen eine andere, hier die habsburgisch-lotharingische eintauschen würde. Das Prinzip der Dezentraliſation, des Selfgovernements und der Föderation neben einer ungelähmten , ſtarken Central- und Exekutivgewalt wird in der nächsten Zeit die gewaltigste , unwiderstehlichſte, welterobernde Macht werden. Welche von den Großmächten sie am frühesten , am reinſten und konſequentesten bei sich durchführt , wird unzweifelhaft das Uebergewicht über die übrigen erlangen.

18. Rußland könnte seiner günstigen Territorialverhältnisſſe wegen den meisten und ausgedehntesten Nußen aus dem Föderativsystem ziehen, aber es ist noch von allen Großmächten am meisten davon entfernt, es anzuwenden. Doch wird es sich wohl beeilen müssen , dasselbe bei sich einzuführen, wenn es sich der Gefahr nicht wird aussehen wollen, dieſes Prinzip in Galizien , in der polnischen und ruthenischen Frage von Desterreich und in den Ostseeprovinzen in der deutschen , lithauischen und finnischen Nationalsache von Preußen als Hebel gegen sich ausgebeutet zu sehen. Wenn Rußland den Anforderungen der Neuzeit, besonders der Gleichberechtigung der Stände , Confessionen und Nationalitäten, den wohlerworbenen und begründeten Rechten, Privilegien und Autonomien der Gemeinden, Völkerſchaften und hiſtoriſchen Ländercomplere nicht Genüge thun und sich dadurch völlig lähmen und isoliren sollte - so könnte es leicht geschehen, daß Frankreich, England, Preußen und Desterreich, in Betreff der Elbherzogthümer, der Rheinlande, Venetiens und der Donaufürstenthümer Arrangements treffen würden , ohne weitere Befragung , Berücksichtigung und Compensation Rußlands. Doch die Befreiung der Bauern, die Verleihung des Eigenthums an dieſelben und die Gewährung der, wenn auch noch so beschränkten, Preßfreiheit und Provinzialinſtitutionen werden nicht verfehlen ihren regenerirenden, aufklärenden, belebenden und veredelnden Einfluß auch auf dieses Reich auszuüben. Durch Tradition , Wiſſenſchaft und Publiziſtik werden die Erinnerungen an die Rechte, Freiheiten und Einrichtungen der alten Republiken von Twer , Nowgorod und Pskow, an die republikaniſchen Inſtitutionen und Gewohnheiten der verſchiedenen Kosakengemeinden oder -Orden und der durch Union mit der polnischen Republik vereinten zahlreichen Staaten wach werden und Sehnsucht nach denselben erwecken. Der Geist der Autonomie , Toleranz, Föderation, der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird in

103 seinem Vaterlande, wird auf dem klassischen Boden zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meere, zwischen den Quellen der Oder und der Wolga, wo er am frühesten sich herausgebildet und am längsten geblüht- nicht verloren gehen, wenn es auch möglich sein sollte die Sprache und Religion der Einwohner dieser Gegenden zu verändern. Dieser Geist, der aus jedem Pergament und Papier, aus jedem Stein und Hügel, aus jedem Mährchen und Liede der Vergangenheit spricht, er wird sich bald wieder Geltung verschaffen und auf die übrigen Länder und Völker des russischen Reiches seinen Einfluß ausüben. Ja der Umstand , daß die Moskowiter und deren Zaren den Namen und die Geschichte der Reussen usurpirt haben , sich für Ruſſen (Ru thenen) ausgeben und zum großen Theil selbst halten , veranlaßt sie auch den Geist, die Traditionen, die Gefühle und Tendenzen derselben sich anzueignen. Es ist möglich und wahrscheinlich, daß sie aus diesem Grunde mit der Zeit auch ihren Dialekt sich aneignen und zur Amtssprache erheben , daß sie Kiew, die Hauptſtadt derselben, zu ihrer Haupt- und Reſidenzſtadt erklären und erheben werden , und zwar um so mehr, als jezt schon die Publizistik die Moskowiter gewöhnt hat, Kiew für ihre heilige Metropole zu halten. Wenn die Natur der Dinge die Großfürsten von Lithauen , ursprünglich die erbittertsten Feinde der Russen und Polen , veranlassen konnte , die russische Nationalität anzunehmen und zu pflegen und Polen weiser und ge= obgleich sie nicht rechter als irgend eine andere Dynaſtie zu regieren ― die Macht der — ; wenn ſein zu Lithauen aufhörten Großfürsten von DynaHabsburgischen der aus Desterreich von Verhältnisse den Kaiser stie, welche durch so viele Jahrhunderte und noch unlängst die deutsche Kaiserkrone getragen und jezt noch als die erste deutsche Großmacht den Vorsiß im deutschen Bunde führt , zwingen konnte der flaviſchen Bevölkerung gerecht zu werden und den Schwerpunkt seiner so kann man wohl mit Regierungsgewalt in dieselbe zu verlegen Recht annehmen , daß auch die Moskowitischen Zaren aus dem deutschen Hause von Holstein-Gottorp , sich als Kaiser aller Reuſſen , Atamane aller Kosaken , Könige von Polen nicht nur tituliren, sondern mit der Zeit auch fühlen und aufführen werden. Dazu veranlaßt sie nicht nur ihre Pflicht, sondern auch ihr Vortheil . Denn diese Titel, Gefühle und Intereſſen führen sie wie ähnliche Preußen und Desterreich nach Schleswig-Holstein , einerseits bis nach dem zum Theil von Russen bewohnten Ungarn, andrerseits bis nach dem zum Theil von Polen bewohnten Schlesien und Pommern, ja bis zur Saale, in welche Boleslaus I. eiserne Grenzpfähle, nach den Volksliedern der Polen, geschlagen haben soll, oder wenigstens nach Galizien und den Provin= zen Preußen und Posen. Rußland wird auch bald einsehen , daß es

104 nicht eher aufhören wird ein asiatischer, die civilisirten Völker Europas nicht anziehender , sondern abstoßender und abschreckender Staat zu sein - bis es seinen nationalen , politischen, intellektuellen und moralischen Schwerpunkt von der Wolga und Newa , an den Dniepr und die Weichsel verlegt. Es hat zwar neulich die Times sehr richtig gesagt, daß Rußland ſchon um deswegen ein großes Uebergewicht auf seine Umgebung ausüben muß , weil es sehr groß ist , denn wie in kosmischer , verhalte es sich auch in politischer Hinsicht, daß je größer der Körper, die Maſſe, sie desto größere Attraktion auf die sie umgebenden geringern Objekte ausübe. Eben dadurch, daß Rußland einen viel größern Theil der ruſſiſchen , polnischen , lithauischen und slavischen Völker beſigt , als Preußen, Destreich und die Türkei , jeder Staat einzeln und alle drei zuſammen , ruft es bei den betreffenden Völkern das Streben hervor, sich mit der Hauptmasse ihrer Landsleute unter russischer Herrschaft zu vereinigen , da es ihnen wahrscheinlicher erscheint , daß eher Rußland als Preußen alle lithauischen und polnischen Landestheile , eher Rußland als Desterreich alle russischen und polnischen Volksstämme, eher Rußland als die Türkei oder irgend ein anderer Staat alle orien= talischen Christen und slavischen Länder zu vereinigen im Stande ist. Rußland, als der einzige mächtige slavische Staat , spielt den Slaven gegenüber dieselbe Rolle, wie Preußen den deutschen Ländern gegenüber. Aber nicht nur die materielle Masse, sondern auch die materielle Macht Rußlands übt diese Attraktion auf die verwandten und benachbarten Elemente aus . Denn wie die moralische und intellektuelle, hat auch die materielle und phyſiſche Kraft ihre Bedeutung und Berechtigung, nicht minder bei einem Volke , wie bei einem einzelnen Menschen. Ohne die leßtern sind die andern dem Volke unmöglich zu erwerben und zu behaupten . Wer diese hat , dem ist die Möglichkeit gegeben, sich alle die übrigen noch zu erwerben. Von allen Kräften ist auch die phyſiſche am schwersten zu erwerben , sowohl für den, der sie von der Natur nicht erhalten , als auch für den , der sie vergeudet hat. Es ist also ganz natürlich, daß man diese lettere Kraft zunächst als eine solche anerkennt , pflegt und achtet , daß man sich ihr zuvörderst anvertraut und unterordnet, denn jedem ist es und muß es zunächst um die Sicherstellung seiner Existenz sich handeln, die nur durch physische Gewalt geſchüßt sein kann . Da nun Rußland allein unter allen slavischen Staaten kräftig dasteht , so wären auch alle Slaven nothgedrungen bereit , die Führerschaft und Oberherrschaft deſſelben anzunehmen und anzuerkennen , wenn ſie nur nicht beſorgten, daß es aller Sittlichkeit , Kultur und Einſicht bar seine Kraft ſtatt zum Schuß, zu ihrem Verderben gebrauchen würde. Weil aber die Ver-

105 einigung aller jeßt und ehemals polnischen und slavischen Landestheile die schwierigste und wichtigste Aufgabe ist , Rußland aber , wie barbarisch , verkehrt und verdorben es auch ist , sich doch mit der Zeit bessern könne und bessern müsse , unterdeß aber als das geeignetste und einzige Mittel dieser Vereinigung erscheint , so würde es bei der Ausführung derselben von Seiten ſeiner Stammgenoffen keine Schwierigkeiten, aber auch keine Unterſtüßung finden, so lange es bei sich ge= ſicherte Rechtszustände nicht eingeführt hat. Darüber sind sowohl die Polen als auch die übrigen Westslaven schon hinaus , zu glauben, daß die Regierungsform oder Dynastie allein es ist , welche das Glück einer Nation begründen kann . Aus Liebhaberei , um die eine Dynastie gegen die andere oder auch die Monarchie gegen die Republik zu wechseln , werden sie nie zu den Waffen greifen , und um so we= niger dieserhalb ihre Existenz oder Einheit auf das Spiel seßen. Aber wie unentbehrlich und bedeutend auch die physische Kraft und Macht der Staaten bei der Entwickelung der Weltereignisse sein mag, allein ist sie von kurzer Dauer und jede der übrigen, sowohl die materielle oder finanzielle , die intellektuelle, als auch ganz besonders die moralische sind im Stande ihr die Spiße zu bieten.

An

dem winzigen , aber gebildeten , reichen , nüchternen , einfachen und für die Freiheit und Selbſtſtändigkeit begeisterten Griechenland und Holland zerschellten die größten Monarchien der Welt, welche Rußland weder an Größe, Einwohnerzahl , Bildung , noch Hülfsquellen verhältnißmäßig nachſtanden , noch an Willkürherrschaft , Satrapenwirthschaft und religiöser , nationaler und politischer Unduldſamkeit übertrafen. Wie unzählige andere kolossale Reiche im Alterthum und im Mittelalter, in Aſien und in Europa find ſpurlos verschwunden, weil sie blos durch physische Gewalt gehalten wurden , während von den gebildeten Völkern , wie oft und wie lange sie auch von Barbaren oder Despoten unterworfen sein mochten , kein einziges untergegangen ist. Ebenso sind die so sehr und so lange verfolgten Christen und Juden, diese durch ihre materielle , jene durch ihre moralische Kraft erhalten und mächtig geworden. Auch Savoyen ist mehr durch moralische als physische Eroberungen zu seiner jeßigen Macht und Bedeutung gelangt. Nun kann freilich Rußland auf keine von diesen Kräften Anspruch machen und zählt ſomit zu den barbariſchen Horden , von denen die meiſten als reine Naturmenschen in moraliſcher Hinſicht viel höher standen als die Russen. Ungeheure Trunk- und Stehlsucht, Veruntreuungen, Bestechlichkeit brauchen blos erwähnt zu werden , um den moralischen Abgrund zu bezeichnen , in den Rußland verſunken. Der Verkauf und die Besteuerung der Getränke bilden die Haupteinnahmen

106 der Gutsbesißer und des Staates , welcher , um seine und des Adels gänzlich ruinirte Finanzen zu retten , die Mäßigkeitsvereine untersagt hat. Der Staat und das Land sind so sehr von allem Gelde und Credite entblößt, daß mitten im Frieden die Regierung weder im Inlande noch im Auslande eine Anleihe zu machen im Stande iſt. Um den Grad der Bildung in Rußland zu bezeichnen , wird es hinreichen darauf hinzuweisen , daß es daselbst fast noch gar keine Volksschulen , wenigstens keine den Namen verdienende Volksschullehrer giebt, daß die Sonntags- und Abendschulen verboten , die Mittel- und Gelehrtenschulen von sehr wenig gebildeten Leuten beseßt, von 475 Universitätskathedern 248 vacant ſind , und daß auf die höchsten ausgeſeßten Prämien für wiſſenſchaftliche Werke und Auffäße gar keine oder ganz werthlose Arbeiten eingehen , sodaß die Prämien nicht gezahlt werden können. Und in dieser Hinsicht unterscheidet sich das Verhältniß Rußlands gegenüber den Ruſſinen , Lithauern , Polen und den übrigen Slaven sehr bedeutend von jenem Savoyens den Italienern gegenüber und dem Preußens den Deutschen gegenüber. Die Intelligenz , gesittete und gesicherte Zustände, gute Adminiſtration und Rechtspflege sind es hauptsächlich , welche diese beiden Staaten zu den Führern und Oberherrn der stammverwandten Völker machten und Portugal zu machen im Begriffe ſind - denn größer als Savoyen war in Italien das Königreich beider Sicilien und bedeutend größer als Portugal iſt in Jberien Spanien. Was Savoyen und Preußen die Vereinigung der ſtammverwandten Stämme vielmehr als Rußland erleichtert, das ist die Einheit der Schriftsprache , welche durch das freie Wirken der Literatur geschaffen ist. Alle diese großen Vorzüge , Kräfte und Vortheile sind , als die schönsten und kostbarsten Früchte der Freiheit und Civilisation, nicht von staatswegen durch Gewaltmaßregeln zu erzwingen , wie es Rußland zu erreichen glaubt und bestrebt ist , sondern nur durch freie Bewegung, Concurrenz und edlen Wetteifer in einer langen Reihe von Jahren zu erlangen. Zu dem Zwecke müßte Rußland neben der allgemeinen Preß´freiheit , auch die Lehrfreiheit und die Gleichberechtigung der Nationalitäten , Bekenntnisse und Stände einführen. Da die Mehrzahl der Slaven Großruſſen und orientalische Chriſten ſind, so brauchte Rußland auch dann die Concurrenz der andern slavischen Nationalitäten und Bekenntnisse nicht zu besorgen , wenn es auch schon alle Slaven mit seinem Reiche vereinigt hätte und dieß um so weniger, da der Thron und die Regierung in der Gewalt der griechischen Großruſſen

107 ſind , die von selbst , das liegt in der Natur der Sache , ohne jede Nachhülfe eine große Attraction und bedeutendes Uebergewicht auf alle Untergebenen ausüben. Außerdem wird die Zahl der Großruſſen, abgesehen von der natürlichen Vermehrung, tagtäglich noch ungeheuer durch die Russifizirung der aſiatiſchen Völker in Europa und Aſien vergrößert, während die Bevölkerung der West- und Südſlaven einen nicht unbedeutenden Abbruch durch Deutsche , Italiener und Griechen . erleidet. Wenn bei solchen Verhältnissen die russische Regierung zum Schuße der Großrussen , der russischen Sprache und Staatskirche, den übrigen Völkerschaften und Glaubensbekenntnissen gegenüber, harte Ausnahmemaßregeln trifft , den Gebrauch der polnischen und ruthenischen Sprache beschränkt oder gänzlich verbietet , keine polnischen und ruthenischen Bücher und Zeitschriften in Rußland herauszugeben gestattet, die An= zahl der Polen und Katholiken auf den Gymnasien und Univerſitäten auf den zehnten Theil der Studirenden beschränkt , die Polen im Beſig und Erwerb des Grundeigenthums , in der Benußung der Kreditanſtalten beschränkt und nicht den Ruſſen gleich zu allen Aemtern zu= läßt so begeht sie dadurch nicht nur die unerhörteste Barbarei und das schreiendste Unrecht , und bedeckt sich nicht nur mit der größten Schmach und Schande sondern sie fügt sich selber , dem herrschenden Stamme und dem ganzen Staate , einen unerseßlichen Schaden an. Eine Schmach ist es für sie die, wenn auch eitle , Besorgniß zu verrathen, daß die Großruffen , obgleich an Zahl allen übrigen Völkern des Reiches überlegen, doch die Concurrenz in intellektueller Hinsicht nicht auszuhalten im Stande wären. Den größten Schaden aber verursacht sie dadurch , daß die Großrussen durch diese Maßregeln vor der Concurrenz mit andern Nationalitäten gesichert, die Ausbildung der geistigen Kräfte vernachlässigen. Wenn irgend etwas das russische Volk, die eigentlichen Moskowiter , aus ihrer moralischen und intellektuellen Versumpfung herausreißen, ihren Geschmack und ihre Gefühle veredeln , ihre Phantaſie beleben, ihre Sprache bereichern und bilden, ihren Erfindungsgeist befruchten, ihrem Sinn und Charakter Selbſtändigkeit und Originalität verleihen, ihrem Genius Schöpferkraft einhauchen, ihre Civilisation beschleunigen könnte und würde — so wäre es der edle Wetteifer mit den ihnen gleichgestellten Polen und Russinen und die Gleichberechtigung der polnischen und russinischen mit der großrussischen Sprache und überhaupt die Gleichberechtigung aller Nationalitäten, Bekenntnisse und Stände in Rußland. Sowohl das alte Griechenland als auch das jeßige Italien und Deutschland verdanken ihre gebildete Sprache, hohe Kultur, ihre reiche

108 Literatur und Kunst der Mannigfaltigkeit, Autonomie, Gleichberechtigung und dem Wetteifer der verschiedenen Gemeinden, Völkerschaften, Dialekte und Staaten. Rußland ist in der seltenen Lage , die Vortheile sowohl der Mannigfaltigkeit der Dialekte und selbständigen Sprachen als auch der autonomen Gemeinwesen und Ländercomplexe, durch welche Griechenland , Deutschland und Nordamerika groß ge= worden, mit den Vorzügen einer ſtarken Centralregierung , wie ſie Frankreich aufweist , glücklich verbinden und ausnüßen zu können. Thut es dieß., so wird es bald aller seiner Mißstände ledig und zunächst und vor Allem der Bestechlichkeit , der Veruntreuungen und Mißbräuche der Beamten , die keine Verbesserung der jeßigen Zustände erlauben. Wenn es den Besiß , die Schulen , Aemter, Credit- und alle an= dern Institute allen Nationalitäten, Bekenntniſſen und Ständen gleich zugänglich macht, dann gewinnt es eine hinlängliche Anzahl gebildeter, fähiger und rechtschaffener Leute, denen es die Leitung öffentlicher Angelegenheiten mit Vortheil anvertrauen kann . In Folge der größeren Leistungsfähigkeit der Beamten ist es wiederum im Stande , die Zahl derselben zu vermindern und die Gehalte zu vermehren und auf diese Weise der Bestechlichkeit , den Defekten und verschiedenartigſten Mißbräuchen vorzubeugen. Und indem Rußland dadurch und durch die Gleichberechtigung der Nationalitäten und Bekenntniſſe und die Gewährung der Autonomie an dieſelben alle Bewohner ſeines Reiches zufriedenstellt so kann es bei seiner überaus glücklichen und gesicherten Lage das stehende Heer ohne alle Gefahr ungemein vermindern und das dadurch ersparte Geld ( im Jahre 1864 fürs Kriegswesen ohne Flotte 120 Millionen S.-R.), wenn auch nur die Hälfte des jeßigen Kriegsetats im Betrage von 60 Millionen S.-R. zur Hälfte für das Unterrichtswesen, also 36 Millionen S.-R. (statt der bisherigen 6 Millionen S.-R. ) zur Hälfte für die Schiffbarmachung der Flüsse , Canal- und Eisenbahnbauten, alſo 47 Millionen S.-R. (ſtatt der bisherigen 17 Millionen S.-R. jährlich für die sämmtlichen Bauten des ganzen Reichs) verwenden. Auf diese Weise würden ungefähr 100 Meilen Eisenbahn jährlich allein auf Staatskosten gebaut , so daß in 6 bis 10 Jahren von Moskau bis nach China und Ostindien, bis nach Peking und Calcutta Eisenbahnen hergestellt werden könnten (von Tiflis nach Tauris wird sie schon gebaut, von Kabul nach Delhi wird sie bald, von Delhi nach Calcutta ist sie schon fertig). Nach der Ausführung solcher Eisenbahnlinien würde Rußland bei der Hälfte des jeßigen ſtehenden Heeres viel schlagfertiger und vertheidigungsfähiger sein , als gegenwärtig. Ab = geſehen von andern unermeßlichen Vortheilen würden jede tausend Meilen

109 Eisenbahn für Rußland während des Krieges mehr Vortheile darbieten, als jede halbe Million Soldaten. Auf die Belebung der Kultur des Landes aber würden die erwähnten Maßregeln wie ein allgemeiner Landregen auf die ausgedörrte Steppe wirken. Derartige Förderung und Vermehrung der Kommunikationsmittel , der Rechtsſicherheit und Bildung würde den Handel, Verkehr, die Gewerbe und die Industrie, die Künste und Wissenschaften , den Reichthum und die Einwohnerzahl, die Steuer- und die Vertheidigungsfähigkeit Rußlands unglaublich vermehren und fördern, und hundert Mal mehr Einwohner, besonders im Süden und Osten des Reiches , ohne Zuthun der Regierung , ruffifiziren , als jezt durch die gewaltſamſten Ausnahmemaßregeln. Ja , die gebildeten und begabten Polen und Kleinruſſen würden als russische Lehrer , Offiziere , Beamte in jenen Gegenden angestellt durch ihren persönlichen Einfluß gewiß nicht weniger als die Großrussen selbst zur Beschleunigung dieses Prozesses beitragen, so daß , wenn auch in solchem Falle in West- oder Südrußland ein Prozent mehr Kleinrussen als gegenwärtig poloniſirt würden , die Ruſſifizirung 99 Prozent mehr als jezt betragen würde. Der natürliche Gang der Verhältnisse und der Kultur bringt es mit sich , daß das Deutschthum , was es im Westen und Süden am Terrain an die Franzosen und Italiener einbüßt , es im Norden an den Dänen und im Osten an den Slaven, besonders an den Polen, mit Prozenten wieder gewinnt , und daß die Polen sich dafür im Lande der Kleinrussen, diese im Gebiete der Großrussen und die Großruffen zulezt am reichlichſten in finnischen und tatarischen Landschaften entschädigen. Nichts ist für die Entwickelung in Kunst und Wissenschaft , Gewerbe und Handel, Kirche und Staat gefährlicher, als die Sucht der Uniformirung, als die Tendenz alles gleich, alles nach einer gegebenen Schablone, sogar mit Anwendung von Gewaltmaßregeln gemacht zu sehen. Diese niedrigste und roheste Stufe der Willensäußerung scheint Rußland noch nicht überwinden zu können. Dieſe verkehrte Richtung vergeudet die ganze Kraft der Nation , mißbraucht ihre Anstrengungen, Opfer und Gefühle zur Unternehmung von unmöglichen , nußloſen und schädlichen Dingen, gewöhnt die Gemüther an Gewaltthätigkeiten und an die Freude am Zerstören . Sie wüthet mit der ganzen Kraft eines Naturmenschen in den Eingeweiden ſeines eigenen Körpers . Was könnte sie leisten, wenn sie alle ihre Begeisterung , ihre Anstrengung und Opfer zum Aufbauen, statt zum Zerstören anwenden würde. Mit Hülfe der Stammgenossen und der wanderlustigen Kulturvölker des Abendlandes würden die Steppen am Schwarzen , Asowschen und Kaspischen Meere, an dem Aral- , Balchas- , Iſſikul- und Baikalsee sich bald in blühende Getreidefelder, Obst- und Gemüse-

110 gärten verwandeln, der Kaukasus, Ural, Altai, Mustag und Belurtag von Bergwerken und Fabriken wiederhallen, mit Badeorten und Villen sich schmücken , mit Badegästen und Reisenden sich beleben , unzählige Dampfschiffe auf der Wolga, auf dem Dniepr und der Weichſel, zwischen dem Baltischen und Schwarzen Meere, auf den Kanälen zwiſchen dem Asowschen-, Kaspi- und Aralsee, auf dem Orus und Jarartes bis zu der chinesischen und ostindischen Grenze sich kreuzen, Eisenbahnzüge von der Mündung der Donau, des Dniepr, Don und der Wolga, bis an die Mündung des Nil , Euphrat , Indus , Ganges und Hoangho dahinfliegen und die Fabrikate des Abendlandes nach dem Orient, und die Schäße des Morgenlandes nach Rußland und über Rußland nach * dem Westen verführen. Rußland würde dadurch das Monopol und die Vortheile des Welthandels sich aneignen , wüste Länder und wilde Völker der Kultur zurückführen ; die Wiege des Menschengeschlechts und der ursprünglichen Civilisation, das so lange verlorene Paradies und die heiligen Stätten aller gebildeten Nationen der Welt wiedergewinnen. Und zu alle dem könnten und würden am meiſten die behülflich sein können, auf deren Vernichtung die ganze Kraft des Staates deswegen verwendet wird, weil sie ohne Absicht der Trennung von Rußland ihren Glauben , ihre Sprache , ihre Sitten , Gebräuche und Ge= wohnheiten, weil sie die Sympathie und Vereinigung mit ihren Brüdern und Landsleuten, mit denen sie Jahrhunderte zusammen verlebt, nicht verleugnen , nicht aufgeben wollten. Wir sagten , daß keine Nation der Welt aus der Anerkennung und Durchführung des Princips der Autonomie, Föderation und Gleichberechtigung größern Nußen zu ziehen im Stande wäre , als Rußland wegen seiner ethnographischen Verhältnisse und überaus günſtigen geographischen Lage. England , Frankreich, Spanien , Italien u. f. w. haben ihre natürlichen Grenzen , die sie bei der Ausdehnung Wie große (überseeische) ihres Staates nicht überschreiten können . Beſizungen sie auch haben und erwerben mögen, nie werden dieselben wegen ihrer Lage mit dem Mutterlande in eins verwachsen können. Läge England in Kanada, so hätten sich schwerlich die amerikaniſchen Freistaaten von ihm losgerissen . Wenn aber das anglisirte Nordamerika nicht in Vereinigung mit England zu halten wak , um wie viel weniger wird Ost- und Westindien , das Capland und Australien zu erhalten sein, wenn sie auch England mit Irland und Schottland gleichstellt und ihnen eine vollständige Autonomie ertheilt. In so großen Entfernungen, unter so verschiedenen Verhältnissen werden mit der Zeit auch ursprünglich ganz gleiche Volkselemente und Intereſſen einander ganz fremd und müssen sich trennen, indem eine Verwaltung

111 aus so großer Ferne, je mannigfaltiger sie wird , desto unmöglicher erscheint. Die Abhängigkeit der durch Meere getrennten Erwerbungen und Kolonien ist nur eine Zeit lang mit Gewalt der Waffen aufrecht zu erhalten. Rußland aber kann sich nach Süden und Westen noch sehr weit ohne Unterbrechung ausdehnen , bis es an große, äußere Meere, bis es an seine natürlichen Grenzen gelangt , bis es alle Bruchtheile der von ihm beherrschten Völker mit sich vereinigt hat. Es wird zwar auch niemals der Waffen gänzlich zur Aufrechthaltung der Integrität seines Reiches entbehren können, am wenigsten in Asien ; aber mehr als durch die Waffen wird es dieselbe wahren, wenn es sich entschließt duldsam zu sein, seine Staatsreligion , Sprache , seine Sitten und Gebräuche den unterworfenen Völkern nicht aufzudringen, die nationellen und religiösen Eigenthümlichkeiten , die Rechte und Einrichtungen der= selben , die hiſtoriſchen Ländercomplere zu reſpektiren , zu pflegen und mit den großrussischen gleichzustellen ; wenn es sich entſchließt, die Autonomie , Individualität und Gleichberechtigung 1 ) Finlands , 2) der Ostseeprovinzen , 3) der ehemals polnischen Landestheile, 4) Südrußlands, 5) Kleinrußlands, 6) Großrußlands, 7) Kaſans und Aſtrachans , 8 ) des Kaukaſus und 9) Sibiriens anzuerkennen und ihre Föderation auf Grundlage der Repräſentativverfaſſung als Ausgangspunkt zu weitern Vereinbarungen in Betreff der staatsrechtlichen und natürlichen Gliederung des Reiches herzustellen ,,, auf daß die Machtstellung der Monarchie durch eine gemeinsame Behandlung der höchsten Staatsaufgaben ( wie sich die böhmische Adresse an den Kaiser von Desterreich ausdrückt ) gewahrt und die Reichseinheit in Beachtung der Mannigfaltigkeit ihrer Bestandtheile in ihrer geschichtlichen Rechtsentwickelung gesichert werde." Es wäre dies unzweifelhaft der stärkste Kitt und das wirksamſte Aſſimilationsmittel nach Innen und die gewaltigſte Anziehungskraft nach Außen. Keines von den mit Rußland vereinigten Völkern würde, wenn es sich selbst überlassen und in keiner seiner Eigenthümlichkeiten angetastet wäre, irgend einen Grund zum Abfall haben , aber sehr viele zum Verbleiben im Verbande und Schuße eines so umfangreichen und kräftigen Staates , in dem es jedes Produkt , jedes Fabrikat , jedes Kapital und jede Fähigkeit zu verwerthen Gelegenheit hätte. Im Gegentheil alle mit den mit Rußland vereinigten Nationen verwandten Volkselemente würden sich von dem russischen Föderativstaate ange= zogen fühlen und besonders die Ruthenen, Polen und die übrigen Slaven, sowie Lithauer, Lappen, Finnen, Kirgisen, Tataren, Mongolen, Parsen und alle orientalischen Christen , wenn sie sogar bei den bisherigen Zuständen Rußlands vielfach ihre Neigung sich mit dieſem Reiche zu

112 vereinigen , zu erkennen gegeben haben, freilich meistens auf die Veranlassung desselben. Dergleichen Verständigungen und Verhältnisse Rußlands mit den Slaven und orientalischen Chriſten find allgemein bekannt, aber weniger bekannt dürften die wechselseitigen Beziehungen der Russen mit den außerhalb Rußlands wohnenden Finnen und Lappen sein.

Da bei den Großruſſen das finniſche Blut überwiegt und ihre gegenwärtige Hauptstadt mitten unter den noch nicht entnationaliſirten Völkern dieſes Stammes ſich befindet, so scheint ihre Aufmerksamkeit hauptsächlich jezt auf die Vereinigung aller finnischen Stämme mit ihremReiche gerichtet zu sein. Von diesen aber sind die sogenannten Nordmarken, der größte, wenn auch unwirthbarſte Theil Schwedens und Norwegens bewohnt, wo sie sich faſt ausschließlich nur mit Fischerei und Viehzucht beschäftigen. Demungeachtet haben dieſe armen Gegenden einen unDa geheuren Reiz und eine ungemeine Wichtigkeit für Rußland. nämlich die Ufer Norwegens ausgezeichnete Häfen haben und diese wegen des hier vorbeifließenden warmen Golfstromes auch im höchsten Norden niemals zufrieren , so würde Rußland durch die Erwerbung dieser Gegenden eine besonders für die Bewachung des Eismeeres höchst wichtige Flottenstation, so wie ausgezeichnete Matrosen bekommen. Unter allen Völkern der Welt nämlich hat Norwegen verhältnißmäßig die meisten und besten Matrosen (Normanen ). Die Griechen nehmen. erst den zweiten und die Engländer den dritten Rang in dieser Beziehung ein. Es ist daher erklärlich, wenn sich Rußland für die ſkandinavischen Lappmarken sehr intereſſiṛt. Wir lesen darüber folgenden Bericht aus Stockholm : Schon seit einer Reihe von Jahren wurden von den Neuanſiedlern der nördlichsten Küstenstrecken Norwegens wiederholt bittere Klagen über die rücksichtslosen und brutalen Uebergriffe laut , welche die Nomaden-Lappen, dort Finnen genannt, die mit ihren Rennthierherden jährlich aus dem russischen Lappland durch das schwedische an den atlantischen Ocean kommen , um dieselben dort zu tränken , respective zu weiden , verüben , ohne daß die Behörden daſelbſt im Stande gewesen wären , den Klagen abzuhelfen. Im Herbste vorigen Jahres nahmen ſich die Zeitungen , und unter ihnen besonders die tromsöer, der Sache an und erreichten dadurch wenigstens , daß die Sache im skandinavischen Norden bekannt wurde. Nach den vor Gericht abge = gebenen und von Augenzeugen bestätigten Nachrichten gehen die russischen Lappen, welche die Heerden führen, auf das gewaltigſte und unverschämteſte zuwege ; die althergebrachten Triften. halten sie nicht

113 ein , die von den Ansiedlern zum

Schuße ihrer spärlich der harten

Natur abgerungenen Saaten aufgebauten Zäune hauen sie , mit Verhöhnung der gefeßlichen Bestimmungen des Tractats vom Jahre 1751, nieder oder lassen die im Carrière daherrennenden Thiere sie niederbrechen, und dieſe breiten sich dann über die Felder aus und zerstören die erhoffte Ernte. Wagt es der Ansiedler - und diese leben dort sehr vereinzelt - sich diesen Unbilden zu widerſeßen, so ist er seines Lebens nicht sicher, und mehrfach ist es schon vorgekommen , daß der Lappe dem Norweger, der sein besäetes Grundstück ſchüßen wollte, ein an einer langen Stange befestigtes, spiges und scharfes Messer in den Leib rannte. Im Laufe der Jahre wurden mehrere Commissionen von der Regierung niedergesezt, um Mittel und Wege zu einer beſſern Ordnung der Dinge und zum Schuße der norwegischen Ansiedler, die ihren Grund und Boden gekauft und den Kaufbrief von den Behörden beſtätigt erhalten hatten, aufzufinden, bisher aber ohne Erfolg ; die Localbe- · hörden dort im höchsten Norden sind machtlos, mit dem besten Willen können sie nichts ausrichten , und es bleibt den Ansiedlern schließlich nichts Anderes übrig , als entweder mit stummer Gleichgültigkeit sich in das Unabänderliche zu finden , oder zur Selbsthülfe zu greifen. Die Anſicht, die Nomaden-Lappen seien ein im Untergehen begriffenes Völkchen, das binnen Kurzem ganz von der Erde verschwinden werde, scheint keineswegs die richtige zu sein, und mit Rücksicht auf die Naturverhältniſſe im norwegischen und schwediſchen Lappland wird dort noch lange Zeit hindurch für das umherſchweifende Nomadenleben Plag genug sein, und es handelt sich nur darum, dieses Umherziehen unter eine geordnete Aufsicht zu bringen , damit die Lappen ihre jährlichen Züge nach der Küste von Finnmarken, Tromsen , Senjen und eines Theils vom Lande Nordland ohne Nachtheil für die dort Ansässigen vornehmen können. Die wachsende Dreistigkeit und Unverschämtheit der Lappen scheint aber einen tiefern Grund zu haben , und die Bestrebungen der schwedisch-norwegischen Regierung auf eine zeitgemäße Entwickelung der Vertheidigungsmittel deuten darauf hin , daß dieser tiefere Grund der Regierung nicht unbekannt geblieben ist. Man erinnert, daß schon bei dem Besuche der russischen Flotte in Stockholm irgendwo der Gedanke auftauchte und zur Sprache kam, den schwe= dischen Theil von Lappland, als für Schweden faft werthlos, an Rußland abzutreten warum denn nicht auch den norwegischen ? Galt Nun hat im Laufe des doch die Freundschaft beiden Nationen! Sommers die « Literatur-Gesellschaft » zu Abo in Finnland einen der ärgsten Finnomanen, den Dr. Skogman, nach Lappland geschickt , um die Verhältnisse zu untersuchen , unter denen die Lappen dort leben, und sie mit finnischen Büchern zu versehen, deren ihm in großen Maſſen Europa. 8

114 nachgeschickt werden. Seine Berichte fielen bisher ſehr nachtheilig ſowohl für die schwediſche, als die norwegische Regierung aus, erwieſen ſich aber bei näherer Prüfung als unbegründet oder sehr übertrieben. Jezt reist er im norwegischen Lappland, und da tritt denn ſein Reiſezweck immer deutlicher zu Tage , der augenscheinlich kein anderer ist, als unter den Bewohnern des nördlichen Theils der skandinavischen Halbinsel finnischer Nationalität Unzufriedenheit mit der schwediſchnorwegischen Regierung zu erwecken und auf solche Weise schließlich Rußlands Intervention Namens der « unterdrückten Finnen » , « denen nicht einmal gestattet ist, einen finnischen Buchhandel zu haben , und die man gewaltsam zwingt , Schwedisch oder Norwegisch zu lernen » , vorzubereiten. Während seines Aufenthalts in Tromsö suchte Herr Skogman zur Einziehung von Erkundigungen keinen einzigen , weder geistlichen , noch weltlichen Beamten auf, sondern verkehrte nur mit finnisch (dort kwänisch) sprechenden Leuten . Gegen einen kwänisch sprechenden Schullehrer äußerte er, die Kwänen würden stiefmütterlich behandelt, wo sie keine kwänischen Prediger hätten , wo ihre Kinder Unterricht im Norwegischen bekämen u . dgl. m., und daß ſie bei einigem Zusammenschließen mit leichter Mühe kwänische Prediger und Lehrer erhalten könnten ; vom Bardothal nördlich seien die ursprünglichen Bewohner Kwänen oder Lappen und ihr Recht an das Land müſſe respektirt werden, den Nomadenzügen und der Benußung des Landes nach dem Gutdünken der Lappen könne und dürfe kein Hinderniß in den Weg gelegt werden, oder mit andern Worten : die Norweger hätten sich dort eingedrängt, wo sie fremd und unberechtigt seien. Daß die Aboer Literatur-Gesellschaft hier ihren Namen zur Anbahnung politischer Zwecke hergegeben hat , dürfte unzweifelhaft sein. Man hat hier in Stockholm jezt die Gewißheit, daß Rußland bei den Finnen und Lappen Unzufriedenheit mit der Regierung König Karl's XV. zu erregen . sucht, wodurch es einen Vorwand zur Einmischung bekommen könnte, um dann im Trüben zu fischen." Die Nordmarken Schwedens und Norwegens würden ohne diese Agitationsmittel Rußland selber sich anschließen, das Amurgebiet würde so rasch sich bevölkern und emporheben , wie die englischen Kolonien in Australien , Jarkand und Khotant (und ganz Turkestan) würden Rußland und nicht England ihre Unterwerfung freiwillig anbieten, es würde über eine Million Einwohner aus Europa und der Türkei nach dem Kaukasus, nach dessen gänzlicher Unterwerfung , . eingewandert, ſtatt aus demselben nach der Türkei ausgewandert sein wenn Rußland Finnland , Ostsibiren , Turkestan, dem Kaukasus und allen seinen Ländern solche Autonomie ertheilen würde, wie sie England seinen Kolonien ertheilt hat.

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19. Die Hauptschwierigkeit für die Russen sich zu der Decentralisation und Gleichberechtigung der verschiedenen Nationalitäten ihres Reiches zu entschließen, würden unzweifelhaft die Ruthenen oder alle diejenigen Ruſſen bilden, die nicht Großruſſen sondern Kleinruffen sind und in Weiß-, Schwarz-, Roth- und eigentliche Kleinruſſen zerfallen. Es tritt nämlich bei ihnen der eigenthümliche Umſtand ein, daß ſie ſowohl die Ruſſen (Großruſſen), als auch die Polen, nicht für eine ſelbſt= ständige Nation , sondern für ihre speciellen Landsleute anſehen und beanspruchen und die Sprache derselben blos für eine Mundart der ihrigen erklären — und wir fügen hinzu, daß wir fest überzeugt sind, beide Theile handeln im besten Glauben , obgleich sie sich gegenseitig absichtliche Fälschung der Wahrheit, Ueberliſtung, Intriguen und Herrſchsucht vorwerfen. Die Großruffen behaupten , daß sie einen Theil des durch die Wareger ursprünglich gebildeten Russenreichs bilden, daß sie mit ihnen zugleich das Christenthum und zwar das griechisch-katholische mit der slavischen Liturgie aus Byzanz', nicht wie die Weftslaven das römischkatholische mit der lateinischen Liturgie aus Rom empfangen haben, daß sie sich von den ältesten Zeiten an, ebenso wie die übrigen Ruſſen der kirchenslavischen Sprache als ihrer Schriftsprache und des cyrilliſchen Alphabets als Schriftzeichen bedient haben ; daß ihnen von der „,,Prawda Ruska “ (Ruſſiſcher Rechtscoder ) des Jaroslaw , der Chronik des Nestor und des Gedichts vom Igor angefangen , alle Rechts- , Geſchichts- poetiſchen und andere Schriftdenkmäler gemeinſamen ſeien, daß ſie also eine einzige und einige, obgleich in Volksstämme getheilte Nation bilden , wie dies der gemeinsame Name, die gemeinsame Sprache, Literatur, Schrift und Religion beweise. Die Polen hinwieder sagen, daß die Anwohner des Dniepr , wie die Polanen um Kiew herum , die Sewerier und Radimiczen an der Desna polnische , aus Polen ausgewanderte Stämme, waren , wie sie dieß selber durch den Mund ihrer ältesten Chronisten , wie Nestor 2c. ausgesagt haben, daß der Name Russen bloß der Bevölkerung der Gegenden des Dniepr und Dniestr zukomme, nicht aber denen der Wolga, die eigentlich Moskowiter heißen und sich den der Ruffen nur in Eroberungs-Absichten angemaßt haben ; daß die Sprache der eigentlichen Russen nur ein Volksdialekt der polnischen Schriftsprache sei und zwar ein den Großpolen viel mehr verständlicher als z . B. jener der Kaszu= ben, die doch Niemand für Polen zu halten je beanstandet habe ; daß der Name Rußland nur ein Provinzialname ist, wie Maſuren, Pommern, Schlesien ; daß die eigentlichen Russen seit den ältesten Zeiten, 8*

116 nämlich schon seit den Zeiten Boleslaus I., meiſtens mit Polen vereinigt waren, daß endlich das ganze eigentliche Rußland zugleich mit Lithauen ſich freiwillig und auf ewige Zeiten durch eine Perſonalunion mit Polen vereinigte ; daß die gebildeten Ruſſen ſich ſtets der polnischen Sprache bedient, weil ihr Volksdialekt nicht ausgebildet geweſen und keine Literatur aufzuweisen hatte. Während also die Russen der Sprache und der Abstammung nach ein polnischer und seit Jahrhunderten mit Polen vereinigter Volksstamm gewesen - so wären die Großrussen oder vielmehr die Moskowiter sowohl der Sprache , als auch ganz besonders der Abstammung nach von den eigentlichen Ruſſen (Kleinruffen) ein himmelweit verschiedenes Volk. Denn während die Russen , wie alle Polen und Slaven ein indoeuropäiſches Volk von kaukasischer Race ſind, ſo ſind die Moskowiter von mongolischer Race und sprechen ein Gemiſch von Ruſſiſch, Finniſch und Tatariſch; während die eigentlichen Ruſſen (die Kleinruſſen) , ein altes, europäiſches Kulturvolk sind — so sind die Moskowiter hingegen ein ihren Sitten, Gebräuchen, Vorſtellungen , Gewohnheiten , Neigungen nach ein vollſtändig rohes, barbariſches Volk , wie alle ihre Stammgenoſſen Nordund Mittelaſiens, als da ſind die Finnen, Lappen, Samojeden, Baſchkiren, Kalmücken, Kirgisen, Tataren, Turkomannen 2 . Was ist nun das Wahre an der Sache ? Haben die Ruſſen (Großruſſen) oder die Polen Recht ? Beide Theile haben weder vollständig Recht, noch ganz Unrecht. Das Sachverhältniß ist einfach Folgendes : Es ist richtig , wie die Polen behaupten , daß die Ruſſen (Kleinrussen) aus dem eigentlichen Polen herstammen ; aber daher sind auch die Serben und Kroaten im 6. Jahrhundert n. Chr. ausgegangen und wie die großpolnische Legende von den Brüdern Lech , Czech und Rus überliefert, auch die Czechen und somit alle Slaven. Aber ebenso wenig wie die Serben, Kroaten und Böhmen , können die Polen auch alle Ruſſen für Polen halten und als ihre speziellen LandsLeute beanspruchen, weil sie von ihnen herstammen . Es ist wahr, wie die Großruſſen anführen , daß als die Wareger im 9. Jahrhundert einen russischen Staat gründeten , sie auch einen Theil des spätern Großrußlands dazuschlugen. Aber das darf auch nicht übersehen werden, daß die Gegenden an der Wolga damals ausschließlich von finnisch-turanischen Stämmen bewohnt waren und die von den Waregern okkupirten namentlich von den finnischen Stämmen der Wes, Mer und Murom. Erst am Ende des 12. Jahrhunderts entstand hier an der Wolga eine von den Russen gebildete slavische Kolonie der soge= nannten Hinterwäldler - Russen (zur Zeit Nestor's am Anfang jenes Jahrhunderts war noch nichts davon vorhanden). In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts nämlich gründete daselbst Andreas Bo-

117 golubski, der Sohn des Georg Dolgoruki , des Gründers der Stadt Moskau , das Großfürstenthum von Susdal und Wladimir , welches später den Namen des Großfürstenthums von Moskau annahm. Doch ein Jahrhundert später wurde dieses Großfürstenthum schon von den Mongolen unterjocht und zwei Jahrhunderte hindurch ununterbrochen beherrscht. In derselben Zeit, als das Großfürstenthum Moskau, das spätere Großrußland , unter die Herrschaft der Mongolen , kam das ganze übrige oder eigentliche Rußland unter die Herrschaft der Großfürsten von Lithauen, die indeß die lithauische Nationalität gegen die russische eintauschten. Da sich aber die Ruſſen und Lithauer den Mongolen und Tataren einerseits und den Schwert- und Kreuzrittern andrerſeits zu erwehren nicht im Stande waren , so vereinigten sie sich durch die Heirath Jagiello's mit Hedwig am Ende des 14. Jahrhunderts mit Polen, mit dem sie bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts, bis zur Theilung Polens , vereinigt blieben. Am Ende des 15. Jahrhunderts befreite sich das Großfürstenthum Moskau von dem Joche der Mongolen und unterjochte ſeinerseits während des folgenden Jahrhunderts die Mongolen längs der ganzen Wolga bis an ihre Mündung. Nachdem es damit fertig ge= worden, wandte es sich westwärts und eroberte zunächſt die ruſſiſchen Republiken von Twer , Groß-Nowgorod und Pskow , die meistens li- 1 thauische Fürsten zu lebenslänglichen Verwaltern ihrer Gemeinwesen zu berufen pflegten. Damit betraten die moskauischen Großfürſten den eigentlich slavischen (Slovenen am Ilmensee) und ruſſiſchen Boden. Peter I. nahm bekanntlich den Titel Zar aller Reuſſen an. Aus dem Angeführten geht nun hervor, daß wie Rußland (Kleinrußland) eine Kolonie von Polen , so Moskau eine Kolonie von Rußland war , aber ebenso wenig als die Polen die Ruſſen als Polen, können auch die Russen die Moskowiter als Russen oder die Großruſſen die Kleinruſſen als ihre ſpeziellen Landsleute ansehen. Was nun die Sprache der Kleinruſſen anbetrifft, ſo iſt ſie freilich näher dem Großrussischen verwandt, als das Polnische, Böhmische 2c., aber ebenso auch dem Polnischen näher , als das Großrussische , Bulgarische 2c. Das erklärt sich einfach sowohl durch die unmittelbare Nachbarschaft, als auch Abstammung. Das Kleinrussische ist viel mehr mit dem Polnischen in lerikalischer und ſyntaktiſcher Hinsicht verwandt, als mit dem Großrussischen und in organischer Hinsicht ist wieder das Kleinruſſiſche näher dem Großrussischen. Da nun die Slaven überhaupt in ihren Sprachen sich gegenseitig verſtändigen können , ſo iſt es ganz natürlich, daß der Großrusse viel leichter den Kleinruſſen, als irgend einen andern Slaven versteht und daß der Pole nur etwa die

118 Tschechen ebenso leicht, wie die Kleinruſſen verstehen müßte. Und so ist es beinahe auch wirklich. Der Böhme ist nicht viel weniger dem Polen verständlich, als der Kleinrusse . Wenn nun gar ein Pole oder Großruffe unter den Kleinruſſen geboren oder erzogen wird , wie es doch so oft der Fall ist, so fühlen sie den Unterschied zwischen ihrer Muttersprache und dem Kleinruſſiſchen beinahe gar nicht und können meistens gar nicht begreifen, wie man einen sehen kann. Aber einem Sprachforscher oder einem Böhmen, Serben oder Bulgaren erscheint das Kleinrussische ebenso als eine ſelbſtſtändige Sprache , wie es das Polnische oder Großrussische ist.

Daß alle gebildeten Russen zur Zeit der Republik polnisch ge= sprochen hätten, ist nicht richtig, denn nicht nur unter sich haben die Geistlichen und Edelleute aus Polnisch - Rußland russisch gesprochen, sondern auch in voller Landesversammlung und im Senat , wie z. B. der Hetman Ostrogski, ja zur Zeit der Jagiellonen war die Hofsprache russisch und noch der lezte König dieser ausgezeichneten Dynastie, Sigismund Auguſt, hat mit seiner heißgeliebten Gemahlin Barbara ausschließlich russisch gesprochen und korrespondirt und zwar kleinrussisch. Ueberhaupt war die russische Sprache in Lithauen und Rußland Amtssprache und die von den beiden Sigismunden herausgegebenen Geſeßsammlungen für Lithauen und Rußland , die sogenannten lithauiſchen Statuten, find in russischer Sprache mit cyrillischen Lettern geschrieben. Auch war die russische Sprache in allen diplomatiſchen Angelegenheiten Polens mit dem Oriente ausschließlich im Gebrauch. Freilich war die damalige russische Schriftsprache nicht das heutige Kleinrussisch, sondern die kirchenslavische Sprache mit starker Beimischung der russischen Volkssprache. Daher war sie beinahe gleich den Großruffen, wie den Kleinruſſen zugänglich, und ihre schriftlichen Denkmäler können von beiden Seiten beinahe mit gleichem Recht, als ihr Eigenthum betrachtet werden , denn es ist ihnen beiden gemeinsam. Den Polen stehen sie insofern entlegener, obgleich sie zum Theil von ihren direkten Vorfahren ausgegangen find, als ihnen wegen des Gebrauchs der lateinischen , statt der slavischen Liturgie, die kirchenslavische Sprache weniger geläufig und die cyrilliſche Schrift meistens unbekannt ist. Peter der Große hat sowohl die bisherige ruſſiſche Schrift als . auch die bisherige Schriftsprache modifizirt und die leßtere namentlich der großrussischen Volkssprache genähert. Die Kleinrussen haben das cyrillische Alphabet beibehalten , aber in neuerer Zeit auch angefangen ihre Volkssprache als Schriftsprache zu kultiviren, besonders in Galizien , wo sie neben der deutschen und polnischen Sprache im Leben , in der Kirche, Schule, Administration,

119 im Gericht , auf der Universität , auf dem Landtage, in Zeitschriften und im Buchhandel eine nicht unbedeutende Rolle spielt. Sie hat schon mehrere Schriftsteller von Namen aufzuweisen, z . B. als Dichter Padura, Szewczenko, Kulisza, Kwitko, Szczogolew , Kuzmenko , Marko Wowczok, Hanna Barwinsk, Mordercow, Jasczenko, als Romanſchriftsteller Gogol, als Geschichtsforscher Kostomarow 2c. Worin aber die Kleinruſſen mit den Polen , Böhmen', ja mit Deutschen und Franzosen mehr verwandt ſind, als mit den Großruſſen das ist in der Körperbildung und in der Kultur. Die Kleinruſſen ſind eine schöne kaukaſiſche Race, deren Körperbildung, wie ihre Wohnfiße, die Mitte halten zwischen den Polen und Tscherkessen. Es ist ein altes, religiöses , gefühlvolles , hochpoetisches , ritterliches und ge= fangreiches Kulturvolk, welches feste Begriffe hat von Eigenthum, Recht und Wahrheit, ein lebhaftes Ehr- und Pflichtgefühl , ein großes Be= dürfniß nach Freiheit und Unabhängigkeit der Person , der Gemeinde, Kirche und des Staates, weil es sie Jahrhunderte lang im ausgedehntesten Maße genossen hat in den Gebieten der Republiken von Groß-Nowgorod, Pskow, Polozk, in der polnischen und in den Kosakenrepubliken. Die Großrussen hingegen sind von mongolischer Race , denn es sind entweder ruſſifizirte finnische oder tatarische Stämme , die noch nie die Freiheit gekostet , Eigenthum besessen , Bürger eines Rechtsſtaates, Glieder einer ſelbſtändigen Kirche gewesen sind . Der Zår von Moskau verfügte ebenso , wie vor ihm der Chan der Mongolen , stets unbeschränkt über Gut und Leben aller seiner Unterthanen. Sein jedesmaliger Wille war Gesez und seine Diener und Beamten die Dolmetscher deſſelben. Er war der alleinige Herr von Land und Leuten des ganzen Reiches, die er nach Belieben verschenken und wieder einziehen konnte. Die Bauern waren weder Eigenthümer des Grund und Bodens, den sie bebauten und der immer wieder von Neuem vertheilt wurde, noch auch Pächter, denn sie waren das Eigenthum ihres Herrn, worüber er nach Willkür verfügen , die er vom Ackerbau zur Fabrik verwenden oder verkaufen konnte. Die großrussischen Handwerker und Kaufleute waren zeitweilig freigelassene Sklaven , die aber jeden Augenblick von ihrem Herrn mit ſammt ihrem ganzen Vermögen eingezogen und willkürlich verwendet werden konnten. Wie der Schöpfer im Himmel, so erschien den Großruſſen der Zar auf Erden, als ein allmächtiger Herrscher , Eigenthümer und Erhalter aller Geſchöpfe. Der Zar war auch, als das Oberhaupt der orthodoren Kirche, der + einzige Satthalter und Repräsentant Gottes auf Erden , der einzige und infallible Verkünder des höchsten Willens und der höchsten Wahrheit. Er allein konnte denken , sprechen und handeln , wie er wollte. Alles Uebrige mußte unbedingt ſeinem Winke folgen. Des Todes war,

120 wer anders zu denken, zu sprechen oder zu handeln wagte, als der Zar A Auf diese Weise sanken die es den ugenblick eben haben wollte. Mensche i Rußlan z gedanke g e f ü hls- und willenlosen Auton n d u n , R i chtung lautlos bewegten, in die sie maten, die sich alle nur in der M a c g h e twort von Oben bracht wurden. Es wurde in ihnen alle durch ein Selbstve Selbststän rtrauen und Selbstdigkeit, alle Driginalität , alles gefühl, alle schöpferische Kraft erdrückt und getödtet. In Großrußland herrscht eine Todtenstille , wie im Kerker oder auf dem Kirchhofe. Nirgend ertön ei Lied- den di Großrusse habe kein Lieder e n n n e t s n keine Volkspoesie. Während bei den Deutschen, Polen, Ruthenen beinahe in jedem Kreise ein anderer Volksdialekt , eine andere Volkstracht, andere Sitten und Gebräuche herrschen G 33 Millionen roßrussen gleich wie ein Regiment gekleidet und ge= g ſſiſche Sprache hat sittet und sprechen alle ganz gleich, denn die roßrualle die s si ge R D si u i alekte. Da es in ßland kein cherteos Eingdenth gar keine um, G l a ubensdo feststehen kein gma , keine Sicherheit der des Recht und Person gab, so gab es daher und konnte es auch keinen rechten BeUnantast barkeit der Person griff von Eigenthum, Recht, Wahrheit und geben und noch weniger eine Achtung derselben. Wenn also in RußLand von unten bis in die höchsten Regionen hinauf gelogen, betrogen, gestohle un geraub wir und man die nich al etwa Verbreche d s t s d s t n risches, Verkehrtes , Unwürdiges und Entehrendes, sondern wenn es geschickt ausgeführt wird, als ein Zeichen von Klugheit und Gewandtheit ansieht mangelh ietaFnoelgeDeepirnaervatoider der andern t ngdaosdernicmhotmedn aften Einrsiochis tu on n J a a h l r lgemeine hundert lange Rechtlosigkei überhaup der n e t. In n, t Rußland is alles verbote und nur gedulde , was nich ausdrücklich t t t n erlaubt worden ist. Es herrscht dort eine vollständige Negatiosnonal dele rns Positive und der Nihilismu daselbst is nur ein principielle Aust s n r druckt dieses Zustandes , eine Position alles Negativen als Princip. Nichts desto weniger ist es übertrieben, verkehrt und vergeblich, behaupte un beweis en zu wollen , wie es Duchinski, Martin, Vid n quesnel u. v. A. thun, daß die Großrussen keine Russen, keine Slaven sind. Das ist ebenso , als wenn man beweisen wollte (wie es Fallmerayer wirklich gethan), daß die Neugriechen keine Griechen (sondern gräcisirte Slaven), daß die Italiene kein Romane r e n (sondern roma= nisirte Germanen, Longobarden), daß die Deutschen keine Germanen germanisir Sla ven) sind . Die Großrussen hießen eher Russen te (sondern Hinterwä ldler-Russen), als Moskowiter, denn von Anfang ihrer An( bewaldet fiedelung hinter dem Wolchonskiwal en Wasserd, hinter der scheide zwischen dem Dniepr ( Düna und Wolchow) und Wolga ( Don und Donez) an ; sie sind Slaven und Russen, weil sie eine rein slavische

121 und russische Sprache reden und Slaven und Ruſſen ſein wollen ohne Rüksicht darauf ob sie von den Slovenen ( oder Nowgorodern am Ilmenfee), von den Ruſſinen (vom Flusse Rus, der sich in den Ilmensee ergießt), von den Rosianen (vom Flusse Ros , der sich bei Kiew in den Dniepr ergießt), von den Finnen, Chazaren, Juden oder Mongolen abstammen ebenso wie die Bonapartes Franzosen und nicht Italiener und die Bernadottes Schweden und nicht Franzosen sind. Es ist möglich und wahrscheinlich, daß die größere Hälfte der Großrussen nicht slavischer, der Griechen nicht hellenischer , der Deutschen ― nicht germanischer Abstammung sind aber das thut nichts zur Sache. Kein Volk der Welt hat sich von der Vermischung rein erhalten und von dem Einflusse anderer Völker ausschließen können. Das bedingt und bringt seine Geschichte mit. Ein Volk, das jede Berührung und Vermischung mit fremdartigen Elementen und jede Einwirkung von Außen im Stande wäre von sich fern zu halten , müßte und würde bald phyſiſch und geistig verkommen. Jemehr ein Mensch und Volk fremde, sowohl materielle als geistige Elemente ohne Gefahr, Beschwerde und Nachtheile in ſich aufnehmen, ſelbſtſtändig in sich verarbeiten, or= desto lebensganisch mit sich verbinden und sich aſſimiliren kann und entwicklungsfähiger ist es . Daß nun eine verschiedene Art und Weise des Lebens, der Erziehung und der Bildung , wenn jede von ihnen auch noch so dem Organismus adäquat ist , so wie auf einzelne Menschen, so auch auf ganze Nationen ganz entschieden einwirkt und aus zwei ganz gleichen Menschen und Brüdern mit der Zeit ganz verschiedene Leute machen kann, unterliegt keiner Frage. Ein Mann , der sein lebelang als Knecht und Sklave von Blut und rohem Fleisch gelebt, sich ausschließlich mit Raub und Mord beschäftigt und nur die Wölfe heulen , die Raben krächzen und die Menschen röcheln gehört — und einer , der als freier Mann sein lebelang von den Früchten des von ihm be= stellten Feldes in Frieden und Liebe mit seiner Familie und Nachbarschaft gelebt, dem Schlagen der Lerche und Nachtigall, den Pſalmen, Kirchen- und Volksliedern, den Lehren der geistlichen und weltlichen Weiſen und den Erzählungen der Vaterlandsvertheidiger gelauscht ― müffen zulegt einander fremd und unähnlich werden.

Um so mehr zwei Volks-

stämme, die, wie die Klein- und Großrussen, Jahrhunderte lang ein so verschiedenes Leben geführt und so verschiedene Schicksale erfahren haben . Wie verschieden aber auch die Kleinrussen von den Großruſſen in Bezug auf die Abstammung, das Naturell, auf die Sprache, Sitten, Anschauungen, Lebensweise , Gewohnheiten , Neigungen sein und diese ihre Eigenthümlichkeiten hochschäßen und lieb haben mögen , wie sehr fie dieserhalb eine politische Sonderstellung und Autonomie wünschen

122

und verlangen mögen -

so werden sie sich doch um deswegen nie-

mals von Großrußland gänzlich trennen wollen und trennen können denn sie sind schon zu sehr mit ihm ver- und zusammengewachsen . Einzelne von ihnen bewohnte Landestheile, wie das Gouvernement Pskow, Smolensk, Orel, Kursk , Woronesch sind schon seit Jahrhunderten zu Großrußland geschlagen worden und ihre kleinrussischen Koſakenlandſchaften ziehen ſich ununterbrochen von den Ufern des Don bis zu den Ufern des Terek und zerstreut längs der ganzen Südgrenze des russischen Reiches. Was sie aber noch viel weniger wünschen und zugeben können und werden, als die gänzliche Trennung von Rußland , das iſt die Theilung Kleinrußlands durch den Dniepr in zwei beinahe gleiche Hälften, oder mit andern Worten in die völlige Trennung Polens in seinen alten Grenzen (von 1772) von dem ruſſiſchen Reiche. Viel eher würden sich alle Kleinrussen , wenn es ginge, mit einem ganz unabhängigen, von Rußland völlig getrennten Polen vereinigen, als daß sie zugeben würden unter Polen und Rußland wieder getheilt zu werden. Dieser Umstand ist es vorzüglich, der es den Polen unmöglich macht ihr Reich in den alten Grenzen wiederherzustellen. Denn dieſem Unternehmen würden sich nicht nur die russische Regierung , die Großrussen und die Kleinruſſen jenseits, sondern auch ganz besonders die ehemals polnischen Kleinrussen diesseits des Dniepr, welche die bei Weitem größere Hälfte des ehemaligen Polens bewohnen , auf das hartnäckigste widerſeßen. So lange als nur der Adel im Staate politische Rechte und Bedeutung hatte und der Bauer und das gemeine Volk sie nicht besaß, hatte die Nationalität der Kleinruſſen wenig zu sagen , denn sowohl der litthauische, preußische, livländische als auch der kleinruſſiſche Adel hatte sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts völlig poloniſirt, und da auch die Städte der Republick größtentheils sich polonisirt hatten, so konnte man hoffen oder vielmehr mit Sicherheit darauf rechnen, daß bei der Selbstständigkeit Polens und der allmähligen Gleichberechtigung aller Einwohner Polens mit dem Adel (gemäß der Konstitution von 1791 im Verlauf von 20 Jahren) alle Gebildeten die polnische Sprache sich angeeignet hätten und die Volkssprache ebenso wenig, wie die verschiedenen Volksdialekte in Frankreich , zur Geltung käme. In Polen hätte sich die kleinruſſiſche Volkssprache der polnischen, in Rußland der ruſſiſchen Schriftsprache anbequemt. Ganz andere Wendung hat nun diese Angelegenheit genommen, als seit der Zeit der französischen Revolution und der Verkündigung der Menschenrechte, ſeit dem italienischen Krieg und der Geltendmachung der Nationalitätsrechte, seit der Bauernemancipation in Rußland und

123 der Gleichberechtigung der Bauern mit den andern Ständten --- bei= nahe das ganze kleinrussische Polen mit Rußland vereinigt war und das polnische Element unterdrückt wurde, das kleinrussische aber, obgleich nicht befördert , durch die Emancipation jedoch und die Gleichberechtigung der kleinruſſiſchen Volksmaſſen , durch die Zeitideen und die Zeitumstände immer mehr zum Bewußtsein und zur Geltung kam. Zwar haben die Polen , welche sich nicht gleich in die veränderten Zeitverhältnisse zu finden wußten , auch dann noch die Hoffnung nicht aufgegeben , die Kleinruſſen für die Sache der Freiheit Polens und das mit ihm in althergebrachter Weise conföderirten Lithauens und Kleinrußlands und für die Annahme der polnischen , gebildeten Sprache als Schriftsprache zu gewinnen , aber dieß hatte nur das Neſultat zur Folge, daß sich sowohl unter den Kleinruſſen , wie unter den Polen drei Parteien bildeten: 1 ) solche Polen und Kleinruſſen, welche sich diesem eben angedeuteten Glauben und Streben unbedingt anschlossen, 2) solche, die ein völlig selbstständiges Kleinrußland, eine kleinrussische Schriftsprache und Literatur bilden wollten, 3) solche Kleinruſſen , welche , um den Tendenzen der Polen erster Kategorie effektiv entgegenzutreten sich in Rußland der russisch - deutschen und in Desterreich der österreichisch-deutschen Bureaukratie in die. Arme warfen. Zu jenen gehören die Univerſitätsprofeſſoren Juzefowicz und Kostomarow und die Miniſter Gebrüder Milutin , zu dieſen der Erzbischof Litwinowicz ,

ein gewiſſer Kuziemski, Sulima und die ganze

sogenannte Partei des St. - Georg. Alle diese haſſen , verfolgen und unterdrücken die polnischen Patrioten und das polnische Element zunächst in den kleinrussischen Gegenden mit der größten Erbitterung. Von den mit Berg , Besak und Kaufmann verbundenen Gebrüdern Milutin ist das Verbot des Gebrauchs der polnischen Sprache in Westrußland veranlaßt , von ihnen die Dezemberukase zur Expropriation der polnischen Gutsbesißer in Westrußland und der katholischen Geistlichkeit im Königreich Polen. Von ihnen wird die Absonderung der kleinrussischen Landestheile im Königreich Polen betrieben. Von der St.-Georgenpartei hinwieder ist ein Memoir an die österreichische Regierung unter Schmerling im Jahre 1864 und das darin enthaltene Projekt zur Theilung Galiziens in ein größeres, russisches Gouvernement von zwölf Bezirken (öftlich vom San) und ein kleineres, polnisches Gouvernement von fünf Bezirken (westlich vom San) ausgegangen. Die kleinrüſſiſchen Bauern nun , obgleich sie sich während des orientalischen Krieges in der Ukrajna von selbst zusammenrotteten, einen Aufstand gegen die russische Regierung organiſirten , beſonders erbittert gegen die Beamten und Popen auftraten und die polnischen

124 Gutsbesizer zum gemeinsamen Handeln aufriefen - so haben sie doch während des leßten polnischen Aufstandes sich den Aufſtändiſchen mehr feindlich als hülfreich erwiesen , wenngleich die Nationalregierung in einer sogenannten „ Goldenen Schrift“ (Zlata Hramota) in fleinruſsischer Sprache den Bauern das von ihnen bebaute Land zinsfrei überließ, den Kleinruffen eine völlige Autonomie in der polnischen Föderativrepublik verhieß und in das Reichswappen neben dem polnischen Adler, dem lithauischen Reiter auch den kleinrussischen Erzengel Michael aufnahm.

Wenn die Polen nun bei der Wiederherstellung ihres Staates sich auch dazu verstehen wollten, ihre historischen Rechte, in Bezug auf die Festhaltung der griechisch - unirten und nicht unirten Kleinruſſen bei der polnischen Republik und der Grenzen von 1772 aufzugeben und sich nur auf die Beibehaltung der rein polniſchen und lithauiſchen römiſch-katholischen Bevölkerung, beſchränken wollten so müßten sie ihre Grenzen westlich bis hinter den San , Bug und Bobrz zurückziehen, wodurch sie die Verbindung mit Lithauen oder vielmehr mit Samogitien. verlieren und mit ihm oder ohne dasselbe , vom Meere abgeschnitten und auf einen so engen Raum beschränkt würden , daß sie sich unmöglich den mächtigen Nachbarn gegenüber halten könnten und in kürzester Zeit eine Beute zunächst wohl Preußens , wo man schon seit Jahren von der Vorrückung der Grenzen bis an die Weichsel und den Niemen spricht, und sodann der Germanisation würden. In Nr. 2 des ,,Czas" vom 4. Januar d. J. lesen wir in einer Korrespondenz aus dem Königreich Polen über die neueste Phase des Dranges nach dem Often , was folgt : „ Es find für euch wohl keine Neuigkeit mehr die lüsternen Träumereien in Preußen von einer neuen Theilung Polens ... von einer Einverleibung des selben durch Preußen bis zur Weichsel ... Daß Graf Bismark dieses Projekt für möglich hält , das beweist nicht nur seine bekannte Unterhaltung mit dem Vicepräsidenten der zweiten Kammer , Herrn Behrendt , sondern auch die einem Einwohner des Königreichs Polen vor mehr als einem Jahre gemachten vertraulichen Eröffnungen , wo er ausdrücklich erklärte , daß wenn ihm nur die Polen dabei etwas behülflich sein wollten, er die Ausführung über sich nehme. Es wünschte damals Graf Bismark mit Jemandem darüber zu sprechen gewisse Milderungen, Konzessionen. auf diese Anerbietungen einzugehen über verhandeln zu wollen, und da

... zu verhandeln, und versprach Aber es fand sich Niemand bereit und im Namen des Landes dardem Grafen Bismark die Initia-

125 tive von Seiten der Polen scheint nöthig gewesen zu sein , so haben sich seine Projekte damals augenblicklich zerschlagen Daß aber in den Köpfen von Leuten , die der Regierung in Preußen nahe stehen, jene träumerischen Gelüste, denen Genüge zu thun, die stolzen und hochfliegenden Gedanken der Russen sich schwerdafür ist ein neuer lich geneigt finden werden, noch immer spuken Beweis in einer interessanten Unterredung , der ich zufällig während dieses Provinziallandtages des Großherzogthums Posens in Posen, wohin ich der Geſchäfte halber gekommen, Zeuge war. Es ist nicht nöthig aufzuführen , wie es kam , daß ich zugegen war, als Herr von Lebbin , welcher beim Oberpräsidenten des Großherzogthums Posen , Horn , Oberpräſidialrath iſt , ein Gespräch über die Schicksale Polens mit einem der Deputirten anknüpfte. Es scheint, daß er bloß eine Gelegenheit suchte, um sich darüber vernehmen zu laſſen, denn er hat Ein und daſſelbe (wie ich nachher erfuhr) zwei oder drei Deputirten wiederholt. „ Sie müſſen ſich meine Herren darauf gefaßt machen (waren seine Worte) , daß wir früher oder später das Königreich Polen bis zur Weichsel und Warſchan in Beſiß nehmen werden" "/ Doch glaube ich, antwortete der Deputirte, daß „ Sie scheinen, wie weder ich noch Sie dieß erleben werden. “ ich sehe, sich selber und mir eine kurze Lebensdauer zu versprechen .. Ich bin andrer Meinung. Die Augelegenheiten ſind längst und sehr gut vorbereitet , — glauben Sie mir, meine Herren. Das Königreich ist schon halb germaniſirt, das Uebrige ist im Werden, und was übrig bleibt, das werden achthnudert Beamte und drei preußische Regimenter vollenden ... ( wortgetreu ) ... Preußen ist heute die erste Großmacht Europas (!!) ; was es sich einmal vorgenommen, davon wird es nicht ablaſſen ... es liegt dieß in un(Von diesen Planen ſern Planen und mnß vollführt werden.“ sprach auch der Graf Schwerin zu den Deputirten , zur Zeit als er Minister war.) Warum es Herr von Lebbin für angemessen gehalten die polnischen Deputirten auf diese Ereignisse vorzubereiten und warum es ihm so eilig war ihnen darüber öffentlich zu beichten - das überlasse ich dem Urtheil des Lesers . Ich garantire nur für die gewissenhafteste Berichterstattung über das Gespräch.“ Von der beabsichtigten Besißergreifung Polens durch Preußen spricht auch ein Petersburger Korrespondent im „ Journal de Bruxelle“ vom 13. Januar d . J.. Herr v. Moller, ein Deutsch - Ruſſe und Mitredacteur des „ Nord “, sagt in seiner Broschüre : « La Pologne au 1 janvier 1865 » : „ Wenn das polnische Volk des Königreichs Polen sich von seinen frühern

126 Unterdrückern (den polnischen Edelleuten zum Aufstande) hinreißen ließe, so würde Rußland, welches bis jezt noch allein die Autonomie der polnischen Nationalität aufrecht erhält, die in Preußen und Desterreich zusehends unter dem intellektuellen Drucke des Germanismus verschwindet, so könnte Rußland, um die nochmalige Appellation an die Waffen zu vermeiden , sehr bequem den Deutſchen das linke Weichſelnfer abtreten, die mit Leichtigkeit mit der völligen Ausrottung der polniſchen vom flaviſchen Stamme (tronc national slave) losgeriſſenen und ſchon halb germaniſirten Nationalität fertig würden. “ Das ist ganz richtig. Und deswegen bleibt den Polen absolut nichts Andres übrig, wenn ſie nicht unnüßer und leichtsinniger Weiſe ihre ganze Existenz aufs Spiel ſeßen wollen, als allen ſeparatiſtiſchen Tendenzen, allen Aufstandsversuchen, allen Feindseligkeiten gegen Rußland aufrichtig und auf immer zu entsagen und bloß in der Aufklärung, in der Verbesserung und Entwickelung der innern Zustände, in der Unterſtüßung und Beförderung der gemeinsamen Intereſſen, in der Versöhnung, Zuneigung, in dem Vertrauen der Klein- und Großruſſen und in den Tendenzen Rußlands nach Außen ihr Heil zu suchen. Sie müssen die unabänderlichen Thatsachen , natürlichen Verhältnisse nnd Zeitumstände anerkennen , ſich denselben fügen und anbequemen. Nur dann können sie hoffen, nicht nur der Verfolgung_ihrer Nationalität und Religion, nicht nur der Preisgebung ihres Landes bis zu der Weichsel und dem Niemen von Seiten der Ruſſen an die Deutſchen und ihrer Nationalität der Gefahr der Germaniſation enthoben zu ſein, und nicht nur die durch die Theilung Polens, sondern auch die früher an Deutschland gefallenen und noch nicht völlig germanisirten Provinzen, also außer Galizien, Posen und Westpreußen —, noch Ostpreußen, Hinterpommern, Oberschlesien und die beiden Laufigen —, für ihr Königreich und ihre Nationalität wieder zu gewinnen und alsdann ohne die Gebiete der Kleinrussen einen ansehnlichen Staat unter der russischen Dynastie bilden zu können. Zu dem Zwecke brauchen und dürfen sie keines ihrer Rechte und Eigenthümlichkeiten aufgeben. Im Gegentheil. Sowohl in ihrem eigenen, wie im gemeinsamen Intereſſe der Autonomie und Gleichberechtigung aller Religionsbekenntnisse und Nationalitäten in Rußland, im Interesse der Einführung, Befestigung und Sicherstellung des Rechts, der Billigkeit und Gerechtigkeit im Volksbewußtſein, im Gerichts- und Adminiſtrationsweſen, ſowohl in Polen, wie im ganzen ruſſiſchen Reiche, im Interesse der Erringung und Kräftigung der allgemeinen und persönlichen Freiheit, Gleichheit , Wahrheitsliebe , Freimüthigkeit , Würde und Selbständigkeit aller Bewohner Polens und Rußlands — müſſen die Polen alle loyalen Mittel anwenden , um sich ihre natürlichen

127 und historischen Rechte zu wahren oder, falls die leßtern den Zeitverhältnissen und berechtigten Ansprüchen Andrer widerstreiten , durch freiwillige und ſelbſtſtändige Verſtändigung und Vereinbarung zu modifiziren. Das ist zwar eine in Rußland sehr schwere , aber nicht unmögliche und auf keine Weise zu vermeidende Aufgabe. Wenn die Polen dieselbe lösen , wenn sie sich vor der Ruſſifizirung und Schismatiſirung ſicher ſtellen , wenn sie ihre und Rußlands Freiheit retten und erringen wollen , da dürfen sie vor Allem nicht die Hände in den Schoß legen , sich nicht mit schwächlichen Klagen begnügen, nicht wie die Märtyrer, sich passiv verhaltend , Alles über sich ergehen laſſen , nie ſich der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit hingeben , sondern sie müssen eine immer größere , umſichtigere und stets den veränderten Umständen und Verhältnissen genau und praktisch angepaßte Thätigkeit entwickeln. In solchem Falle, aber auch nur in solchem , ist immer Gott am nächsten, wenn die Noth am größten. Hilf dir selber und Gott wird dir sicherlich beiſtehen. In dieser ihrer jeßigen Lage dürfen die Polen Eines besonders nicht außer Acht lassen , wenn sie nicht Alles dem Zufalle , der Böswilligkeit , dem Unverstande , der Habſucht und Uebermacht preisgeben wollen. Sie dürfen nicht, wie bis jeßt, in vornehmer und bequemer Ferne sich von Elementen halten, die ihnen untergeordnet scheinen und die ihnen sehr nüßlich werden können , weil sie zu ihren natürlichen Alliirten geschaffen und , gut geleitet, sehr bedeutend sind. Sie müssen sich mit allen unterdrückten und verfolgten oder we= nigstens nur tolerirten und nicht gleichberechtigten Nationalitäten und Glaubensbekenntnissen und besonders außer den Lithauern , mit den Kleinrussen , Altgläubigen und Juden in Rußland in Einvernehmen und regelmäßige Verbindung seßen und sich zu gemeinsamer Vertheidigung , Geltendmachung und Gleichstellung ihrer Nationalität und Religion mit der herrschenden , solidarisch vereinigen und sich gegenſeitig eifrig, aufrichtig , herzlich , brüderlich , geistig , materiell und moralisch unterſtüßen . Wenn es die Miſſion Rußlands ist , mit Gewalt zu vereinigen und zuſammen zu halten , was zusammen gehört, so war, ist und wird gewiß auf immerdar die höchste , schönste und wichtigste Mission der Polen bleiben , die Freiheit , Gleichheit und Brüderlichkeit , die Autonomie und Selbstständigkeit , die Union und Föderation, die Kultur , Civiliſation und Humanität unter allen Völfern, Ständen und Bekenntniſſen des Ostens und Nordens immer weiter und weiter zu verbreiten. Daher dürfen sie sich nicht aus Stolz, Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit, wenn sie nicht gleich durch die natürlichen Folgen davon auf das Härteste bestraft und geschädigt werden wollen , in sich selber

128 verschließen, auf sich selber beschränken , andererseits aber auch keine Sprünge machen , sondern müſſen für die Verbreitung , das Verſtändniß und die Annahme ihrer Grundsäße unermüdlich und ſyſtematiſch thätig. sein. Es reicht nicht aus , daß sie zur Aufrechthaltung ihrer Nationalität und Religion dem Ruſſenthum und dem Schisma gegenüber abwehrend sich verhalten. Die Uebermacht ist zu groß , als daß fie ihr allein Stich halten könnten . Sie müſſen ſich unter den Einwohnern Rußlands Alliirte ſuchen , welche in der Abwehr gegen die russische Nivellirungs- und Aſſimilationssucht gleiche Interessen mit ihnen haben, um vereint mit ihnen im Namen einer erhabenen, allgemein verständlichen und allgemein nüßlichen Zeitidee thätig und aggressiv vorzugehen. Solche Ideen und Bedürfnisse der Zeit sind die Rechte der Freizügigkeit und Niederlassung , die Rede-, Druck-, Ver= eins-, Versammlungs-, Gewerbe- und Lehrfreiheit , die Selbstständigkeit und Gleichberechtigung der Bekenntnisse und Nationalitäten , die Autonomie und Föderation der Völker. Wenn sie sich im Namen dieser Principien mit den Altgläubigen vereinigen , welche gegen 12 Millionen Mitglieder zählen und die größten Institute in der Hauptstadt ſelbſt beſigen , obgleich ihr Bekenntniß eigentlich gar nicht vom Staate anerkannt und gelitten, sondern auf das grauſamſte verfolgt wird , so müſſen ſie ihnen dazu verhelfen , ihre Hierarchie zu. bilden , Schulen und Zeitschriften zu ſtiften und zu unterhalten , für ihre Bildung und Aufklärung sorgen, und überhaupt in allen Verhältnissen und Bedürfnissen behülflich sein. Besonders müßten sich die Polen der Bildung und der Schulen der russischen, in Ostpreußen, in der " Grünen (Johannisburger) Haide ", in der Bukowina , in der Moldau , in der Dobrudscha und in Kleinasien, in der Nähe der polnischen Kolonie Adampol und des Bosporus

in der Verbannung lebenden Raskolniks annehmen und ihnen

die Verbindung mit ihren Glaubensgenossen in Rußland erleichtern. Die in Ostpreußen wohnenden sind Großruſſen und gehören zu der Sekte der Priesterlosen (Bezpopowzi) , alle übrigen emigrirten Altgläubigen dagegen zu der hierarchischen Sekte (Popowzi) und sind der Nationalität nach Kleinrussen und meistens zur Zeit der Theilung Polens vor dem russischen Regime sich flüchtende Zaporoger Koſaken. Vor allem aber müßten die Polen dafür sorgen , um mit den Altgläubigen und Juden ein Tagesblatt zunächst in Petersburg oder Moskau zu kaufen oder zu gründen , welches ihre gemeinsamen und die Interessen der allgemeinen , wenn auch noch so gemäßigten Freiheit, Autonomie und Gleichberechtigung vertreten und verfechten und besonders den Extravaganzen anderer Zeitungen entgegentreten würde.

129 Mit den Juden haben die Polen schon im Jahre 1861 , während der Februarereigniſſe in Warschau , sich geeinigt , sie in allen Rechten mit sich gleichgestellt und mit ihnen ein ewiges Bündniß und aufDie Juden haben dieſes Bündniß, richtige Brüderschaft geschlossen. Polen , treulich gehalten und eine in während der lezten Ereigniſſe dürfen daher nirgends auf polSie bestanden. Probe sehr schwierige nischem Boden momentaner oder localer Verhältnisse wegen als Juden zurückgesezt werden . Daher hat Graf Goluchowski ſehr weiſe gehandelt , daß er selber auf dem Landtage in Galizien den Antrag stellte, es möge den Juden gestattet sein, Landgüter zu erwerben, obgleich er vor dem Jahre 1861 , als Minister oder Statthalter, dem entgegen gewesen sein soll. Desto verkehrter verfuhr der Gemeinderath von Lemberg, der die Juden von der vollen Vertretung im Gemeinderathe und von der Verwaltung des Gemeindevermögens ausschließt. Durch solche Zurücksetzung kann er unmöglich die Juden veranlassen und zwingen ihn und ihre Nationalität lieb zu gewinnen. Im Gegentheil , er treibt ſie dadurch ins feindliche Lager und ist doch nicht im Stande die Gleichberechtigung ihnen vorzuenthalten , weil die Regierung sich beeilen wird , durch die Gewährung derselben sich die Zuneigung einer so zahlreichen und einflußreichen Bevölkerung zu gewinnen und zu sichern. Wenn die Bürger von Lemberg ihren polnischen Patriotismus beweisen wollen , dann müssen sie ohne Rücksicht auf ihre localen Verhältnisse, des Wohles des ganzen polnischen Landes, in welchem gegen 2-3 Millionen Juden , das ist der dritte Theil oder beinahe die Hälfte des ganzen jüdiſchen, in der ganzen Welt zerstreuten , Stammes, wohnen , und der einmal mit den Juden von den Polen in Warschau und Russisch-Polen im Namen der ganzen polnischen Bevölkerung geschlossenen Solidarität und Brüderſchaft eingedenk sein. Selbst die nach Amerika aus Polen ausgewanderten Juden fühlen sich an dieses Bündniß und an diese Solidarität gebunden und pflegen daselbst ihre polnische Nationalität. Und wahrlich haben die Juden Grund genug , das polnische Volk, seine Gaſtfreundschaft und Gerechtigkeitsliebe, aber auch die Nationalität und die Interessen derselben , sowie die aller Slaven zu achten und zu pflegen , denn in den slavischen Ländern wohnen über 4 Millionen der ganzen jüdiſchen Nation. Nämlich unter Juden , d. i. über russischer Herrschaft (und zwar beinahe ausschließlich in den polnischen Landestheilen , weil es im eigentlichen Rußland den Juden erſt unlängst zu wohnen gestattet wurde und zwar nur denjenigen, welche ein Handwerk betreiben) sind 2 Millionen (im Königreich Polen allein über 2 Million) ansässig. Europa.

Nach der Zählung vom Jahre 1861 in 9

130 den Provinzen Preußen 37,636 , Posen 74,172 , Schlesien 40,856 ; in Desterreich, nach der Zählung vom Jahre 1857, 800,000 und darunter : in Galizien 448,973 , in der Bukowina 29,187 ; und endlich in der europäischen und aſiatiſchen Türkei über 1 Million.

Andererseits

haben auch die Polen und Slaven nicht minder Veranlassung die Freundschaft und Solidarität eines so begabten , unermüdlichen und bemittelten Volkes , besonders wenn es ihre Nationalität annimmt, werth zu halten. Seit der Union mit Polen zur Zeit Jagiello's haben die Lithauer und die Letten überhaupt, welche gegen 2 Millionen Einwohner zählen , in Glück und Unglück immer treu zu den Polen ge= halten und sie werden es auch jezt , in den schwierigsten aller Zeiten, wo es sich um die theuersten aller Angelegenheiten , sowohl um ihre als der Polen Muttersprache , Religion und Habe , und somit um die Eristenz handelt, gewiß thun. Dagegen müssen die Polen nicht vergeffen und versäumen vor allem ihre geistigen Bedürfniſſe zu befriedigen, und seitdem es verboten ist , lithauische Bücher und Schriften (sogar Gebetbücher und Katechismen) überhaupt und besonders mit lateinischen Lettern in Russisch- oder vielmehr in Polnisch - Lithauen zu drucken , solche in Preußisch - Lithauen drucken und verkaufen laſſen. Aber eine Hauptstüße in der Erkämpfung der Gleichberechtigung der Nationalitäten, der Beachtung der historischen Rechte , der Volkseigenthümlichkeiten , der Autonomie der einzelnen Landschaften und Ländercomplexe , der Föderation derselben und der Freiheit und Selbſtständigkeit überhaupt - können den Polen und allen nach Freiheit strebenden Einwohnern des ruſſiſchen Imperiums die Kleinrussen gewähren , deren Bevölkerung mit den Weiß-, Schwarz- und Rothreußen und Kosaken auf 20 Millionen sich beläuft. Wenn dieß aber möglich sein soll , dann ist es von Seiten der Polen nicht ausreichend, den Gebrauch der kleinrussischen Sprache in dem Palais und der Kirche nicht zu verfolgen, zu verachten und zu bespötteln , in Schrift, Druck, Schule, Gericht, Gemeinde- und Provinzialberathungen zu dulden sondern sie müssen zum Gebrauch derselben an allen Orten und in allen öffentlichen und Privat - Instituten aufmuntern , sie selber gebrauchen , ihre Kultivirung unterſtüßen und sie in allen amtlichen und ſocialen Verhältnissen der polnischen und großruſſiſchen gleichstellen. Wenn die Polen in Westrußland nicht polnisch reden und schreiben dürfen , so kann man ihnen nicht verbieten mit dem Volke kleinrussisch zu sprechen und zu korrespondiren , wenn man ihnen verbietet die polnische Nationaltracht zu tragen , so kann man ihnen nicht wehren die kleinrussische Volkstracht anzunehmen , die kleinruſſiſche Volkspoesie zu pflegen. Und das dürfen sie denn auch bei Strafe

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der höchsten Gefährdung der ganzen polnischen Nationalität in RuſſiſchPolen zu thun nicht versäumen. Wird das aber hinreichen um die kleinrussische Sprache völlig auszubilden, . um eine kleinrussische Literatur hervorzurufen , um in den Kleinruſſen das Selbstgefühl , das Bedürfniß nach Selbstständigfeit so weit zu steigern, daß die Großrussen nicht werden umhin können, ihnen eine vollständige Autonomie in Sprache und Administration einzuräumen , da jezt bei den Kleinruſſen die großruſſiſche Sprache in allen amtlichen Verhältnissen ausschließlich im Gebrauch ist ? Wo soll die kleinrussische Sprache sich bilden, wenn sie aus der Verwaltung, Gefeßgebung , aus dem Gericht , ja sogar jezt aus der Schule und Kirche durch die großrussische verbannt ist ? wenn man in Rußland nicht leicht etwas Kleinruſſiſches zu drucken erlaubt und wenigstens nicht mit lateinischer oder cyrilliſcher Schrift , sondern nur mit der großrussischen Grazdanka ? Und wenn es den Moskowitern gelingt ihre Sprache zur Schriftsprache aller Kleinruſſen zu machen, dann werden die ſieben, oder, wie die Moskauer Zeitung rechnet , die vier Millionen Polen in RussischPolen schwerlich dem Drucke der Ruffizirung der 28, oder wie die Moskowiter rechnen 34 Millionen Großrussen und der mit ihnen vereinten und moskowitisirten 20, resp. 14 Millionen Kleinruffen lange Stand halten ? Wenn die Kleinrussische Sprache wenigstens in einem einzigen Gouvernement als Amtssprache in Verwaltung , Gericht , Schule und Kirche eingeführt , in einer einzigen Universität zum Vortrage aller Zweige der Wissenschaften angewendet, in Gemeinde- und Provinzialversammlungen zu den Debatten und zur Verfaſſung von Protokollen, Beschlüssen und Gesezen gebraucht würde, wenn in einem einzigen Gouvernement der Druck der Bücher und Zeitſchriften in kleinruſſiſcher Sprache in jedem beliebigen Dialekt und mit jeder beliebigen Schrift ohne Präventivmaßregeln gestattet wäre , wenn überdieß beiſpielweiſe Volhynien unter Beibehaltung ihrer vollständigen Autonomie und der kleinrussischen Sprache als Amtssprache mit dem Königreich Polen zu einem Ganzen , zu einer Statthalterschaft mit gemeinsamem Landtage vereinigt und streng konstitutionell oder wenigstens wie das Kongreßkönigreich zur Zeit Alexander's I. regiert würde mit vollständiger Gleichberechtigung der beiden Sprachen, der polnischen neben der kleinrussischen in Volhynien und der kleinruſſiſchen neben der polnischen im Kongreßkönigreich - dann allerdings könnte und würde die kleinrussische Sprache auf einer sichern und praktischen Unterlage nach allen Richtungen der socialen und politischen Verhältnisse, in allen Zweigen der Literatur sich entwickeln und so an Consistenz , Würde , Ansehen 9*

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gewinnen, daß ihre Eriſtenz und ihr Einfluß auf alle übrigen Kleinruffen auf immerdar gesichert wäre. Da die kleinruſſiſche Sprache zur Grundlage eine sehr alte und reiche Literatur in russischer Kirchensprache besißt und von 20 Millionen Menschen gesprochen wird, so würde sie sich gewiß viel schneller entwickeln, als die magyariſche, welche nur von 4–5 Millionen Menschen gesprochen und erſt ſeit 25 Jahren (Kossuth's „ Pesti Hirlap" war die erſte magyariſche Zeitſchrift) als Schrift und seit 18 Jahren als Amtssprache gebraucht wird und doch schon bedeutende Werke in allen Zweigen des menſchlichen Wissens aufzuweisen hat und hinreicht, um die Trägerin eines selbständigen politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Lebens zu sein. Außerdem würde aber eine solche Vereinigung einer kleinruſſi= schen Provinz mit einer polnischen, mit strikter Festhaltung der Autonomie einer jeden von ihnen, wie wir sie beispielsweise oben angeführt haben, als ein lebendiges Muster einer Föderation des polnischen und des kleinrussischen Volkes , eine ungemeine Anziehungskraft auf die ganze polnische und kleinrussische Bevölkerung ausüben und zur Nachahmung anspornen. Wer würde nun erwarten und begreifen , daß die Polen einen von der Regierung selbst ihnen gemachten Vorschlag zu einem solchen Musterstaate, zu einer solchen Föderation polniſcher und kleinruſſiſcher Landschaften anzunehmen und zu realisiren beanstanden würden und nur eine centraliſtiſche Vereinigung und Verwaltung mit der polniſchen Sprache allein als Amtssprache und nur eine Duldung der kleinruſſischen Sprache verlangen würden ? Und doch ist dieß der Fall , zwar nicht im russischen, sondern im österreichischen Kaiserstaat, in Galizien. Die österreichische Regierung hat dem galizischen Landtage ein Projekt zur Theilung Galiziens in zwei Regierungsbezirke, einen kleinruſſiſchen und einen polnischen mit einem gemeinsamen Statthalter und einem gemeinsamen Landtage vorgelegt. Es ist bis zu diesem Augenblicke, wo wir das schreiben, noch nichts Definitives darüber beschlossen, aber alle Stimmen, die ſich darüber bis jezt vernehmen ließen, waren dagegen ; ebenso gegen den Antrag ( des Kanonikus Pietruſiewicz ) der Gleichberechtigung der kleinruſſiſchen Sprache mit der polnischen (schon bei der Vorlesung des Projekts zum neuen Geschäftsreglement besprochen). Die Polen beurtheilen diese Angelegenheit vom rein localen, particularistischen Standpunkte , sie sehen nicht weiter, als bis zu den Grenzen Galiziens und vergeſſen und übersehen darüber die Intereſſen aller übrigen Polen und Kleinruffen. Sie übersehen , daß sie durch die Art und Weise der Lösung dieser Frage über das zukünftige Schicksal des ehemaligen Polens und der gesammten kleinrussischen Bevölkerung und damit über das Wohl und Wehe aller Slaven, vielleicht über die

133 Freiheit und Sklaverei des ganzen Nordens und Oftens , so wie über die Frage entscheiden , ob Europa republikanisch oder kosakisch werden soll. Die galizischen Polen hätten nicht warten sollen , bis die österreichische Regierung oder die galiziſchen Kleinruſſen einen solchen Antrag stellen, sondern sie hätten ihn schon längst in ihrem eigenen Nationalintereſſe ſtellen und die kleinruſſiſchen Brüder in Galizien in der Herstellung eines autonomen Rothreuſſen, wie es bis zur Theilung Polens, zulezt unter dem General ( adminiſtrator) Fürsten A. Czartoryski, bestand, und in der Stiftung von kleinrussischen Schulen , Zeitschriften , Theatern, Bibliotheken aller Art, überhaupt in der Kultivirung und Hebung der kleinrussischen Literatur und Nationalität unterstüßen sollen. Nur dadurch sind sie im Stande, die Kleinrussen und Polen der Moskowitiſirung zu entreißen und die russische Regierung entweder zur Annahme und Realiſirung des Princips der Gleichberechtigung der Nationalitäten und Religionsbekenntniſſe, der Autonomie und Föderation zu zwingen oder aus den Angeln zu heben. Der Ausspruch des Pietrusiewicz, mit dem er seine Rede zur Begründung der Gleichberechtigung der kleinrussischen mit der polnischen Sprache auf dem galizischen Landtage schloß, daß „ Polen nicht frei ſein könne, ſo lange Kleinrußland nicht frei wird“, ist nur allzu wahr. Wenn die Polen wollen, daß die Kleinruſſen den Großruſſen gegenüber ihre Selbſtändigkeit erlangen sollen , so müssen sie die Selbständigkeit, Autonomie und Unabhängigkeit der galizischen Kleinrussen sich selber gegenüber begründen. Wie der Vater seinen Sohn , oder der ältere Bruder einen jüngern, wenn er gegen ihn liebreich und gerecht handeln und sich dessen Liebe sichern will , nicht sein lebelang bevormunden , sondern sobald er majorenn geworden, ihn selbständig machen und ihm helfen wird, sein -- ebenso müssen auch die Polen mit den eigenes Hauswesen zu gründen Kleinrussen verfahren — und wie mit einem Zauberschlage verwandelt sich der Haß der Kleinruffen in Liebe und sie werden ebenso entſchieden gegen die österreichische und ruſſiſche Bureaukratie, gegen die Germaniſation und Moskowitiſirung auftreten, wie die Polen. Und wenn einer oder der andere von den jeßigen Führern der Kleinruſſen es nicht thun sollte , so bleibt er verlassen und ohne allen Einfluß , und wird von seinen eigenen Landsleuten , seinen bisherigen Anhängern, als ein österreichisch-deutscher oder ruffiſch-deutſcher Bureaukrat behandelt. Von der Polonisirung aller Kleinruſſen dieſſeits und jenſeits des Dniepr oder auch nur eines Theils derselben, werden die Polen hoffentlich nicht mehr träumen , sonst könnten sie noch einmal auch einen Metternich , Bach oder Schmerling zu einer ähnlichen Maßregel veranlassen, in Bezug auf die Gutsbefizer von Ostgalizien, wie der

134 Expropriationsukas vom December , in Betreff der polnischen Gutsbesiger in Westrußland, iſt.

Was nun dieſe unglücklichen Opfer , nicht sowohl des politischen und religiösen Fanatismus der Großrussen , als der Habsucht der deutsch- russischen Bureaukratie anbetrifft , so wird ihnen nichts übrig bleiben , als sobald wie möglich mit den Gutsbesißern der mit Westrußland angrenzenden Gouvernements, auch mit einigem Nachtheil, Tauschverträge zu schließen. Wenn sie aber keine irgend wie annehm = baren Tausch- und Kaufliebhaber unter den proteſtantiſchen und schismatischen Gutsbesißern und Capitaliſten finden , dann mögen sie ihre Güter entweder im Ganzen ihren Bauerngemeinden verkaufen , oder in Parzellen den Meistbietenden, oder einen Theil in Parzellen und den Rest im Ganzen in keinem Fall aber den Ablauf des zweijährigen Termins zum Verkaufe abwarten, sich von der Regierung auf das Pflaster sehen laſſen und in Unthätigkeit die Prozente von ihren willkürlich abgeschäßten Gütern als Gnadengeld verzehren , so lange als es beliebt dieselben ihnen darzureichen. Wenn sie auch nur ein paar Tausend Rubel baar für den Ver= kauf ihres Inventars oder ihrer Güter, im Ganzen oder in Parzellen, erhalten, so mögen sie unverzüglich ein Vorwerk oder ein paar Hundert Deſſiätinen Steppe in den angrenzenden Gouvernements kaufen und an die Arbeit gehen und diese, sowie ihre Intelligenz, wird ihnen in kurzer Zeit das Verlorene doppelt ersehen, jedenfalls viel sicherer sein, als die zehnfach größeren Prozente, die ihnen die Regierung von ihren Gütern zu zahlen hätte. Wenn sie aber auch so viel baar Geld aus ihren Gütern nicht herausschlagen, um wenn auch noch so bescheidene Meierei anzukaufen oder anzulegen - dann mögen sie das ihren Gemeindebauern verkaufte Gut von ihnen wieder in Pacht nehmen, oder auf ihre, der Gemeindebauern, Rechnung, adminiſtriren, um auf dieſe Weiſe in jährlichen Prozenten für ihre auf dem Gute hypothekarisch versicherte Verkaufssumme sich selber bezahlt zu machen. Es würde alsdann freilich nicht der bisherige Eigenthümer des Gutes allein von demselben Nußen ziehen, denn es würden auch die Bauern, je nach der Summe , die jeder von ihnen auf dem Gute angelegt , wie gering sie auch gewesen sein möge , ihre Prozente und Dividenden , sowie für die Arbeit, die sie während des Jahres auf dem Gute geleistet , ihren Lohn und ihre Tantièmen haben müssen. Aber bei einem solchen Arrangement würden beide Theile unzweifelhaft gut wegkommen. Der bisherige Gutsbesizer würde, troß der an die Bauern zu zahlenden Prozente, Dividenden, (Löhne) und Tantièmen, selber an Gehalt, Tantièmen und

135 Prozenten mehr Einkünfte haben , als vorher als Eigenthümer. Die Leute würden nämlich für ihre eigene Rechnung ganz anders arbeiten, als sie bisher für bloßen Tagelohn gearbeitet, oder vorher ihre Robotverpflichtungen geleistet haben. Der gewesene Gutsbesißer aber und nunmehrige Adminiſtrator würde gezwungen sein, über alle Einkünfte und Ausgaben genau Rechnung zu halten , was er bisher sehr selten gethan , und auf diese Weise eine viel ordentlichere und rationellere Wirthschaft zu führen. Der Gutsadminiſtrator , als ein von den Bauerngutsbesizern bezahlter Beamter, würde auch, von diesen fort= während beobachtet und kontrolirt, viel fleißiger hinter der Wirthschaft her sein müssen , als bis jezt , wo er sein eigener Herr war. Die Bauern wieder würden bei der Arbeit auf ihrem eigenen Gute, nicht nur vom Adminiſtrator überwacht sein , sondern sich selber gegenseitig und andere Arbeiter in ihrem eigenen Interesse kontroliren und zu energischer Thätigkeit aufmuntern . Die Güter würden in Folge dessen entschieden mehr leisten , als bis jeßt. Das ist wenigstens unsere innigste Ueberzeugung , die wir den polnischen Gutsbesizern in West= rußland als ein Mittel für die ihnen bevorstehenden Verluste sich schadlos zu machen, resp . zur Befolgung , bestens empfehlen. Die altrussische Partei wünschte und erwartete, daß mit dem Ukaſe, es ſollten die gemaßregelten Polen in Westrußland innerhalb zweier Jahre ihre Güter und zwar nur an schismatische und protestantische Russen verkaufen, ein andrer Ukas erscheinen würde, dem gemäß jeder Unterthan des russischen Kaisers in den Ostseeprovinzen Landgüter kaufen dürfte und hoffte, daß in Folge dessen der katholisch-polnische Adel in die proteſtantiſch-lettiſchen Ostseeprovinzen und der protestantisch-deutsche Adel dieser Provinzen nach dem katholisch-lithauischen Samogitien und dem übrigen weiß- und kleinruſſiſch - schismatiſchen Westrußland übersiedeln würde und somit die Ostseeprovinzen trog ihrer protestantisch-deutschen Städte durch das Gegengewicht des katholisch-polnischen Adels vor der Germanisirung und Lutheranisirung und die Poloniſirung Westrußlands wieder trog der katholisch-polni= schen Städte durch das Gegengewicht der proteſtantiſch-deutſchen Gutsbesiter gehindert würde. Indeß hat sich die deutsche Partei am Hofe einflußreicher gezeigt, indem sie das Privileg der Oſtſeeprovinzen aufrecht zu erhalten gewußt, demgemäß auch ein Großruſſe ſich nicht eher in den Ostseeprovinzen ankaufen kann , bis er das Indigenat dieſer Provinzen sich erworben. Somit können zwar die deutschen Gutsbesiger der Ostseeprovinzen, welche Capitalien zur Disposition haben, in Westrußland Güter erſtehen , nicht aber die Polen in den Ostseeprovinzen ſich ankaufen oder Tauschverträge mit den dortigen Gutsbesißern eingehen.

136 Als Motiv zu den Dezemberukaſen in Betreff der Expropriation der katholisch-polnischen Gutsbesißer und Geistlichen, so wie zu allen den seit mehr als einem Jahrhundert den Polen gegenüber angewendeten Gewalt- und Ausnahmemaßregeln haben keine höhern politischen oder volkswirthschaftlichen, auf die Dauer berechneten, Staatsmaximen gedient - sondern die Bereicherung der jedesmaligen in den ehemals polnischen Landestheilen bestallten und konsistirenden Beamten und Offiziere auf Kosten der gemaßregelten Einwohner. Deswegen war die deutsch - russische Bureaukratie für die Theilung Polens und gegen die Annektirung der ganzen Republik auf Grund einer Personalunion. Denn im leßtern Falle hätte ein Rechtszustand beſchworen und streng beobachtet werden müſſen, hätten keine Verzweiflungskämpfe der Polen zur Aufrechthaltung der Integrität und Selbstständigkeit ihres Reiches stattgefunden und somit auch keine Raubzüge des ruſſischen Militärs, kein Belagerungszustand, keine Willkürherrschaft, keine Contributionen , Verationen , Confiscationen und Verschenkungen der Güter an Beamte und Offiziere. Deswegen haben diese modernen Schwert und Raubritter, wenn irgend ein Kaiser von Rußland den Rücksichten der Gerechtigkeit , Billigkeit und Klugheit , den Wünschen und Bedürfnissen seiner polnischen und ruſſiſchen Unterthanen genug thun und einen gesicherten Rechtszustand einführen wollte oder einführte es an Intriguen, Machinationen , Verfolgungen und Provocationen nicht fehlen lassen, um die Bewohner zu einem verzweifelten Schritte hinzureißen, um dann Ausnahmemaßregeln treffen, einen Belagerungszustand verhängen und nach Herzensluſt im Trüben fiſchen zu können ; ja ſie haben sich nicht gescheut im äußersten Falle, wenn sie befürchteten , durch ' einen hochherzigen Entschluß des Monarchen, ihrer peruanischen und kalifornischen Goldgruben verlustig zu werden, selbst zum Fürstenmord ihre Zuflucht zu nehmen. Die Kaiser Paul und Alexander sind als Opfer dieſer blut- und beutegierigen Bureaukratie und Prätorianer gefallen. Wie nun die Pflanzschule , aus der sie sich hauptsächlich rekrutiren, die Ostseeprovinzen sind , so ist Polen nicht nur ihr Haupteldorado, sondern auch die Hauptposition, von der aus sie sich ganz Rußlands bemächtigen. Von da aus corrumpiren sie alle höhern Behörden der Hauptstadt , damit diese sie in ihrem Raub- , Plünderungsund Unterschlagungssysteme gewähren laſſen , von da aus ergießen ſie sich über ganz Rußland und sehen daselbst ihre Gewaltmaßregeln, Willkürherrschaft, Verationen, Prellereien, Defraudationen fort. Wenn Rußland also die Bestechlichkeit und die Veruntreuungen der Beamten und Offiziere beseitigt, wenn es einen gesicherten Rechtszustand bei sich begründen, wenn es sich die Zufriedenheit und Anhänglichkeit der

137 - dann muß mit ihm vereinten Völker sichern will es sich entschließen, allen Ausnahmemaßregeln in den ehemals polnischen Landestheilen zu entsagen und eine völlige Gleichberechtigung aller Nationalitäten, Stände und Bekenntnisse einzuführen. Es ist zunächst Sache der besißenden Klassen und rechtschaffener Leute jeder Art , Nationalität und Religion, die ihr Eigenthum auf eine ehrliche Weise erworben und vermehren und vor jeder Plünderung sichern wollen, daß sie sich zuſammenthun und der Beutelschneiderei der Bureaukraten und den communistischen Experimenten der mit ihnen verbundenen Demagogen zunächst als Mitglieder der Kreis- und Provinziallandtage und als Aktionäre , Abonnenten eines von ihnen zu gründenden und zu haltenden Tagesblattes, offen, entschieden und kräftig entgegentreten und die Vertheidigung des Rechts und des Eigenthums übernehmen, damit es nirgends im Reiche ungestraft verlegt werde. Das ist unterdeß das einzige Mittel , bei der gegenwärtig allgemeinen Begriffsverwirrung, Depravation und Demoraliſation, einen festen Grund zu gewinnen, auf dem sich ein kräftiger, geſunder Bau socialer und politiſcher Zustände aufrichten läßt. Es giebt rechtſchaffene und conservative Elemente in Rußland genug , die der allgemeinen Rechtsunsicherheit, den Mißbräuchen und Gewaltmaßregeln der feilen Bureaukratie einen festen Damm entgegenzuseßen , die ihren geängstigten, an Kron und Leben bedrohten , Monarchen aus den Händen der, ihn zu ihren Privatzwecken mißbrauchenden , Prätorianer zu reißen im Stande wären, wenn sie nur den Muth hätten , offen hervorzutreten, sich zu organiſiren und thätig vorzugehen. In dem Augenblicke, wo sie sich dazu entſchließen und den erſten praktischen Schritt thun würden , würden sie auch Herren der Situation ſein. Denn der ganze beſißende, edle, moraliſch-ſtrebsame, patriotische, aufgeklärte Theil der Bevölkerung, alle beschädigten und unterdrückten Personen, Nationalitäten und Bekenntniſſe des Reichs , würden sich unverzüglich auf ihre Seite schlagen, der Monarch würde mit Freuden in die Arme von rechtſchaffenen, conservativen, moraliſchen, aufgeklärten Männern sich werfen, mit Entzücken' von allen ihm erge= benen Völkern begrüßt werden , die centraliſtiſche Partei der ruſſiſchdeutschen Bureaukratie würde gleich der österreichischen wie Schnee am ſonnigen Frühlingstage zusammenschmelzen , die freundschaftlichen Beziehungen mit allen slavischen und romaniſchen Völkern würden hergestellt sein, ein europäischer Kongreß könnte unverzüglich zuſammentreten, die Angelegenheiten unseres Welttheils auf die oben angedeutete Weise ordnen und die Zufriedenheit, den Frieden und das Glück der civilisirten Welt auf lange begründen.

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20. Alle ehemals polnischen Landestheile würden demgemäß an Rußland kommen, aber ein selbstständiges , autonomes Ganze bilden und bloß durch eine Personalunion mit demselben verbunden sein. Der jedesmalige Thronfolger von Rußland würde König und Statthalter von Polen, alle Aemter und Garniſonen bloß von Eingeborenen be ſeßt, eine conſtitutionelle Regierungsform eingeführt, überhaupt ein Verhältniß hergestellt sein , wie das von Lithauen oder Preußen zu Polen gewesen und das Norwegens zu Schweden oder Ungarns zu Desterreich ist. In eben solchen Föderativverhältniſſen, wie das autonome Polen zu Rußland, würde wiederum das autonome Preußen , Lithauen, Weiß-, Roth- und Kleinrußland zu Polen zu stehen kommen. Das ist vielleicht die einzige Art und Weise, wie eine der schwierigſten und brennendsten Fragen Europas , ohne einen europäischen Krieg, zur allgemeinen Zufriedenheit gelöst, ein großes Verbrechen der Menschheit gefühnt , das öffentliche Gewissen beruhigt , die Autorität des internationalen Rechts wieder hergestellt, ein fester Boden für die innern Verhältnisse vieler Staaten gefunden, der Friede Europas gesichert, die stehenden Heere beseitigt oder wenigstens um die Hälfte reduzirt und die Welt von den durch Napoleon vorausgesehenen Katastrophen bewahrt werden könnte. Das ist jedenfalls unzweifelhaft, daß einerseits das von uns vorgeschlagene Arrangement das Wenigste ist, was für die Beruhigung und Zufriedenstellung Polens geschehen kann, und daß andrerſeits die Abschaffung der stehenden Heere , eine befriedigende Lösung der wichtigſten europäiſchen Fragen, wie die der Donaufürſtenthümer, der Elbherzogthümer, der niederländisch-belgischen und besonders der venetianischen, griechischen , deutschen und orientalischen , sowie die endliche Pacificirung und Sicherstellung Europas , sowohl gegen eine allgemeine Revolution, als auch gegen die Ueberfluthung von Seiten Rußlands, ohne zufriedenstellende Lösung der polnischen Frage, nicht möglich ist. Sie bildet den Schlüssel zu allen übrigen. Weitere Anordnung der gegenseitigen Verhältnisse der Völker des russischen und polnischen Reiches , wie z . B. die Vereinigung aller Ruthenen oder Kleinruſſen zu einem Ganzen, würde schon eine innere Angelegenheit, die Sache der Verſtändigung dieſer Völker selber sein. Wenn sich mit der Zeit mit Kleinrußland ganz Süd- , Roth- und Westrußland (mit Ausnahme des eigentlichen Lithauens und Samogitiens) vereinigen wollte , so würden sich vielleicht dafür mit Polen die Ostseeprovinzen und wenigstens das von Letten bewohnte Kur-

139 und Livland vereinigen wollen , während das von Finnen bewohnte Esthland und Ingermannland eine Gruppe mit Finnland und das allmählich gänzlich russifizirte Kasan und Astrachan eine andere mit Großrußland würde bilden wollen. Jedenfalls würde durch das oben angegebene internationale Arrangement in Betreff Polens ein völkerrechtlich gesicherter , geschichtlich begründeter, moralischer, fester Rechtsboden für Rußlands weitere Entwickelung nach Innen und Außen gewonnen sein. Die Landestheile und Elemente, welche auf dieſe . Weiſe von Oesterreich und Preußen an Polen und damit an Rußland mit den Universitäten von Lemberg, Krakau und Königsberg kämen, würden auf die Beschleunigung der Kultur des russischen Reiches von unberechenbarem Nußen ſein. Rußland in den Besiß der schönsten Länder, der ihm unentbehrlichsten Flußmündungen , Häfen , Waſſerſtraßen , Meeresgestade und gesicherter Grenzen gelangt , könnte und würde sich dann der Cultivirung und Ausbeute seiner unerschöpflichen innern Hülfsquellen und Schäße mit dem größten Nußen und Erfolg hingeben und nach Erreichung seines Hauptzieles weniger an Eroberungen denken, die ihm auch durch die Abschaffung oder bedeutende Verminderung des stehenden Heeres und durch die Stellung Polens ungeheuer erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht würden. Denn Rußland würde durch ein autonomes Polen von dem übrigen Europa getrennt sein und könnte gegen das leztere ohne Uebereinstimmung mit ersterem keinen Krieg beginnen. Polen ist aber so jeder Eroberung und Vergrößerung abgeneigt , daß es während seines tausendjährigen Bestehens nicht nur niemals auf Eroberungen ausgegangen ist, sondern das Anerbieten andrer Völker, sich mit ihm freiwillig zu vereinigen , oft ausgeschlagen hat. Freilich würde Polen, das die Union mit Böhmen und Ungarn unter der Jagielloniſchen Dynaſtie oft ausgeschlagen hat, es nicht verhindern können und wollen , wenn etwa Desterreich (zugleich mit der mit ihm verbundenen europäischen Türkei) sich mit Rußland vereinigen wollte ; es könnte die Eroberung Schwedens und Norwegens durch Rußland nicht verhindern, wenn sich dieses mit Preußen oder Deutschland darüber verständigte und ihm dafür Schleswig-Holstein, auf das es Erbansprüche hat, und ganz Dänemark überließe - wie überhaupt Niemand Rußland jezt mehr hindern kann , bis an offene, äußere Meere vorzudringen , außer seine eigenen Fehler und Verkehrtheiten - aber was Polen nach seiner Wiederherstellung , wenn auch unter russischer Dynastie, hindern könnte und würde, das ist einen Ausbruch der Kosaken, eine Verheerung, Verwüstung , Niedermeßelung und Eroberung Deutschlands, Italiens, Frankreichs und ganz Europas über=

140 haupt. Das möge man nicht gering schäßen und unbeachtet laſſen, bis es wieder zu spät ist. Polens schöne, aber höchst schwierige und gefährliche , gar nicht beneidenswerthe Miſſion, war, ist und wird immer bleiben, die Cultur, Humanität, Freiheit und Civilisation des Occidents immer weiter nach dem Orient und Norden Europas und Asiens zu verbreiten und durch Behauptung seiner eigenen Selbstständigkeit, die Unabhängigkeit und Cultur des Westens vor dem Ausbruche der östlichen Barbaren zu schüßen und zu erhalten. Wenn es diese seine Pflicht nicht freiwillig thut, dann wird es durch die Verhältnisse dazu gezwungen , es wird von den Barbaren und durch die Barbarei überwältigt und in den weiten Strecken des Ostens und Nordens zerstreut, wo es wider Willen und unbewußt ſeine eigentliche Aufgabe erfüllt. Polen darf sich weder gegen den Osten abschließen , den es zu civilisiren und durch die Ueberlegenheit seiner Civilisatiou zu leiten hat, wenn es nicht von ihm und seinem Barbarenthum sogleich überwältigt werden will - noch gegen den Westen, von wo aus es seine civilisatorische Kraft fortwährend ergänzen und erneuern muß. Es darf keinen Augenblick ſeine Aufmerkſamkeit von dem abwenden , was im Osten geschieht, es muß Alles mit Interesse und nicht mit Widerwillen beobachten, an jeder Veränderung , an jeder Entwickelung mit Theilnahme participiren , das Bestreben jeder Partei der stammverwandten Völker zur Entwickelung von freisinnigen und nüßlichen Inſtitutionen unterſtüßen, damit sie durch ihre Nachlässigkeit nicht verkehrt angefaßt und ausgeführt zu ihrem und dem Nachtheile der Menschheit ausschlagen, besonders jezt, nachdem sowohl in Desterreich, als auch in Rußland die Bevölkerung wenigstens theilweise zur Theilnahme an der Verwaltung und Berathung öffentlicher Angelegenheiten berufen ist. Es ist auch die einer jeden Nation würdige Aufgabe an der Civilisation und Beglückung von hundert Millionen Menschen mitzuwirken und sie zu bewirken. Und sie ist eine um so heiligere Pflicht, wenn ſie hauptsächlich die Aufklärung und Beglückung von Stammgenossen betrifft, welche kein anderes Volk in solchem Grade und mit solchem Erfolge zu erfüllen vermag und verbunden ist. Der Weſten iſt aufgeklärt und ſtark genug, um für sein Wohl und seine Freiheit allein ohne Hülfe der Polen sorgen zu können und hat jedenfalls mehr Mittel dafür, als die Polen. Sie können daher jede Arbeit und jeden Kampf dafür sparen. Aber der Often, die Slavenwelt, kann schwerlich ihre Hülfe im Ringen nach Freiheit und Civilisation entbehren. Wie jedoch die Slaven wohl schwerlich ohne Hülfe der Polen zur Freiheit und Civi-

141 lisation gelangen werden, so werden auch die Polen kaum ihre Einheit und Selbstständigkeit ohne Zuthun der übrigen- Slaven wiedererlangen. Je eher die Polen ihre heilige Pflicht und hohe` Miſſion in der Erleuchtung des nächsten und entferntesten Osten, die sie während der lezten Jahrhunderte vernachlässigt gehabt, erfüllen , desto eher werden sie ihrem eigenen Unglück und der Barbarei und Sklaverei ihrer Stammgenossen ein Ende machen. Wenn sie einmal anfangen. Realpolitik zu treiben, so werden sie auch, zwar langsam, aber sicher zum Ziele kommen. In der Geschichte, in den Zuständen der menschlichen Gesellschaft giebt es keine Sprünge. Aus so traurigen Verhältniſſen, in die ſie in der lezten Zeit der Republik und Unterjochung gerathen ſind, ſpringt man nicht durch den Zauberschlag einer Revolution in die geordnetſten und glücklichsten Zustände hinein. Daher entsagen sie mit Recht jedem Parteitreiben, jedweder Theilnahme an Verschwörungen, Empörungen, Revolutionen und Kämpfen des Westens und halten sich überhaupt im Westen blos zum Zweck ihrer Ausbildung auf, um die dort gesammelten Kenntnisse und Erfahrungen im Osten zu produktiven Arbeiten zu verwerthen. Sie entſagen jedem Haß und jeder Feindschaft ihrer Stammgenoſſen aber keinem ihrer eigenen Rechte , Principien und Ideale. Sie verleugnen keine der Wahrheiten und edlen Ziele, für die sie gestritten und ge= litten. Sie sind im Gegentheil entschlossen , alle loyalen Mittel anzuwenden, um ihnen zum Siege zu verhelfen — jedoch nie mit Fremden, Ausländern zur Bekämpfung ihrer Stammgenossen sich zu verbinden, jede fremde Hülfe, wenn sie ihnen auch freiwillig zu dem Zwecke angeboten würde, zurückzuweisen, und um so weniger sie anzurufen ; wenn sie je zur Nothwehr mit einem Theile ihrer Stammgenossen gegen eine tyrannische Partei zu den Waffen zu greifen genöthigt sein sollten , dieselben bei einer drohenden Gefahr von Außen , beim Einmiſchen eines Fremden zugleich mit der bekämpften Partei der Stammgenoſſen gegen das Ausland zu wenden. In solchem Falle können sie auch bei der Bekämpfung der herrschenden und ihre Gewalt mißbrauchenden Partei der thätigen Unterſtügung aller Unterdrückten und Unzufriedenen sicher sein , weil diese dann die Gewißheit haben , daß sie sich nicht mit den Feinden des Vaterlandes , sondern mit dessen Befreiern verbinden , und durch die Solidarität mit den unterdrückten und unzufriedenen Einwohnern des russischen Reiches kommen die Polen gewiß eher zum erwünschten Ziele, als durch die Verbindungen mit Fremden, als durch die Intervention des Auslandes. Wenn sie sich aber sowohl der Unterstüßung der freisinnigen Russen, als der ausländischen Intervention bedienen wollen, dann werden sie und müssen sie freilich beider verlustig werden. Beobachten und befolgen die Polen streng dieſe Grundsäße der Soli-

142 darität mit den Russen und Slaven, dann werden sie wohl auch noch von der herrschenden Partei benachtheiligt - aber sie werden schwerlich wegen ihrer Nationalität und Religion verfolgt , weil sie aufge= hört haben, die Existenz des Staates durch dieselben zu bedrohen und zu gefährden. Je emsiger sich die Polen den bürgerlichen Arbeiten hingeben, dem Ackerbau, Handel, dem Fabrikweſen, den Gewerben, Künſten und Wiſſenschaften, der Pflege und Kultur ihrer Religion und Nationalität, aber jede systematische Polemik gegen die Regierungen fahren laſſen, desto kräftiger und bedeutender als Nation werden sie erscheinen und je ruhiger und neutraler sie sich allen auswärtigen Angelegenheiten gegen= über verhalten, desto eher gelangen sie zur Einheit und Selbstständigkeit, blos durch den natürlichen und nothwendigen Verlauf und Fortschritt der Dinge und Gestaltung der europäischen Verhältnisse. Denn je weniger Rußland wegen der Ruhe Polens besorgt sein wird , desto mehr wird es sich beeilen die Mündungen bedeutender Flüsse und Meere, commerziell und strategisch wichtige Punkte und Linien, natürliche Grenzen, möglichst viele Seegestade und offene äußere Meere zu gewinnen und durch Religion und Abstammung verwandte Völker mit sich zu vereinigen. Es kann aber keinen Schritt in der angegebenen Richtung thun, ohne zunächst alle polnischen Landestheile mit sich zu vereinigen. Das Alles kann, wird und muß desto eher und leichter erreicht werden, je entſchiedener, je einiger es die beiden vorzüglichsten Nationen erstreben, je weniger sie sich in ihrer Politik und ihren Verhältnissen zu einander von Haß, und je mehr sie sich von Vernunft beſtimmen laſſen. Die Austragung der innern Streitpunkte müſſen ſie vertagen bis nach Erledigung der äußern Angelegenheiten. Bis dahin müssen beide Seiten einander nachgeben, wenn sie ihre wichtigsten ge= meinsamen Interessen nicht gefährden wollen. Es war bis jegt beiden der Hauptfehler gemein , daß sie bei wichtigen Angelegenheiten und Zeitfragen, nicht die Hauptsache von den Nebensachen, nicht das Wichtigere von dem weniger Wichtigen zu unterscheiden wußten und jenes oft dieſem opferten. Aber die Polen sehen meistens schon ein, daß zu allen Zeiten und von allen Völkern die Existenz, die Einheit und Integrität als das Wichtigste und Erste unter allen nationalen und politischen Fragen und Angelegenheiten betrachtet und alle übrigen ihnen untergeordnet werden. Die Russen hinwieder müssen auch all= mählig begreifen , daß die Moskowitisirung und Schismatirung nicht ihre wichtigste Aufgabe ist und daß ſie ihr alle übrigen Intereſſen, das materielle Wohl, die Civiliſation, Sittlichkeit und Freiheit und selbst die Sicherheit Rußlands nach Innen und Außen nicht opfern dürfen ; daß eine Versöhnungspolitik gegen das durch die Theilung so tief

143 verlegte Brudervolk der Polen durchaus geboten und ohne irgend einen Verlust oder irgend eine Gefahr, im Gegentheil mit dem größten Vortheil für die höchsten und wichtigsten Interessen des Imperiums ausgeführt werden kann und muß. Großes , Wichtiges und allerseits Vortheilhaftes können blos . die beiden in Liebe , gegenseitiger Achtung und Zuvorkommenheit vereinten slavischen Nationen leisten. Andererseits jedoch, wie traurig, demüthigend und nachtheilig es für die Polen, Lithauer, Ruthenen und andere Slaven sein mag, daß · sie nicht zu einem Reiche vereint, ſondern unter mehrere Staaten vertheilt sind , so sollten sie bedenken , daß nicht nur ihnen allein dies Loos zu Theil geworden, daß es auch die Griechen, Italiener, Dänen, Deutsche und Franzosen theilen und daß dieſes neben seinen schlechten auch wohl seine guten Seiten hat. Jede von den Regierungen, denen sie unterworfen sind , hat wohl ihre Fehler und ihnen feindliche und nachtheilige Tendenzen aber auch ihre Vorzüge , durch die ſie groß und mächtig geworden ist. Die Polen und ihre Stammgenossen sollten also die Gelegenheit und die Zeit ihrer unfreiwilligen Vereinigung mit diesen Staaten benußen , um sich ihre Vorzüge anzueignen und ihre Fehler nicht aus systematischer Opposition und Feindseligkeit fortwährend und bei jeder paſſenden oder unpassenden Gelegenheit hervorheben, sondern allein zu dem Zwecke merken, um sie selber künftig zu vermeiden. Wie die Italiener, Deutschen und Franzosen ihre hohe Entwickelung und die Blüthe ihrer Wissenschaften und Künste dem Umstande mit zu verdanken haben , daß sie dieselben wenigstens immer in einem Staate frei und in mehreren auf die mannigfaltigſte Weiſe fördern und kultiviren konnten, so sollten auch die Polen den Zustand ihrer Theilung nicht sowohl fortwährend auf eine von Selbstgefühl erfüllten Männern unziemende Weiſe beklagen , als vielmehr zu ihrer allseitigen Ausbildung und ihren Zwecken benußen. Wenn sie ihre Lebenskraft wirklich fühlen , aus der Weltentwickelung wirklich die unabweisbare Noth= wendigkeit der Wiederherstellung ihres Vaterlandes klar voraussehen, dann sollten sie auch mit ruhigerer und geduldigerer Zuversicht die Zeitumstände, die Gelegenheit dieser Wiederherstellung abwarten und sich nicht , wie eine Heerde Lämmer , in jede zufällig oder absichtlich entzündete Flamme des Kampfes oder der Revolution zu ihrem Verderben hineinſtürzen. Diese Haft zeigt nicht von zuviel Zutrauen in die Kraft und Unverwüstlichkeit ihrer Nationalität , in den endlichen Sieg ihrer heiligen Sache. Selbſt in Preußen ist ihre Nationalität nicht so gefährdet , wie es Manche von ihnen zu befürchten scheinen. Indem sie dort in der Anzahl von drei Millionen den siebenten Theil der ganzen Bevölke-

144 rung ausmacheu, so haben sie schon Kräfte genug, um sich ihrer Haut zu wehren. Und geschieht trozdem ihrer Nationalität ein Abbruch, so ist dies mehr ihrer eigenen Schuld und Nachlässigkeit, als den feindlichen Tendenzen der deutschen Regierung und Bevölkerung zuzuschreiben. Der Adel kann sich noch nicht an Ruhe, Ordnung, Arbeit, und Ausdauer, Einfachheit , Sparſamkeit und ſtrenge Pflichterfüllung gewöhnen, lebt noch zum großen Theil in Saus und Braus und verschwendet sein Vermögen, welches ſodann in deutſche Hände, auch ohne Zuthun der Regierung, übergeht. Dagegen würde auch die polnische Regierung nichts vermögen , wie sie es auch vor der Theilung nicht verhindern konnte , daß die westlichen Kreise Großpolens germaniſirt wurden. Der Adel ist zu verwöhnt, blos das für national und bedeutend zu betrachten, was adlig ist, spricht daher blos vom Großherzogthum Posen als einer polnischen Provinz im Königreich Preußen, von den Pflichten, welche die Regierung gegen dieſe Provinz hat , verlegt und vernachlässigt, denkt aber nicht an die Erfüllung seiner eigenen Pflichten gegen seine ärmeren Landsleute, vergißt, daß außer dem Großherzog= thum, wo etwa nur 800,000 Polen leben , in jeder der Provinzen Preußen und Schlesien über eine Million ihrer Landsleute wohnen, die gänzlich verwahrloſt ſind, welche aufzuklären, geiſtig und materiell zu erheben , zunächst die Pflicht der Gebildeten unter den Polen Preußens , des Adels und der Geistlichkeit des Großherzogthums ist. So lange sie dieſe ihre heiligsten Pflichten gegen ihre Nation nicht erfüllen, ſind ſie nicht einer höhern Achtung , eines beſſern Schicksals werth, als die Lithauer, Maſuren und Kaſſuben Preußeus , und die Wenden und Waſſerpolaken Schlesiens. Erst wenn ſie jede nationale Kraft zu achten, zu beleben und zu benußen gelernt haben werden, können sie mit Sicherheit darauf rechnen, den ihnen gebührenden Plaz unter den Nationen Europas wieder einzunehmen . Erst wenn in der preußischen Kammer 50 statt der bisherigen 22 polnischen Deputirten, im Namen von 3 Millionen statt im Namen von 800,000 preußischen Polen sprechen werden, können sie darauf rechnen, ihre nationalen Bedürfnisse berücksichtigt zu sehen. Was sie bisher nicht aus Ehre und Pflichtgefühl gethan, dazu werden sie wohl mit der Zeit durch die Noth gezwungen werden. Und wie durch die Theilung Polens die Polen des Großherzogthums veranlaßt werden sich der Polen, Slaven und Lithauer in Ostund Westpreußen , Pommern , Schlesien und Brandenburg in ihrem eigenen Intereſſe anzunehmen, sie aufzuklären, sittlich und materiell zu heben und für nationale Zwecke zu gewinnen — ebenso sehen sich auch die Polen Galiziens durch die Umstände gezwungen , nicht nur die

145 Polen von Desterreichiſch-Schlesien , sondern auch die übrigen Slaven des österreichischen Staates , von denen vor der Theilung Polens Niemand etwas hörte oder wußte, wo sie aber jezt eine nicht unbedeutende Rolle spielen und eine noch bedeutendere zu spielen bestimmt zu sein scheinen - in ihren nationalen Gefühlen zu beleben, in ihren nationalen Ansprüchen zu ermuthigen, in der Erkämpfung ihrer nationalen Gleichberechtigung und Autonomie zu unterstüßen. Zunächst haben sie das bewirkt durch die Berufung des slavischen Kongreſſes nach Prag im Jahre 1848 und seit der Zeit durch die Solidarität auf den Reichstagen zu Wien, Kremsier, auf ihren Provinziallandtagen und in der Presse. Ohne den Anschluß Galiziens an Desterreich wären die österreichischen Slaven schwerlich jemals zum nationalen Selbstbewußtsein, zur nationalen Entwickelung , Autonomie und Bedeutung gelangt, deren sie sich jeßt erfreuen . Andererseits bilden sich die Polen dadurch aus Desterreich einen zum größten Theil slavischen Föderativstaat und damit das wirksamste Mittel zur Sprengung des deutsch-russischen Centralismus und Despotismus . Auch in Rußland sind die Polen seit der Theilung ihres Vaterlandes keiner der dortigen Bewegungen zur Herbeiführung der Freiheit und des Fortschrittes fremd geblieben. Gleich den Aufſtand Pugaczews im Jahre 1773 haben die Polen , besonders die nach dem östlichen Rußland verbannten Barer Conföderaten , nicht nur unterſtüßt, sondern zum Theil hervorgerufen. Ebensowenig waren sie fremd der Verschwörung und Empörung der panslavistischen Föderaliſten, Dekabristen genannt, im Jahre 1825 ; der durch die Petition des polnischen Adels in Lithauen hervorgerufenen Bauernemancipation , der durch den in Wilna im Jahre 1863 gehängten Grafen Sierakowski geleiteten Militairreform , der Petersburger , Moskauer und Kiewer Studentenbewegung im Jahre 1862 , der Entstehung und Thätigkeit der ruſſiſchen freien Preſſe im Auslande durch Herzen und der geheimen in Petersburg, weder der Republikaner-Verschwörung im Kasanschen im Jahre 1863, noch der in Sibirien im Jahre 1864. Ein bedeutender Theil der Professoren und Schüler aller ruſſiſchen Univerſitäten waren Polen, ein großer Theil der Aerzte, Ingenieure und Dekonomen im eigentlichen Rußland sind Polen und alle diese, sowie die zum Militair ausgehobenen und nach dem tiefen Rußland und Sibirien Verbannten, deren Zahl seit dem Jahre 1863 über 200,000 Personen und seit 1772 schon mehrere Millionen beträgt, haben nicht unterlassen und umhin können im Intereſſe der Humanität, Civiliſation, Freiheit, Gleichheit und Selbstständigkeit zu wirken , die Altgläubigen in ihrem Streben nach religiöser, die Kleinruſſen in ihren Bemühungen nach nationaler Gleichberechtigung zu beſtärken und zu unterſtügen, weil Europa. 10

146 fie dadurch mit Recht Sympathien und Verbündete für ihre Sache zu gewinnen hofften. Ja, um der Eroberungssucht der Ruſſen Grenzen zu ſeßen, welche die türkischen Slaven vermöge ihrer Stamm- und Glaubens - Genossen= schaft zu ihren Zwecken ausbeuteten und den Beſtand des türkischen Reiches bedrohten , haben sich die Polen sogar unter diese ihre entfernten und jedes Schußes, Rathes, aller Bildung baren Brüder begeben, um sie geistig und materiell zu heben , zu ihrem Glauben , zu ihren Grundsäßen und Freiheitsideen zu bekehren, um womöglich aus dem Osmanen-Reiche noch einen halb slavischen Föderativstaat , noch eine andere Phalanx zur Sprengung des deutsch-russischen Centralismus und Despotismus zu bilden . Dort haben sie denn ihre Missionen, Reiterregimenter , Colonien und Schulen unter ihren Stammgenoſſen errichtet und wirken für deren Wohlstand, für Aufklärung und Autonomie und durch dieselben für die Bildung, Freiheit und Selbſtſtändigkeit ihrer im benachbarten Rußland anſäſſigen Landsleute und Glaubensgenossen, der Polen, Kleinruſſen , Serben und Bulgaren, der Katholiken und Altgläubigen. Ohne die Theilung Polens wäre dieß Alles nicht geschehen. Freilich wären sie gleich seit dieser Katastrophe in solcher Richtung und folchem Sinne , mit Bewußtsein , Berechnung , systematisch, konſequent und ausdauernd thätig gewesen - anstatt sich in alle Parteikämpfe des In- und Auslandes zu stürzen , Verschwörungen anzuzetteln und fremden Fahnen zu dienen sie hätten schon längst mehr erreicht, als sie je beabsichtigt haben . Gleich wie ein großer Mann, weiß auch eine große Nation jedes Unglück, jede Lage, wenn sie auch noch so schlimm wäre, mit Ruhe und Würde zu tragen und selbst zu seinem Vortheil, zu seiner Erhebung und Verherrlichung auszubeuten. Wie traurig auch das Schicksal der Polen durch die Theilung, besonders auch in Rußland, geworden sein mag, so haben sie doch auch mehr Gelegenheit zu einer großartigeren Zukunft ihres Volkes erlangt, als sie ohne dieſes Ereigniß sie wohl je gehabt hätten. Es ist mehr als Recht, daß sie für sich und ihre Stammgenossen in den Staaten, denen sie unterworfen sind , möglichst viele Rechte und Freiheiten zu erwerben suchen , wenn sie aber dasjenige nicht haben, was sie für nothwendig und wünschenswerth halten , so mögen sie bedenken , daß es in keinem Staate so hergeht , wie es wünschenswerth und nothwendig wäre und daß sie auch in ihrem eigenen, unabhängigen VaterLande nicht Alles nach Wunsch gehabt haben und haben könnten, und daß die Freiheit und Unabhängigkeit noch nicht hinreicht, um ein Volk glücklich und geachtet zu machen, wie das Griechenland, Spanien und die Südamerikanischen Republiken beweisen.

147 Jenes Frankreich , welches schon so viel Revolutionen gemacht, Republiken gestiftet und Dynastien gewechselt, ist noch weit davon entfernt, alle die Rechte , Freiheiten und Einrichtungen zu haben , die es für unentbehrlich hält und für deren Erwerbung es so viele blutige Anstrengungen gemacht hat. " Es ist gewiß unbestreitbar" , sagt die « Pariser Presse » in Beantwortung der ihr ertheilten Verwarnung, die sie in Folge der Beurtheilung der leßten Thronrede erhalten ,,,es ist gewiß unbestreitbar, daß die parlamentarische Freiheit, die Associationsfreiheit, das Versammlungsrecht und die Preßfreiheit in Frankreich nicht bestehen." Jenes England , welches für den klaſſiſchen Boden der Freiheit gilt, ist noch weit davon entfernt, alle ſeine Bewohner zu befriedigen, wie dieß die gegenwärtige Agitation für das allgemeine Wahlrecht und die neulich in Irland entdeckte Verschwörnng der Fenier beweißt. Ja vor 40 Jahren, zur Zeit der Regentschaft, verfuhr man mit der Preſſe, mit den Vereinen und Verſammlungen , mit der Oppoſition , mit den politischen Processen und Urtheilen beinahe ebenso — loyal — wie gegenwärtig in Preußen oder Rußland . England verfuhr mit den Aufständischen in Ostindien und Jamaika , mit den ruſſiſchen Meeresanwohnern während des orientalischen Krieges nicht besser , als Rußland mit den aufständischen Polen. Die Katholiken in England ſind erst im Jahre 1829, die Juden erst vor ein paar Jahren zu öffentlichen Aemtern zugelassen worden und jezt noch in mancher Hinſicht im Nachtheile. Die katholischen Geistlichen z . B. erhalten von Staatswegen keinen Gehalt und leben nur vom Almosen ihrer Pfarrkinder, die auch die Pfarrwohnung und die Kirche auf ihre eigenen Kosten ohne Beihülfe der Regierung bauen und erhalten müssen , aber außerdem müssen die armen Katholiken in England auch noch die Zehnten der anglikanischen Geistlichkeit zahlen , denselben Kirchen und Pfarrgebäude bauen und unterhalten helfen , welche in Irland meistens nuzlose Sinekuren bilden, indem es ihnen mit wenigen Ausnahmen an anglikanischen Eingepfarrten fehlt. Die Katholiken und Juden haben in Schweden und Norwegen und die leßtern in der freien Schweiz bis jezt keine Bürgerrechte. Hier besteht auch und wurde bis vor kurzem noch die Körperstrafe mißbraucht. Doch soll damit nicht geſagt sein, daß die Polen gegen alle Uebelſtände, Unregelmäßigkeiten und Ungerechtigkeiten der Theilungsmächte gleichgültig sein sollen. Sie sind nicht nur vollständig berechtigt, sondern auch verpflichtet , unerschütterlich an allen ihren Menschen- und Nationalrechten festzuhalten, allen Widerrechtlichkeiten standhaft entgegenzutreten und die höchsten Freiheiten zu erstreben. Wenn ihre Bemühungen aber um Abstellung von Gewaltthätigkeiten , Corruptio = 10 *

148 nen und Mißbräuchen Erfolg haben sollen , so müssen sie auch die Bemühungen der Regierung um die Verbesserungen der Zustände im Reiche anerkennen und unterſtüßen und, wenn nicht mit der jeßt herrschenden Partei in Rußland, so doch zu der Solidarität mit dem russischen Volke sich entschließen und jedweder Verbindung mit dem Auslande zur Bekämpfung Rußlands auf immerdar entfagen . Wenn neben dem Tadel , den Klagen und Beschwerden , welche die Polen vorbringen, auch der Bestrebungen zu Reformen und Verbesserungen liebevoll Erwähnung geschehen würde, so würden jene von Seiten der russischen Nation und Regierung mehr Glauben und Berücksichtigung finden, weil sie dann die Ueberzeugung haben würden, daß dieselben begründet und in guter Absicht und nicht bloß aus Haß und Feindseligkeit vorgebracht waren. Wenn man sich überzeugen würde, daß die Polen als solche an der Entwickelung der Aufklärung , Geſittung und des Wohlstandes des russischen Volkes innigen Antheil nehmen, da würde man ihnen auch unzweifelhaft mehr Antheil zur Mitwirkung an diesen Reformen durch Uebertragung von hohen und einflußreichen Stellen gewähren. Man muß sich von dem beſchränkten Standpunkte, als wenn man Polen nur dann nüßen könnte, wenn man Rußland ſchadet, und Rußland nüßen könnte , wenn man Polen . Schaden zufügt, zu dem höhern erheben , daß man durch die Beglückung Rußlands Polen wohlthuen und durch die Verherrlichung Polens Rußland groß machen kann . Das Glück und die Größe beider Völker schließen nicht nur nicht einander aus, sondern sie bedingen sich gegenseitig. Es ist ganz unzweifelhaft, daß von dem Augenblicke, wo beide Nationen aus eifersüchtigen, mißgünstigen Feinden , für einander liebevoll - opferbereite Brüder werden , wo der König von Polen gleich dem Kaiser von Rußland geachtet, die Polen nicht von ihm als Stiefkinder und er - es von ihnen nicht als Stiefvater betrachtet und behandelt wird – keine Schwierigkeit geben würde, die sie gemeinschaftlich nicht zu überwinden, keinen Grad von Macht, Wohlstand und Kultur, den sie zu erreichen nicht im Stande wären. Die Polen in Preußen , Desterreich und Rußland müßten eine heilige Allianz dieſer drei Großmächte nicht sowohl bekämpfen, als vielmehr zu einer wirklich heiligen zu machen suchen und besonders durch die Preſſe und durch die Volksrepräsentanten ununterbrochen und unermüdlich dahin wirken , daß der durch den Wiener Congreß stipulirte völlig ungehinderte Personen- und Handelsverkehr zwischen den verschiedenen Theilen des ehemaligen Polens (oder wenn man lieber will zwischen den ganzen drei nordischen Großmächten), also ein polnischer Staatenbund und Zollverein gleich dem deutschen hergestellt würde. Den Bestimmungen des Wiener Congresses gemäß dürften

149 die Einwohner und Waaren aus den ehemals (1772) polnischen Landestheilen beim Passiren der preußisch-ruſſiſchen und österreichisch-ruſſi= schen Grenze, sowie umgekehrt, gar keine Zölle oder höchstens 10 Prozent vom Werthe der Waare zahlen und gar keine Pässe , höchstens ihren Tauf- oder Heimathschein vorzeigen.

21 . Es ist richtig, daß in Rußland noch sehr barbariſche Zustände herrschen, noch die scheußlichsten Mißbräuche, die schreiendsten Gewaltthätigkeiten geschehen - aber man kann doch unmöglich leugnen, daß man auch dort bestrebt ist Verbesserungen zu treffen , und daß man in kurzer Zeit sehr viel in dieſer Richtung gethan hat, was gewiß nicht ohne großartige Resultate bleiben wird. Wenn nicht mehr geschieht, oder wenn mehr auf dem Papier als in der Wirklichkeit geschieht , so ist das mehr die Schuld des aufgeklärten Theils der Bevölkerung und somit auch der Polen , daß sie die getroffenen Verbeſſerungen und Reformen nicht zu realiſiren, auszubeuten und zu vervollkommnen verstehen , als derjenigen , welche sie begründet haben. Zu denken und zu behaupten, die Zustände in Rußland ließen sich überhaupt nicht ändern, auch bei der Anwendung der geeignetsten Mittel nicht, oder sie brauchten zu ihrer Verbesserung ebenſo viele Jahrhunderte, wie viele sie zu ihrer Entstehung gebraucht haben ---- ist gewiß verkehrt und übertrieben. Ein stetiger Fortschritt ist, wie Napoleon ganz richtig gesagt, eine unabweisbare Nothwendigkeit, und unserem Jahrhunderte stehen unendlich mehr Mittel der Bildung und Veredelung der Menschen zu Gebote, als den früheren. Das unterliegt aber keinem Zweifel, daß wenn in Rußland schon die nächsten Generationen die Wohlthaten geordneter und gesicherter Zustände genießen , wenn sie das Rechte , Wahre und Edle nicht nur begreifen, sondern auch fühlen, achten, aufrichtig lieben , eifrig erſtreben und in allen ihren Lebensverhältnissen, ebenso im Amte, Gewerbe und Handel, wie in der Familie bethätigen sollen ― so darf kein Mittel, keine Gelegenheit unbenußt gelaſſen werden, um dieß wichtige Ziel sobald als möglich zu erreichen . Daß in solchem Falle zunächſt die Regierung selber aufrichtig jeder Willkür , jeder Ausnahme- und Gewaltmaßregel entsagen muß ― - versteht sich von selber. Solange nicht überall völlig gesicherte Rechtszustände , erhaben über jede Willkür der Beamten und Machthaber , solange nicht eine unabhängige Kirche, Schule, Gerichtsbarkeit geschaffen , die Gleichberechtigung der Stände, Nationalitäten und Religionsbekenntnisse begründet wird solange ist auch an eine Beseitigung von Veruntreuungen , Bestechun-

150 gen, Mißbräuchen und Gewaltthaten der einzelnen Beamten , Richter, Offiziere, solange an eine sittliche Erhebung der Geistlichkeit, des Lehrerstandes und der Bauern, solange an einen allgemeinen Wohlstand und geordnete Finanzverhältnisse nicht zu denken. Wenn die Regierung die Verbesserung der innern Zustände beschleunigen will, dann muß sie sich zur Ausführung ihrer Reformen befonders Eingeborner aus alten Kulturländern , aus der westlichen Hälfte ihres Reiches bedienen, denen die Elementarbegriffe der civilisirten Welt angeboren , in Mark und Blut , in die Sitten und Gebräuche, in die Lebensanschauungen und Lebensweise übergegangen sind ; dann muß sie , dem Beispiele Peter des Großen folgend , ihre Residenz noch weiter nach Westen , in eine der ältesten Kulturſtätten, etwa nach Kiew verlegen, damit sie mitten zwischen einer rein ſlavischen, unter dem sich vereinigenden und gegenseitig neutralisirenden Einflusse der byzantinisch-orientalischen und römisch-occidentalischen Civiliſation zu einem selbstständigen Leben entwickelten Bevölkerung, heimatlichere, freiere, gesundere Luft schöpfe und zum weitern Fortschritte auf sichern, festen Boden sich stelle. Rußland hat dasselbe Intereſſe ſeine Reſidenz von Petersburg nach Kiew zu verlegen , wie Italien bei der Verlegung der ihrigen von Turin nach Florenz ; und zwar hat es dieses Interesse auch ohne Rücksicht auf die fortwährende Ausdehnung seiner Besizungen nach Süden und ohne Rücksicht

auf die

etwaige Absicht endlich nach Konstantinopel zu gelangen , wie Italien nach Rom. Es würde nämlich dadurch erst den eigentlich europäiſchen Boden beschreiten und eine mittlere, vermittelnde und versöhnende Stellung unter den Hauptvölkern seines Reiches und unter allen ſlavischen Nationen einnehmen. Außer den eben und vorhin angegebenen , sowie vielen andern in civilisirten Staaten angewendeten Mitteln zur Beförderung der Bildung , des Verkehrs , der Annäherung , Verständigung , Versöhnung und Assimilirung der Staatsangehörigen hat Rußland noch einige ganz besonders zu berücksichtigen und anzuwenden. Zunächst muß es die unter allen civiliſirten Völkern angenommene und gebrauchte verbesserte gregorianische Zeitrechnung einführen. Bei dem Gebrauche des alten , julianischen Kalenders wird es den Russen ungemein schwer lebhafte, ausgedehnte Geschäfte mit dem Auslande zu erzielen , indem mit wenigen Ausnahmen alle Nichtruſſen, mit der russischen Zeitrechnung unbekannt , ängstlich bei der Anknüpfung von Handelsbeziehungen sind , um bei dem Termine des russischen Gerichts , der Administrativbehörden, der Ablieferung oder des Empfangens der Waaren sich nicht zu irren oder irregeleitet oder hintergangen zu werden und Verlusten ausgesezt zu sein. Um so

i

151 schwieriger ist es noch, einen russischen Wechsel zu verwerthen und anzubringen, indem es sehr Wenige im Auslande giebt, welche wissen, wann man ihn protestiren muß. In Folge dessen wird jeder russische Wechsel niedriger, als ein anderer nicht-russischer von derselben Sicherheit discontirt. Aus den angeführten Gründen ist Rußland fortwäh= rend bedeutenden Verlusten ausgeseßt und zum passiven Handel verdammt. Aber noch viel nachtheiliger , als die alte Zeitrechnung , iſt für Rußland der Umstand , daß es nicht die von allen civilisirten Völkern der Welt benußte , sondern eine ihm ganz eigenthümliche Buch = stabenschrift gebraucht. Hierdurch wird schon den Ruſſen mit dem Auslande und den Ausländern mit den Russen die ganze Handelsund Geschäftscorrespondenz ungemein erschwert , vertheuert , ja beinahe unmöglich gemacht. Man correspondirt nur in den allerwichtigsten Angelegenheiten und tausende von Geschäften und Anknüpfungen derselben unterbleiben täglich wegen der Schwierigkeit , ja Unmöglichkeit, sich mit einander zu verständigen und in Verbindung zu seßen. Und wenn es dennoch erfolgt , so geschieht es fast ohne Ausnahme auf Kosten der russischen Sprache , indem in solchem Falle sowohl der Ausländer seiner Muttersprache , als auch der Ruffe des Ausländers Sprache sich bedient ; denn der Ausländer lernt viel eher russisch sprechen, als russisch Gedrucktes lesen. Um so leichter ist es für ihn ruſſiſch verstehen zu lernen , was für Handelsgeschäfte meiſtens ausreicht. Was aber für den Ausländer vollends unmöglich erscheint, das ist das russisch geschriebene lesen zu lernen. Aus diesen Gründen vermeidet der Ausländer Geschäfte nach Rußland zu machen , wenn sie nicht grade ganz bedeutend sind , und noch mehr sich persönlich nach Rußland zu begeben , weil er sich dort aus den eben angegebenen Gründen vollständig verkauft und gefährdet fühlt. Diese Umstände hemmen den russischen Handel ungeheuer und würden bei den anderweitig günstigen Umständen es verhindern , ihn zum Welthandel zu machen. Dieß ist auch mit die Hauptursache , warum das russische Papiergeld einen verhältnißmäßig niedrigen Cours hat. Wegen Mangel an Kenntniß der russischen Buchstabenschrift kennt man die Bedeutung des Geldes nicht genau , kann man die Echtheit desselben nicht mit Sicherheit kontroliren. Wegen Mangel an Kontrole hinwieder wird eine Masse davon gefälscht. Deswegen vermeidet man die Annahme des D russischen Papiergeldes und drückt dadurch seinen Werth herunter und das russische Volk und der russische Schaß erleidet aus allen den Gründen tagtäglich ungeheure Verluste. Ueberdieß verdirbt dieſe unleſerliche Schrift ungeheuer die Augen

152 und da sie verhältnißmäßig viel Raum einnimmt , für gewöhnlich nicht klein gedruckt wird und wegen der Unleſerlichkeit nicht klein gedruckt werden kann , vertheuert sie den Druck und die Bücher und erschwert dadurch ungemein die Aufklärung der Maſſen. Nichts erschwert auch mehr die Verſtändigung , Annäherung, Vereinigung und Aſſimilirung der verſchiedenen slavischen Stämme, als die Verschiedenheit ihrer Schreibweisen. Die wiſſenſchaftliche Sprachvergleichung hat ergeben , daß die verschiedenen slavischen Sprachen bloß Dialekte einer einzigen Sprache sind und nicht mehr von ein= ander verschieden , als die griechischen , italienischen und deutschen Mundarten, und daß , wenn sie alle , wie jene , mit einer Schrift, mit einer Orthographie geschrieben wären , vielmehr einander sich nähern und mit einander verschmelzen würden, und alle und jede von ihnen sowohl für den Slaven selbst als auch für die Ausländer viel leichter zu erlernen ſein würden , vorausgeseßt , daß dieſe Schrift die lateinische wäre. Freilich kann und darf hier die Regierung , wenn ſie nicht Alles verderben oder erschweren will , nicht willkürlich eingreifen und etwa selbst , wie Peter der Große, ein Alphabet und die Ortographie diktiren , aber sie kann die Sache fördern , indem sie ihren Entſchluß zu erkennen giebt, ein lateinisches Alphabet anzunehmen und einzuführen und alle Sprachforscher und sprachvergleichenden Linguiſten, beſonders die slavischen auffordert , durch Studien , Monographien , Zuſammenkünfte und Disputationen ein für alle Slaven gleich entsprechendes, wissenschaftlich begründetes und praktisch handliches , leserliches und gefälliges Alphabet auf der Grundlage des Lateinischen festzustellen. In Verlauf von ein paar Jahren würde es in den Hauptzügen fest= stehen und wenn es auch in einigen wenigen Einzelheiten immer variiren würde, so würde das die Vervollkommnung desselben nur noch mehr befördern. Die Erfindung und Feststellung eines beſondern Schriftzeichens für einen jeden einzelnen Laut aller slavischen Sprachen ( durch die Annahme oder Modifikation des entsprechenden lateinischen Buchſtabens) , oder die Reduzirung der verschiedenen (60) Laute aller fla= vischen Dialekte auf ein gemeinsames Alphabet würde der Hauptsache nach der Schöpfung einer gemeinsamen slavi= schen Schriftsprache gleichkommen, oder wenigstens bald eine solche zum Resultate haben. Die gemeinsame Graphik und Orthographie der slavischen Sprachen ist geeignet nicht nur auf die Verbreitung der Kenntniß der slavischen Sprachen und deren Produkte im In- und Auslande, nicht nur auf die genauere Erforschung und Erkenntniß der einzelnen Mundarten , nicht nur auf die Entwickelung

153 und Vervollkommnung aller slavischen Dialekte, sondern auch auf die kommerziellen , finanziellen, socialen , literarischen und politischen Verhältnisse und Schicksale der gesammten Slavenwelt einen ungeheuren Einfluß auszuüben. Zur Verständigung, Annäherung und Verschmelzung aller Slaven und ihrer Dialekte zu einer gemeinsamen Schriftsprache würde auch

die Annahme der slavischen Liturgie von Seiten der römischen Katholiken viel beitragen , diese aber nur dann mit Sicherheit zu erwarten sein, wenn Rußland sich zu einer völligen Gleichberechtigung aller Bekenntnisse entschließen und jedweder Proselytenmacherei von Staatswegen zu Gunsten der Staatsreligion gänzlich entſagen würde. Die kirchenslavische Sprache ist , gleichsam als die Mutter aller übrigen slavischen Sprachen , jeder von dieſen näher verwandt, als dieſe einander ( und viel näher als die lateinischen den romaniſchen) und die Kenntniß dieser einen erleichtert ungemein das Verſtändniß der übrigen. Das Absingen der Messe und das Herſagen der Gebete in dieser jedem Slaven ziemlich verständlichen alten Sprache gewöhnt das Ohr der Gemeinde von Kindheit an an die Klänge dieser Sprache und der Religionsunterricht erklärt die Bedeutung derselben. Der Unterricht in der Muttersprache würde durch die Vergleichung aller Formen derſelben mit den entsprechenden anderer slavischen Dialekte und besonders mit denen der altslavischen Sprache ― jedem Slaven, wenn nicht gleich das Sprechen aller verwandten Mundarten möglich machen, so doch das Verstehen derselben ungemein erleichtern . Die russische Schriftsprache ist nicht dem großrussischen Volksidiom entnommen , sondern zunächst dem kirchenslavischen. Alle Slaven , welche in der Kirche die slavische Liturgie gebrauchen , haben bis zur neuesten Zeit des Kirchenslavischen , welchem sie freilich sehr viel von ihrem Volksdialekt beimischten , als ihrer Schriftsprache sich bedient , und so ist ein serbisches , bulgarisches und ruſſiſches Kirchenslavisch entstanden. Die lettere Kirchensprache wurde am meisten ge= braucht und kultivirt , besönders am Dniepr in dem lithauischen oder polnischen Rußland und seit dem Ende des 17. Jahrhunderts, als in ganz Polen die polnische Sprache in allen öffentlichen Angelegenheiten fast ausschließlich als Schriftsprache gebraucht wurde, im Großfürstenthum Moskau. Peter der Große hat sowohl die bis dahin in Rußland gebrauchte cyrillische Schrift , als auch die Schriftsprache etwas modernisirt und die lettere namentlich dem Nowgoroder Volksdialekt genähert, der um Petersburg gesprochen wird , wohin der Czar die Hauptstadt von Moskau verlegt gehabt hat. Mit dieser Mundart ist das Klein-, besonders das Weißrussische näher verwandt, als mit dem Großrussischen.

154 Die russische Schriftsprache könnte sich also sehr leicht wieder dem Kleinrussischen nähern und würde es auch unzweifelhaft unmerklich thun und sich von den , im Nowgoroder Dialekt zahlreichen, germanischen und finnischen Elementen reinigen , wenn die Residenz des rufsischen Reichs auch nur zeitweise nach Kiew verlegt würde. Auf dieſe Weise könnte sie sich der Reihe nach jeder andern slavischen Sprache nähern , wenn in den Brennpunkt des politischen , socialen , wiſſen= schaftlichen und kommerziellen Lebens derselben die Haupt- und Refidenzstadt, als das Centralorgan der Lebensfunktionen des ganzen russischen Imperiums , auf eine Zeit lang verlegt würde. Aus demselben Grunde würden sich alle slavischen Sprachen ohne alle Zwangsund Gewaltmaßregeln der russischen Schriftsprache nähern , besonders wenn jede von ihnen auf der Grundlage des alten, reinen Kirchenslavischen und durch wissenschaftliche Vergleichung mit den übrigen Schwesterdialekten zur Schriftsprache gebildet würde, welches Verfahren für jeden Slaven zugleich das beſte oder vielmehr das einzige Mittel wäre, seine Muttersprache genau kennen zu lernen. Die wichtigste Vorbedingung zu allem dem ist aber die Annahme slavischer Liturgie von Seiten der lateinischen Katholiken, welche dazu bloß durch eine völlige Gleichberechtigung mit den orientaliichen Ka= tholiken bewogen werden können. Dazu ist aber nicht nur der freie Wille der Gemeinden , sondern auch die Erlaubniß des Papstes noth= wendig, welche ohne sichere Garantie, daß man sie nicht mißbraucht, nicht zu erlangen sein wird. Rußlands wichtigste Interessen können es veranlaſſen , daß es dem heiligen Vater das sicherste Pfand seiner loyalen Gesinnung und guten Willens giebt. Rußland hat schon oft die Absicht, obgleich sie wol niemals ganz aufrichtig war , zu erkennen gegeben , sich mit der römisch-katholischen Kirche durch die sogenannte (Florentiner-) Union zu vereinigen und die höchste Autorität des heiligen Vaters anzuerkennen. Wenn es nun in den Besiß von Türkisch - Asien käme, was ihm wohl bei Befolgung einer strengen Interessenpolitik in Verbindung mit Frankreich nicht schwer würde, so könnte es dem Papste den Besit des ganzen heiligen Landes mit Jeruſalem als Residenz, sowie die Vereinigung der ruſſiſchen oder vielmehr der griechisch- katholischen mit der römisch - katholischen Kirche unter der Bedingung offeriren ― daß die Hälfte der Kardinäle und aller Würdenträger der Kirche aus Uniten bestände. Doch die russischen Staatsmänner finden es bis jezt klüger und wißiger über die Ohnmacht des Papstes und der katholischen Welt sich lustig zu machen, indem sie ungestraft an Katholiken die größten Greuelthaten verüben , katholische Bischöfe interniren , katholische Klöſter und Kirchengemeinden aufheben , die Uniten als Schismatiker be-

155 handeln , für die den Katholiken mit Gewalt abgenommenen Gelder schismatische Kirchen bauen und zwar meistens an Orten, wo es keine Schismatiker giebt; indem sie alle katholischen Kirchengüter confisciren, Polen und Katholiken zu Hunderttausenden ins tiefe Rußland und nach Sibirien treiben und deren Güter sequestriren , confisciren oder durch fortwährende Contributionen und Strafgelder für den Gebrauch der polnischen Sprache und die Ausübung der katholischen Religion ruiniren, indem sie Polen und Katholiken aus allen Aemtern und Stellungen (20,000 ) und Beſigungen ( gegen 30,000 Rittergütern ) verdrängen ; sie finden es weiser, den heiligen Vater in seinem eigenen Hause zu insultiren, Napoleon und dem Westen durch chinesische Ueberhebung und durch Unterhaltung von ungeheuren Heeresmaſſen zu_imponiren und ihren eigenen Staat dadurch zu isoliren , zu demoraliſiren, zu ruiniren und lahm zu legen, so daß ihnen vor der Naſe die nachtheiligsten Gebietsveränderungen vorgenommen werden , ohne daß sie dieselben hindern können. Anstatt Wüsten in Culturländer umzuschaffen, verwandeln ſie Culturländer in Wüsten. So wie Spanien durch ihre Inquiſitionen , Verfolgungen und Vertreibungen der Einwohner andern Blutes und andern Glaubens (der Maurisken ) zwar die Glaubens- und Nationaleinheit geschaffen , aber den Staat und das Volk materiell , geistig und moralisch völlig ruinirt und auf Jahrhunderte, wenn nicht auf immer , ohnmächtig gemacht hat dasselbe scheinen auch die als klug und weise von der Kreuzzeitung anerkannten russischen Staatsmänner und Publizisten wenn nicht gar chinesische Zustände und Verhältniſſe als Ideal anzustreben. Doch im Jahrhundert der freien Presse , des elektrischen Telegraphen, der Eisenbahnen und Dampfschiffahrt können sich so beschränkte und schädliche Marimen in Europa bei der Leitung eines Staates von 70 Millionen Einwohnern unmöglich lange halten , ſie müſſen und werden bald gesündern und aufgeklärteren weichen , welche die Regelung und Entwickelung der innern und äußern Verhältniſſe des Reiches herbeiführen werden .

22. Was ist der eigentliche Grund , warum die Franzosen mit jeder ihrer bisherigen Regierungen unzufrieden waren , warum sie jede der= selben des Mißbrauchs ihrer Gewalt beschuldigt und gestürzt haben, wer trägt die Schuld von den nicht enden wollenden Revolutionen in Frankreich, die Regenten oder die Regierten ? Unserer Ansicht nach wurde und wird Frankreich von jedem seiner höchsten Machthaber tyrannisirt — wegen der zu großen Centraliſation

156 der Verwaltung daselbst. Wer viel hat, der verbraucht und mißbraucht viel, wenn er auch noch so mäßig ist. So lange Alles und Jedes von Oben herab verordnet und befohlen wird, so lange alle Maires und Präfecten (87,160), von Oben herab ernannt, nach den ihnen daher ertheilten Instruktionen und Schablonen verfügen und regieren werden und nicht jede Gemeinde, jeder Canton, jedes Gouvernement und jede Provinz durch selbstgewählte und den Wählern verantwortliche Räthe, Maires und Präfekten und der ganze Staat durch seine Kammern und verantwortliche Minister verwaltet wird so lange ist unter keinerlei Regierung , wenn sie auch eine republikaniſche wäre , unter keinerlei Regenten , wenn sie auch Washington's oder Jefferson's wärenan Freiheit, an volkswirthschaftlich gerechtfertigte , an unpar= teiische und gerechte Verwaltung bei innern und äußern Unternehmungen zu denken. Würde aber in Frankreich das Princip des Selfgovernements der einfachen und zusammengeſeßten Gemeinden , sowie die Föderation einzelner Gruppen von Provinzen , z . B. 1 ) der östlichen oder ursprünglich deutschen (wie Elsaß , Burgund und Lothringen) ; 2) der Alpen- oder Rhone-Provinzen (wie Savoyen , Dauphiné , Provence 2c.) ; 3) der Languedoc- , Süd- oder Garonne - Provinzen ; 4) der Langued'oui , West- oder Loire - Provinzen ; 5) der Nord- oder Seine - Provinzen angenommen, konsequent durchgeführt und aufrecht ge= halten , dann würde nicht nur jede von den gestürzten Regierungen bisher bestehen können, würden nicht nur alle Revolutionen , falsche Speculationen, alle unnügen ,

kostspieligen und gefährlichen Erpedi-

tionen und Unternehmungen vermieden werden, Frankreich nicht nur viel wohlhabender, freier, glücklicher und zufriedener — sondern auch viel größer sein können. Belgien und die Schweiz würden sich sogleich als autonome Staaten an Frankreich anschließen. Nicht minder Spanien, Portugal und Italien. Wenn Irland von England nicht unterdeß völlig in kirchlicher , agrarischer 2c. Hinsicht zufriedengestellt sein würde, so könnte auch dieses an Frankreich fallen , sofern es unter deſſen Schuß eine größere Selbstständigkeit , mehr Fürsorge , Mitgefühl und Wohlstand zu finden Aussicht hätte. Doch würde sich Frankreich wegen dieser leßtern Erwerbung schwerlich einem erbitterten und verderblichen Kriege mit England aussehen wollen.

Sollte es aber aus andern Ursachen in einen Krieg mit ihm

gerathen, dann würde es kaum unterlassen , diese Gelegenheit zu be= nußen, um es durch eine Landung in seinem eigenen Lande zu bedrohen und eventuell durch die Losreißung Irlands zu schwächen. Dieser Fall könnte und würde wohl eintreten , wenn England ſich der Occupation Aegyptens durch Frankreich widerſeßen wollte. Und

157 da England durch die Beseßung Adens , Moschas , Perims und Kamaran's die Cirkulation auf dem Rothen Meere völlig beherrscht und jeden Augenblick völlig hemmen kann ,, so muß Frankreich nach der Durchstechung der Meerenge von Suez , in den Beſiß der Nilländer zu kommen suchen, um den orientaliſchen Handel ſchüßen zu können, welcher, von allen der vortheilhafteſte, auf dieſen Wegen mehr ihm und dem übrigen Europa, als England Vortheile zu bringen verspricht. Den Termin dieser Beſißergreifung von Nordafrika kann nun Frankreich nicht willkürlich hinausſchieben, nicht nur weil es ſeinen voraussichtlich wichtigsten Handel der Gnade und Ungnade Englands nicht überlaſſen kann — sondern auch Italiens wegen , das zwar in diesem Punkt ein gemeinsames Interesse mit Frankreich gegenüber England hat, aber nach der Erwerbung Venetiens Frankreich Schwierigkeiten bei der Erwerbung von Tunis und Aegypten machen könnte, da es diese lieber sich selber aneignen möchte. Frankreich muß also in den Besit von Nordafrika vor der Erwerbung Venetiens durch Italien zu kommen suchen. Bis zu diesem Momente braucht es deſſen Eifersucht nicht zu beſorgen und kann sogar deſſen Hülfe sicher sein, weil es (Italien) bis dahin ſeiner bedarf. Dasselbe Intereſſe, wie Frankreich , in der Beſchüßung des orientalischen Handels auf dem Rothen Meere, hat Rußland, und insſofern noch ein viel größeres in der Erwerbung der aſiatiſchen Türkei, als Frankreich bei der Beſißergreifung der afrikaniſchen , weil es nur dadurch an offene Meere, vordringen und in den Besiß und Mitbeſig der wichtigsten Meerengen und Meerbusen des Mittelländischen und Arabischen Meeres gelangen könnte. Außerdem würde es dadurch in den Stand gesezt sein, den bedeutendsten Theil des Handels und beinahe den ganzen Personen- und Postverkehr zwischen dem Orient und Occident über seine Territorien zu lenken. Zu Wasser würden alle Waaren vom Nil und Rothen Meere nach Ost- Nord- und Mittel-Europa durch die Dardanellen , das Schwarze Meer und auf dem Don , Dniepr , Dniestr und auf der Donau verschifft werden . Da bekanntlich aber die Eisenbahnen beinahe viermal rascher gehen, als die Dampfschiffe, so würden , wenn Rußland von Konstantinopel nach Kabul , Bassora , Aden und Cairo Eisenbahnen bauen würde, alle Paſſagiere und Postpakete von Europa nach Ostafrika, Aſien und Australien über russische Besizungen gehen . Somit würde es den größten Theil des Welthandels und Weltverkehrs vermitteln, ausnüßen und beherrschen können. Dadurch hinwieder , daß Nußland in den Besiß von Jerusalem, Mekka, Baku und Hlaſa, der heiligsten Stätten und Centralpunkte der

158 wichtigsten und die meisten Bekenner zählenden Religionsbekenntniſſe der Welt käme, namentlich des Judenthums mit 5-6 Millionen Bekennern, des Chriſtenthums mit 330 Mill., des Mohamedanismus mit 160 Millionen, des Parsismus oder Confucionismus mit 6-8 Mill., des Brahmaismus und Buddhaismus mit 300 Mill. , zusammen 800 Millionen von den den ganzen Erdball bewohnenden 1300 Millionen Menschen, würde es (z. B. durch die Errichtung von guten Univerſitäten mit theologischen Fakultäten der vorzüglichsten dieser Bekenntniſſe an den genannten Drten) einen bedeutenden Einfluß auf den größten Theil des Menschengeſchlechts , auf alle civiliſirten Völker ausüben fönnen. Freilich müßte ſich Rußland zuvor, wenn es nicht den Haß der größern und intelligenten Hälfte des Menschengeſchlechts gegen ſich wenden wollte, nicht nur zur Toleranz , sondern auch zu der vollständigsten Gleichberechtigung , Versöhnung und Befriedigung aller Religionsbekenntniſſe und Nationalitäten ſeines Reiches entſchließen wenn es nicht etwa der Meinung ist, daß die Deportation oder Ruſſifizirung einiger Tausend Polen, die Einregiſtrirung ebenso vieler römischer Katholiken in die Liſten der griechisch-katholischen Staatskirche und die Confiscirung oder widerrechtliche Erwerbung einiger Tausend polnischer Rittergüter wichtiger ist, als die Gewinnung der Liebe, Freundschaft und treuen Anhänglichkeit vieler Millionen Andersgläubiger und Andersredender, wichtiger als die Gewinnung eines überwiegenden und wohlthätigen Einfluſſes beinahe auf das ganze Menschengeschlecht, als die Erwerbung Vorderaſiens und die Aneignung des Welthandels durch das einmüthe und hingebende Handeln aller Staatsangehörigen, aller Bekenntniſſe und Nationalitäten des ruſſiſchen Imperiums. Das scheint wirklich der Grundgedanke der Berg's , Besak's , Milutin's , Kaufmann's uud der ganzen deutsch-ruſſiſchen Bureaukratie zu ſein. Doch kann und wird sich wohl dieſe Anſicht und Politik in Rußland bald ändern und den Hauptintereſſen des Reichs und den Verhältniſſen der Welt gemäß gestalten. Rußland kann auch insofern die Besizergreifung der aſiatiſchen Türkei nicht verschieben, indem es ganz Europa gegen sich hätte, wenn es dieselbe später, nachdem Frankreich ſchon im gesicherten Beſiße von Türkisch-Afrika wäre , zu bewerkstelligen suchen sollte. Die Verhältnisse zwingen es daher bei dieſem Unternehmen nicht nur einmüthig, sondern auch gleichzeitig mit Frankreich vorzugehen, denn bei der besten Freundschaft mit Nord-Amerika kann es sich mit der Hoffnung nicht schmeicheln , daß dieſes ihm gegen den Willen von ganz Europa zu diesem oder ähnlichem Erwerbe würde verhelfen können oder wollen. Um so weniger andere Mächte.

159 Wenn wir alles erwägen und annehmen, daß der Suezkanal, wie man behauptet, mit dem Ende dieses Jahrzehntes vollendet werde, so müssen wir zugeben , daß nicht viel später , als in fünf Jahren das Schicksal Europas und seiner Umgebung sich entscheiden müſſe.

23. Daß England der Besißergreifung Aegyptens durch Frankreich und Syriens durch Rußland nicht ruhig zusehen würde, wenn es irgend eine Aussicht hätte, sich diesem Vorgehen mit Erfolg entgegenseßen zu können — wird der nicht bezweifeln, welcher sich vergegenwärtigt, in welche Gefahr der Welthandel und die Kolonien dieses Staates dadurch gerathen würden. Es ist bekannt, daß der orientalische Handel der gewinnreichste von allen, der eigentliche Welthandel ist und daß ihm alle Kulturstaaten der Vergangenheit der Reihe nach ihre Erhebung , ihren Reichthum , die Blüthe der Gewerbe , Künste und Wissenschaften, sowie ihr zeitweiliges Uebergewicht über alle übrigen gleichzeitigen Staaten verdankten. Ihn führten , wie natürlich, zunächst Völker, welche auf dem Wege dieses Handels , zwischen Asien und Europa, wohnten, als da sind die Aegypter , Babylonier , Phönizier, Juden, Assyrer , Meder , Perser, Griechen , Römer , Araber , Venetianer und Genuesen. Erst als die von jenen Nationen bewohnten Länder von einem wilden, rohen, räuberischen und apathischen Volke größtentheils eingenommen wurden, welches weder selbst diesen Handel vermittelte, noch Andern ihn zu führen erlaubte, indem es alle Kaufleute ausplünderte : erst seit der Eroberung Vorderasiens durch die Türken, betrieben dieſen Handel die Hanſeſtädte ( Groß- Nowgorod 2c.) zu Lande und zu Waſſer längs dem Kaspischen Meere , der Wolga , der Ost- und Nordsee und die Venetianer, Genueser, Portugiesen und (auf Veranlassung des Genuesers Columbus auch) die Spanier fingen an andere, sichere Wege nach Indien zu Meere für den orientalischen Handel zu suchen, und Columbus entdeckte auf diese Weise West-Indien und Amerika und die Portugiesen den Weg um Südafrika nach Ostindien. In Folge dessen wendete sich dieser Handel zu Wasser um Afrika und die Portugiesen bemächtigten sich seiner - und bald darauf die Spanier der Portugiesen und dieses Handels . In den Kriegen mit den Niederlanden ging nun mit den Kolonien auch der orientalische Handel von den erschöpften Spaniern an die fiegreiche Republik über, welches eine Zeitlang den hanseatischen mit dem überseeischen Colonial-

160 handel vereinigte. Nachdem Nowgorod und damit der hanseatische Handel mit dem Oriente durch Jwan den Grausamen vernichtet, der Continent von Europa durch den dreißigjährigen Krieg verwüstet wurde , zog das durch seine insulare Lage von den Uebeln europäischer Kriege verschonte, vor Angriffen von Außen gesicherte , ſtehender Heere daher nicht bedürftige , durch dieselben nicht ausgesogene , nicht immer mehr belästigte und sich somit frei entwickelnde England den Colonialhandel an sich und vergrößerte immer mehr seine Flotte und seine Colonien. Endlich mit Wilhelm von Oranien ging mit der Flotte Hollands auch der Welthandel an England über. Zur Sicherung dieses Handels und seiner Wege hat nun Großbritannien Südafrika eingenommen und kolonisirt, ganz Ostindien erobert und faſt die gesammte Inselwelt Australiens sich angeeignet und bevölkert, außerdem die wichtigsten Punkte nach Hinterindien , China und Japan (Pinang, Singapore, Hongkong), nach Arabien , Nubien und Abyſsinien (Aden, Perim, Maſſua) , nach Aegypten und Vorderaſien (Gibraltar und Malta) beseßt und befestigt. Und so ist es denn gekommen , daß den Handel zwischen Asien und Europa, zwischen dem Orient und Occident , nicht ein Land vermittelt, welches auf dem Wege dieses Verkehrs mitten zwischen den Welttheilen des Morgen- und Abendlandes liegt, sondern ein ſolches, welches an dem äußersten Ende dieses Verkehrs , am westlichen Endpunkte des Occidents sich befindet. Es iſt Nichts natürlicher , als daß England in dem Genusse der großen Vortheile dieses Welthandels zu bleiben sucht und Alles vermeidet, hintertreibt und bekämpft, was ihn stören und bedrohen könnte. Aber ebenso wenig ist es andern Völkern zu verdenken , welche sich lieber, als den Engländern , diese Vortheile gönnen und durch ihre Lage und Wohnsiße sich selber mehr zur Ausbeute derselben be= rechtigt und berufen glauben. Und sollte der orientalische Handel wieder seine ursprünglichen , natürlichen , bedeutend kürzern und billigern Wege beschreiten und einnehmen , die er inne hielt, ehe er sich um Südafrika wandte, sollte er sich wieder auf den alten Straßen der Aegypter, Babylonier, Phönizier, Perser, Griechen, Italiener und Hanseaten bewegen, dann freilich würden die Engländer unter den europäischen Völkern die leßten sein , die Nußen aus demselben ziehen könnten. Zwei Umstände sind es vorzüglich , welche es verhinderten , daß dieser Handel in seine ursprünglichen Geleise bis jezt nicht wieder · einlenkte, sondern auf dem weiten Umwege um Afrika noch immer das Monopol der Engländer verblieb. Erstens , daß der Weg um Afrika, obgleich doppelt so lang, als der direkte über Vorderasien, ein

161 ununterbrochener Seeweg ist ; zweitens , daß die Türken , welche noch immer im Besize aller der alten, kurzen Wege des orientalischen Handels sich befinden, zwar schon gebändigt, aber noch immer so apathisch sind , daß sie zwar selber die Waarenzüge nicht mehr berauben, sie aber vor Beraubung durch Kurden und Beduinen zu sichern nicht im Stande sind und nichts für die Sicherung, Erleichterung und Beschleunigung der Communicationen durch gute Wege, Posten, durch Kanäle, Dampfschiffe, Eisenbahnen 2c. thun, um sich, wenn nicht die Vortheile jenes gewinnreichen Handels selbst, doch wenigstens die des, durch ihn hervorgerufenen, Verkehrs anzueignen. Da es nun dieſe Umstände und Zustände gerade sind, welche den Engländern das Monopol der Führung des orientalischen Handels um das Cap der Guten Hoffnung sichern, so ist es erklärlich , daß ſie durchaus Nichts an diesen Verhältnissen geändert wissen wollen , die Integrität des türkischen Reiches, wie die ihres eigenen immer gewahrt und beschüßt haben und der Durchstechung der Meerenge von Suez, welche einen ununterbrochenen Seeweg zwischen dem Orient und Occident auf der ursprünglichen kürzesten Route herstellen soll , so viele Schwierigkeiten bereitet haben. Ist aber die Meerenge von Suez einmal durchſtochen , so wird sich natürlich der ganze orientalische Handel auf dieſen mehr als noch einmal so kurzen Seeweg , als der um Afrika ist, wenden und alle Staaten des Mittelländischen und Schwarzen Meeres , alle europäischen Staaten überhaupt werden ihre Colonialwaaren nicht über England, ſondern direkt über das Mittelländische Meer beziehen und ihre Fabrikate ebenfalls auf diesem Wege nach dem Orient selber verschiffen. England würde aufhören den Welthandel zu vermitteln und ganz abseits alles Verkehrs gerathen. 34 , wenn direkte Eisenbahnen auf den wichtigsten Routen dieses Handels gebaut würden , dann würden englische Passagiere und Postpaquete von Londoh nach den englischen Kolonien des Orients mitten durch Europa von Calais über Wien bis Konstantinopel und von da : 1 ) über Antiochia, Jerusalem, Cairo längs den Ufern des Nil nach der Cap-Colonie, 2) über Medina und Mekka nach Aden 2c., 3 ) über Erzerum, Tebris (wird schon gebaut), Teheran und Kabul nach Ostindien, und 4) (von Kabul über Lahore nach Delhi, wo sie schon gebaut wird und von Delhi nach Calcutta, wo sie schon gebaut ist) über Calcutta , Martaban , Tenaſſerim und Singapore nach Auſtralien gehen (Macdonald Stephenson's Projekte). Wenn nun Frankreich, das so große Kapitalien für die Herstellung der Suezkanäle und für die Erwerbung des Grund und Bodens zu denselben verwandt hat, zur Sicherstellung derselben und seiner Handelsinteressen Aegypten , Europa.

Rußland Vorderaſien, und Oesterreich 11

162 die Donauhalbinsel wird beseßen wollen dann wird England Alles aufbieten, um dieß zu hindern, denn dann würde nicht nur sein Handel, sondern es würden auch seine Kolonien im Oriente auf das Höchste gefährdet sein, die mittelländischen Staaten und besonders Frankreich und Rußland würden mehr, als um die Hälfte ihnen näher sein, als England und dieses von denselben gleichsam abſchneiden. Indem Großbritannien in solchem Falle seinen ganzen Handel und alle seine Besißungen gefährdet sehen würde so würde es Himmel und Erde in Bewegung seßen , um der Besißergreifung der Tür- kei durch die drei Kaiserreiche vorzubeugen ― wenn es irgend eine Aussicht hätte damit zu reüssiren. Daß es unter den Staaten des Mittelländischen Meeres , welche bei der Zurückleitung des orientalischen Handels über dieses Meer gerade am meisten interessirt sind, keine Bundesgenossen gegen das Vorgehen der drei Kaiserreiche finden würde, ist klar.

Auch Nordamerika würde wohl schwerlich zu Gun-

ſten Englands und am wenigsten wohl in dieser Angelegenheit interveniren. Eher würde es einen Krieg Englands mit den europäischen Kaiserreichen dazu benußen, um sich die englischen Besißungen in Nordamerika anzueignen. Es blieben also bloß die Nordseestaaten , die jedoch auch durch diese Wendung des Welthandels mehr gewinnen, als verlieren , nur die so bedeutende Vergrößerung ihrer Nachbarn nicht eben gern sehen würden. Aber auch sie würden durch das oben bezeichnete Arrangement ungemein viel und vielleicht mehr, als die andern, verhältnißmäßig gewinnen und zufrieden gestellt ſein. England bliebe also nichts oder nicht viel mehr übrig , als das Anschüren von Revolutionen in den drei Kaiserreichen oder vielmehr einer republikanischen Bewegung , eines allgemeinen Weltbrandes in ganz Europa , um auf diese Weise das Vordringen und die Fortschritte der Verbündeten zu hemmen und zu paralysiren. Es ist be= kannt, daß England namentlich unter der Verwaltung Lord Palmerſton's beinahe in allen Staaten Europas , deren Konkurrenz es beſorgte, fortwährend Unruhen und unzählige Revolutionen anschürte und begünstigte, um sie zu ruiniren, daß es namentlich auch die Polen , sowohl im Jahre 1830 , als auch im Jahre 1863 , durch die Preffe, durch Meetings , Parlaments- und Miniſterreden , diplomatische Noten zur Agitation , Revolution und Verlängerung des Kampfes anfeuerte , um Rußland und Polen, Frankreich und Rußland mit einander zu entzweien , in der Entwickelung und im Fortschritt aufzuhalten — daß es aber jedesmal bei der Aufforderung Frankreichs zur Intervention und Wiederherstellung Polens zu schreiten, sich zurückzog - um dieses Manöver , wenn's nöthig , mit eben solchem Succeß wiederholen zu können.

163 In solchem Falle würde jeder englische Minister, ebenso wie Palmerston, den Lord Feuerbrand spielen und an Brutusreden , Brandschriften, Orsini's und Orsinibomben es nicht fehlen lassen , Waffen und Subsidiengelder nicht sparen. Wie die Brandraketen würden dazumal die solange bereit gehaltenen Ledru Rollin's, Prim's, Mazzini's, Hecker's, Kossuth's, Mierolawski's, Bakunin's 2c. in die Kreuz und die Quer nach allen Weltgegenden zischend übers Land fliegen - und dann - wehe demjenigen , der nicht alle Brennstoffe sorgfältig aus seinem Hause entfernt oder gar unbedachtſam, leichtfertig und frivol sie selber angehäuft hat. Wir würden dann in ganz Europa Scenen und Ereigniſſe zu gewärtigen haben , wie wir sie zur Zeit der ersten französischen Revolution erlebt haben. Und jede europäische Revolution wird vor allem und immer das getheilte Polen zum loyalen Ausgangs- und Stüßpunkt, zum Aushängeschild und Feldgeschrei ihrer Bewegung nehmen. Wenn England aber sieht, daß in allen Staaten Europas Alles sorgfältig entfernt ist und vermieden wird , was Unzufriedenheit erzeugen könnte, daß alle Stände, Nationalitäten und Bekenntnisse des Continents mit ihren Regierungen und Zuständen zufrieden sind dann wird es sich hüten Alles auf einmal auf die Karte zu sehen, mit Reichen anzubinden, die gereizt und provozirt auch das Aeußerſte wagen würden und wenn nicht England selbst zu beſeßen , doch ihm alle seine Besizungen, Irland nicht ausgenommen, zu entreißen suchen würden. Wenn England einſieht, daß es das Vordringen und Ausbreiten der Großmächte weder aufhalten, noch stören kann , so würde es sich wohl mit der Insel Kandia als Stapelplay im Mittelmeer für ſeinen orientalischen Handel und mit der Insel Marmara oder Tenedos zur Sicherstellung der freien Passage nach dem Schwarzen Meere zufriedenstellen lassen. Würden dann auch in Desterreich und in Rußland hinlängliche . Sicherheit der Person und des Eigenthums , freie Bewegung und humanes Verfahren herrschen, so würden die zu Subsidien in solchem Falle bei dem vermiedenen Kriege nicht verbrauchten ungeheuren englischen Kapitalien den neuen Erwerbungen der Verbündeten im Oriente sich zuwenden, sie befruchten und in kurzer Zeit zu ihrer ehemaligen Blüthe bringen. Aus einer Wüste würden die jeßigen türkischen Länder bald wieder ein Paradies werden. Eisenbahnen und Kanäle würden Hintereuropa , Vorderaſien und Ostafrika in allen Richtungen durchschneiden. Vortheilhafter würden die Engländer kaum ihre Kapitalien anwenden können. Und das Vaterland der Kapitalien und Kapitalisten ist da, wo der größte und sicherste Vortheil ist. Wie einst Tyrus gleich nach seiner Zerstörung und Eroberung auf einer

164 Insel des Mittelländischen Meeres in seinem früheren Glanze ſich neu wieder erhob und als auch dieses fiel , in Karthago noch mächtiger wieder erblühte so würde auch ein neues England auf Kreta oder auf den Inseln und Ufern des Marmara-Meeres in seiner alten Herrlichkeit zum Nuß und Frommen der ganzen Menschheit wieder verjüngt erstehen - ohne seine alte Heimath, noch irgend welche von seinen Beſigungen einzubüßen. Wenn also mit Italien Venetien , mit Frankreich Belgien und Nordafrika , mit Preußen alle deutschen Bundesländer sammt dem ganzen Holland und allen seinen Kolonien an Stelle Desterreichs, wenn mit Rußland alle ehemals polnischen Landestheile und Vorderasien , mit Desterreich die europäische Türkei auf die oben angegebene Weise vereinigt würden, dann würden die Nationalitäten Europas in ihren Einheitsbestrebungen , die Staaten in ihren Hauptintereſſen befriedigt ſein , die stehenden Heere und damit die Steuern faſt um das Zehnfache ohne Gefahr vermindert , das System der Dezentraliſation , der Autonomie, des Selfgovernements und der Föderation eingeführt, und so dauerhafte Zustände, Zufriedenheit , Ruhe, Sicherheit und die Wohlfahrt Europas auf viele Menschenalter begründet werden können..

24. Indem wir nun am Schluſſe unserer Abhandlung zu dem zurückkehren, wovon wir ausgegangen sind , so glauben wir das unmittelbare Bevorstehen der Europa drohenden Katastrophen , welche Napoleon und so viele außerordentliche Leute vorausgesehen und vorausverkündet haben unwiderleglich dargethan und die Ursachen derselben aufgedeckt und bewiesen zu haben. Würde man sich diese zu Herzen nehmen, so ließen sich gewiß auch Mittel finden , um die Zeiten und Zustände der Völkerwanderung und der dreißigjährigen Krieges , sowie die Scenen der ersten französischen Revolution , die ganz Europa bevorstehen , von uns abzuwenden. Doch wenn wir bedenken , wie alle dergleichen Warnungen, wenn sie auch noch so durch die Thatsachen unterſtüßt , von noch so be= deutenden Männern vorgebracht, auch noch so beredt und überzeugend dargelegt wurden, doch unbeachtet blieben so legen wir nicht ohne schwere Sorge für die nächste Zukunft die Feder nieder , um so mehr, als wir lebhaft fühlen, wie ohnmächtig unsere Kräfte einer so großen und wichtigen Aufgabe gegenüber sind , wie die , welche wir eben behandelt haben und welch' gewaltige Leidenschaften ſie zu bekämpfen habe.

165 Die Habsucht, der Uebermuth , die Zuversicht in eigene Kräfte ist überall größer als die Menschenliebe , das Pflicht- und Rechtsgefühl und die unbefangene Einsicht. Es ist daher möglich und wahrscheinlich, daß wir es mit den vorgeschlagenen Maßregeln zur Regulirung der innern und äußern Verhältnisse Niemandem recht thun, weil jeder für sich maßlose An= sprüche erhebt und schwindelnde Jlluſionen sich macht , die Rechte und Kräfte Anderer aber mißachtet. Es würde uns freuen , wenn Jemand , glücklicher als wir, beſſere Auskunftsmittel zur dauerhaften Befriedigung , Pacificirung und Sicherung Europas ausfindig machen würde , als die von uns vorge= schlagenen sind. Aber dessen sind wir uns lebhaft bewußt , daß es schwer fallen wird mit innigerem Intereſſe und größerer Unparteilichkeit die Sachlage nach allen Seiten hin zu erwägen und darzulegen, als wir es in Vorliegendem gethan haben. Unser einziges Bestreben war es , die gerechtesten , praktischsten, den realen Verhältnissen entsprechendsten Mittel ausfindig zu machen und anzugeben, wie den Europa qäulenden Uebeln und drohenden Gefahren abgeholfen und begegnet, wie das Unvermeidliche bei Zeiten freiwillig mit den geringsten Opfern ausgeführt und die Wohlfahrt der Menschheit auf die einfachste, leichteste und billigste Weise am meisten gefördert werden könnte. Hoffen wir , daß unsere Arbeit nicht ganz umsonst, daß unsere Warnungen und Rathschläge nicht wieder einer Stimme in der Wüste gleich verhallen , bis es abermals zu spät ist, sie zu beachten und zu befolgen. Aber was auch geschehen mag , wir haben nach unserem besten Wissen und Gewissen unsere Pflicht gethan. M. Januar 1866 .

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

Durch E. L. KASPROWICZ in LEIPZIG zu beziehen : Eclaircissements relatifes au passé et à l'avenir de la Pologne, par le Comte Oscar ( Soldat Garibaldien). 1863. 8. 10 Ngr. Golovine , J. , Les alliances de la Russie.

1861.

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L'amateur des tableaux. (La Russie depuis Alexandre II. Nr. XII.) 1862. 8. 6 Ngr. Autocratie russe. 1860. 8. 1 Thlr. La Constitution. (La Russie depuis Alexandre II. Nr. XI.) 1862. 8. 12 Ngr. La Constitution russe et la Pologne. La crise. 10 Ngr.

1863.

(La Russie depuis Alexandre II.

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10 Ngr.

Nr. X.)

1861.

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Éphémérides russes . 1860. 8. 18 Ngr. Etudes et essais. 1864. 8. 1 Thlr. 2 Ngr. Economie hospitaInhalt : Richesse de la Russie , économie privée la Bourse et l'hôtel des ventes la Grève lière Philosophie de la e le Monde et la Pologn . jeunesse de Paul I. vie

Der Flüchtling .

1859. 8. 25 Ngr. Histoire de Pierre I., appelé ,, le Grand" 1861. 8. 1 Thlr. 15 Ngr. Zweite vermehrte Auflage. Die Leibeigenschaft in Russland. 1860. 8. 10 Ngr. Lettres Russes. ( La Russie depuis Alexandre II. Nr. VII.) 1861. 8. 20 Ngr. Manuel du marchande de tableaux. 1862. 8. 1 Thlr. Des peintres et de la peinture.

1861.

8.

20 Ngr.

La Pologne et la Russie. 1859. 8. 15 Ngr. Progrès en Russie (pour faire suite à la Russie depuis Alexandre le Bien - intentionné). 1859. 8. 1 Thlr. 6 Ngr. Réformes russes et polonaises. (La Russie depuis Alexandre II . Nr. IX. ) 1861. 8. 20 Ngr. 1859. 8. La Russie depuits Alexandre le Bien - intentionné. 1 Thlr.

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.