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German Pages 490 [491] Year 2005
Europa und die Europäer
Festschrift für Hartmut Kaelble zum 65. Geburtstag
Rüdiger Hohls / Iris Schröder / Hannes Siegrist (Hg.)
Europa und die Europäer Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte
Franz Steiner Verlag 2005
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-515-08691-9
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2005 by Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS
EINLEITUNG: EUROPA UND DIE EUROPÄER ................................. 15 1. ARBEIT, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT ............................ 25 Wolfram Fischer DAS HANDWERK IM UMBRUCH AM BEGINN DES INDUSTRIEZEITALTERS ................. 25 Quelle 1.1: Reiseerinnerungen und Reflexionen eines rheinischen Gerbergesellen 1836/38 ....................................................................................................... 28 Andrew Lees STÄDTEWACHSTUM UND DIE KRAFT DER ASSOZIATION: ROBERT VAUGHAN – EIN KLASSIKER DER EUROPÄISCHEN STADTGESCHICHTE ......................................... 31 Quelle 1.2: Robert Vaughan: The age of great cities (1843) ........................................... 35 Christophe Charle ENGLISCHE HANDWERKER IM PARIS DES JAHRES 1867 ............................................ 37 Quelle 1.3: Reports of English artisans from the Paris Universal Exhibition (1867) ................................................................................................................... 41 Jürgen Kocka MODERNISIERUNG IM MULTINATIONALEN FAMILIENUNTERNEHMEN ....................... 44 Quelle 1.4: Werner Siemens über die Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode (1872) ......................................................................................................... 45 Jürgen Osterhammel HERR DES PUBLIKUMS, DIENER DER KUNST ............................................................ 47 Quelle 1.5: Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852) ........................................ 49 Hannes Siegrist GEISTIGES EIGENTUM IM SPANNUNGSFELD VON INDIVIDUALISIERUNG, NATIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG. DER WEG ZUR BERNER ÜBEREINKUNFT VON 1886 ....................................................................................... 52 Quelle 1.6: Die Berner Übereinkunft von 1886 zur Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst ..................................... 59 Elfi Bendikat STÄDTE DER MODERNE ............................................................................................ 62 Quelle 1.7: Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903) .................... 65
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Inhaltsverzeichnis
Hinnerk Bruhns MAX WEBERS ANALYSE DES EUROPÄISCHEN KAPITALISMUS .................................. 67 Quelle 1.8: Max Webers „Vorbemerkung“ zu seinen Aufsätzen zur Religionssoziologie (1920) .................................................................................................... 72 Hasso Spode DIE PANEUROPÄISCHE TOURISTENKLASSE. ZUM POTENTIAL DER HISTORISCHEN TOURISMUSFORSCHUNG ........................................................................................... 75 Quelle 1.9: Annoncen von Grand Hotels vor dem Ersten Weltkrieg: Biarritz (Frankreich), Heringsdorf (Deutschland) ............................................................ 81 Michael Mitterauer PERSÖNLICHE FAMILIENGESCHICHTE ALS ZUGANG ZU EINER VERGLEICHENDEN EUROPÄISCHEN FAMILIENFORSCHUNG ..................................................................... 84 Quelle 1.10: Wayne Vucinich: Geschichte meiner Familie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1976) ................................................................................................. 88 Karin Hausen STRITTIGE GLEICHBERECHTIGUNG. STUDENTINNEN AN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN SEIT HERBST 1945 ......................................................................................... 91 Quelle 1.11: Leserbrief einer Medizinstudentin in der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1946 ............................................................................................................. 95 Rüdiger Hohls ÜBER DIE WERKBANK ZUR TERTIÄREN ZIVILISATION .............................................. 97 Quelle 1.12: Jean Fourastié: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts (1949) ............................................................................................................. 105 Ina Merkel VOM ZEITGEIST IN DER DDR ................................................................................. 107 Quelle 1.13: Briefwechsel über die Ursachen für das Wegwerfen von Brot in der DDR. Eine Eingabe und ihre Antwort (1982) ......................................................... 112 Dolores L. Augustine „ES SIND ZWEI WELTEN GEWESEN“. EINE INFORMATIKERIN IN DER DDR UND IN DER BUNDESREPUBLIK ........................................................................................... 115 Quelle 1.14: Interview mit einer aus der DDR geflohenen SoftwareIngenieurin (1999) ............................................................................................................... 118
2. RELIGION UND WERTEWANDEL ................................................ 121 Heinz-Elmar Tenorth ROUSSEAUS „EMILE“ – ODER DER BEGINN MODERNER ERZIEHUNGSREFLEXION ... 121 Quelle 2.1: Jean-Jacques Rousseau: Emile (1762) ........................................................... 124
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Wilfried Nippel EDWARD GIBBON UND DIE CHRISTLICHE REPUBLIK EUROPA ................................. 128 Quelle 2.2: Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Bde. (1776-1788) ................................................................................. 132 Reinhard Rürup JÜDISCHES GROßBÜRGERTUM AM ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS .......................... 134 Quelle 2.3: Ein Zeitungsbericht über den Einzug der späteren preußischen Königin Luise in Berlin (1793) .......................................................................................... 138 Thomas Mergel TRANSNATIONALER KATHOLIZISMUS UND NATIONALISMUS IM SPÄTEN 19. JAHRHUNDERT: HEINRICH HANSJAKOB IN LOURDES UND PARAY .................... 141 Quelle 2.4: Heinrich Hansjakob über französische Wallfahrtsorte (1874) ................. 145 Peter N. Stearns FEMINISMUS, INTERNATIONALISMUS UND DER KAMPF UM DIE MORAL ................. 148 Quelle 2.5: Josephine Butler, The International Council of Women and the fight against white slavery (1888) ............................................................................... 152 Harald Dehne PRIVATE WOHLTÄTIGKEIT UND ANTISEMITISMUS UM 1900: AUSGEZEICHNET UND VERLEUMDET – DER BERLINER FÜRSORGEPIONIER HERRMANN ABRAHAM ... 155 Quelle 2.6: Artikel über Herrmann Abraham aus der StaatsbürgerZeitung (1903) ..................................................................................................................... 160 Jürgen Bergmann IM WIDERSTAND GEGEN DEN WANDEL. DAS AGRARISCHE MILIEU IN DER WEIMARER REPUBLIK ............................................................................................ 163 Quelle 2.7: Artikel aus der Deutschen Tageszeitung zum zehnten Jahrestag der Revolution von 1918 (7.11.1928) ...................................................................................... 168 Shmuel N. Eisenstadt DIE VIELFALT DER MODERNE: EIN BLICK ZURÜCK AUF DIE ERSTEN ÜBERLEGUNGEN ZU DEN „MULTIPLE MODERNITIES“ .............................................. 169 Quelle 2.8: Shmuel N. Eisenstadt: The Basic Characteristics of Modernization (1966)........................................................................................................... 172
3. SELBST- UND FREMDBILDER ZWISCHEN NATION UND EUROPA ............................................................................................. 175 Iris Schröder KARL RITTERS SOZIALGEOGRAFIE EUROPAS UM 1800 .......................................... 175 Quelle 3.1: Karl Ritter: Europa ein Gemälde (1804) ...................................................... 180
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Inhaltsverzeichnis
Arnd Bauerkämper DIE REVOLUTION VON 1848/49. GEMEINSAMES ERLEBEN UND SCHEITERN IN EUROPA? ................................................................................................................ 182 Quelle 3.2: Ferdinand Schröder: Rundgemälde von Europa im August 1849 ........... 188 Wolfgang Kaschuba IDENTITÄT UND DIFFERENZ. EIN EUROPÄISCHES SPIEL .......................................... 189 Quelle 3.3: Aristide Briand: Gedicht (ohne Titel, frühes 20. Jahrhundert) ................. 193 Luisa Passerini EUROPA, „DIE GROßE ILLUSION“ ............................................................................ 194 Quelle 3.4: Jean Renoir: La grande illusion (Film aus dem Jahr 1937) ........................ 197 Susan Zimmermann FERENC ERDEI UND DIE UNGARISCHE GESELLSCHAFT IN EUROPA ......................... 200 Quelle 3.5: Ferenc Erdei: Reisebriefe aus westeuropäischen Ländern (1936) ............ 208 Christoph Conrad DER ERBFEIND ALS NACHBAR. FRANZÖSISCH-DEUTSCHE WAHRNEHMUNGEN DER 1950ER JAHRE ................................................................................................. 211 Quelle 3.6: „Deutschland: noch immer der Erbfeind?“ Ergebnisse französischer Umfragen aus den Jahren 1954/56 ................................................................................... 215 Martin Kirsch EUROPAZWEIFEL ALS KENNZEICHEN DES EUROPÄERS. DENIS DE ROUGEMONTS INTELLEKTUELLE KONSTRUKTION EUROPAS .......................................................... 218 Quelle 3.7: Denis de Rougemont: Europa als Kultureinheit (1959) ............................ 221 Philipp Ther MILAN KUNDERA UND DIE RENAISSANCE ZENTRALEUROPAS ................................ 224 Quelle 3.8: Milan Kundera: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas (1983) ......................................................................................................... 226 Martina Winkler NATIONALE IDENTITÄT REVISITED – DIE TSCHECHEN UND IHR ŠVEJK IM 20. JAHRHUNDERT .................................................................................................. 230 Quelle 3.9: Der von den Tschechen rehabilitierte Švejk (Briefmarke, 1997) ............. 236 Bo Stråth KARTEN – REPRÄSENTATIONEN EUROPAS AUS VIER JAHRHUNDERTEN .................. 237 Quelle 3.10: Europakarten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ............................. 243
Europa und die Europäer
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Etienne François AUF DER SUCHE NACH DEM EUROPÄISCHEN GEDÄCHTNIS ..................................... 250 Quelle 3.11: Eine Beliebtheitsskala der historischen Persönlichkeiten in Europa. Eine Meinungsumfrage (2003) ........................................................................... 256
4. EUROPA UND DIE WELT ............................................................... 259 Vincent Houben DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN HOLLÄNDERN, INDO-EUROPÄERN UND INDONESIERN. EUROPÄISCH-SÜDOSTASIATISCHE KONTAKTGESCHICHTE VOM 17. BIS 20. JAHRHUNDERT ...................................................................................... 259 Quelle 4.1: Thomas Anthonij Fruin über die Rolle und Zukunft der IndoEuropäer in den Niederländischen Kolonien Südostasiens (1931) ............................. 262 Maria Malatesta EIN AMERIKANER IN PARIS. DER AMERIKANISCHE SELFMADEMAN UND DIE EUROPÄISCHE ARISTOKRATIE IM WERK VON HENRY JAMES .................................. 264 Quelle 4.2: Henry James: A French gentilhomme (1876/77) ....................................... 268 Ingeborg Baldauf „EUROPA IST EINE ANDERE WELT UND DIE EUROPÄER SIND ANDERE MENSCHEN“ – KOMMENTARE EINES REISENDEN TATARISCHEN AUFKLÄRERS (1899/1902) ..................................................................................... 270 Quelle 4.3: Europa als Vorbild und Projektionsfolie: Aus einem tatarischen Reisebericht (1902) .............................................................................................................. 275 Matthias Middell WELTGESCHICHTE UM 1900 ................................................................................... 277 Quelle 4.4: Karl Lamprecht: Universalgeschichtliche Probleme (1904/05) ............... 279 Dietmar Rothermund MAHATMA GANDHI UND DIE BRITISCHE FREMDHERRSCHAFT IN INDIEN ................ 283 Quelle 4.5: Mahatma Gandhi: Hind Swaraj (1909) ........................................................ 286 Andreas Eckert DAS PARIS DER AFRIKANER UND DIE ERFINDUNG DER NÉGRITUDE ...................... 287 Quelle 4.6: Léopold Sédar Senghor: Der Geist von Paris (1961) ................................. 291 Christiane Eisenberg EUROPÄISCHE INTERESSENPOLITIK IM WELTFUßBALL ........................................... 293 Quelle 4.7: Ottorino Barassi: Die Weltorganisation bedarf dringend der Modernisierung (1960) ....................................................................................................... 297
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Alexander Schmidt-Gernig EUROPA ALS KONTINENT DER ZUKUNFT. PIERRE BERTAUX UND DIE ZEITDIAGNOSTIK DER 1960ER JAHRE ..................................................................... 299 Quelle 4.8: Pierre Bertaux: Mutation der Menschheit (1963/64) ................................. 304
5. AUTOKRATIE, DIKTATUR UND DEMOKRATIE ....................... 307 Manfred Hildermeier LIBERALISMUS IN RUSSLAND ................................................................................. 307 Quelle 5.1: Das Oktobermanifest vom 30. Oktober 1905 ............................................ 313 Jörg Baberowski DIE KOLLEKTIVIERUNG DER LANDWIRTSCHAFT UND DER TERROR GEGEN DIE KULAKEN ............................................................................................................... 315 Quelle 5.2: Rede Molotovs vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion in Moskau am 11. Februar 1930 .............. 319 Peter Steinbach IM WIDERSTAND GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS. MOLTKE UND YORCK IM KONFLIKT UM DIE GRUNDLAGEN DES STAATES ..................................................... 322 Quelle 5.3: Aus Briefen von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg vom Sommer 1940 .................................................................... 326 Dieter Gosewinkel DIE ILLUSION DER EUROPÄISCHEN KOLLABORATION. MARSCHALL PÉTAIN UND DER ENTSCHLUSS ZUR ZUSAMMENARBEIT MIT DEM NATIONALSOZIALISTISCHEN DEUTSCHLAND 1940 .............................................................................................. 329 Quelle 5.4: Pétains Erklärung zur „Kollaboration“ vom 30. Oktober 1940 .............. 334 Ruth Federspiel INDIVIDUELLE SCHICKSALE VERFOLGTER IN MASSENQUELLEN DES NATIONALSOZIALISTISCHEN DEUTSCHLAND ........................................................................... 336 Quelle 5.5: Schreiben der GeStaPo Berlin an die „Vermögensverwertung-Stelle“ vom 8. Februar 1943 ........................................................................................................... 341 Hartmut Zwahr HOFFNUNGEN IM HERBST 1956: UNGARN HAT ÜBER DIE SOWJETISCHEN TRUPPEN UND DAS EIGENE TERRORREGIME GESIEGT ............................................. 342 Quelle 5.6: Niederschrift des Leipziger Studenten Hartmut Zwahr vom 30. Oktober 1956 ................................................................................................................. 344
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Joaquín Abellán DER BEITRITT SPANIENS ZUR EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT IN DEN 1980ER JAHREN, ODER: WARUM DIE SPANIER FÜR EUROPA VOTIERTEN ............................. 349 Quelle 5.7: Rede des Ministerpräsidenten Felipe González anlässlich des spanischen EG-Beitritts (1985) ......................................................................................... 352 Stephan Merl GLASNOST' UND DIE GESELLSCHAFTLICHE AUFARBEITUNG DES STALINISTISCHEN TERRORS .................................................................................... 354 Quelle 5.8: I. Lachno: Der grausame Preis. Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos (1988) .............................................................................. 358
6. KRIEG UND FRIEDEN ..................................................................... 361 Johannes Helmrath ENEA SILVIO PICCOLOMINI (PIUS II.) – EIN HUMANIST ALS VATER DES EUROPAGEDANKENS? ............................................................................................ 361 Quelle 6.1: Enea Silvio Piccolomini über Europa und die Türken (1454-1461) ....... 366 Heinz Schilling DAS SCHWEDISCHE KRIEGSMANIFEST VOM JULI 1630 UND DIE FRAGE NACH DEM CHARAKTER DES DREIßIGJÄHRIGEN KRIEGES ................................................ 370 Quelle 6.2: Flugschrift: Das schwedische Kriegsmanifest vom Juli 1630 ................... 376 Ilja Mieck KAISER NAPOLEON I. IM BERLINER STADTSCHLOSS .............................................. 379 Quelle 6.3: Erinnerungen des preußischen Kammerdieners Tamanti an den Aufenthalt von Kaiser Napoleon in Potsdam und Berlin im Jahre 1806 ................... 382 Herfried Münkler CLAUSEWITZ ÜBER DEN CHARAKTER DES KRIEGES ............................................... 385 Quelle 6.4: Carl von Clausewitz: Vom Kriege (1832) .................................................... 390 Rüdiger vom Bruch GEISTIGE KRIEGSPROPAGANDA. DER AUFRUF VON WISSENSCHAFTLERN UND KÜNSTLERN AN DIE KULTURWELT ......................................................................... 392 Quelle 6.5: Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ von 1914 .................................... 395 Oliver Janz DER KRIEG ALS OPFERGANG UND KATHARSIS. GEFALLENENBRIEFE AUS DEM ERSTEN WELTKRIEG .............................................................................................. 397 Quelle 6.6: Auszüge aus Briefen italienischer Gefallener des Ersten Weltkriegs ....... 401
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Günter Schödl SÜDSLAWEN UND HABSBURGERMONARCHIE UM 1900. ZUR EUROPÄIZITÄT DES „JUGOSLAWISMUS“ ................................................................................................ 403 Quelle 6.7: Die Resolution von Rijeka (Fiume) vom 3. Oktober 1905 ....................... 407 Holm Sundhausen VON „LAUSANNE“ NACH „DAYTON“. EIN PARADIGMENWECHSEL BEI DER LÖSUNG ETHNONATIONALER KONFLIKTE .............................................................. 409 Quelle 6.8: Auszüge aus der Lausanner-Vereinbarung von 1923 und dem Dayton-Abkommen von 1995 .......................................................................................... 413
7. ORGANISATION UND INSTITUTIONALISIERUNG EUROPAS .............................................................................................................. 415 Hubert Kiesewetter DER MITTELEUROPÄISCHE WIRTSCHAFTSVEREIN. EINE SCHWEIZER INITIATIVE IM FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT ............................................................................... 415 Quelle 7.1: Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein. Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich über eine Diskussion in der Schweiz 1904 ........................ 420 Hans Manfred Bock WEIMARER INTELLEKTUELLE UND DAS PROJEKT DEUTSCH-FRANZÖSISCHER GESELLSCHAFTSVERFLECHTUNG ........................................................................... 422 Quelle 7.2: Enquête der Deutsch-Französischen Gesellschaft von 1928 über die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen .......................................... 425 Rainer Hudemann LEHREN AUS DEM KRIEG. NEUE DIMENSIONEN IN DEN DEUTSCHFRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN NACH 1945 ........................................................... 428 Quelle 7.3: Direktiven der Provisorischen Regierung der Republik Frankreich für das Handeln in Deutschland, 20. Juli 1945 ............................................................... 432 Ludolf Herbst DEUTSCHLAND UND EUROPA AUS AMERIKANISCHER SICHT. EIN GEHEIMES GRUNDSATZPAPIER DES US-STATE DEPARTMENT AUS DEM JAHR 1949 ................ 436 Quelle 7.4: The economic interdependence of Germany and Western Europe. Means for achieving closer economic association (1949) .............................................. 440 Wilfried Loth LÉON BLUM UND DAS EUROPA DER DRITTEN KRAFT ............................................. 442 Quelle 7.5: Léon Blum: Die internationale Dritte Kraft (1948) ................................... 446
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Clemens A. Wurm DER SCHUMAN-PLAN, FRANKREICH UND EUROPA ................................................. 448 Quelle 7.6: Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950 ........................ 453 Konrad H. Jarausch DER ANDERE BLICK. EUROPAVORSTELLUNGEN DER OSTDEUTSCHEN BÜRGERBEWEGUNG ............................................................................................... 456 Quelle 7.7: Programm des ersten Landesvertretertreffens von „Demokratie Jetzt“, 19.-21. Januar 1990: „Für ein gemeinsames Europa – außenpolitische Orientierung“ ....................................................................................................................... 459 Jürgen Schriewer BOLOGNA UND KEIN ENDE. DIE ITERATIVE KONSTITUTION EINES EUROPÄISCHEN HOCHSCHULRAUMS ...................................................................... 461 Quelle 7.8: Die Bologna Deklaration der Europäischen Bildungsminister vom Juni 1999 ...................................................................................................................... 467 Heinrich August Winkler INTEGRATION ODER EROSION. JOSCHKA FISCHERS „HUMBOLDT-REDE“: ABSICHT UND WIRKUNG ........................................................................................ 469 Quelle 7.9: Joschka Fischers „Humboldt-Rede“ über den europäischen Weg vom Staatenverbund zur Föderation (Mai 2000) ............................................................ 473
REGISTER .............................................................................................. 475 REGIONEN- UND ORTSREGISTER ............................................................................ 475 PERSONENREGISTER ............................................................................................... 483
EINLEITUNG: EUROPA UND DIE EUROPÄER Von Rüdiger Hohls, Iris Schröder und Hannes Siegrist Die Geschichtsschreibung über „Europa“, die „Europäer“ und das „Europäische“ hat eine lange Tradition und, wie die steigende Zahl der Forschungsprojekte, Monografien und Buchreihen vermuten lässt,1 eine vielversprechende Zukunft. Die Motive, Gegenstände, Inhalte, Methoden und Ziele der Europa-Historiografie bleiben indessen, wie neuere Überblicke zum Stand der Forschung und Literatur zeigen,2 so vielfältig wie umstritten. Die Tatsache, dass sich die meisten Einwohner und Länder des Erdteils namens Europa im institutionalisierten Europa der Europäischen Union zusammengeschlossen haben, bedeutet noch lange nicht, dass auch ihre Erfahrungen, Erinnerungen und Geschichtsbilder konvergieren. Sicher ist jedoch, dass sich die Debatten der Historiker über historische Ähnlichkeiten und Unterschiede sowie Annäherungen und Entfremdungsprozesse in der europäischen Geschichte zurzeit intensivieren. Mit dem Band „Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte“ greifen 66 Historikerinnen und Historiker in die Debatte über das historische Europa ein. Sie schreiben dafür kein Programm, sondern stellen ein Dokument aus der europäischen Geschichte vor und bringen dieses zum Sprechen, indem sie es durch einen einleitenden Essay in die historischen Zusammenhänge und Deutungshorizonte einordnen. Die Beiträge behandeln Probleme, Ereignisse, Entscheidungssituationen, große historische Prozesse und Strukturen sowie alltägliche Situationen und Erfahrungen, die – in gewissen Hinsichten – als typisch oder exemplarisch für die moderne —————— 1
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Vgl. die thematisch orientierten Reihen „Europa bauen“ (deutsch beim Verlag C.H. Beck, München) sowie „Europäische Geschichte“ (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main). Siehe ferner die auf dem deutschen Buchmarkt erscheinenden neueren historischen Handbuch- und Sachbuchreihen, wie das „Handbuch der Geschichte Europas“ (UTB), die „Geschichte Europas“ beim Siedler Verlag, Berlin, sowie die „Geschichte Europas“ im Verlag Kohlhammer, Stuttgart. Vergleichbare Reihen werden seit den 1990er Jahren auch von Verlagen in anderen Ländern aufgelegt, u.a. European history in perspective (Palgrave Macmillan Publisher, Basingstoke u. London); European history (Routledge publishers, London); A History of Europe (Longman Publisher, London); History of Europe (St. Martin's Press, New York); Europe & histoire (Éditions Belin, Paris). Vgl. exemplarisch die folgenden Forschungsüberblicke mit weiterführenden Literaturangaben: Kaelble, Hartmut, Social particularities of nineteenth- and twentieth-century Europe, in: Ders. (Hg), The european way. European societies during the nineteenth and twentieth centuries, New York 2004, S. 276-317; Woolf, Stuart, Europa und seine Historiker, in: Petri, Rolf; Siegrist, Hannes (Hg.), Probleme und Perpektiven der Europa-Historiographie, Leipzig 2004, S, 50-71 (zugl. Comparativ 14 (2004) Heft 3); Haupt, Heinz-Gerhard, Die Geschichte Europas als vergleichende Geschichtsschreibung, in: ebd., S. 83-97; Europäisierung der Zeitgeschichte, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004) Heft 3, S. 335-481; Schmale, Wolfgang, Geschichte Europas (Teil I), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (2004) Heft 7/8, S. 454-470; (Teil II), in: ebd., (2004) Heft 10, S. 625-636; (Teil III), in: ebd., (2004) Heft 11, S. 697-707; Gall, Lothar, Europe reborn? Eine Geschichte Europas im 20. Jahrhundert, in: HZ 280 (2005).
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europäische Geschichte gelten können. Die Quellen und Essays eröffnen zum einen thematische Zugänge zur Geschichte Europas und der Europäer, zum anderen regionale, nationale, internationale und globale Perspektiven auf die europäische Geschichte. Das Herausgeberteam hat den Band nach Themen und Problemfeldern gegliedert. Die Kapitelstruktur berücksichtigt erstens die Inhalte und Anliegen der vorhandenen Einzelbeiträge, sie orientiert sich, zweitens, am Stand der Forschung und hebt, drittens, einige zentrale Problemfelder und Grundachsen der modernen europäischen Geschichte hervor. Innerhalb der Kapitel sind die Beiträge chronologisch geordnet. Das erste Kapitel versammelt Beiträge zum Themenkreis Arbeit, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Beiträge zeigen einerseits, wie auf dem europäischen Kontinent gearbeitet, gewirtschaftet, gelernt und gelebt wurde, und machen andererseits deutlich, dass die Handlungs- und Erfahrungsräume der Europäer vielfach weniger durch nationale Muster und Normen oder ein Europabewusstsein bestimmt waren, als durch Arbeit, Wirtschaft, Familie, Freizeit und Lebensstil. Die Strukturierung des europäischen Raums beruht demnach vielfach auf informellen Praktiken von Individuen, Familien, Berufsgruppen, Verbänden und Unternehmen sowie ferner auf institutionalisierten und habitualisierten Verhaltensmustern, die durch die politisch-räumliche und kulturelle Ordnung Europas oftmals vorgegeben waren und sind. Das zweite Kapitel über Religion und Wertewandel fragt nach der Bedeutung der Religion und nach der konfessionellen Vielfalt für Europa. Es diskutiert Probleme des Wertewandels, Fragen der Erziehung und der Moral sowie die Konzeption der „Vielfalt der Moderne“. Das dritte Kapitel rückt unter dem Titel Selbst- und Fremdbilder zwischen Nation und Europa Fragen und Probleme in den Mittelpunkt des Interesses, die sich aufgrund konkurrierender politischer und kultureller Ordnungsmuster und Selbstverständnisse ergeben. Die Beiträge analysieren die Bedeutung der Nation, des Nationalen und des Nationalismus für Europa – und die Bedeutung Europas für die Nation. Die Frage nach den europäischen Innen- und Außenansichten, nach Formen des europäischen Selbstverständnisses und nach den Europaentwürfen interessiert in Hinblick auf die innere Vielfalt und die äußere Verflechtung. Mit dem vierten Kapitel über Europa und die Welt kommen die weltweiten Verflechtungen Europas und der Europäer in den Blick. Die Geschichte der europäischen Expansion, der internationalen Organisationen und der Globalisierung zeigt den osmotischen Charakter der Grenzen Europas. Die folgenden Kapitel konzentrieren sich auf die Geschichte der Politik, der Gewalt und der Institutionen. Das fünfte Kapitel diskutiert anhand offizieller Staatsaktionen sowie alltäglicher Erfahrungen und Ereignisse die Probleme von Autokratie, Diktatur und Demokratie im 20. Jahrhundert. Das sechste Kapitel ist mit Krieg und Frieden überschrieben und behandelt Europa als Kontinent kriegerischer Auseinandersetzungen und als Ort der Suche nach einer europäischen Friedensordnung. Es befasst sich mit Programmen und Reflexionen von Politikern, Denkern und Militärs über Krieg und Frieden. Das abschließende siebte Kapitel über die Organisation und Institutionalisierung Europas widmet sich der Frage, wie Politiker und Intellektuelle, Staaten, Regierungen und politische Verbände das Zusammenleben und die Zusammenarbeit auf dem europäischen Kontinent bzw. in einem vereinigten Europa planten, institutionalisierten und organisierten. Mit diesem Kapitel reicht der vorliegende Band in die unmittelbare Gegenwart hinein.
Einleitung: Europa und die Europäer
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Die Geschichte Europas und der Europäer lässt sich jeweils nur unter einer bestimmten Perspektive und im Hinblick auf ein Problem oder ein Thema darstellen. In diesem Sinn geht der vorliegende Band exemplarisch vor. Er bietet keine „Totalgeschichte“ und verzichtet darauf, eine bestimmte Meistererzählung in den Mittelpunkt zu stellen. Selbstverständlich ist die Meistererzählung von der Strukturierung und Prägung Europas und der Europäer durch Prozesse unter anderem der Konfessionalisierung, Säkularisierung, Nationalisierung, Denationalisierung, Demokratisierung, ökonomische Überformung und Partizipation, Internationalisierung und Transnationalisierung Europas in vielen Beiträgen und auch in der Gliederung des Bandes zu erkennen. Die Erzählung vom „Phönix aus der Asche“, das heißt vor allem die Frage, wie das Europa der Weltkriegszeit und das geteilte Europa des Kalten Kriegs von Europäern und vielen anderen in das friedliche und vereinigte Europa der Europäischen Union verwandelt werden konnte, strukturiert die letzten Kapitel unseres Bandes. Die Meistererzählung des arbeitenden und effizienten Europa wirft ihr Licht auf das erste Kapitel. Die hier versammelten Beiträge verweisen dann aber auch auf vielfältige andere Erzählungen jenseits der etablierten und kanonisierten Europahistoriografie. Sie sind Ergebnis und Ausdruck professioneller Expertise, erinnern aber auch daran, dass jede Generation die Vergangenheit aufgrund eigener Erfahrungen, Herausforderungen und Forschungen neu rekonstruiert und interpretiert, um Orientierungs- und Reflexionswissen für das Handeln in der Gegenwart und Zukunft zu gewinnen. Die 66 Quellen und Essays bieten Anregungen und Grundlagen für eine themenorientierte, vergleichende, beziehungs- und verflechtungsgeschichtliche Historiografie Europas, der Europäer und des Europäischen. Sie richten sich an Historikerinnen und Historiker, Medienschaffende und Politiker, Studierende der Geschichts-, Gesellschaftsund Kulturwissenschaften, Schülerinnen, Schüler und Lehrende der Oberstufe sowie an ein größeres Publikum. Sie richten sich an Menschen, die mit historischen Dokumenten und Relikten kritisch umzugehen verstehen, die Geschichte für machbar halten und die aber auch wissen, dass Geschichte nicht eine bloße Konstruktion und etwas anderes als eine nach den Regeln der Literatur erzählte Fiktion von der Vergangenheit ist und mehr zu bieten hat als gute Unterhaltung oder schlichtes Infotainment im historischen Gewand. Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union ist an politische, wirtschaftliche und rechtliche Kriterien geknüpft, jedoch nicht, oder nur sehr indirekt, an „historische“ und historiografische Kriterien.3 Keine politische oder gesellschaftliche Instanz kann oder will zur Zeit die Geschichte dessen, was auf dem europäischen Kontinent geschehen ist, oder die Vorstellungen, die sich die Europäer von der Vergangenheit machen, europaweit angleichen oder gar vereinheitlichen. Geschichte, Historiografie und Erinnerungskultur werden zum Bereich der „Kultur“ gerechnet, wofür die Europäische Union unter dem Motto „Vielfalt in der Einheit“ an der Pflege von kultureller Diversität festhält. Diesbezüglich besteht wenig Homogenisierungsdruck und die Anreize für eine historiografische Angleichung und Standardisierung sind gering. Die Historiografie über Europa, die Europäer und das Europäische bleibt so vieldeutig und kontrovers. —————— 3
Vgl. Petri, Rolf; Siegrist, Hannes (Hg.), Probleme und Perspektiven der Europa-Historiographie, Leipzig 2004 (zugl. Comparativ, 14 (2004) Heft 3).
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Der akademisch regulierte Wettbewerb um wissenschaftlich fundierte Plausibilität in den Geschichtswissenschaften, der marktwirtschaftliche und der (partei-)politische Wettbewerb um Aufmerksamkeit für historische Darstellungen in den kommerziellen Medien und der Öffentlichkeit haben vermutlich den gleichen Effekt: Sie fördern die Angleichung der Geschichtsbilder in einigen Punkten, die starken Interessengruppen sehr am Herzen liegen. Sie behindern die Vereinheitlichung aber auch immer wieder, weil auf dem politischen und kulturellen Markt Europas Diversität und regionale Besonderheiten nachgefragt werden. Die Historiografie ist in Europa nach den Erfahrungen mit der Einheitsgeschichte im Nationalstaat, noch stärker aber aufgrund der Erfahrungen mit den historiografischen Monokulturen der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts zu einem kulturellen Feld geworden, in dem „Pluralismus“, „Diversität“ und „Originalität“ als erstrangige Kriterien gelten. Das Spektrum der Fragestellungen und Methoden ist – im Rahmen sehr allgemeiner Regeln von Wissenschaftlichkeit, intersubjektiver und interkultureller Überprüfbarkeit und Plausibilität – vielfältiger geworden. Die neuere europageschichtliche Literatur fängt jedoch nicht beim Nullpunkt an. Zurzeit unterziehen manche Historikerinnen und Historiker die überkommenen Begriffe, Bilder und Geschichten einer kritischen Revision, um sich darüber zu verständigen, inwieweit traditionelle, nations- und kulturspezifische Begriffe und Narrative den wissenschaftlichen Prozess des Wahrnehmens, Analysierens und Deutens bestimmen. Die europäische Geschichtsschreibung konzentriert sich grundsätzlich auf die folgenden zwei Zugänge: Die einen betrachten als „europäische Geschichte“ das Ganze oder Teile dessen, was sich in der Vergangenheit auf dem angeblich von Geografen definierten erdräumlichen Ausschnitt oder auch in dem „Container“ namens Europa abgespielt hat. Hierzu gehören beispielsweise Studien über strukturelle und prozessuale Besonderheiten der politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, rechtlichen und kulturellen Geschichte Europas und der europäischen Nationen.4 Die anderen fragen hingegen stärker nach den Voraussetzungen, Formen und Wirkungen der kulturellen, sozialen, politischen und rechtlichen „Konstruktion“ Europas, der Europäer und des Europäischen. Hier stehen Bezeichnungen, Begriffe, Definitionen und Bilder, ja, auch Ideen von Europa und dem Europäischen im Mittelpunkt des Interesses. Diese erst bestimmen und ermöglichen die räumliche Wahrnehmung und Ordnung des Kontinents sowie die auf diesen Ordnungen beruhende Institutionenbildung. Die territoriale Binnendifferenzierung des Kontinents ebenso wie dessen Außenabgrenzung und damit schließlich auch das jeweilige Selbst- und Fremdverständnis als Europäer sind vor diesem Hintergrund zu historisierende Bezugspunkte. Europäische Geschichte kann, aber muss sich dem—————— 4
Vgl. exemplarisch: Fischer, Wolfram u.a. (Hg.), Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 6 Bde., Stuttgart 1985-1993; darunter insbesondere Bd. 3: Europäische Wirtschaftsund Sozialgeschichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, hg. v. Hermann Kellenbenz, Stuttgart 1986; Bd. 4: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, hg. v. Ilja Mieck, Stuttgart 1993; Bd. 5: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, hg. v. Wolfram Fischer, Stuttgart 1985; Bd. 6: Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart, hg. v. Wolfram Fischer, Stuttgart 1987; Stearns, Peter (Hg.), Encyclopedia of European social history from 1350 to 2000, 6 Bde., New York 2001. Zudem sei auf viele Bände der in Anm. 1 genannten Reihen verwiesen.
Einleitung: Europa und die Europäer
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nach nicht unbedingt im geografischen Europa abspielen, sondern sie ist, wie die Geschichte Europas und der Europäer im Zeitalter der Imperien sowie im gegenwärtigen globalen Zeitalter zeigt, räumlich entgrenzt und weltweit mit anderen Geschichten verflochten.5 Im vorliegenden Band kommen beide Richtungen sowie vielfältige Mischungen zum Zug. Bei der Konzipierung unseres kommentierten Quellenbandes sind wir von der Annahme ausgegangen, dass sich die Historiografie über Europa, die Europäer und das Europäische zur Zeit aufgrund der Entwicklungen in Europa und der Welt in einer Transformationsphase sowie in einem Stadium wissenschaftlich kontrollierten Experimentierens befindet, in dem neben ausgezeichneten fachlichen Kenntnissen Phantasie und Kreativität gefragt sind. Die Autorinnen und Autoren zeigen mit ihren Essays und den dazugehörigen Quellen vielfältige Möglichkeiten des Herangehens und der Interpretation. Der Rückbezug auf die historische „Quelle“ bedeutet, dass neue oder alternative Informationen unerlässlich sind, wenn wir die bisherige Geschichtsinterpretation prüfen wollen. Er zeigt aber auch, dass der Phantasie bei der Rekonstruktion der Vergangenheit und bei der Konstruktion eines Geschichtsbildes gewisse Grenzen gesetzt sind. Zwar wird man heute nicht mehr viele Historiker finden, die sich so emphatisch und ausschließlich auf das Studium und die Kritik der Quellen konzentrieren, wie das manche National- und Regionalhistoriker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit mehr oder weniger guten Gründen gefordert haben. Da die Zahl der Quellen in der modernen Welt schier unendlich ist, müssen wir uns über weite Strecken auf die Forschungsliteratur verlassen. Ohne Quellen und Quellenkritik geht es aber auch nicht. Im heutigen Zeitalter des vergleichsweise freien Informationsflusses und des freien Zugangs zur Information haben die Geschichtswissenschaften eine wichtige Aufgabe in der Beschaffung, Filterung, Veröffentlichung und Zugänglichmachung historischer Informationen. Die vorliegende Sammlung von Quellen besteht zum einen aus bisher nicht veröffentlichten Dokumenten, zum anderen aus veröffentlichten Texten, die dem Vergessen anheim gefallen oder sogar kaum mehr auffindbar sind. Die publizierten Quellen handeln von historischen Akteurinnen und Akteuren, von Entscheidungen und Ereignissen, von Institutionen und institutionellen Zwängen, von Strukturen und Prozessen, und damit auch von sehr schlichten, alltäglichen Situationen. Sie behandeln Phänomene und artikulieren Probleme, die für die moderne europäische Geschichte in gewisser Hinsicht zentral, typisch oder exemplarisch sind. Die Quelle wird mit einem Essay kombiniert, weil angesichts der Komplexität der europäischen —————— 5
Vgl. u.a.. Wolff, Larry, Inventing Eastern Europe. The map of civilization on the mind of Enlightenment, Stanford 1995; Conrad, Christoph (Hg.), Mental Maps, Geschichte und Gesellschaft 28 (2000), S. 339-514; Pécout, Gilles (Hg), Penser les frontières de l'Europe du XIXe au XXIe siècle, Paris 2004; Fontana, Josep, Europa im Spiegel. Eine kritische Revision der europäischen Geschichte, München 1995; Frevert, Ute, Eurovisionen. Ansichten guter Europäer im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003; Jürgen Osterhammel, Europamodelle und imperiale Kontexte, in: Journal of Modern European History 2 ( 2004), Heft 2, S. 157-182; Schultz, Hans-Dietrich, Europa: (k)ein Kontinent? Das Europa deutscher Geographen, in: Schröder, Iris; Höhler, Sabine (Hg.), WeltRäume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt am Main 2005, S. 204-232; Dies., Für eine Geschichte der Räume und Orte im globalen Zeitalter, in: ebd., S. 303-313.
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Geschichte und aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und kognitiven Dispositionen eines europäischen Publikums nicht selbstverständlich davon auszugehen ist, dass die Leserin und der Leser die historischen Texte und Bilder spontan und angemessen deuten kann. Die Autorinnen und Autoren bringen die Quellen zum Sprechen, indem sie diese in den historischen Kontext stellen und im Rahmen spezieller und allgemeiner Entwicklungen und Deutungshorizonte interpretieren. Sie stellen damit Grundlagen für die historische Analyse und für eine historisch fundierte Verständigung über Europa und das Europäische zur Verfügung. Abgerundet werden die Beiträge mit einigen Lektüreempfehlungen. Jeder Essay und das im Anschluss daran abgedruckte Dokument sind einzeln lesbar. Die Auswahl der Quellen und Essays beruht in vielen Fällen auf Gesprächen zwischen dem Herausgeberteam und den Autoren, letztlich aber auf der Entscheidung der jeweiligen Autorin bzw. des jeweiligen Autors. Am Anfang standen folgende Fragen, die wir den beteiligten Historikerinnen und Historikern gestellt haben: „1. Was sollten Europäer und Nichteuropäer über die europäische Geschichte wissen? 2. Was halten Sie an der Geschichte Europas und der Europäer für besonders wichtig, typisch, überraschend, erfreulich, deprimierend ...?“ Die erste Frage richtet sich auf die Inhalte und die Funktionen der europäischen Geschichte als Orientierungs- und Reflexionswissen. Die traditionelle historiografische Kanonbildung wird hierbei allerdings unausgesprochen angezweifelt. Doch durch welche soll sie ersetzt werden? Die zweite Frage gilt den wissenschaftlichen Kriterien und der Reflexion der vor-wissenschaftlichen Einstellungen, welche die Wahrnehmung, Analyse und Bewertung bestimmen. „Europäische Geschichte“ soll nicht in einer affirmativen und teleologischen „Zivilisationsgeschichte“ aufgehen, deren Pfade und Ziele a priori feststehen, so dass es nur noch darum geht, den besten Beleg und Beweis dafür beizubringen. Kritische Geschichtswissenschaft geht weder in einem – wie auch immer gearteten – „Europäismus“ auf, noch dient sie primär dazu, die von Teilen der Politik und politischen Pädagogik immer wieder beschworene – ahistorische und mythisierende – Gleichsetzung von „Europa“ und „Zivilisation“6 historisch zu unterfüttern. Die dritte Frage, welche die Herausgeberin und die Herausgeber des Bandes den Autorinnen und Autoren gestellt haben, lautete: „Was könnte Hartmut Kaelble, dem wir den geplanten Band zur europäischen Geschichte zum 65. Geburtstag widmen, besonders interessieren?“ Damit ist endlich auch der besondere Anlass für das Zustandekommen dieses Bandes genannt: der 65. Geburtstag des Berliner Historikers Hartmut Kaelble, der seit Jahrzehnten zur europäischen Geschichte forscht, lehrt und publiziert. 66 Historikerinnen und Historiker – Kolleginnen und Kollegen, Freundinnen und Freunde sowie Schülerinnen und Schüler – führen mit diesem Band den europageschichtlichen Dialog mit Hartmut Kaelble fort, den sie vor kürzerer oder längerer Zeit als Gespräch über den Gesellschaftsvergleich, über sozialgeschichtliche Konvergenzen und Divergenzen in Europa, über Deutschland und Frankreich (die „Nachbarn am Rhein“), über die europäische Sozialpolitik, über das Selbstverständnis der Europäer, über die europäische Öffentlichkeit oder über Europa im Zivilisationsvergleich begon—————— 6
Vgl. dazu die kritischen Ausführungen von Gilles Pécout, in: Pécout (Hg.), Penser les frontières (wie Anm. 5) über das Geschichtsbild der Europäischen Union.
Einleitung: Europa und die Europäer
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nen haben.7 Insofern stellt der vorliegende Band eine Art virtuellen europahistorischen Dialog zwischen den Autorinnen und Autorinnen und Hartmut Kaelble dar. Die Tatsache, dass die Auswahl der Beitragenden durch berufliche und persönliche Beziehungen mitbestimmt ist, hat sich insofern als Vorteil erwiesen, als sie die Kohärenz des Bandes fördert. Wer mit Hartmut Kaelble zusammenarbeitet, hat sich in den Diskussionen mit ihm über die Grundlinien und Schwerpunkte der gemeinsamen Forschung und Lehre verständigt. Die europageschichtliche Kompetenz des engeren und weiteren Kollegenkreises von Hartmut Kaelble ist zweifellos ganz außerordentlich. Die meisten Autorinnen und Autoren gehören, wie Hartmut Kaelble, zu den Generationen, die an der Internationalisierung und Europäisierung der Geschichtswissenschaft aktiv mitgewirkt haben. Die Mehrzahl der Autorinnen und Autoren lehrt und forscht in Deutschland oder einem anderen europäischen Land. Viele haben auch außer—————— 7
Aus dem umfangreichen wissenschaftlichen Œuvre Hartmut Kaelbles listet die nachfolgende Aufstellung nur die Monografien und Sammelwerke, die einen vergleichenden, transnationalen oder europahistorischen Bezug aufweisen und somit im Zusammenhang mit den Beiträgen dieses Bandes stehen. Übersetzungen von Büchern, Aufsätze, Miszellen oder Essays bleiben ausgeklammert. Monografien: Historische Mobilitätsforschung. Westeuropa und USA im 19. und 20. Jahrhundert, Darmstadt 1978; Soziale Mobilität und Chancengleichheit im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttingen 1983; Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert. Eine Bilanz, Göttingen 1983; Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas, 1880-1980, München 1987; Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991; Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1999; Europäer über Europa. Die Entstehung des modernen europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20.Jahrhundert, Frankfurt 2001; Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union, Stuttgart 2001; Les relations franco-allemandes de 1945 à nos jours, Ostfildern 2004. Sammelwerke (Herausgeberschaften): zus. mit Dijk, Henk van (Hg.), Themenheft „Employment structure in 20th century Europe”, Historical Social Research, Nr. 44 (1987); zus. mit Bergmann, Jürgen; Brockstedt, Jürgen; Fremdling, Rainer; Hohls, Rüdiger; Megerle, Klaus; Kiesewetter, Hubert (Hg.), Historische Regionen im Vergleich. Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1989; zus. mit Brenner, Yehojachin Simon; Thomas, Mark (Hg.), Income Distribution in historical perspective, Cambridge 1991; (Hg.), Der Boom 1948-1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992; zus. mit Winkler, Heinrich August (Hg.), Nationalismus - Nationalitäten - Supranationalität, Stuttgart 1993; (Hg.), Karrieren und Management im Büro. Themenheft des Jahrbuchs für Wirtschaftsgeschichte (1993) 1; zus. mit Hudemann, Rainer; Schwabe, Klaus (Hg.), Europa im Blick der Historiker. Europäische Integration im 20. Jahrhundert. Bewusstsein und Institutionen, (= Historische Zeitschrift, Beihefte, N.F., Bd. 21) München 1995; zus. mit Siegrist, Hannes; Kocka, Jürgen (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1997; zus. mit Schriewer, Jürgen (Hg.), Gesellschaften im Vergleich. Forschungen aus Sozial- und Geschichtswissenschaften, Frankfurt am Main 1998; zus. mit Schriewer, Jürgen (Hg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Gesellschaftsvergleiche in Geschichts- und Sozialwissenschaften, Frankfurt am Main 1999; zus. mit Rothermund, Dieter (Hg.), Nichtwestliche Geschichtswissenschaften seit 1945, Leipzig 2001 (zugl. Comparativ 11 (2001) Heft 4); zus. mit Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander (Hg.), Transnationale Öffentlichkeit und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002; (Hg.), European public sphere and European identity in 20th century history, Themenheft des Journal of European Integration History, 8, 2002, H. 2); zus. mit Schriewer, Jürgen (Hg.), Vergleich und Transfer, Frankfurt am Main 2003; (Hg.), The European Way. European societies in the 19th and 20th centuries, New York 2004.
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halb ihres Herkunftslandes oder außerhalb Europas gearbeitet und gelebt. Die Beitragenden vertreten unterschiedliche fachliche und regionale Schwerpunkte. Die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist in dem Band insgesamt etwa gleich stark vertreten wie die Politik- und die neuere Kulturgeschichte. Die Verteilung der Beiträge auf nationale und regionale Schwerpunkte zeigt, dass die Studien zu Deutschland, Frankreich und Russland etwas stärker vertreten sind. Beigetragen haben zahlreiche international vergleichend arbeitende Historikerinnen und Historiker und so auch viele Expertinnen und Experten für internationale Beziehungsgeschichte, für interkulturelle Transfergeschichte sowie für die Geschichte außereuropäischer Gebiete und deren Verflechtung mit Europa. Diese Zusammensetzung sorgt für einen sehr gut informierten, kritischen und weltoffenen Blick auf Europa und bietet Gewähr für sorgfältige Kritik an regions-, nationsund eurozentrischen Perspektiven und Bewertungen. Die Beiträge repräsentieren den aktuellen Stand einer international ausgerichteten historiografischen Diskussion. Der vorliegende Band unterscheidet sich von zahlreichen anderen Quellensammlungen8 durch die besondere Auswahl und durch die ausführliche Kontextualisierung der Quellen mithilfe der begleitenden Essays. Die Quellen werden in den meisten Fällen ohne größeren wissenschaftlichen, editorischen Apparat präsentiert. Fremdsprachige Texte sind übersetzt; nur englischsprachige Quellen wurden direkt übernommen. Aus Gründen des Umfangs sind viele Quellen nur auszugsweise abgedruckt. Einschübe, Ergänzungen und Kommentare der Autorinnen und Autoren sind grundsätzlich durch eckige Klammern gekennzeichnet. Neben zahlreichen CD-Rom-Ausgaben mit historischen Materialsammlungen9 erweist sich inzwischen zunehmend das World Wide Web als der bevorzugte Ort für die Bereitstellung historische Quellensammlungen.10 Das diesen Band ergänzende Webpor—————— 8
Die Zahl gedruckter Quellensammlungen zur europäischen Geschichte oder zu epochalen, regionalen oder thematischen Teilaspekten ist nahezu unübersehbar. Sie werden über spezielle Bibliografien veröffentlichter Quellen und Quellensammlungen erschlossen. Exemplarisch genannt seien einige deutschsprachige und aus benachbarten europäischen Ländern stammende Anthologien, die teilweise sehr umfangreich sind und lange Phasen der europäischen Geschichte abdecken: Schulze, Hagen; Paul, Ina Ulrike (Hg.), Europäische Geschichte. Quellen und Materialien. München 1994; Gasteyger, Curt, Europa von der Spaltung zur Einigung. Darstellung und Dokumentation 1945-2000, vollst. überarb. Neuaufl., Bonn 2001; Curcio, Carlo, Europa. Storia di un’ idea, Bd.1 (Collana storica 63), Florenz 1958; Hersant, Yves; Durand-Boghaert, Fabienne (Hg.), Europes. De l’Antiquité au XXe siècle. Anthologie critique et commentée, Paris 2000; Pollard, Sidney, Holmes, Colin (Hg.), Documents of European economic history, Vol. 1: The process of industrialization, 1750-1870, Vol. 2: Industrial power and national rivalry, 1870-1914, Vol. 3: The end of the old Europe, 1914-1939, London 1968-1973; Mitchell, Brian R., International historical statistics: Europe 1750-2000, 5. erw. Ausg., Basingstoke 2003. 9 Einen Überblick über diesen Bereich historischer Spezialveröffentlichungen liefern die Rezensionen von H-Soz-u-Kult, in: (01.02.2005), Rubrik: Rezensionen – digitale Medien. 10 Wobei allerdings Fragen der Authentizität und Integrität noch nicht abschließend geklärt sind. - Im Internet verfügbare historische Quellensammlungen sind über das so genannte Web-Verzeichnis des historischen Fachportals „Clio-online“ recherchierbar, in: (01.02.2005); Rubrik: Materialien (Quellen – Lehrmaterialien). Dort sind Anfang 2005 über 500 Angebote mit inhaltlichem Schwerpunkt auf die europäische Geschichte beschreibend erschlossen. Im Kontext der europäischen Integrationsgeschichte sei exemplarisch auf den „European Navigator“ (ENA) hinge-
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Einleitung: Europa und die Europäer
tal wird mittelfristig alle Quellen, die in diesem Band kommentiert werden, und langfristig auch die Essays in elektronischer Form verfügbar machen. Um den Umfang des Buches nicht zu sprengen, konnten viele der vorgeschlagenen Quellentexte nur auszugsweise in das Buch übernommen werden. Das Portal ergänzt den Band deshalb auch insofern, als die im Buch nur gekürzt, übersetzt, transkribiert oder in Auswahl abgedruckten Quellen auf der Website zusätzlich in der Originalsprache, als Abbildung, in der Langfassung oder um weitere Dokumente ergänzt ausgewiesen werden. Mit dem Franz Steiner Verlag ist zudem abgestimmt, dass mit dem Erscheinen des Buchs einige der Essays auch in das Webportal übernommen werden können. Das Herausgeberteam strebt zudem an, weitere Quellen und Essays von Kolleginnen und Kollegen für das Portal zu gewinnen. Unser langfristiges Ziel ist es, das Portal zum einen zu einer Anlaufstelle für lehrunterstützende Materialien und Quellen auszubauen und zum anderen forschungsrelevante Informationen zur modernen europäischen Geschichte in Verbindung mit den Partnereinrichtungen des Kooperationsverbundes Clio-online dort zu bündeln. Im Internet wird das Fachportal unter folgender Adresse erreichbar sein: www.europa.clio-online.de Dieser Band hat von vielem profitiert. Zunächst möchten wir all diejenigen nennen, die auf unsere Anfrage reagiert, eine Quelle ausgewählt und einen Essay für den Band verfasst haben. An erster Stelle danken wir daher den Autorinnen und Autoren ganz herzlich für die anregende und vertrauensvolle Zusammenarbeit. Als das Projekt immer mehr an Umfang zunahm, war Franziska Kuschel eine unschätzbare Hilfe. Sie unterstützte uns nicht nur bei der organisatorischen Arbeit und Koordination, sondern leistete auch bei Übersetzungen und der Textredaktion sowie nicht zuletzt bei der umfangreichen Korrespondenz stets eine großartige und zugleich sehr sorgfältige Arbeit. Florian Kemmelmeier arbeitete an mehreren Übersetzungen und half beim Lektorat, bei der Erstellung des Index sowie bei der formalen Prüfung der Beiträge. Priska Jones, Jan Lipsius und Susan Rößner lasen alle Beiträge noch einmal abschließend Korrektur; Jan Lipsius unterstützte ferner auch die Erstellung des Index. Aus dem Team von Clioonline hat Claudia Prinz bei der Organisation des Vorhabens mitgewirkt, Christina Dicke brachte grafische Lösungen ein und Thomas Meyer zeichnet für die technische Umsetzung insbesondere des Webportals verantwortlich. Ohne dieses große Engagement wäre der Band zu für uns kaum zu bewältigen gewesen. Daher gilt ihnen allen ebenso unser ganz herzlicher Dank. Dem Franz Steiner Verlag danken wir für seine Bereitschaft, diesen Band mit dem dazugehörigen Webportal in das Verlagsprogramm aufzunehmen. Last but not least danken wir dem Multimedia-Förderfond der Humboldt-Universität zu Berlin für die finanzielle Unterstützung unseres Vorhabens.
—————— wiesen, der mit Unterstützung der EU hunderte multimediale Dokumente zur historischen und institutionellen Entwicklung Europas seit 1945 bereitstellt, in: (01.02.2005).
1. ARBEIT, WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT
DAS HANDWERK IM UMBRUCH AM BEGINN DES INDUSTRIEZEITALTERS1 Von Wolfram Fischer Im „alten Europa“ bildete das Handwerk neben den Bauern die wichtigste „Produktivkraft“. In den größeren Städten waren sie meist in Zünften organisiert und nahmen seit der „Zunftrevolution“ des späten Mittelalters an der Stadtregierung teil. Sie bildeten die städtische Mittelschicht. Aber auch in kleineren Städten und auf dem Lande, wo es eine zünftige Organisation nur rudimentär oder gar nicht gab, waren viele Handwerker tätig. Für die zünftigen Handwerker galten strenge Regeln für Ausbildung und Ausübung ihres Berufes. Dazu gehörte auch die Wanderschaft, die viele junge Handwerker oft jahrelang durch Europa führte. Deutsche Handwerksburschen wanderten nach Skandinavien, nach England oder Frankreich, in die Niederlande oder die Schweiz und nach Österreich, aber auch in die Mittelmeerländer bis hin in das Osmanische Reich und nach Ostmitteleuropa. Vermutlich hunderte haben Reisetagebücher, Briefe oder später Erinnerungen an diese Wanderzeit hinterlassen, von denen einige Dutzend später gedruckt wurden. Die – nachfolgend wiedergegebenen – Auszüge aus den Reisetagebüchern des rheinischen Gerbergesellen Johann Eberhard Dewald (1812-1883), die er in den Jahren 1836 bis 1838 geschrieben hat, sind deshalb von besonderem Reiz, weil sie Beobachtungen eines aus einer traditionellen Meisterfamilie stammenden jungen Mannes über die Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Umwelt mit dem Anbruch der Industrialisierung reflektieren.2 Von seinem Vater, einem selbstbewussten Gerbermeister, weiß er, wie sich ein zünftiger Geselle auf Wanderschaft zu benehmen hat. Er muss in den Städten, die er ansteuert, beim Zunftmeister nach Arbeit fragen, wobei er bestimmte Grußformeln zu verwenden hat und ebenso zeremoniell zu begrüßen ist. Ist keine Arbeit für ihn vorhanden, so hat er Anspruch auf ein „Geschenk“ oder „Zeichen“, das heißt auf freie Übernachtung und Wegzehrung, und wird mit guten Wünschen, oft auch dem Rat, wo möglicherweise Arbeit für ihn vorhanden ist, verabschiedet. Dann darf er sich aber auch nicht länger an dem Ort aufhalten, darf nicht herumlungern. Be—————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 1.1, Reiseerinnerungen und Reflexionen eines rheinischen Gerbergesellen 1836/38. Vgl. Quelle Nr. 1.1. Die hier zugrundegelegte Quelle ist erstmals publiziert worden in: Biedermeier auf Walze. Aufzeichnungen und Briefe des Handwerksburschen Johann Eberhard Dewald 18361838, hg. v. Georg Maria Hofmann, Berlin 1936. Auszugsweise abgedruckt bei Fischer, Wolfram, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit, Göttingen 1957, S. 123-135. In diesem Band sind überdies weitere Auszüge aus siebzehn solcher Reiseberichte veröffentlicht.
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Wolfram Fischer
kommt er Arbeit angeboten, muss er sie annehmen. Wie lange er bleibt, hängt sowohl von seinem Meister wie von ihm ab. Oft sind es nur wenige Tage. Es können aber auch Wochen und Monate und schließlich Jahre daraus werden. Wer wie Dewald aus einem Meisterhaushalt kommt, den er eines Tages erben wird, wird von vorne herein nur eine begrenzte Wanderzeit einplanen, andere, die einen solchen Rückhalt nicht besitzen, werden anstreben, irgendwo als „Altgeselle“ eine ständige Beschäftigung zu finden oder vielleicht sogar eines Tages eine Meistertochter oder Meisterwitwe zu heiraten und sich dann dort niederzulassen. Für beides gibt es vielfältige Zeugnisse. Es ist in der Forschung umstritten, ob die Wanderschaft vor allem der weiteren Ausbildung nach Beendigung der Lehre diente oder ob sie ein Mittel war, um in einer Welt chronischer Unterbeschäftigung – bei gleichzeitig langer Arbeitszeit mit täglich bis zu 12 Stunden – die Arbeitslosigkeit zu begrenzen bzw. die Arbeitssuchenden selbst für das Finden eines Arbeitsplatzes verantwortlich zu machen. Denn Arbeitsämter gab es nicht, und Arbeitslosen blieb nur übrig, bei kirchlicher oder kommunaler Armenfürsorge vorzusprechen oder zu betteln. Ein zünftiger Handwerksgeselle bettelte nicht. Das war die Norm. Wir wissen jedoch, dass vielen oft gar nichts anderes übrig blieb und manche sich daran gewöhnten, ebenso wie sie sich gewöhnten, obdachlos zu sein oder zu trinken. Dewald gehörte eindeutig zu denjenigen Wanderburschen, die etwas lernen und die Welt sehen wollten und die sich an die zünftigen Regeln hielten. Er konnte es sich auch erlauben, denn er hatte ein Elternhaus im Rücken, in das er jederzeit zurückkehren konnte. Was Dewald jedoch auf seiner Wanderschaft vorfindet, ist eine teilweise andere, sich wandelnde Welt. Wenn er in große Städte kommt, wird sein Handwerksgruß kaum noch erwidert; vielmehr wird er oft wie ein Bettler behandelt, wenn er um ein „Zeichen“ bittet. Bei den Mitgesellen vermisst er die Solidarität, denn viele arbeiten gar nicht mehr in Handwerksbetrieben, sondern in Fabriken und wohnen nicht mehr im Haus des Meisters, sondern in Schlafsälen. Die Fabrikarbeit, die auch er zeitweise, zum Beispiel in Prag, ausführt, behagt ihm nicht, denn er hat, wenn er den ganzen Tag die gleiche Tätigkeit verrichten muss, das Gefühl, er „triebe sein Gewerb nur halb“. Aber er sieht doch ein: „Muß wohl in einer Fabrik solcherweis geschehen“, und bezeugt damit, dass er offenen Auges durch die Welt geht und nicht nur am Hergebrachten sich orientiert. Womit er aber nicht einverstanden ist – und hier zeigt sich der Meistersohn – ist die Haltung mancher Gesellen und vieler Fabrikarbeiter gegenüber ihrem Arbeitgeber. Da streitet er mit einem mitwandernden Gesellen, weil dieser sein Wort gegenüber dem Meister, die angebotene Arbeit anzunehmen, bricht und lieber weiter wandert, oder er belehrt die Arbeiter, die im Fabrikbesitzer nur den „Reichen“ sehen, dem man ein Schnippchen schlagen kann, dass auch ein Arbeitgeber, ob Meister oder Fabrikant, rechnen müsse, wenn er über die Runden kommen wolle, dass er sein Einkommen keineswegs „arbeitslos“ erziele und dass ihre eigenen Arbeitsplätze gefährdet werden, wenn die Arbeiter den Arbeitgeber betrügen und so möglicherweise in den Bankrott treiben. Wiederum hat er dabei den väterlichen Meisterbetrieb im Blick. Schon in Bayern hatte er kurze Bekanntschaft damit gemacht, dass in Fabriken andere Sitten herrschten. Als er mit seinem Wandergefährten in einem Gasthaus gegenüber einer Gerberei-Fabrik saß, kamen die „Gesellen“ dieser Fabrik zum Vesperbrot, ohne sie eines Blickes zu würdigen oder gar, wie es in seinen Augen sein sollte, ihnen einen ehrbaren Gruß zu erweisen. Eigentlich hatten die Wanderburschen sich „ordent-
Das Handwerk im Umbruch
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lich darauf gespitzt, recht ausführlich von ihnen über die Arbeit in solcher großen Werkstatt zu hören“. Aber erst der Werkmeister, bei dem sie wegen eines „Zeichens“ vorsprachen, lud sie ein, die Fabrik zu besuchen. Dewald „wechselte mit jedem Gesellen ehrlichen Gruß, weil es mir leid gewesen wäre, den zünftigen Brauch zu missachten, den mir der Herr Vater auf die Seele gebunden, nie ohne Not zu verletzen“ Nicht besser erging es ihm in München. „Der Handwerksbrauch scheint hier auch ganz ausgestorben zu sein“, notierte er in einem Tagebuch, „wo die meisten in Fabriken arbeiten, wie sie sich allerorten jetzt etablieren, und unter Gesellen kein Zusammenhang mehr zu finden ist. Mußte es also wohl daran geben, in München zu konditionieren“, das heißt eine Arbeit anzunehmen. Noch etwas anderes treibt den wandernden Gesellen um, der sich nicht als Proletarier versteht, sondern „stolz auf sein Metier“ ist und niemals verleugnen will, „ein Wandergesell und ein Gerber zu sein!“ Im Kontakt zu anderen bürgerlichen Gruppen, etwa zu gleichaltrigen Studenten, den er durchaus sucht, stellt er fest, dass die bürgerlichen Freiheiten im nachnapoleonischen Europa Beschränkungen unterliegen. Handwerksburschen pflegten in der vorrevolutionären Zeit Staatsgrenzen ohne große Formalitäten zu überschreiten. Das war nun anders. Die Polizei kontrollierte überall. Die Handwerksburschen sahen das als Schikane an. Erst als Dewald in Freiburg bei Feiern der studentischen Burschenschaft Opfer eines Polizeieinsatzes wurde, erkannte er einen politischen Hintergrund. Die entwürdigende Behandlung durch die Freiburger Stadtsoldaten kränkte seine Ehre: „Was sollten die zu Hause denken, die Eltern und Jungfer Theres!“ Nachdem die Handwerksburschen ihre Wanderbücher, die sie in der Herberge gelassen hatten, am nächsten Tag vorlegen und sich damit als wandernde Gesellen ausweisen konnten, wurden sie zwar freigelassen, nicht ohne jedoch vorher auf Krätze untersucht zu werden, wobei sie sich nackt ausziehen mussten, eine andere Arte der Entwürdigung, der wandernde Gesellen – vermutlich nicht ganz grundlos – öfters unterworfen wurden. „Dies alles aber, weil wir mit den Studenten ein Lied auf das ganze Deutschland gesungen hatten! Machen es einem wahrlich nit leicht, auf sein Vaterland stolz zu sein, soll mir aber nichts nit die Liebe zu meiner Heimat aus dem Herzen reißen!“ Und als die Studenten die weiter wandernden Gesellen mit ihren deutschen Liedern begleiteten und sie in einem Dorfgasthaus „tractierten“, ihnen also ein „ordentliches Frühstück“ vorsetzten, machte ihm „die herzliche Brüderlichkeit der Studenten zu uns wandernden Gesellen das Blut recht warm“. Doch blieb eine gewisse Distanz zu den Bildungsbürgern. Als die Gesellen beim Eintritt nach Bayern bei Lindau noch einmal polizeiliche Kontrollen über sich ergehen lassen mussten mit erneuter Kontrolle auf Krätze, dem Vorzeigen von Reisegeld und den drohend klingenden Hinweis, „daß wir in Bayern wären und nit irgendwo auf der Welt“, meint er zwar: „Diese ewigen Grenzen im Deutschen Reich sind wahrhaft vom Teufel erfunden“, aber er findet im Rückblick auf das übermütige Treiben der Freiburger Studenten auch: „Das faule Reden allein ändert nichts nit, und die Neunmalweisen haben die Welt noch keine Elle voran gebracht.“ Schlimmer noch traf Dewald es in Italien an. In Mailand fand er „das gleiche Elend mit den Gesellen, wie überall in der letzten Zeit. Die meisten Einlogierten glichen in keiner Weise ordentlichen Gesellen, schienen mir auch ihre Profession nit zu ehren und führten sich nit nach der Zunft auf. Keine Frage nach woher und wohin, dabei aber ein wüster Spektakel in ordinärster Art. Der alte Handwerksbrauch ist hier ganz im
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Schwinden. Kein Zusammenhalt und die übelste Aufführung. Glich doch die Herberge vielmehr einer Spelunke als einer ordentlichen Unterkunft.“ Und in den Fabriken hielt man ihn wieder für einen Bettler, wenn er um ein „Zeichen“ nachkam. „Ist schon ganz geschwunden, daß der Gesell ein Recht auf ein zünftiges Zeichen hat, und steht da als ein Faulenzer, so man vorspricht. Habe es dran gegeben, weil ich lieber hungern wollte, als solche Unehre zu ertragen. Ist aber noch nit soweit und hab noch Gulden in der Tasch.“ Als Dewald über die Schweiz wieder nach Deutschland wollte, geriet er erneut in die Turbulenzen des erwachenden Nationalismus und der staatlichen Unterdrückungsmaschinerie gegenüber solchen Bestrebungen. 1832 hatte der im Jahr zuvor aus dem Königreich Piemont ausgewiesene Advokat Giuseppe Mazzini (1805-1872) den Geheimbund „La giovine Italia“ (Das junge Italien) gegründet und 1834 in Bern „La giovine Europa“ mit Gruppen aus italienischen, deutschen und polnischen Emigranten in der Schweiz. Mazzini forderte den Aufstand der Italiener als Initiative zum Aufstand des jungen Europa der Völker gegen das alte Europa der Monarchen. Fortan galt die Schweiz für die norditalienischen Behörden als gefährlich, und junge Leute, die dorthin wollten, wurden scharf kontrolliert. Als Dewald sich in Como als ordentlicher Handwerksgeselle nach der Schweiz „visieren“ lassen, das heißt dies in sein Wanderbuch eintragen lassen wollte, musste er sich strengen Verhören unterziehen und notierte in sein Tagebuch: „Muß doch aber ein gefährlich Stück Erde sein, die Schweiz, und hätte meintag nit für möglich gehalten, soviel Schwierigkeiten zu finden“. Obwohl schließlich ordnungsgemäß visiert, wurde er von zwei Grenzposten „hart angelassen und auf meine Erwiderung hin einfach arretiert und unter Eskorte von zwei Grenzpolizisten, die zu meiner besseren Bewachung ihre Musketen schußbereit hielten, nach Como zurückgebracht. Man beratschlagte gewaltig, ob man mich in Mayland einliefern sollte, hatte aber Angst derwegen, da ich mit der Zeit gute Übung gewonnen hatte und auf mein ordentlich visiertes Wanderbuch vertraute. War denn auch richtig, und nach groben Unfreundlichkeiten durfte ich meines Weges ziehen.“ Erst als er wieder in Süddeutschland eintraf, fand er die alten Bräuche noch in Kraft. Zugleich aber war er neugierig auf das Neue: Die Eisenbahn. Hatte er sie schon in Österreich ausprobiert, so setzte er nun einen extra Tag an, um mit der ersten deutschen Eisenbahn von Fürth nach Nürnberg und zurück zu fahren, was ihm mächtig imponierte, und er sinnierte über die Vor- und Nachteile der neuen Zeit: Ein Handwerksgeselle war an der Schwelle des Industriezeitalters angekommen. Quelle Nr. 1.1 Reiseerinnerungen und Reflexionen eines rheinischen Gerbergesellen 1836/383 [Wien:] Den 3. April besuchte ich den Schlosspark von Hellbrunn, der mit schönen Wasserkünsten versehen ist, woran Gruppen aus Marmor stehen, davon man meint, sie seien gerad aus dem Was-
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Biedermeier auf Walze. Aufzeichnungen und Briefe des Handwerksburschen Johann Eberhard Dewald 1836-1838. Hg. v. Georg Maria Hofmann, Berlin 1936. Auszugsweise abgedruckt bei Fischer, Wolfram, Quellen zur Geschichte des deutschen Handwerks. Selbstzeugnisse seit der Reformationszeit, Göttingen 1957, S. 123-135.
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ser gestiegen und suchten Kühlung im Schatten der Bäume, so glänzte der Wasserstaub auf dem weißen Stein. Darnach hatte Salzburg nit mehr viel für mich, und wir zogen weiter über Neumark nach Schallheim auf Linz zu, wohin ich mir hatte visieren lassen. Über Grünfeld kamen wir nach Wels, durch das die neue Eisenbahn nach Linz fährt. Das war mir ein gänzlich unerwarteter Vorfall und hätte sie für mein Leben gern gesehen. Ging aber diesen Tag nit, indem sie nur dreimal die Woche fuhr. So nahm uns denn ein Lohnkutscher für 12 Kreuzer in das Quartier mit. Über der Fahrt schandierte er weidlich über die neue Erfindung, die der Teufel ausgeheckt hätte. Jedem ehrlichen Fuhrmann käme sein knapper Lohn nun ganz und gar abhanden und bei ihm wär es schon so, dass er sein Weib und die acht Kinder nit mehr satt bekäme. Was in aller Welt das noch werden sollt? Die Welt würd ein Narrenhaus, und alles wär wild auf Neumodisches und Maschinenzeugs, und was ordentlich war und ehrlich gegolten hat seit altersher, das ist nun nichts mehr und nur noch zum Lachen. Doch käm bei der ganzen Klugheit nur heraus, dass nit genug zum Essen bliebe. Habe mir das Schänden hier ausführlich vermerkt, weil solcherweis immer Ade gesagt wird zu allem, daran wir gewohnt, und das Neue immer als übel gilt, wo es doch manchen Gewinn hat. Das fiel mir sonderlich bei, als wir anderen Tages von Sonnfeld mit der Eisenbahn fuhren, und viele nach uns noch fahren werden. Ist ein wunderliches Gefühl, mit sausender Schnelligkeit dahinzufahren und Minuten für Wege zu brauchen, daran man wohl sonst einen halben Tag marschiert. Ist dabei allerdings nit sehr erquicklich, vom Rauch und Ruß des Dampfers überschüttet zu werden, die einem der Wind in das Gesicht treibt. Zum Glück waren Zelltücher über die Wagen gespannt, weil man sonst nit mehr menschlich ausgesehen, denn der Qualm war schon fast kaum zu ertragen. Mühelos langten wir halber zehn in Linz an. [...] [Prag:] In der Pollakischen Fabrik, die nun meine Werkstatt war, traf ich zu meiner Freude einen Landsmann. War mir aber doch neu und bisher nit unterlaufen, dass ich nit beim Meister logieren sollte. Wäre aber wohl ein schwieriges Stück, wenn die vielen Gesellen der Pollakischen Fabrik ein gemeinsames Losament finden sollten, zumal nit wenig verheiratet waren und Kinder hatten. Ist überhaupt in einer Fabrik, wie der hiesigen, anders als in einem meisterischen Hause und kein Zusammenhalt nit unter den anderen. Eine zunftmäßige Aufführung ist überall unter den Kollegen nit zu finden und kein Umgang, wie unter ordentlichen Gesellen. Zudem gefällt mir das Arbeiten nit, dieweil jeder den langen Tag die gleiche Arbeit verrichten muß und dabei das Ganze aus den Augen verliert. Muß wohl in einer Fabrik solcherweis geschehen, kann mich aber nit darain schicken und mein immer, ich triebe mein Gewerb nur halb. Gefiel mir die Arbeit nit, so noch viel weniger der Umgang mit den Böhmerleut, die eine andere Sprache reden und dabei so hinterhältig waren, wie es nur zu denken ist. Wegen meiner Arbeit, die ich mit allem Fleiß tat, verlachten mich meine Mitgesellen und redeten einher, als wär es gerad recht, soviel wie möglich zu faulenzen. Der Pollak sei ein Reicher und zahle schlecht genug. Ich verfiel aber nit auf ihr Gered und gab ihnen gut Antwort: ein Reicher hätt nit minder Sorgen, nur anderer Art und müsst fleißig zusehen, dass seine Fabrik vorankäm, und nit eines Tages die Arbeit fehle, und die Gesellen nit weiter vonnöten seien. Da machten sie Gesichter! Weiß ich doch von des Herrn Vaters Werkstatt, wie er manchen Abend gerechnet und kalkuliert und mir seine Zahlen gewiesen, das ihm das Leder nit zu teuer komme, und mit dem Lohn einen Preis gebe, der ihm ein Auskommen und gute Käufer erhielte. In der Zeit machten die Gesellen im Haus lang ihren Feierabend und wussten wenig von den Sorgen, die durch des Herrn Vaters Kopf gingen. Doch was verschlägt alles Reden, so einer nit hören will. Es ist schad um die Müh und wird nur noch ärger. […] [Wieder in Deutschland:] In Wangen schaute ich um und erhielt wieder ordentlich ein Zeichen. Ist hier in Deutschland doch noch ein zunftmäßiger Brauch, und wird nit als ein Bettler genommen, so man sein Zunftrecht übt. […] In Ulm fand ich einen alten Zunftbrauch noch in der Übung, indem nämlich die Gesellen beim Umschauen nit nur ein Meisterzeichen, sondern auch ein Stadtzeichen erhielten, wie es mancher-
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orts noch gegeben wird. Dem Herrn Vater ist das allenthalben unterlaufen und war eine allgemeine Sitte, die nun nit mehr weiter getrieben wird. [...] In Roth und Schwabach liefen wir die Meister ab und trafen am 12. Juli 1838 in Nürnberg ein. Wollten wir den Dampfer [die Eisenbahn, W. F.] nach Fürth noch erreichen, so blieb uns wenig Zeit. [...] An diesem Tage gab es nun nichts mehr zu fahren. Da ich aber allein nach Nürnberg gegangen, um den Dampfer durchaus zu probieren, welches mir erst einmal in meinem Leben damalen in Linz geglückt, wir aber andererseits nit länger als vierundzwanzig Stunden hier verweilen durften, da wir schon nach Fürth visiert hatten, so blieb nichts anderes übrig, als nach dorten zu marschieren und bis anderen Mittag zu warten, um also umgekehrt von Fürth nach Nürnberg zu fahren. Gelang uns denn auch, und wir machten die Reise von Fürth nach Nürnberg in kaum achtzehn Minuten. Die Fahrt zurück dauerte allerdings nur zehn Minuten, was wegen dem abfallenden Gelände war, das der Dampfer leichter hinter sich brachte. Dabei sahen wir den Donau-Mayn-LudwigKanal, welcher zwischen diesen beiden Städten gegraben wird. Auch die Dampfertrace heißt die Ludwigsbahn nach dem bayerischen König. War eine angenehme Fahrt in den offenen Wagen, da die Luft von allen Seiten Zutritt hatte, und welche Wagen sogar ohne Verdeck fuhren. Einige mutige Frauen, die es gewagt hatten, sich mit uns Mannsleut in den Dampferwagen zu setzen, machten ängstliche Gesichter, als der Train an einer scharfen Krümmung der Trace arg ins Wanken kam. Sie kreischten jämmerlich und klammerten sich an ihre Begleiter, die aber mit Gleichmut dreinsahen oder doch sich ein solches Ansehen gaben. Die Furcht vor einem Absturz war aber auch ganz übrig, denn wir fuhren dorten so sicher wie auf irgend einer guten Landstraße. Hatten für die Fahrt zwölf Kreuzer zu zahlen, was nit gerad billig ist. Muß aber doch sagen, dass ich schwerlich nach Belgrad und Dalmatien zu Fuß gereist wäre, hätte man schon überall solche Dampfer aufgestellt. Wäre mir vielleicht manches verborgen geblieben, was ich zu gutem Nutzen kennengelernt habe. Wären mir aber auch die Füße geschont worden, was auch nit vom Übel ist. Doch ehe die Dampfer so weit laufen, wird noch viel Wasser den Rhein herunterfließen und manche hundert Jahre vergehen.
Literatur Engelhardt, Ulrich (Hg.), Handwerker in der Industrialisierung. Lage, Kultur und Politik vom späten 18. Jahrhundert bis ins frühe 20. Jahrhundert, Stuttgart 1984 Fischer, Wolfram, Das deutsche Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 315-337 Lenger, Friedrich, Sozialgeschichte des deutschen Handwerks seit 1800, Frankfurt am Main 1988 Pierenkemper, Toni, Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert, München 1994 Stadelmann, Rudolf; Fischer, Wolfram, Die Bildungswelt des deutschen Handwerkers um 1800, Berlin 1955
STÄDTEWACHSTUM UND DIE KRAFT DER ASSOZIATION: ROBERT VAUGHAN – EIN KLASSIKER DER EUROPÄISCHEN STADTGESCHICHTE1 Von Andrew Lees Robert Vaughans Buch The Age of Great Cities, das 1843 in London erschien, ist eine klassische Rechtfertigung der Urbanisierung. Zu einer Zeit, als auf dem europäischen Kontinent die Wanderungsbewegungen vom Land in die Städte immer mehr zunahmen, betonte der englische Geistliche bereits den positiven Charakter der urbanen Entwicklung. Vaughan nahm in seiner Schrift, die in der folgenden Quelle in einigen Auszügen vorgestellt wird, die Besonderheiten städtischen Lebens genau in den Blick. Noch im späten 19. Jahrhundert sollten seine Beobachtungen im europäischen Kontext aufgegriffen werden. Robert Vaughan (1795-1868) kam aus bescheidenen Verhältnissen und gehörte so auch zu denjenigen, die auf städtische Aufstiegschancen angewiesen waren. Als Sohn armer walisischer Eltern verfügte der junge Vaughan über keinerlei Ausbildungsmöglichkeiten. Umso beachtlicher ist, dass es ihm gelang, nach einem theologischen Selbststudium eine Stelle als Pfarrer in einer dissidenten Gemeinde2 der Kleinstadt Worcester zu bekommen. Dank seiner imponierenden Redegabe zog er hier eine wachsende Zuhörerschaft an, was ihm alsbald zu einem neuen kirchlichen Amt in der Hauptstadt verhelfen sollte. Zumal Vaughan neben der geistlichen Seelsorgetätigkeit auch seriöse Geschichtsbücher schrieb, so etwa The Life and Times of John de Wycliffe (1828) und Memorials of the Stuart Dynasty (1831), wurde er 1834 zum Professor für Geschichte an der neuen Londoner Universität ernannt. In den folgenden Jahren lernte er viele führende Persönlichkeiten der Whigs kennen.3 Ihre Reformvorstellungen sollten sich auf vielfache Weise in seinen Schriften widerspiegeln. In demselben Jahr, in dem The Age of Great Cities erschien, wurde Vaughan Professor für Theologie und gleichzeitig Präsident des Lancashire Independent College in Manchester, dem urbanen Zentrum des industriellen Nordens. Während der vielen Jahre, in denen er in Manchester arbeitete, war er auch Redakteur des renommierten British Quarterly, einem führenden wissenschaftlichen Organ des protestantischen Nonkonformismus. In der Zeitschrift wie auch in seinen Büchern und Broschüren, aber auch in öffentlichen Debatten trat Vaughan stets als ein ausgesprochener Verteidiger fortschrittlicher Anschauungen auf. Diese Haltung bezog sich gleichermaßen auf die Belange kirchlichen wie weltlichen Lebens. Obwohl sie inmitten der so genannten „hard times“, der frühen Industrialisierungsperiode, geformt wurde, unterschied sich Vaughans Sichtweise von den Meinungen früherer und zeitgenössischer Sozialkritiker. Düstere Vorstellungen von einer vermeintlich unheilvollen Modernität, wie sie sowohl Konservative wie der Dichter Robert —————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 1.2, Robert Vaughan: The age of great cities (1843). D.h. eine freikirchliche Gemeinde, die nicht zur staatlich bevorzugten Church of England gehörte. Die Whigs waren moderate, in vielen Fällen aristokratische Liberale, deren politische Rivalen die konservativen Tories waren.
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Southey oder Frühsozialisten wie der Utopist Robert Owen vertraten, blieben Vaughan vollständig fremd. Ebenso wenig schloss er sich den Verfechtern einer gemäßigteren Sozialkritik an. Deren Bestandsaufnahmen, in denen sie stets einzelne spezifische Missstände anprangerten und etwa im Sinne der öffentlichen Gesundheitspflege eine bessere Versorgung mit sauberem Wasser forderten und eine funktionierende Kanalisation verlangten, wurden von Vaughan meist relativiert, wenn nicht gar vollständig ignoriert. Trotz der Tatsache, dass viele Stadtbewohner unter Armut, schlechten Wohnverhältnissen und langen Arbeitszeiten sowie nicht zuletzt den gefährlichen Arbeitsbedingungen in den Fabriken litten, war Vaughan immer darum bemüht, viele der sozialen und kulturellen Entwicklungen, die durch die Einführung der neuen industriellen Produktionsmethoden gefördert worden waren, in ein gutes Licht zu rücken. Vaughan brachte damit einen hoffnungsvollen Fortschrittsoptimismus zum Ausdruck, der auf einer wohlwollenden Deutung städtischer Phänomene der Vergangenheit wie auch auf einer positiven Beurteilung der zeitgenössischen Großstädte basierte. Ihm zufolge stand die moderne Stadt in einer langen und ehrenvollen Reihe von Vorläufern wie Athen oder Rom, die in ihrer Epoche für ihre jeweiligen Staaten und Länder nutzbringend gewesen seien. Für Vaughan spiegelte sich dabei nicht nur in der Schönheit der naturgeschaffenen Landschaften, sondern auch in der Ausbreitung der großen menschlichen Siedlungen die beständig aufscheinende Macht der göttlichen Vorsehung wider. Trotz seines geistlichen Berufs argumentierte Vaughan nur am Rande religiös. Für ihn war vielmehr der Gedanke zentral, dass Menschen als denkende und schöpferische Kreaturen ihr höchstes menschliches Potential, dessen Realisierung für ihn allerdings ihr von Gott gewolltes Geschick war, nur unter städtischen Bedingungen verwirklichen könnten. Immer wieder betonte Vaughan die geistigen Anregungen, die unabhängig von der Religion einen wohltuenden Einfluss auf die Städter ausübten. Verstandesschärfe war in diesem Sinne ein natürliches Ergebnis der sozialen Umwelt, mit der die Stadtbewohner in Berührung kamen. Die Vielfalt an Meinungen führte nach Vaughan dabei notwendigerweise zur Fähigkeit, schneller und präziser zu denken als in einfacheren und ruhigeren Gebieten. Vorurteile würden von anderen konkurrierenden Vorurteilen in Frage gestellt und aufgewogen. Dem allgemeinen Niveau des Volksverstandes schließlich komme eine solche gegenseitige Stimulierung in fortwährenden Diskussionen und Debatten zwangsläufig zugute. Dies alles stellte Vaughan zufolge ein Charakteristikum des städtischen Alltags dar. Die Stadt selbst ließ sich in diesem Sinne als eine „freie Schule“ verstehen, die ihren Einwohnern fast automatisch eine ausgezeichnete Erziehung vermittle. Darüber hinaus verwies Vaughan aber auch auf eine Vielzahl in der Stadt existierender Einrichtungen zur Förderung der Geisteskräfte, die eine umfassende Bildung des Einzelnen ermöglichen würden. Vaughan dachte in diesem Zusammenhang nicht nur an Volksschulen, die allerdings zu dieser Zeit in Großbritannien auch weitaus weniger entwickelt waren als auf dem Kontinent, sondern vor allem an Einrichtungen der Erwachsenenbildung. Hierzu waren etwa die weitverbreiteten „mechanics’ institutes“ zu zählen sowie Arbeiterbildungsvereine und die verschiedenen literarischen Gesellschaften, die sich überall in den britischen Städten etabliert hatten. Geistige Regsamkeit und erweiterte Kenntnisse waren für Vaughan dabei nicht nur an sich zu begrüßen, sondern auch förderlich im Sinne einer sittlichen Verbesserung.
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Gebildete Menschen, so war die Überlegung, handelten vernünftiger als Ungebildete, und da sie gelernt hätten, ihre Eigeninteressen deutlich zu erkennen, neigten sie als klar denkende Individuen um so mehr dazu, sowohl moralische Gebote als auch Gesetze einzuhalten. Hier zeigt sich in Vaughans Denken ein unmissverständliches Vertrauen auf die enge Verbindung zwischen Wissen und Tugend. Ein solches Vertrauen in das einzelne Individuum war typisch für den klassischen Liberalismus. Allerdings war dieser Liberalismus nicht allein von einem reinen Individualismus, sondern auch vom Glauben an die für die Gemeinschaft nutzbringenden Auswirkungen assoziativer Aktivitäten gekennzeichnet, wie sie nach Vaughans Meinung typisch für die Großstadt waren. Städte waren in Vaughans Augen bevorzugte Orte, wo das nahe Zusammenleben spontane Assoziationen fördere. Diese Tendenz manifestiere sich in vielfältigen Vereinigungen, deren Mitglieder bemüht seien, das Niveau ihrer gemeinsamen Lebenswelt sowohl kulturell als auch moralisch zu heben. Das städtische Assoziationswesen sei also imstande, vielfältige gesellschaftliche und sittliche Missstände, deren gelegentliche Anwesenheit nicht völlig ignoriert werden dürfe, weitgehend zu lindern, wenn nicht sogar total zu beseitigen. Vaughan glaubte also, durch freiwillige, gleichzeitig aber organisierte Wohlfahrtspflege könne Armut, Obdachlosigkeit und Krankheit wirkungsvoll bekämpft werden – ein Umstand, der letztlich auch zu einer allgemeinen sozialen Versittlichung beitragen werde. Vaughans Wertschätzung von Mäßigkeitsbestrebungen wird hier implizit deutlich, ebenso wie sein ungebrochener Glaube an die Zukunft und den Fortschritt. Doch damit nicht genug: An anderer Stelle seines Werkes betonte Vaughan weitere Vorteile des städtischen Lebens und die bedeutende Rolle der Städte als hochkulturelle Zentren. Nur in den Städten zeige sich der Fortschritt sowohl auf technischem als auch auf künstlerischem und literarischem Gebiet. Und dementsprechend gediehen auch die Naturwissenschaften und die Technik nur hier, wie schon die großartigen Bauten der antiken Welt bezeugten. Darüber hinaus sei ohne den Nährboden einer bürgerlichen Öffentlichkeit auch eine schriftstellerische Schaffenskraft undenkbar, deren Erfolge zu guter Letzt von urbanen Lesern abhängig seien. Die Stadt bedeutete nach Vaughan aber noch mehr als das, denn sie war auch ein Gemeinwesen, dessen Mitglieder bestrebt seien, ihre Teilnehmerrechte an der Steuerung öffentlicher Angelegenheiten aufrechtzuerhalten und zu verstärken. Infolgedessen stellten städtische Gemeindeverwaltungen und andere Körperschaften Einrichtungen dar, in denen sich ein demokratischer Geist entfalte, was für die Gesellschaft insgesamt von Nutzen sei. Obschon er es nicht vorrangig aus politischen Gründen verfasste, machte Vaughan also in seinem Buch vor politischen Fragen auch nicht halt. In diesen Passagen wird dabei sowohl sein politischer wie auch sein sozialer Liberalismus immer wieder deutlich. Innerhalb des Spektrums der unterschiedlichen Stellungnahmen zum Thema Großstadt stellte Vaughans Meinung weder zu seiner Zeit noch später eine Ausnahme dar. Trotz weit verbreiteter Kritik an den Defiziten der Großstadt äußerten sich bereits um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts zahlreiche Beobachter ebenfalls wie Vaughan positiv über das Städtewachstum, was sich durch eine Vielzahl von Zitaten aus der englischsprachigen Literatur der Zeit belegen ließe. Doch anstelle von weiteren Stimmen aus England sollen hier nun einige Gegenstücke zu Vaughans Auffassungen aus Deutschland einbezogen werden, um zu verdeutlichen, dass auch dort ein städtefreund-
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licher Optimismus in zeitgenössischen Überlegungen zur modernen Entwicklung auftrat, der nicht zu unterschätzen ist. Karl Theodor Welcker schrieb beispielsweise in einem Beitrag über „Städte“ (1843) im einflussreichen Staats-Lexikon, das er gemeinsam mit Karl Rotteck herausgab: „Das Leben in Städten erweckt, vereinigt und schützt die höheren Bestrebungen, Gewerbe, Handel und die Civilisation überhaupt. [...] Das städtische Leben bezeichnet und fördert daher eine höhere Culturstufe der Völker.“4 War Welcker also bereits fest davon überzeugt, dass die aufkommende Urbanisierung auch der staatlichen Entwicklung Deutschlands zugute kommen werde, so war diese liberale Betonung städtischer Vorteile auch mehr als ein halbes Jahrhundert später, also bereits Jahrzehnte nach der deutschen Reichsgründung, immer noch zu finden, insbesondere unter jenen Bildungsbürgern in deutschen Großstädten, die die aufkommende agrarromantische und reaktionäre Großstadtkritik entschlossen ablehnten. Vaughans und Welckers Auffassungen wurden dabei mehrfach aufgegriffen und wiederholt, etwa in Werken wie Johannes Tews’ Großstadtpädagogik (1911), in dem der Berliner Lehrer und Vorsitzende der Gesellschaft für die Verbreitung von Volksbildung sowohl die erzieherischen als auch die freiheitsfördernden Impulse städtischen Lebens mit offensichtlicher Begeisterung rühmte: „Die Großstadt gibt der tüchtigen Persönlichkeit die Freiheit, die dem Einzelnen heute theoretisch überall zugestanden, dem sozial ungünstig Gestellten durch die tatsächlichen Verhältnisse in Dorf und Kleinstadt aber vorenthalten wird.“5 Aber es kamen auch neue Themen hinzu, denn die europäischen Befürworter der Urbanisierung hoben in ihren zahlreichen Schriften um die Jahrhundertwende nicht allein die Freiheit der einzelnen Städter hervor, sondern betonten vor allem auch die nutzbringenden Ergebnisse städtischer Entwicklung auf kollektiver Ebene. Entsprechend befassten sich diese neuen Schriften ausführlich mit der geschichtlichen Entwicklung von Stadtverwaltungen und diskutierten dabei neue Reformvorhaben, deren Durchführung erneut eine noch bessere Zukunft der Städte versprach. In zahlreichen Schriften, ob über Birmingham und Glasgow oder über Essen, Frankfurt am Main und Dresden, wurden dabei konkurrierende Reformvorstellungen wiederholt in den Mittelpunkt gerückt. Auch die große Deutsche Städteausstellung in Dresden 1903 galt der Reform und würdigte insbesondere die bahnbrechende Rolle vieler deutscher Stadtverwaltungen bei der Verbesserung urbanen Lebens. Dies alles verweist auf das Emporkommen eines neuen Liberalismus, der in Deutschland freilich stark von bürokratischen Traditionen geprägt war. Insofern zeigen die späteren Beobachtungen neue Akzente im Vergleich mit Vaughans früherer Betonung von Individualismus und freiwilligen Assoziationen. Im zustimmenden Diskurs um die Großstadt, zu dem Vaughan einen wichtigen Beitrag geleistet hatte, gab es demnach vielfältige Kontinuitäten, aber auch einen deutlichen Wandel: Vaughans Optimismus für das Individuum sowie sein Glaube an die Kraft der Assoziation hatten um 1900 offenbar sichtlich an Attraktivität verloren.
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Welcker, Karl Theodor, Städte, in: Das Staats-Lexikon, Bd. 12 (1843), S. 105-106. Tews, Johannes, Großstadtpädagogik, Leipzig 1911, S. 15.
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Quelle Nr. 1.2 Robert Vaughan: The age of great cities (1843)6 Our age is preeminently the age of great cities. Babylon and Thebes, Carthage and Rome, were great cities, but the world has never been so covered with cities as at the present time. [...] [p. 1] Yes, cities, and their resources, must soon become, in a greater degree than ever, the acknowledged wealth and power of nations. [...] The feudal temper, which rested its dominion upon the sword, is giving place to the spirit of a civilization which aims at dominion by means of intelligence, industry, order, law, and liberty. [p. 90] [...] It was as much a part of the purpose of the Creator with regard to man, that he should build towns, as that he should till the land. If the history of cities, and of their influence on their respective territories, be deducted from the history of humanity, the narrative remaining would be [...] of no very attractive description. In such case, the kind of picture which human society must everywhere have presented, would be such as we see in the condition, from the earliest time, of the wandering hordes of Mongolians and Tartars, spread over the vast flats of central Asia. [...] [pp. 101-102] Man is constituted to realize his destiny from his association with man, more than from any contact with places. The great agency in calling forth his capabilities [...] is that of his fellows. The picturesque [...] may be with the country, but the intellectual, generally speaking, must be with the town. [...] Every living thing [...] has its appointed development; and in the discipline, expansion, and force of the human faculties, as realized in the civic associations of mankind, we see the development which has been manifestly assigned to human nature. In such relations, the aptitudes of the human mind are placed under due culture, and man is assisted in making his nearest approach toward the fullest use of his capabilities. [...] [pp. 102-106] Every intelligent person must have observed, that apart from any technical or direct means of instruction, there is much in the nearer, the more constant, and the more varied association, into which men are brought by means of great cities, which tends necessarily to impart greater knowledge, acuteness, and power to the mind, than would have been realized by the same persons if placed in the comparative isolation of a rural parish. [...] [p. 146] Cities [...] are the natural centers of association. Of course the advantages derived from association are there realized in an eminent degree. Men live there in the nearest neighborhood. Their faculties, in place of becoming dull from inaction, are constantly sharpened by collision. They have their prejudices, but all are likely to be assailed. Manufactures, commerce, politics, religion, all become subjects of discussion. [...] It may be the lot of very few to possess much vigor of thought, but each man stimulates his fellow, and the result is greater intelligence. The shop, the factory, or the marketplace; the local association, the newsroom, or the religious meeting, all facilitate this invigorating contact of mind with mind. The more ignorant come into constant intercourse with the more knowing. Stationariness of thought is hardly possible, and if its movements are not always wise, the errors of today are as lessons of experience for tomorrow. Such, indeed, is often the astuteness acquired in the exercise of this greatest of free schools, that the smith of Sheffield, or the weaver of Manchester, would frequently prove, on any common ground, more than a match for many a college graduate. [...] [p. 152] In towns there are [also] greater facilities than in the country for conducting education in its more direct and technical form. These facilities are greater in towns, partly on account of their greater wealth, and their greater freedom from prejudice; and partly in consequence of their more
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Vaughan, Robert, The age of great cities. Or modern Society viewed in its relation to intelligence, morals, and religion, London 1843, S. 1, 90, 101-106, 146, 152-153, 254-255, 296-298.
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general sympathy with popular improvement, and their comparative freedom from the [...] control of powerful individuals or classes. Towns are not like villages, subject, it may be, to the oversight and guidance of a single family, or of a single clergyman. They possess greater means and greater liberty, and, in general, a stronger disposition to use both in favor of education, even in behalf of the children of the poorest. [...] [p. 153] It is ascertained as the effect, even of the most elementary instruction, that in proportion as it reaches the people at large, it diminishes crime, creates a power of self-government, and demonstrates to the great majority brought under its influence, that the rogue’s arithmetic is based on false principle, that as such it must always lead to false results, and the most expedient course of action, even in the case of the selfish, is that, which, by conducing to character, conduces to power. Thus the man who is placed in possession of a new power to do wrong, is placed under the influence of new motives to do right. [...] [pp. 254-255] If large towns may be regarded as giving shelter and maturity to some of the worst forms of depravity, it must not be forgotten that to such towns, almost entirely, society is indebted for that higher tone of moral feeling by which vice is in so great measure discountenanced, and for those voluntary combinations of the virtuous in the cause of purity, humanity, and general improvement, which hold so conspicuous a place in our social history. It is not only true that from cities good laws, liberal arts, and letters have in the main their origin but no less true that spontaneous efforts in the cause of public morals, and in the aid of the necessitous, made in such manner as to embrace voluntary association, and large sacrifice of time, thought, and property, are found almost exclusively among citizens. The feudal noble, the village esquire, and the rural incumbent, may be moral and humane persons, and their influence may be highly favorable to the morality and comfort of the circle about them. But the permanent and costly institutions designed to act as means of abating the physical and moral evils of great cities, owe their origin, and nearly the whole of their support, to the people of the cities in which they make their appearance. Our conclusions on this subject, therefore, will not be just, except as we place in one view with the evils which are generated by the state of society in large towns, the good also which only that condition of society is found competent to call into existence. The immorality of large towns [...] may be very lamentable, but the influence opposed to it will be seen to be of vast amount. The provisions which are thus made against the ignorance, the vice, and the miseries of society are so manifold, that it would require large space to explain their nature, and be tedious even to enumerate them. The oversight of this spontaneous benevolence extends to the suppression or discountenance of vice in almost every form, to the restoration of multitudes who have become its victims, to the need of the sick, the sorrows of the bereft, the condition of the homeless and the perishing, and even to the protection of the animal creation against the cruelties often inflicted upon them by the hand of man. These are among the good fruits of great cities, and they are fruits found nowhere else in such abundance, or in such maturity. [pp. 296-298]
Literatur Briggs, Asa, Victorian cities, London 1963 Dyos, Harold James; Wolff, Michael, The Victorian city. Images and realities, 2 Bde., London 1973 Lees, Andrew, Cities perceived. Urban society in European and American thought, 1820-1940, Manchester 1985 Lees, Andrew, Cities, sin, and social reform in imperial Germany, Ann Arbor 2002 Zimmermann, Clemens; Reulecke, Jürgen (Hg.), Die Stadt als Moloch? Das Land als Kraftquell? Wahrnehmungen und Wirkungen der Großstädte um 1900, Basel 1999
ENGLISCHE HANDWERKER IM PARIS DES JAHRES 18671 Von Christophe Charle Im Jahre 1862 schickte die Regierung Napoleons III. eine Delegation französischer Arbeiter zur Londoner Weltausstellung. Die Arbeiter sollten neue Erkenntnisse gewinnen, wie sich das wirtschaftliche und soziale Leben in England, der führenden Industriemacht der Zeit, in den letzten Jahren verändert habe.2 Fünf Jahre später, als die Weltausstellung 1867 in Paris stattfand, fanden in umgekehrter Richtung ähnliche Reisen statt und so bewilligte das englische House of Lords eine Summe von 500 Pfund, was mit einer zusätzlichen Anleihe von 1039 Pfund, 19 Schilling und 6 Pence ein Gesamtbudget von 38000 Goldfranc ergab. Die beträchtliche Summe sollte es 80 englischen Arbeitern ermöglichen, für drei Wochen nach Paris zu reisen. Eine Delegation aus Birmingham, die durch einen am Fortschritt der Industrie interessierten Gentleman geleitet wurde, schloss sich der Unternehmung an. Darüber hinaus unterstützten die Handelskammern von Bradford und Nottingham ebenso wie die Magistrate von Sheffield und Coventry die Initiative. Nach England zurückgekehrt, erstatteten die Reisenden ausführlich Bericht. In der nachfolgend abgedruckten Quelle sind zwei Ausschnitte aus diesen Berichten wiedergegeben: der erste verfasst von dem Londoner Kunsttischler Charles Alfred Hooper, der zweite von William Bramhall, einem Werkzeugmacher aus Sheffield. Die Berichte sind eine außergewöhnliche Quelle: Sie vermitteln ein fast naives Bild vom Paris der Arbeiter und tun dies unabhängig vom bürgerlichen Blick auf die Arbeiterklassen. Sie sind überdies auch nur wenig von den politisch stark vorstrukturierten Positionen militanter Gewerkschaftsanhänger geprägt. Durch publizierte Texte waren uns bisher nur diese beiden Sichtweisen überliefert. Unsere vorliegenden Textausschnitte geben demgegenüber ein eher schwankendes Bild: Einerseits zeigen sie die Verwunderung der Arbeiter, die ihr Land zum ersten Mal verlassen und in eine kurz zuvor durch Napoleon III. und seinen Präfekten Haussmann erneuerte Hauptstadt eintauchen. Andererseits sehen die englischen Arbeiter mit Erstaunen das Leben der einfachen kleinen Leute auf den Pariser Straßen – ein Leben, das dem ihren zwar hinsichtlich der verrichteten Arbeit überaus ähnlich ist, gleichzeitig sich aber doch sehr durch seine Sitten und Gebräuche sowie nicht zuletzt durch seine andere Lebensart unterscheidet. Zumal sie mit ihrem französischen Gegenüber nicht direkt sprechen konnten, waren die englischen Arbeiter gleichsam ein wenig in der Situation von verlorenen Ethnologen in einem unbekannten Land, die auch dessen Sprache nicht verstehen.3 —————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 1.3, Reports of English artisans from the Paris Universal Exhibition (1867). Übersetzt aus dem Französischen von Franziska Kuschel und Florian Kemmelmeier. Vgl. Rapport des délégués des ouvriers parisiens à l’Exposition de Londres en 1862, Paris 1864. Die vielen englischen Reisenden aus dem Bürgertum, deren Berichte wir gut kennen, verfügten hingegen oft zumindest über ein Minimum an Französischkenntnissen, vgl. dazu Leribault, Christophe, Les anglais à Paris au 19e siècle, Paris 1994.
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Zweifellos existiert keine französische Sichtweise auf England und umgekehrt keine englische auf Frankreich ohne den Rückgriff auf jene Stereotypen und Vorurteile, die in beiden Ländern jeweils seit Jahrhunderten über den Nachbarn entwickelt wurden. Auch unsere Zeitzeugen entgehen dem nicht. Dies zeigen etwa die Bemerkungen über die angebliche „Fröhlichkeit“ oder „Sorglosigkeit“ eines als „gesellig“ geltenden Volkes, das vor allem auf Straßen und öffentlichen Plätzen lebt. Spuren eher negativer Vorurteile werden vor allem beim zweiten Berichterstatter William Bramhall sichtbar. Stolz, ein „true born Englishman“ zu sein, schaut er durchaus herablassend auf dieses „Volk von Aufständischen“ herunter, das sich dennoch einem Staat unterwerfe, in dem, im Unterschied zu England, keine Meinungsfreiheit herrsche. Trotz dieser vergleichsweise abgestandenen Allgemeinplätze weisen die Widersprüche zwischen den beiden Berichten auf das Bild hin, das sich die Arbeiter, nicht zuletzt durch den Vergleich, von ihrer eigenen, der englischen Gesellschaft machen. Der erste Text von Charles Alfred Hooper ergeht sich bezeichnenderweise in Bemerkungen zur Sauberkeit: „clean, white, neat“ sind von ihm wiederholt benutzte Adjektive. Dieses neue Bild vom Glanz und strahlendem Weiß der Häuser, von Eleganz und Anstand der wohl gekleideten Einwohner sind zumindestens erstaunlich, vor allem vor dem Hintergrund älterer, insbesondere englischer Reiseberichte aus der Zeit vor 1850, die ebenfalls Schilderungen von Paris enthielten. Damals dominierten noch Dreck, Verschmutzung, schlechte Luft und unübersehbar arme, oft zerlumpte Bevölkerung die Beschreibungen der Stadt.4 Nun aber hatte sich dieses Bild gewandelt: Vorrangig handelte es sich dabei um die sichtbaren Folgen der Haussmannschen Stadtsanierung, die besonders die zentral gelegenen Viertel von ihren Elendsbehausungen sowie ihrer dort ansässigen armen Bevölkerung befreit hatte. Hooper weist überdies auch auf die neuen Boulevards hin, welche die Arbeiterdelegation bei ihrer Ankunft am Gare du Nord zu Gesicht bekam und hebt hier besonders die „Grands Boulevards“ hervor, die dem zeitgenössischen Sprachgebrauch folgend nur kurz „The Boulevard“ genannt werden. Auf diesen Boulevards konzentrierten sich Vergnügungen verschiedener Art, Cafés und große Restaurants – eine Mischung, die sie zur Attraktion für alle zur Ausstellung angereisten Ausländer werden lassen sollte. Aber der glänzende Eindruck bezieht sich ebenso auf den äußeren Anblick der Pariser Handwerker und Arbeiter, also nicht etwa nur auf das bürgerliche Paris der ausländischen Touristen. Ein Textausschnitt beschäftigt sich so auch mit der Rue Saint Antoine, einer Straße im wenig bürgerlichen Osten von Paris, die kaum von der großen Stadterneuerung betroffen war. Hier wecken zwei Gruppen das Erstaunen unseres Zeugen Charles Alfred Hooper: Zunächst die Straßenhändler, die, trotz ihrer bescheidenen Kleidung, („their clothes though poor and patched are not in rags“) sich sehr um Anstand und Sauberkeit besorgt zeigen. Ohne die Exaktheit des Berichts überschätzen zu wollen, lässt sich dieser vorteilhafte Eindruck allerdings wahrscheinlich durch die Verbindung günstiger Umstände erklären: Zum einen durch die schöne Jahreszeit, zum anderen durch den Andrang von Einheimischen und Fremden während der Weltausstellung, wo—————— 4
Vgl. Chevalier, Louis, Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris pendant la première moitié du XIXème siècle, 2. Aufl., Paris 1969.
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durch der Umsatz an frischen Produkten sicher auf dem Höhepunkt war. Dies kam wiederum dem Kleinhandel der untersten Volksschichten zu Gute. Aber Hooper bemerkt noch mehr: Die andere Gruppe, die ihn durch ihr Auftreten beeindruckt, ist die der Soldaten: „How smart they look, how important“. Hier wird letztlich implizit ein klassisches Merkmal der englischen Gesellschaft deutlich, in der das Militär, im Unterschied zu Frankreich, durch eine gesellschaftliche Randstellung gekennzeichnet war. Englische Soldaten wurden schlecht behandelt und von den Höherrangigen oft verachtet. Gleichzeitig spiegelt sich in der Bewunderung des soldatischen Auftritts in Frankreich auch die Realität des Zweiten Kaiserreichs wider. Von Großmachtsträumen eingenommen und gestützt auf den französischen Chauvinismus, der zum Drama von 1870 führen sollte, scheute der Kaiser der Franzosen keine Mühe, seiner Armee ein vornehmes Aussehen zu geben. Und so wurden die französischen Uniformen zu dieser Zeit als die schönsten Europas angesehen und sogar von den amerikanischen Truppen kopiert, die sich im Sezessionskrieg gegenüberstanden. Unser Zeuge geht in seinem Bericht jedoch noch weiter und wagt eine Analyse der sozialen Verhältnisse, die von üblichen bekannten Überlegungen merklich abweicht. Der spannungsfreiere Eindruck, den die sozialen Beziehungen und das städtische Leben in Paris insgesamt machen, ist demnach nicht nur auf den anderen „Nationalcharakter“ sondern auch auf unterschiedliche Arbeitsverhältnisse zurückzuführen: In Frankreich waren sowohl Heimarbeiter („workmen who occupy floors and do their work at home“) als auch die Arbeiter in den in der Regel kleinen Werkstätten weniger dem hierarchischen Druck der Vorarbeiter und Arbeitgeber unterworfen. Ihre Tage waren zwar insgesamt länger, der Arbeitsrhythmus aber weniger straff, was zu einer entspannteren Atmosphäre zwischen Arbeitern und ihren Vorgesetzten beitragen sollte. Vorarbeiter waren generell entgegenkommender und tolerierten ein gewisses „laissez aller“, da sie sich daran erinnerten, dass sie selbst einmal an der Stelle der Arbeiter gestanden hatten und sich auch äußerlich nicht von diesen unterschieden („the foreman appeared in the same garb as the men“). Im Gegensatz dazu identifizierten sich englische Vorarbeiter unserem Zeugen zufolge bereits mit ihren Chefs, was auch an der Kleidung zu sehen war („who wear fine cloth, and decorate their persons with jewellery“). Zahlreiche andere Berichterstatter bestätigten diese außergewöhnlichen Beziehungen im Milieu der kleinen Handwerker. Paris sollte eine Stadt der Kleinbetriebe bleiben, in denen die Vorgesetzten meist ehemalige Vorarbeiter oder ehemalige Facharbeiter waren. Der starke Wechsel in der Belegschaft, vor allem, wie hier, zu Zeiten guter Geschäfte, zwang die Meister und Gesellen, auf die Empfindlichkeiten der qualifizierten Arbeiter Rücksicht zu nehmen. Im Falle von Spannungen wären diese andernfalls nur allzu schnell bereit gewesen, die Werkstätten zu verlassen, was wiederum die dringende Bearbeitung von Bestellungen verhindert hätte. In London hingegen, wo die Konzentration weiter vorangeschritten und das Handwerk im Rückzug begriffen war, waren die Verhältnisse in den Betrieben durch einen größeren Druck auf die Arbeiterschaft geprägt. Gleichzeitig machte sich in England die durch den Ausbau neuer Transport- und Handelsnetze gesteigerte Konkurrenz der großen Industriestädte bemerkbar – ein Umstand, den der Verfasser des Berichts, der selbst aus der britischen Hauptstadt stammte, aus eigener Erfahrung nur allzu gut kannte. Was die Lebensbedingungen anbetrifft, sind sich die Berichterstatter völlig uneins, und so findet man in den Berichten dieselben widersprüchlichen Schilderungen über das
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Schicksal der Pariser Arbeiterschaft wie in der Historiografie. Für Charles Alfred Hooper ist das Leben eines Arbeiters in Paris leichter als in London, weil die Stadt kleiner und die Übervölkerung aufgrund der kleineren Familien weniger groß ist. Für den zweiten Berichterstatter William Bramhall aus Sheffield, der Paris eher mit seiner mittleren Industriestadt vergleicht, ist das dortige Arbeiterleben dagegen in einem heruntergekommenen Zustand. Er nimmt hier ein klassisches Thema zeitgenössischer französischer Streitschriften wieder auf, wonach die Haussmannsche Stadtsanierung die Mieten in die Höhe getrieben, einen Teil des preiswerten Wohnraums vernichtet und die Arbeiter zum Teil gezwungen habe, sich weit vom Zentrum entfernt niederzulassen; und zwar nicht nur in den äußeren Stadtbezirken, die erst kurz zuvor, im Jahr 1860, angegliedert worden waren, sondern sogar „beyond the fortifications“, das heißt dort, wo das, was man anfing „Vorort“ (banlieue) zu nennen, beginnen sollte.5 Bramhalls Beschreibung, der zufolge Arbeiter „six miles“, also fast zehn Kilometer, zurücklegen mussten, um von ihrer Wohnung zu ihrer Arbeit zu gelangen, scheint jedoch ein wenig übertrieben. Historische Studien zeigen, dass die Arbeiter nach wie vor ein großes Interesse daran hatten, in der Nähe ihrer Werkstätten und Fabriken zu wohnen, und zwar aus Zeitgründen, denn wenn man bei der erwähnten Entfernung zwei Stunden Fußweg einrechnet, kommt man bereits auf einen Arbeitstag von 14 Stunden. Einige Historiker haben ferner in Hinblick auf die nur teilweise nach industriellen Maßstäben ablaufende Arbeit in den Werkstätten gezeigt, dass es den dort beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeitern vielfach gelang, Unterkünfte in den Hinterhäusern der neu renovierten Verkehrsachsen zu finden, wodurch sie die vorteilhafte Nähe zu ihren Auftraggebern beibehalten konnten. Die Analyse unseres Werkzeugfabrikanten aus Sheffield betrifft allerdings wahrscheinlich eher den metallverarbeitenden Bereich, den er im Übrigen auch gut kannte. Der beginnende Einsatz von Maschinen, die Nutzung von Dampf als Energiequelle sowie das Anwachsen großer Fabriken führten in diesem Bereich dazu, dass sich viele Betriebe vom alten Pariser Stadtkern entfernten und häufig in den Vororten ansiedelten. Dort konnten sie Freiflächen nutzen und gleichzeitig auch dem Stadtzoll entgehen, der kurz zuvor auf die neuen Stadtgrenzen ausgeweitet worden war.6 Stellt man beide Schilderungen einander gegenüber, findet man sowohl in den Werturteilen als auch in den konkreten Details zwei grundlegend unterschiedliche Interpretationsmuster. Der zweite Berichterstatter, Bramhall, sieht in Frankreich eine dekadente Nation, deren Blüte sich dem Ende zuneigt und die einer Regierung unterworfen ist, die nun als Erbe des napoleonischen Größenwahns für ihre Träume von Ruhm Steuergelder („heavily taxed things“) verschwenden muss und die ihre besten Bürger dem Militärdienst opfert. Diese Analyse drückt ohne Zweifel nicht nur eine liberale englische „Gallophobie“ aus, sondern nimmt zugleich jene Kritiken auf, die zur gleichen Zeit —————— 5 6
Levasseur, Emile, Histoire des classes ouvrières et de l’industrie en France de 1789 à 1870, Bd. 2, 2., vollständig überarbeitete Aufl., Paris 1874, S. 724. Gaillard, Jeanne, Paris la ville (1852-1870), Paris 1976, neu hg. v. Florence Bourillon und Jean-Luc Pinol, Paris 1997; Jacquemet, Gérard, Belleville au XIXème siècle: du faubourg à la ville, Paris 1984; Bourillon, Florence, Étude de la sociabilité dans un milieu pré et post-haussmannien, le quartier des Arts et Métiers à Paris entre 1850 et 1880, Diss. Paris 1986; Bourillon, Florence, La rénovation du quartier Saint-Victor sous le Second Empire, in: Recherches contemporaines 2 (1994), S. 79112.
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auch französische Liberale und einige Republikaner äußerten. Für sie lastete in England der Staat wesentlich weniger auf der Gesellschaft als in Frankreich, auch wenn das Second Empire bereits zögerlich erste Reformen angestoßen hatte, die schließlich 1870 zur Einführung eines parlamentarischen Systems führen sollten. Die Interpretation des Londoner Handwerkers Hooper, der dem Kunstgewerbe angehört, ist im Gegenzug durch sein ästhetisches Empfinden beeinflusst. Paris erscheint ihm als eine schöne Stadt und die in diesem ästhetischen Umfeld erzogenen Einwohner voller Lebensfreude. Dies steht in einem starken Gegensatz zu der immer verraucht erscheinenden und in Nebel gehüllten englischen Metropole, in der der Kampf ums Überleben sowie die feststehenden sozialen Hierarchien auch das gesellschaftliche Gefüge unter permanenter Spannung hielten. Selbst die französische Kaiserin, der Hooper – laut Bericht – einmal zufällig begegnet, scheint ihm zugänglich und doch respektiert zugleich zu sein, ohne dass Staatsmacht oder Ordnungskräfte intervenieren müssten. Die städtische Ordnung und das zivilisierte Verhalten der Einwohner bezaubern ihn wie ein Märchenland. Der Historiker kann mit gutem Recht über dieses kindliche Bild eines Regimes und seiner Bevölkerung lächeln, von der er weiß, dass sie einige Jahre später in Krieg, Unterdrückung, Revolte, Bürgerkrieg und Gewalt versinken wird. Aber muss er deshalb der pessimistischen Analyse des Werkzeugfabrikanten aus Sheffield folgen? Dieser nimmt die sozialen und politischen Spannungen sehr wohl wahr, die vorübergehend durch das festlich gestimmte Pariser Straßenleben während der Ausstellung verschleiert werden. Im Gegenzug übersieht er dafür den Aufstieg der Opposition, die neue Freiheiten erzwingt. Hierzu gehört das im folgenden Jahr verabschiedete Pressegesetz ebenso wie die – bereits angesprochene – langfristige Hinwendung zu einem parlamentarischen System. Über den Bericht hinaus machen uns die beiden gegensätzlichen, ja sogar teils widersprüchlichen Analysen der beiden Arbeiter, die hier gleichsam als vergleichende Amateurhistoriker agieren, auf die Fallen aufmerksam, die sich bei der historischen Arbeit zu Europa immer wieder aufs Neue auftun.7 Die Frage bleibt, wie es möglich ist, sich von den vielfältigen Vorurteilsschichten zu befreien und die automatischen Antithesen zwischen Nachbarn hinter sich zu lassen, die nach wie vor unser nationales Unbewusstes prägen. Quelle Nr. 1.3 Reports of English artisans form the Paris Universal Exhibition (1867)8 Charles Alfred Hooper, cabinet maker London As I pass through the wide streets, I am delighted with everything I see. The houses so lofty and clean, and white, the novel appearance of the trees planted along the pavements, the fine buildings, the massive bronze lamps, and the magnificent cafés, the tinkling of bells on the horses, so singular to my ear. […]
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Für einen konzisen Blick auf diese Fallstricke vgl. Kaelble, Hartmut, Der historische Vergleich. Eine Einführung zum 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1999. Auszüge aus: Reports of artisans selected by a committtee appointed by the Council of the Society of Arts to visit the Paris Universal Exhibition, London 1867.
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Our first evening in Paris we could scarcely believe our senses. It is dark. The Boulevard is crowded. The splendid shops, the grands cafés, the magnificent buildings, the brilliant illuminations, the long lines of trees and lamps, the people sitting in the open air, at neat little marble tables, taking their wine, smoking cigars, or sipping their coffee, under the trees, the handsome French waiters, with their clean napkins and their polite attentions, the orderly conduct of the French people, the soldiers in their gay costumes, the women in their neat dresses and pretty white caps. To us it is fairyland. We remark that there cannot be anything like [this] in the world.(…) I can’t say I slept well, for the excitement of the previous day made me very wakeful, it being my first night in a strange city, hundreds of miles away from home. […] We heard a little commotion to our right; it was the Empress of France. I was agreeably surprised to find myself close to Her Majesty, but how much more was I in noticing the admirable conduct of the visitors in the building – no pushing, no crowding, no policeman to drive us back, no shouting to clear the ways – although there were plenty of officials in all parts of the building – everyone quietly stood and formed a passage. As Her Majesty passed we raised our hats; she smiled and bowed, and conversed with two gentlemen and three ladies who accompanied her, and occasionally stopped to notice or admire some beautiful work of art. I must here notice that Her Majesty was dressed plain and neat, in black silk and lace. Had we not heard it whispered by our side that it was the Empress, we should not have known her from any other private lady. Thus on my first visit to the Exposition did I remark with surprise the contrast between the polite conduct and good sense of the French, and what I experienced among my own countrymen in London. […] [pp. 1-3] Rue St Antoine: It is a busy street. I note the passers-by; two women with barrows are below, crying fruit, grapes, etc., their heads bound in handkerchiefs, but they are clean, and wear strong shoes, and their clothes, though poor and patched are not in rags. How strange everything looks to me – porters with their loads in frames on their backs, so constructed as to carry with ease; a woman carrying six feet of bread on her arm; soldiers on horseback or on foot; how smart they look, and how important, with their hands in baggy trousers and showy coats; they walk so easy, as though they felt in an honour and not a disgrace to be a military man; priests also, in twos and fours, walking, chatting, laughing in their peculiar costume, oftentimes carrying their large, curiously-shaped hats in their hands, because of the heat; nuns carrying bags and baskets; and women, neatly dressed, wearing every variety of the clean, white, starched caps. In this street live a number of workmen who occupy floors and do their work at home. […] They evidently take life easier, appear more gay in manner, and are livelier in their work; there seemed to be more freedom, more equality in manners between men and foremen and their employers. I noticed this difference between the men in the workshops of Paris and London. Here we have foremen and overlookers who wear fine cloth, and decorate their persons with jewellery, and to whom we are expected to look up as to some one very superior to ourselves, because they carry a pen behind their ear, although they oftentimes know no more of the practical part of work than the cloth they wear. In Paris the foreman appeared in the same garb as the men – the blue blouse common to both; each one treated the other with proper respect, as became the office fulfilled; you were not disgusted with either the pride of the one or the degrading servility of the other; each man knew his place and kept it. Oh! I many times while in Paris blushed for my countrymen! The boys serve three or four years in the trade and have better advantages for getting an art education than we have. […] the art galleries and museums are all open free to them, Sundays and week days, so that they imbibe a taste for art and refined behaviour, before they can read or write. […] [p.7] [In London] how much more were they separated from the educated and refined. We both agreed that the great fault must be in the training of the people. In our country, unhappily, there is a bigoted set of unenligthened enthusiasts predominant, who exclaim against all kind of innocent
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amusement. They do not aim at, or endeavour to get rid of, vicious pursuits alone, but they cry out against and condemn all what they call wordly vanities. They do not see that man must have some change to cheer and ligthen his toils. Hence harmless recreation is not encouraged, and men fly from the workshop to something exciting, madening, low, and therefore vicious, and which finds greater encouragement from a certain class on account of the money made through it by those who are chiefly interested in its existence. […] I found that, taking the average of wage, rent, and living, it was much the same as in London; but then they were not so crowded, their families not so large, and the population not so great in Paris as in London. […] [p. 15]
William Bramhall, saw maker Sheffield, saws and tools The general domestic condition of the French ouvrier is greatly inferior to that of the British workman. […] France is degenerating in her procreative faculty; the flower of the land are sacrificed to military glory. All suffer conscription and the authorities reject the feeble and ailing, and retain the strong and florid to perish by the multiplicity of avenues that beset a soldier’s carrier. […] Many ouvriers live beyond the fortifications, in order to live more cheaply; and there are numerous instances where they walk six miles to their work and back each day; and at early mornings all roads running citywards are seen with men, women and girls, like trickling streams at first, increase to the dimensions of tidal rivers until they debouch on the ocean of Paris, and then it is slack water, the tides mingle, currents running everywhere. […] In England the government is the servant of the people; in France it is their master. England has universal suffrage in a free press. France has universal suffering by the contrary. Of all the heavily-taxed things in France there is nothing equal to the taxes and embarrassments on thought and diffusion of knowledge. In England a man may say what, where, when he pleases, for or against the government, in the journal or in public meeting assembled, none daring to make him afraid. In France a poet, patriot, and scholar must consume his soul but meditating on ideas which, if uttered, would shed a lustre on his name, and bless the present and succeeding generations; but he must not breathe them to hopeful listeners at a trades meeting, oddfellow’s society, or club feast, nor sing the patriotic song which every child knows «La Marseillaise» without the presence of a government agent, who must report to his superior the result of each assembly. [pp. 46-49]
Literatur Chevalier, Louis, Classes laborieuses et classes dangereuses à Paris dans la première moitié du XIXème siècle, Paris 1958 (mehrere Neuauflagen) Gaillard, Jeanne, Paris la ville (1852-1870), Paris 1976, neu hg. v. Florence Bourillon und JeanLuc Pinol, Paris 1997 Leribault, Christophe, Les Anglais à Paris au 19e siècle, Paris 1994 Levasseur, Emile, Histoire des classes ouvrières et de l’industrie en France de 1789 à 1870, Bd. 2, 2. vollst. überarb. Aufl., Paris 1874 Robert, Jean-Louis; Tartakowsky, Danielle (Hg.), Paris le peuple. XVIIIe -XXe siècle, Paris 1999 Rougerie, Jacques, Paris libre. 1871, Paris 1971 (Neuauflage 2004) Schroeder-Gudehus, Brigitte; Rasmussen, Anne, Les fastes du progrès. Le guide des Expositions universelles 1851-1992, Paris 1992
MODERNISIERUNG IM MULTINATIONALEN FAMILIENUNTERNEHMEN1 Von Jürgen Kocka 1872 teilte der Berliner Unternehmer Werner Siemens seinem jüngeren Bruder Carl in Petersburg mit, die Firma Siemens müsse wegen der Vielseitigkeit und Kompliziertheit der Geschäfte, des Mangels an geeigneten Arbeitern und des Kosten- und Termindrucks von Seiten der Abnehmer die Produkte standardisieren und mit Hilfe amerikanischer Arbeitsmethoden schneller und massenhaft produzieren. Die von Werner Siemens und Johann Georg Halske 1847 gegründete Telegraphenbauanstalt in Berlin beschäftigte damals 580 Arbeiter und Angestellte. Sie verdiente am Bau und an der Unterhaltung transkontinentaler Telegrafenlinien. Sie produzierte vor allem Telegrafen, EisenbahnBlockapparate und Messgeräte. Die Entwicklung des Starkstromgeschäfts hatte noch kaum begonnen, auch wenn Siemens schon 1866 das dynamo-elektrische Prinzip entdeckt hatte. Hauptkunden waren zivile und militärische Behörden. Krieg und Konjunktur ließen von 1867 bis 1873 den Umsatz der Berliner Firma um 244 Prozent und ihre Belegschaft um 227 Prozent wachsen. In diesen Boom-Jahren nahmen die Klassenspannungen zu, die junge Arbeiterbewegung meldete sich zu Wort. In Berlin kam es 1871 und 1872 zu zahlreichen Streiks, auch in der Metall verarbeitenden Industrie. Die Meister der Telegraphenbauanstalt schickten eine Petition an Siemens, in der sie um Gehaltsverbesserung ansuchten. Siemens sprach von einem „kleinen Meisterstrike“ und verweigerte die Annahme, „da ich keine Kollektivbriefe annähme und jedem freistehe, dahin zu gehen, wo er besser honoriert würde [...] Eine wesentliche Aufbesserung aller festen Löhne und niederen Beamtengehälter ist allerdings unvermeidlich.“ Siemens reagierte im Übrigen auf die rasant ansteigende Nachfrage und die wachsenden Spannungen mit der Belegschaft durch Maschinisierung und Standardisierung. Erst jetzt entwickelte sich die Telegraphenbauanstalt aus einer Manufaktur in eine Fabrik. Auf Anregung des ihm bekannten Berliner Fabrikanten Ludwig Loewe, der nach amerikanischem Vorbild seit 1869 Nähmaschinen und seit 1870 Waffen serienmäßig herstellte, und auf Vermittlung eines amerikanischen Ingenieurs kaufte Siemens 1871 und 1872 zwei schwere und sechs leichte Fräsmaschinen, vier mehrspindlige Bohrmaschinen und mehrere Hobelmaschinen in den USA. Die Maschinen standen zunächst alle in einem Raum des Neubaus in der Markgrafenstraße 92, im „amerikanischen Saal“. Ein Arbeiter wurde zum Studium der maschinellen Produktion auf einige Monate zu Loewe geschickte und übernahm dann die neue Abteilung als Meister. Ein Arbeiter konnte zwei bis drei Maschinen bedienen. Das Akkordsystem setzte sich durch. Erstmals kam es zur Einstellung von Frauen, zunächst als Lackiererinnen. Diese Modernisierung stieß nicht durchweg auf Zustimmung. Rückblickend kommentierte ein damals bei Siemens beschäftigter Meister: „Da man für die Maschinen —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 1.4, Werner Siemens über die Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode (1872).
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meist gewöhnliche Arbeiter – wenn möglich natürlich von den alten – anlernen mußte und diese dann durchweg im Akkord beschäftigt wurden, so bildete der so genannte amerikanische Saal bald einen starken sozialistischen Angriffspunkt. Die starke Arbeitsbeschleunigung paßte den Leuten eben nicht. Es hat lange gedauert, ehe sich die alten Handwerker der Werkstatt damit abfanden.“ Selten lässt sich der wechselseitige Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum, Modernisierung der Produktion und Spannungen am Arbeitsplatz so konkret nachvollziehen, wie an diesem Fall. Der als Quelle abgedruckte Briefauszug2 zeigt noch etwas anderes: Seit 1853 hatte die Berliner Firma Siemens & Halske eine Geschäftsstelle mit Werkstatt in St. Petersburg unter der Leitung von Carl Siemens. Und seit 1850 bestand eine Agentur, seit 1858 eine selbständige Zweigniederlassung in London unter Leitung von Wilhelm (später William) Siemens. Der Erfolg der Firma erklärt sich zum Teil aus ihrer frühen multinationalen Struktur. Diese erlaubte es, lokale Krisen durch Schwerpunktverlagerungen zu überstehen und den internationalen Markt zu bedienen, auf dem das Kabelgeschäft vorwiegend stattfand. 1872 beschäftigten die Siemens-Unternehmen insgesamt fast 1.600 Arbeiter und Angestellte, davon beinahe zwei Drittel im Ausland. Die Standorte Berlin, St. Petersburg und London waren in den meisten Hinsichten sehr selbständig. Im Kern hielt sie die verwandtschaftliche Loyalität der drei Brüder Siemens zusammen, die die drei Zweige leiteten. Die Koordination geschah durch ihre rege, wechselseitige, jahrzehntelange Korrespondenz, zu der der im Auszug abgedruckte Brief gehört. Er dokumentiert also auch den engen Zusammenhang zwischen Familie und Geschäft, zwischen Familienkohäsion und Management, der sich in der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts häufig findet und ein anregendes Forschungsthema bleibt. Quelle Nr. 1.4 Werner Siemens über die Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode (1872)3 [...] Das Geschäft ist bei seiner Vielseitigkeit und Kompliziertheit zu groß geworden und die Arbeiternot wird geradezu unerträglich. Wir haben jetzt leere Säle in Menge, können aber keine Arbeiter zu ihrer Besetzung bekommen. Da halte mal einer Termine! Wir sind daher namentlich seit einem Jahre eifrig bestrebt, wie die Amerikaner alles mit Spezialmaschinen zu machen, um auch mit schlechten Arbeitern gute Sachen machen zu können. Das hat sich auch schon brillant bewährt. So z. B. haben wir die 1200 Torpedo-Indikatoren, welche England uns bestellte, in fabelhaft kurzer Zeit, ganz zum Termine, und für die Hälfte ca. des Arbeitslohnes gemacht, welchen wir London als Selbstkosten aufgaben! Diese Arbeit war uns sehr nützlich als Probe der Leistungsfähigkeit unserer Einrichtungen, hat uns aber leider in anderen Dingen zurückgehalten. Jetzt sind alle davon überzeugt, daß in der Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode unser künftiges Heil liegt und daß wir in diesem Sinne unsere ganze Geschäftsleitung ändern müssen. Nur Massenfabrikation darf künftig unsere Aufgabe sein, darin können wir künftig jedes Bedürfnis befriedigen und jede Konkurrenz überwinden. Um sie zu bekommen, müssen wir allerdings unseren Kunden einen gewissen
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Vgl. Quelle Nr. 1.4. „...überzeugt, daß in der Anwendung der amerikanischen Arbeitsmethode unser künftiges Heil liegt“. Werner Siemens an seinen Bruder Carl in St. Petersburg, 13. März 1872, aus: Matschoß, Conrad (Hg.), Werner Siemens. Ein kurzgefaßtes Lebensbild nebst einer Auswahl seiner Briefe, Berlin 1916, Bd. 2, S. 354-55.
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Jürgen Kocka
Zwang auferlegen und ihnen unsere Konstruktionen vorschreiben. Wir können dies dadurch tun, daß wir unsere „fabrizierten“ Konstruktionen sehr billig, gut und schnell liefern, andere aber teuer und langsam oder gar nicht. [...] Darin müssen uns London und Petersburg energisch unterstützen. Andernfalls können sie künftig auf prompte Unterstützung durch uns nicht rechnen. Der Fehler ist nur, dass die Herren Ingenieure und Werkstattsvorstände nicht lassen können, selbst zu konstruieren und zu erfinden – gerade so wie die Telegrapheningenieure! Das geht eben nicht. Was man mit Maschinen machen will, muß für die Maschinen konstruiert sein, die Spezialkonstruktion muß uns daher stets überlassen bleiben. Es ist übrigens eine große Seltenheit, daß man einen Kunden bei Neuanlagen nicht zu der neuesten und billigsten Konstruktion überreden kann, wenn man selbst nur will! Pauke das den dortigen Leuten nur gehörig ein. Dann sorge doch auch dafür, dass die Preise für unsere „Fabrikationskonstruktionen“ nicht zu hoch gehalten werden. Es dringt jetzt die Konkurrenz von allen Seiten in Russland ein und wir kommen in die unangenehmsten Nöte, wenn die Leute hier nach Preisen fragen! Das muß künftig auch aufhören. Wenn Russland die Apparate zu unseren Selbstkosten bekommt, so muß ein Aufschlag, der den wirklichen Transport- und Generalkosten entspricht, ausreichen. Nur so können wir oben bleiben. Wir haben jetzt die Preise für unsere Fabrikationskonstruktionen so niedrig gestellt, daß uns niemand nachkommen kann. Trotzdem ist unser Abschluß brillant, weil die Massenfabrikation ungeahnte Hilfsquellen bietet. Das ist unser Weg. Willkürliche Abänderungen unserer festen Konstruktionen müssen ebenso lächerlich werden, wie wenn einer eine abgeänderte Nähmaschine bestellen wollte. Will er sie haben, so muß er sich eine Fabrik dafür anlegen oder zehnmal so teuer durch Handarbeit sie machen lassen [...].
Literatur Kocka, Jürgen, Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 18471914, Stuttgart 1969, insbes. S. 117-127
HERR DES PUBLIKUMS, DIENER DER KUNST1 Von Jürgen Osterhammel Kaum ein anderer Sozialtypus, der im frühen 19. Jahrhundert entstand, hat sich so wenig verändert in die Gegenwart hinein erhalten wie der des öffentlich auftretenden Musikvirtuosen. Bereits in früheren Jahrhunderten gab es musikalische Zelebritäten, von denen ganz Europa sprach und zu denen man von weither reiste, um von ihnen zu lernen. Sie waren zumeist Komponisten und Meister der musikalischen Theorie. Weniger den Berühmtheiten, die durch ihren Gesang oder ihr Instrumentalspiel faszinierten, galt die Verehrung der Musikwelt als den Schöpfern neuer Kunst. Viele, möglicherweise die meisten von ihnen brachten ihre eigenen Werke mit höchster technischer Kompetenz selbst zur Aufführung. Reine musici oder virtuosi prattici genossen ein geringeres Prestige. Auch im 19. Jahrhundert hielten viele an der Einheit von Komponist und Interpret fest. Richard Wagner erstrebte die vollständige Kontrolle über die authentische Interpretation seiner Werke, und Gustav Mahler soll als Dirigent seiner eigenen Symphonien nie übertroffen worden sein. Daneben entstand der ausschließlich ausführende musikalische Star: die Operndiva, der Tastenlöwe, der vom dienenden maestro di capella zum Herrscher über Klangkörper von neuartiger Größe und oft bedeutender Leistungsfähigkeit aufgestiegene Dirigent. Diese Art des Musikbetriebs gibt es noch heute. Die technische Reproduzierbarkeit von Musik durch Schallplatte, Rundfunk und später sogar Film und Fernsehen hat die älteren Tendenzen eher noch verstärkt. Erst die Verbreitung von Konzertsälen und Opernhäusern auf allen Kontinenten, dann die Technologien der Schallaufnahme ließen wahrhafte Weltstars entstehen: den Tenor Enrico Caruso, den Bariton Mattia Battistini, die Sopranistin Adelina Patti, den Dirigenten Arturo Toscanini, die Geiger Pablo Sarasate und Joseph Joachim, die Pianisten Anton Rubinstein und Ignacy Jan Paderewski – um nur einige zu nennen. Ihr Rollenverständnis im Spannungsfeld von Showbusiness und Werktreue war ein Erbe des zweiten Quartals des 19. Jahrhunderts. Dieses Erbe beherrscht auch noch die industriell organisierte „E-Musik“ der Gegenwart. Der bewunderte Musikvirtuose und sein Gegenstück, eine kenntnisreiche Hörerschaft, waren keine europäische Besonderheit. Wir finden sie auch in entwickelten aristokratischen und höfischen Kulturen andernorts auf der Welt, zum Beispiel in MogulIndien. Einzigartig für das moderne Europa und universal stilbildend war indes die Lösung des Künstlers aus fürstlichem Mäzenatentum. Dieser Übergang von Gunst zu Lohn ist wohl bekannt. Schon Händel hatte in England für ein zahlendes bürgerliches Publikum gearbeitet und Haydn dort in den 1790er Jahren den musikalischen Markt erfolgreich bedient. Richard Wagner distanzierte sich allmählich von seinem königlichen Patron Ludwig II. von Bayern und ersann die Idee eines regelmäßigen Festspiels, das ihn zum Herrn über wallfahrende Besucher und Nutznießer ihrer Freigebigkeit machen —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 1.5, Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852).
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würde. Schon um 1820 war das Zeitalter mäzenatischer Hofmusik im Wesentlichen beendet, auch wenn sich ein Musikfreund wie Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen im thüringischen Meiningen bis zum Ersten Weltkrieg eines der besten Orchester Deutschlands leistete. Nur in Europa entwickelten sich die städtische Oper als besonderer Raum der sozialen Repräsentation von Oberschichten und das Konzert als Geselligkeitsform einer „stockenden Masse“, wie Elias Canetti es beschrieben hat: „Wie eine ausgerichtete Herde, so sitzen die Menschen da, still und in unendlicher Geduld.“2 Diese Arten der Reproduktion und Konsumption von Kunst waren nicht nur „typisch“ europäisch – und verbreiteten sich rasch auch in den neo-europäischen Gesellschaften in Übersee, so dass das Opernhaus von New York zum musikalisch wichtigsten der Welt und dasjenige von Sydney zu einem ihrer bekanntesten Gebäude wurde. Sie waren auch gesamteuropäisch. Die romantische Ausprägung nationaler Musikidiome verhinderte nicht, daß der Konzertbetrieb kosmopolitisch blieb. Er gehörte zu den „Mechanismen des Internationalismus“, wie sie heute bei Historikern viel Aufmerksamkeit finden. Viele Opernsänger mochten zu einem festen Ensemble gehören und daher relativ wenig mobil sein. Die ganz großen Stars unter ihnen jedoch waren unaufhörlich unterwegs und gastierten in allen Kunstzentren zwischen Lissabon und St. Petersburg. Battistini zum Beispiel, der „König der Baritone“, stand mit dem Zaren „auf vertraulichem Fuße“3 und gab seinen letzten Auftritt 1927 auf dem Nebenschauplatz Graz. Instrumentalsolisten, die unweigerlich als Individualunternehmer arbeiteten, waren noch stärker als Sänger auf das Reisen angewiesen und woben die Netze ihrer Tourneen über den ganzen Kontinent hinweg. Mit dem Virtuosentum erblühte das Geschäft der Agenten und Impresarii, auch sie frühe „transnationale“ Akteure. Daß man sich in Elitekreisen aller europäischen Länder mühelos auf Französisch – und notfalls auch in mehreren anderen Sprachen – verständigen konnte, erleichterte den Umgang über Grenzen hinweg. Auch das Publikum war unterwegs und mischte sich international. Mochte Wagners Massenbasis auch aus „Bier trinkenden, Würstchen verzehrenden Spießbürgern“ bestehen, so versammelte sich doch in Bayreuth „jene internationale society, die der völkische Nationalist verabscheuen mußte“.4 Am Anfang dieser Neuerungen steht der erste aller musikalischen Superstars: Niccolò Paganini, der 1828 die Alpen überquerte und damit eine beispiellose Karriere als konzertierender Violinist begann. Franz Liszt war bereits im Dezember 1823 als zwölfjähriges Wunderkind aus dem Habsburgerreich nach Paris gekommen. Erst das Erlebnis Paganinis bewog ihn, sich als dämonischen Verzauberer der Massen, als einen Paganini des Klaviers, neu zu erfinden. Nicht nur verwandelte er die berühmten Capriccen des Geigers in Etüden von beispiellosem technischem Raffinement; er kultivierte auch mit Berechnung den Habitus des über extremste Schwierigkeiten triumphierenden Podiumsheroen, der sich sein Publikum unterwarf. In einer schier unglaublichen Kraftleistung reiste Liszt zwischen 1838 und 1847 – noch in Kutschen! – kreuz und quer durch Europa. Von Glasgow im Norden bis Neapel im Süden, von Cadiz bis Istanbul gab er Konzerte und vergaß dabei auch Kleinstädte wie Limerick, Montauban, Freiburg, Baut—————— 2 3 4
Canetti, Elias, Masse und macht, Hamburg 1960, S. 36. Fischer, Jens-Malte, Große Stimmen, Stuttgart 1993, S. 29. Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968, S. 129.
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zen oder Schitomir in der Ukraine nicht. 1847 zog sich der bedeutendste Pianist des Jahrhunderts, zugleich einer seiner größten Komponisten, plötzlich vom Konzertleben zurück und trat während der restlichen 39 Jahre seines Lebens öffentlich fast nur noch als Dirigent in Erscheinung, der sich allein zu Benefizzwecken auch gelegentlich noch an den Flügel setzte. Liszt prägte das neue Konzertleben wie kein zweiter und wurde dadurch zum reichen Mann und zum berühmtesten Musiker Europas. Die Musik war ihm freilich kein bloßer Broterwerb. Er spielte eigene Kompositionen, aber auch Älteres, das sonst selten zu hören war. Der Tastenzauberer konnte auch zum selbstlosen Diener an den Werken anderer werden. Durch Bearbeitungen und Paraphrasen für Klavier machte er Beethoven-Symphonien, Schubert-Lieder und zahlreiche Opern einem provinzialen Publikum zugänglich, dem die Chance fehlte, dergleichen jemals in Originalgestalt kennenzulernen. Auf diese Weise trug er zur künstlerischen Integration, ja, zur musikalischen Zivilisierung Europas bei. Auch sonst war er ein Lehrer: Der späte Liszt, stets unentgeltlich unterrichtend, wurde zum wichtigsten Klavierpädagogen der Epoche. Zugleich erkannte er mit großer Klarsicht, in welche Widersprüche der Konzertbetrieb den romantischen Künstler, das Genie, verstrickte. 1852, drei Jahre nach dem Tod seines Freundes Chopin (der selbst öffentliche Auftritte eher gemieden hatte), nutzte er die Gelegenheit, um in einem gemeinsam mit der Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein geschriebenen Buch über den polnischen Meister die Zwänge des musikalischen Schaugewerbes schonungslos zu analysieren.5 Für sich selbst nahm Liszt übrigens den Prozeß der Emanzipation von herrscherlichem Patronat zurück. Dem „Goldregen“ des großbürgerlichen Philistertums, dessen er wie kein Zweiter teilhaftig geworden war, zog er die karge Freiheit eines kleinstädtischen Residenzlebens vor. Liszt akzeptierte das Amt eines Hofkapellmeisters in Weimar und lebte fortan, wie Alan Walker in seiner großartigen Biografie schreibt, als „Riese in Liliput“. Das Publikum wurde ihm immer gleichgültiger. Im Alter komponierte er Werke, die erst im 20. Jahrhundert verständnisvolle Spieler und Hörer fanden. Die einstige Inkarnation des musikalischen Showbusiness wurde, allein dem späten Beethoven folgend, zum soziologischen Urtyp des Avantgardisten. Quelle Nr. 1.5 Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852)6 Einer allgemeinen These zufolge würde es dem Künstler zum Gewinn gereichen, wenn er nur die Gesellschaft „aufgeklärter Aristokraten“ suchte; denn nicht ohne jegliche Berechtigung rief Graf Joseph de Maistre, als er einst eine Erklärung des Schönen improvisieren wollte, aus: „Schön ist das, was dem aufgeklärten Aristokraten gefällt.“ – Allerdings müßte der Aristokrat vermöge seiner gesellschaftlichen Stellung über allen eigennützigen Beweggründen und materiellen Neigungen stehen, die man als Fehler des Bürgertums betrachtet, in dessen Händen die materiellen Interessen der Nation liegen. Der Adel ist berufen, den Ausdruck aller der heroischen und zarten, den großen Gegenständen und Ideen geweihten Gefühle, welche die Kunst in ihren erhabenen Schöpfungen in
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Der Quellentext entstammt ursprünglich: Liszt, Franz, Frédéric Chopin, als Artikelserie in: La France Musicale (1851), als Buch Paris 1851, erheblich erweitert 1879, dt. Übersetzung als Band 1 der Gesammelten Schriften, Leipzig 1880. Liszt, Franz, Schriften zur Tonkunst, hg. von Wolfgang Marggraf, Leipzig 1981, S. 128-131.
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all ihrem Glanze strahlen läßt, ja, zu irdischer Unsterblichkeit verklärt, nicht allein zu verstehen, sondern auch anzuregen und zu ermutigen. Dies wäre die These. Fassen wir jedoch die Antithese ins Auge, so müssen wir leider, von Ausnahmefällen abgesehen, zugeben, daß der Künstler zuweilen mehr verliert als gewinnt, wenn er an der heutigen vornehmen Gesellschaft Geschmack findet. Hier entnervt er, er geht zurück, sinkt zum liebenswürdigen Unterhalter, zu einem feinen und kostspieligen Zeitvertreib herab, dafern man ihn nicht geschickt ausbeutet, was man auf den Höhen wie in den Tiefen der aristokratischen Gesellschaft beobachten kann. Bei Hofe verbraucht man seit undenklichen Zeiten die Kraft des Dichters und Künstlers bis zur gänzlichen Erschöpfung und überläßt es dabei anderen Mäzenen, sie würdig zu belohnen, weil man sich einbildet, daß ein kaiserliches Lächeln, eine königliche Belobung und Gunstbezeigung, eine Busennadel oder ein Paar Diamantknöpfe mehr als ausreichend seien, um ihn für alle Verluste an Zeit und Lebenskraft, denen er sich durch Annäherung an diese glühenden Sonnenkreise aussetzte, zu entschädigen. [...] Bei den Königen und Fürsten der Finanzwelt dagegen, wo man die Art und Weise des wahrhaft Vornehmen mehr nachäfft als nachahmt, bezahlt man alles bar, selbst den Besuch eines Potentaten wie Karl V., dem man, wenn er sich herabläßt, sich von seinem Bankier beherbergen zu lassen, seine eigenen Wechsel anbietet, um sein Kaminfeuer anzuzünden. Somit brauchen auch Dichter und Künstler nicht umsonst auf ein Honorar zu warten, das ihr Alter vor Sorgen schützt. Herr von Rothschild, um nur einen einzigen zu nennen, ließ Rossini an Geldgeschäften teilnehmen, die ihm Reichtümer im Überfluss zuführten. [...] Was ist die Folge solchen Gegensatzes? Die Höfe erschöpfen Genius und Talent des Künstlers, Inspiration und Phantasie des Dichters, so wie die Schönheit aufsehenerregender Frauen durch die fortgesetzte Bewunderung, die sie herausfordert, Mut und Ausdauer des Mannes erschöpft. Das reich gewordene Bürgertum läßt Künstler und Poeten in der Gefräßigkeit des Materialismus untergehen. Hier wissen Frauen und Männer nichts Besseres zu tun, als sie zu mästen, wie man die KingCharles der Boudoir-Sofas mästet, bis sie, angesichts ihres japanischen Porzellantellers, vor Fettsucht umkommen. – Auf diese Weise ist die Herrlichkeit der ersten wie der letzten Stufen der Macht und des Reichtums gleicherweise verderblich für die vom Schicksal mit dem Stempel „schön und verhängnisvoll“ Gezeichneten, die von der Natur Bevorzugten, von denen die Griechen sagten, daß der Herr des Himmels, als er sie bei Verteilung der Güter dieser Erde vergessen hatte, ihnen zum Ersatz das Vorrecht gewährte, zu ihm emporzusteigen, sooft sie den Wunsch dazu verspürten. Da sie nun nicht minder als andere bösen Versuchungen zugänglich sind, so muß die vornehme und feine Welt die Verantwortung für diejenigen übernehmen, die sie aufreiben oder umkommen lassen hinter ihren schweren seidenen Portieren. Vergessen aber die Bevorzugten der Natur ihr Recht, zum Gott des Himmels emporzusteigen, so verlangt die Gerechtigkeit, dass man mit ihnen zugleich auch die verdamme, die, da sie nicht zu hören verstehen, wenn jene die Stimmen einer bessern Welt ertönen lassen, sich damit begnügen, das Talent derselben auszubeuten, ohne Achtung für den göttlichen Funken in ihnen. [...] Da nun der vom Thron ausgehende Sonnenstrahl vielleicht niemals zu ihnen den Weg findet, da der Goldregen, den die Banknoten ausstreuen, die Muse einschläfert, was Wunder, wenn in dieser Voraussicht Künstler und Dichter, statt ihre Offenbarungen den Verständnislosen zu künden, es oftmals vorzogen, Hunger und Frost zu leiden an Leib und Seele und in unfruchtbarer Einsamkeit zu verharren; ihrer eigensten Natur zum Trotz, die des Lichtes und der Wärme, eines Echos und Widerscheins bedarf, soll sie Glauben an sich selber gewinnen.
Literatur Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968 Canetti, Elias, Masse und Macht, Hamburg 1960
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Dahlhaus, Carl, Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: Ders., Gesammelte Schriften in zehn Bänden, hg. von Hermann Danuser, Bd. 5, Laaber 2003, S. 11-390 Ehrlich, Cyril, The Piano: A History, Oxford 2002 Gooley, Dana, The Virtuoso Liszt, Cambridge 2004 Walker, Alan, Franz Liszt, 3 Bde., London 1983-1997
GEISTIGES EIGENTUM IM SPANNUNGSFELD VON INDIVIDUALISIERUNG, NATIONALISIE1 RUNG UND INTERNATIONALISIERUNG. DER WEG ZUR BERNER ÜBEREINKUNFT VON 1886 Von Hannes Siegrist Stichworte wie „Medienrevolution“, „Leserevolution“ und „Verwissenschaftlichung“ verweisen auf den tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel im 19. Jahrhundert. Seit dem späten 18. Jahrhundert stieg die Produktion, Reproduktion und Nutzung von Texten, Bildern und Tonwerken auf immer neue Höhen. Den Zeitgenossen stellte sich angesichts der massiven Veränderungen und Potentiale die Frage, wer über „Kultur“ und „Wissen“ verfügen sollte. Vor diesem Hintergrund frage ich im Folgenden nach der Individualisierung, Nationalisierung und Internationalisierung der Verfügungsund Handlungsrechte von Autoren, Verlegern, Publikum und Staaten über „geistige Werke“. Der Beitrag skizziert die Entwicklung des „literarischen und künstlerischen Eigentumsrechts“ (bzw. der „Urheberrechte“, „Autorenrechte“ und des „Copyrights“) im 18. und 19. Jahrhundert, die mit der „Berner Übereinkunft“ zur Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst 1886 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Der Begriff des geistigen Eigentums profilierte und etablierte sich zwischen 1750 und 1850 in den Staaten Europas, Nord- und Südamerikas und verbreitete sich im späten 19. und 20. Jahrhundert weltweit.2 Die moderne Institution des geistigen Eigentums wurde in liberalen Gesellschaften und weltlich geprägten Kulturen entwickelt. Sie sollte in Systemen mit wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Wettbewerb die Handlungsrechte von Autoren, Verlagen, Bühnen, Publikum, Öffentlichkeit und Staat garantieren und die Kooperationsbeziehungen in der Produktion, Distribution und Rezeption von Kultur und Wissen in typisierter Form regeln. Die Gesetzgeber erhofften sich von der individualistischen und eigentumsförmigen Institutionalisierung von Kultur und Wissen Anreize für kreatives wissenschaftliches und künstlerisches Schaffen und Impulse für den kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Die auf dem Privatrecht aufbauende bürgerliche Gesellschaft unterstellte auch die Kultur dem Leitwert des possessiven Individualismus und förderte damit die Kommerzialisierung von Kultur und Wissen. Die Rechte der Schöpfung, Bearbeitung, Umformung, Bezeichnung, Verbreitung, Veröffentlichung, Verwertung und Nutzung eines „individuellen geistigen Werks“ wurden zu einem umfassenden Bündel exklusiver und individueller Verfügungs- und Ausschlussrechte zusammengefasst. In der Umgangssprache und vielfach auch im Recht bezeichnete man dieses – je nach Ort und Zeit mehr oder weniger umfassende – Bündel individueller oder persönlicher Rechte als „geistiges Eigentum“, „literarisches und —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 1.6, Die Berner Übereinkunft von 1886 zur Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst. Die Geschichte des geistigen Eigentums umfasst verschiedene, je nach Ort und Zeit mehr oder weniger verbundene Entwicklungsstränge. Ich konzentriere mich hier auf die Geschichte des literarischen und künstlerischen Eigentums und lasse die Geschichte des Erfinder- und Patentrechts sowie die Geschichte des Warenzeichenrechts beiseite.
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künstlerisches Eigentum“, „intellektuelles Eigentum“, „Autorenrechte“, „Urheberrechte“ oder „Copyright“. Das bürgerliche Grundrecht des Eigentums, das zunächst den Umgang mit materiellen produktiven Gütern und Ressourcen regelte und gleichzeitig die individuelle Freiheit begründen sollte, prägte nun auch den Geistesschaffenden, indem es ihn zum kulturellen Schöpfer und Teilhaber an der Öffentlichkeit, zum „Bourgeois“ und zum „Citoyen“ zugleich machte. Die revolutionäre französische Gesetzgebung von 1793 bezeichnete das Eigentumsrecht der Autoren von Schriften aller Gattungen, der Komponisten musikalischer Werke, der Maler und Zeichner als das persönlichste und heiligste aller Eigentumsrechte. Sie definierte es als das exklusive Recht der Autoren, ihre Werke zu verkaufen, verkaufen zu lassen und im Gebiet der französischen Republik zu verbreiten. Das preußische Gesetz zum Schutze des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung von 1837 bestimmte, dass nur der Autor oder der von diesem Befugte das Recht habe, den Druck oder die mechanische Vervielfältigung einer Schrift, Predigt oder Vorlesung zu autorisieren. Entscheidend war hier das Recht der Veröffentlichung bzw. der Schutz vor dem unerlaubten Nachdruck. In den 1840er Jahren wurde dann allerdings das geistige Eigentum auch in Deutschland zu einen zentralen Element des Diskurses über Bürgerlichkeit. In weiten Teilen Europas wurde das geistige Eigentum im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts als Kernstück der individualisierten und marktförmigen Institutionalisierung von Kultur, Wissen und Unterhaltung diskutiert. Seine Wirkung hing indessen auch in Zeiten der raschen Ausdehnung des kulturellen Markts davon ab, dass alternative, nicht eigentumsförmige Formen der Institutionalisierung und Organisation der nationalen Kultur und des Wissens – staatliche Schulen, Akademien und Museen – für Bildung und Nachfrage sorgten und so die Akzeptanz und den Absatz kommerziell vermittelter Kulturgüter und künstlerischer Dienstleistungen unterstützten. Der Begriff des geistigen Eigentums stützte den moralischen Anspruch auf Berechenbarkeit und Erwartungssicherheit. Das geistige Eigentumsrecht wurde zu einer Strategie des Risikomanagements in einer dynamischen Wirtschaft und Kultur; das Marktrisiko wurde durch die Rechte des formal unabhängigen, vertragsfähigen „freien Autors“ abgefedert. Aufgrund seiner beruflichen und bürgerlichen Rechte näherte sich der Schriftsteller, Publizist, Wissenschaftler, Gelehrte und Künstler im 19. Jahrhundert als „geistiger Eigentümer“ gesellschaftlich dem Boden-, Immobilien- und Fabrikeigentümer an. Das geistige Eigentum befähigte den Gelehrten, Schriftsteller und Künstler idealerweise zu autonomem und kreativem Handeln. Es wurde zu einem Schlüsselelement der Meistererzählung vom Umbruch von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft und der dazu gehörigen Untererzählungen vom institutionellen Wandel in der Kunst und Kultur; das heißt der Verwandlung des „Hofkünstlers“ zum „bürgerlichen Künstler“ und des Endes des adeligen Mäzenatentums. Die – soziale, moralische und rechtliche – Institution des geistigen Eigentums sicherte und standardisierte die Handlungsbedingungen, Verhaltensweisen und Beziehungen der „geistig Schaffenden“ in der bürgerlichen Gesellschaft und im Rechtsgebiet des jeweiligen Landes. Das „geistige Eigentumsrecht“ wurde in den entwickelten Gesellschaften sukzessive in der Verfassung, im Privatrecht und in einem besonderen Rechtsbestand kodifiziert und durch die Doktrin und Rechtsprechung ständig fortentwickelt. Es wurde zunehmend primär naturrechtlich begründet, das heißt es galt als vorstaatliches Recht, das durch die Arbeit und Leistung des schöpferischen Individuums begrün-
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det wurde. Tatsächlich sorgte dann aber ein Gesetzgeber und Staat dafür, dass die Rechte des geistigen Eigentums kodifiziert und durch die Rechtsprechung in seinem Territorium garantiert wurden. Im Zuge der Nationalisierung und Verrechtlichung von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wurde das geistige Eigentumsrecht zu einer grundlegenden Institution der nationalen Kultur und zum Statut des nationalen Kulturkartells, das die Beziehungen zwischen den verschiedenen Trägern der nationalen Kultur und Öffentlichkeit regelte. Die Verrechtlichung der Beziehungen und die Standardisierung der Verfahren bestimmte die Herausbildung eines kulturellen Marktes und ermöglichte den kulturellen und geschmacklichen Wandel. Im 19. Jahrhundert differenzierte und erweiterte sich das Bündel der geistigen Eigentumsrechte. Grundsätzlich ging es – erstens – um die Rechte des Autors in der Gestaltung und Bearbeitung von Texten und symbolischen Formen, um das Paternitätsrecht des „kreativen Schöpfers“, das Recht des Signierens und den Schutz der „Originalwerke“ vor Entstellungen, Verfälschungen und Nachahmung durch Dritte. Die Wurzeln dafür lassen sich historisch weit zurückverfolgen, tatsächlich etablierte sich aber erst seit dem späten 19. Jahrhundert in Europa dafür der Begriff der „moralischen Rechte“ oder der „Urheberpersönlichkeitsrechte“. Zweitens ging es um Vermögensrechte, nämlich um die Honorare, Tantiemen und Einnahmen aller Art von Autoren, Verlegern, öffentlichen und privaten Bühnen und Konzerthäusern, die aus der erwerbsorientierten, kommerziellen Veröffentlichung, öffentlichen Aufführung und Ausstellung resultierten. Das ursprünglich in der Analogie zum Eigentum an materiellen Gegenständen und Boden entwickelte „geistige Eigentumsrecht“ konzentrierte sich bis ins frühe 20. Jahrhundert sehr stark auf die vermögensrechtlichen Aspekte. Es begründet das Recht der Veröffentlichung, Vervielfältigung, Verbreitung und Verwertung geistiger Werke. Der angelsächsische Begriff des „Copyright“ signalisiert – drittens –, wozu das geistige Eigentumsrecht auch in Europa ursprünglich primär diente, nämlich dem Schutz des Autors oder Rechteinhabers (Druckers, Medienunternehmens) vor unerlaubten „Nachdrucken“ und Aufführungen. Viertens regelte die Vorstellung und Institution des geistigen Eigentums die Zugangs- und Nutzungsrechte des Publikums, der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und Bildung, der Nation, des Kulturstaats und der Allgemeinheit. Diesbezüglich ging es um das Verhältnis von „privaten“ und „kollektiven“ geistigen Eigentumsrechten. Die private Verfügung über kulturelle Werke und Wissen wurde schon bei der Einführung des privaten geistigen Eigentumsrechts im öffentlichen, staatlichen und nationalen Interesse zeitlich befristet und inhaltlich eingeschränkt, um das Wohl von Staat, Allgemeinheit und Nation zu sichern. In den etatistischen Gesellschaften und liberalen Kulturstaaten sorgte der freie oder erleichterte Zugang zur nicht kommerzialisierten Kultur für die Kultivierung und soziale Integration der Staatsbürger sowie für jene kulturelle Bildung der Sinne und des Verstandes, welche wiederum die Voraussetzung für die marktförmige Nachfrage bildete. Die staatliche und nationale Kodierung des geistigen Eigentumsrechts intensivierte sich seit den 1790er Jahren. Anfang der 1880er Jahre verfügten die europäischen und amerikanischen Nationalstaaten und Vielvölkerreiche über ein ausgearbeitetes Urheber-, Autoren- und Verlagsrecht. Dieses mochte gewisse nationale Besonderheiten aufweisen, richtete sich insgesamt aber an transnationalen Standards aus, die sich im Verlaufe einer internationalen Debatte herauskristallisierten. Seit der Jahrhundertmitte propagierten Verleger, Autoren, Juristen und Politiker die Internationalisierung des geistigen Eigen-
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tumsrechts, um einige Probleme, die durch die Verstaatlichung und Nationalisierung des Rechts nicht gelöst bzw. verschärft worden waren, zu beheben. Im Kern ging es darum, die Eigentumsrechte an leicht transportierbaren und kopierbaren Werken wie Büchern, Notenwerken, Bildern und Kunstwerken im Ausland zu sichern und die privaten Vermögensrechte, die aus der Bearbeitung, Übersetzung, Wiederveröffentlichung und öffentlichen Aufführung des Originalwerks im Ausland resultierten, durchzusetzen. Texte und Bilder, Zeichen und symbolische Formen wurden über Staats-, Zoll- und Rechtsgrenzen hinweg gehandelt. Güter der Kultur, des Wissens und der Unterhaltung waren zugleich Waren, die international nachgefragt wurden. Die moderne Kultur lebte genau so von der Diversität und Neuigkeit wie der Markt. Das geistige Eigentumsrecht stimulierte und belohnte das Prinzip der Umformung und Variation. Der in einem Staats- und Rechtsgebiet arbeitende und publizierende geistige Eigentümer riskierte allerdings, dass sich Übersetzer, das ausländische Publikum und der ausländische Verleger und Bühnenunternehmer nicht an seine Eigentumsrechte hielten. Deshalb drängten Autoren, Komponisten und Verleger seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die zwischenstaatliche und internationale Angleichung des geistigen Eigentums bzw. auf die Anerkennung der individuellen Autorenrechte außerhalb des Landes der Erstveröffentlichung des Werks oder des Herkunftslandes des Autors. Sie forderten die Gleichbehandlung des ausländischen und inländischen Autors bzw. geistigen Werks. Die Exportländer von Kultur und Kulturgütern intensivierten seit den 1840er Jahren ihre Bemühungen, den zwischenstaatlichen und internationalen Austausch kultureller Güter und Dienstleistungen einem internationalen Regime des geistigen Eigentums zu unterstellen, indem sie bilaterale Handelsverträge abschlossen, die das Prinzip der gegenseitigen Gleichbehandlung festlegten. Die ersten multilateralen zwischenstaatlichen Verträge wurden in sprachlich homogenen, aber politisch differenzierten Gebieten wie dem vornationalen Deutschland und dem vornationalen Italien 1832/37 bzw. 1840 abgeschlossen. In Italien wie in Deutschland wollten sich damit die Autoren und Originalverleger der nördlichen Staaten gegen die Nachdrucker im „Süden“ schützen. Indem Frankreich mit der Gesetzesrevision von 1852 die in Frankreich erschienenen Werke ausländischer Autoren denjenigen von Inländern in jedem Fall gleichstellte, setzte es ein Zeichen für die Internationalisierung und Universalisierung der geistigen Eigentumsrechte. Belgien folgte diesbezüglich 1886 nach. Etwas weniger weit waren Mitte der 1880er Jahre England, Italien, Spanien und die Schweiz, die ausländische Autoren nur dann wie die Inländer behandelten, wenn sie aus einem Staat stammten, mit dem ein Abkommen über gegenseitige Gleichbehandlung bestand. Während in Frankreich, Belgien und Spanien der Originalautor ein unbefristetes Recht zur Autorisierung von Übersetzungen seiner Werke genoss, war dieses Recht in Deutschland, der Schweiz und Italien damals noch auf einen kurzen Zeitraum nach dem Erscheinen des Originals befristet. Die nationalen Urheberrechtsgesetze des Deutschen Reichs aus den 1870er Jahren gingen sogar noch davon aus, dass dem ausländischen Urheber kein eigenständiger Anspruch auf Schutz des geistigen Eigentums eingeräumt werden sollte. Sein geistiges Eigentum war nur insofern geschützt, als es von einem inländischen, deutschen Verleger verwertet wurde. Die meisten europäischen Staaten machten den Schutz von – inländischen wie ausländischen – Werken zudem von der Erfüllung gewisser Formalitäten abhängig; indem etwa das veröffentlichte Originalwerk in Form einer Kopie in der
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Nationalbibliothek deponiert oder beim Bildungsministerium oder einem Gericht registriert werden musste. Die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Vorschriften erschwerte die Wahrnehmung der Autoren- und Verlegerrechte im internationalen Maßstab. Nur noch einige spezialisierte Advokaten und Rechtslehrer, die sich vielfach auch als Lobbyisten und Politiker betätigten, überblickten die Gesetzgebung, Rechtsprechung und jeweilige Doktrin. Einige betätigten sich an führender Stelle an der Reform der nationalen Gesetzgebung, an der Ausarbeitung der internationalen Verträge und an der Gründung nationaler und internationaler Verbände von Autoren und Verlegern. Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler, Musiker, Verleger, Juristen und Politiker warben in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit für die Internationalisierung und Universalisierung der Rechte des Autors. Ihre Bemühungen gipfelten in der „Berner Übereinkunft“ von 1886.3 Die Initiative zu dieser multilateralen internationalen Konvention zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst ging von nationalen und internationalen Autoren- und Verlegerverbänden aus. Die diplomatischen Vorberatungen fanden unter der Vermittlung des Schweizerischen Bundesrates in Bern statt. Der – im Anhang dem Vertragstext vorangestellte – kurze Auszug aus der Botschaft der Schweizer Regierung an die Bundesversammlung zeigt exemplarisch die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Motive für den Abschluss einer solchen internationalen Vereinbarung.4 An den mehrjährigen, immer wieder unterbrochenen Verhandlungen beteiligten sich nicht nur die nachmaligen Gründungsmitglieder der Berner Union, wie Frankreich, Deutschland, England, Spanien, Italien, Belgien und die Schweiz, sondern auch die meisten anderen europäischen Länder; sowie die USA und die Staaten Lateinamerikas, die der Berner Union schließlich nicht beitraten, sondern später eine panamerikanische Parallelorganisation gründeten. Vielen Zeitgenossen erschien die Gründung der Berner Union als Krönung einer zumindest teilweise gemeinsamen Emanzipationsgeschichte der Autoren und Verleger, die mit der Individualisierung der Gestaltungs-, Veröffentlichungs- und Vermögensrechte der Geistesschaffenden in der national-liberalen Gesellschaft begann und in der Entgrenzung des menschlichen Geistes und der Universalisierung des Rechts gipfelte. Tatsächlich handelte es sich weniger um eine Universalisierung, sondern um eine Internationalisierung des Rechts. Die Berner Union legte als zwischenstaatliche, internationale Organisation die Regeln und Leitlinien für die nationale Gesetzgebung und Rechtsprechung fest. In langwierigen Verhandlungen verständigte man sich auf ein gemeinsames Rahmenkonzept des „Schutzes der Autorenrechte“, worunter sich in gewissen Hinsichten sowohl der angelsächsische Begriff des „Copyright“ als auch die von Frankreich (und vielen romanischen Ländern) vertretene Konzeption der „literarischen und künstlerischen Eigentumsrechte“ und die von den deutschen Repräsentanten favorisierten Konzeptionen des „Immaterialgüterrechts“ bzw. des „Schutzes der Urheberpersönlichkeit“ subsumieren ließen. Die erste und wichtigste Bestimmung der Berner Übereinkunft lautete: „Die einem der Verbandsländer angehörigen Urheber oder ihre —————— 3 4
Vgl. Quelle Nr. 1.6b. Vgl. Quelle Nr. 1.6a.
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Rechtsnachfolger genießen in den übrigen Ländern für ihre Werke [...] diejenigen Rechte, welche die betreffenden Gesetze den inländischen Urhebern einräumen oder in Zukunft einräumen werden.“5 Für die Förmlichkeiten und die Dauer der Schutzfrist galten für den im Ausland publizierenden Autor die Gesetze des Herkunftslandes (Artikel 2). Mithilfe einer Aufzählung der Werkarten wurde der Ausdruck „Werke der Literatur und Kunst“ definiert (Artikel 4). Artikel 5 regelte das Übersetzungsrecht im Ausland. Laut Artikel 8 entschieden die Landesgesetze über die Aufnahme von Auszügen von Werken der Literatur und Kunst in Unterrichtswerke. Die Staaten akzeptierten diese Regeln und deren Umsetzung durch die nationalen Gerichte, indem sie ihre Gesetze entsprechend änderten und den Vertrag ratifizierten.6 Die wissenschaftliche Literatur betont die zentrale Rolle der Berner Union für die Entwicklung des Urheberrechts und die internationale Rechtsangleichung bis heute. Die Berner Union fungierte, genau so wie andere damals gegründete internationale Organisationen, das eine Mal als ein Instrument staatlicher Diplomatie, das andere Mal als Arena für internationale Verhandlungen zwischen Regierungen und Interessenverbänden und bisweilen als quasi-autonomer supranationaler Akteur. Bei den Gründungsmitgliedern der Berner Union handelte es sich um Staaten und Imperien mit einer großen kulturellen und wissenschaftlichen Eigenproduktion bzw. um Länder, die – in absoluten Zahlen oder relativ zur Bevölkerungszahl – eine erhebliche Buch- und Zeitschriftenproduktion hatten und am Export interessiert waren.7 Die großen mehrsprachigen und multikulturellen europäischen Reiche an der Ostgrenze des europäischen Kontinents, das Habsburger Reich und das Zarenreich, traten dagegen der Berner Übereinkunft nicht bei. In Österreich-Ungarn befürchteten Verleger, Regierungskreise und Politiker, dass Werke der Weltliteratur nicht in die kleinen Nationalsprachen des Habsburgerreichs übersetzt und von einem Verleger veröffentlicht würden, wenn sie tantiemepflichtig wären. Im Falle von Russland lautete das Argument, dass es sich bei vielen wissenschaftlichen, schulischen und literarischen Publikationen um nicht autorisierte Übersetzungen, Nachdrucke oder Bearbeitungen ausländischer Werke handle. Die eigene Produktion und die Kaufkraft seien zu gering, so dass der Beitritt zu internationalen Abkommen nicht zu empfehlen sei. Zu den Gründerstaaten gehörten auch Tunesien (ein französisches Protektorat), Haiti und Liberia. Im Kern war die Berner Union aber ein (west-)europäisches Kulturkartell, das unter der Führung der großen Imperien und einiger exportstarker Kleinstaaten weltweit expandierte und die Standards vorgab. Kolonialgebiete mit einer hohen Kulturund Buchproduktion wie Indien, wo allein in englischer Sprache mehr Bücher gedruckt —————— 5 6 7
Vgl. Quelle Nr. 1.6b. Vgl. dazu den kurzen Ausschnitt aus der Empfehlung des Schweizer Bundesrates an die für den Abschluss von Staatsverträgen zuständige Bundesversammlung von Nationalrat und Ständerat in Quelle Nr. 1.6a. Laut einer Statistik des Leiters des Büros der Berner Union entfielen von den 120.000 Büchern, die um 1900 pro Jahr weltweit gedruckt wurden, 27.00 auf Deutschland, 10.300 auf Russland, 10.100 auf Frankreich, 7.000 auf Großbritannien, 6.000 auf Spanien, 5.000 auf Österreich, 2.900 auf die Niederlande, 2.600 auf Belgien, 1.600 auf Ungarn, 1.700 auf die Schweiz, und 1.400 auf Spanien. Vgl. Röthlisberger, Fritz, Geistige Produktion, in: Reichesberg, Naum, Handwörterbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd.2, Bern 1903-11, S. 203-211, hier Tabelle S. 205.
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wurden als in Großbritannien selbst, wurden als Teil des Britischen Imperiums zwangsintegriert, was gemäß Artikel 19 der Berner Übereinkunft ausdrücklich möglich war. Japan, dessen Buchproduktion mit 19.500 Werken im Jahr 1901 zahlenmäßig fast an die deutsche heranreichte und wo sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Autorenverständnis und das Copyright europäischen Standards annäherte, trat der Berner Union 1899 bei.8 1886 gehörten laut Mitteilung des Schweizer Bundesrates weltweit 500 Millionen Seelen, das heißt ein Drittel der Weltbevölkerung zum Geltungsgebiet der Berner Union. Und 1906 stellte der Generalsekretär des Büros der Berner Union, Fritz Röthlisberger, im Handbuch zur Berner Union mit einiger Genugtuung fest: „Die heutigen fünfzehn Vertragsstaaten wiesen zu Anfang des Jahres 1906 eine annähernde Seelenzahl von 666 Millionen auf, wovon allerdings fast 400 Millionen Seelen auf England und seine sämtlichen Kolonien und Besitzungen fallen. Stellt man das Unionsgebäude nach der Bevölkerungszahl der Verbandsstaaten grafisch dar, so nimmt sich Englands Kolonne neben den anderen Staaten aus wie ein New-Yorker Wolkenkratzer gegenüber gewöhnlichen Häusern.“9 In Bezug auf die Zahl der geistigen Werke, Geistesschaffenden und Verleger, die durch die Berner Übereinkunft geschützt wurden, war das englische Übergewicht zweifellos weniger krass. Mit seiner Bemerkung über die zahlenmäßige Dominanz des britischen Imperiums und mit dem Bild des amerikanischen Wolkenkratzers wies Röthlisberger auf eine Stärke und auf ein Defizit der Berner Union hin. Die Stärke bestand in der weltweiten Verbreitung und Attraktivität des Konzepts des geistigen Eigentums, das im 20. Jahrhundert verfeinert, auf neue Autorengruppen und Medien ausgedehnt und mithilfe von Verwertungsgesellschaften effizienter gemacht wurde. Bis in die Zwischenkriegszeit traten zahlreiche weitere Länder der Berner Union bei. Die Schwäche der Berner Union bestand zum einen im Fernbleiben der USA, die im 19. Jahrhundert als Importeur kultureller Güter die geistigen Eigentumsrechte der Europäer vielfach ignorierten und im 20. Jahrhundert zum großen Konkurrenten wurden, sich aber bis Ende der 1980er Jahre nicht einbinden ließen. Zum anderen bestand sie darin, dass die in der Berner Union zusammengeschlossenen kulturexportierenden Staaten und Imperien mithilfe ihrer internationalen Organisation nicht nur Druck auf die so genannten Piratenstaaten ausübten, sondern auch auf die Kolonien. Dort formierte sich im 20. Jahrhundert ein Gegendiskurs zur Emanzipations- und Freiheitserzählung des geistigen Eigentums; nämlich der Diskurs der Entrechtung, Unterdrückung und Ausbeutung der wirtschaftlich ärmeren Nationen und Großregionen. Diese monierten, dass die reichen Länder ihnen mithilfe des geistigen Eigentumsrechts den Zugang zu Wissen und bestimmten kulturellen Hervorbringungen erschwerten oder gar verunmöglichten. In vielen Fällen seien zudem ihre kollektiven kulturellen Rechte ignoriert und von den Ausländern mithilfe des privaten geistigen Eigentumsrechts angeeignet worden. —————— 8 9
Kornicki, Peter, The book in Japan. A cultural history from the beginning to the nineteenth century, Honolulu 2001, S. 225-251. Röthlisberger, Fritz, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst und die Zusatzabkommen. Geschichtlich und rechtlich beleuchtet und kommentiert von Prof. Ernst Röthlisberger, Bern 1906, S. 20.
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Quelle Nr. 1.6 Die Berner Übereinkunft von 1886 zur Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst
Quelle Nr. 1.6a Botschaft des Schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die internationale Konvention zum Schutz der literarischen und künstlerischen Werke vom 19. November 188610 In unseren Zeiten begnügt man sich nicht mehr mit den literarischen und künstlerischen Werken, die im eigenen Lande produziert werden. Der Horizont hat sich ausgedehnt: der Mensch will, was unter anderem Himmel, durch andere Völker entsteht, kennen und verstehen und seinen geistigen Besitz durch das Beste, was die Menschheit in dieser Beziehung hervorbringt, bereichern. Diese Tendenz hat bewirkt, dass die Werke des Geistes gegenwärtig berufen sind, die ästhetischen Bedürfnisse der gebildeten Klassen in einem viel größeren Umfange zu befriedigen, als der ist, in welchem sie durch die nationalen Gesetze beschützt sind. Die Länder, in welchen die literarische Produktion am größten ist, haben dieser Tatsache Rechnung getragen und Konventionen geschlossen, durch welche ihren Staatsangehörigen gegenseitig ein mehr oder weniger weitgehender Schutz auch jenseits der Grenze ihres Landes zugesichert wird. Aber der so gewährte Schutz ging verschieden weit, je nach den Konventionen; gewöhnlich war er, was das Übersetzungsrecht – in bezug auf die Internationalität ein Gebiet von der größten Wichtigkeit – anbetrifft, sehr beschränkt und der Erfüllung gewisser, den Urheber belästigenden Formalitäten unterworfen. Außerdem waren verschiedene dieser Konventionen mit Handelsverträgen verbunden, mit denen sie die Unbeständigkeit teilten. Alles das erregte bei den Urhebern den Wunsch nach einer allgemeinen Konvention mit permanentem Charakter, durch welche die zu erfüllenden Bedingungen so viel als möglich vereinfacht und der zugesicherte Schutz ausgedehnter würden, als diese durch die einzelnen Konventionen geschehen konnte. […]
Quelle Nr. 1.6b Übereinkunft, betreffend die Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst vom 9. September 188611 [Die Staatsoberhäupter des Deutschen Reiches, Belgiens, Spaniens, Frankreichs, Großbritanniens, Haitis, Italiens, Liberias, der Schweiz und Tunesiens] gleichmäßig von dem Wunsche beseelt, in wirksamer und möglichst gleichmäßiger Weise das Urheberrecht an Werken der Literatur und
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Botschaft des Schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die internationale Konvention zum Schutz der literarischen und künstlerischen Werke vom 19.11.1886, zit. n. Püschel, Heinz, 100 Jahre Berner Union. Gedanken, Dokumente, Erinnerungen, Leipzig 1986, S. 131-136, hier S. 131f. Das Dokument ist mehrfach publiziert worden, so in Püschel (wie Anm. 10), S. 125-131. Die ungekürzte deutsche und französische Fassung findet sich in Röthlisberger, Fritz, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst und die Zusatzabkommen. Geschichtlich und rechtlich beleuchtet und kommentiert von Prof. Ernst Röthlisberger, Bern 1906, S. 322-329.
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Kunst zu schützen, haben den Abschluss einer Übereinkunft zu diesem Zweck beschlossen und zu ihren Bevollmächtigten ernannt, nämlich […] Artikel 1: Die vertragschliessenden Länder bilden einen Verband zum Schutze des Urheberrechts an Werken der Literatur und Kunst. Artikel 2: Die einem der Verbandsländer angehörigen Urheber oder ihre Rechtsnachfolger genießen in den übrigen Ländern für ihre Werke, und zwar sowohl für die in einem der Verbandsländer veröffentlichten, als für die überhaupt nicht veröffentlichten, diejenigen Rechte, welche die betreffenden Gesetze den inländischen Urhebern gegenwärtig einräumen oder in Zukunft einräumen werden. Der Genuss dieser Rechte ist von der Erfüllung der Bedingungen und Förmlichkeiten abhängig, welche durch die Gesetzgebung des Ursprungslandes des Werkes vorgeschrieben sind; derselbe kann in den übrigen Ländern die Dauer des in dem Ursprungslande gewährten Schutzes nicht übersteigen. Als Ursprungsland des Werkes wird dasjenige angesehen, in welchem die erste Veröffentlichung erfolgt ist, oder wenn diese Veröffentlichung gleichzeitig in mehreren Verbandsländern stattgefunden hat, dasjenige unter ihnen, dessen Gesetzgebung die kürzeste Schutzfrist gewährt. […] Artikel 4: Der Ausdruck „Werke der Literatur und Kunst“ umfasst Bücher, Broschüren und alle anderen Schriftwerke; dramatische und dramatisch-musikalische Werke, musikalische Kompositionen mit oder ohne Text; Werke der zeichnenden Kunst, der Malerei, der Bildhauerei; Stiche, Lithographien, Illustrationen, geographische Karten; geographische, topographische, architektonische oder sonstige wissenschaftliche Pläne, Skizzen und Darstellungen plastischer Art; überhaupt jedes Erzeugnis aus dem Bereich der Literatur, Wissenschaft oder Kunst, welches im Wege des Drucks oder sonstiger Vervielfältigung veröffentlicht werden kann. Artikel 5: Den einem Verbandslande angehörigen Urhebern oder ihren Rechtsnachfolgern steht in den übrigen Ländern, bis zum Ablauf von zehn Jahren, von der Veröffentlichung des Originalwerks in einem der Verbandsländer an gerechnet, das ausschließliche Recht zu, ihre Werke zu übersetzen oder die Übersetzung derselben zu gestatten. […] Artikel 6: Rechtmässige Übersetzungen werden wie Originalwerke geschützt. Sie genießen demzufolge rücksichtlich ihrer unbefugten Vervielfältigung in den Verbandsländern den in den Artikeln 2 und 3 festgelegten Schutz. Wenn es sich indessen um ein Werk handelt, betreffs dessen das Recht zur Übersetzung allgemein freisteht, so steht dem Urheber kein Einspruch gegen die Übersetzung des Werkes durch andere Schriftsteller zu. Artikel 7: Artikel, welche in einem Verbandslande in Zeitungen oder periodischen Zeitschriften veröffentlicht sind, können im Original oder in Übersetzung in den übrigen Verbandsländern abgedruckt werden, falls nicht die Urheber oder Herausgeber den Abdruck ausdrücklich untersagt haben. Bei Zeitschriften genügt es, wenn das Verbot allgemein an der Spitze einer jeden Nummer der Zeitschrift ausgesprochen ist. Dies Verbot soll jedoch bei Artikeln politischen Inhalts oder bei dem Abdruck von Tagesneuigkeiten und „vermischten Nachrichten“ keine Anwendung finden. Artikel 8: Bezüglich der Befugnis, Auszüge oder Stücke aus Werken der Literatur und Kunst in Veröffentlichungen, welche für den Unterricht bestimmt oder wissenschaftlicher Natur sind, oder in Chrestomathien aufzunehmen, sollen die Gesetzgebungen der einzelnen Verbandsländer und die zwischen ihnen bestehenden oder in Zukunft abzuschließenden besonderen Abkommen maßgebend sein. Artikel 9: Die Bestimmungen des Artikels 2 finden auf die öffentliche Aufführung dramatischer oder dramatisch-musikalischer Werke Anwendung, gleichviel, ob diese Werke veröffentlicht sind oder nicht. […]
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Literatur Cavalli, Jean, La genèse de la Convention de Berne pour la protection des œuvres littéraires et artistiques du 9 septembre 1886, Lausanne 1986 Geller, Paul Edward, Copyright history and the future. What’s culture got to do with it?, in: Journal of the Copyright Society of the USA, 47 (2000), S. 209-264 Püschel, Heinz, 100 Jahre Berner Union. Gedanken, Dokumente, Erinnerungen, Leipzig 1986 Röthlisberger, Fritz, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst und die Zusatzabkommen. Geschichtlich und rechtlich beleuchtet und kommentiert von Prof. Ernst Röthlisberger, Bern 1906 Siegrist, Hannes, Geschichte und aktuelle Probleme des geistigen Eigentums (1600-2000), in: Zerdick, Axel u.a. (Hg.), E-merging Media. Digitalisierung der Medienwirtschaft, Heidelberg 2003, S. 313-332 Wadle, Elmar, Entwicklungsschritte des geistigen Eigentums in Frankreich und Deutschland. Eine vergleichende Studie, in: Siegrist, Hannes; Sugarman, David (Hg.), Eigentum im internationalen Vergleich (18. - 20. Jahrhundert), Göttingen 1999, S. 243-261
STÄDTE DER MODERNE1 Von Elfi Bendikat Die Entwicklung der Stadt, und vor allem die der Großstadt, spielt in der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts eine wichtige Rolle. Viele Sozialhistoriker bezogen sich in ihren Überlegungen zur europäischen Stadtgeschichte auf die kultursoziologischen Reflexionen des Philosophen und Soziologen Georg Simmel. Simmels 1903 veröffentlichter Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ kann inzwischen als Grundlagentext der Stadtsoziologie gelten, auf ihn beziehen sich inzwischen alle, die sich mit den sozialen Auswirkungen der Urbanisierung befassen.2 Georg Simmel, 1858 in Berlin geboren und 1918 in Straßburg verstorben, errang als Begründer der formalen Soziologie den Status eines soziologischen Klassikers, wenngleich die Schriften des Neukantianers erst in den 1960er/70er Jahren und schließlich im Rahmen der Gesamtausgabe seiner Schriften seit Ende der 1980er Jahre eine Renaissance erfuhren.3 Simmel verbrachte einen Großteil seines Lebens in Berlin, wo er aufwuchs, studierte und schließlich als Privatdozent lehrte und wo auch seine Veröffentlichungen zu zentralen Themen der Soziologie entstanden, etwa zur sozialen Differenzierung (1890), zur Moralwissenschaft (1892-1893), zur Geschichtsphilosophie (1892) zur Philosophie des Geldes (1900), zu den Philosophen Kant (1904), Schopenhauer und Nietzsche (1908) sowie zur Stadt und zum Raum (1903). Erst im Jahr 1914 erhielt Simmel eine ordentliche Professur an der Universität Straßburg. Simmels Berliner Jahre beeinflussten zweifellos die Genese und Konzeption seiner Reflexionen zur zeitgenössischen Stadt, mit der er sich im Übrigen auch im Unterschied zu Max Weber und Werner Sombart auseinander setzte. Simmel wurde 1858 im Stadtzentrum nahe der Friedrichstraße geboren und erlebte über fünf Jahrzehnte hinweg die Industrialisierung mit dem damit einhergehenden explosionsartigen Anwachsen der Stadtbevölkerung. Hinzu kam die Technisierung städtischen Lebens, die städtebauliche Expansion, die Citybildung und nicht zuletzt auch die Konstruktion der kulturellen Symbolfunktion Berlins, dem nun auch eine zunehmend wichtiger werdende Rolle innerhalb der Nation zukommen sollte. Besonders seit der Reichsgründung 1871 durchlief die Hauptstadt einen Entwicklungssprung, der viele Zeitgenossen dazu bewegte, von einer „amerikanischen“ Entwicklung zu sprechen. So stieg etwa die Einwohnerzahl in der Zeit von 1871 bis 1912 um 152 Prozent an, wobei die höchsten Wachstumsraten in die Zeit vor 1890 fielen. Im Jahr 1900 hatte die Stadt 1,8 Millionen Einwohner. Ein weiterer prägender Faktor für das städtische Lebensgefühl wurden die modernen technischen Versorgungseinrichtungen wie der öffentliche Nahverkehr und die Mitte der 1880er Jahre einsetzende Elektrifizierung. Im Zuge der Citybildung schwand die inner—————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 1.7, Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903). Vgl. Quelle Nr. 1.7. Simmel, Georg, Gesamtausgabe, hg. von Otthein Rammstedt, 24 Bde., Frankfurt am Main 1989ff. (bisher 19 Bde. erschienen).
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städtische Wohnbevölkerung, dominierten kommerzielle Nutzungen, repräsentative Bauten und ein hohes Verkehrsaufkommen. Besonders die Friedrichstraße und die Leipziger Straße wurden in wilhelminischer Zeit zu modernen Kauf- und Verkehrsstraßen, die Gegend um die Straße „Unter den Linden“ zum Zentrum des Bankenwesens. Verkehrsakkumulation, Menschenmassen und Tempo waren die Kennzeichen dieser neuen Berliner City. Trotz dieses Entwicklungssprungs blieb Berlin jedoch bis zum Ersten Weltkrieg im Vergleich mit Paris und London ein „Parvenü“, der sich erst im Rahmen der wilhelminischen Weltpolitik als „europäische Hauptstadt“ bezeichnen sollte. Die unübersehbare Berliner Nachzüglerrolle verlieh seiner urbanen Präsentation stets etwas Unausgewogenes, ein Spannungsverhältnis, das auch in Simmels Überlegungen deutlich wird. Vor diesem biografischen Hintergrund betrachtet gewinnen Simmels Überlegungen eine zusätzliche Plausibilität. Simmels Essay „Die Großstädte und das Geistesleben“ von 1903 ist die überarbeite Version eines Vortrages von ursprünglich 21 Seiten, den Simmel vor der Gehe-Stiftung in Dresden hielt. Die Gedanken des Vortrags wurden später unter anderem von Louis Wirth aufgegriffen, dem Mitbegründer der amerikanischen stadtsoziologischen „Chicago-Schule“. Wirth wies Simmels Aufsatz eine wegweisende Bedeutung zu. An Simmels Überlegungen anknüpfend vertrat Wirth 1925 die Auffassung, in der Großstadt werde eine neue Zivilisation geboren.4 In seinem Essay erörtert Simmel die Hauptmerkmale des Großstadtlebens sowohl aus kultursoziologischer wie auch aus psychologischer Perspektive. Er changiert dabei zwischen beiden Perspektiven, wobei die psychologische Perspektive ihm auch insoweit vertraut war, als die Psychologie um die Jahrhundertwende einen integralen Bestandteil der Philosophie darstellte. Die mentalen Prägungen des Großstadtlebens bilden daher auch einen Erörterungskomplex innerhalb des Essays, in dem Simmel auf insgesamt vier Prägungen des Großstadtlebens eingeht. Am häufigsten wird zunächst die für das großstädtische Individuum charakteristische neue „Steigerung des Nervenlebens“ angesprochen. Die Ursachen für die im Kaiserreich von zahlreichen Schriftstellern und Ärzten diagnostizierte Nervosität lag Simmels Ansicht nach in der Vielzahl und Vielfalt der Sinneseindrücke, in der Komplexität des Lebens und im schnellen Lebensrhythmus.5 Diese Herausforderungen stellten für Simmel ein wesentliches Merkmal des Unterschiedes zwischen Großstadt und Kleinstadt bzw. dem Landleben dar. Letztere bilden für Simmel als „traditionelle“ Lebensformen und Orte ursprünglicher Gemeinschaftsform den Vergleichsmaßstab. Im engeren Sinne war jedoch das im „langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus“ ablaufende Leben in der Kleinstadt sein Orientierungspunkt. Die zweite Prägung des Großstadtlebens bezieht sich auf Persönlichkeitsmuster wie Intellektualität und „Blasiertheit“. Der damit einhergehenden unpersönlichen Solidarität hält Simmel die Konstruktion von emotionaler Gemeinschaftlichkeit und Empathie in der Kleinstadt entgegen. In seinen Ausführungen zur „Blasiertheit“ schlägt Simmel dann allerdings die Brücke zu einer soziologischen Per—————— 4 5
Park, Robert E.; Burgess, Ernest W.; MacKenzie, Roderick D., The City, Chicago 1925; Wirth, Louis, Urbanität als Lebensform, in: Herlyn, Ulfert (Hg.), Stadt- und Sozialstruktur, München 1974, S. 42-66. Vgl. Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.
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spektive: Die Großstadt als Ort der Geldwirtschaft erzeugt mit dem Konsum die „Blasiertheit“, die sich allerdings nur Wohlhabende leisten konnten. Dessen ungeachtet verallgemeinerte er diese Geisteshaltung zu einem allgemeinen großstädtischen Persönlichkeitsmuster, was darauf schließen lässt, dass sich Simmels Wahrnehmungshorizont selektiv auf die großbürgerlichen Berliner Bezirke wie das Westend konzentrierte. Darüber hinaus bündeln sich für Simmel in dieser Geisteshaltung auch so gegensätzliche Einstellungen wie distanzierte Gleichgültigkeit und Aversion, physische Bedrängnis und persönliche Freiheit, Nähe und Anonymität. Die Koexistenz, die im Zusammenleben zwischen den einzelnen Großstädtern besteht, ist dadurch drittens, von einer prekären Balance geprägt. Die vierte dazugehörige gesellschaftspolitische Prägung umfasst Toleranz und Kosmopolitismus. Diese würde allerdings nicht von selbst entstehen, sondern könne sich erst aus einem sozialen Raum der Gleichgültigkeit heraus entwickeln. Simmels (kultur-)soziologische Perspektive kommt in seinen Erörterungen zur Geldwirtschaft, zum Wettbewerb sowie zur Arbeitsteilung zum Tragen, deren Sitz die Großstädte traditionell sind. Wie er hauptsächlich in seiner „Philosophie des Geldes“ (1900) entwickelte, werden über das Medium Geld zunächst sachlich-unpersönliche Beziehungen vermittelt. In der Herrschaft des Geldes sieht Simmel die Entstehung einer Kluft zwischen „objektiver“ und „subjektiver Kultur“. Dies bedeutet auch, dass sich der in traditionellen Lebensformen erlebte soziale Zusammenhang der Menschen zugunsten einer versachlichten Abhängigkeit aufgelöst hat. Aus der Tatsache, dass die Kultur des Zweckhaften ein Übergewicht über die subjektive Kultur gewonnen hat, erklärt er die Dissonanzen des modernen Lebens. Der Großstädter ist zwar kultiviert, das Individuum ist psychisch-mental jedoch nicht im selben Verhältnis fortgeschritten, vielfach sogar zurückgeblieben. Zusätzlich gefördert werden diese Dissonanzen von einem naturwissenschaftlich und technisch geprägten Leben. Als Symbol hierfür können die modernen Verkehrsmittel stehen. Zusammenfassend wird deutlich, dass Simmel in der Großstadt gleichzeitig sowohl einen Prozess sowie zugleich auch Ursache und Wirkung sieht. Seine kontrastiven Erörterungen lassen diese Ambiguität der modernen Großstadt durchscheinen: Einerseits war Simmel fasziniert von der technischen Modernität, der individuellen Freiheit und dem Reichtum an Impressionen, andererseits verunsicherten ihn jedoch der rasche soziale Wandel, die sozialen Konflikte und die Erfahrung sozialer Isolation. An den Stellen, wo er auf Menschenmassen, Gedränge, Kontraste und Hektik Bezug nimmt, erscheint die Großstadt gleichsam als „soziales Pulverfass“. Die Straßen in der Berliner City, wo der Verkehr den städtischen Straßenraum stark in Anspruch zu nehmen begann, stehen symbolhaft für diese Entwicklung. Gleichzeitig sind die Großstädte andererseits ein für Europa typischer Ort exemplarischer sozialer Erfahrung, der – wie der letzte Satz der Quelle impliziert – als neuer Modus von Vergesellschaftung verstanden werden muss. Simmels Essay gibt Einblick in sein facettenreiches Denken. Deutlich werden aber auch der fragmentarische und heterogene Charakter seiner Arbeiten sowie das Fehlen eines systematischen Ansatzes. Seine Fragestellungen und Zugriffe wechseln häufig. Einzelne Phänomene werden gleichsam phänomenologisch umkreist. Allerdings scheint eine einheitliche, konsistente Theorie auch nicht beabsichtigt zu sein. Nichtsdestotrotz reichern seine fragmentarischen kultursoziologischen und lebensphilosophischen Reflexionen die stadtsoziologische und -historische Perspektive bedeutend an, was auch letztlich die Wirkungskraft seiner Texte erklärt.
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Quelle Nr. 1.7 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben (1903)6 Die psychologische Grundlage, auf der der Typus großstädtischer Individualitäten sich erhebt, ist die Steigerung des Nervenlebens, die aus dem raschen und ununterbrochenen Wechsel äußerer und innerer Eindrücke hervorgeht. [...] Indem die Großstadt gerade diese psychologischen Bedingungen schafft – mit jedem Gang über die Straße, mit dem Tempo und den Mannigfaltigkeiten des wirtschaftlichen, beruflichen, gesellschaftlichen Lebens – stiftet sie schon in den sinnlichen Fundamenten des Seelenlebens, in dem Bewußtseinsquantum, das sie uns wegen unserer Organisation als Unterschiedswesen abfordert, einen tiefen Gegensatz gegen die Kleinstadt und das Landleben, mit dem langsameren, gewohnteren, gleichmäßiger fließenden Rhythmus ihres sinnlich-geistigen Lebensbildes. Daraus wird vor allem der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens begreiflich, gegenüber dem kleinstädtischen, das vielmehr auf das Gemüt und gefühlsmäßige Beziehungen gestellt ist. [...] So schafft der Typus des Großstädters, – der natürlich von tausend individuellen Modifikationen umspielt ist – sich ein Schutzorgan gegen die Entwurzelung, mit der die Strömungen und Diskrepanzen seines äußeren Milieus ihn bedrohen: statt mit dem Gemüte reagiert er auf diese im wesentlichen mit dem Verstande, dem die Steigerung des Bewußtseins, wie dieselbe Ursache sie erzeugte, die seelische Prärogative verschafft; damit ist die Reaktion auf jene Erscheinungen in das am wenigsten empfindliche, von den Tiefen der Persönlichkeit am weitesten abstehende psychische Organ verlegt. [...] Die Großstädte sind von jeher die Sitze der Geldwirtschaft gewesen, weil die Mannigfaltigkeit und Zusammendrängung des wirtschaftlichen Austausches dem Tauschmittel eine Wichtigkeit verschafft, zu der es bei der Spärlichkeit des ländlichen Tauschverkehrs nicht gekommen wäre. [...] Die moderne Großstadt aber nährt sich fast vollständig von der Produktion für den Markt, d. h. für völlig unbekannte, nie in den Gesichtskreis des eigentlichen Produzenten tretende Abnehmer. Dadurch bekommt das Interesse beider Parteien eine unbarmherzige Sachlichkeit, ihr verstandesmäßig rechnender wirtschaftlicher Egoismus hat keine Ablenkung durch die Imponderabilien persönlicher Beziehungen zu fürchten. [...] [S. 188-190] An einem scheinbar unbedeutenden Zuge auf der Oberfläche des Lebens vereinigen sich, nicht wenig charakteristisch, dieselben seelischen Strömungen. Der moderne Geist ist mehr und mehr ein rechnender geworden. Dem Ideale der Naturwissenschaft, die Welt in ein Rechenexempel zu verwandeln, jeden Teil ihrer mathematischen Formeln festzulegen, entspricht die rechnerische Exaktheit des praktischen Lebens, die ihm die Geldwirtschaft gebracht hat; sie erst hat den Tag so vieler Menschen mit Abwägen, Rechnen, zahlenmäßigerem Bestimmen, Reduzieren qualitativer Werte auf quantitative ausgefüllt. [...] Es sind aber die Bedingungen der Großstadt, die für diesen Wesenzug so Ursache wie Wirkung sind. Die Beziehungen und Angelegenheiten des typischen Großstädters pflegen so mannigfaltige und komplizierte zu sein, vor allem: durch die Anhäufung so vieler Menschen mit so differenzierten Interessen greifen ihre Beziehungen und Betätigungen zu einem so vielgliedrigen Organismus ineinander, dass ohne die genaueste Pünktlichkeit in Versprechungen und Leistungen das Ganze zu einem unentwirrbaren Chaos zusammenbrechen würde. [...] Dazu kommt, scheinbar noch äußerlicher, die Größe der Entfernungen, die alles Warten und Vergebenskommen zu einem gar nicht aufzubringenden Zeitaufwand machen. So ist die Technik des großstädtischen Lebens überhaupt nicht denkbar, ohne daß alle Tätigkeiten und Wechselbeziehungen aufs pünktlichste in ein festes, übersubjektives Zeitschema eingeordnet würden. [...] [S. 191-192]
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Auszüge aus: Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: Die Großstadt. Vorträge und Aufsätze zur Städteausstellung. Jahrbuch der Gehe-Stiftung zu Dresden, hg. von Theodor Petermann, Bd. 9, Dresden 1903, S. 185-206, hier: S. 188-196; 199-205.
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Dieselben Faktoren, die so in der Exaktheit und minutenhaften Präzision der Lebensform zu einem Gebilde von höchster Unpersönlichkeit zusammengeronnen sind, wirken andrerseits auf ein höchst persönliches hin. Es gibt vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt vorzubehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize, aus denen uns auch die Steigerung der großstädtischen Intellektualität hervorzugehen schien; weshalb denn auch dumme und von vornherein geistig unlebendige Menschen nicht gerade blasiert zu sein pflegen. [...] Die so entstehende Unfähigkeit, auf neue Reize mit der ihnen angemessenen Energie zu reagieren, ist eben jene Blasiertheit, die eigentlich schon jedes Kind der Großstadt im Vergleich mit Kindern ruhigerer und abwechslungsloserer Milieus zeigt. Mit dieser physiologischen Quelle der großstädtischen Blasiertheit vereinigt sich die andere, die in der Geldwirtschaft fließt. [...] [S. 193] Darum sind die Großstädte, die Hauptsitze des Geldverkehrs und in denen die Käuflichkeit der Dinge sich in ganz anderem Umfange aufdrängt, als in kleineren Verhältnissen, auch die eigentlichen Stätten der Blasiertheit. [...] Die ganze innere Organisation eines derartig ausgedehnten Verkehrslebens beruht auf einem äußerst mannigfaltigen Stufenbau von Sympathien, Gleichgültigkeiten und Aversionen der kürzesten wie der dauerndsten Art. [...] [S. 194-195] Diese Reserviertheit mit dem Oberton versteckter Aversion erscheint aber nun wieder als Form oder Gewand eines viel allgemeineren Geisteswesens der Großstadt. [...] Denn die gegenseitige Reserve und Indifferenz, die geistigen Lebensbedingungen großer Kreise, werden in ihrem Erfolg für die Unabhängigkeit des Individuums nie stärker gefühlt, als in dem dichtesten Gewühl der Großstadt, weil die körperliche Nähe und Enge die geistige Distanz erst recht anschaulich macht; es ist offenbar nur der Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl; denn hier wie sonst ist es keineswegs notwendig, daß die Freiheit des Menschen sich in seinem Gefühlsleben als Wohlbefinden spiegele. Es ist nicht nur die unmittelbare Größe von Bezirk und Menschenzahl, die, wegen der weltgeschichtlichen Korrelation zwischen der Vergrößerung des Kreises und der persönlichen, innerlichäußerlichen Freiheit, die Großstadt zum Sitz der letzteren macht, sondern über diese anschauliche Weite noch hinausgreifend, sind die Großstädte auch die Sitze des Kosmopolitismus gewesen. [...] [S. 196-199] Damit gewinnen sie [die Großstädte; E. B.] einen ganz einigen, an unübersehbaren Bedeutungen fruchtbaren Platz in der Entwicklung des seelischen Daseins, sie enthüllen sich als eines jener großen historischen Gebilde, in denen sich die entgegengesetzten, das Leben umfassenden Strömungen wie zu gleichen Rechten zusammenfinden und entfalten. [...] [S. 205]
Literatur Bendikat, Elfi, Die Idee der „europäischen Stadt“. Reflexionen zur Stadtgestaltung in Deutschland und Frankreich im ausgehenden 19. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, in: Kaelble, Hartmut; Schriewer, Jürgen (Hg.), Gesellschaften im Vergleich, Frankfurt am Main 1998, S. 431-462 Benevolo, Leonardo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, München 1993 Kaelble, Hartmut, Die Besonderheiten der europäischen Stadt im 20. Jahrhundert, in: Leviathan, 29 (2001), S. 256-274 Radkau, Joachim, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998 White, Paul, The West European city. A social geography, London 1984
MAX WEBERS ANALYSE DES EUROPÄISCHEN KAPITALISMUS1 Von Hinnerk Bruhns In seinen Vorlesungen zur „universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte“2 im Winter 1919/20 hat Max Weber auf eine Reihe von insbesondere demografischen, historischen und geografischen Faktoren hingewiesen, die es im Lichte zeitgenössischer Kapitalismustheorien hätten erwarten lassen müssen, dass der moderne Kapitalismus eher in China als in Europa entstehen würde. In seinen Studien zum Konfuzianismus und Taoismus, und analog in jenen zum Hinduismus und Buddhismus, hat Weber die chinesische und indische Sozialordnung unter diesen und anderen Gesichtspunkten analysiert. Den entscheidenden Unterschied zur europäischen Entwicklung macht er an dem Gegensatz zwischen der orientalischen und der okzidentalen Stadt fest, und das hieß in diesem Zusammenhang, an dem Entstehen oder Nichtentstehen eines Stadtbürgertums, welches rationale wirtschaftliche Organisations- und Betriebsformen und ein – im Folgenden noch weiter zu erläuterndes – rationales Wirtschaftsverhalten entwickelte. Dies ist, verkürzt gesprochen, der erste Schritt der Untersuchungen der Wirtschaftsethik der Weltreligionen.3 Der zweite Schritt betrifft das, was Weber als den kulturgeschichtlichen Unterschied der Rationalisierung in verschiedenen Kulturkreisen bezeichnet, die Frage nämlich, „welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden.“4 Auf das Problem des modernen Kapitalismus bezogen, ging es dabei um die Frage, welche Faktoren, neben dem Vorhandensein von rationaler Technik und rationalem Recht, die Menschen dazu befähigt und in die Lage versetzt hatten, eine diesem besonderen Kapitalismus angemessene und ihn befördernde Art „praktisch-rationaler Lebensführung“ zu entwickeln. Hier nun bringt Weber die Möglichkeit von „Hemmungen [oder aber positiven Anstößen] seelischer Art“ ins Spiel.5 Auf diesem Gebiet, nicht auf dem kirchlicher Doktrinen oder religiöser Verhaltensanweisungen, sucht er einen kausalen Zusammenhang zwischen religiösen und wirtschaftlichen Systemen, da, wie er schreibt, „in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen“ zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung gehörten.6 Dies ist, nach der Untersuchung der politischen, —————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 1.8, Max Webers „Vorbemerkung“ zu seinen Aufsätzen zur Religionssoziologie (1920). Weber, Max, Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, aus den nachgelassenen Vorlesungen herausgegeben von Sigmund Hellman und Melchior Palyi [1. Aufl. 1923], 3. durchgesehene und ergänzte Auflage besorgt von Johannes F. Winckelmann, Berlin 1958, hier zit. n. der 5. unveränderten Auflage, Berlin 1991. Dies ist der Obertitel zu Webers Schriften zum Konfuzianismus und Taoismus, Hinduismus und Buddhismus sowie zum antiken Judentum. Vgl. unten Anm. 11. Weber, Max, Vorbemerkung, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie [= GARS], Bd. 1, Tübingen 1920, S. 1-16, Zitat von S. 12; vgl. den nachstehenden Quellenauszug Nr. 1.8. Ebd. Ebd.
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wirtschaftlichen, finanztechnischen, rechtlichen oder religiösen Organisationsformen und ihrer Rationalisierung, das große Thema der Schriften, in die auch die im Folgenden in Auszügen abgedruckte „Vorbemerkung“ einleitet. In seiner glanzvollen idealtypischen Gegenüberstellung des Rationalismus von puritanischer und konfuzianischer Lebensführung bringt Weber seine These auf einen Punkt: Rückte die puritanische Ethik die Dinge der Erde in den Zusammenhang einer gewaltigen und pathetischen Spannung gegenüber der „Welt“, so reduzierte der Konfuzianismus die Spannung gegen die Welt auf ein absolutes Minimum, sowohl ihre religiöse Entwertung wie ihre praktische Ablehnung. Aus der Beziehung zum überweltlichen Gott und zur kreatürlich verderbten ethisch irrationalen Welt folgte im Puritanismus, im vollständigen Gegensatz zum Konfuzianismus, „die absolute Unheiligkeit der Tradition und die absolut unendliche Aufgabe immer erneuter Arbeit an der ethisch rationalen Bewältigung und Beherrschung der gegebenen Welt: die rationale Sachlichkeit des ‚Fortschritts’.“7 Weber bringt den Grundunterschied der beiden Arten von Rationalismus so auf die klare Formel: „Der konfuzianische Rationalismus bedeutete rationale Anpassung an die Welt, der puritanische Rationalismus: rationale Beherrschung der Welt.“8 Das aber bedeutete, dass kein Weg vom Konfuzianismus und seiner Ethik zu einer bürgerlichen Lebensmethodik in dem Sinne führte, wie sie der Puritanismus – durchaus gegen seinen Willen – geschaffen habe.9 Noch im letzten Satz seiner Studie über die Wirtschaftsethik des Konfuzianismus erinnert Weber daran, dass religiöse oder ethische Einstellungen oder Gesinnungen, und die durch sie bestimmten praktischen Stellungnahmen zur Welt aus einer doppelten Perspektive zu betrachten seien: einerseits, im Hinblick auf ihre Determinierung, durch „politische und ökonomische Schicksale“, andererseits im Hinblick auf die „ihren Eigengesetzlichkeiten zuzurechnenden Wirkungen“, auf ökonomische und soziale Entwicklungen.10 Die kurze, nur knapp 16 Seiten umfassende „Vorbemerkung“, der die nachstehenden Auszüge entnommen sind, ist der wohl letzte Text, den Max Weber (1864-1920) noch eigenhändig redigiert hat, bevor er am 14. Juni 1920 im Alter von nur 56 Jahren starb. Unter dem bescheidenen Titel „Vorbemerkung“ hat Weber ihn an den Anfang seiner Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie gestellt, deren erster Band im November 1920 erschien. Der zweite und dritte Band folgten im Januar und Februar 1921. Diese drei Bände beinhalten, in teilweise stark überarbeiteten Fassungen, Webers hauptsächliche Schriften zum Verhältnis von Ökonomie und Religion, die er in zwei Schaffensperioden, 1904 bis 1905 und dann zwischen 1915 und 1919, im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik veröffentlicht hatte.11 Die drei Bände vereinen mithin —————— 7
Weber, Max, Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus (Kap. VII: „Resultat: Konfuzianismus und Protestantismus“), in: Weber, GARS (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 514 und 527; vgl. Ders., Hinduismus und Taoismus (Kapitel III: „Die asiatische Sekten- und Heilandsreligiosität“), in: Weber, GARS (wie Anm. 4), Tübingen 1921, Bd. 2, S. 365f. 8 Vgl. Weber, GARS (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 534. 9 Vgl. Weber, GARS (wie Anm. 4), Bd.1, S. 524 sowie Bd. 2, S. 371. 10 Vgl. Weber, GARS (wie Anm. 4), Bd. 1, S. 536; sowie Bd. 2, S. 375. 11 Band 1 der GARS (wie Anm. 4) umfasst: „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“; „Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus“; „Die Wirtschaftsethik der
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zwei unterschiedliche Textcorpora: Zunächst Max Webers berühmte Studie „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, die zuerst in zwei Teilen 1904 und 1905 erschien und um eine aus dem Jahr 1906 stammende Untersuchung über die protestantischen Sekten in Amerika ergänzt wurde. Zwar legte Weber im Jahre 1920 nun eine stark überarbeitete Fassung seiner Protestantischen Ethik vor, aber die Grundstruktur des Aufsatzes blieb unverändert: Im Zentrum steht die Frage, wie im Gefolge der durch die Reformation ausgelösten religiösen Entwicklung bestimmte, im religiösen Glauben verankerte ethische Pflichtvorstellungen die praktische Lebensführung, und damit auch das Wirtschaftsverhalten der Menschen beeinflusst haben mochten. Verkürzt gesagt ging es also um die Frage, inwieweit bestimmte Formen des Protestantismus zur Entstehung und Verbreitung des Kapitalismus beigetragen hatten. Die These freilich, dass es hier einen ursächlichen Zusammenhang gab, war zu Beginn des 20. Jahrhunderts keineswegs neu. Völlig neu jedoch war Webers Begründung der Natur dieses Zusammenhangs, denn Weber rückte die „Berufsethik des asketischen Protestantismus“ in das Zentrum seiner Darlegungen. Diese drückt „die Wertung auch der auf rationaler Grundlage erfolgenden kapitalistischen Erwerbstätigkeit als Erfüllung einer gottgewollten Aufgabe aus.“12 Die bewusst einseitige, das heißt einen Teilaspekt des Gesamtzusammenhangs von Wirtschaft und Religion isolierende Untersuchung aus den Jahren 1904/1905 hat bekanntlich noch bis heute andauernde Missverständnisse hervorgerufen, im Sinne eines direkten, kausalen Zusammenhangs zwischen Protestantismus und Kapitalismus, sowie im Sinne einer idealistischen Geschichtsauffassung. In seinen Untersuchungen über Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen weitet Weber jedoch ab 1912/13 seine Forschungsfrage universalhistorisch vergleichend aus, um von der asiatischen Entwicklung her die Besonderheit der europäischen schärfer fassen zu können. Anders als in der Protestantischen Ethik geht es dabei zunächst ganz zentral um die Analyse der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Strukturen, und die Untersuchung steht unter der von Weber schon 1904, im „Geleitwort“ zum ersten Band der Zeitschrift Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik explizit formulierten Leitfrage der „ökonomischen Bedingtheit der Kulturerscheinungen“.13 Die umgekehrte Frage, immer zu Unrecht als die eigentliche Webersche Frage angesehen, wird erst im Anschluss daran gestellt; auch in der „Vorbemerkung“ formuliert Weber sie, wie die abgedruckte Quelle zeigt, erst am Schluss. Die in den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie versammelten Schriften haben also, bei aller Verschiedenheit, zunächst eine Frage gemeinsam: die nach den Entstehungsbedingungen des modernen rationalen Be—————— Weltreligionen. Vergleichende religionssoziologische Versuche: Einleitung; I. Konfuzianismus und Taoismus; Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung“. [Siehe jetzt: Weber, Max, Gesamtausgabe, Bd. I/19: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoimus, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Petra Kolonko, Tübingen 1989]. Band 2 enthält: „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen: II. Hinduismus und Buddhismus“ [Siehe jetzt: Weber, Max, Gesamtausgabe, Bd. I/20: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Hinduismus und Buddhismus 1916-1920, hg. von Helwig Schmidt-Glintzer in Zusammenarbeit mit Karl-Heinz Golzio, Tübingen 1996]. Band 3 enthält: „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. III. Das antike Judentum“; „Nachtrag. Die Pharisäer“. 12 Weber (wie Anm. 2), S. 313. 13 Jaffé, Edgar; Sombart, Werner; Weber, Max, Geleitwort, in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 19 (1904), S. V.
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triebskapitalismus in Europa. Diese Frage zu verdeutlichen, war Webers Anliegen in der „Vorbemerkung“ und so liefert er hier eine nachträgliche Formulierung seiner leitenden Forschungsfrage. In den Jahren seit der Erstveröffentlichung der Protestantischen Ethik hatte Weber diese Frage in zwei Richtungen über Europa hinaus ausgedehnt: Zum einen nach China, Japan und Indien, indem er nach den Bedingungen und Faktoren forschte, die dort der Entstehung eines modernen Betriebskapitalismus im Wege gestanden hatten, obwohl doch gerade China diesem teilweise sehr viel günstigere Vorbedingungen geboten zu haben schien. Die zweite Richtung führte Weber zurück ins antike Judentum, unter der Frage, welche Bedeutung gewisse Elemente der altjüdischen Religion in der christlichen Kulturwelt für die Rationalisierung bestimmter Lebenssphären gehabt hatten. Zuvor schon hatte er die Frage nach der Entstehung des modernen Kapitalismus auf die vorderorientalische und die griechisch-römische Antike ausgeweitet (Agrarverhältnisse im Altertum (1909), Die Stadt (1913/1914, posthum erschienen 1921).14 Das Ergebnis all dieser Untersuchungen hat Weber in einem Satz zusammengefasst: „Als Resultat ergibt sich also die eigentümliche Tatsache: Die Keime des modernen Kapitalismus müssen in einem Gebiet gesucht werden, wo offiziell eine von den orientalischen und antiken verschiedene, durchaus kapitalfeindliche Wirtschaftstheorie geherrscht hat.“15 Die „Vorbemerkung“ beginnt mit folgendem berühmten Satz: „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicherund berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ Unter diesen nur im Okzident vorkommenden Kulturerscheinungen von universeller Bedeutung nennt Weber die auf das rationale Experiment gegründete Wissenschaft, die rationale Staatslehre, die rationale Rechtslehre, die rationale harmonische Musik, die „klassische“, von der Renaissance geschaffene Rationalisierung der gesamten Kunst, den „rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft: das eingeschulte Fachmenschentum“ und den Staat überhaupt im Sinn einer politischen Anstalt, mit rational gesetzter Verfassung. Und so stehe es nun auch „mit der schicksalsvollsten Macht unseres modernen Lebens: dem Kapitalismus.“ Weber stellt die Definition der Begriffe an den Anfang: Kapitalismus habe mit Erwerbstrieb oder Streben nach möglichst hohem Geldgewinn an sich nichts zu schaffen, der „Geist“ des Kapitalismus habe nicht das Geringste mit schrankenlosester Erwerbsgier zu tun: „Kapitalismus kann geradezu identisch sein mit Bändigung, mindestens mit rationaler Temperierung dieses irrationalen Triebes. Allerdings ist Kapitalismus identisch mit dem Streben nach Gewinn, im kontinuierlichen, rationalen kapitalistischen Betrieb: nach immer erneutem Gewinn: nach ‚Rentabilität’. [...] Ein ‚kapitalistischer Wirtschaftsakt’ soll uns heißen zunächst ein solcher, der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also. Der (formell und aktuell) gewaltsame —————— 14 Weber, Max, Gesamtausgabe, Bd. I/22. Wirtschaft und Gesellschaft: die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß. Teilbd. 5: Die Stadt, hg. von Wilfried Nippel, Tübingen 1999. 15 Weber (wie Anm. 2), S. 304.
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Erwerb folgt seinen besonderen Gesetzen und es ist nicht zweckmäßig [...] ihn mit dem (letztlich) an Tausch-Gewinnchancen orientierten Handeln unter die gleiche Kategorie zu stellen.“ 16 Mit seinen Überlegungen war es Weber vor allem an der Bestimmung des Spezifischen der okzidentalen Entwicklung gelegen: Im Rahmen rationalen kapitalistischen Erwerbs sei das entsprechende Handeln an Kapitalrechnung orientiert. Begrifflich entscheidend sei jeweils nur, „daß die tatsächliche Orientierung an einer Vergleichung des Geldschätzungserfolges mit dem Geldschätzungseinsatz, in wie primitiver Form auch immer, das wirtschaftliche Handeln entscheidend bestimmt.“ In diesem Sinne, so Weber, habe es „Kapitalismus“ und „kapitalistische Unternehmungen“, auch mit leidlicher Rationalisierung der Kapitalrechnung, in allen Kulturländern der Erde gegeben, soweit die ökonomischen Dokumente zurückreichen. Worin besteht für Weber nun das Besondere des okzidentalen Kapitalismus? Jedenfalls nicht in Erscheinungen, welche auch die okzidentale Gegenwart kennzeichnen, wie „der Gründer, Großspekulanten-, Kolonial- und der moderne Finanzierungskapitalismus schon im Frieden, vor allem aber aller spezifisch kriegsorientierte Kapitalismus“. Neben diesen universell verbreiteten Arten von Kapitalismus habe der Okzident eine ganz andere und nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus hervorgebracht: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. Hier setzt unser Quellenauszug ein. Weber gibt seiner zunächst „rein wirtschaftlich[en]“ Forschungsfrage nach der Entstehung des bürgerlichen Betriebskapitalismus eine kultur- und sozialgeschichtliche Wende, indem er nun nach der Entstehung und Eigenart des abendländischen Bürgertums im Vergleich zur orientalischen Entwicklung fragt. Entscheidend für die „Lebensordnung“ der Masse der europäischen Bevölkerung war die technische Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Diese durchaus nicht universelle Erscheinung sah Weber als Ergebnis der „Sozialordnung“, der sozialen Struktur des Okzidents, in der jene technische Verwendung der Wissenschaft ökonomisch prämiert wurde, insbesondere aufgrund des hier sehr viel stärker ausgebildeten rationalen Rechts und der rationalen Verwaltung. Immer aber greift Weber weit in die Geschichte zurück und sucht, bei aller, rein instrumentalen, idealtypischen Isolierung von Faktoren, nach komplexen kausalen Zusammenhängen. So ist für ihn, um ein anderes Beispiel zu nennen, der politische Bürgerstand der okzidentalen Stadt, neben anderen Faktoren, auch insofern von entscheidender Bedeutung, als hier, nicht aber in der asiatischen Stadt, „auf dem Boden politischer Probleme“ Denker und Propheten aufgetreten sind, ohne die sich eine rationale innerweltlichen Ethik nicht entwickelt hätte.17 Dass „heute“, also zu Beginn des 20. wie schon während des ganzen 19. Jahrhunderts, die „religiöse Wurzel des modernen ökonomischen Menschentums“ abgestorben sei und „der Berufsbegriff als caput mortuum“ in der Welt stehe, das hat Weber verschiedentlich in aller Schärfe und Deutlichkeit formuliert.18 Dies und alle anderen vorsichtigen Differenzierungen Webers haben nicht verhindern können, dass das Klischee der so genannten „Weber-These“ eines direkten Zusammenhangs zwischen Protestan—————— 16 Weber, GARS (wie Anm. 4), S. 12 17 Weber, GARS (wie Anm. 4), Bd. 2, S. 372. 18 Weber (wie Anm. 2), S. 314 und weitere Stellen.
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tismus und Kapitalismus auch hundert Jahre später hier und da munter weiterlebt. In den Wirtschaftswissenschaften und in der Wirtschaftsgeschichte, auch in Deutschland, spielt Max Weber heute höchstens eine marginale Rolle, und seine einschlägigen Schriften werden hier kaum gelesen, da man sie anderen Wissenschaften, der Religionssoziologie, der Alten und der mittelalterlichen Geschichte zuordnet. Die hier vorgestellte „Vorbemerkung“ zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie ist in diesem Zusammenhang von zweifacher Bedeutung: sie rückt in aller Kürze die eigentliche Forschungsfrage Webers ins Licht und verführt – hoffentlich – zur Lektüre der Schriften, denen Max Weber sie vorangestellt hat. Quelle Nr. 1.8 Max Webers „Vorbemerkung“ zu seinen Aufsätzen zur Religionssoziologie (1920)19 [...] der Okzident kennt in der Neuzeit [...] eine [...] nirgends sonst auf der Erde entwickelte Art des Kapitalismus: die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit. Nur Vorstufen dafür finden sich anderwärts. [...] Die an den Chancen des Gütermarktes, nicht an gewaltpolitischen oder an irrationalen Spekulationschancen, orientierte, rationale Betriebsorganisation ist aber nicht die einzige Sondererscheinung des okzidentalen Kapitalismus. Die moderne rationale Organisation des kapitalistischen Betriebs wäre nicht möglich gewesen ohne zwei weitere wichtige Entwicklungselemente: die Trennung von Haushalt und Betrieb, welche das heutige Wirtschaftsleben schlechthin beherrscht und, damit eng zusammenhängend, die rationale Buchführung. [...] Ihre heutige Bedeutung aber haben alle diese Besonderheiten des abendländischen Kapitalismus letztlich erst durch den Zusammenhang mit der kapitalistischen Arbeitsorganisation erhalten. [...] [S. 7f.] In einer Universalgeschichte der Kultur ist [...] für uns, rein wirtschaftlich, das zentrale Problem letztlich nicht die überall nur in der Form wechselnde Entfaltung kapitalistischer Betätigung als solcher: des Abenteurertypus oder des händlerischen oder des an Krieg, Politik, Verwaltung und ihren Gewinnchancen orientierten Kapitalismus. Sondern vielmehr die Entstehung des bürgerlichen Betriebskapitalismus mit seiner rationalen Organisation der freien Arbeit. Oder, kulturgeschichtlich gewendet: die Entstehung des abendländischen Bürgertums und seiner Eigenart, die freilich mit der Entstehung kapitalistischer Arbeitsorganisation zwar im nahen Zusammenhang steht, aber natürlich doch nicht einfach identisch ist. Denn „Bürger“ im ständischen Sinn gab es schon vor der Entwicklung des spezifisch abendländischen Kapitalismus. Aber freilich: nur im Abendlande. Der spezifisch moderne okzidentale Kapitalismus nun ist zunächst offenkundig in starkem Maße durch Entwicklungen von technischen Möglichkeiten mitbestimmt. Seine Rationalität ist heute wesenhaft bedingt durch Berechenbarkeit der technisch entscheidender Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation. Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften. Die Entwicklung dieser Wissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technik erhielt und erhält nun andererseits ihrerseits entscheidende Impulse von den kapitalistischen Chancen, die sich an ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit als Prämien knüpfen. Zwar nicht die Entstehung der abendländischen Wissenschaft ist durch solche Chancen bestimmt worden. Gerechnet, mit Stellenzahlen gerechnet, Algebra getrieben haben auch die Inder, die Erfinder des Positionszahlensystems, welches erst in den Dienst des sich entwickelnden Kapitalismus im Abendland trat, in Indien aber keine moderne Kalkulation und Bilanzierung schuf. Auch die Entstehung der Mathematik und Mechanik
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Weber, Max, Vorbemerkung, in: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 1-16.
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war nicht durch kapitalistische Interessen bedingt. Wohl aber wurde die technische Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse: dies für die Lebensordnung unsrer Massen Entscheidende, durch ökonomische Prämien bedingt, welche im Okzident gerade darauf gesetzt waren. Diese Prämien aber flossen aus der Eigenart der Sozialordnung des Okzidents. Es wird also gefragt werden müssen: aus welchen Bestandteilen dieser Eigenart, da zweifellos nicht alle gleich wichtig gewesen sein werden. Zu den unzweifelhaft wichtigen gehört die rationale Struktur des Rechts und der Verwaltung. Denn der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln, ohne welche zwar Abenteurer- und spekulativer Händlerkapitalismus und alle möglichen Arten von politisch bedingtem Kapitalismus, aber kein rationaler privatwirtschaftlicher Betrieb mit stehendem Kapital und sicherer Kalkulation möglich ist. Ein solches Recht und eine solche Verwaltung nun stellte der Wirtschaftsführung in dieser rechtstechnischen und formalistischen Vollendung nur der Okzident zur Verfügung. Woher hat er jenes Recht? wird man also fragen müssen. Es haben, neben anderen Umständen, auch kapitalistische Interessen ihrerseits unzweifelhaft der Herrschaft des an rationalem Recht fachgeschultem Juristenstandes in Rechtspflege und Verwaltung die Wege geebnet, wie jede Untersuchung zeigt. Aber keineswegs nur oder vornehmlich sie. Und nicht sie haben jenes Recht aus sich geschaffen. Sondern noch ganz andre Mächte waren bei dieser Entwicklung tätig. Und warum taten die kapitalistischen Interessen das gleiche nicht in China oder Indien? Warum lenkten dort überhaupt weder die wissenschaftliche noch die künstlerische noch die staatliche noch die wirtschaftliche Entwicklung in diejenigen Bahnen der Rationalisierung ein, welche dem Okzident eigen sind? Denn es handelt sich ja in all den angeführten Fällen von Eigenart offenbar um einen spezifisch gearteten „Rationalismus“ der okzidentalen Kultur. Nun kann unter diesem Wort höchst Verschiedenes verstanden werden, ... Es gibt z.B. „Rationalisierungen“ der mystischen Kontemplation, also: von einem Verhalten, welches, von anderen Lebensgebieten her gesehen, spezifisch „irrational“ ist, ganz ebenso gut wie Rationalisierungen der Wirtschaft, der Technik, des wissenschaftlichen Arbeitens, der Erziehung, des Krieges, der Rechtspflege und Verwaltung. Man kann ferner jedes dieser Gebiete unter höchstverschiedenen letzten Gesichtspunkten und Zielrichtungen „rationalisieren“, und was von einem aus „rational“ ist, kann, vom andern aus betrachtet, „irrational“ sein. Rationalisierungen hat es daher auf den verschiedenen Lebensgebieten in höchst verschiedener Art in allen Kulturkreisen gegeben. Charakteristisch für deren kulturgeschichtlichen Unterschied ist erst: welche Sphären und in welcher Richtung sie rationalisiert wurden. Es kommt also zunächst wieder darauf an: die besondere Eigenart des okzidentalen und, innerhalb dieses, des modernen okzidentalen, Rationalismus zu erkennen und in ihrer Entstehung zu erklären. Jeder solche Erklärungsversuch muß, der fundamentalen Bedeutung der Wirtschaft entsprechend, vor allem die ökonomischen Bedingungen berücksichtigen. Aber es darf auch der umgekehrte Kausalzusammenhang darüber nicht unbeachtet bleiben. Denn wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler Lebensführung überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer wirtschaftlich rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen. Von diesen ist in den nachstehend gesammelten und ergänzten Aufsätzen die Rede. [S. 10ff.]
Literatur Bruhns, Hinnerk; Nippel, Wilfried (Hg.), Max Weber und die Stadt im Kulturvergleich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 140), Göttingen 2000
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Bruhns, Hinnerk, La ville bourgeoise et l'émergence du capitalisme moderne: Max Weber: Die Stadt (1913/14-1921), in Lepetit, Bernard; Topalov, Christian (Hg.), La ville des sciences sociales, Paris 2001, S. 47-78, 315-319, 344-350 Käsler, Dirk, Max Weber. Eine Einführung in Leben, Werk und Wirkung, 3. Aufl., Frankfurt am Main, 2003 (Erstauflage 1995) Mommsen, Wolfgang J., Max Weber, in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 3, Göttingen 1972, S. 65-90 Schluchter, Wolfgang, Religion und Lebensführung, 2 Bde., (Bd. 1: Studien zu Max Webers Kultur- und Werttheorie; Bd. 2: Studien zu Max Webers Religions- und Herrschaftssoziologie), Frankfurt am Main 1988 Swedberg, Richard, Max Weber and the idea of economic sociology, Princeton 1998
DIE PANEUROPÄISCHE TOURISTENKLASSE. ZUM POTENTIAL DER HISTORISCHEN TOURISMUSFORSCHUNG1 Von Hasso Spode Die Geschichtswissenschaft, so der britische Historiker John Pimlott, hat eines der wichtigsten Kennzeichen der modernen Kultur und Ökonomie ignoriert: „the migration of holidaymakers to the sea, the countryside, the mountains“. Als Pimlott dies schrieb2, lag Europa in Trümmern – und doch bevölkerten wieder zehntausende die See- und Kurbäder3: für die Ober- und Mittelschichten war das „Verreisen“ ein fester Bestandteil der Lebensgestaltung geworden. Wieder und wieder wurde seither Klage über den blinden Fleck im Auge der Historie – zumal dem der deutschen Sozialgeschichte – geführt. Inzwischen hat das ceterum censeo durchaus Früchte getragen4: Eine kaum mehr überschaubare Zahl von Arbeiten zur Geschichte des Tourismus —————— 1 2 3 4
Essay zur Quelle Nr. 1.9, Annoncen von Grand Hotels vor dem Ersten Weltkrieg: Biarritz (Frankreich), Heringsdorf (Deutschland). Pimlott, John Alfred Ralph, The Englishman's holiday. A social history, London 1947, zit. n. der 2. Aufl., Hassocks 1977, S. 9. Sogar in Deutschland: Vgl. Spode, Hasso (Hg.), Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland. 1945-1989, Berlin 1996. Hans-Ulrich Wehlers ‚Bibliographie zur neueren deutschen Sozialgeschichte’, München 1993, schwieg zum Tourismus, und noch die amibitionierte ‚Europäische Konsumgeschichte’, hg. von Hannes Siegrist u.a., Frankfurt am Main 1997, informiert uns zwar über Eigenarten des italienischen Kleinhandels, doch findet sich unter den 32 Beiträgen kein einziger zum Massenreisen. Gereist sind derweil die „Kulturbedeutung“ und mit ihr die Themen. Allein an deutschsprachigen Hochschulschriften der letzten 3 Jahre seien genannt: Merki, Christoph Maria, Der holprige Siegeszug des Automobils. 1895-1930. Zur Motorisierung des Straßenverkehrs in Frankreich, Deutschland und der Schweiz, Wien 2002; Schumacher, Beatrice, Ferien. Interpretation und Popularisierung eines Bedürfnisses. Schweiz 1890-1950, Köln 2002; Prein, Phillip, Bürgerliches Reisen im 19. Jahrhundert. Freizeit, Kommunikation und soziale Grenzen, Diss. Berlin 2002; Mai, Andreas, Die Erfindung und Einrichtung der Sommerfrische. Zur Konstituierung touristischer Räume in Deutschland im 19. Jh., Diss. Leipzig 2002; Pagenstecher, Cord, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben. 1950-1990, Hamburg 2003; Kersten, Oliver, „Laßt weit zurück die Stätten eurer Fron!“ Kontinuitäten und Brüche in der Naturfreundebewegung in der Region Berlin-Brandenburg, Diss. Berlin 2004. Bereits Zimmers, Barbara, Geschichte und Entwicklung des Tourismus (Trierer Tourismusbibliographien 7), Trier 1995, brachte es auf 729 Titel; regelmäßig findet sich Historisches im Jahrbuch Voyage; seit 2003 informiert H-Travel (hnet.msu.edu) über Neuerscheinungen und Tagungen. Zum Forschungsstand siehe auch Koshar, Rudy, German Travel Cultures, Oxford 2000; Baranowski, Shelley; Furlough, Ellen (Hg.), Being elsewhere: Tourism, consumer culture, and identity in 19th and 20th century Europe and North America, Ann Arbor 2001; Berghoff, Hartmut u.a. (Hg.), The making of modern tourism. The cultural history of the British experience. 1600-2000, New York 2001; Tissot, Laurent (Hg.), Construction d´une industrie touristique aux 19e et 20e siècles, Neuenburg 2003; Leonardi, Andrea; Heiss, Hans (Hg.), Tourismus und Entwicklung im Alpenraum. 18.-20. Jh., Innsbruck 2003 sowie Pagenstecher, Cord, Neue Ansätze für die Tourismusforschung. Ein Literaturbericht: in Archiv für Sozialgeschichte 38
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sind erschienen; es lässt sich geradezu von einen Boom sprechen. Ein Monopol der Historie ist das Themenfeld freilich nicht geworden, vielmehr zeichnen sich die Konturen einer Historischen Tourismusforschung ab, an der diverse Disziplinen und Subdisziplinen beteiligt sind, von der Volkskunde bis zur Geografie.5 Der Tourismus ist ein Kind Europas. Wenngleich er bisweilen auf alteuropäische Wurzeln – die Pilgerreise oder die Grand Tour – zurückgeführt wird, so herrscht doch mehrheitlich der (oft unbewusste) Konsens, hierin ein „modernes“, wenn nicht im weitesten Sinne „bürgerliches“ Phänomen zu sehen.6 Dabei kann der Beitrag der scheinbar zweckfreien „Freizeitreise“ (E. K. Scheuch) zur Formierung der westlichen Welt schwerlich überschätzt werden. Dies nicht allein, weil sie ökonomisch eine enorme Erfolgsgeschichte war – tourismushistorische Themen erweisen sich als bestens anschlussfähig an ganz andere Fragen, beginnend mit solchen „kürzerer“ und „mittlerer Reichweite“, etwa zur Dynamik von Regionen oder Verkehrssystemen, zur Entwicklung der Lebensreform- und der Arbeiterbewegung, zur Sonderwegs- und Feudalisierungsthese, oder zur Herstellung von Legitimität durch Massenkonsum im Kontext des Siegeszugs eines ‚hedonistischen’ Lebensstils. Dies sind schon eher Fragen „großer Reichweite“; gerade hierfür kann der Tourismus als Schlüssel fungieren: man denke an die basalen Mechanismen sozialer und politischer Distinktion mit ihrer öffentlichen und privaten Territorialisierung, an die Herausbildung von kollektiven Identitäten und ‚Heimaten’ verschiedenster Bezugsgrößen, oder von den Rollen der Geschlechter und des Kindes im Kontext einer modellhaften „Bürgerlichkeit“, schließlich an die Entstehung und Struktur des „touristischen Blicks“ zur Konstruktion von Authentizität, Natur und Geschichte mit den entsprechenden Körperbildern und -praktiken. So vielgestaltig wie die Themen und Fragen, sind auch die möglichen Quellen. Dabei sei zunächst an die banale Tatsache erinnert, dass Tourismus ein Mengenphänomen ist (und somit ein prima vista wenig prestigeträchtiges Sujet7). Für einige Kurorte reichen Gästelisten bis um 1800 zurück; die publizierten Statistiken bleiben freilich bis in die Zwischenkriegszeit mit Fragezeichen behaftet; meist sind nur Schätzungen möglich. Mit dem Charakter der touristischen Reise als per se massenhaftem Raum- und Erfahrungskonsum hängt indirekt auch der hohe Stellenwert ‚trivialen’ gedruckten Materials zusammen: Prospekte, Reiseführer und -zeitschriften können eine Fundgrube für die Forschung sein. Bücher landeten, seit es Pflichtexemplare gibt, in Zentralbibliotheken, ——————
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(1998), S. 591-619; Walton, John K, Taking the history of tourism seriously, in: European History Quarterly 27 (1997), S. 563ff. Vgl. meine Schaubilder über tourismushistorische Produktionen nach Erkenntnisinteresse und nach Disziplinen in Leonardi; Heiss (wie Anm. 4), S. 92f. Ein Abriss dieses Narrativs: Spode, Hasso, Der Tourist, in: Frevert, Ute; Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999; zur Theorie: Ders., "Reif für die Insel". Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus, in: Cantauw, Christine (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen, Münster 1995. Der Tourist ist der „Reise-Trottel“, ein bloßer Konsument, dem der Hautgout der vulgären Masse anhaftet, vgl. Urbain, Jean-Didier, L'idiot du voyage. Histoire de touristes, Paris 1991. Dieses Bild schlug sich in der Forschung nieder. Wenn sich die Historie mit dem Reisen befasste, dann mit Entdeckern, Philosophen, Literaten, Migranten, Soldaten. So kommt es, dass seit dem 19. Jh. alljährlich Millionen Menschen in den Urlaub fahren, über die wir zusammengenommen nicht viel besser informiert sind, als über die Verdauungsprobleme Montaignes auf seiner Italienreise.
Die paneuropäische Touristenklasse
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ansonsten wurde solches Verbrauchsmaterial wenig gesammelt. Zumal für Ungedrucktes (Reiseaufzeichnungen, Akten etc.) kommen jedoch behördliche Archive aller Ebenen in Frage. Bei Alpen- und Touristenvereinen wird man ebenfalls fündig werden, wogegen kommerzielle Verbände und Veranstalter – Ausnahmen, wie das Londoner CookArchiv (ATC) bestätigen die Regel – selten über gute Sammlungen verfügen. In jedem Fall ist das potentielle Material nicht nur inhaltlich, sondern auch räumlich so weit gestreut, dass oft nur lokal oder institutionell begrenzte Studien in Angriff genommen werden können. Dies erzeugt einen Bias zugunsten des organisierten Reisens und es kann in eine Affirmation nationaler Stereotype führen (da haben dann die Deutschen die Heimat „erfunden“, die Briten die Alpen etc.) – das Querschnittsphänomen „Tourismus“ macht es nicht leicht, dem fiktiven Leitstern einer histoire totale zu folgen. Hilfreich sind da die in den letzten Dekaden entstandenen Sammlungen, die nicht auf eine Region oder Organisation spezialisiert sind. In Mitteleuropa ist dies zumal das Historische Archiv zum Tourismus (HAT) am Willy-Scharnow-Institut der Freien Universität Berlin.8 Als Beispiel seien aus dem Bestand des HAT zwei Hotelinserate herausgegriffen.9 Im Guide Joanne über das Seebad Biarritz wirbt da 1913 das Palais als „Ex-Résidence Impériale“. Die 300 Zimmer waren nach amerikanischem Vorbild durchweg mit Bad und/oder Toilette ausgestattet; Wintergarten, Park, Tennisplätze, eigenes Orchester und Meeresblick machten es zu einem der 9 Häuser der „Spitzenkategorie“ am Ort – ein typisches Palast-Hotel der Jahrhundertwende, historisierend-pseudofeudale Stilelemente mit dem „confort moderne“ zu einer rationellen Dienstleistungsmaschine kombinierend.10 Ein bescheideneres Exemplar einer solchen Maschine war das Quisisana im kaum minder „eleganten“ Heringsdorf, das 1908 im Verbandsführer der Ostsee-Bäder inserierte. Im Baustil vergleichbar, mussten sich hier offenbar viele Gäste Bad und Toilette mit anderen teilen11, und das elektrische Licht wird noch stolz erwähnt; die Lage nahe des Piers, die Zimmerpreise und die „Autogarage“ lassen jedoch ebenfalls auf ein sehr „gehobenes“ Publikum schließen. —————— 8
Hinzukommen die der vortouristischen „Reisekultur“ gewidmete Sammlung der Landesbibliothek Eutin und das Eco-Archiv in Hofgeismar mit Schwerpunkt Naturschutz und soziale Bewegungen. 9 Vgl. Quelle Nr. 1.9a und Nr. 1.9b. 10 Zum „Fordismus“ in der Tourismusindustrie siehe Spode, Hasso, Fordism, mass tourism and the third Reich: the "strength through joy" seaside resort as an index fossil, in: Journal of Social History 38 (2004); zur Baugeschichte siehe Schmitt, Michael, Palast-Hotels. Architektur und Anspruch eines Bautyps. 1870 bis 1920, Berlin 1982. 11 In Deutschland kam auf 20-30 Betten ein Bad; selbst das Berliner Adlon hatte für seine 325 Zimmer nur 140 Bäder, vgl. Stradner, Josef, Der Fremdenverkehr, 2. Aufl., Graz 1917, S. 49.
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Biarritz12 am Golf von Biscaya und Heringsdorf13 auf Usedom – so verschieden ihr „Flair“ von den Gästen auch wahrgenommen wurde – waren Knotenpunkte in einem kräftig expandieren Netz von im Wortsinne „mondänen“, weithin austauschbaren Kunstorten, einzig erschaffen für die Bedürfnisse einer „Touristenklasse“; einer „Klasse“, nach innen zwar hochgradig differenziert nach Geld, Geburt und Geschmack, nach außen jedoch verbunden durch einen touristischen Habitus und das Privileg der Teilhabe am Fremdenverkehr, ein Privileg, das schließlich grosso modo mit der ‚Kragenlinie’ zusammenfiel. Diese „exklusive Demokratisierung“ des Tourismus (H. Bausinger) im oberen Zehntel der Bevölkerung war ein zweischneidiges Schwert. Zu Recht wiesen Kritiker auf den Preis hin, den sie einforderte: den Verlust von Unterscheidbarkeit und Unerreichbarkeit, und damit auch von räumlicher und sozialer Exklusivität. Heimatschützern und Bergenthusiasten geriet der „Kellner“ zum Inbegriff des KommerzialisiertUnauthentischen; manche Familie flüchtete vor dem „High life“ der großen Bäder in die stille Sommerfrische. Aber auch die Idylle solch „marginaler Paradiese“ (E. Cohen) hatte selten Bestand. Die Klage über die nivellierende Kraft des Tourismus ist bekanntlich nicht verstummt – und damals wie heute hält sie keineswegs davon ab, zu verreisen. „Alle Welt reist“, notierte Fontane und meinte damit das Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum.14 Die Allermeisten reisten im Inland, allenfalls – mit Ausnahme der Engländer – in Nachbarländer. Der Binnentourismus leistete einen gehörigen Beitrag zur Nationenbildung. Den obersten Segmenten innerhalb der „Touristenklasse“ aber stand die Welt offen. Im Reisebüro konnten sie Polarfahrten oder monatelange Weltreisen15 buchen. Selbst von denen, die über das nötige Geld- und Zeitbudget verfügten, nutzten freilich —————— 12 Biarritz, 10 Bahnstunden von Paris, zählte 18.000 Einwohner; das Fischerdorf stieg nach 1850, angestoßen durch Kaiserin Eugénie, zu einem der exklusivsten Seebäder der Welt auf. Neben Madeira war es ein Vorreiter des Sommerurlaubs im Süden („ouvert toute l´année“) und damit der Diffusion der nördlichen Strandpraktiken, die schließlich in Verbindung mit dem Südseetraum zum „global beach“ führte (hierzu Urbain, Jean-Didier, Sur la plage. Moeurs et coutumes balnéaires (XIXe-XXe siècles), Paris 1994; Löfgren, Orvar, On holiday. A history of vacationing, Berkeley 1999; Spode, Hasso, Badende Körper – gebräunte Körper. Zur Geschichte des Strandlebens, in: Hasselmann, Kristiane; Schmidt, Sandra; Zumbusch, Cornelia (Hg.): Utopische Körper, München 2004, S. 233-248. 13 Heringsdorf war Teil der Usedomer Bäderkette mit insgesamt 17.000 Einwohnern; 1819 als Villenkolonie gegründet, wurde es ab 1872 zum Tourismuszentrum ausgebaut. Nur knapp 3 Bahnstunden von der Hauptstadt, spiegelte die Bäderkette den sozialen Kosmos des „besseren“ Berlin: in Swinemünde gab das Militär den Ton an, in Ahlbeck das mittlere Bürgertum, in Heringsdorf die Großkapitalisten, und in Bansin die Künstler. Seit der Jahrhundertwende wurden solche Milieuunterschiede zunehmend politisch-rassistisch überhöht: zumal in den USA erstarkte ein „resort antisemitism“, aber auch in Deutschland, vgl. hierzu Bajohr, Frank, "Unser Hotel ist judenfrei". BäderAntisemitismus im 19. und 20. Jh., Frankfurt am Main 2003. So wurde Bansin 1914 vom Jüdischen Centralverein als „antisemitisch“ eingestuft, wogegen Heringsdorf nicht nur vom Kaiser, sondern auch von jüdischen Magnaten besucht wurde und prompt als „Judenbad“ galt. 14 Nur „geistig Tätige“ bedurften der „Regeneration“: vgl. Schumacher (wie Anm. 4); Spode, Hasso, Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003. 15 Vgl. den Bericht Carl Stangens: Eine Reise um die Erde. 1878/79, Leipzig 1880; das Reisebureau Stangen verlangte 1900 für eine solche Weltreise 11.000 Mark.
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nur wenige die Infrastruktur des imperialistischen „Weltsystems“ für solch exotische Fernreisen. Stattdessen erblühte ein transnationales Europa des Luxus und der Moden. Dank einer enormen Freizeitmobilität – hieran waren Frauen wie Männer beteiligt – erschufen sich die Oberschichten jenes „Paneuropa des Verkehrs“, das Georges Nadelmackers 1876 bei der Gründung seiner Compagnie Internationale des Wagons-Lits vorgeschwebt hatte.16 An den Küsten von Nord- und Ostsee, des Atlantik und des nördlichen Mittelmeers, in den Kurbädern Böhmens, des Alpenraums, Deutschlands und Frankreichs, versammelte sich die europäische „Gesellschaft“ aus Großbourgoisie und Hochadel, was wiederum andere Wohlhabende nachzog (bis herunter zu den „Passanten“, die des Sonntags als Zuschauer in die Seebäder strömten, in der Hoffnung eine Königin oder wenigstens einen Minister zu Gesicht zu bekommen). Einerseits war hier eine entortete Spaßgesellschaft entstanden, wo „viktorianische“ Konventionen außer Kraft gesetzt waren und die Milieugrenzen fließend sein konnten; anderseits ging es sehr ernsthaft um die Zurschaustellung und Mehrung kulturellen und sozialen Kapitals – eine Arena der Familien- oder gar Staatspolitik. Politische Grenzen bedeuteten dieser leisure class nicht viel. Ins Spielerische gewendet, schrieb sie das polyglotte Erbe des alteuropäischen Adels fort, wobei ein elitär“paneuropäisches“ Wir-Gefühl Hand in Hand ging mit komplexen internen Fraktionierungen. Kulturräume nahm diese Elite, wenn überhaupt, transnational bzw. regional wahr; ihre mentalen Landkarten wurden durch „Brauchtum“, Landschaft und Klima geprägt. Das böhmische Bäderdreieck war auf dieser Landkarte weder tschechisch noch österreichisch, sondern europäisch; gleiches galt sinngemäß für die Riviera oder die südlichen Alpenseen.17 Just auf der von der Kulturkritik beklagten Interesselosigkeit gegenüber den Bereisten, auf dem elitären Einfordern von ubiquitären Standards basierte das europäische Freizeitnetz. Das bisweilen gepflegte „Landestypische“ diente weniger nationalen Zuschreibungen, denn als pittoresker Marker, der half, die Destinationen trotz der immer gleichen Grand Hotels mit ihrer globalisierten Grande Cuisine unterscheidbar zu machen; für Biarritz leisteten dies etwa der Stierkampf und das baskische Pelote-Spiel. Das Reisen war für die Eliten angstfrei und bequem. Luxuszüge mit gediegenen Restaurants und Schlafwagen verbanden die Metropolen mit den Freizeitzentren, Terrorismus war unbekannt, das Kommunikationsnetz dank Post, Telegraf und Telephon hervorragend. Meist benötigte man weder Pass noch Visum, um kreuz und quer durch den Kontinent zu fahren. Es war dies ein Europa, das wusste, dass seine Komponenten bei aller Verschiedenheit doch anschlussfähige Strukturen besaßen, ein Europa, das grosso —————— 16 Zit. n. Griep, Wolfgang, Wie das Essen auf Räder kam. Zur Vor- und Frühgeschichte des Speisewagens, in: Voyage 5 (2002), S. 136. Im späten 19. Jh. traten die kolonialen und halbkolonialen Gebiete am arabischen Mittelmeer sowie die USA hinzu. 17 Suprastaatlich auch – allerdings nicht mit „mondänem“, sondern im Gegenteil mit „volkstümlichem“, später völkischem Unterton – die mentale Landkarte der Ostalpen: „Unter Tirol ist hier meist durchweg das deutsch-österreichische Alpenland gemeint, also Oberbayern und Tirol nebst angrenzenden Gebirgsländern.“ Zitat aus Kinzel, Karl, Wie reist man in Oberbayern und Tirol?, 11. Aufl., Schwerin 1914, S. 11; siehe auch Günther, Dagmar, Alpine Quergänge. Kulturgeschichte des bürgerlichen Alpinismus. 1870-1930, Frankfurt am Main 1998. Zu den Reisemodalitäten z.B. Griebens Reise-Notizbuch, Berlin 1912.
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modo in seinen Grenzen der heutigen EU entsprach. Hier reichte es, eine Postausweiskarte bei sich zu führen (die für 50 Pfennig auf jedem Postamt erhältlich war) und beim Grenzübertritt genügend Barschaft bzw. die weltweit gültigen Traveller Cheques vorzuweisen. Die heute meist als neuartig wahrgenommene Globalisierung ist so neuartig nicht. Und sie erweist sich keineswegs als unumkehrbar: 1914 ging das glänzende „Paneuropa“ unter.18 Der Beitrag des Elitetourismus zur Schaffung eines kerneuropäischen Kulturraums war beträchtlich19; seine soziale und politische Basis erwies sich freilich als viel zu schmal, um ein wirkungsvolles Gegengewicht zum nationalstaatlichen Identitätskonzept zu bilden.
—————— 18 Legitimiert mit dem Zauberwort „Zahlungsbilanz“ wurden hohe bürokratische und finanzielle Hürden gegen den „unpatriotischen“ Auslandsurlaub aufgebaut. Fünf Jahrzehnte lang sollte die Schweiz die alten Zahlen nicht mehr erreichen. Zugleich wurde – im Dritten Reich, auch in Italien, England, Frankreich, der Schweiz u.a. – versucht, das Reiseprivileg zu „brechen“, doch erst in den 1960er Jahren wurde die Kragenlinie nachhaltig überschritten. 19 Eine ganz andere Frage wäre die nach der Pilotfunktion für die spätere „Erlebnisgesellschaft“.
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Quelle Nr. 1.9
Annoncen von Grand Hotels vor dem Ersten Weltkrieg: Biarritz (Frankreich), Heringsdorf (Deutschland) Quelle Nr. 1.9a
Annonce des Grand Hotels „Hôtel du Palais“ – Biarritz (Frankreich) 1913 20
—————— 20
Guide Joanne: Biarritz, Bayonne, St-Jean-de-Luz, Paris 1913, S. 6.
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Quelle Nr. 1.9b
Annonce des Grand Hotels „Quisisana“ – Heringsdorf (Deutschland) 1908 21
—————— 21
Die Deutschen Ostsee-Bäder, hg. vom Verband Deutscher Ostsee-Bäder, 9. Aufl., Berlin 1908, S. 147.
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Literatur Bajohr, Frank, „Unser Hotel ist judenfrei“. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003 Leonardi, Andrea; Heiss, Hans (Hg.), Tourismus und Entwicklung im Alpenraum. 18.-20. Jahrhundert, Innsbruck 2003 Löfgren, Orvar, On holiday. A history of vacationing, Berkeley 1999 Spode, Hasso, Wie die Deutschen „Reiseweltmeister“ wurden. Eine Einführung in die Tourismusgeschichte, Erfurt 2003 Tissot, Laurent (Hg.), Construction d´une industrie touristique aux 19e et 20e siècles, Neuenburg 2003
PERSÖNLICHE FAMILIENGESCHICHTE ALS ZUGANG ZU EINER VERGLEICHENDEN 1 EUROPÄISCHEN FAMILIENFORSCHUNG Von Michael Mitterauer Für eine vergleichende Erforschung historischer Familienformen in Europa kommt der Debatte um die so genannte „Zadruga“ entscheidende Bedeutung zu. Das Interesse an dieser insbesondere im westlichen Balkanraum verbreiteten Familienform reicht wissenschaftsgeschichtlich bis weit ins 19. Jahrhundert zurück. Vielfältige ideologische Implikationen flossen dabei in diese Debatte ein. Nationalisten sahen in der „Zadruga“ eine spezifische Ausdrucksform nationaler Identität. Für Panslawisten bedeutete sie wegen auffallender Analogien zu Familienstrukturen in Russland ein wertvolles gemeinsames Erbe aus urslawischer Frühzeit. Und noch unter kommunistischer Herrschaft wurde der Gemeinschaftsbesitz der „Zadruga“ als Vorform eigener Gesellschaftsvorstellungen idealisiert. Für westliche Wissenschaftler war die „Zadruga“ stets als kontrastierende Familienform interessant. In evolutionistischen Modellen der Familienentwicklung eignete sie sich zur Rekonstruktion vermeintlicher Frühstadien, die generell in der europäischen Geschichte durchlaufen worden wären, sich im Südosten aber länger erhalten hätten. Unabhängig von solchen Rückprojektionen galt ihr auch in der vergleichenden historischen Familienforschung der neueren Zeit besondere Aufmerksamkeit, speziell in der Tradition der „Cambridge Group for the History of Population and Social Structure“, die diesbezüglich seit den 1960er Jahren Maßstäbe setzte. Studien über die „multiple-family households“ in Südosteuropa dienten nun gleichsam als Kontrastfolie, um die Dominanz von „simple-family households“ in West- und Mitteleuropa besser verstehen zu können. Entsprechungen zwischen „einfachen Familienhaushalten“ und dem so genannten „European marriage pattern“ (John Hajnal) führten dazu, dass das mit Familienstrukturen des Balkanraums korrespondierende Heiratsmuster als „non European“ etikettiert wurde. Hier setzt nun die jüngste Diskussionsphase um die „Zadruga“ an, die in starkem Maße auch diskursanalytische Strömungen der neueren Geschichtswissenschaft aufgreift. Gegenüber der vergleichenden historischen Familienforschung, die südosteuropäische Verhältnisse mit denen anderer europäischer Großräume kontrastiert, wird der Vorwurf des „othering“, das heißt der Konstruktion des Anderen in der Abgrenzung zum Eigenen, erhoben. Aussagen über die „Zadruga“ gelten grundsätzlich als Bestandteil eines abwertenden Balkan-Bildes. Der Begriff „Zadruga“ selbst wird als wissenschaftliches Kunstwort in Frage gestellt – und mit ihm zugleich der bezeichnete Inhalt. Die Debatte ist damit an einem Punkt angelangt, an dem es angebracht erscheint, sich wiederum verstärkt den Quellen zuzuwenden. Die historische Familienforschung hat seit den 1960er Jahren ihren vergleichenden Studien vor allem solche Quellen zugrundegelegt, die quantifizierend auswertbar sind – also Zensuslisten, Urmaterial von Volkszählungen, so genannte „Seelenbeschreibun—————— 1
Essay zur Quelle Nr. 1.10, Wayne Vucinich: Geschichte meiner Familie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1976).
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gen“ und ähnliche Typen von Personenstandslisten. Führende Vertreter dieser Richtung formulierten sogar den Standpunkt, dass nur mit Quellen und Methoden dieser Art valide Resultate zu erzielen seien. Für die hier angesprochene „Zadruga“-Problematik gilt das sicher nicht. Abgesehen von der dürftigen Quellenlage bezüglich solcher Personenstandslisten in Südosteuropa, lassen sich viele wesentliche Fragen der Diskussion auf der Basis derartiger Quellen gar nicht klären. So soll hier ein Quellentyp ganz anderer Art aufgegriffen und in ersten Ansätzen interpretiert werden, der insgesamt für eine vergleichende historische Familienforschung europaweit stärkere Beachtung verdient. Wayne Vucinichs Artikel „A Zadruga in Bileća Rudine“, den ich im Anhang meines Beitrags in stark gekürzter Form und in deutscher Übersetzung wiedergebe, ist zunächst ganz allgemein ein autobiografischer Text. Vucinich berichtet über persönliche Erfahrungen, die der Autor in seiner Herkunftsfamilie in der östlichen Herzegovina in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gemacht hat, bzw. über mündlich in der Familie tradierte Überlieferungen. Im Unterschied zu Zeugnissen der Popularen Autobiografik, die in neuerer Zeit als historische Quellen zunehmend an Bedeutung gewinnen, handelt es sich nicht um lebensgeschichtliche Aufzeichnungen über die eigene Familie, die für Kinder, Verwandte und sonstige nahestehende Personen festgehalten wurden. Vielmehr schreibt hier ein Wissenschaftler für die Wissenschaft. Als Sohn einer Emigrantenfamilie in den Vereinigten Staaten geboren, kam Wayne Vucinich 1918 als Fünfjähriger in die „Zadruga“ seines Vaters in Bileća Rudine, wo er seine Jugend verbrachte. Sein Wissen um das Zusammenleben in dieser spezifischen Familienform beruht also auf unmittelbarer Erfahrung. Nach seiner Rückkehr in die Vereinigten Staaten machte Wayne Vucinich dort als Wissenschaftler Karriere. Zum Zeitpunkt der Abfassung des Textes im Jahre 1973 war er Professor für Geschichte an der Stanford University. Der Blick zurück auf seine Herkunftsverhältnisse scheint somit doppelt gebrochen – durch die Reflexion als Emigrant aus räumlicher Distanz und durch die Reflexion des Wissenschaftlers, der seine Familiengeschichte als Fallstudie für einen historischen Band mit einer allgemeinen Zielsetzung schreibt. Noch ein weiteres Moment der Verallgemeinerung kommt hinzu: Der Text ist als Beitrag für die Gedenkschrift für einen Fachkollegen abgefaßt, nämlich den prominenten Historiker und Politikberater Philip Mosely (1905-1972). Mosely war einer der ersten, der allgemeine Arbeiten über die „Zadruga“ mit konkreten Fallstudien verband. Vucinich verstand den Beitrag über seine eigene Familie als Analogie zu diesen Fallstudien Moselys. In seine autobiografische Darstellung sind so in vielfältiger Weise allgemeine Fragestellungen der „Zadruga“-Forschung eingegangen. Für einen lebensgeschichtlichen Text als Quelle vergleichender historischer Familienforschung ist das eine einmalige Situation. Aber auch ohne diesen Kontext haben sicher derartige Ego-Dokumente für komparative Studien hohen Quellenwert. Wayne Vucinichs autobiografischer Text betont sehr stark Phänomene, die in der wissenschaftlichen „Zadruga“-Diskussion eine Rolle spielen. Die Auswahl der wiedergegebenen Textpassagen setzt in diese Richtung zusätzliche Akzente. So wurden alle Berichte aufgenommen, die sich auf die jeweilige Zusammensetzung der Familie vom frühen 19. Jahrhundert bis zu der vom Autor mit 1925 angesetzten Auflösung der „Zadruga“ beziehen. Einige spezifische Strukturmerkmale dieser Familienform werden dabei deutlich erkennbar. Als Wichtigstes ist sicher die strikte Patrilinearität zu nennen, die den ganzen von der Familiengeschichte behandelten Zeitraum hindurch beibehalten
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wurde. Söhne bleiben stets im Haus, auch wenn sie schon verheiratet sind, Töchter hingegen verlassen grundsätzlich bei der Heirat das Haus. Mit dem Verbleib mehrerer verheirateter Söhne, die auch nach dem Tod des Vaters in Besitzgemeinschaft zusammenleben, hängt die patrilinear-komplexe Struktur dieses Familientyps zusammen. „Patrilinear-komplexe Familienstruktur“ meint mehr als bloß „multiple-family household“, ganz zu schweigen von der völlig undifferenzierten Terminologie „Großfamilie“. Natürlich handelt es sich bei einem 29-Personen-Haushalt, wie ihn Wayne Vucinich für 1918 beschreibt, um eine in West- und Mitteleuropa damals unbekannte Haushaltsgröße – ohne Erklärung des patrilinearen Grundmusters bleibt jedoch die Struktur dieses Familientyps unverstanden. Die entscheidende Zäsur im Entwicklungszyklus der von Wayne Vucinich beschriebenen Hausgemeinschaft ist nicht der Tod des Haushaltvorstands („domaćin“), sondern die Aufspaltung in zwei oder mehrere neue Hausgemeinschaften. Mit dem Tod des „domaćin“ kommt es zu keinem Besitzwechsel. Alle Männer der Patrilinie besitzen ja gemeinsam den Hof, so dass kein Erbfall eintritt. Bloß das Oberhaupt wechselt. In der Regel übernimmt der jeweils älteste Mann diese Position. Das muss nicht der Sohn sein. Als sich Onkel Ivan 1918 aus dieser Position zurückzieht, folgt ihm mit Onkel Rade der nächstälteste Bruder. Es herrscht also Senioriätsprinzip. Patriarchalismus als Entsprechung zu Patrilinearität und Senioritätsprinzip wird bei Wayne Vucinich am Beispiel dieses Onkels Rade beschrieben. Frauen als Oberhaupt der Familie kommen in keiner Phase des Entwicklungszyklus vor. Beispielhaft zeigt sich so an dieser Familiengeschichte ein Merkmalsyndrom besonderer Art, zu dem es in bäuerlichen Familien Westund Mitteleuropas kaum eine Entsprechung gibt. Mit den spezifischen Strukturmerkmalen der Familienverfassung hängt eine Besonderheit des Migrationsverhaltens zusammen, das im Leben Wayne Vucinichs besondere Bedeutung erlangen sollte. In den Jahren 1905 bis 1919 wanderten sein Vater und zwei Onkel nach Amerika aus. Sie behielten dabei „volle Rechte als Mitglieder der Zadruga“. Dafür schickten sie gelegentlich Geld nach Hause, das der Familie Grunderwerb und Bautätigkeit ermöglichte. Als zwei der drei Brüder 1919 während der Grippe-Epidemie starben, kehrte der Dritte mit den verwaisten Kindern des Ältesten in die Heimat zurück. Von den in Mittel- und Westeuropa verbreiteten Migrationsmustern ohne Rückkehrrecht, aber auch ohne besondere Verpflichtungen gegenüber der Familie, die man verlassen hat, unterscheidet sich dieses Wanderungsverhalten sehr grundsätzlich. Es wurzelt in besonderen Faktoren der Familienstruktur, nämlich dem kollektiven Eigentum aller männlichen Angehörigen der Hausgemeinschaft – auch der noch minderjährigen. Eine temporäre Abwesenheit bedeutet diesbezüglich keine Beeinträchtigung. Auch die von den Verhältnissen im Westen abweichende Form der Versorgung von Waisenkindern kommt in der Familiengeschichte Wayne Vucinichs anschaulich zum Ausdruck. Wo verheiratete Brüder in Hausgemeinschaft zusammenleben, bedarf es keiner besonderen Aufnahme durch Zieheltern. Hinweise auf den sozialen Kontext patrilinear-komplexer Familienformen in Südosteuropa gibt bereits die Einleitung der zitierten Stelle über die Herkunft der Familie. Die Familienüberlieferung leitet sie vom Stamm der Piperi ab. Ethnografische Daten scheinen dem Wissenschaftler Wayne Vucinich aber eher für eine Herkunft vom Stamm der Drobnjaci zu sprechen. Welche diese beiden Varianten auch immer die zutreffende ist – die Familie dürfte ursprünglich in einen umfassenden Stammesverband eingebun-
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den gewesen sein. In Montenegro, wo die Familie herstammt, in Nordalbanien, im Kosovo haben sich solche Zusammenhänge zum Teil bis ins 20. Jahrhundert hinein erhalten. Im westlichen Balkanraum ist in älterer Zeit mit einer stärkeren Verbreitung solcher Erscheinungen zu rechnen. Die Entstehung von Stämmen, und mit ihnen von patrilinear-komplexen Familienstrukturen, ist hier also sicher nicht erst ein neuzeitliches Phänomen. Auch ein anderer Hinweis der Quellenstelle ermöglicht weiterführende Schlüsse auf den Charakter der beschriebenen patrilinearen Abstammungsgemeinschaft. Wayne Vucinich erwähnt, dass sein Großvater Jeremije eine „ćitulja“ begonnen hat, in die vom Priester Geburten, Heiraten und Todesfälle der Familie eingetragen werden sollten – eine Aufgabe, die dieser nur mangelhaft erfüllte. Ein solches Familienregister, wie es sich auch sonst im Verbreitungsgebiet der „Zadruga“ häufig findet, ist etwas ganz anderes als die im Westen seit der frühen Neuzeit auf Pfarrebene geführten Tauf-, Heiratsund Sterberegister. Es dient nicht der obrigkeitlichen Kontrolle, sondern dem innerfamilialen Kult. An anderer, hier nicht aufgenommener Stelle erwähnt Wayne Vucinich die Feier der so genannten „Slava“ zu Ehren des Hauspatrons, im Falle seiner Familie des heiligen Georg, die die Angehörigen der patrilinearen Abstammungsgemeinschaft zu einem großen religiösen Fest in häuslichem Rahmen zusammenführte. Bei diesem Fest wurde auch der Toten gedacht. Dem hier praktizierten Gedenken diente die „ćitulja“ als Grundlage. Die „Slava“ hatte also auch den Charakter eines Ahnenfests. Das Abstammungsbewusstsein der die „Slava“ Feiernden besaß eine starke religiöse Komponente. Unter den christlichen Familienkulturen Europas ist ein solches religiös verankertes Ahnenbewusstsein ein einmaliges Phänomen. Auch dieses Moment weist historisch weit zurück. Wayne Vucinich geht in seinem autobiografischen Text von einem relativ engen „Zadruga“-Begriff aus. „Seine Zadruga“ hörte für ihn zu bestehen auf, als 1925 der bis dahin gemeinsame Familienbesitz zwischen seinen Onkeln, seinen Geschwistern und ihm aufgeteilt wurde, obwohl die Familie weiterhin gemeinsam im Stammhaus wohnte. Nicht Koresidenz ist ihm das entscheidende Kriterium, sondern zusätzlich dazu auch Besitz- und Wirtschaftsgemeinschaft. Ein auf der Basis von Zensuslisten arbeitender Historiker hätte die Familie wohl weiterhin den „multiple-family households“ zugerechnet und dementsprechend von einer „Zadruga“ gesprochen. Der Sprachgebrauch in der Wissenschaft ist unterschiedlich. Der genannte Philip Mosely etwa wendet sich gegen eine Beschränkung des Begriffs „Zadruga“ auf komplexe Familienformen, weil aufgrund der institutionellen Rahmenbedingungen der Region einfache Familienformen sehr rasch zu komplexen werden können und umgekehrt. Bei allen Unterschieden in der Verwendung des Terminus konnten Wayne Vucinich und seine Fachkollegen in den 70er Jahren noch ganz unbelastet den Begriff „Zadruga“ gebrauchen, sei es in diesem oder jenem Wortverständnis. In der neueren Literatur wird man ihn sicher nicht mit der gleichen Selbstverständlichkeit im Titel eines Buches oder eines Artikels verwendet finden. Das erklärt sich sicher nicht nur aus den ideologischen Implikationen der Begrifflichkeit, derer man sich in der Zwischenzeit stärker bewusst geworden ist. Auch das Bemühen, Abwertungen zu vermeiden, spielt dabei wohl eine Rolle. Wenn mit dem Begriff „Zadruga“ soziale Merkmale der Rückständigkeit assoziiert werden, dann mag es besser sein, ihn nicht zu verwenden. Welche Terminologie aber auch immer benutzt wird – um die sachlichen Unterschiede zwischen historischen Familienverhältnissen in Südosteuropa einerseits, in Mittel- und Westeuropa andererseits wird eine vergleichende
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Familienforschung nicht herumkommen. Sie ergeben einen besonders starken Kontrast. Und diesen Kontrast braucht eine historisch-sozialwissenschaftliche Zugangsweise, die am Verstehen und Erklären von Unterschieden interessiert ist. Die quantifizierende Methode hat in der vergleichenden historischen Familienforschung seit den 1960er Jahren europaweit großartige Ergebnisse erbracht. Wo man sich ausschließlich auf sie beschränkte, kam es jedoch meist zu einem Stillstand. Die Verwendung lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen als Quelle stellt scheinbar eine radikale Alternative dar. In Wirklichkeit lassen sich beide methodischen Ansätze untereinander und mit weiteren fruchtbar verbinden. Wayne Vucinich wusste um zeitgenössische Studien auf ganz anderer Quellenbasis. Explizit oder implizit sind sie in seine autobiografische Darstellung eingegangen. So ist ein Quellentyp entstanden, der sicher provokatives Potential enthält: Darf der Familienhistoriker seine eigene Familiengeschichte als Quelle konzipieren? Wenn es in einer ähnlich wissenschaftlich kontrollierten und reflektierten Form geschieht, wie bei Wayne Vucinich, so ist das sicher nicht nur erlaubt, sondern – weil in besonderer Weise weiterführend – auch wünschenswert. Quelle Nr. 1.10 Wayne Vucinich: Geschichte meiner Familie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert (1976)2 Der Ursprung meiner Familie ist unklar. Der Familienüberlieferung nach stammte sie vom montenegrinischen Stamm der Piperi, aber topographische und ethnographische Daten legen nahe, das sie sich von Stamm der Drobnjaci herleitete. Die Überlieferung berichtet weiter, daß ein Gaiun Vucinich irgendwann im späten 18. Jahrhundert einen Türken ermordet hatte und flüchtete, um türkische Vergeltungsmaßnahmen zu vermeiden. Er lebte zunächst bei Trebinje, übersiedelte später mit seiner Familie nach Bileća Rudine und ließ sich schließlich auf dem Landgut (agaluk) eines feudalen Grundherren im Dorf Mosko nieder. Nach einem kurzen Aufenthalt bat Gaiun seinen Grundherren um die Erlaubnis, sich auf dessen Landbesitz im Dorf Orah ansiedeln zu dürfen, was ihm gestattet wurde. Nach der Überlieferung gründete Gaiun eine Familie, die drei Söhne und fünf Töchter umfasste. Die Söhne blieben nach ihrer Heirat mit ihren Frauen und Kindern zusammen, während die Töchter bei ihrer Heirat die Familie verließen. Gaiun starb um 1815. Seine überlebenden Söhne blieben bis etwa 1830 beisammen. Todor, der älteste von ihnen, war Oberhaupt der Hausgemeinschaft. Als sich die Familie teilte, blieb Todor im Familienhaus in Orah, während seine beiden Brüder auf dem Gut des Aga im benachbarten Dorf Panik Häuser errichteten. Das ist alles, was wir über den Ursprung der Familie wissen, und bloß ein Teil mag mit den Fakten übereinstimmen. Übrigens, fast jede Familie in Bileća Rudine hat eine ähnliche Familienüberlieferung. Mein Urgroßvater Todor starb 1863. Vier Söhne und drei Töchter überlebten ihn. Die vier Söhne setzten mit ihren Frauen und Kindern das Zusammenleben in der Zadruga fort, während die Töchter heirateten und das Haus verließen. Der älteste der vier Söhne, mein Großvater Jeremije (1822-1890), war der Haushaltsvorstand. Er begann eine „čitulja“ anzulegen, ein Verzeichnis der Geburten, Heiraten und Todesfälle in der Familie, aber auch dieses einzige Dokument über die Geschichte unserer Familie ist unvollständig, weil niemand im Haus lesen und schreiben konnte
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Auszüge aus Vucinich, Wayne, A Zadruga in Bileća Rudine, in: Byrnes, Robert F. (Hg.), Communal families in the Balkans. The Zadruga. Essays by Philip E. Mosely and essays in his honor, Notre Dame 1976, S. 162-187. – Auswahl und Übersetzung ins Deutsche von Michael Mitterauer.
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und der Priester es verabsäumte, Veränderungen zu registrieren, die sich in der Familie ereigneten. [...] 1885 teilte sich die Zadruga meines Großvaters Jeremije. Drei Brüder und ihre Familien zogen aus,während der vierte, Jeremije, der älteste der Brüder, seine Frau Marija (1848-1895), fünf seiner Söhne und fünf Töchter im Haus der Zadruga blieben, das nun endlich erneuert und erweitert wurde. Bevor er verstarb, hatte Jeremije zwei seiner fünf Töchter und seinen Sohn Ivan verheiratet. Bis zu seinem Tod 1890 war Großvater Jeremije Oberhaupt (domačin) der Zadruga. Onkel Ivan folgte seinem Vater als Oberhaupt der Hausgemeinschaft und blieb es bis zum Ende des Ersten Weltkriegs 1918. Er heiratete meine Tante Andja und hatte zehn Kinder. Vier Kinder starben früh, eines wurde im Zweiten Weltkrieg getötet, fünf überlebten ihn als er 1943 starb. Um 1905 wurden auch meine drei Tanten sowie ein Onkel, nämlich Rade, verheiratet. Zwischen 1905 und 1910 emigrierten mein Vater Spiro und die Onkel Djoko und Todor in die Vereinigten Staaten. Die drei Brüder, die nach Amerika gingen, behielten volle Rechte als Mitglieder der Zadruga. Sie sandten gelegentlich Geld an die zu Hause gebliebenen Brüder, was diese in die Lage versetzte, mehr Land zu erwerben sowie eine Wasserzisterne und einige Nebengebäude zu bauen. Jeder Bruder hoffte, nach Hause zurückzukehren, nachdem er einiges an Geld erspart hatte. Mein Vater war der einzige, der heiratete. Er hatte fünf Kinder, von denen zwei früh starben. Mein Vater und meine Mutter starben in Butte, Montana, in der Grippe-Epidemie von 1918. Auch einer meiner Onkel, nämlich Todor, starb in Amerika, während der dritte Bruder Djoko nach Bileća Rudiene zurückkehrte. [...] Kein Mitglied der Familie verlor sein Leben während des Ersten Weltkriegs. Die einzige sichtbare Veränderung in der Zadruga war es, dass Onkel Rade seinen älteren Bruder Ivan am Ende des Krieges als Oberhaupt der Hausgemeinschaft ersetzte. Onkel Rade und Tante Pava hatten elf Kinder. Vier starben früh, sieben überlebten, und zwar fünf Knaben und zwei Mädchen. Onkel Rade schätzte die Macht, während Onkel Ivan ohne sie glücklicher war. Onkel Rade bekam Krebs in einem seiner Beine, das dann unterhalb des Knies amputiert werden musste. Er war nun nicht mehr in der Lage, schwere Arbeit auf dem Feld zu leisten, aber er konnte den Haushalt führen und leichtere Hausarbeit verrichten wie Tiere schlachten, Tabak- und Kohlsetzlinge pflanzen sowie Tabakblätter sortieren – alles in sitzender Haltung. Onkel Rade war eine kluge Persönlichkeit. Er hatte zwei Jahre lang die Schule besucht und konnte lesen und schreiben. Er führte den Haushalt autokratisch und effizient. Er behielt streitende Frauen und Kinder im Auge und wahrte den häuslichen Frieden mit eiserner Faust. Weil eines seiner Beine amputiert war, konnte er die Kinder nicht verfolgen, um sie zu bestrafen, wenn sie ihn störten. Aber er hatte ein langes Gedächtnis und wartete ruhig, bis ein Kind sich in seine Reichweite begab, und schlug es dann mit seinem schweren Stock. Eine andere Veränderung, die unsere Zadruga am Ende des Krieges betraf, war die Ankunft von Onkel Georg und den drei verwaisten Kindern aus den Vereinigten Staaten. Ich war eines dieser Kinder, damals fünf Jahre alt und das älteste der drei. Die Zadruga war verpflichtet, für uns zu sorgen. Die Zadruga-Familie bestand damals aus 29 Mitgliedern – drei verheirateten Brüdern mit ihren Frauen und Kindern, einem unverheirateten Onkel und den drei Waisenkindern. [...] 1925 entschlossen sich meine Onkel zur Teilung. Drei Dorfbewohner wurden gebeten, als Zeugen und Schiedsrichter zu fungieren. Der Zadruga-Besitz wurde in vier Teilen unter die drei überlebenden Brüder und die verwaisten Kinder des vierten aufgeteilt. Der fünfte Bruder, der in Amerika verstorben war, war nicht verheiratet gewesen. Sein Anteil am Familiengut wurde unter die lebenden Erben aufgeteilt. Durch Losziehen wurde festgelegt, welcher Bruder den ersten Anteil am Besitz wählen durfte. Weil die Besitzteile von ungleichem Wert waren, waren Verhandlungen und Kompromisse notwendig. Jeder Bruder versuchte, das Beste von allem zu bekommen. Erfolg hing davon ab, ein gutes Stück Land von einem schlechten unterscheiden zu können oder das beste Vieh auszuwählen. [...]
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Jeder Bruder sowie die Erben des verstorbenen Bruders erhielten einen Teil des ZadrugaHauses, eines für Rudine typischen Wohngebäudes. Der älteste Bruder bekam den Raum mit dem Herd. Der zweite Bruder erhielt den mittleren Raum, in dem Getreide und Kleidung aufbewahrt wurden. Der jüngste der drei Brüder und die verwaisten Kinder bekamen „den Raum“. Weil dieser Bruder das beste Stück des Hauses erhielt, überließ er den anderen beiden alle landwirtschaftlichen Geräte, die Nebengebäude und fast das ganze Vieh. Da der zweite Bruder den einzigen Wagen für sich wünschte, erhielt er die zwei Pferde und gestand als Gegenleistung seinem älteren Bruder drei Ochsen zu. So kam es zum Ende unserer Zadruga. Nur wenige andere Zadrugas in Bileća Rudine überlebten eine Weile länger [...].“
Literatur Erlich, Vera Saint, Family in transition. A Study of 300 Yougoslav villages, Princeton 1966 Kaser, Karl, Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien 1995 Ders., Macht und Erbe, Männerherrschaft, Besitz und Familie im östlichen Europa (1500-1900), Wien 2000 Todorova, Marija N., Balkan family structure and the European pattern. Demographic developments in Ottoman Bulgaria, Washington 1993 Dies., Zum erkenntnistheoretischen Wert von Familienmodellen. Der Balkan und die „europäische Familie“, in: Ehmer, Josef; Hareven, Tamara K.; Wall, Richard (Hg.), Historische Familienforschung. Ergebnisse und Kontroversen, Frankfurt am Main 1997, S. 283-300
STRITTIGE GLEICHBERECHTIGUNG. STUDENTINNEN AN DEUTSCHEN UNIVERSITÄTEN SEIT HERBST 19451 Von Karin Hausen I.S., Medizinstudentin im sechsten Studien- und zweiten klinischen Semester hatte im Zorn zur Feder gegriffen, um publik zu machen, dass die mit einem strikten Numerus Clausus wieder eröffneten Universitäten bei der Auswahl der Studierenden Frauen offen diskriminierten. Für die Geschlechter- und Hochschulpolitik der unmittelbaren Nachkriegszeit ist diese Zuschrift in der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1946 trotz ihres geringen Echos interessant. Die Autorin hatte ihren Text wohlüberlegt komponiert. Sie stellte sich zunächst als strebsame, am Abschluss ihres Studiums interessierte Studentin und zugleich als eine Person vor, die sich selbst ebenso wie ihre Eltern niemals mit der NSDAP eingelassen hatte. „Leider jedoch“ seien trotzdem ihre Immatrikulationsbemühungen erfolglos geblieben. Die Frage nach der Gerechtigkeit ist damit vorbereitet, wird aber zunächst zurückgestellt zugunsten des Berichts über die ihr widerfahrenen Zurückweisungen. Es beeindruckt, dass I.S. im Winter 1945/46 überhaupt in Heidelberg, Marburg, Düsseldorf, Bonn und Münster ihre Immatrikulation beantragen und sich mit den vor Ort vorgebrachten Gründen der Ablehnung auseinandersetzen konnte. Denkbar ist, dass sie mit „vielen anderen Medizinstudentinnen“ in Verbindung stand und deren Erfahrungen in ihren Bericht integrierte. Wie dem auch sei, der Bericht schildert zutreffend die bei der Zulassung zum Studium an den wieder eröffneten Universitäten nicht nur in der Medizin übliche Zurückstellung von Frauen. Bewerberinnen durften zwar „sehr umfangreiche Fragebogen“ ausfüllen, doch über ihre Immatrikulationschancen entschieden letztlich weder die NS-Überprüfung per Fragebogen, noch die im Studium bereits erbrachten Leistungen, sondern die drastische Quotierung der Studienplätze zugunsten männlicher Bewerber, sei es, dass Frauen überhaupt nicht, erst in dritter Linie oder nur zu zehn Prozent zugelassen wurden. Die bereits im Erfahrungsbericht mitgelieferten Begründungen für den praktizierten Ausschluss von Frauen wurden schließlich in Form offener Fragen auf die seit Mai 1945 wieder geltenden politischen Normen bezogen und so indirekt kritisiert. Die Zurücksetzung von Menschen, nur weil sie Frauen sind, sei ein Verstoß gegen Gleichberechtigung und Demokratie. Es widerspreche zudem politischer Gerechtigkeit, wenn Ex-Nazis oder Söhne früherer NS-Profiteure den „nazistisch unbelasteten Medizinstudentinnen“ vorgezogen werden. Der Frauen aufgenötigte Verzicht auf einen Studienplatz sei angesichts des kriegsbedingt akuten Männermangels, I.S. benutzte das gängigere Wort „Frauenüberschuss“, nicht akzeptabel. Da Frauen weniger denn je auf Ehe nebst Mann als Ernährer rechnen könnten, müssten sie eigene Erwerbstätigkeit anstre—————— 1
Essay zur Quelle Nr. 1.11, Leserbrief einer Medizinstudentin in der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1946. Ich danke Ulrike Weckel für ihren Hinweis auf die Quelle und Stefan Grob für seine kompetente Zuarbeit.
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ben. Ohne ausdrücklich zu erwähnen, dass nach dem Krieg die Privilegierung von Männern bei der Vergabe der extrem knappen Studienplätze stets mit Soldat sein, Gefangenschaft, Opfer und Leiden für das Vaterland sowie den „verlorenen Jahren“ gerechtfertigt wurde, stellte I.S. für die große Gruppe der Medizinstudenten zutreffend klar: diese hätten während des Krieges fern der Front unter Sonderbedingungen studieren können, und beim totalen Kriegseinsatz seien im Fach Medizin Studentinnen ebenso wie Studenten dienstverpflichtet worden. Der appellativ auf ein „Wir“ ausgerichtete Schlusssatz benannte offen – und das ist in der Nachkriegszeit eine Rarität – die Konkurrenz der Geschlechter. Wiederum in Form der Frage zurückgewiesen wird die Zumutung, als nazistisch unbelastete Medizinstudentin zugunsten eines ehemaligen Offiziers auf die weitere Ausbildung für den aus Berufung gewählten und „liebgewonnenen“ Beruf verzichten zu sollen. Die Zuschrift von I.S. wurde am 1. Februar 1946 in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht, die mit amerikanischer Lizenz seit dem 1. August 1945 zweimal wöchentlich mit jeweils 4-8 Seiten wieder erscheinen konnte. Der mit I.S. gezeichnete Protestbrief erschien in der Rubrik „Die Stimme der Frau“, die am 24. Dezember 1945 mit folgendem ersten Satz eines programmatischen Editorials eröffnet worden war: „Die Frau ist in unserem neuen demokratischen Staat wieder freie, gleichberechtigte Staatsbürgerin geworden.“ Mit der speziellen Rubrik wurde offenbar das Ziel verfolgt, die direkte Ansprache „der Frau“ zu intensivieren. Bereits in der ersten Ausgabe der Zeitung hatte Emily Kaus-Nover unter der Überschrift „... und ein Wort an die Frau“ dazu aufgerufen, dass „wir deutschen Frauen ... inmitten der Trümmer einer Welt“ ein Gespräch beginnen über die „sittlichen Werte“ in Vergangenheit und Gegenwart. Auf diesen umstrittenen Artikel folgten bis Ende Dezember weitere, von Frau zu Frau adressierte Beiträge zur politischen Aufgabe der Frau. Die Frauen-Rubrik selbst – den Schriftzug „Die Stimme der Frau“ flankierten seit dem 22. Februar 1946 links eine Frau mit einem Kleinkind auf dem Arm und rechts eine Frau vor Aktenordnern an der Schreibmaschine – existierte nur bis zum 19. Juli 1946. Auf den Protestbrief von I.S. gab es in der Frankfurter Rundschau nur zwei Reaktionen. Am 8. Februar 1946 wurde leicht gekürzt eine von der Katholikin cand. med. Johanna Pappenheimer an die Pax Romana gerichtete Zuschrift abgedruckt. Nach Pappenheimer hätten Studentinnen die Aufgabe, den nach Krieg und Gefangenschaft „oft rat- und hilflosen Kameraden“ in praktischer Nächstenliebe als die Helfende, geistig als die „Dienend-Fördernde“ und insgesamt als „Halt“, „Heimstätte“ und „Geborgenheit“ zur Seite zu stehen. Eine redaktionelle Vorbemerkung stellte klar, dass es zwar nicht angehe, bei der Zulassung zum Studium Frauen generell hinter Kriegsheimkehrern zurückzustellen, aber Frauen sollten ihrerseits in Notzeiten nicht ihre Rechte verfechten, sondern „edles Frauentum“ in der „Erfüllung sittlicher Pflichten“ beweisen. In der zweiten, am 15. Februar 1946 unter der Überschrift „Die Frau als Aerztin“ veröffentlichten Zuschrift verteidigte cand. med. Inge Stahl den Beruf der Ärztin. Es stehe außer Frage, dass dieser Beruf, was Liebe zum Mitmenschen, Bereitschaft zum Helfen, Einfühlungsvermögen, Zuverlässigkeit etc. anbelangt, „der Wesensart der Frau in vielem entspricht“ und für sie „nicht Broterwerb, sondern Berufung ist“. Die drei Zuschriften machen eines überdeutlich: Auf dem schwierigen Weg gesellschaftlicher und politischer Rekonstruktion nach dem Ende des NS-Staates wurde an den deutschen Universitäten der alte Kampf um „Frauenstudium“ und akademische Be-
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rufe für Frauen mit aller Schärfe und unter Einsatz alter Argumente wiederbelebt. Frauen hatten in den deutschen Staaten überhaupt erst zwischen 1900 und 1910 das Recht erlangt, an Universitäten zu studieren. Die Zahl der im Deutschen Reich an Universitäten immatrikulierten Frauen erreichte im Wintersemester 1931/32 mit 17.955 Studentinnen und einem Anteil von 18,9 Prozent aller dort Studierenden einen ersten Höchststand. Während der Weltwirtschaftskrise zogen sich Frauen etwas stärker als Männer aus der Universität zurück. Diesen Trend verstärkten die Nationalsozialisten mit ihrem „Gesetz gegen die Überfüllung der deutschen Hochschulen und Schulen“ vom 25. April 1933. Wirksam wurde es vor allem als erster Schritt des Ausschlusses aller „Nichtarier“ vom Hochschulstudium. Ansonsten griff das Gesetz einzig 1934, als maximal 15.000 Abiturienten, darunter nur 10 Prozent Frauen, zum Hochschulstudium zugelassen werden sollten. Nach 1935 wurde der weitere Rückgang der Studierendenzahl eher als Gefahr denn als anzustrebendes Ziel erkannt. Der zur Immatrikulation seit 1935 generell – von Frauen mangels Einsatzmöglichkeiten allerdings erst 1937 im vollen Umfang – eingeforderte obligatorische Arbeitsdienst von 26 Wochen sowie der für Männer seit 1935 verpflichtende Wehrdienst von zunächst einem, ab 1937 zwei Jahren beeinträchtigte für Männer und Frauen unterschiedlich den Zugang zum Studium. Hatten sich im Sommer 1931 an deutschen Universitäten insgesamt 103.912 Studierende immatrikuliert, waren dieses unmittelbar vor Beginn des Krieges im Sommersemester 1939 nur noch 66.085. Die Zahl der Immatrikulationen entwickelte sich wegen des Wehrdienstes bis Ende 1941 weiter rückläufig. Die Vorkriegszahl von 57.918 an Universitäten immatrikulierten Männern im Sommer 1939 wurde im Krieg nicht wieder erreicht. Den tiefsten Stand gab es im Sommer 1942 mit nur noch 37.596 immatrikulierten Männern. Gegenläufig entwickelte sich während des Krieges die Zahl der Universitäts-Studentinnen. Die Zahl schnellte von 8.167 im Sommersemester 1939 bis Ende 1940 auf 15.856 hoch, entwickelte sich dann von Semester zu Semester wechselnd auf und ab und stieg schließlich auf 35.831 Studentinnen im Wintersemester 1943/44 und 41.210 im Sommersemester 1944. Damit waren 43 Prozent bzw. 48 Prozent aller Studierenden Frauen. An den Universitäten kam es dementsprechend in sämtlichen Fächergruppen zu gravierenden Verschiebungen im Geschlechterverhältnis. Vergleicht man als Extreme die Werte für Sommer 1939 und 1943, dann stieg der prozentuale Anteil der Frauen unter den Studierenden in den Kulturwissenschaften von 33 auf 83,9, in den Naturwissenschaften von 17,6 auf 69,1, in der Medizin von 15,0 auf 35,0 und in Jura von 1,0 auf 16,4 Prozent. Frauen wählten für ihr Studium stets in erster Linie die für den Lehrberuf an höheren Schulen relevanten kultur- und naturwissenschaftlichen Fächer. Aber als einzelnes Fach studierten sie am häufigsten Medizin. Im Sommer 1933 studierten 5.123 Frauen Medizin, das waren 31,6 Prozent aller an Universitäten studierenden Frauen und 20,3 Prozent aller im Fach Medizin Immatrikulierten. Zur selben Zeit waren 20.141 Männer für Medizin immatrikuliert, das waren 27,7 Prozent aller Männer im Universitätsstudium. Als Reaktion auf Wirtschaftskrise und NS-Politik war im Sommer 1939 die Zahl der Medizinstudentinnen wieder auf 2.623 und die der Medizinstudenten auf 14.853 zurückgegangen, aber es studierten nun 45,4 Prozent aller an Universitäten eingeschriebenen Frauen und 42,5 Prozent aller Männer Medizin. Während des Krieges erhöhte sich die Zahl der Medizinstudentinnen auf schließlich 10.293 im Jahr 1943. Unter hundert Studierenden im Fach Medizin gab es 1939 nur 15.1941 bereits 26 und 1943
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schließlich 35 Frauen. Auf Seiten der Männer war demgegenüber die Zahl der Medizinstudenten zwar 1941 weiter auf 13.821 abgesunken und erst 1943 wieder auf 19.123 angestiegen, von den Universitätsstudenten insgesamt aber studierten 1941 immerhin 54,2 und 1943 sogar 70,2 Prozent Medizin. Die auffallende Bevorzugung des Medizinstudiums war politisch gewollt. Da der Bedarf an Ärzten wuchs, je länger der Krieg dauerte, wurden im Krieg Medizinstudenten nicht wie andere Abiturienten zur Front geschickt, sondern vom Fronteinsatz befreit und ab 1941 als Wehrmachtsangehörige in Studentenkompanien, bei Bezahlung von Studium und Lebensunterhalt, zum Studium abkommandiert. Um den dringenden Nachschub an Ärzten bereitzustellen, wurden 1944/45 ohne oder mit eingeschränkten Prüfungen Notapprobationen vorgenommen. Bei der Wiedereröffnung der Universitäten wurde 1945/46 erfolgreich darauf hingearbeitet, die Präsenz von Frauen an den Universitäten absolut und prozentual wieder drastisch zu Gunsten von Männern zu korrigieren. Es stand von Anfang an außer Frage, dass es kriegsbedingt viel zu viele Studierende weiblichen Geschlechts gab und dass dieses möglichst zügig korrigiert werden müsse. Der Numerus Clausus erleichterte die Realisierung dieses Vorhabens. Zählt man die Technischen Universitäten und Hochschulen nicht mit, dann stellten die 1951 an den Universitäten und wissenschaftlichen Hochschulen der Bundesrepublik gezählten 16.593 Frauen 27 Prozent aller Immatrikulierten. Nur zögernd erhöhten sich diese Zahlen bis 1961 auf 47.130 bzw. 40,7 Prozent. Auch in der SBZ/DDR verlief die Entwicklung, aller Gleichberechtigungs- und Frauenförderungsrhetorik zum Trotz, während der ersten Nachkriegsjahre sehr ähnlich. Trotzdem ist es erstaunlich, dass seit 1945/46 die Universitäten ohne größere Konflikte als Männerdomäne wieder restauriert werden konnten. Man startete an den deutschen Universitäten mit altgewohnten Sprach- und Denkmustern in die Nachkriegs- und Nach-NS-Zeit. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war der gleichberechtigte Anspruch von Frauen auf einen Studienplatz ebenso wenig ein Thema wie die von I.S. attackierte Diskriminierung von Frauen durch die von den alliierten Universitätsoffizieren weitgehend unabhängig arbeitenden Zulassungskommissionen der Universitäten. Wenn überhaupt öffentlich diskutiert wurde, dann ging es um das „Frauenstudium“ und häufig genug darum, dieses wieder grundsätzlich in Frage zu stellen. Was im Hinblick auf das Studium bei Studenten als Anspruch, Leistungsvermögen, berufliche Verwertung etc. als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, wurde bei Studentinnen bestritten. Die attackierten Frauen selbst argumentierten kaum mit ihrer Gleichberechtigung, sondern glaubten sich rechtfertigen zu müssen, dass sie einen der raren Studienplätze besetzten. Doch anders als I.S. suggerierte, hätten Frauen allerdings ebenso wie Männer in Maßnahmen der Entnazifizierung, aber auch der Begünstigung von NS-Verfolgten einbezogen werden müssen. Auch war es ein Unding, die Privilegierung der Kriegsteilnehmer zur obersten Maxime der Zuteilung knapper Studienplätze zu machen und dabei, als hätte es keinen totalen Krieg gegeben, nur an Soldaten zu denken. Die Kriegsheimkehrer, die sich bisweilen als Kriegsversehrte vom Lazarett aus oder als Kriegsgefangene in den Lager-Universitäten wieder mit Studieninhalten befasst hatten, forderten und erhielten – sofern sie nicht als Nazis identifiziert wurden – einen Studienplatz als Gegenleistung für militärischen Einsatz und „verlorene Zeit“. Frauen fielen nicht in die Kategorie der Kriegsteilnehmer. Allenfalls für Kriegerwitwen war eine prioritäre Zulassung zum Studium angedacht. Eine solche fürsorgende Sonderstellung speziell für die Witwen und Waisen gefallener Kameraden wirkt angesichts von Kriegstrauungen und
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Kriegsbräuten höchst irritierend. Sie war um so problematischer, als gleichzeitig kein Gedanke verschwendet wurde an Kriegsverletzungen, die Menschen am Wohnort oder bei Flucht und Vertreibung erlitten hatten, oder an die große Zahl heiratswilliger, für die Ehe ausgebildeter junger Frauen, die nun konfrontiert wurden mit einem gravierenden, dem soldatischem ‚Heldentod’ geschuldeten Mangel an Heiratskandidaten. Insgesamt überwog in der unmittelbaren Nachkriegszeit bei Frauen und Männern die Hoffnung auf die Rückkehr zur ‚Normalität’. Dazu gehörte, an den Universitäten wieder Klarheit zu schaffen, dass einzig dem männlichen Geschlecht die zahlenmäßige und hierarchische Überlegenheit zukomme. Kriegs- und Krisenzeiten sind schlechte Zeiten für grundlegende Neuerungen in den Geschlechterverhältnissen. I.S. war in diesem Punkt durchaus hellsichtig. Anfang 1946 aber hatte die Resignation noch nicht vermocht, ihr den Mut des kämpferischen Aufbruchs zu lähmen. Quelle Nr. 1.11 Leserbrief einer Medizinstudentin in der Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 19462 Als Medizinstudentin im sechsten Semester – davon im zweiten klinischen – habe ich in den vergangenen Monaten versucht, an einer der wiedereröffneten Universitäten zur Weiterführung und Beendigung meines Studiums aufgenommen zu werden. Leider jedoch waren meine Bemühungen bisher vergeblich, obwohl ich weder Parteimitglied noch Mitglied des NS.-Studentenbundes noch BDM-Führerin war und auch meine Eltern der NSDAP. und einer ihrer Gliederungen niemals angehörten oder sich je aktiv im Sinne Hitlers betätigten. Hier meine Erfahrungen von fünf verschiedenen Universitäten, an denen ich mich um Zulassung bewarb. Zuerst wandte ich mich an die Universität Heidelberg und mußte – wie überall – sehr umfangreiche Fragebogen ausfüllen. Nach einigen Wochen aber sagte man mir, daß für Medizinstudentinnen nur sehr wenig Aussicht zur Zulassung sei, da höchstens 10 Prozent weibliche Studierende aufgenommen würden. Ich traf Kinder von ehemaligen Pg, ja sogar von Aktivisten, die es verstanden hatten, eine Zulassung in Heidelberg zu bekommen, während eine Anzahl völlig unbelasteter Studentinnen zurückstehen mußte. Die Universität Marburg verlangte – ebenso die Medizinische Akademie Düsseldorf – zur Aufnahme von weiblichen Medizinstudierenden höherer Semester den Nachweis der mit „sehr gut“ bestandenen ärztlichen Vorprüfung. Bei Medizinstudenten hingegen fiel die Physikumnote gar nicht ins Gewicht; auch die, welche nur das Prädikat „genügend“ besaßen oder Wiederholungsprüfungen in den verschiedensten Fächern hatten ablegen müssen, wurden aufgenommen. Auch an der Universität Bonn erklärte man mir – wie überall –, daß Frauen bei der Zulassung zum Weiterstudium zugunsten der männlichen Studierenden erst in dritter Linie berücksichtigt werden könnten, allenfalls kämen vielleicht Kriegerwitwen zur Aufnahme in Frage. Die Sekretärin des Professors der Medizinischen Klinik erklärte mir überdies auf meine Einwendungen, daß nun erst einmal all denen der Zugang zum Universitätsstudium ermöglicht werden solle, die sechs bis sieben Jahre Soldat gewesen seien; ich solle nur an die vielen ehemaligen Offiziere denken, die sich nun eine neue Existenz gründen müßten. In Münster durften zwar auch Medizinstudentinnen, die ihr Physikum nicht mit „sehr gut“ bestanden hatten, einen Fragebogen ausfüllen, doch erfuhr ich einige Wochen später, daß die Hoch-
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„Was eine Studentin an deutschen Universitäten erlebte“. Zuschrift von cand. med. I.S, in: Frankfurter Rundschau vom 1. Februar 1946.
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schule Münster wegen der eingeengten Aufnahmemöglichkeiten nur Medizinstudenten zum Weiterstudium zugelassen habe. Auf Grund dieser meiner Erlebnisse, die ich mit vielen anderen Medizinstudentinnen teile, frage ich: Warum ist die Studentin, insbesondere die Medizinerin, heute in einem Deutschland, das demokratisch sein will, weniger gleichberechtigt denn je? Warum wird an allen deutschen Hochschulen nur ein ganz geringer Prozentsatz Frauen aufgenommen? Müssen wir denn nicht heutzutage genau so gut wie die Männer unseren Lebensunterhalt bestreiten, denn bei dem großen Frauenüberschuß kann ja wohl diese Frage nicht mit einer Handbewegung und der üblichen Bemerkung: „Aber Sie heiraten doch mal!“ abgetan werden. Ich frage ferner: Ist es recht und billig und sollen wir in jeder Weise nazistisch unbelasteten Medizinstudentinnen weiterhin stillschweigend zusehen, daß Söhne von Pg und Söhne von Aktivisten bereits wieder studieren können, während wir, deren Eltern im „Dritten Reich“ nicht die Vorteile der NSDAP.-Mitgliedschaft hatten, nur weil wir Frauen sind, nicht aufgenommen werden? Ich bin zwar nicht der Ansicht, daß Kindern von Pg oder auch von Aktivisten, die ja nichts für die Einstellung ihrer Eltern können oder gar für sie verantwortlich zu machen sind, keine Möglichkeit mehr zu einem Hochschulstudium gegeben werden soll, aber wenn eine begrenzte Zulassung zum Weiterstudium eingeführt wird, sie doch zunächst einmal die treffen muß, die selbst oder deren Eltern eine größere Schuld an den augenblicklichen harten Notwendigkeiten tragen als wir. Die Zurücksetzung der Frauen ist um so unberechtigter, als es keinen Medizinstudenten gibt, der während des Krieges nicht als Angehöriger der Studentenkompanien studiert hätte. Als die Studentenkompanien im Wintersemester 1944/1945 zum Fronteinsatz kamen, mußten auch alle Studentinnen ihr Studium unterbrechen, da sie zwangsweise zum totalen Kriegseinsatz dienstverpflichtet wurden. Kann man endlich von uns verlangen, daß wir zugunsten ehemaliger Offiziere, die, um sich eine neue Existenz zu gründen, nun ein Hochschulstudium beginnen wollen, unsere halbbeendete Berufsausbildung abbrechen oder unseren liebgewonnenen Beruf, den wir ja nicht aus irgendeiner Laune heraus gewählt haben, sondern weil wir uns zu ihm berufen fühlen, sogar aufgeben?
Literatur Budde, Gunilla-Friederike, Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Göttingen 2003 Huerkamp, Claudia, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und in akademischen Berufen 1900-1945, Göttingen 1996 Kleinen, Karin, „Frauenstudium“ in der Nachkriegszeit (1945-1950). Die Diskussion in der britischen Besatzungszone, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 2 (1995), S. 281-300 Krönig, Waldemar; Müller, Klaus-Dieter, Nachkriegs-Semester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990 Langguth, Annette, Debatten um das Frauenstudium im Nachkriegsdeutschland (1945-1949). Eine Untersuchung anhand ausgewählter Frauen-, Studenten- und Hochschulzeitschriften, unveröffentlichte Staatsexamensarbeit, Berlin 2000
ÜBER DIE WERKBANK ZUR TERTIÄREN ZIVILISATION1 Von Rüdiger Hohls Große Teile Europas lagen als Folge des Zweiten Weltkriegs noch in Schutt und Asche, als der französische Soziologe und Ökonom Jean Fourastié 1949 die erste Ausgabe seines Buches mit dem optimistischen Titel „Le grand espoir du XXe siècle“ veröffentlichte. Fourastié begann seine Karriere allerdings nicht in der Wissenschaft, sondern im französischen Staatsdienst, zunächst im Finanzministerium, danach als Leiter des von Jean Monnet begründeten Generalkommissariats für die Modernisierungs- und Ausrüstungsplanung der französischen Wirtschaft. 1947 wurde er zudem Professor an der Sorbonne.2 Während Fourastiés Buch in Frankreich schnell zu einem Standardwerk wurde, fand seine Theorie des strukturellen Wandels, die 1954 erstmals in Deutschland unter dem Titel „Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts“ erschien, zunächst kaum Beachtung.3 Der bis in die 1970er Jahre vorherrschende Konsens, die Gegenwartsgesellschaft als „Industriegesellschaft“ zu begreifen, korrespondierte nicht nur vordergründig mit den Alltagserfahrungen im prosperierenden Nachkriegseuropa, als ein großes Arbeitskräftepotential im Rekonstruktionsboom insbesondere durch das Baugewerbe und die Industrie absorbiert und die aufgestaute Nachfrage nach Konsumgütern durch die Industrie befriedigt wurde. Die Wohlstandseffekte überlagerten lange Zeit die abweichenden Entwicklungen in den Wirtschaftszweigen durch den sich beschleunigenden technischen Fortschritt, durch eine höhere Arbeitsproduktivität und einem sich ausdifferenzierenden Konsum infolge wachsender Preisunterschiede zwischen Verbrauchs- und langlebigen —————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 1.12: Jean Fourastié: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts (1949). Jean Fourastié (1907 – 1990), schloss 1930 ein erstes Studium mit dem Grad eines Diplomingenieurs (Arts et Manufactures) ab und erwarb 1936 den Doktor rer. pol. als Abschluss seines Studiums der Politik- und Sozialwissenschaften. Gleich nach Kriegsende veröffentlichte Fourastié erste volkswirtschaftliche und soziologische Werke, die zunächst vor allem in Frankreich Beachtung finden. Sein 1949 veröffentlichtes Buch „Le grand espoir du XXe siècle“ wurde in Frankreich schnell ein Klassiker, weil Fourastié darin erstmals den Versuch unternahm, langfristige Veränderungen wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Strukturen theoretisch fassbar zu machen. Vgl. Rosenfeld, Félix, Jean Fourastié 1907-1990, in: Journal de la Société de Statistique de Paris, Bd. 131.3 (1990), S. 129-134. Von dem Buch existieren vier unterschiedliche französische Ausgaben, da Fourastié die Ergebnisse zahlreicher Begleitstudien in die überarbeiteten Fassungen einfließen ließ. Die letzte Ausgabe erschien kurz vor seinem Tod. Vgl. Fourastié, Jean, Le grand espoir du XXe siècle. Progrès technique, progrès économique, progrès social, Paris 1949 (2. revidierte Aufl. 1950; 3. revidierte und erweiterte Aufl. 1952); Le grand espoir du XXe siècle, definitive Fassung, Paris1963 (revidierte und aktualisierte Aufl. 1989). Die erste deutsche Ausgabe hat die französische Fassung von 1952 zur Grundlage: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln 1954. Die zweite deutsche Auflage erschien 1969 unter dem gleichen Titel und berücksichtigt laut Vorwort der Übersetzer die Änderungen der „Édition definitive“ von 1963 und dient diesem Essay als Grundlage. Zudem wurde das Buch auch in andere Sprachen übersetzt, erschien jedoch nie in einer englischsprachigen Ausgabe.
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Investitionsgütern, Agrarprodukten und Dienstleistungen.4 Als dann der industrielle Wachstumsmotor in den 1960er Jahren erste Fehlzündungen produzierte und bald darauf ins Stottern geriet, wuchs das Interesse an der theoretischen Konzeption und am Begriffssystem Fourastiés. In Fourastiés optimistischer Theorie des strukturellen Wandels führen die Produktivitätssteigerungen durch technischen Fortschritt nach einer „Übergangsperiode“ zu „einem zukünftigen und notwendigen neuen wirtschaftlichen Gleichgewicht“5, die er Tertiäre Zivilisation nennt. Der Ansatz von Fourastié unterscheidet sich von Keynes pessimistischer Vision einer tendenziell wachsenden Unterbeschäftigung. In der Folgezeit knüpften sich an Fourastiés Tertiärisierungsthese mehrere sozialgeschichtliche, wirtschaftswissenschaftliche und soziologische Diskurse, die miteinander verwoben sind und hier nur jeweils grob skizziert werden können. Im Folgenden werde ich zunächst auf das Drei-Sektoren-Modell und dessen empirischen und sozialhistorischen Implikationen eingehen. Zweitens wird Fourastiés Erklärungsansatz für den Strukturwandel infolge permanenten technischen Fortschritts unter Rückgriff auf angebots- und nachfragetheoretische Argumentslinien erläutert. Drittens soll Fourastiés Tertiärisierungsthese mit der Rezeptionsgeschichte von Daniel Bells „postindustrieller Gesellschaft“ verknüpft werden, die den Ausgangspunkt für die aktuellen Debatten über die Informations- und Wissensgesellschaft bildet.6 Die letztgenannten Gesellschaftsbegriffe werden in wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Forschungsprogrammen, politischen Leitlinien, Presseberichten und Zeitungskolumnen gerne zur Kennzeichnung moderner Gegenwarts- oder vermeintlich zukünftiger Gesellschaften beschworen.7 Seit den Anfängen der modernen Nationalökonomie und dem Aufkommen der nationalstaatlichen Volks-, Wirtschafts- und Sozialstatistik wird über die angemessene Einteilung der Volkswirtschaft in verschiedene Wirtschaftszweige oder Branchen bzw. Tätigkeitsfelder oder Berufsgruppen diskutiert. Die von Fourastié vorgenommene Einteilung der Wirtschaft in einen primären, sekundären und tertiären Sektor ist daher keineswegs neu gewesen, sondern lehnte sich an eine Ende der 1930er Jahre durch die Ökonomen Allan G.B. Fisher und Colin G. Clark vorgenommene Segmentierung an.8 —————— 4
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Mit Blick auf Fourastié sind hier die beiden nachfolgenden Veröffentlichungen von Burkart Lutz von besonderem Interesse. Lutz fertigte als junger Wissenschaftsjournalist 1954 die erste Übersetzung von Fourastiés Le grand espoir du XXe siècle und zählt seit den 1960er Jahren zu den bekannten deutschen Sozialwissenschaftlern: Lutz, Burkart, Der kurze Traum immerwährender Prosperität, Frankfurt am Main 1984; Ders., Die Singularität der europäischen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Kaelble, Hartmut (Hg.), Der Boom 1948 - 1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 35-59. Zu Geschichte des Konsums vgl. Siegrist, Hannes; Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen (Hg.), Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums (18. bis 20. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1997. Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 113. Bell, Daniel, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main 1975 (amerikanische Originalausgabe: The coming of post-industrial society. A venture in social forecasting, New York 1973). Zwei Veröffentlichungen seien exemplarisch genannt: Castells, Manuel, Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Das Informationszeitalter I, Opladen 2001; Stehr, Nico, Wissen und Wirtschaften. Die gesellschaftlichen Grundlagen der modernen Ökonomie, Frankfurt am Main 2001. Fisher, Allan George Barnard, Production, Primary, Secondary and Tertiary, in: The Economic Record, 15.6 (1939), S. 24-38; Clark, Colin Grant, The conditions of economic progress, London 1940.
Über die Werkbank zur Tertiären Zivilisation
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Während Fisher die drei Sektoren als operationales Modell zur Untersuchung des Einflusses von Produktivitätsfaktoren ähnlich wie später Fourastié einsetzte, definierte Clark die Sektoren als formalstatistische Begriffe für deskriptiv-analytische Fragestellungen.9 Danach unterscheiden sich die drei Sektoren folgendermaßen: Der primäre Sektor umfasst die Betriebe und Beschäftigten der Urproduktion, also der Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Tierhaltung, Fischerei und Jagd. Je nach Vorverständnis werden hierzu von einigen Forschern auch die Grundstoffindustrien und der Bergbau gezählt. Zum sekundären oder industriellen Sektor zählen die Unternehmen und Beschäftigten der verarbeitenden Fabrikation in Industrie und Handwerk, Bergbau, Energiewirtschaft und das gesamte Waren produzierende Gewerbe. Der tertiäre Sektor oder Dienstleistungssektor umfasst die Unternehmen und Mitarbeiter der privaten, öffentlichen und sozialen Dienstleistungen einschließlich Bildung, Erziehung und Wissenschaft sowie Handel, Transport, Banken, Versicherungen und öffentliche Verwaltungen. Die produktivitätssteigernde Wirkung des technischen Fortschritts stellte für Fourastié den zentralen Faktor für die wirtschaftliche Entwicklung seit Beginn der Industrialisierung um 1750 dar. Deshalb steht in seiner Abgrenzung der drei Wirtschaftssektoren die Entwicklung der Arbeitsproduktivität im Zentrum. Die Zugehörigkeit von Wirtschaftszweigen zu den Sektoren wird von Fourastié als im Laufe der Zeit veränderlich angesehen, je nachdem wie sich die Produktivität in den Unternehmen oder Branchen entwickelt:10 Nach Fourastié umfasst der primäre Sektor vor allem Wirtschaftszweige, die lebensnotwenige Güter mit geringer Nachfrageelastizität (Lebensmittel) herstellen und die einem mittelmäßig starken technischen Fortschritt unterliegen. Der primäre Sektor prägt die primäre Zivilisation vor der industriellen Revolution, die Fourastié in den am weitesten entwickelten Ländern West- und Mitteleuropas um 1800 enden lässt. Der sekundäre (industrielle) Sektor bündelt die gewerblichen Unternehmen, die nicht lebenswichtige Güter mit weniger starrer Nachfrage herstellen, und in denen der technische Fortschritt groß bis sehr groß ist. Der sekundäre Sektor unterliegt den stärksten Veränderungen in der so genannten Übergangsperiode, die Fourastié wiederum unterteilt in eine industriewirtschaftliche Startphase, in eine Expansionsphase oder Ausdehnungsperiode, in der die Zahl der Beschäftigten im industriellen Sektor ihren Höhepunkt erreicht bei gleichzeitiger drastischer Zunahme der Arbeitsproduktivität, und in eine Abschlussperiode oder Deindustrialisierungsphase infolge industrieller Rationalisierungseffekte, in der es zu einer Umschichtung zugunsten tertiärer Berufe und Tätigkeitsfelder kommt. —————— 9
Obwohl sich Fourastié der Terminologie Clarks bedient, wendet er sich doch gegen sein starres Konzept. Dennoch kommt er in der Praxis mit seinen Vorstellungen zu einer Segmentierung, die der Clarks entspricht. Vgl. Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 75. 10 Fourastié, Jean, Die Produktivität, in: Ders., Gesetze der Wirtschaft von Morgen. Drei grundlegende Essays, Düsseldorf 1967 (franz. Original urspr. 1952), S. 212ff.; Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 74ff.
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Der tertiäre oder Dienstleistungssektor schließt alle Wirtschaftszweige bzw. Unternehmen ein, die Dienste und Produkte mit hoher Nachfrageelastizität bereitstellen und die einem nur geringem oder gar keinem technischen Fortschritt unterliegen. Die tertiäre Zivilisation zeichnet sich nach Fourastié durch ein neues gesellschaftliches Gleichgewicht aus, da die vom technischen Fortschritt ausgehenden Umwälzungen, die immer mit Unbeständigkeit, Krisen, Unsicherheit und Unruhe einhergehen, nur noch eine kleine Zahl von Beschäftigten betreffen.11 Fourastié wurde mit seinem Modell zum Hauptvertreter der Drei-Sektoren-Hypothese, indem er die langfristige Entwicklung sich modernisierender Volkswirtschaften als einen kontinuierlichen Prozess beschrieb, in dem eine Produktions- und Beschäftigungsverschiebung vom primären über den sekundären zum tertiären Sektor erfolgte. Die im Anschluss an den Essay abgebildeten Schaubilder zeigen das Modell des strukturellen Wandels. In den angelsächsischen Ländern firmierte die Drei-Sektoren-Hypothese als Fisher-Clark-Modell, im kontinaleuropäischen Kontext wurde der Ansatz breit als Fourastiés Tertiärisierungsthese rezipiert. Hartmut Kaelble wies dann in seinem 1989 veröffentlichten Aufsatz „Was Prometheus most unbound in Europe?“ nach, dass dieses Modell primär für die frühindustrialisierten europäischen Länder zutrifft und somit einen spezifisch europäischen, arbeitsintensiven Weg des langfristigen Strukturwandels charakterisiert.12 Länder wie Japan, die Vereinigten Staaten, Australien oder Kanada und selbst viele europäische Länder haben demnach keine industrielle Übergangsperiode erlebt, sondern sich direkt aus agrarisch geprägten Volkswirtschaften in moderne Dienstleistungsgesellschaften gewandelt. Nur in einigen „europäischen Gesellschaften lief die Geschichte der Beschäftigung streng nach unseren Lehrbüchern ab und enthielt nach der Periode der Agrargesellschaft eine wirkliche Periode der Industriegesellschaft, in der die Industrie tatsächlich der größte Beschäftigungssektor war.“13 Das Modell hält also einer historisch empirischen Überprüfung nur eingeschränkt stand, weil es eher für die historischen Sonderfälle der frühen Industriegesellschaften (Großbritannien, Deutschland, Belgien, Schweiz) sowie für Österreich, Schweden und Italien zutrifft. Als entwicklungspolitische Leitlinie (nachholende Industrialisierung) für Schwellenländer oder Gesellschaften der ‚Dritten Welt’ führt diese Theorie sogar in eine Sackgasse. Zwar illustriert Fourastié seine zeitdiagnostische Untersuchung mit zahlreichen historischen Belegen und Statistiken zu vielen Ländern und Regionen seit Beginn der industriellen Revolution, dennoch geht es ihm nicht um eine originär historische Untersuchung des Wandels.14 Seine Epochenmarken für die einzelnen Phasen verschwimmen, ja sind teilweise widersprüchlich. Fourastiés Interesse gilt mehr der Zukunft als der Ver
—————— 11 Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 113-122. 12 Kaelble, Hartmut, Was Prometheus most unbound in Europe? The labour force in Europe during the late XIXth and XXth centuries, in: The journal of European economic history, 18.1 (1989), S. 65104. 13 Kaelble, Hartmut, Auf dem Weg zu einer europäischen Gesellschaft. Eine Sozialgeschichte Westeuropas 1880 - 1980, München 1987, S. 25-26. 14 Dennoch dient ihm die Geschichte immer als Quelle und Beleg, vgl. etwa seine letzte auf Deutsch erschienene Veröffentlichung: Fourastié, Jean, Warum die Preise sinken. Produktivität und Kaufkraft seit dem Mittelalter, Frankfurt am Main 1989.
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gangenheit, sein Ziel ist der Nachweis der Planbarkeit oder zumindest Voraussehbarkeit zukünftiger Entwicklungen.15 In gewisser Weise ist er damit ein Vorläufer der Futurologen der 1960er und 1970er Jahre. Die referierten Ergebnisse widerlegen das starre Sektoren-Modell von Fisher und Clark, deren deskriptive Begrifflichkeit Fourastié zwar übernommen hat, wobei er jedoch immer von einer dynamischen Abgrenzung der Sektoren ausging.16 Als Kriterien für die Abgrenzung dienen Fourastié zum einen die Intensität des technischen Fortschritts, gemessen an der Produktivität, andererseits das Verbrauchskriterium, gemessen an der Nachfrageelastizität. Sein Erklärungsansatz für den Strukturwandel strahlt wohl auch deshalb weiter, weil er sich argumentativ sowohl aus dem „Baukasten“ der Angebotstheoretiker als auch der Nachfragetheoretiker bedient und damit nicht so leicht zwischen die Mühlsteine der sich dichotom abgrenzenden wirtschaftswissenschaftlichen Schulen geriet. Ausgangspunkt für den nachfrageorientierten Ansatz ist die als „Engelsches Gesetz“17 bekannte Hypothese, dass bei steigendem Einkommen die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und lebensnotwendigen Gütern unterproportional, die Nachfrage nach nicht lebensnotwendigen Gütern hingegen überproportional wächst. Dieser Sachverhalt wird auch als sektoral unterschiedliche Einkommenselastizität bezeichnet. Im primären Sektor werden üblicherweise lebensnotwendige Güter hergestellt, im industriellen Sektor werden nicht lebensnotwendige und zudem variabel nachgefragte Güter produziert, die tertiäre Produktion ist auf höherwertige Güter und Dienstleistungen ausgerichtet. Bei steigenden Realeinkommen aufgrund von Produktivitätsfortschritten und Beschäftigungsausweitungen in der Industrie wächst das relative Gewicht der Nachfrage nach Dienstleistungen. Letztlich nehmen dann auch Produktion und Beschäftigung im tertiären Sektor zu. Es handelt sich also um ein nachfrageinduziertes Wachstum des Dienstleistungsbereiches, dessen Dienstleistungsproduktion zur Befriedigung der expandierenden Nachfrage nur arbeitsintensiv erfolgen kann. Denn, im Gegensatz zur industriellen Produktion, besitzt sie laut Fourastié ein nur geringes Potential zur Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität. Dieser von Allan Fisher übernommene Erklärungsansatz strukturellen Wandels basiert also auf der volkswirtschaftlichen Einkommensstruktur und der daraus resultierenden gesellschaftlichen Gesamtnachfrage nach verschiedenen Gütern. Ein stetes Anwachsen der durchschnittlichen Realeinkommen voraussetzend, gründet sich der Trend zur Dienstleistungswirtschaft dabei auf den unterschiedlichen Nachfrageelastizitäten der Güter. Dieses Kriterium bietet zusammen mit dem Engelschen Gesetz einen Erklä—————— 15 Auch viele andere Werktitel Fourastiés belegen dies: Die große Metamorphose des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1964; Die 40.000 Stunden. Aufgaben und Chancen der sozialen Evolution, Düsseldorf 1966; La civilisation de 1975, Paris 1953 (diverse Folgeauflagen). 16 Die Kritik an Fourastiés Sektorentheorie ist vielfältig. Sie setzt sowohl an der Methode, am verwendeten statistischen Material, als auch am Ergebnis an. Als wesentliche Probleme werden genannt: das Abgrenzungs- und das Aggregationsproblem, das Problem der institutionellen Gliederung und der multidimensionale Dienstleistungsbegriff sowie das Problem der unzureichenden Statistik. 17 Benannt nach dem bekannten sächsischen, später preußischen Statistiker Ernst Engel, der im Jahr 1857 eine Untersuchung über den Nahrungsmittelkonsum der Bevölkerung Sachsens in Abhängigkeit vom Einkommen veröffentlichte.
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rungsansatz für die Veränderungen innerhalb der Produktionsstruktur: Die Produktion passt sich also der Nachfrage an. Fourastiés angebots- und nachfragetheoretische Begründungsansätze Nachfrageorientierter Ansatz ↓ Sektoral unterschiedliche Einkommensund Nachfrageelastizitäten ↓ Steigendes Pro-Kopf-Einkommen in Bereichen hoher Arbeitsproduktivität ↓ Steigende Nachfrage nach hochwertigen Gütern des sekundären und tertiären Sektors ↓ Verschiebungen in der Produktionsstruktur
Angebotsorientierter Ansatz ↓ Sektoral unterschiedliche Effekte des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts ↓ Hohe Produktivitätsfortschritte setzen Arbeitskräfte zunächst im Agrarsektor, später in der Industrie frei ↓ Tertiärer Sektor bleibt arbeitsintensiv, weil dort Potential für Produktivitätsfortschritte gering ↓ Verschiebungen in der Erwerbsstruktur
↓ Tertiarisierung der Volkswirtschaft
Den Ausgangspunkt für Fourastiés angebotsorientierten Ansatz stellt die Entwicklung der Arbeitsproduktivität durch technischen und wissenschaftlichen Fortschritt dar. Dieser macht sich überwiegend in Form von Prozessinnovationen oder von Produktinnovationen bemerkbar, was die Produktivität einer Volkswirtschaft erhöht - allerdings aber nicht für alle Bereiche der Produktion in gleichem Maße. „Die grundlegende Wirkung des technischen Fortschritts auf die Produktion besteht also in einer Erhöhung der Gesamtproduktion und einer gleichzeitigen Änderung der Produktionsstruktur.“18 Durch den technischen Fortschritt und die erhöhte Arbeitsproduktivität sinkt die Nachfrage nach Arbeitskräften in der Landwirtschaft und zunehmend im industriellen Sektor. Die daraus resultierende „technologische Arbeitslosigkeit“ wird durch den „wirtschaftlichen Mechanismus“ der „Werteverschiebung vom primären zum tertiären Sektor“ beseitigt, indem die arbeitsintensiven Unternehmen des Dienstleistungsbereichs die vom primären oder sekundären Sektor freigesetzten Arbeitskräfte aufnehmen.19 Allerdings erweist sich Fourastiés optimistisches Bild von der Zukunft dann als falsch, wenn im Gegensatz zu seiner Annahme auch im Dienstleistungssektor massive Rationalisierungen möglich werden, so dass es auch dort schließlich zu einer Sättigung kommt. Diese Entwicklung ließ sich in den zurückliegenden Jahren durch die Umstellung auf digitale Ablaufprozesse und Einführung elektronischer Kommunikation beobachten. Zudem impliziert dieser Ansatz den Nationalstaat als Aktionsraum und berücksichtigt die sich mit der —————— 18 Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 74. 19 Fourastié, Die große Hoffnung (wie Anm. 3), S. 71.
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Globalisierung vertiefende internationale Arbeitsteilung allenfalls am Rande. Inzwischen sind auch viele personal- und kostenintensive Dienstleistungen in Länder Osteuropas oder Südostasiens verlagert worden, wo die Arbeitskosten niedriger sind. Die Globalisierungseffekte zeigen dem Nationalstaat zunehmend die Grenzen seiner Steuerungsmöglichkeiten auf. Im Jahr 1973 veröffentlichte der amerikanische Soziologe Daniel Bell sein berühmt gewordenes Werk „The coming of post-industrial society“, in dem er die (amerikanische) Industriegesellschaft untersucht, um deren weitere Entwicklung zu prognostizieren: „Das vorliegende Buch ist ein Versuch auf dem Gebiet der Prognose gesellschaftlicher Entwicklungen. […] Uns geht es um die Zukunft der entwickelten Industriegesellschaften.“20 Bells Modell einer nachindustriellen Gesellschaft ergänzt die mehr wirtschaftstheoretisch angelegten Sektortheorien um eine gesellschaftspolitische Dimension. „Wenn hier von postindustrieller Gesellschaft die Rede ist, sind in erster Linie die Änderungen in der sozialen Struktur gemeint, also der wirtschaftliche Wandel, die Verschiebungen innerhalb der Berufsgliederung, das neue Verhältnis zwischen Theorie und Empirie, vor allem zwischen Wissenschaft und Technologie“.21 Danach ist die Dienstleistungsgesellschaft Fourastiés für Bell eine Vorstufe seiner postindustriellen Gesellschaft, wobei er analytisch nach Auswirkungen auf die Sozialstruktur, die politische Ordnung und auf den kulturellen Bereich unterscheidet. Wirtschaft, Technologie und Berufsgliederung sind für Bell lediglich Teilbereiche der sozialen Struktur. Im Einklang mit Fourastié geht auch Bell davon aus, dass die Bedeutung der materiellen Produktion abnimmt und die Menschen zunehmend zunächst der persönlichen und später der öffentlichen und sozialen Dienstleistungen bedürfen. Allerdings erweitert Bell das bekannte Drei-Sektoren-Modell um einen quartären und quintären Sektor. Analog zu Fourastié, der die Volkswirtschaft in drei epochal charakteristische Sektoren unterteilte, differenziert Bell nunmehr die Dienstleistungen in drei Gruppen, die jeweils mit einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation verbunden sind. Bei den „persönlichen“ Dienstleistungen (tertiärer Sektor – unter anderem Einzelhandelsgeschäfte, Wäschereien, Frisöre) handelt es sich um manuelle persönliche oder gegenstandsbezogene Dienstleistungen, die charakteristisch sind für vorindustrielle Gesellschaften. Die „geschäftlichen oder produzentennahen“ Dienstleistungen des quartären Sektors (unter anderem Banken und Finanzen, Immobilien, Versicherungen, Transportwesen) erbringen Angebote, die direkt mit der industriellen Produktion in Verbindung und deshalb stellvertretend für Industriegesellschaften stehen. Die „intelligenten“ Dienstleistungen des quintären Sektors (unter anderem Gesundheit, Erziehung, Bildung, Forschung, Verwaltung) sind dagegen charakteristisch für postindustrielle Gesellschaften,22 wobei laut Bell das „spezifische Anwachsen der letztgenannten Kategorie gleichzusetzen ist mit der Ausbreitung einer neuen ‚Intelligentsia’“, die vor allem an Universitäten, in Forschungsinstituten, in akademischen Berufen und in der Verwaltung zu finden ist.23 So entwickelt sich in der postindustriellen Gesellschaft eine spezifische —————— 20 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 20. Anders als Fourastiés Studie zwei Jahrzehnte zuvor fand Bells Buch schnell große Beachtung und ist bis heute im Buchhandel erhältlich. 21 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 30. 22 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 33, 112-120. 23 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 33.
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Form der Dienstleistungswirtschaft, die auch als Wissensgesellschaft bezeichnet werden kann, da es sich überwiegend um „intelligente Dienste“ handelt, die eine große Zahl professioneller, akademisch qualifizierter Wissensarbeiter voraussetzen.24 Bell spricht daher auch vom „Primat des theoretischen Wissens“, bei dem die Naturwissenschaften eine zentrale Rolle spielen.25 Konsequenterweise erwartet Bell, dass die Informationsund Kommunikationstechnik zur Basis neuer wissensbasierter Verfahren wird. Diese Entwicklung bezeichnet er als „dritte technologische Revolution“, von der er erwartet, dass sie in hohem Maße auch die gesellschaftliche Ordnung verändern wird. Die Struktur und Organisation der nachindustriellen Gesellschaft werde daher von den Betreibern der neuen Technologien entworfen werden.26 Noch anknüpfend an das Modell Fourastiés konzipierte Bell seine Vision von der Wissensgesellschaft als eine verwissenschaftlichte, dienstleistungszentrierte und akademisierte Gesellschaft. Im Unterschied zur Industriegesellschaft sei sie nicht mehr durch das Primat des Erfahrungswissens, durch die industrielle Produktion und manuelle Tätigkeiten sowie von den Auseinandersetzungen zwischen Kapital und Arbeit bestimmt.27 Abschließen möchte ich den Beitrag mit einer Anleihe bei Burkhart Lutz, dem vermutlich ersten deutschen Fourastié-Experten hierzulande – und Übersetzer des Buches „Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts“. In einem Vortrag zum Rahmenthema „Geschichte der industriellen Arbeitsgesellschaft“ referierte Lutz 1997 über Ursachen, Verlauf und Voraussetzungen des westeuropäischen Nachkriegsbooms sowie über die Strukturkrise und ausbleibende Prosperitätskonstellation in den späten 1990er Jahren.28 Das besondere an der Entwicklung der europäischen Nachkriegsgesellschaften sei es gewesen, dass nach dem 2. Weltkrieg vor dem Hintergrund der Systemkonkurrenz mit der Sowjetunion ein neues gesellschaftliches Regulationssystem für das Arbeiten und Produzieren etabliert wurde, das man in Deutschland mit dem Schlagwort „soziale Marktwirtschaft“, andernorts als „Wohlfahrtskapitalismus“ bezeichnet hat. Dieses Regulationssystem bedeutete einen tief greifenden Bruch, ja nahezu eine Revolution gegenüber früheren Verhältnissen. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Regulationssystems und damit erfolgreiche Komponente der Prosperitätskonstellation der Nachkriegs—————— 24 Kritische Einwände zu Bells nachindustrieller Gesellschaft wurden frühzeitig und zahlreich vorgebracht; exemplarisch sei hier auf die ökonomische Absage an die Zwangsläufigkeit der Entwicklung zur postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft durch Gershuny, Jonathan, Die Ökonomie der nachindustriellen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1981, verwiesen und auf den britischen Kulturhistoriker Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2001. Für Burke beginnt die Wissensgesellschaft bereits im Jahre 1455 mit Gutenbergs Erfindung des Buchdrucks als einem Verbreitungsmedium, wodurch die Kommunikation stärker noch als nach der Erfindung der Schrift nicht mehr auf Anwesenheit, also auf Interaktion angewiesen ist. 25 Bell, Die nachindustrielle Gesellschaft (wie Anm. 6), S. 36. 26 Bell, Daniel, Die dritte technologische Revolution und ihre möglichen sozialökonomischen Konsequenzen, in: Merkur, 44 (1990), S. 28-47. 27 Einen gelungenen Überblick über den Definitionen und die Diskussionen um die Wissensgesellschaft liefert: Heidenreich, Martin, Die Merkmale der Wissensgesellschaft (2002), in: (28.01.2005). 28 Lutz, Burckart, Gesellschaftliche Organisation wirtschaftlicher Leistung. Von der Vernutzung vorindustrieller Sozialressourcen zur bewusst gestalteten Gesellschaft? (1997), in: (28.01.2005).
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jahre sei es gewesen, in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik eine Strategiekompetenz mit hoher Effizienz zu organisieren. Den modernen Industriegesellschaften sei es in der Nachkriegszeit gelungen, mehr intelligente strategische Ressourcen zu organisieren. Sie übertrafen diesbezüglich nicht nur alle früheren Gesellschaften, sondern auch die nachfolgenden. Die Politik hatte die Strategieressourcen – in der Verwaltung wie in der politikberatenden Wissenschaft – auf die anstehenden Verteilungs- und Gestaltungsfragen zugeschnitten. Jean Fourastié stehe beispielhaft für dieses Modell einer die Politik beratenden Wissenschaft oder wissenschaftlich fundierten Politik in Frankreich und des von französischen Wissenschaftlern inspirierten Umfeldes von Jean Monnet, dem Initiator und später ersten Präsidenten der EGKS (Montanunion) – also der Vorläuferinstitution der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Quelle Nr. 1.12 Jean Fourastié: Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts (1949)29
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Fourastié, Jean, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, 2. Aufl., Köln 1969, S. 120-121.
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Literatur Bell, Daniel, Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt am Main 1975 (amerikanische Originalausgabe: The coming of post-industrial society. A venture in social forecasting, New York 1973) Fourastié, Jean, Die große Hoffnung des zwanzigsten Jahrhunderts, Köln 1969 (französische Originalausgabe: Le grand espoir du XXe siècle, Édition definitive, Paris 1963) Hartmann, Anja, Dienstleistungen im wirtschaftlichen Wandel. Struktur, Wachstum und Beschäftigung, in: Dies.; Mathieu, Hans (Hg.), Dienstleistungen in der neuen Ökonomie. Struktur, Wachstum und Beschäftigung (= Gutachten der Friedrich-Ebert-Stiftung), Berlin 2002, S. 9-34 Kaelble, Hartmut, Was Prometheus most unbound in Europe? The labour force in Europe during the late XIXth and XXth centuries, in: The journal of European economic history, 18.1 (1989), S. 65-104 Lutz, Burkart, Die Singularität der europäischen Prosperität nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Kaelble, Hartmut (Hg.), Der Boom 1948 - 1973. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und in Europa, Opladen 1992, S. 35-59 Steinbickler, Jochen, Zur Theorie der Informationsgesellschaft. Ein Vergleich der Ansätze von Peter Drucker, Daniel Bell und Manuel Castells, Opladen 2001
VOM ZEITGEIST IN DER DDR1 Von Ina Merkel Zu Beginn der 90er Jahre stieß ich bei Recherchen im Deutschen Rundfunkarchiv auf den ungewöhnlichen Aktentitel: „Zeitgeist-Sammlung“. Dahinter verbargen sich mehrere Ordner mit Zuschauerbriefen. Die Mitarbeiter des Büros für Zuschauerpost beim Fernsehen der DDR hatten in Eigeninitiative jeweils 150 exemplarische Zuschriften eines Jahres, das waren etwa 5 Prozent aller Posteingänge, aufgehoben, anstatt sie nach 5 Jahren zu kassieren, wie es die Vorschriften vorsahen. Im Briefbüro war man der Meinung, dass es sich um Schilderungen des Alltagslebens handele, die „den Zeitgeist repräsentiere[n], der in der historischen Forschung über den Entwicklungsstand der Probleme und den Bewusstseinsstand der Bevölkerung Aufschluss geben kann.“2 Aus dieser Sammlung stammen die im vorliegenden Beitrag analysierte und abgedruckte Eingabe einer Dresdner Bürgerin und Konsumentin über die „Ursachen für das Wegwerfen von Brot“ aus dem Jahr 1982 sowie das Antwortschreiben des Leiters der Abteilung Kaufhallen.3 Die „Zeitgeist-Sammlung“ ist ein Glücksumstand für Sozial- und Kulturhistoriker/innen, finden sich hier doch zeitgenössische Beschreibungen des Alltagslebens, die man so weder in archivarisch überlieferten Texten finden noch durch heutige Befragungen rekonstruieren kann. Je länger das Ende der DDR zurückliegt, desto stärker sind die Erinnerungen durch die Ereignisse der Wendezeit, die nachfolgenden Erfahrungen mit dem Transformationsprozess, die öffentlichen Diskurse und medialen Repräsentationen überformt.4 Obwohl wir es mit einer ausgesprochen authentischen Quelle zu tun haben, spricht sie nicht an sich, sondern antwortet immer nur auf die Fragen, die in der historischen Analyse gestellt werden. Dazu soll auf einer ersten Ebene die Quelle kontextualisiert werden: Worin besteht die Eigenart solcher Briefe und wer ist der Adressat? Zweitens werden die Inhalte untersucht: Worum geht es der Briefschreiberin eigentlich und welche realhistorischen Verhältnisse verbergen sich dahinter? Drittens sollen rhetorische Strategien untersucht werden: Was bedeuten bestimmte Floskeln und worauf zielen sie? Viertens wird die Kommunikationssituation beleuchtet: Wer antwortet hier und welche Machtverhältnisse drücken sich darin aus? Das alles zusammengenommen wird am En—————— 1 2 3 4
Essay zur Quelle Nr. 1.13, Briefwechsel über die Ursachen für das Wegwerfen von Brot in der DDR. Eine Eingabe und ihre Antwort (1982). Deutsches Rundfunk Archiv, Außenstelle Berlin, Zeitgeist-Sammlung, Einleitung der Mitarbeiter des Büros für Zuschauerpost, unsigniert, unpaginiert. Vgl. Quelle Nr. 1.13 in diesem Band. Zeitzeugen deuten ihre Biographien stets in solchen Kontexten und beziehen sich damit auf den öffentlichen Diskurs, der von Schlagworten wie „friedliche Revolution“, „SED-Unrechtsstaat“, „blühende Landschaften“, „Ostalgie“, „Abwanderung“, „Schrumpfung“ usw. getragen wird.
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de auf den Punkt gebracht: Was ist das für ein Zeitgeist, der sich aus den Alltagsschilderungen ablesen lässt? Eingabenschreiben als kulturelle Praxis: Die hier ausgewählten Briefe stehen exemplarisch für eine massenhafte kulturelle Praxis in der DDR – das Eingabenschreiben. Der informelle Charakter der Eingabe – sie konnte im Unterschied zu formellen Rechtsmitteln einfach als handgeschriebener Brief an jede beliebige Instanz geschickt werden, im Falle einer unbefriedigenden Antwort wieder und wieder an die nächst höhere oder gleich ganz nach oben (wo immer man das verortete) – machte sie zu einem niedrigschwelligen Instrument der Konfliktaustragung. Eingabenschreiben war populär. Man tauschte sich aus über erfolgreiche rhetorische Strategien und effektive Eingabenadressaten. Eine sehr beliebte Adresse war das Fernsehen der DDR, insbesondere die Redaktion der Sendereihe PRISMA, an die der überwiegende Teil der Zuschauerbriefe direkt gerichtet war. So auch der vorliegende Brief. Diese Briefe an PRISMA wurden, wie es das Gesetz vorschrieb, wie Eingaben behandelt, das heißt innerhalb bestimmter Fristen registriert und beantwortet. Es waren auch Eingaben im klassischen Sinne, aber es ging noch um etwas anderes: Die Briefschreiber erwarteten, dass über die von ihnen beschriebenen Zustände und Probleme öffentlich, das heißt im Fernsehen berichtet und verhandelt wird. Oder dass die Redaktion sich als Vermittler zwischen Bürger und Verwaltung einschaltet und in diesem Sinne „öffentliche Gewalt“ ausübt. Das seit März 1963 monatlich, später vierzehntägig gesendete innenpolitische Magazin schien deshalb dafür geeignet, weil es ausgewählte Missstände in der Wirtschaft, der Kommunalpolitik und der Versorgung untersuchte (nach dem Muster von „Report“). PRISMA gehörte zu den beliebtesten Sendungen und hatte vergleichsweise hohe Einschaltquoten. Ein Beweis für die Popularität der Sendung waren die enormen Mengen an Zuschauerpost, die die Redaktion erhielt (über 11.000 Briefe allein in den ersten drei Jahren, auch in den Folgejahren erhielt die Redaktion rund 300, in den 80er Jahren sogar 600 Briefe im Monat5). Vielen Briefen ist die Identifikation der kritisch gestimmten Zuschauer mit den Bemühungen des Redaktionsteams anzumerken. In der Kritik weiß man sich mit der Redaktion eins. Skandalisierung als Grundmuster: Angenommene grundsätzliche Übereinstimmung ist auch die Voraussetzung des vorliegenden Briefes: „Wir diskutieren... „. Es geht um ein Ärgernis von gesamtgesellschaftlichen Interesse: Brot wird in großen Mengen weggeworfen, man könnte den Diskurs ergänzen: und an Schweine und Hühner verfüttert, weil es so billig ist. Ein Kilo Mischbrot kostete in der DDR 1,10 Mark, ein Pfund Kasten-Vollkornbrot 55 Pfennige, ein Brötchen 5 Pfennige. Frau Erdmann möchte die Ursachen für das Wegwerfen von Brot erforschen, aber sie geht mit keiner Silbe auf das Preisproblem ein. Die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Mieten, Energie, Kinderbekleidung usw. – die Preise wurden ursprünglich zur Abmilderung der Aufhebung der Rationierung teilweise auf dem Niveau von 1936 eingefroren – hat längst zu zweckentfremdeter Nutzung und permanenter Verschwendung geführt. Ein ökonomisches Problem, das allerdings aus ideologischen —————— 5
Deutsches Rundfunk Archiv, Monatsbericht und Halbjahresbericht 1967 vom 17.7.1967, unpaginiert.
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Gründen nicht öffentlich diskutiert werden konnte. Das Thema ist also tabu, jedenfalls von der Preisseite her. Das weiß auch die Briefschreiberin. Worum geht es ihr dann? Es geht darum, dass an diesem Tag in der Kaufhalle zwar haufenweise Brot herumlag, aber kein frisches Brot. Erst durch den Mangel an frischem Brot wird das Wegwerfen von Brot zum Skandal. Ein Mangel, der zwar absurd ist und auch nicht lebensbedrohlich, aber dennoch alle typischen mentalen Muster aufruft. Und die werden nun in aller Ausführlichkeit geschildert: Es stehen lange Schlangen am Käsestand, weil die Käseverkäuferin mit dem Brot beschäftigt ist. Die für das Brot zuständige Verkäuferin sortiert in Seelenruhe Postkarten. Die Kunden diskutieren lautstark und werden handgreiflich. Von der Verkaufsstellenleitung lässt sich niemand blicken, auf Nachfragen bekommt man pampige Antworten. Und dazwischen stehen aufgetürmt die harten Brote, die niemand kaufen will. Die Anklage erfährt eine Wendung: Es geht nicht mehr um das Verschwenden von Brot und auch nicht mehr um den Mangel an frischem Brot, sondern um die Verkaufskultur in dieser Kaufhalle, das Desinteresse der Verkäuferinnen an der Ware, an Hygiene und Ästhetik. Es geht um Schlangestehen, um den Frust beim Einkaufen, um die Aggressivität der Kunden. In kleinen Details – die Schreiberin schlägt beispielsweise vor, das Brot in Foliebeutel zu packen, die an der Kasse wieder abzugeben sind – wird deutlich, wie sehr die DDR-Bürger in diese Art der Versorgung, wo täglich andere unberechenbare Engpässe auftreten können, eingeübt sind. Und die wiedergegebenen sarkastischen Bemerkungen über den Verlust der letzten Zähne zeigen an, dass die meisten Kunden es längst aufgegeben haben, dagegen anzukämpfen. Dann wird eben kein Brot gegessen, auch gut. Warum nun macht sich diese Frau dennoch zur Anklägerin? Rhetorische Strategien: Durch die Wendung im Brief wird das ursprünglich auf Systemebene angelegte Problem: Wegwerfen von Brot, weil es zu billig ist, auf die Ebene der persönlichen Verantwortung von Verkäuferinnen und Kaufhallenleitern herunter transformiert. Möchte Frau Erdmann wirklich die Ursachen für das Verschwenden von Brot erforschen oder ist das nur ein rhetorischer Trick? Sicher hat sie sich mal wieder in der Kaufhalle geärgert, aber schreibt man deswegen gleich einen Brief an das Fernsehen? Im letzten Absatz erinnert die Schreiberin an eine länger zurückliegende Eingabe, die immer noch nicht befriedigend beantwortet worden sei. Wir haben es offenbar mit einer geübten Eingabenschreiberin zu tun. Das Ereignis in der Kaufhalle ist nur der Anlass, um sich mit einem alten Anliegen in Erinnerung zu bringen. Worum es dabei ging, erfahren wir nicht, wohl aber, dass sich bereits verschiedene Behörden damit befassen. Sie wird nun langsam ungehalten und schlägt einen drohenden Ton an: „Ich glaube nicht, dass das im Sinne des Genossen Erich Honecker ist...“. „Wenn sich nicht bald etwas tut“, so könnte man den Subtext ergänzen, „dann schreibe ich nach ganz oben, und dann wollen wir doch mal sehen, was passiert.“ Die Mitglieder der Redaktion werden indirekt als Parteimitglieder angesprochen, die für das Wort des Parteichefs einzustehen haben. Das anfänglich gebrauchte „Wir“ wird am Schluss aufgegeben. Der ganze Brief über das Brot kann deshalb auch als strategische Einleitung für den Schluss gelesen werden. Sie will damit eine ganz andere Angelegenheit befördern. Um nicht schon wieder in eigener Sache zu mahnen und damit als egoistische Meckerin zu erscheinen, braucht sie einen Anlass von gesamtgesellschaftlichem Interesse. Anstelle
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der Anrede gibt es eine Überschrift. „Ursachen“, das verspricht eine objektive Analyse, unterstützt durch das im nächsten Satz gebrauchte „erforschen“. Sie leistet dafür einen (kleinen) Beitrag, aber eigentlich sollte sich die Redaktion damit befassen. Das anfangs verwendete „Wir“ ist allgemeiner gemeint und umfasst mehr als die Redaktion. In seiner Allgemeinheit ist es aber auch unspezifisch: Wer diskutiert da? Die Partei? Die Bevölkerung? Auf alle Fälle signalisiert es Loyalität und Zugehörigkeit zu einer imaginären Gemeinschaft. Das „Wir“ ist eine Absicherungsformel, die sie am Schluss des Briefes aufgibt, wo es um ein ganz persönliches Anliegen geht. Zur Legitimation wird jetzt Erich Honecker zitiert: „... dem Arbeiterwort Geltung verschaffen...“. Sie verortet sich mit diesem Zitat in der Arbeiterschaft, die durch die herrschende Ideologie geradezu heroisiert worden ist, und baut einen Gegensatz zu Funktionären und Verwaltungsangestellten auf, die gefälligst Lösungen herbeiführen sollen. Die Briefschreiberin stimmt damit in einen allgemeinen Tenor der Schuldzuweisung an die mittleren Funktionärsebenen ein und enthält sich jeder grundsätzlichen Kritik an gesellschaftlichen Strukturen. Das gesamte Schlusszitat hat eine einzige Funktion: Loyalität zum Staat zu bekunden und ihn damit zur Fürsorge sich selbst gegenüber zu verpflichten. Kommunikationsverhältnisse: Zusammen mit dem Brief ist das Antwortschreiben überliefert, das 6 Wochen später vom Referatsleiter der Stadt geschrieben worden ist. Es ist der Zuständige für die Verkaufskultur und nicht das Backwarenkombinat, der hier antwortet. Allein dass überhaupt geantwortet wird, mutet bereits seltsam an. Es gab keine konkrete Beschwerde, sondern der Brief war im Ton allgemeiner kritischer Hinweise gehalten. Aber die Behörden standen per Gesetz unter Antwortzwang. Dieser Brief ist auf eine fast unfassbare Weise formell formuliert. Mit keinem Wort wird auf das Wegwerfen von Brot bzw. die Abwesenheit von frischem Brot eingegangen. Der Verfasser hält sich vielmehr an den Buchstaben des Gesetzes. Es ist ein „Brief nach Vorschrift“. Als solcher enthält er den höflichen Dank für die Kritik und den Bericht über eine Aussprache. Dann aber kippt auch dieser Brief. Erst wird die Beschwerde über altes Brot zurückgewiesen und dann werden die Kunden beschimpft. In fast juristischem Tonfall wird festgestellt, dass das Brot laut TGL6 drei Tage frisch ist. Ein Satz, der so absurd ist, dass er ins Kabarett gehört. Das muss doch auch dem Schreiber klar gewesen sein. Will er sich über die Frau lustig machen? Oder auf die Absurdität von Normen hinweisen? Auf jeden Fall schiebt er damit die Verantwortung ab an diejenigen Leute, die solche Vorschriften erlassen. Und dann geht es gegen die Kunden, die so unvernünftig sind, das Brot auf Frische zu testen, bevor sie es kaufen. Alle vorgeschlagenen „Maßnahmen“ haben disziplinierenden Charakter: Beaufsichtigung, Hinweisschilder und zu guter Letzt wird sogar die Briefschreiberin gebeten, mit darauf zu achten, „dass die getroffenen Festlegungen auch durchgesetzt werden.“ Wie ist dieser Brief zu deuten? Ein klassischer Fall von Misskommunikation? Der Handel bildete eine Pufferzone zwischen der Bevölkerung mit ihren unbefriedigten Bedürfnissen und dem Staat mit seiner paternalistischen Versorgungshoheit. Am Handel —————— 6
Das DDR-Kürzel für DIN. Die Abkürzung bedeutet: Technische Normen, Gütevorschriften und Lieferbedingungen.
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reagierten sich die Kunden ab. Da er fast gar keinen Einfluss auf die Produktion und nur geringen auf das Angebot und die Liefermengen hatte, beschränkte sich seine Funktion auf die Präsentation der Waren. Hier allerdings konnte manipuliert werden, das heißt, begehrte Waren wurden zurückgehalten und „unter dem Ladentisch“ verkauft. In der Ohnmacht gegenüber dem System steckte auch ein Moment von Verteilungsmacht gegenüber der Bevölkerung. In genau dieser Ambivalenz bewegt sich der Brief. Er macht auf die Ohnmacht aufmerksam, in dem er die Gütevorschriften zitiert. Und er zeigt deutlich seine Macht, indem er die Kunden reglementiert. Am Ende ist der Status quo wieder hergestellt. Bestand die eigentliche Funktion der Eingabe vielleicht darin, Blitzableiter zu sein? Permanente Unzufriedenheit: Die Unzufriedenheit der DDR-Bürger ist geradezu sprichwörtlich und gehörte in der DDR zu den habituell verfestigten Grundmustern der alltäglichen Kommunikation. Abendbrotgespräche, Familienfeiern, kollektives Beisammensein, solidarische Spontanzusammenschlüsse in den Schlangen – überall wurde ihr lauthals Ausdruck verliehen. Sich beschweren, aufregen über etwas, sich empören, meckern und kritisieren sind auch die den überlieferten Briefwechsel dominierenden Stile. Eine Eingabe zu schreiben, stellte zweifellos eine Form psychischer Kompensation dar, es entlastete vom Druck des alltäglichen Ärgers und diente der Bewältigung eines schwierigen Alltags. Darin drückte sich nicht nur persönliches Unbehagen oder Frustration aus, hier wurden gesellschaftliche Zustände kritisch reflektiert. Die Briefe zeugen auch von Verantwortungsgefühl gegenüber der Gesellschaft. In der Unzufriedenheit konstituierte sich so etwas wie ein innerer Konsens der DDR-Bürger, im Ärger waren sie sich einig. Es war auch eine Form der gemeinsamen Verweigerung von Zustimmung zu den von Partei und Regierung, oder auch nur von der Ortsobrigkeit oder dem betrieblichen Vorgesetzten, verkündeten Phrasen und Anforderungen. Die Eingabe war zweifellos systemstabilisierend, weil sie anzeigte, dass man es noch aushalten konnte und vor allem deshalb, weil sie oftmals einen Vorschlag zur Veränderung enthielt, was wiederum die Reformfähigkeit des Systems unterstellte. Erst wenn die Kritik in Wut, Resignation oder Verzweiflung umschlug, konnte sie systemgefährdend werden. Briefe dieser Art waren fast ausnahmslos anonym. Das Eingabenschreiben bedeutete kulturell sicher noch viel mehr – es war konstruktiv, es war subversiv. Vorstellungen von Normalität und erfahrene Realität sind die Pole der individuellen Auseinandersetzung mit der Lebenswelt. Wenn die Diskrepanz zwischen beiden das erträgliche Maß überstieg, löste das die Beschwerde oder den Zuschauerbrief aus. Dass es in der Kaufhalle keine Cornflakes zu kaufen gab oder keine H-Milch, war normal, aber dass es 1982 kein frisches Brot geben sollte, war ein Skandal.
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Ina Merkel
Quelle Nr. 1.13 Briefwechsel über die Ursachen für das Wegwerfen von Brot in der DDR. Eine Eingabe und ihre Antwort (1982)7
Quelle Nr. 1.13a Brief von Karola Erdmann (anonymisiert) aus Dresden vom 16. Mai 1982 an das Fernsehen der DDR, Sendereihe Prisma Wir diskutieren das Problem des Wegwerfens von Brot schon seit einiger Zeit und wollen die Ursachen erforschen. Ich möchte deshalb Ihnen folgende Begebenheit erzählen. Als ich Freitag nachmittags 11.00 Uhr in der Kaufhalle 8036 Dresden Senftenberger Straße meine Einkäufe tätigte, stand eine lange Schlange Kunden vor dem Käseverkaufsstand. Erregt wurde diskutiert, denn es war keine Verkäuferin am Stand anwesend. Die Verkäuferin befand sich an den Regalen, wo das Brot zur Selbstbedienung angeboten wird. Einige Kunden hatte die Verkäuferin dorthin geholt, um darauf hinzuweisen, daß das gesamte angebotene Brot hart und alt wäre. Verschiedene Kunden beschimpften sich gegenseitig, daß sie das Brot ständig anfassen würden. Sie verlangten das Beschwerdebuch. Immer mehr Kunden kamen, denn am Freitag ist ja zu dieser Zeit Hochbetrieb in den Kaufhallen, und prüften das Brot, d.h. jeder nahm mehrere Brote nacheinander in die Hand und befühlte sie. Ich stand ungefähr 20 Minuten und beobachtete wie die Brote nun laufend von Hand zu Hand gingen. Was nutzt da ein Stückchen Papier, das in jedem Regal liegt. Auch andere Kunden gesellten sich zu mir und schimpften über einen derartigen Mißstand. Sie äußerten sich darüber, was wohl mancher von den Kunden in den Händen gehabt hätte – ich möchte hierzu nicht deutlicher werden. Während dieser ganzen Zeit – die Verkäuferin vom Käsestand hatte sich schon wieder an ihren Arbeitsplatz begeben – ließ sich niemand von der Leitung der Kaufhalle blicken. So verlangte ich den Leiter der Kaufhalle zu sprechen. Eine Verkäuferin gab mir eine ungenügende unfreundliche Auskunft, so daß ich selber auf die Suche ging, und mich auch einige Kunden dabei begleiteten. Aber die Suche blieb ohne Erfolg. Nach wiederholter Befragung der verschiedenen Verkäuferinnen verwies man mich an die Verantwortliche für Brot- und Backwaren. Diese sortierte in aller Ruhe Ansichtskarten. Sie erteilte mir die Auskunft, daß diese Brote heute vom Backkombinat Dresden in diesem Zustand geliefert worden wären. Wenn ich mich darüber beschweren wolle, dann sollte ich dieses dort tun. Die Frage von mir, warum sie das Brot vom Backwarenkombinat so annehmen würde, wurde empört von Frau Bär zurückgewiesen. Sie war der Meinung, daß das Brot, das geliefert würde, auch verkauft werden müßte. In der Zwischenzeit konnte ich feststellen, daß ständig die Kunden das Brot abtasteten und keines mitnahmen und sich äußerten, dann lieber kein Brot essen zu wollen. Ältere Kunden bemerkten, daß sie dann ihre letzten Zähne einbüßen würden. Auch hörte ich, daß man von solchen Broten nur ein paar Schnitten gebrauchen könne und den Rest wegwerfen müsse. Ist das nun nur in unserer Kaufhalle in Dresden so, oder trifft das für viele Verkaufsstellen zu? Denkt man daran, daß in fernbeheizten Wohnungen ein schon hart gekauftes Brot schon in einem Tag zu einem „Ziegelstein“ wird? Wie steht man zur Hygiene, ist es nicht zu verhindern, daß eine Menge Menschen jedes Brot anfassen, ehe es auf den Tisch kommt? Kann man vielleicht die Brote einpacken, um das zu verhindern? Kann man das Brot in Foliebeutel tun, die an der Kasse wieder abgenommen werden? Mir ist nach diesem Vorfall das Brotessen verleidet worden. Sollte man sich
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Brief und Antwort stammen aus dem Deutschen Rundfunkarchiv, Außenstelle Berlin, Historisches Archiv, Zeitgeistsammlung (beide zum Zeitpunkt der Sichtung noch ohne Signatur).
Vom Zeitgeist in der DDR
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nicht überhaupt mehr Gedanken darüber machen, wie man die sozialistische Verkaufskultur überall verbessert!! Ich bitte darum dieses Problem einmal zu untersuchen. Im Nachgang zu dieser Anfrage möchte ich Ihnen mitteilen, daß mein Anliegen mit Schreiben vom 10.1.82 Ihre Antwort vom 22.1. unter Ihrem Zeichen Pr/45/8 bis zum heutigen Tage von einer Stelle zur anderen weitergegeben worden ist und noch keiner Lösung zugeführt wurde. Es liegen inzwischen fünf Benachrichtigungen vor. Ich glaube nicht, daß dieses im Sinne unseres Genossen Erich Honeckers ist, der im Bericht an den X. Parteitag forderte: „..dem Arbeiterwort Geltung verschaffen, hellhörig auf alle Signale achten, rasch und sorgfältig auf die Vorschläge und Kritiken der Werktätigen reagieren und Lösungen herbeiführen, wo sie notwendig und möglich sind.“ Mit freundlichen Grüßen! Karola Erdmann
Quelle Nr. 1.13b Antwortschreiben Gustav Ackermann (anonymisiert), Leiter der Fachabteilung Kaufhallen beim Rat der Stadt Dresden, vom 30. Juni 1982 Werte Frau Erdmann! Von der Redaktion PRISMA wurde mir Ihre Eingabe zu den „Ursachen für das Wegwerfen von Brot“ zwecks Beantwortung übermittelt. Ihre berechtigten Fragen und Kritiken zum Verkauf von Brot in Selbstbedienungseinrichtungen waren für mich Anlaß, eine persönliche Aussprache durch meine Fachabteilung mit der stellvertretenden Kaufhallenleiterin der KG Kaufhalle Senftenberger Straße und dem Konsum-Bezirksverband zu führen. Zum Frischegrad des Brotes möchte ich Sie davon informieren, daß lt. TGL Brot bis zu 3 Tagen als TGL-gerecht anzusehen ist. Der Produktionstag ist aus der Prägung bzw. dem Etikett ersichtlich. Demzufolge ist Brot vom Vortag kein „altes Brot“ und weder hart noch ungenießbar. Zu Ihren Feststellungen in Bezug auf die Hygiene muß bedauerlicherweise eingeschätzt werden, daß sich ein Teil der Kunden unvernünftig verhält. Dazu wurde folgendes veranlaßt: Alle Fachdirektoren des volkseigenen Einzelhandels und die Vorstandsmitglieder der Konsumgenossenschaften wurden verpflichtet, in ihrem Verantwortungsbereich die Gesamtproblematik auszuwerten und im Rahmen von Schulungen des Verkaufspersonals auf die strikte Einhaltung der erforderlichen hygienischen Bestimmungen hinzuweisen. Dabei ist von den Einzelhandelsobjekten zu beachten, daß unmittelbar neben den Brotregalen ständig entsprechend geschnittenes Papier bereitliegt die Verkaufsaufsichten bzw. beratenden Verkäuferinnen in den Objekten noch besser darauf Einfluß nehmen, daß Kunden nicht Brot anfassen, ohne es zu kaufen die Brotregale, -wagen oder -fächer möglichst in der Nähe des Backwarenstandes stehen, um eine zusätzliche Aufsicht zu garantieren die Brote so gelagert werden, daß sie mit der Kante der Brotregale bzw. -fächer abschließen und nicht darüber hinaus ragen. Den wirtschaftsleitenden Organen des Einzelhandels wurde weiterhin empfohlen, durch ihre Werbeabteilung Hinweisschilder anzufertigen, die auch die Kunden beim Einkauf von Brot in Selbstbedienung an ihre Verpflichtung hinsichtlich der Hygiene erinnern. Ich möchte mich für Ihre Hinweise bedanken und hoffe, daß Sie in den Verkaufsstellen weiterhin mit darauf achten, daß die getroffenen Festlegungen auch durchgesetzt werden. Mit sozialistischem Gruß, Gustav Ackermann Abteilungsleiter
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Ina Merkel
Literatur Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Hartmut, Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994 Merkel, Ina, Utopie und Bedürfnis. Die Geschichte der Konsumkultur in der DDR, Köln 1999 Dies. (Hg.), Wir sind doch nicht die Meckerecke der Nation! Briefe an das Fernsehen der DDR, erw. Neuausgabe, Berlin 2000 Mühlberg, Felix, Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR, Berlin 2004 Wunderwirtschaft. DDR-Konsumkultur in den 60er Jahren, hg. von der NGBK, Köln 1996
„ES SIND ZWEI WELTEN BUNDESREPUBLIK1
GEWESEN“.
EINE INFORMATIKERIN
IN DER
DDR
UND IN DER
Von Dolores L. Augustine Die Koexistenz zweier Gesellschaftssysteme war für die europäische Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zweifellos ebenso prägend wie der Zusammenbruch des sozialistischen Systems 1989/90 und die damit einhergehenden Transformationen. In Deutschland sollte die Konkurrenz der beiden politischen Systeme das Leben mehrer Generationen bestimmen. Die Systemkonkurrenz spiegelt sich hier in den Brüchen individueller Biografien wider. Im Rahmen einer größeren Studie zur Sozialgeschichte der technischen Eliten in der DDR wurden im Jahr 1999 Interviews mit zwanzig Software-Ingenieurinnen und -Ingenieuren durchgeführt.2 Ziel des Oral-HistoryProjekts war es zum einen, mehr über das Arbeits- und Privatleben von Informatikerinnen und Informatikern im SED-Staat herauszufinden. Gleichzeitig sollten im Gefolge der Wiedervereinigung aber auch die unerwarteten Rückschläge und Verlustgefühle ehemaliger DDR-Bürger in den 1990er Jahren, und hier speziell die Angehörigen einer technischen Elite, genauer untersucht werden. In allen Interviews waren in erster Linie Fragen zur Motivation bei der Berufswahl, zu Karrierestrategien, Bildungs- und Berufswegen genauso wie Fragen zu den damit verbundenen Chancen, zur Lebensplanung sowie zum Selbstverständnis von Bedeutung. Bemerkenswert ist, dass unter den Befragten kaum Arbeitslose, sondern vor allem beruflich erfolgreiche Personen zu finden waren, was allerdings wohl hauptsächlich auf den Umstand zurückzuführen ist, dass die Befragten jeweils vorrangig über berufliche Netzwerke und weniger über Bekanntenkreise gewonnen werden sollten. In dem hier in Auszügen wiedergegegeben Interview berichtet die Ingenieurin Frau Müller von ihren Versuchen, sich beruflich und persönlich zu entfalten.3 Gleichzeitig spricht sie aber auch von den Hindernissen, mit denen sie auf ihrem Lebensweg in der DDR und der Bundesrepublik konfrontiert war. Eine Reihe von geschlechtsspezifischen Schwierigkeiten von Akademikerinnen werden daraus ersichtlich, insbesondere das Problem, Beruf und Familie miteinander zu vereinbaren. Als Frau, Arbeiterkind und Facharbeiterin genoss Frau Müller Anfang der 1970er Jahre eine „Bilderbuchkarriere“, wie sie von der SED propagiert wurde. Ein Studium der Informatik ebnete ihr den Weg in die „neue technische Intelligenz“. Ungewöhnlich früh kam die Beförderung zur Abteilungsleiterin, eine Position, die nur wenige Frauen erreichten. Für diese Erfolge waren in erster Linie ihr großes Engagement, gute Planung sowie berufliches Können verantwortlich. Nur durch hohen persönlichen Einsatz konnte Frau Müller ihre Aufgaben als Abteilungsleiterin bewältigen. Zu dieser Zeit war sie auch Mutter eines —————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 1.14, Interview mit einer aus der DDR geflohenen Software-Ingenieurin (1999). Vgl. Augustine, Dolores L., Berufliches Selbstbild, Arbeitshabitus und Mentalitätsstrukturen von Software-Experten der DDR, in: Hübner, Peter (Hg.), Eliten im Sozialismus, Köln 1999, S. 405-433. Vgl. Quelle Nr. 1.14 in diesem Band; der Name ist aus Datenschutzgründen geändert.
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Dolores L. Augustine
kleinen Kindes. Positiv wirkte sich im Familienleben dabei aus, dass ihr Partner sehr verständnisvoll auf ihre beruflichen Anforderungen reagierte und beide sich die anfallenden elterlichen Pflichten teilten. Leider konnte sie im Berufsleben aber nicht mit der Solidarität von Seiten ihrer Mitarbeiterinnen rechnen, die ihr teilweise missgünstig begegneten und alles daran setzten, ihre Autorität zu unterminieren. In ihren Arbeiten zu Akademikerinnen hat Gunilla-Friedericke Budde die These vertreten, dass beruflich erfolgreiche Frauen in der DDR oft als „Vorzeigefrauen“ angesehen wurden, die ihren Aufstieg nicht selbst erbrachten Leistungen, sondern vielmehr staatlicher Bevorzugung verdankten.4 Mit ähnlichen Urteilen, ja möglicherweise sogar Vorurteilen, hatte Frau Müller zweifelsohne zu kämpfen, gleichzeitig aber auch mit radikal egalitären Vorstellungen der Arbeiterschaft. Wie andere DDR-Frauen in Führungspositionen musste auch Frau Müller ihre politische Zuverlässigkeit unter Beweis stellen, und wie viele DDR-Frauen war sie dazu wenig geneigt. Interessanterweise beurteilt Frau Müller aber ihre damaligen Probleme kaum unter dem Aspekt einer Diskriminierung von Frauen. Im Gegenteil vertritt sie die Auffassung, dass die Frauenemanzipation sich in der DDR sowohl institutionell wie auch privat durchgesetzt habe, wobei dahingestellt bleiben muss, ob andere Frauen auch so aufgeklärte Partner wie Frau Müller hatten.5 Auf echte Diskriminierung meint Frau Müller erst in der Bundesrepublik gestoßen zu sein. Hier vergingen einige Jahre, bevor sie die für die westdeutsche Kleinstadt typischen Barrieren gegen die Berufstätigkeit von Müttern überwinden konnte. In Frau Müllers erzählter Lebensgeschichte ist die persönliche Suche nach Identität und Authentizität von großer Bedeutung.6 Die Arbeit ist für sie ein wichtiger Teil ihres eigenen Selbstfindungsprozesses und stellt ein wichtiges Stück Identität dar, was für die DDR als „Arbeitsgesellschaft“ indes bestimmt nicht untypisch war.7 Während Frau Müller stolz über die Errungenschaften der ersten Jahre berichtet, und dabei die Schwierigkeiten wie den „Stress“ und die Doppelbelastung genauso wenig unerwähnt lässt wie die großen Hindernisse, die es ihr zu überwinden gelang, so wird gleichzeitig deutlich, dass sie den Verlust ihres Postens als Abteilungsleiterin und ihre Versetzung auf eine Stelle, bei der sie „primitivste Arbeiten“ verrichten musste, als eine unerträgliche Erniedrigung erlebte. Sie und ihr Partner sahen sich durch die beruflichen Benachteiligungen, denen sie fortan ausgesetzt waren, dazu veranlasst, einen Ausreiseantrag zu stellen. Als „Horror“ bezeichnet Frau Müller die Jahre vor und nach ihrer Ausreise, da sie während dieser Zeit nicht arbeiten konnte und ihr damit ein wichtiger Lebensinhalt verloren ging. Eine wesentliche Besserung ihres Lebens trat erst ein, als sie schließlich wieder —————— 4 5 6 7
Vgl. Budde, Gunilla-Friederike, Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Göttingen 2003, bes. S. 308-364. Budde würde dies verneinen, vgl. ebd., S. 344-345. Vgl. ferner Trappe, Heike, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995, bes. S. 212213. Zur Konstruktion erzählter Lebensgeschichte vgl. Fischer-Rosenthal, Wolfram, Schweigen – Rechtfertigen – Umschreiben. Biografische Arbeit im Umgang mit deutschen Vergangenheiten, in: Ders.; Alheit, Peter; Hoerning, Erika (Hg.), Biografien in Deutschland, Opladen 1995, S. 43-86. Vgl. Kohli, Martin, Die DDR als Arbeitsgesellschaft?, in: Kaelble, Hartmut; Kocka, Jürgen; Zwahr, Hartmut (Hg.), Sozialgeschichte der DDR, Stuttgart 1994, S. 31-61.
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eine Stelle bekam, die ihrer Ausbildung und ihren Interessen entsprach, obwohl dieser berufliche Aufstieg zeitlich mit der Trennung von ihrem Mann zusammenfiel. Rückblickend ist Frau Müller besonders glücklich darüber, ihre Fähigkeiten im Umgang mit Menschen weiterentwickelt zu haben, wobei sie es für den beruflichen Bereich als besonders befriedigend bezeichnet, im Kontakt mit Menschen zu sein, Schulungen durchzuführen und die Anerkennung ihres Chefs wie auch ihrer Kolleginnen und Kollegen gewinnen zu können. Da für sie ihr Leben aber ein unvollendetes Projekt darstellt, könnte sie sich auch vorstellen, eine eigene Firma zu gründen und zu leiten, auch wenn sie manchmal über sich enttäuscht ist, wenn sie sich noch nicht traut, Herausforderungen, denen sie sich eigentlich gewachsen fühlt, anzunehmen. Gleichzeitig scheut sie aber auch die größeren beruflichen Belastungen, die mit einer leitenden Stelle oder dem Schritt in die Selbständigkeit auf sie zukommen würden, da sie dem Privatleben inzwischen mehr Platz einräumt und manchmal mühsam versucht, ein Gleichgewicht zwischen dem beruflichen und privaten Lebensbereich aufrechtzuerhalten. Bei einer stärkeren beruflichen Einbindung hätte Frau Müller auch kaum noch Zeit für ihren Sohn. In der Lebensgeschichte von Frau Müller spielt Freundschaft eine große Rolle. Als ihr in der DDR unter Androhung schwerwiegender beruflicher Konsequenzen nahegelegt wurde, eine Freundin, die in die Bundesrepublik ausgereist war, zu verleugnen, reagierte sie uneinsichtig und dezidiert: „...ich hab’s einfach nicht eingesehen, dass so ein einfach lieber Mensch, dass ich den aus meinem Leben streichen soll.“ In dieser Äußerung wird die authentische Stimme des „selbstreflexiven Individuums“ deutlich, dessen höchstes Ziel es ist, die Integrität des eigenen Lebens und der eigenen Lebensgeschichte aufrechtzuerhalten. Nach Anthony Giddens ist dies typisch für den Menschen in der spätmodernen Welt.8 Frau Müller gelang der Sprung von der einen Welt in die andere. Nach anfänglichen Schwierigkeiten identifizierte sie sich als Einheimische in der westdeutschen Region, in der sie gelandet war und eignete sich sogar manch sprachliche Eigenart ihrer neuen Heimat an. Letztlich war es ihr möglich, ihr Leben in der Bundesrepublik viel besser zu gestalten als in der DDR, weil sie es verstand, persönliche Freiräume auszunutzen. Das meritokratische System im Westen verursachte ihr dabei keine großen Schwierigkeiten, da sie die geforderten Leistungen problemlos erbringen konnte. Überdies schaffte sie es, ihre persönliche Entwicklung mit dem beruflichen Fortkommen zu verknüpfen, so etwa, wenn es darum ging, zu lernen, selbstbewusst aufzutreten. Nach 1989 haben bekanntlich viele ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger ganz andere Erfahrungen gemacht. Frau Müller kam in eine Welt, in der es größere Unsicherheiten, aber auch größeren Raum für Selbstbefragung und Selbstzweifel gab. Inwieweit ihre „postmoderne“ Suche nach Identität und Authentizität typisch oder untypisch für eine DDR-Biografie war, inwieweit ihre Zugehörigkeit zur technischen Elite eine Rolle spielte und welche Umstände letztlich die Ausreise als durchaus individueller „Wechsel der Welten“ spielte, muss an dieser Stelle offen bleiben. Allerdings besitzen die Identitätssuche und die Deutung der Arbeit als sinnstiftender Lebensbereich seit Reformation und Aufklärung zentrale Bedeutung bei der Herausbildung des Indivi—————— 8
Vgl. Giddens, Anthony, Modernity and self-identity, Stanford 1991.
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duums. Obwohl zunächst allein vom aufsteigenden Bürgertum getragen, sind diese Werthaltungen inzwischen zu einem wichtigen Bestandteil einer gesamteuropäischen Kultur geworden. Quelle Nr. 1.14 Interview mit einer aus der DDR geflohenen Software-Ingenieurin (1999)9 Frau Müller10, ein Arbeiterkind, ließ sich um das Jahr 1970 in der DDR als Facharbeiter für Datenverarbeitung ausbilden, absolvierte hinterher das Studium im Fach Informationsverarbeitung. Nach dem Studium bekam sie eine Stelle in ihrer Heimatstadt, wechselte aber den Betrieb, um beruflich voranzukommen. In derselben Zeit lernte sie ihren späteren Mann kennen und bekam ein Kind. Frage: „Haben Sie dann vorher so darüber gesprochen, wie so die Rollenverteilung sein sollte?“ [...] Frau Müller: „Ja. Das war in der DDR eigentlich überhaupt kein Problem. Weil diese Emanzipation, die war eigentlich schon da. Ne? Also, dass auch der Mann das Kind betreut hat.“ [...] Frage: „Haben Sie das denn so als Konflikt erlebt – so Ihren Wunsch nach Kind und Ihre Berufstätigkeit?“ Frau Müller: „In keinster Weise.“ [...] [Aber:] „Wenn der Partner nicht mitspielte, das wär‘ auch nicht in der DDR möglich gewesen.“ Als das Kind zwei war, wurde sie Abteilungsleiterin. „Es war ein Stress, ne? Es war gegen Wände laufen teilweise. Aber eigentlich, ich sage, ich gehe auch gern, sehr gern mit Menschen um. Es hat mir schon Spaß gemacht. Aber natürlich auch eine hohe Belastung – Kleinkind, Familie.“ [...] Frage: „Sie hatten dann auch so eine Art Vorgesetztenfunktion, ne? Und Leute unter sich, ne? Und fühlten Sie sich dem auch gut gewachsen?“ [...] Frau Müller: „Also ausbildungsmäßig, ja. [...] wo es Probleme gab im Kollegenkreis, [...] die Leute – jetzt nicht falsch verstehen – von bestimmtem Niveau, die akzeptierten das. Aber die Damen, die halt so [eine] Ausbildung nicht hatten, [und] die auch vom IQ her – da muss ich sagen – einen geringeren hatten – die haben das mir quasi geneidet, und dann war [da] ein bisschen Mobbing im Spiel. Also es hat grobe Auseinandersetzungen gegeben. Da war zufällig dann eine Kollegin, die mit mir also in der gleichen Firma war, wo ich meine Ausbildung hatte. Und die hat gesagt: ‚Ja die, die war noch Lehrling, als ich schon Facharbeiter war. Was hat sie mir denn zu sagen? Also, das gab’s dort auch. Und hab ich schwere Kämpfe hinter mir. Das ging dann bis vor diese [...] Konfliktkommission – Koko hieß es im Osten – und die [Kollegin] hat dann auch Verweise bekommen und so.“ Frage: „War das eigentlich ungewöhnlich, dass Sie als Frau solch eine Position hatten?“ Frau Müller: „Es war schon ein bisschen ungewöhnlich.“ Frage: „Und glauben Sie, dass Sie dadurch noch größere Schwierigkeiten hatten als jetzt Männer in der Funktion?“ Frau Müller: „Ein bisschen schon. Doch. Ich glaube man musste mehr sich mit Dingen beschäftigen als die Männer. Aber nicht so gravierend wie hier [in den alten Bundesländern]. [Lacht]“ [...]
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Dieses Interview wurde 1999 im Rahmen eines von der National Science Foundation finanzierten Forschungsprojekts von meiner damaligen Assistentin Christa Scheff geführt. Das Protokoll wurde von Dolores Augustine angefertigt. Der Name ist aus Datenschutzgründen verändert worden.
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Frage: „Hatten Sie eigentlich den Eindruck, dass Sie in dem Moment, wo Sie dann praktisch so Abteilungsleiterin waren, dass Sie da auch stärker politisch kontrolliert wurden? Frau Müller: „Ja. Sehr sogar. Also, ich sag da, dieser Vorgesetzte, der ist sehr schnell ausgeschieden, es musste schnell Ersatz gefunden werden, und dann hat man bei mir ein bisschen geschludert. Man hat nämlich nicht geguckt, dass ich nicht in der Partei war, und dass ich Kontakte in die BRD hatte. [...] Man hat mich regelmäßig, alle zwei Wochen vorgeladen. Hat gesagt, ich sollte in die Partei eintreten; ich hab’ dann immer getrickst, ich hab’ gesagt, ich fühle mich noch nicht reif genug. [...]“ Gravierende Probleme traten auf, als sie zugab, noch Kontakte zu einer alten Freundin zu haben, die mit Ausreiseantrag in die Bundesrepublik ausgereist war. „Das war mein Todesurteil. [...] Ich wurde vorgeladen zum Obersten Kombinatschef, der hat gesagt, ‚O Gott, Mädele, wir hatten schon so viel mit Dir vor. Kannst Du nicht den Kontakt abbrechen? Du verbaust Dir Deine ganze Karriere.’ Und ich hab’s einfach nicht eingesehen, dass so ein einfach lieber Mensch, dass ich den aus meinem Leben streichen soll. [...] Ich hab’s also nicht gemacht. Dann hatte ich zwei Wochen Bedenkzeit. Dann hat man mich meines Postens enthoben. Die eine Kollegin hat natürlich gejubelt. Und hat gesagt, ‚ich hab’s ja gleich gesagt’. Also es war schlimm. Es war schlimm. Ja-a-a. Dann wurde ich finanziell eine Stufe runtergestuft. Weiter durften sie nicht. Ich hab als Hochschulingenieur Lochkarten lochen dürfen. Primitivste Arbeiten. Also, es war schlimm. Ihrem Freund wurde nahegelegt, sich von ihr zu trennen. Stattdessen stellten die beiden einen Ausreiseantrag. „Wir waren der letzte Dreck. Politisch nicht mehr tragbar. Es war unerträglich. Dann haben wir einen Ausreiseantrag gestellt. Nach langem hin und her, gell? Weil es nicht einfach war, die Entscheidung. Aber wir hatten keinerlei Perspektive mehr. Ich konnte mich bewerben wo ich wollte, mich hat niemand genommen [...] Ich bin dann halt auch zu Hause geblieben, weil ich es nervlich nicht mehr schaffte. [...] Die haben das Kind bearbeitet im Kindergarten. Und haben dem gesagt, wenn ihr weggeht, dann hast du deine Oma nicht mehr und so. [...] Dann war ich zwei Jahre daheim – ein Horror.“ [...] Zwei Jahre mussten sie auf die Genehmigung des Ausreiseantrags warten. Sie heirateten und zogen in die Bundesrepublik, an einen Ort, wo der Mann eine Stelle bekam. Frau Müller bekam zuerst keine Stelle, teilweise weil sie keine Erfahrung am PC hatte, teilweise weil wenig Arbeitsplätze am Ort vorhanden waren, teilweise weil der dortige Kindergarten nur halbtags aufhatte. Frau Müller: „Immer daheim sitzen. Und kein Geld – das war Horror, gell?“ Frage: „Und die Stelle, die Sie bekommen haben – entsprach die so ihrem Ausbildungsstand, so ungefähr, oder war das sehr weit drunter?“ Frau Müller: „Nein. Das war sehr weit drunter. Aber man kann eigentlich nicht sagen ‚den Ausbildungsstand‘, weil die Praxis fehlte. Und – ich möcht’ sagen – es sind ja wirklich zwei Welten gewesen. In der DDR [...] waren ganz andere Kriterien in der Wirtschaft da als hier. Ich hab’ nicht gewusst, was ist Mehrwertsteuer, was ist Skonto. [...] Auch wie die Leute telefonierten. Wer hatte [in der DDR] schon ein Telefon zuhause? Selbst da hatte ich auch Komplexe. [...] Ich habe also ganz von vorne angefangen.“ Ihr Mann verließ sie und sie bekam eine neue Stelle, bei der sie Schulungen durchführte, ein Gebiet, das ihr sehr zusagte. „Da ging es in meinem Leben bergauf, muss ich sagen. Ich habe mich unheimlich reingekniet. Und mein Sohn hat auch dufte mitgespielt. Also, ich hatte eine Schule gefunden mit Nachmittagsbetreuung, was hier nicht so üblich ist. Ich habe dort also jegliche Unterstützung bekommen – von Kollegen, von Vorgesetzten. Weiterbildung, wenn ich das wollte, wünschte – überhaupt kein Problem.“ [...] Frage: „Und was war jetzt so das speziell Neue, was Sie lernen mussten, was Ihnen fehlte?“
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Frau Müller: „Also was man lernen musste – einfach das selbstbewusste Auftreten. Dass man sich nicht für alles entschuldigt. ‚Entschuldigt bitte noch, dass ich leb’ – So war man in der DDR erzogen. Das war ja auch so gewollt. Dieses Selbstbewusstsein war nicht erwünscht.“ Sie arbeitete zum Zeitpunkt des Interviews im öffentlichen Dienst, an einem Rechenzentrum. Sie sollte in der nächsten Zeit in den Vertrieb überwechseln: Frau Müller: „Ich bin vom Chef angesprochen worden. Also wahrscheinlich auch aufgrund meines Wesens. Der hat gesagt, Sie, ich kann Sie mir dabei gut vorstellen.[...] Und das hat er lobend erwähnt, dass er sagt, dass ich mich selbst eigentlich hochgearbeitet habe, also das Wissen angeeignet. [...] Das Engagement, das macht sich jetzt schon bezahlt. Also, ich muss sagen, ich mach meinen Job auch gerne. [...] Ich will jetzt unbedingt eine leitende Tätigkeit, aber es ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Im öffentlichen Dienst, die Stellen sind besetzt, ne? Und als Frau, also man muss 150% Leistung bringen hier, um das Gleiche zu erreichen wie ein Mann. [...] Frage: [...] Was würden Sie eigentlich so als Ihre größten beruflichen Erfolge einschätzen? Worauf sind Sie stolz? Frau Müller: „Eigentlich darauf, dass ich in gewisser Weise das schon geschafft habe, wovon ich in meiner Jugend geträumt hatte: mal Verfahren zu betreuen oder Projekte zu betreuen und das anderen Menschen zu vermitteln und das Feedback zu kriegen, dass die was von mir lernen. Das ist eigentlich das Schönste. Und das kriege ich. Tu’ ich sehr gerne, mit Menschen umgehen.“
Literatur Augustine, Dolores L., Berufliches Selbstbild, Arbeitshabitus und Mentalitätsstrukturen von Software-Experten der DDR, in: Hübner, Peter (Hg.), Eliten im Sozialismus, Köln 1999, S. 405-433 Budde, Gunilla-Friederike, Frauen der Intelligenz. Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975, Göttingen 2003 Fischer-Rosenthal, Wolfram, Schweigen – Rechtfertigen – Umschreiben. Biografische Arbeit im Umgang mit deutschen Vergangenheiten, in: Ders.; Alheit, Peter; Hoerning, Erika (Hg.), Biografien in Deutschland, Opladen 1995, S. 43-86 Trappe, Heike, Emanzipation oder Zwang? Frauen in der DDR zwischen Beruf, Familie und Sozialpolitik, Berlin 1995 Zachmann, Karin, Mobilisierung der Frauen. Technik, Gesellschaft und Kalter Krieg in der DDR, Frankfurt am Main 2004
2. RELIGION UND WERTEWANDEL
ROUSSEAUS „EMILE“ – ODER DER BEGINN MODERNER ERZIEHUNGSREFLEXION1 Von Heinz-Elmar Tenorth Im Sommer 1762 erschien kurz vor dem „Contrat Social“ Rousseaus „Emile oder über die Erziehung“.2 Der Roman löste einen europaweiten Skandal aus. In Paris wurde der Emile sogleich verboten und selbst in Genf wurde das Werk kurz danach, am 19. Juni 1762, auf den Index gesetzt und öffentlich verbrannt. Sein Autor, der sich auf dem Titelblatt stolz als „citoyen de Genève“ bezeichnet hatte, war hier wie in Frankreich mit Verhaftung bedroht, der er nur durch rasche Flucht in die Schweiz entgehen konnte. Sicherheit fand er schließlich in der preußischen Enklave Neuchâtel. Gegen den zentralen Vorwurf, der Emile, vor allem sein IV. Buch mit dem „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“ und dem Plädoyer für natürliche Religion, versündige sich gegen Religion und Kirche, verteidigte sich Rousseau 1763 in dem ausführlichen und rhetorisch meisterhaften „Brief an Herrn von Beaumont“, den Erzbischof von Paris, Christoph de Beaumont, der ihn 1762 öffentlich verurteilt hatte. Das blieb zunächst ohne Erfolg, auch in Genf galt er weiterhin als gefährlicher Denker, so dass Rousseau, tief enttäuscht, auf sein Bürgerrecht verzichtete. Die Zensur hat den überwältigenden Erfolg des Emile nicht verhindern können, aber früh deutet sich auch schon an, dass dieses epochemachende Buch über die moderne Erziehung nicht allein wegen seiner Ideen, sondern zumindest in gleicher Weise durch die Kritik und aus der sich verselbständigenden Rezeption der Zeitgenossen und Nachgeborenen lebt. Obwohl bis heute international erfolgreich und in allen westlich beeinflussten Kulturen einen Standardplatz unter den Klassikern der Pädagogik einnehmend, wurde die Rezeption in Deutschland, seit 1762 und kontinuierlich bis heute, ein Phänomen besonderer Intensität, für die Wahrnehmung Rousseaus und die Interpretation des Emile auch international eigentümlich folgenreich. Erziehungsphilosophisch ist es eher der „deutsche Rousseau“ als der authentische Text, von dem die Debatte bestimmt war und ist. Die deutschsprachigen Pädagogen der Aufklärung, die so genannten Philanthropen, sind die ersten emphatischen Leser Rousseaus. Sie veröffentlichten zwischen 1789 und 1791 in vier Bänden, zugleich der 12. bis 15. Teil ihres Standardwerkes „Allgemeine —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 2.1, Jean-Jacques Rousseau: Emile (1762). Rousseau, Jean Jacques, Emile ou de l’éducation, Paris 1762 bei Duchesne (mit dem fiktiven Verlagsort Amsterdam) und beim Verlag Néaulme. Vgl. Quelle Nr. 2.1 mit Auszügen aus dem 1. und 2. Buch der aktuellen Edition von Martin Rang.
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Heinz-Elmar Tenorth
Revision des gesammten Erziehungswesens“3, nicht nur eine vollständige Übersetzung des Emile, sie kommentierten und kritisierten ihn auch intensiv. Darin spiegelt sich nicht allein ihre Überzeugung, dass hier das „wichtigste Buch, das je über Erziehung geschrieben wurde“ vorgelegt worden sei4, mit ihrem Kommentar wollten die Philanthropen, die sich stolz als „Adepten“ Rousseaus bezeichneten, zugleich dafür sorgen, dass die Ideen des Meisters in der angemessenen Weise rezipiert wurden. Angemessen, das hieß für sie, dass die Erziehungstheorie Rousseaus pragmatisch, politisch und pädagogisch kontrolliert und entschärft werden musste. Dieser „pädagogische Rousseau“ bleibt bis heute ein eigentümliches Phänomen, auch dann, wenn er die Erziehungskritik reformpädagogischer oder gesellschaftskritischer Bewegungen, wie etwa um 1900 oder nach 1968, munitionieren half.5 Der Emile liefert aber auch allen Grund für eine im Zeitverlauf wechselnde Rezeption und Instrumentalisierung zwischen Zensur und einer pädagogisierenden Aneignung, zwischen der Umdeutung ad usum delphini und der radikalisierenden Aneignung zum Zwecke der Kritik aller Erziehung in der bürgerlichen Gesellschaft. Denn bis heute sind vielleicht die Elemente unstrittig, aus denen Rousseau dieses grandiose Gedankenexperiment einer Erziehung außerhalb der negativen Einflüsse einer verdorbenen Kultur konstruiert, in Fortsetzung seiner kulturkritischen Preisschriften und als pädagogische Antwort, neben der politischen, die der Contrat Social auf die kulturkritische Diagnose liefert. Höchst kontrovers ist dagegen bis heute, ob der Emile in sich konsistent ist oder ob hier im Fortgang des Lebenslaufs letztlich zwei Erziehungssysteme konstruiert wurden, wonach der Heranwachsende in der Kindheit anders, nämlich über Erfahrung, als im Jugendalter gesteuert wird, wenn der Lehrer und die Belehrung regieren. Rousseaus Emile gilt ferner insofern als widersprüchlich, als der Propagandist des natürlichen Menschen für den weiblichen Teil der Menschheit ganz andere, sehr konventionelle und geschlechtsspezifische Erziehungsziele und -praktiken empfiehlt. Höchst kontrovers ist schließlich auch, welchen Status diese Erziehungsschrift im Kontext der gesamten pädagogisch-politischen Argumente Rousseaus hat. Blickt man zunächst auf die Elemente der Konstruktion, die leitenden Begriffe und Ideen, dann stößt man unschwer auf seinen Begriff der Natur. Sie sorgt bei Rousseau im Widerstreit von Eigenliebe und Selbstliebe für die Dynamik des Aufwachsens und fundiert auch die Differenz von Mensch und Bürger. Letztlich unterscheidet Rousseau idealtypisch drei „Erzieher“, also die Natur, die Menschen und die Dinge, die in Harmonie zueinander zu bringen die wesentliche pädagogische Erwartung und Erfolgsbedingung ist. Rousseau setzt auf die Kindheit als Lebensphase eigenen Rechts und auf den Lebenslauf als den Prozess der moralischen Konstruktion des Menschen. Bezogen auf die Formtypik der Erziehung wird der paradoxe Begriff „negativer Erziehung“ bedeutsam, samt den ungewöhnlichen und unseren pädagogischen Alltagsverstand irritierenden —————— 3 4 5
Herausgegeben v. Joachim Heinrich Campe zusammen mit der „Gesellschaft practischer Erzieher“, so die Selbstbeschreibung der Philanthropen, erschienen die Bände in Wien und Braunschweig (ND Vaduz 1979). So der Philanthrop und kantianisch beeinflusste Erziehungstheoretiker Johann Heinrich Gottlieb Heusinger 1828 in der Einleitung zu seiner Übersetzung des Emile. Exemplarisch: Mollenhauer, Klaus, Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen, München 1968, besonders S. 65ff.
Rousseaus „Emile“
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Empfehlungen, dass es besser sei, nichts zu tun als irgendetwas zu tun, Zeit zu verlieren als zu gewinnen. Ungewöhnlich ist auch die Kritik an John Locke, in der Rousseau vor dem „Räsonnieren“ mit den Kindern ebenso abrät wie vor zu früher Belehrung aus Büchern. Ein Plädoyer für die Erziehung ist aus der Erfahrung und aus dem Umgang mit den Dingen begründet. Das systematische Problem beginnt erst dann, wenn aus den Elementen ein System konstruiert wird, weil sich dann die Frage stellt, ob möglich und wünschenswert ist, was Rousseau konstruiert. Für die Prüfung dieser Frage ist der Hinweis auf Rousseaus eigene Erziehungspraxis und das Abschieben der eigenen fünf Kinder ins Findelhaus zwar alt, aber nicht sinnvoll. Denn ein Gedankenexperiment, und genau das ist der Status des Emile, soll allein die Bedingungen und Möglichkeiten alternativer Erziehung konstruieren, nicht ihre Empirie schon zeigen oder gar Rezepte liefern, auch wenn Tenor und Duktus vieler Abschnitte dies nahe zu legen scheinen. Es soll die pädagogische Kritik und Selbstkritik stimulieren und nicht ein Modell unabhängig von Zeit und Raum präsentieren, sondern eine Option für eine Gesellschaft, der die sozialen, politischen und institutionellen Voraussetzungen für eine Erziehung fehlen, die der Natur des Menschen zu ihren Möglichkeiten verhilft. Wenn Rousseau dagegen in seinen Schriften über die Republik, ob in Genf oder für Polen, nicht über Erziehung in einer anderen Welt nachdenkt, dann konstruiert er keine emilischen Systeme fernab der Welt, sondern folgt dem Modell der platonischen Staatserziehung durch eine kontrolliert-kontrollierende Öffentlichkeit. Hier wie auch im Emile ist die Erziehung deshalb alles anders als ‚rousseauistisch’, wie man später eine zügellos-anarchische Erziehung fälschlich nannte; schon sein Freiheitsbegriff sieht das Kind als Objekt des Erziehers, ausgesetzt den Notwendigkeiten, die sein Lernen ordnen. „Wohlgeordnete Freiheit“ ist Rousseaus pädagogisches Weltmodell, nicht laisser-faire oder antiautoritäre Erziehung. Auch von einem unaufhebbaren Konflikt von Mensch und Bürger, die als disjunkte Wege der Orientierung legitime oder illegitime Erziehung trennen, wie es eine jüngere Lesart Rousseaus in Deutschland tradiert, ist Rousseau weit entfernt. Vergesellschaftung als Form und Chance der Individualisierung, das ist seine Herausforderung. Dafür eine angemessene Welt zu konstruieren, ist die pädagogische Aufgabe, und dabei die Natur des Kindes so wenig zu ignorieren wie die Möglichkeiten oder Hindernisse in der jeweiligen Gesellschaft. Diese Kriterien bestimmen den Referenzraum, in dem man die Angemessenheit der jeweiligen Konstruktion einer Erziehungswelt prüfen kann.
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Quelle Nr. 2.1 Jean-Jacques Rousseau: Emile (1762)6 1. Buch […] Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut; alles entartet unter den Händen des Menschen. Er zwingt einen Boden, die Erzeugnisse eines anderen zu züchten, einen Baum, die Früchte eines anderen zu tragen. Er vermischt und verwirrt Klima, Elemente und Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Er erschüttert alles, entstellt alles – er liebt die Mißbildung, die Monstren. Nichts will er so, wie es die Natur gemacht hat, nicht einmal den Menschen. Er muß ihn dressieren wie ein Zirkuspferd. Er muß ihn seiner Methode anpassen und umbiegen wie einen Baum in seinem Garten. Ohne das wäre alles noch schlimmer, und unsere Gattung will nicht halb geformt existieren. So, wie es im Augenblick steht, würde ein nach seiner Geburt völlig sich selbst überlassener Mensch das verbildetste aller Wesen sein. Vorurteile, Autorität, Vorschriften, Beispiel – alle die Einrichtungen der Gesellschaft, in denen wir ertrinken, würden seine Natur ersticken und ihm kein Äquivalent dafür geben. Sie müßte, wie ein Bäumchen, das der Zufall mitten auf einem Weg hat wachsen lassen, alsbald zugrunde gehen, weil die Vorübergehenden es von allen Seiten stoßen und in alle Richtungen biegen würden. An dich wende ich mich, zärtliche und klarblickende Mutter7*, die du abseits von der großen Straße zu gehen und das heranwachsende Bäumchen vor dem Schock der menschlichen Irrtümer
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Auszüge aus: Rousseau, Jean-Jacques, Emile oder Über die Erziehung, dt. Fassung nach der Edition von Martin Rang, aus dem Französischen unter Mitarbeit des Herausgebers übertragen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart 1998, S. 107-110, 208-210, 212-213, 264-266. Die mit * versehenen Anmerkungen stammen von Rousseau, die übrigen von M. Rang. Zusätze in runden Klammern von H.-E. Tenorth. Die erste Erziehung ist die wichtigste, und diese erste Erziehung ist unbestreitbar Sache der Frauen: wenn der Schöpfer der Natur gewollt hätte, daß es Sache der Männer sei, so hätte er ihnen Milch zum Nähren der Kinder gegeben. Wendet euch also vorzugsweise an die Frauen in euren Abhandlungen über Erziehung, denn abgesehen davon, daß sie die Erziehung unmittelbarer überwachen können als die Männer und ihr Einfluß darauf immer größer wird, ist ihr Erfolg für sie auch viel wichtiger, da die meisten aller Witwen ihren Kindern nahezu ausgeliefert sind und dann heftig zu spüren bekommen, ob sie ihre Kinder schlecht oder gut erzogen haben. Die Gesetze, immer so sehr mit den Gütern des Lebens und so wenig mit den Menschen beschäftigt, da sie in ihren Zielen den Frieden und nicht die Tugend verfolgen, gestehen den Müttern zu wenig Autorität zu. Sie befinden sich dennoch in einer viel sichereren Lage als die Väter, und ihre Aufgaben sind viel mühevoller. Ihre Sorgfalt ist für ein gut geregeltes Familienleben viel wichtiger, und im allgemeinen sind sie es, die am meisten an den Kindern hängen. Es gibt Fälle, wo ein Sohn, dem es irgendwie an Respekt vor dem Vater fehlt, zu entschuldigen ist. Wenn aber ein Kind, gleichgültig um was es geht, so entmenscht ist, seiner Mutter den Respekt zu verweigern, der, die es in ihrem Schoß getragen hat, die es mit ihrer Milch genährt hat, die sich in jahrelanger Selbstentäußerung nur um es allein gekümmert hat, so müßte man dieses Kind schleunigst strangulieren wie ein Ungeheuer, das nicht würdig ist, das Licht der Welt zu erblicken. Es wird immer gesagt, daß Mütter ihre Kinder verwöhnen. Damit tun sie sicher unrecht, doch vielleicht weniger als ihr, die ihr sie herabwürdigt. Die Mutter will, daß ihr Kind glücklich ist, und zwar sofort. Hierin hat sie recht: täuscht sie sich über die Mittel, muß man sie aufklären. Ehrgeiz, Geiz, Tyrannei, die mißverstandene Vorsorge der Väter, ihre Nachlässigkeit und ihre harte Empfindungslosigkeit sind hundertmal verhängnisvoller für die Kinder als die blinde Zärtlichkeit der Mütter. Es bleibt nur noch der Sinn dessen zu erklären, was ich Mutter nenne, und das wird in der Folge geschehen.
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zu schützen wußtest! Pflege und tränke das junge Gewächs, bevor es stirbt; eines Tages werden seine Früchte deine Wonne sein. Friede beizeiten die Seele deines Kindes ein; ein anderer mag den Umkreis abstecken wollen, aber du allein mußt die Schranken setzen8*. Die Pflanze wird durch Pflege aufgezogen, der Mensch durch die Erziehung. Würde der Mensch groß und stark geboren, so wären Körperwuchs und Kraft ihm völlig unnütz, bis er gelernt hätte, sich ihrer zu bedienen. Sie gerieten ihm sogar zum Nachteil, da die anderen nicht auf die Idee kämen, ihm beizustehen9*, und, ganz sich selbst überlassen, müßte er vor Elend sterben, ohne je kennengelernt zu haben, was er braucht. Man klagt über den Zustand der Kindheit, aber man sieht nicht, daß die menschliche Rasse zugrunde ginge, wenn nicht jeder Mensch zuerst Kind gewesen wäre. Wir werden schwach geboren und bedürfen der Kräfte; wir werden hilflos geboren und bedürfen des Beistands; wir werden dumm geboren und bedürfen des Verstandes. All das, was uns bei der Geburt noch fehlt und dessen wir als Erwachsene bedürfen, wird uns durch die Erziehung zuteil. Diese Erziehung kommt uns von der Natur oder den Menschen oder den Dingen. Die innere Entwicklung unserer Fähigkeiten und unserer Organe ist die Erziehung durch die Natur. Der Gebrauch, den man uns von dieser Entwicklung zu machen lehrt, ist die Erziehung durch die Menschen, und der Gewinn unserer eigenen Erfahrung mit den Gegenständen, die uns affizieren, ist die Erziehung durch die Dinge. [...] Sobald also die Erziehung zur Kunst wird, ist es nahezu unmöglich, daß sie gelingt, da das zu ihrem Gelingen notwendige Zusammenwirken nicht in der Hand eines Menschen liegt. Das einzige, was man durch Bemühungen erreichen kann, ist, dem Ziel mehr oder weniger nahe zu kommen, aber man muß Glück haben, um es zu erreichen. Was ist denn dieses Ziel? Es ist die Natur selbst; wir haben es bewiesen. [...] 2. Buch [...] Behandelt euren Zögling seinem Alter gemäß. Weist ihm sofort seinen richtigen Platz an und haltet ihn dort so fest, daß er sich nicht von ihm zu entfernen sucht. Dann wird er, noch bevor er weiß, was Vernunft überhaupt ist, die beste Schulung durchmachen, die ihn zu ihr hinführt. Befehlt ihm nie etwas, was immer es auch sein mag – absolut nichts. Suggeriert ihm nicht einmal die Vorstellung, daß ihr die geringste Autorität über ihn haben könntet. Er soll nur wissen, daß ihr stark seid und er schwach ist und daß er euch durch diese Tatsache notwendigerweise ausgeliefert ist. Er soll es wissen, erfahren und spüren, rechtzeitig spüren, das harte Joch auf seinem stolzen Haupt, das die Natur dem Menschen auferlegt, das schwere Joch der Notwendigkeit, unter das sich jedes endliche Wesen beugen muß. Er soll diese Notwendigkeit in den Dingen sehen, niemals in der
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Man hat mich versichert, daß M. Formey meinte, ich wolle hier von meiner Mutter sprechen, und daß er das auch in irgendeinem Buch ausgesprochen habe. Entweder macht man sich damit auf grausame Weise über M. Formey lustig oder über mich. (M. Formey [1711-1797], protestantischer Geistlicher in Berlin, hatte einen „Anti-Emile“ verfasst.) Äußerlich ihnen ähnlich ohne die Gabe der Sprache und des Denkens, das sie zum Ausdruck bringt, wäre er nicht in der Lage, ihnen sein Hilfsbedürfnis verständlich zu machen, und nichts an ihm würde es ihnen kundtun.
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Laune der Menschen10*. Der Zügel, der ihn im Zaum hält, sei die Stärke und nicht die Autorität. Verbietet ihm nicht das, was er nicht tun soll, sondern hindert ihn daran, und zwar ohne Erklärungen und vernünftige Begründungen. Gesteht ihm bei seinem ersten Wort alles zu, wozu ihr bereit seid, ohne ihn bitten und flehen zu lassen, und vor allem bedingungslos. Bewilligt mit Freude und verweigert es nur mit Bedauern, jedoch unwiderruflich. Laßt euch nicht aus Bequemlichkeit zum Nachgeben verführen, euer Nein muß wie eine eherne Mauer sein; ist das Kind fünf- oder sechsmal vergeblich dagegen angerannt, wird es nicht mehr versuchen, sie umzustürzen. So nur erzieht ihr es zur Geduld, zur Ausgeglichenheit, zum friedfertigen Sich-Abfinden, sogar dann, wenn es das Gewünschte nicht erreicht hat. Denn es liegt in der Natur des Menschen, geduldig die Notwendigkeit der Dinge zu ertragen, aber nicht den bösen Willen der Menschen. [...] Es ist sehr seltsam, daß man, seit man sich mit der Erziehung der Kinder beschäftigt hat, auf keine anderen Mittel, sie zu leiten, verfallen ist als auf Wetteifer, Eifersucht, Neid, Eitelkeit, Habgier, Feigheit, also gerade die gefährlichsten Leidenschaften, die am schnellsten emporschießen und am geeignetsten sind, die Seele zu verderben, noch ehe der Körper gereift ist. Mit allem, was man vorzeitig ihrem Kopf eintrichtern will, pflanzt man die Wurzel eines Lasters in den Grund ihres Herzens. Hirnlose Lehrer glauben Wunder zu vollbringen, wenn sie die Kinder zum Bösen anleiten, um ihnen beizubringen, was Gutsein ist. Und dann sagen sie uns in tiefem Ernst: so ist der Mensch. Ja, so ist der Mensch, den ihr herangebildet habt. Alle Mittel hat man ausprobiert, außer einem, dem einzigen, das Erfolg verspricht: die kluggeregelte Freiheit. Man soll sich nicht mit der Erziehung eines Kindes befassen, wenn man es nicht dahin zu führen versteht, wohin man es bringen will, durch die Gesetze des Möglichen und des Unmöglichen. Da der Bereich des einen sowie des anderen ihm unbekannt ist, erweitert man ihn oder schränkt ihn nach Gutdünken ein. Man zügelt, treibt oder hält es zurück nur durch die Bande der Notwendigkeit, ohne daß es murrt. Nur durch die Macht der Dinge macht man es sanft und gefügig, ohne daß auch nur irgendein Laster in ihm zum Aufkeimen käme; denn niemals erwachen die Leidenschaften, wenn sie ohne jede Wirkung sind. Haltet eurem Zögling keine weisen Reden, er muß durch Erfahrung klug werden. Züchtigt ihn nicht, denn er weiß nicht, was unrecht tun ist. Laßt ihn niemals um Verzeihung bitten, denn er kann euch nicht beleidigen. Da er seinen Handlungen keinerlei Moralbegriffe unterlegen kann, kann er auch nichts moralisch Unrechtes tun, das eine Züchtigung oder einen Verweis verdienen würde. [...] Ob ich es wage, hier die größte, wichtigste und nützlichste Regel jeglicher Erziehung darzulegen? Sie heißt: Zeit verlieren und nicht gewinnen. Der Durchschnittsleser verzeihe mir meine Paradoxa – man braucht sie, wenn man nachdenkt. Und was man mir auch entgegenhalten mag – ich bin lieber der Mann der Paradoxa als der der Vorurteile. Die gefährlichste Zeit des Lebens ist die zwischen der Geburt und dem zwölften Lebensjahr. Das ist die Zeit, in der Irrtümer und Laster keimen, ohne daß man schon die Mittel hätte, sie zu zerstören. Und hat man endlich die Mittel, so ist es zu spät; die Wurzeln sitzen zu tief, um sie auszureißen. [...] Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie besteht keineswegs darin, Tugend und Wahrheit zu lehren, sondern darin, das Herz vor dem Laster und den Geist vor dem Irrtum zu bewahren. Wenn es euch gelänge, nichts zu tun und nichts geschehen zu lassen, wenn es euch gelänge, euren Zögling gesund und kräftig bis zu seinem zwölften Lebensjahr zu bringen, ohne daß er seine rechte von seiner linken Hand zu unterscheiden vermöchte, so würden sich die Augen seines Verständnisses vom ersten Augenblick an unter eurer Obhut der Vernunft öffnen. Ohne Vorurteile, ohne Gewohnheiten wäre nichts in ihm, was euren Bemühungen entgegenwirken könnte. Bald
—————— 10* Es ist sicher, daß das Kind jeden Willen, der sich dem seinen widersetzt, als unbegründete Laune empfinden wird. So wird es auch das, was sich seinen eigenen Launen widersetzt, als unbegründet empfinden.
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würde er unter euren Händen der weiseste aller Menschen, und indem ihr zu Anfang gar nichts getan hättet, hättet ihr ein Wunder an Erziehung vollbracht. Tut das Gegenteil dessen, was der Brauch ist, und ihr werdet fast immer das Richtige tun. […] Ich predige euch eine schwere Kunst, ihr jungen Lehrer, nämlich beherrschen ohne Vorschriften zu geben und durch Nichtstun alles zu tun. Ich gebe zu, daß diese Kunst nicht eures Alters ist, ihr könnt dabei nicht sofort mit euren Talenten brillieren und den Vätern Eindruck machen. Aber sie ist die einzige, die Erfolg verspricht. Nie wird es euch gelingen, einen Weisen zu schaffen, wenn ihr nicht zunächst einen Gassenjungen geschaffen habt. Das war die Erziehung der Spartaner; anstatt die Kinder hinter die Bücher zu setzen, brachte man ihnen zunächst bei, wie sie sich ihr Mittagessen stehlen konnten. Waren deshalb die Spartaner roh, wenn sie erwachsen waren? Wer kennt nicht die Treffsicherheit und Würze ihrer Entgegnungen? Immer zum Sieger bestimmt, vernichteten sie ihre Feinde in jeglicher Art von Krieg, und die geschwätzigen Athener fürchteten ebensosehr ihre Worte wie ihre Streiche. In der gepflegten Erziehung befiehlt der Lehrer und glaubt dadurch zu herrschen. In Wirklichkeit ist es das Kind, das herrscht. Es bedient sich dessen, was ihr von ihm fordert, um von euch zu erlangen, was ihm gefällt. Eine Stunde Fleiß müßt ihr ihm mit acht Tagen Nachgiebigkeit bezahlen. Jeden Augenblick müßt ihr mit ihm unterhandeln. Und die Verträge, die ihr in eurem Sinne machen wollt, die es aber in seinem Sinne durchführt, dienen immer nur seinen Wünschen, besonders dann, wenn man so ungeschickt ist, zu seinem Vorteil eine Bedingung daran zu knüpfen, die ihm sowieso nichts ausmacht. Im allgemeinen versteht das Kind viel besser in der Seele des Lehrers zu lesen als dieser im Herzen des Kindes. Und das ist klar: denn den ganzen Spürsinn, den ein unabhängiges Kind für seine Selbsterhaltung aufwenden müßte, gebraucht es, um seine natürliche Freiheit aus den Fesseln seines Tyrannen zu retten, während dieser Tyrann, der gar kein so dringendes Interesse daran hat, den anderen voll und ganz zu verstehen, manchmal besser auf seine Kosten kommt, wenn er ihn bei seiner Faulheit oder Eitelkeit läßt. Folgt mit eurem Zögling dem umgekehrten Weg. Laßt ihn immer im Glauben, er sei der Meister, seid es in Wirklichkeit aber selbst. Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, der man den Schein der Freiheit zugesteht. So bezwingt man sogar seinen Willen. [...]
Literatur Buck, Günther, Über die systematische Stellung des „Emile“ im Werk Rousseaus, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 5 (1980), S. 1-40 (auch in: Ders., Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn 1984, S. 91-134) Fetscher, Iring, Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, 3. überarb. Aufl., Frankfurt am Main 1975 (sowie neuere Aufl.) Hansmann, Otto (Hg.), Seminar: Der pädagogische Rousseau, Bd. 2: Kommentare, Interpretationen, Wirkungsgeschichte, Weinheim 1996 Israel, Jonathan Irvine, Radical enlightenment. Philosophy and the making of modernity 16501750, Oxford 2001 Talmon, Yaakov Leib, Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln 1961
EDWARD GIBBON UND DIE CHRISTLICHE REPUBLIK EUROPA1 Von Wilfried Nippel Der „Untergang des Römischen Reiches“ wird immer wieder gern beschworen, wenn es um das vermeintlich unausweichliche Schicksal großer Imperien geht oder vor einem kulturellen Verfall gewarnt werden soll. Bewusste oder unbewusste Reminiszenzen an das Werk von Edward Gibbon, The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (6 Bände, 1776-1788) – das einzige Geschichtswerk aus der Zeit der Aufklärung, das bis heute immer noch und wieder gelesen wird – sind dabei geläufig.2 Nur wird oft übersehen, dass Gibbon keine ungebrochene Bewunderung für Rom zeigte, sondern es für eine Weltmacht ohne ernsthafte Konkurrenz hielt, die dem Glück und Fortschritt der Menschheit abträglich war. Gibbon hat 1781 den 3. Band seines Werkes, der bis zum Ende des römischen Kaisertums im Westen (im Jahre 476) geführt hatte, mit „General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West“ abgeschlossen, die so etwas wie eine Quintessenz seiner Darstellung zu bieten schienen. Hier sprach Gibbon von einer am römischen Beispiel zu studierenden „schrecklichen Umwälzung“, die eine Lehre für die eigene Zeit biete. Aber dieses Lehrstück bedeutet für ihn nicht ein Menetekel für die Gegenwart, sondern steht gerade für den optimistischen Ausschluss einer möglichen Wiederholung in der Zukunft. Diese werde schon dadurch verhindert, dass eine umfassende Tyrannei in Europa durch das Gleichgewicht der Mächte ebenso ausgeschlossen sei, wie die Konkurrenz untereinander den Fortschritt in Wissenschaft und Wirtschaft gefördert habe. Im Anschluss an diese Passage führt Gibbon aus, dass ein allgemeiner Zivilisierungsprozess irreversible Ergebnisse erbracht habe. Die einst von barbarischen Jägern und Hirten bewohnten Regionen Europas und Asiens seien zivilisatorisch angeglichen worden. Gefahr könne nur noch von Völkern jenseits des russischen Reiches drohen. Die Fortschritte in Mathematik, Chemie, Mechanik und Architektur seien jedoch auch der Kriegstechnik zugute gekommen, wie sich in Feuerwaffen und Befestigungen ausweise. Deshalb sei man selbst vor den tatarischen Horden sicher, denn wenn diese erfolgreich angreifen wollten, müssten sie aufhören, Barbaren zu sein. Gibbon hat sich im Hinblick auf die Fortschrittsthese genauso der Theorien der schottischen und französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts bedient, wie er sich zeitgenössischen Vorstellungen über die heilsamen Auswirkungen des europäischen Gleichgewichts der Mächte anschloss. Letztere fanden sich in unterschiedlichen Varianten unter anderem —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 2.2, Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Bde. (1776-1788). Vgl. Quelle Nr. 2.2 mit Auszügen aus Gibbon, Edward, Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, übersetzt von Michael Walter und Walter Kumpmann, München 2003. Diese Taschenbuchausgabe enthält die ersten drei Bände von Gibbons Werk in neuer Übersetzung, die in den Auszügen vom Verfasser leicht modifiziert wurde.
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bei Montesquieu (L’esprit des lois, 1748), David Hume (Of the Balance of Power, 1752), William Robertson (The History of the Reign of the Emperor Charles V, 1769) oder bei Voltaire (Le siècle de Louis XIV, 1756). Während Gibbon in Montesquieu, Hume und Robertson seine großen Vorbilder als Historiker sah, hatte er allerdings für Voltaire wegen dessen lässigen Umgangs mit historischen Fakten nur Spott übrig. Die Vorstellung, dass es die Struktur des europäischen Mächtesystems ist, die unabhängig von der Qualität der Herrscher funktioniert, bringt Gibbon durch seine Vergleiche zeitgenössischer Monarchen mit antiken Herrscherfiguren zum Ausdruck: Julian und Semiramis stehen für Friedrich II. von Preußen und Katharina II. von Russland als ebenso aufgeklärte wie tatkräftige Herrscher – Gibbon betrachtet (anders als Voltaire) Russland als Mitglied des europäischen Staatensystems. Arcadius oder Honorius (die Söhne von Theodosius I., die als „Kinderkaiser“ von einflussreichen Höflingen gesteuert wurden) ist die Chiffre für Ludwig XV. von Frankreich, der als Fünfjähriger Nachfolger des Sonnenkönigs geworden war. Die strukturelle Gleichheit der Mitglieder dieses Staatensystems wird darin gesehen, dass die Republiken Freiheit mit effizienten Regierungsformen verbinden und auch in den Monarchien Institutionen und Regelungen bestehen, die zumindest ein Minimum an Freiheit verbürgen. An anderer Stelle in seinem Werk (Kapitel 3) hat Gibbon deutlich gemacht, dass die englische Mischverfassung mit den Elementen König, Lords und Commons und mit einer aus freien Bürgern gebildeten Miliz (statt einer ständigen, professionellen Armee) am besten die Freiheit sichert. Die positiven Effekte einer Balance der Kräfte zeigen sich in den innerstaatlichen Ordnungen genauso wie in den internationalen Beziehungen. Ein mögliches Abgleiten in den Despotismus kann im Ernstfall noch dadurch kompensiert werden, dass konkurrierende europäische Mächte ihren Einfluss geltend machen oder Opfern einer Verfolgung Zuflucht bieten, wie Gibbon unter anderem im 3. Kapitel seines Werkes ausführt.3 Eben darin unterscheidet sich das moderne Europa vom Römischen Reich, das die gesamte zivilisierte Welt des Altertums erfasste. Nach Robertson hatte sich dieses europäische Staatensystem (nach einer langen Vorgeschichte im Mittelalter) endgültig in der Reaktion auf das Streben Karls V. nach einer Universalmonarchie herausgebildet; Hume hatte seine Bewährung (dank der britischen Politik) in der Abwehr der Hegemonialansprüche Ludwigs XIV. gesehen. Gibbon hat in seinem Werk für das Römische Reich die Entfaltung eines durch keinerlei institutionelle Kontrollen (jenseits der Selbstbeschränkung weiser Herrscher) gehemmten Despotismus nachgezeichnet, dem der fortschreitende Verfall der Tugend der BürgerSoldaten korrespondiert. Die dominierende Rolle von Hofeunuchen in der Spätantike ist ein Symbol dieses Niedergangs. Er wurde aber auch dadurch gefördert, dass sich die Kirche zu einem Staat im Staat entwickelte und somit dem Römischen Reich die für seine Erhaltung notwendigen personellen und materiellen Ressourcen entzog. Alles dies führte dazu, dass schließlich die Verteidigung ganz den barbarischen Germanen überlassen wurde, die schließlich das Reich und damit eine blühende Zivilisation zerstörten. Die Christen
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Vgl. Quelle Nr. 2.2, Auszug II.
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und die Germanen scheinen so verantwortlich für den Untergang des Römischen Reiches zu sein.4 Aber Gibbon war kein Thesenhistoriker. Die „General Observations“ hatte er als eine Art Fingerübung in der Tradition eines Montesquieu (Considérations sur les causes de la grandeur des Romains et de leur décadence, 1734) bereits um 1772 niedergeschrieben, bevor er sich an die Ausarbeitung seines Werkes gemacht hatte. Beim Abschluss des dritten Bandes hat er 1781 diesen Text an das Ende gestellt, als ihm noch nicht klar war, ob er die Fortsetzung des Werkes bis zum Untergang des Byzantinischen Reiches 1453 in Angriff nehmen wolle und könne. Wenn es ihm nur um die Explikation bestimmter Thesen an ausgewählten Beispielen gegangen wäre, hätte er sich schon bei seiner Darstellung bis zum Ende des weströmischen Reiches mit einem großen Essay à la Montesquieu begnügen können, und nicht drei voluminöse Bände vorlegen müssen, die detailliert Ereignis- und Strukturgeschichte auf ingeniöse, bisher in der Historiografie nicht gekannte Weise verbanden. Im Laufe seines Werkes, das er schließlich bis 1453 fortführte, entwickelte Gibbon immer mehr Sinn für die Ambivalenz und Kontingenz historischer Prozesse, die jeweils Zerstörung, Umformung und Neuaufbau zugleich bedeuten, in jedem Verfall auch die Chance des Fortschritts enthalten. Dies zeigt sich sowohl in seiner Bewertung der Christen wie der Germanen. Der 1776 erschienene erste Band von Decline and Fall hatte noch suggeriert, dass das Christentum entscheidend für den Niedergang des Römischen Reiches gewesen sei, wobei die innere Entwicklung der Kirche mit der Herausbildung der Bischofsverfassung und den Tendenzen zur Suprematie des Bischofs von Rom eine fortschreitende Zerstörung republikanischer Strukturen entsprechend derjenigen in der Verfassung des Reiches, jedoch zeitlich versetzt, zeige (Kapitel 15). Aber mit dem Fortgang seines Werkes machte Gibbon deutlich (oder wurde ihm bewusst), dass in einer epochenübergreifenden Perspektive die Rolle der Kirche durchaus auch anders gesehen werden kann. Dies zeigt sich bereits in seiner Darstellung der Religionspolitik des 4. Jahrhunderts. Schon Gibbons Zeitgenossen waren verblüfft, dass er als vermeintlicher Kirchenfeind die Religionspolitik des Kaisers Julian (der von aufklärerischen Religionskritikern wie Shaftesbury und Voltaire als toleranter Philosophenkönig gepriesen worden war) scharf kritisierte, weil dessen Versuch, die Christianisierung des Reiches rückgängig zu machen, nur zu politischer und sozialer Destabilisierung geführt habe (Kapitel 23). An einem Kirchenpolitiker wie Athanasius, der als Erzbischof von Alexandria jahrzehntelang mit verschiedenen Kaisern Konflikte ausgetragen hatte, bewunderte Gibbon dessen politische Fähigkeiten, die ihn für die Rolle des Kaisers hätten qualifizieren können. Wenn das Kirchenvolk gegen die Absetzung des Athanasius und anderer Bischöfe durch den Kaiser protestierte, weil es sich in seinem Wahlrecht verletzt sah, deutete sich eine Entwicklung an, in der die Kirche zu einem Refugium bürgerlicher Freiheit wurde (Kapitel 21). So sehr Gibbon bei seiner Darstellung der mittelalterlichen Kirche die Inquisition attackierte, so sehr konnte er auch dem Papsttum in bestimmten Hinsichten eine positive Rolle zuschreiben. Während die orthodoxe Kirche kein Gegengewicht zum byzantinischen Despotismus bildete, war Papst Gregor VII. in seinem Kampf mit Kaiser Heinrich IV. ein —————— 4
Vgl. Quelle Nr. 2.2, Auszug I.
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neuer Athanasius (Kapitel 56). Die Kirche wehrte sich gegen eine Universalmonarchie, ohne jedoch ihre Ansprüche auf weltliche Herrschaft durchsetzen zu können. Damit wurde der Boden für die Entwicklung des neuzeitlichen Europa mit seinem Mächtepluralismus im Inneren der Staaten wie in ihren Beziehungen untereinander vorbereitet. Auch mit der Etablierung der germanischen Nachfolgestaaten des Römischen Reiches wurden langfristig neue Chancen auf freiheitssichernde Institutionen eröffnet. Als der Kaiser Honorius im Jahre 418 eine Versammlung der Honoratioren der südgallischen Provinzen einberief, machte dies in einem zerfallenden politischen System keinen Sinn mehr. Die Institutionalisierung einer solchen Versammlung hätte dagegen drei Jahrhunderte zuvor die Auswirkungen autokratischer Herrschaft mildern, die Verteidigungsbereitschaft der Bürger fördern und so das Reich stabilisieren können. Gibbon deutet diese Einrichtung als eine Art Parlament und spekuliert deshalb auch, dass ihr vielleicht die Bischöfe angehört hätten (Kapitel 31). Später hätten die Franken die Chance gehabt, aus ihrer Heeresversammlung eine gesetzgebende Versammlung zu bilden und damit das rohe Vorbild, das in den Wäldern Germaniens entworfen worden war (diese Formulierung folgt Montesquieu), durch die politische Weisheit der Römer zu verfeinern, aber sie haben diese Möglichkeit noch nicht genutzt (Kapitel 38). Besser machten es dann die Langobarden, auch wenn sie noch nicht die richtige Balance zwischen König, Rat und Volksversammlung gefunden hatten. Sie bezogen die Bischöfe Italiens nicht ein, insofern blieb ihre beachtliche Staatskunst diejenige einer barbarischen Gesellschaft (Kapitel 45). Da die Germanen sich durch die Übernahme des Christentums, der lateinischen Kultur und des römischen Rechts zivilisierten, eröffneten sich langfristig Chancen zu einer neuen Kultursynthese. Die Kirche förderte die Kontakte über die Staatengrenzen hinaus und ermöglichte die kulturelle Einheit. Insofern wurden in den germanischen Nachfolgestaaten die Grundlagen für die Entwicklung einer christlichen Republik Europa gelegt, in der die gehegte Konkurrenz von Staaten mit vergleichbaren Rechtssystemen und einer gemeinsamen Religion und Kultur die welthistorische Besonderheit des neuzeitlichen Europa begründen konnte.5 Anders als manchen französischen Aufklärern ging es Gibbon mit seiner historischen Darstellung der (nicht intendierten) innerweltlichen Wirkungen des Christentums nicht um einen Angriff auf die Institution der Kirche. Er wollte deren Rolle bei der Grundlegung der neuzeitlichen europäischen Welt unvoreingenommen würdigen. Sein Europabegriff ist kein Kampfbegriff etwa in der Abgrenzung gegenüber der islamischen Welt (wie seit dem Aufruf von Papst Pius II. nach der Einnahme Konstantinopels gängig) oder gegenüber Russland (wie seit der Reaktion auf die Expansionsbestrebungen Iwans des Schrecklichen geläufig), seine Vorstellung von der Christlichkeit Europas hat ferner nichts zu tun mit einer Klage über die verlorene kirchliche Einheit (wie dies nach der Französischen Revolution bei Novalis, Chateaubriand oder de Maistre der Fall sein sollte). Gibbon hat sein Werk 1788 abgeschlossen, Anfang 1794 ist er gestorben. Wie sich sein Geschichtsbild unter dem Eindruck der Französischen Revolution (die er als Tyrannei der Massen wahrnahm) und der Napoleonischen Kriege verändert hätte, ist eine offene Frage. —————— 5
Vgl. Quelle Nr. 2.2, Auszug III.
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Quelle Nr. 2.2 Edward Gibbon: The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, 6 Bde. (17761788)6 [I.] Diese schreckliche Umwälzung kann unserer Zeit als nützliches Lehrstück dienen. […] Einem Philosophen […] mag es erlaubt sein, […] Europa als eine große Republik zu betrachten, deren unterschiedliche Bewohner die fast gleiche Höhe der Gesittung und der Kultur erreicht haben. Das Gleichgewicht der Mächte wird weiterhin schwanken, […, doch kann] dies dem allgemeinen Zustand unseres Glückes nicht wirklich schaden, diesem System der Künste, Gesetze und Gewohnheiten, das die Europäer und ihre Kolonien vom Rest der Menschheit so vorteilhaft unterscheidet. […] Das Römische Reich war fest begründet durch den einzigartigen und vollkommenen Zusammenhalt seiner Teile. Die unterworfenen Völker gaben die Hoffnung und selbst den Wunsch nach Unabhängigkeit auf und empfingen bereitwillig die Würde von römischen Bürgern […]. Doch dieses Bündnis war mit dem Verlust nationaler Freiheit und Wehrhaftigkeit erkauft. […] Das Glück von hundert Millionen war abhängig von den persönlichen Entscheidungen von ein oder zwei Männern, vielleicht gar Kindern, deren Charakter durch Erziehung, Luxus und despotische Herrschaft verdorben war. Zur Zeit der Minderjährigkeit der Söhne und Enkel des Theodosius wurden dem Reich die tiefsten Wunden geschlagen, und nachdem diese unfähigen Fürsten das Mannesalter erreicht zu haben schienen, überließen sie die Kirche den Bischöfen, den Staat den Eunuchen und die Provinzen den Barbaren. Europa ist heute in zwölf mächtige, wenn auch ungleiche Königreiche, drei angesehene Republiken und eine Vielzahl kleinerer, doch unabhängiger Staaten aufgeteilt. Die Chancen auf herrscherliche und administrative Begabungen vermehren sich zumindest mit der Zahl seiner Herrscher, und so mögen ein Julian oder eine Semiramis im Norden gebieten, während ein Arcadius und ein Honorius wiederum auf den Thronen des Südens schlummern. Übergriffe von Tyrannen sind durch den wechselnden Einfluss von Furcht und Scham begrenzt, Republiken haben Ordnung und Stabilität erlangt, Monarchien sich die Prinzipien der Freiheit oder wenigstens der Mäßigung zu eigen gemacht, und selbst in die mangelhaftesten Verfassungen ist mit dem allgemeinen Geist der Zeit ein gewisser Sinn für Ehre und Recht eingezogen. In Friedenszeiten werden die Fortschritte im Wissen und in den Gewerben durch den Wettbewerb so vieler Konkurrenten beschleunigt, und im Krieg halten sich die europäischen Streitkräfte an maßvolle und entscheidungslose Kämpfe. [Auszug aus General Observations on the Fall of the Roman Empire in the West, im Anschluss an Kapitel 38.] [II.] Die Aufteilung Europas in eine Anzahl unabhängiger Staaten, die jedoch durch allgemeine Ähnlichkeit der Religion, Sprache und Sitten untereinander verbunden sind, hat für die Freiheit der Menschheit ausgesprochen segensreiche Folgen. Ein heutiger Tyrann, der weder in seiner Brust noch in seinem Volk Widerstand fände, würde sich […] durch die Furcht vor augenblicklichem Tadel, durch den Rat seiner Verbündeten und durch die Angst vor seinen Feinden sanft gezügelt finden. Der Gegenstand seines Mißfallens braucht nur den engen Grenzen seines Herrschaftsbereichs zu entfliehen, um […] leicht eine sichere Zuflucht, ein seinen Verdiensten angemessenes Auskommen, das Recht zur Klage, vielleicht auch wohl die Mittel zur Rache zu erlangen. Das Reich
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Die Übersetzungen sind vom Verfasser leicht modifizierte Übernahmen aus Gibbon, Edward, Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, übersetzt von Michael Walter und Walter Kumpmann, München 2003, Bd. 5, S. 322-325; Bd. 1, S. 110f.; Bd. 5, S. 218f. Die Erstausgabe von Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire erschien in 6 Bänden von 1776 bis 1788.
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der Römer aber füllte die Welt, und als dieses Reich einem einzigen Mann in die Hände fiel, da wurde die Welt ein sicheres und trostloses Gefängnis für seine Feinde. [Auszug aus Kapitel 3] [III.] Das Christentum, das den Barbaren die Tore des Himmels öffnete, änderte ihre moralische und politische Lage beträchtlich. […] In den heidnischen Zeiten hatten die Priester von Gallien und Germanien das Volk beherrscht und die Rechtsprechung der Obrigkeit im Zaum gehalten; die eifrigen Neuchristen übertrugen nun das gleiche, wenn nicht ein noch größeres Maß an frommem Gehorsam auf die christlichen Oberpriester. Die geheiligte Stellung der Bischöfe wurde durch ihre irdischen Besitztümer bekräftigt; sie erhielten in den gesetzgebenden Versammlungen der Krieger und Freien einen Ehrenplatz; es lag in ihrem Interesse, und es war auch ihre Pflicht, die ungestümen Gemüter der Barbaren durch friedvolle Ratschläge zu besänftigen. Der fortwährende Briefaustausch unter den lateinischen Geistlichen, die häufigen Pilgerfahrten nach Rom und Jerusalem und das wachsende Ansehen der Päpste festigten die Einheit der christlichen Republik und ließen mit der Zeit ähnliche Sitten und eine gemeinsame Rechtspflege entstehen, wodurch sich die unabhängigen, ja selbst die einander feindlich gesinnten Nationen des neueren Europas vom Rest der Menschheit unterscheiden. [Auszug aus Kapitel 37]
Literatur McKitterick, Rosamond; Quinault, Roland (Hg.), Edward Gibbon and Empire, Cambridge 1997 Nippel, Wilfried, Der Historiker des Römischen Reiches: Edward Gibbon (1737-1794), in: Gibbon, Edward, Verfall und Untergang des römischen Imperiums. Bis zum Ende des Reiches im Westen, München 2003, Bd. 6, S. 7-102 O’Brien, Karen, Narratives of Enlightenment: Cosmopolitan History from Voltaire to Gibbon, Cambridge 1997 Pocock, John G. A., Barbarism and Religion, bislang 3 Bde., Cambridge 1999-2003
JÜDISCHES GROßBÜRGERTUM AM ENDE DES 18. JAHRHUNDERTS1 Von Reinhard Rürup Am 24. Dezember 1793 veröffentlichte die „Vossische Zeitung“, die den offiziellen Titel „Königl. Privilegirte Berlinische Zeitung. Von Staats- und gelehrten Sachen. Im Verlage der Vossischen Buchhandlung“ trug, einen ausführlichen Bericht über den feierlichen Einzug der Prinzessinnen Luise und Friederike von Mecklenburg-Strelitz in die Haupt- und Residenzstadt Berlin am Vorabend ihrer Doppelhochzeit mit dem preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm und seinem jüngeren Bruder Ludwig. Es handelte sich um ein sorgfältig vorbereitetes Ereignis von hohem protokollarischem Rang, bei dem die Stadt offensichtlich die Gelegenheit nutzte, sich mit dem festlichen Gepränge zu Ehren der Prinzessinnen zugleich selber zu feiern. Angesichts des „Luisen-Kults“, der schon zu Lebzeiten der 1810 im Alter von 34 Jahren gestorbenen, ungewöhnlich populären Königin entstand und im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weiter ausgestaltet wurde, mag die Darstellung ihres Einzuges in Berlin, in der immer wieder betont wird, wie besonders „huldreich“, ungezwungen freundlich, den Menschen zugewandt und bis zu „hellen Freudenthränen“ gerührt die Prinzessinnen waren, als das früheste Zeugnis einer besonderen Beziehung zwischen der schönen, bürgerlich-tugendsamen und pflichtbewussten jungen „Landesmutter“ und „ihrem Volk“ gelesen werden. Auch wird man bei der Lektüre der detailfreudigen Schilderung unmittelbar an die berühmte „Prinzessinnengruppe“ erinnert, die der junge, aber schon berühmte Berliner Bildhauer Johann Gottfried Schadow wenig später (17951797) im Auftrag Friedrich Wilhelms II. schuf. Das marmorne Doppelstandbild der Prinzessinnen Luise und Friederike, das zu den schönsten Zeugnissen der klassizistischen Bildhauerkunst gehört, ist heute in der Nationalgalerie auf der Berliner Museumsinsel zu sehen.2 In dem vorliegenden Auszug des Zeitungsberichts geht es jedoch um einen ganz anderen Aspekt der berlinisch-preußischen wie auch der europäischen Geschichte – die rechtliche und soziale Stellung der Juden in der Gesellschaft des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Der Bericht beginnt mit dem Hinweis auf eine ungewöhnlich prachtvolle „Ehrenpforte“, die „die hiesige Judenschaft“ aus diesem Anlass „zu Ende der Linden“, zwischen dem Palais des Prinzen Heinrich und der Königlichen Bibliothek, bauen ließ.3 Im —————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 2.3, Ein Zeitungsbericht über den Einzug der späteren preußischen Königin Luise in Berlin (1793). Vgl. dazu Bruyn, Günter de, Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende, Berlin 2001. In der „Vossischen Zeitung“ heißt es dazu u.a.: „Diese Ehrenpforte ist ein kolossalischer Triumphbogen, etwa 80 Fuß lang und 40 Fuß hoch, mit einem Hauptportal und zwei kleineren Nebenöffnungen. Acht gekuppelte korinthische Säulen, mit Laub umwunden und auf Säulenstühlen stehend, tragen ein Frontispiz, in dessen Füllung Genien um Hymens Bildsäule mit Blumengehängen tanzen. Darunter, im Fries des Hauptgesimses, steht die Inschrift: Freude des getreuen Volkes. Auf dem Frontispiz ruhen die Freundschaft und Einigkeit, mit der Inschrift: Gleiche Freundschaft, gleicher
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Anschluss daran schildert der namentlich nicht bekannte Verfasser, dass der Festzug, mit dem die von Potsdam aus anreisenden Prinzessinnen nach Berlin eingeholt werden sollten, sich in Schöneberg, südwestlich von Berlin, sammelte, wo die Hofdamen, Hofmarschälle und Kammerherren „im Hause“ des Hofbankiers und preußischen Baurats Isaac Daniel Itzig warteten, einem Landsitz, auf dem dann auch die Prinzessinnen eine kurze Station machten. Zu dem Festzug, der sich in 20 Einheiten gliederte und dessen Zusammensetzung sehr detailliert geschildert wird, gehörten unter anderen die „Königlichen Postsecretaire“, die Berliner „Frachtfuhrleute“, die „Berlinische StadtKavallerie“, die „Schützengilde“ und ein „Corps“, das „wie altdeutsche Ritter gekleidet“ war. Diesen schloss sich an 7. Stelle ein „Corps junger Kaufleute jüdischer Nation“ an, das von Isaac Daniel Itzig angeführt wurde. Die 50 Angehörigen dieses „Corps“ waren sämtlich beritten, trugen Degen und prachtvolle Uniformen. Ihnen folgten unter anderen die Vertreter der Kaufmannsgilden und, unmittelbar vor dem Wagen der Prinzessinnen, die „Königl. Garde du Corps“. Am Potsdamer Tor wurden die Prinzessinnen vom Magistrat und den Stadtverordneten feierlich empfangen, ehe sie durch die Leipziger Straße und die Wilhelmstraße, vorbei an 26 „Bürger-Compagnien“ und in Gegenwart einer riesigen Zuschauermenge („die Fremden mitgerechnet 150.000 Menschen aus allen Ständen“) fuhren, um sich dann die „Linden“ entlang zur Ehrenpforte zu begeben. Dort wurden sie von den „OberLandesältesten u. Ältesten der Judenschaft“, mit dem Oberhofbankier Daniel Itzig, dem Vater des Baurats, an der Spitze, begrüßt. Im Anschluss daran erhielten sie von vierzehn jungen jüdischen Frauen „und im Nahmen einiger Jünglinge jüdischer Nation“ Blumenkörbchen und ein Gedicht überreicht.4 Diesen folgten Begrüßungen durch eine größere Zahl der „Deutschen jungen Frauenzimmer“ und „24 Knaben von der Französischen Kolonie“. Von der Ehrenpforte bis zum königlichen Schloss, wo sie von dem Kronprinzen und seinem Bruder Ludwig empfangen wurden, bildeten dann die großen Handwerker-Innungen ein Spalier. Schließlich erwähnt der Bericht, dass der „festliche Tag“ mit einigen großen Bällen zu Ende ging, von denen einer im Hause des Oberhofbankiers Itzig stattfand, an dem „außer den jungen Kaufleuten jüdischer Nation, welche mit an ——————
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Liebesbund. An beiden Enden des Frontispizes stehen Rauchaltäre. Das Hauptportal ist mit Blumengehängen verzieret. Über den Seitenöffnungen sieht man Medaillons. In dem Medaillon zur linken Hand legt der Gott der Ehen Myrtenkränze auf den Preußischen Altar, und darunter steht die Inschrift: Dem Doppelpaare. In dem zur rechten Hand sieht man die Göttin Berlins (durch ihre Mauerkrone und das Wappen im Schilde kenntlich), die einen Weinstock in das Land senkt, mit der Inschrift: künftige Hoffnung.“ Zu den jungen jüdischen „Frauenzimmern“ gehörte u.a. die Bankierstochter Zippora Marcuse, deren ältester Sohn Eduard Gans (1797-1839) einer der Gründer der „Wissenschaft des Judentums“ wurde und seit 1826 zu den führenden Juristen der Berliner Universität gehörte, obschon seine Ernennung zum Professor allerdings erst erfolgen sollte, nachdem er zum Christentum übergetreten war. Vgl. dazu Reissner, Hanns Günther, Eduard Gans. Ein Leben im Vormärz, Tübingen 1965. Reissner hat im Rahmen seiner biografischen Studien erstmals den Bericht der „Vossischen Zeitung“ benutzt. Die neuere Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte hat die damit verbundenen Anregungen jedoch nicht weiterverfolgt. Der Verfasser des in der „Vossischen Zeitung“ zitierten Gedichtes war David Friedländer (1750-1834), ein wohlhabender Seidenfabrikant und einflussreicher jüdischer Reformer, ein Schüler und Freund Moses Mendelssohns, der zu den führenden Persönlichkeiten der Berliner Judenschaft gehörte. Als Schwiegersohn Daniel Itzigs wurde er 1791 „naturalisiert“. 1799 wurde er als erster Jude von den Berliner Stadtverordneten zum unbesoldeten Stadtrat gewählt.
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dem Einzuge Theil genommen, auch noch viele andre Personen beiderlei Geschlechts, Theils christlicher, Theils jüdischer Religion“ teilnahmen. In der Darstellung der „Vossischen Zeitung“ erscheint die prominente Beteiligung der Berliner jüdischen Gemeinde an dem Festgeschehen als ein Sachverhalt, der keines besonderen Kommentars bedarf. Es war aber alles andere als ein selbstverständlicher Vorgang, und man wird weder im „Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation“ noch in anderen europäischen Staaten eine Haupt- oder Residenzstadt finden, in der im ausgehenden 18. Jahrhundert Vergleichbares geschehen oder auch nur denkbar gewesen wäre. Die Debatte um die rechtliche Gleichstellung und gesellschaftliche Integration der Juden stand in Europa noch in ihren Anfängen. Sie hatte um 1780 unter den Vorzeichen des aufgeklärten Absolutismus in Berlin und Wien begonnen, war bis zu diesem Zeitpunkt aber noch ohne unmittelbar greifbare Ergebnisse geblieben. Lediglich in Frankreich erfolgte 1791 als Teil des Revolutionsgeschehens die Rechtsgleichstellung der Juden, doch waren die revolutionären Erschütterungen auch mit antijüdischen Ausschreitungen verbunden, und der Prozess der gesellschaftlichen Eingliederung der Juden hatte, wenn man von der Hafenstadt Bordeaux absieht, kaum begonnen. Fast überall in Europa lebten die Juden noch immer am Rande der Gesellschaft, galten sie der christlichen Bevölkerung als unerwünscht, waren sie erheblichen Einschränkungen in ihren Rechten und ihrer Erwerbstätigkeit unterworfen. Sie führten in ihrer großen Mehrheit eine vor- und unterbürgerliche Existenz, viele lebten in äußerster Armut. Die so genannten „Hofjuden“, die seit dem 17. Jahrhundert in den Diensten der regierenden Fürsten Mitteleuropas tätig waren, hatten zum Teil erstaunliche Reichtümer angehäuft, existierten aber in prinzipieller Unsicherheit, weil sie von der Gunst der Fürsten unmittelbar abhängig und ihre oft kühnen Finanzgebäude ständig vom Einsturz bedroht waren. Auch lebten die „Hofjuden“ aufgrund ihrer Tätigkeit meist räumlich isoliert und nur in lockerem Kontakt untereinander. Lediglich in einigen europäischen Hafenstädten gab es inzwischen eine schmale Schicht jüdischer Kaufleute, die sich im internationalen Handel betätigten, teilweise über große Vermögen verfügten, kulturell weitgehend assimiliert waren, nach außen selbstbewusst auftraten und auch außerhalb der jüdischen Gemeinden politisch-soziale Verantwortung trugen.5 Die besondere Situation in Berlin ist dadurch gekennzeichnet, dass es hier eine relativ breite bürgerliche und auch großbürgerliche Schicht von Juden gab, die wirtschaftlich für die Stadt – und auch den preußischen Staat – von erheblicher Bedeutung war und sich spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in rasch zunehmendem Maße auch der allgemeinen Kultur geöffnet hatte. Das hängt damit zusammen, dass die Wiederzulassung von Juden in Berlin 1671, hundert Jahre nach der Vertreibung aller brandenburgischen Juden im Jahre 1573, ausdrücklich im Interesse der wirtschaftlichen Entwicklung der noch immer an den Folgen des Dreißigjährigen Krieges laborierenden Stadt erfolgt war. Man hatte deshalb nur „reiche, wohlhabende Leute“ aufgenommen, und noch im frühen 18. Jahrhundert mussten Juden, die sich in Berlin niederlassen wollten, ein Vermögen von mindestens 10.000 Talern nachweisen. So entstand eine jüdische —————— 5
Im späten 18. Jahrhundert ist hier vor allem an London und Amsterdam, Livorno und Triest zu denken. Vgl. Dubin, Lois C., The Port Jews of Habsburg Trieste: Absolutist politics and enlightenment culture, Stanford 1999; Ceserani, David (Hg.), Port Jews: Jewish communities in cosmopolitan maritime trading centres. 1550-1950, London 2002.
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Gemeinde, die insgesamt einen bemerkenswerten Wohlstand aufwies und – obwohl die Berliner Juden mit gut 3.000 Personen um 1800 weniger als zwei Prozent der städtischen Bevölkerung ausmachten – einen unverzichtbaren Teil des Berliner Wirtschaftslebens bildete.6 Berliner Juden waren als Handelsunternehmer und Bankiers, als Hofund Heereslieferanten, als Münz- und Steuerpächter und nicht zuletzt als außerordentlich erfolgreiche Manufakturunternehmer tätig. Große Unternehmerpersönlichkeiten von Jost Liebmann bis Daniel Itzig und Veitel Heine Ephraim genossen Ansehen weit über die jüdische Gemeinde und die Grenzen der Stadt hinaus. In den 1780er Jahren waren in der Gold- und Silbermanufaktur der Familie Ephraim mehr als 800 Personen beschäftigt, und auch in der aufblühenden Textilbranche entstanden große jüdische Unternehmen. So bildete sich in Teilen der Berliner Judenschaft ein ausgesprochen großbürgerlicher Lebensstil aus. Man baute prachtvolle Stadthäuser und Landsitze, legte kunstvoll gestaltete Parks und Gärten an, umgab sich mit Gemäldesammlungen, Bibliotheken und exquisiten Kunstgegenständen. Die älteren Angehörigen dieser Schicht blieben der jüdischen Gemeinde fest verbunden, waren aber für die modernen Wissenschaften und Künste aufgeschlossen, bemühten sich um eine moderne, der europäischen Aufklärung verpflichtete Erziehung ihrer Kinder – nicht nur der Söhne, sondern auch der Töchter – und förderten auch die jungen, oft mittellosen jüdischen Intellektuellen, die sich seit etwa 1770 in Berlin um Moses Mendelssohn sammelten. Die gleichermaßen der jüdischen Tradition und der entstehenden modernen Gesellschaft verpflichteten Großbürger trugen auf diese Weise entscheidend dazu bei, dass sich die von Mendelssohn, seinen Freunden und Schülern geleistete Reformarbeit entfalten und Berlin zum Ausgangspunkt und Zentrum der jüdischen Aufklärung in Europa werden konnte. Man beachtete die religiösen Gesetze, hatte aber auch im eigenen Hause Umgang mit nichtjüdischen Gelehrten und Künstlern, mit Staatsbeamten und Adeligen.7 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der preußische König Friedrich Wilhelm II. sich im Jahre 1791 entschloss, Daniel Itzig und den Familien aller seiner Söhne und Töchter, das heißt einem großen Teil der jüdischen Oberschicht in Berlin, die „Naturalisation“, also die volle rechtliche Gleichstellung mit den Christen, zu gewähren. Das war ein Vorgriff auf eine allgemeine Emanzipationsgesetzgebung, mit dem der Sonderstellung dieser Oberschicht, die sich längst selber emanzipiert hatte, unübersehbar Rechnung getragen wurde.8 In diesem Zusammenhang ist schließlich auch die viel bewunderte Berliner Salonkultur zu sehen, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts vor allem von Henriette Hertz und —————— 6 7 8
Dazu vor allem Jersch-Wenzel, Stefi, Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes BerlinBrandenburg zur Zeit des Merkantilismus, Berlin 1978. Bildliche und andere Zeugnisse dieses großbürgerlichen Lebensstils in: Rürup, Reinhard (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Bilder und Dokumente, Berlin 1995. Vgl. Rürup, Reinhard, The tortuous and thorny path to legal equality – „Jew Laws“ and emancipatory legislation in Germany from the late eighteenth century, in: Year Book of the Leo Baeck Institute 31 (1986), S. 3-33. „Naturalisierungen“ jüdischer Familien blieben in Deutschland auch in der Folgezeit sehr ungewöhnlich. Bekannt sind lediglich die Fälle des Bankiers Israel Jacobson im Herzogtum Braunschweig 1804 und des Hofbankiers Jacob Kaulla und seiner Familie im Königreich Württemberg 1806.
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Rahel Levin geschaffen wurde. Die Salons junger jüdischer Frauen standen in der sozialen und kulturellen Tradition der jüdischen Berliner Oberschicht, unterschieden sich aber deutlich durch die sehr viel größere menschliche Intimität zwischen Juden und Christen, durch die Intensität der intellektuellen Auseinandersetzungen und nicht zuletzt auch durch die immer stärker werdende Abkehr von der jüdischen Tradition.9 Damit war der Punkt erreicht, an dem die Ambivalenzen des Fortschritts, die Kosten der Modernisierung für die Berliner Juden sichtbar wurden. Die Bindungen an die jüdische Gemeinde wurden schwächer, die Spannungen zwischen der jüdischen Tradition und der modernen Gesellschaft nahmen zu und wurden für viele schon bald unerträglich. Im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert stieg die Zahl der Übertritte vom Judentum zum Christentum in Berlin dramatisch an, und es kann nicht überraschen, dass die großbürgerlichen und intellektuellen jüdischen Familien davon besonders stark betroffen waren.10 In der modernen jüdischen Geschichte ist das, was sich im Dezember 1793 in Berlin ereignete, ein ungewöhnlicher, vielleicht sogar einzigartiger Vorgang. Er lässt sich, wie wir gesehen haben, nur aus den besonderen Berliner Verhältnissen erklären. Denn es musste vieles zusammenkommen, um den Juden bei einem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis eine ebenso selbstverständliche wie prominente Teilnahme zu ermöglichen. Diese Konstellation bestand 1793 in Berlin, aber sie war auch hier nicht von Dauer. Die rechtliche Gleichstellung ließ in Preußen zunächst bis 1812 auf sich warten, in ihrem vollständigen Abschluss sogar bis zur Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes im Jahre 1869. Auch konnten die Widerstände gegen die volle Integration der Juden in die allgemeine Gesellschaft nie vollständig überwunden werden. Mit dem fortschreitenden wirtschaftlichen und sozialen Modernisierungsprozess wuchsen vielmehr die Ressentiments gegen die wirtschaftlichen Erfolge, sowie die wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen der Juden. So handelt es sich bei der Darstellung der „Vossischen Zeitung“ letztlich nur um eine Momentaufnahme. Sie dokumentiert jedoch einen bewegenden Augenblick in der jüdischen und in der deutschen Geschichte, der es wert ist, in der Erinnerung bewahrt zu werden. Quelle Nr. 2.3 Ein Zeitungsbericht über den Einzug der späteren preußischen Königin Luise in Berlin (1793)11 Schon in der vorigen Woche herrschte in unsrer Stadt die froheste Geschäftigkeit, da der Tag herannahete, an welchem die Durchlauchtigen Prinzessinnen Louise und Friederike von Mecklenburg Strelitz, Verlobte Ihrer Königl. Hoheiten des Kronprinzen und des Prinzen Ludwig, ihren Einzug in Berlin halten sollten. Die Querschranken der Promenade unter den Linden wurden, da der Zug mitten durch diese breite und schöne Straße gehen sollte, weggenommen, die Promenade selbst, wo sie von der
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Zur Geschichte der Salons vor allem Hertz, Deborah, Jewish high society in Old Regime Berlin, New Haven 1988. 10 Zum Verhältnis von Aufklärung und Krise siehe die eindringliche Studie von Lowenstein, Steven M., The Berlin Jewish community. Enlightenment, family and crisis. 1770-1830, Oxford 1994. 11 Aus: Königl. Privilegirte Berlinische Zeitung. Von Staats- und gelehrten Sachen. Im Verlage der Vossischen Buchhandlung, 154. Stück, 24. Dezember 1793, unpaginiert (7 Seiten, ohne Titel).
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Witterung gelitten hatte, geebnet, [...] zu Ende der Linden, zwischen dem Palais des Prinzen Heinrich und der Königl. Bibliothek, eine Ehrenpforte, und seitwärts von derselben einige Gerüste für Zuschauer erbauet. Diese Ehrenpforte, welche so groß, geschmackvoll und schön war, daß sie selbst zwischen hohen und prächtigen Gebäuden mit Vergnügen gesehen werden konnte, ließ die hiesige Judenschaft bauen. [...] Bald nach Tagesanbruch [am 22. Dezember 1793] versammelten sich die verschiedenen Corps, welche die Durchlauchtigen Prinzessinnen einholen und von Schöneberg an Ihrem Wagen vorreiten wollten. Zu gleicher Zeit eilte schon eine Menge Einwohner unsrer Stadt Theils nach den Straßen, durch die der Zug gehen sollte, Theils nach Schöneberg, um schon dort die Durchl. Prinzessinnen Bräute zu sehen und Ihnen frohe Wünsche zuzurufen. Ungefähr um 10 Uhr Vormittags kamen die verschiedenen Corps nach und nach mit Trompeten und Pauken in Schöneberg an, und postirten sich am Eingange und jenseits des Dorfes. Um eben die Zeit versammelten sich nach und nach die Hofdamen, ingleichen die Herren Hofmarschälle und Kammerherren, welche sich an den Zug anschließen und das Gefolge der Prinzessinnen vermehren sollten, in dem Hause des Herrn Bauraths Itzig in Schöneberg, vor welchem späterhin Ihre Durchlauchten einige Minuten anhielten. [...] Kurz vor 1 Uhr Mittags waren die Durchlauchtigen Prinzessinnen Bräute bis nahe an Schöneberg gekommen, und nun erbaten sich die Anführer der verschiedenen Corps, im Nahmen derselben, die Erlaubniß, dem Wagen von Ihro Durchlauchten vorreiten zu dürfen, welches ihnen auch sogleich auf die gnädigste Art bewilligt ward. Der Zug ging nunmehr in folgender Ordnung vor sich: [...] 7) Ein Corps junger Kaufleute, jüdischer Nation, 50 an der Zahl, geführt von dem Herrn Baurath Itzig. Die Uniform dieses ebenfalls mit allgemeinem Beifalle gesehenen Corps waren blaue Röcke mit pfirsichblüthenfarbenen Rabatten, Kragen und Aufschlägen, silbernen Epauletts, weißen Unterkleidern, u. Degen mit roth.- u. silbernen Portd’epees, welche es gezogen in den Händen trug. Die weißen Schabracken waren mit roth- und silbernen Tressen besetzt. Die Adjutanten dieses Corps unterschieden sich, so wie der Anführer, durch weiße Federn auf den Hüten. [...] Mitten durch die [...] 22 Bürger-Kompagnieen (welche nur bei der Ehrenpforte von einigem Militair gedeckt wurden) und durch die unzählige, jauchzende Menge fuhren die Durchlaucht. Prinzessinnen Bräute unter den Linden hinauf bis zu der schon beschriebenen, und auf Kosten der löblichen Judenschaft von Berlin erbaueten Ehrenpforte. Auf dem Platze zunächst vor derselben, der mit Tanger bestreuet war, standen auf der rechten Seite die Ober-Landesältesten u. Ältesten der Judenschaft, Herr Daniel Itzig, die Hrrn. Jakob Moses, Liepmann Meyer Wulf, Ephr. Veitel u. Hirsch Nathan Bendix, feierlich schwarz gekleidet, und überreichten den Durchl. Prinzessinnen Bräuten ein auf rosenfarbenen Atlas gedrucktes, in blauen mit Silber besetzten Sammet gebundenes Gedicht, auf einem blausammetnen, ebenfalls reich mit Silber besetzten Küssen. Ihm Nahmen von vierzehn weiß gekleideten jungen Frauenzimmern, mit blauen Schärpen um den Leib, und im Nahmen einiger Jünglinge jüdischer Nation, überreichten Demoiselle Zipora Marcuse (Tochter des hiesigen Banquier Herrn Jakob Marcuse) und Demoiselle Lea Jacobi (Tochter des verstorbenen Kaufmanns Herrn Jacobi in Breslau), welche sich beide von den übrigen durch einen grünen Kranz mit weißen Rosen unterschieden, jeder von den Durchl. Prinzessinnen Bräute ein Körbchen mit ausländischen Blumen, um welches ein himmelblaues seidnes Band mit folgenden Versen geflochten war: Blumen, Blüthen eines fremden Strandes, Die ein weiser Gärtner hergebracht, Wurden unsrer Fluren schönste Pracht. E u c h berief der Gärtner dieses Landes, S c h ö n e F r e m d e n ! Darum, o! verzeiht, Daß, die E u r e r sich am längsten freut, Daß die Jugend E u c h dies Sinnbild weiht.
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Die Durchlauchtigen Prinzessinnen Bräute nahmen die Körbchen mit sichtbarem Wohlgefallen an und dankten dafür mit den schmeichelhaftesten, huldreichsten Worten. [...] Am Abend dieses frohen Tages war Cour und Souper bei Ihro Majestät der regierenden Königin. Auch für die Bürger unsrer Stadt war die Freude dieses festlichen Tages mit dem glänzenden Einzug noch nicht geendigt. Die Kaufmannschaft gab einen großen Ball im Corsikaschen Hause, welches sehr glänzend erleuchtet war. Einen andern Ball gab die löbliche Schützengilde in ihrem Gildehause auf dem Schützenplatz. Noch einen andern gab der Ober-Landesälteste der Judenschaft und Hofbanquier Herr Daniel Itzig in seinem Hause und hatte dazu, außer den jungen Kaufleuten jüdischer Nation, welche mit an dem Einzuge Theil genommen, auch noch viele andre Personen beiderlei Geschlechts, Theils christlicher, Theils jüdischer Religion, eingeladen. [...]
Literatur Ceserani, David (Hg.), Port Jews: Jewish communities in cosmopolitan maritime trading centres, 1550-1950, London 2002 Hertz, Deborah, Jewish high society in Old Regime Berlin, New Haven 1988 Jersch-Wenzel, Stefi, Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin-Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus, Berlin 1978 Lowenstein, Steven M., The Berlin Jewish community. Enlightenment, family, and crisis. 17701830, Oxford 1994 Rürup, Reinhard (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Bilder und Dokumente, Berlin 1995 Ders. (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995
TRANSNATIONALER KATHOLIZISMUS UND NATIONALISMUS IM SPÄTEN 19. JAHRHUNDERT: HEINRICH HANSJAKOB IN LOURDES UND PARAY1 Von Thomas Mergel Der katholische Geistliche Heinrich Hansjakob, Pfarrer in Hagnau am Bodensee, Abgeordneter der Katholischen Volkspartei im Badischen Landtag und ein bekannter Volkserzähler und Publizist, reiste im Jahre 1874 für mehrere Wochen nach Frankreich.2 Selbstverständlich führte ihn sein Weg nach Paris und zu anderen touristischen Sehenswürdigkeiten, doch da er sich die Reise von seinem Bischof als Wallfahrt hatte genehmigen lassen, standen im Mittelpunkt die berühmten Anbetungsstätten in Lourdes, wo seit 1858 Marienerscheinungen zu einer der größten Wallfahrten Europas geführt hatten3, und in Paray, dem Mittelpunkt der Herz-Jesu-Frömmigkeit, die im 19. Jahrhundert einen enormen Aufschwung als international verbreiteter und organisierter Kern ultramontaner Religiosität erlebte.4 Seine Reise, die er in einem dickleibigen Buch zusammenfasste5, führte ihn mithin nicht nur zum „Erbfeind“, der gerade im Krieg besiegt worden war, sondern auch in ein Zentrum der internationalen katholischen Frömmigkeit, in ein Land, das gleichwohl durch die Tradition der Aufklärung und der Französischen Revolution zu einer Metapher für Modernität, mithin, in Hansjakobs Terminologie: der Entsittlichung geworden war. Diese fand er besonders in den großen Städten, notabene in Paris, aber zu seiner eigenen Überraschung entdeckte er auch an den Wallfahrtsorten immer wieder gerade dort Geschäftemacherei, Nationalismus und Unsittlichkeit, wo er echte Frömmigkeit erwartet hatte.
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Essay zur Quelle Nr. 2.4, Heinrich Hansjakob über französische Wallfahrtsorte (1874). Zu Hansjakob: Hildenbrand, Manfred, Heinrich Hansjakob. Rebell im Priesterrock, 2. Aufl., Haslach 2001. Hansjakob (1837-1916) ist eine widersprüchliche Figur. In der hier präsentierten Quelle zeigt er sich als lupenreiner ultramontaner Klerikaler, der im Streit zwischen Staat und römischem Katholizismus eindeutig für den letzteren Position bezieht. 1873 musste er eine mehrwöchige Gefängnisstrafe absitzen, weil er den badischen Staat und seine Beamten kritisiert hatte. 1878 aber wurde er aus der katholischen Volkspartei ausgeschlossen, weil er in einer Landtagsrede ein Nachgeben gegenüber der liberalen Kirchenpolitik gefordert hatte. Von 1881 bis 1900 informierte er als Spitzel die badische Regierung über Interna des Bischöflichen Ordinariats in Freiburg. Dass er ein glühender Antisemit war und mit dem Zölibat massive Schwierigkeiten hatte – er hatte mehrere uneheliche Kinder und wurde von einem auch regelrecht erpresst –, vervollständigt das Bild des Widerspruchs. Eine aktuelle Geschichte der Wallfahrt nach Lourdes gibt es nicht. Vgl. Carroll, Michael P., The cult of the Virgin Mary: psychological origins, Princeton 1986, S. 156ff. Hierzu: Busch, Norbert, Katholische Frömmigkeit und Moderne. Die Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Herz-Jesu-Kultes in Deutschland zwischen Kulturkampf und Erstem Weltkrieg, Paderborn 1997. Hansjakob, Heinrich, In Frankreich. Reise-Erinnerungen, Mainz 1874; vgl. Quelle Nr. 2.4 mit Auszügen daraus.
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Hansjakobs Beschreibung offenbart so mehrere Ebenen der Wahrnehmung des Nachbarn und „Feindes“.6 Im Zeitalter des Nationalismus war der Katholizismus eigentlich eine transnationale Bewegung par excellence, und deshalb galt er in Deutschland auch als „Reichsfeind“. Wenn aber zwei „Feinde“ aufeinandertreffen, so werden sie deshalb noch lange nicht zu Freunden: In Hansjakobs Wahrnehmung zeigte sich der Katholizismus als hochgradig national besetzt. Ihm selber fiel dies zunächst bei den Franzosen auf. Sie, so seine Entdeckung, politisieren den Katholizismus im Dienste der Grande Nation, so dass sogar die eigentlich antirevolutionären Katholiken in Hansjakobs Augen zu Protagonisten der Französischen Revolution wurden. Das religiöse Revival in Frankreich, das sich nach der militärischen Niederlage und der politischen Erfahrung mit der Pariser Commune von 1871 unter anderem im Bau des nationalen Denkmals der Kirche auf dem Montmartre zeigte, war so in Hansjakobs Augen eigentlich eine Anmaßung, da es die Kriegsniederlage nicht als ein Ergebnis der eigenen moralischen und religiösen Verkommenheit verstand, sondern umgekehrt die höheren Mächte zur Rache am politischen Feind anrief.7 Die Verehrung der Deutschen für das Frankreich der Jungfrau von Lourdes und der Herz-Jesu-Verehrung erweist sich in Hansjakobs Erzählung so als unbegründet. Denn die deutschen Katholiken verstehen die Marienwallfahrt nach Lourdes als ein Fanal der religiösen Wiedererweckung gegen den religionsfeindlichen Liberalismus, der die Revolutionen des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat und dem Papst seinen Kirchenstaat geraubt hat; aber den Franzosen dient, wie Hansjakob feststellen muss, sogar Lourdes einem vordergründig politischen Zweck. Der Gottesmutter, die einigen Kindern erschienen ist, wird zugemutet, dass sie das Elsass und Lothringen wieder an Frankreich bringen soll, und wenn Hansjakob im Gespräch mit seinen Gastgebern die Marienerscheinungen nicht auf die Auserwähltheit Frankreichs zurückführt, sondern sie als Gnade gegenüber einer sündigen, weil revolutionären und säkularisierten Nation und also als Aufforderung zur Besserung deutet, so wird ihm der Neid des Deutschen auf das mit göttlicher Zuwendung gesegnete Frankreich unterstellt. Diese Nationalisierung der Heiligenverehrung zeigt, wie tief die nationale Spaltung selbst in die transnationale Gemeinschaft des Katholizismus eingedrungen war. Es mag damit zusammenhängen, dass zwei Jahre nach Hansjakobs Reise im saarländischen Marpingen eine Marienerscheinung stattfand, die sehr ähnliche Momente aufwies wie die von Lourdes: auch die deutschen Katholiken wollten „ihre“ Marienerscheinung haben.8 Das Buch diente aber den deutschen Lesern keineswegs nur als die Aufklärung über den Erbfeind durch katholische Augen, sondern auch als Parabel über eine zu vermei—————— 6 7
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Zu dieser Dimension des deutsch-französischen Verhältnisses im 19. Jahrhundert: Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. Vgl. Benoist, Jacques, Le Sacre-Cœur de Montmartre. Bd. 1: Spiritualité, art et politique (18701923), Paris 1992. Zur zeitgenössischen Diskussion um Moral und Politik in Frankreich: Zeldin, Theodore, The conflict of moralities. Confession, sin and pleasure in 19th century, in: Ders. (Hg.), Conflicts in French society. Anticlericalism, education and morals in the nineteenth century, London 1970, S. 13-50. Blackbourn, David, Wenn ihr sie wieder seht, fragt, wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek 1997.
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dende eigene Zukunft, eine Zukunft freilich, die für den Autor mit dem gerade in Deutschland stattfindenden Kulturkampf, der großen Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche, schon angefangen hatte. Wenn man auf diesem, von den Franzosen zuerst beschrittenen Weg weitergehe, so Hansjakob, dann müsse notwendig ein politisch-moralischer Abfall folgen; und viele der Bemerkungen über Frankreich lesen sich wie Kommentare zu der in Deutschland herrschenden nationalistischen und antikatholischen Stimmung. Wer, so Hansjakob, die katholische Kirche weiter bekämpfe wie der Staat in Deutschland, der riskiere, dass die Unterschichten an Folgsamkeit und Fleiß verlören und habe mithin die Revolution zu gewärtigen. Die Katholiken stilisierte er so zu einem Faktor der Ordnung; dies war freilich eine Interpretation, die von den deutschen Kulturkämpfern durchaus anders gesehen wurde, denn wenn die Katholiken sich gegen die Kulturkampfmaßnahmen mit Mitteln des zivilen Ungehorsams und der Mobilisierung ihrer Wähler wehrten, galten sie den staatlichen Stellen als latent revolutionär, und man verdächtigte sie, gemeinsame Sache mit den Sozialdemokraten zu machen.9 Genau entgegengesetzt nahmen die Katholiken den Konflikt wahr. Es war während des Kulturkampfs ein weitverbreiteter Topos, die Maßnahmen der deutschen Staaten gegen die katholische Kirche mit der Unterdrückung der Religion durch die Französische Revolution zu parallelisieren. In katholischen Augen waren es die Kulturkämpfer, die als Revolutionäre zu gelten hatten, mehr noch: die Katholiken sahen sich als Märtyrer, die, wie die urchristliche Kirche, in Katakomben und geheimen Kellern ihren verfolgten Glauben praktizieren müssten, und stellten damit die Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts in die Tradition der Christenverfolgung. Die Franzosen, die Hansjakob gegenüber stolz an diese Tradition der Revolution und des Republikanismus anknüpften, standen so in seinen Augen selbst in den Reihen der Christenverfolger: Konnte man mit einer solchen Einstellung gegenüber der Revolution ein guter Katholik sein? Hier zeigte sich ein tiefgehendes Unverständnis gegenüber der kollektiven Erinnerung, die den Katholizismus der „Anderen“ prägte, die sich, wollten sie der französischen Nation angehören, nicht ohne weiteres vom nationsbildenden Mythos von Revolution und Republik dispensieren konnten.10 Die Deutung, dass irdische Ereignisse in engem Zusammenhang zur religiös-moralischen Haltung stünden, war beidseitig, führte aber zu jeweils unterschiedlichen Ergebnissen: Für die Franzosen, und zwar auch und gerade die Katholiken, zeigte sich die Unchristlichkeit der deutschen Nation darin, dass sie die Nation von Jeanne d’Arc und Lourdes um das Elsass und Lothringen beraubt hätten. Bei Hansjakob dagegen schimmerte die Ansicht durch, dass die Kriegsniederlage eine göttliche Strafe für die religiöse Verworfenheit der Franzosen war. Gerade wie die protestantischen Hoftheologen in Berlin sagten, geriet auch bei ihm der Krieg zu einem Gottesgericht über die Franzosen, nur mit dem Unterschied, dass die Berliner Kaiserideologen den Sieg des Protestantismus über den Katholizismus feierten, während Hansjakob den Sieg eines gläubigen über ein ungläubiges Volk feststellte, das den —————— 9
Mergel, Thomas, Zwischen Klasse und Konfession. Katholisches Bürgertum im Rheinland 17941914, Göttingen 1994, S. 256ff. 10 Vgl. zum quasireligiösen Charakter des republikanischen Nationalismus und seiner Symbolik in Frankreich: Agulhon, Maurice, Marianne into battle. Republican imagery and symbolism in France, 1789-1880, Cambridge 1981.
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Sonntag nicht heiligte und die Frömmigkeit politisierte.11 In beiden Deutungen war gleichermaßen eine Nationalisierung der Religion aufgehoben: Eben das, was Hansjakob seinerseits den Franzosen vorwarf. Der Bericht wirft so eine Reihe von spannenden Fragen für eine transnationale Geschichte des Katholizismus in Europa auf – eine Geschichte, die es noch nicht gibt: Erstens lässt er fragen, wie weit die Katholiken, die staatlicherseits der nationalen Unzuverlässigkeit verdächtigt wurden und ja auch in der Tat „ultra montes“, also nach Rom blickten, selbst dem Schema der nationalisierten Wahrnehmung unterlagen und welche nationalen Spielarten der europäische Katholizismus in diesem Zusammenhang entwickelte. Die nationale Prägung ist bei den Kolonialkatholizismen in Irland oder Polen evident, doch auch in Tirol, Ungarn oder Spanien hat der Katholizismus nationsbildende Funktionen übernommen.12 Zweitens kann man fragen, in welcher Weise die Katholiken der verschiedenen Länder sich gegenseitig wahrgenommen und beeinflusst haben. Es scheint nämlich einerseits, als ob aus der Ferne eine intensive gegenseitige Beobachtung stattgefunden hat, die auch zu einer Vorbildfunktion etwa des irischen Katholizismus geführt hat.13 Im direkten Kontakt war aber offensichtlich die nationale Prägung stärker als die religiöse. Die polnischen Katholiken etwa, die im Ruhrgebiet als Arbeitsmigranten lebten, hatten kaum Kontakt zum deutschen Katholizismus und prägten eine völlig separierte katholische Vereinskultur aus.14 Ähnliches ist für die Einwanderer in den USA festgestellt worden, wo die katholischen Gemeinden der Iren oder der Italiener strenge Abgrenzung beobachteten und sich mitunter sogar die Kirchen streitig machten.15 Und schließlich könnte man drittens fragen, inwieweit Laien und Klerus, vor allem Bischöfe und der Vatikan, mit diesen Abgrenzungen und Konflikten umgegangen sind. Im Ersten Weltkrieg haben auch die Bischöfe Frankreichs und Deutschlands sich —————— 11 Vgl. Hammer, Karl, Deutsche Kriegstheologie 1870-1918, München 1971. 12 In Ungarn diente die (Wieder-)Einführung des St. Stephans-Kultes dazu, dem protestantischliberalen Mythos von 1848/49 eine konfessionelle Nationsdeutung entgegenzusetzen: Klimó, Árpád von, Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860-1948), München 2003, bes. S. 92ff.; in Spanien gelang es den Konservativen des 19. Jahrhunderts, die ursprünglich liberale Idee der Nation zu verkirchlichen und Spanien zu einer katholischen Nation umzudeuten. Alvarez Junco, José: Mater Dolorosa. La idea de España en el siglo XIX, 6. Aufl., Madrid 2003. Zum „ethnischen Katholizismus“ Polens: Porter, Brian, The catholic nation: Religion, identity, and the narratives of Polish history, in: The Slavic and East European Journal 45 (2001), S. 289-299. Zur Ideologie des „Heiligen Landes Tirol“: Cole, Laurence, Nationale Identität eines „auserwählten Volkes“: Zur Bedeutung des Herz-Jesu-Kultes unter der deutschsprachigen Bevölkerung Tirols 1859-1896, in: Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2001, S. 480-515; zu Irland: O’Mahony, Patrick; Delanty, Gerard, Rethinking Irish history: Nationalism, identity, and ideology, New York 1998 und allgemein: David George Boyce, Nationalism in Ireland, 3. Aufl., London 1996. 13 So etwa in Spanien: Cueva, Julio de la, The assault on the City of Levites: Spain, in: Clark, Christopher; Kaiser, Wolfram, Culture Wars. Secular-catholic conflicts in nineteenth century Europe, Cambridge 2003, S. 181-201, bes. S. 199. 14 Vgl. Mooser, Josef, Das katholische Vereinswesen in der Diözese Paderborn. Vereinstypen, Organisierungsumfang und innere Verfassung, in: Westfälische Zeitschrift 141 (1991), S. 447-461. 15 McGreevy, John T., Parish boundaries. The Catholic encounter with race in the 20th century urban north, Chicago 1996, S. 33ff.
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den hegemonialen Deutungen ihrer Nationalismen angeschlossen und in einer aufsehenerregenden Kontroverse jeweils für sich beansprucht, einen gerechten Krieg zu führen; der Vatikan hat demgegenüber versucht, eine internationale Mittlerrolle zu spielen.16 Es scheint am Ende, als ob für die „Schwarze Internationale“ der Katholiken das Gleiche gilt, was für die „Rote Internationale“ der Sozialisten und die „Goldene Internationale“ der Juden, aber auch für andere transnationale Bewegungen wie die Freimaurerei gilt: Dass die überstaatliche Orientierung dieser Bewegungen zwar zu ihrer ideologischen Diffamierung durch den Nationalismus dienen konnte, dass diese selber aber nur wenig reale Kraft aufbringen konnten, um ihrerseits der nationalistischen Imprägnierung der europäischen Gesellschaften im 19. Jahrhundert etwas entgegenzusetzen.17 Der Nationalismus erwies sich als durchweg stärker. Quelle Nr. 2.4 Heinrich Hansjakob über französische Wallfahrtsorte (1874)18 [...] Wir sind katholischer Seits in Deutschland der Ansicht, diese Wallfahrten nach Lourdes und Parry-le-Monial seien ein Zeichen der religiösen Wiedergeburt Frankreichs und wir freuen uns deßhalb jeweils dieser Kundgebungen. Ich bin hierüber, seitdem ich Land und Leute in Frankreich gesehen habe, anderer Meinung und halte all diese Processionen insofern viel mehr für nationale, als für religiöse Demonstrationen, weil ihr Hauptziel ist die politische Wiederherstellung Frankreichs. Man hält Processionen und Wallfahrten, spricht über Gebetsmeinungen aller Art – aber alle laufen genau betrachtet darauf hinaus, zu bitten, daß Frankreich wieder die große Nation werde. Weit entfernt zu behaupten, es seien nicht auch Leute unter diesen Pilgern, welche an die religiöse und sittliche Wiedergeburt ihres Vaterlandes denken, so bin ich doch der festen Überzeugung, daß die Masse des Volkes, das diesen Bittgängen sich anschließt, in dem Glauben und in der Absicht geht, die Mutter Gottes könne und müsse Wunder wirken zu Gunsten Frankreichs. An ihre eigene Besserung und Bekehrung denken die Meisten nicht, alle aber ohne Ausnahme senden in erster Linie heiße Gebete zum Himmel für das „geliebte Frankreich“. Wie sehr ich recht habe mit dieser Anschauung, will ich zeigen, wenn ich eine Marienandacht in der Wallfahrtskirche zu Lourdes unten beschreibe. Zu alle dem kommt noch, daß die guten Franzosen glauben, die Mutter Gottes habe eine ganz besondere Freude an ihnen und an ihrem Frankreich und werde deshalb vor Allem ihnen in der politischen Bedrängniß zu Hilfe kommen und sie wieder zum großen Volke machen. Mit Stolz weisen sie darauf hin, daß die selige Jungfrau nur ihnen und in ihrem Lande erscheine und sie deßhalb die auserkorenen Kinder Mariens seien. Ich habe ihnen jedesmal zur Antwort gegeben, daß die Mutter des Heilandes ihnen sich zeige und so große Wunder wirke, sei gerade ein Beweis für das
—————— 16 Vgl. Krumeich, Gerd, „Gott mit uns“. Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg, in: Ders.; Lehmann, Hartmut (Hg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 273-283. 17 Zum Sozialismus: Groh, Dieter; Brandt, Peter, "Vaterlandslose Gesellen". Sozialdemokratie und Nation 1860-1990, München 1992; zum Judentum: Brenner, Michael, Religion, Nation oder Stamm. Zum Wandel der Selbstdefinition unter deutschen Juden, in: Haupt; Langewiesche (wie Anm. 12), S. 587-601; zur Freimaurerei: Hoffmann, Stefan-Ludwig, Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840-1918, Göttingen 2000, S. 295ff. 18 Auszüge aus: Hansjakob, Heinrich, In Frankreich. Reise-Erinnerungen, Mainz 1874, S. 311-313, 490493, 508-510.
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Gegentheil von dem, was sie daraus schlössen; denn nach meiner Ansicht wirke Gott durch die seligste Jungfrau solche übernatürliche Dinge, weil es nothwendig sei, um ein religiös so tief gefallenes Volk wieder zu heben. Dazu aber seien Wunder und Zeichen nothwendig, wie unter den Heiden. Ich erinnerte die schwärmerischen Herren und Damen daran, daß ja Maria bei ihren Erscheinungen auf La Salette und in der Grotte von Lourdes nie gesagt habe: „Ich komme zu meiner lieben, großen Nation“, sondern daß sie dort von der Schändung des Sonntags abgemahnt und hier geäußert habe, die Bekehrung der Sünder sei der Zweck ihre Kommens. Die Worte wirkten jeweils abkühlend, empfahlen mich aber nicht überall. Ja eine Dame sagte mir einmal: „Sie sind aber ein böser Deutscher und gönnen uns die große Gnade nicht aus Franzosenhaß!“ Und sie wollte mir durchaus nicht glauben, als ich ihr erwiederte, es sei mir sehr leid, die Wahrheit sagen zu müssen, und ich würde das französische Volk viel lieber loben als tadeln.“ [S. 311-313] [...] Den 20. Juni trafen die Elsässer ein; Schmerz und Jubel steigern sich abwechselnd. Die schwarzen Fahnen von Straßburg, Metz und Neu-Breisach ziehen aller Blicke und Herzen auf sich; das Banner von Straßburg trägt das Wappen der Alsatia und darunter den Vers: „Heiliges Herz Jesu, habe Mitleid mit Frankreich und gib uns unser Vaterland wieder!“ Mit den Elsässern sind auch die Pariser Pilger gekommen, ihre große Fahne trägt die Inschrift: „Vivat qui Francos diligit Christus [Es lebe Christus, der die Franzosen liebt]!“ Man muß diese Lieblinge des Heilandes gesehen haben, um die, mir wenigstens, fast an Blasphemie streifende Phrase ganz zu würdigen. [...] Da sage mir einmal einer, ob das Processionen seien, welche die moralische und religiöse Wiedergeburt des französischen Volkes zum Zweck haben sollten! [...] P. Drevon teilte mir mit, daß der Plan bestehe, in Paray eine große Kirche zu Ehren des göttlichen Herzens zu errichten, dafür unter allen katholischen Völkern Europas zu sammeln und dann für jede Nation eine eigene Kapelle in der so erbauten Kirche herzustellen. So sehr ich wünsche, daß die ganze Welt das Herz Jesu liebe und verehre, so möchte ich doch nicht, daß die deutschen Katholiken in Paray eine Kapelle haben, so lange die Franzosen mit derartigen Demonstrationen dort paradiren und so lange sie nicht demüthig und selbstverläugnend gelernt haben, daß die erbarmende Liebe des Heilandes für andere Dinge da ist, als für den verblaßten Gloireschein der Göttin „La France“. [S.490-493] [...] Ich habe ein großes, reiches, von Gott überaus gesegnetes Land gesehen und eine Nation, welche auf allen materiellen Lebensgebieten, in Kunst und Wissenschaft, großes geleistet hat und noch leistet, eine Nation, welche eine ruhmreiche, aber auch blutige Vergangenheit hinter sich hat. Aber dieser großen Nation fehlt die einzig wahre Größe jedes Menschen und jedes Volkes, das Durchdrungensein von Religion. Frankreich ist in seiner innersten Masse, in seinem Volkskerne vergiftet; das arme Volk hat, wie ich nachgewiesen, seinen religiösen und politischen Auctoritätsglauben, seinen kirchlichen und bürgerlichen Gehorsam eingebüßt, eingebüßt durch Stürme und Revolutionen der verschiedensten Art, welche die Grundpfeiler aller socialen Ordnung, Kirche und Staat, erschüttert haben. Und wer sehen will, wie weit ein Volk herabkommt und wie schwer einem Volke aufzuhelfen ist, wenn das religiöse Bewußtsein und die Achtung vor den göttlichen Geboten in den untersten Schichten des Volkes verschwunden und gewichen ist – der gehe nach Frankreich. Hier können wir aber auch lernen, was aus einem Volke wird, das, trunken über siegreiche und blutige Waffenthaten, im Ruhmesschwindel und zum Ruhmesschwindel mißbraucht von selbstsüchtigen Herrschern, dem Wahne verfallen ist, als sei es die einzige große Nation auf Erden. Wir können sehen, was aus einem Patriotismus wird, der alle vernünftigen Grenzen übersteigt und zum Nationalkult geworden ist. Wir können aber ferner auch sehen, was aus der katholischen Kirche wird, wenn sie sich in den Staatsdienst begibt, „das Joch des römischen Stuhles“ und die Abhängigkeit vom Felsen Petri lockern oder abschütteln will, und, statt frei zu werden, in die entehrende Knechtschaft launischer Despoten fällt.[...]. Aber, und hier wende ich meine Blicke auf Deutschland, möge der Herr des Himmels, der die Geschicke der Menschen und Völker lenkt, Deutschland bewahren vor französischen Zuständen, so lange es noch Zeit ist. In unserem braven deutschen Volke lebt noch, Gott sei’s gedankt, im Verhältnisse zum französischen ein tiefer Fond religiöser
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und politischer Auctorität, aber an diesem heiligsten Kleinod jeder Nation wird schon seit Jahren gerüttelt, die ersten Bollwerke sind bereits niedergerissen. Was Voltaire und die Encyclopädisten gerade vor hundert Jahren in Frankreich in Scene setzten, spielt heute und seit einer Anzahl von Jahren in der deutschen Presse und in der deutschen Literatur. „Kulturkampf“ nennt man diese Vorgänge, und unter diesem Losungsworte sieht die herrschende Partei unserer Tage nicht, daß mit dem religiösen Gefühle des Volkes auch die politische Auctorität zu wanken beginnt. ... Geht der Kampf aber so fort, so werden wir 1889 in Deutschland jene entsetzliche Aera beginnen, welche Frankreich 1789 angefangen hat und unter deren Folgen es heute noch so fast rettungslos darniederliegt – und unter Blut und Thränen wird die künftige Generation unseres deutschen Vaterlandes am Grabe der religiösen und politischen Auctorität unseres Volkes stehen. [S. 508-510]
Literatur Blackbourn, David, Wenn ihr sie wieder seht, fragt, wer sie sei. Marienerscheinungen in Marpingen. Aufstieg und Niedergang des deutschen Lourdes, Reinbek 1997 Clark, Christopher; Kaiser, Wolfram, Culture Wars. Secular-Catholic conflicts in nineteenth century Europe, Cambridge 2003 Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.), Nation und Religion in Europa: mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2004 Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter (Hg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt 2001 Krumeich, Gerd; Lehmann, Hartmut (Hg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000
FEMINISMUS, INTERNATIONALISMUS UND DER KAMPF UM DIE MORAL1 Von Peter N. Stearns Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erstarkte die Frauenbewegung in vielen Ländern. In Europa und Amerika bildeten sich zahlreiche internationale feministische Verbände, die neben einer Vielzahl politischer Ziele vor allem auch allgemeine gesellschaftliche Reformen propagierten und anstrebten. Über die Durchsetzung von Frauenrechten hinaus, eine Auseinandersetzung, die sich zunehmend auf das politische Wahlrecht konzentrieren sollte, gelangten auch Fragen der Sittlichkeit und der Sexualmoral auf die Tagesordnung dieser Organisationen. Davon handelt die vorliegende Quelle, nämlich ein Brief Josephine Butlers an die erste Konferenz des Internationalen Frauenbundes (International Council of Women), die im März 1888 in Washington D.C. stattfand.2 Josephine Butler, eine führende britische Sozialreformerin und Vertreterin des Nationalen Frauenverbands, konnte selbst nicht an der Konferenz teilnehmen und übermittelte ihr Anliegen deshalb schriftlich. Der Internationale Frauenbund war einer der neuen wichtigen Frauenverbände, dessen Arbeit im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert von einem weitgefächerten transatlantischen Reformerinnennetzwerk getragen werden sollte. Die Initiative ging zunächst von den amerikanischen Wahlrechtsreformerinnen Elizabeth Cady Stanton und Susan B. Anthony aus, die nach der Rückkehr von einer England-Reise im Jahr 1882 die Gründung eines internationalen Dachverbandes vorantrieben. Die Teilnehmerinnen der Washingtoner Tagung von 1888 kamen sowohl aus Europa wie aus den Vereinigten Staaten, wobei Europa nicht nur durch Britinnen, sondern auch von einer starken skandinavischen Delegation und Teilnehmerinnen aus Frankreich repräsentiert war. Einige europäische und amerikanische Missionarinnen ‚vertraten’ überdies Indien. Der Internationale Frauenbund hatte den Anspruch, sämtliche Fragen zu behandeln, die für Frauen von Belang waren. Fragen der so genannten Temperenz (Mäßigkeit und Abstinenz) und des so sogenannten Arbeiterinnenschutzes dominierten die Verbandsarbeit der ersten Jahre.3 Darüber hinaus befasste sich der Frauenbund auch mit Fragen der Sexualmoral, wofür sich Josephine Butler besonders interessierte. Josephine Butler (18281906) war zuvor bereits oft in Frauenangelegenheiten aktiv gewesen, vor allem in Großbritannien. Seit 1860 war sie aber, was in ihrem Brief angedeutet wird, auch besonders an der Situation in den Kolonien interessiert. Das lange Leben Butlers, die in —————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 2.5, Josephine Butler, The International Council of Women and the fight against white slavery (1888). Essay aus dem Amerikanischen von Florian Kemmelmeier. Vgl. Quelle Nr. 2.5 mit Auszügen aus Butler, Josephine, White slavery. Bulletin letter to the International Conference of Women at Washington (march 1888). Zit. n. National Woman Suffrage Association, Report of the International Council of Women, Washington 1888, S. 257-263. Vgl. zu dieser Gründungsgeschichte: Rupp, Leila, Worlds of women. The making of an international women’s movement, Princeton 1997. Zu internationalen Frauenorganisationen s. Stienstra, Deborah, Women’s movements and international organizations, New York 1994; Berkovitch, Natza, From motherhood to citizenship. Women’s rights and international organizations, Baltimore 1999.
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Northumberland geboren wurde und später einen zu Erziehungsproblemen schreibenden anglikanischen Kleriker heiratete, war immer von leidenschaftlichem politischen Engagement geprägt. Dementsprechend trug auch ihre im Jahr 1896 erschienene Autobiografie den viel sagenden Titel Personal Reminiscences of a Great Crusade – „Persönliche Erinnerungen an einen großen Kreuzzug“. Frauenrechte verteidigte Butler in vielerlei Hinsicht. Lange Zeit hatte sie ein starkes Interesse an Fragen der Hochschulbildung. Sie kämpfte für die Verbesserung der Zugangsmöglichkeiten für Frauen zu Universitäten und Professionen – in einer Bewegung, die allerdings nur zögerlich in Schwung kam.4 Das größte Problem jedoch, das Butler ganz besonders am Herzen lag, war, was sie als sexuellen Missbrauch von Frauen unter stillschweigender Duldung der führenden Regierungen ansah: die Prostitution. Butler verabscheute sie und dennoch widerstand sie heftig der verbreiteten Reaktion, die Prostituierten selbst für die hochgradig bedauernswerte Lage und ihren verwerflichen moralischen Zustand verantwortlich zu machen. Mehr noch, Butler stellte sich energisch den oft schon langanhaltenden Versuchen von staatlicher Seite entgegen, die Prostitution im Interesse der Wahrung des allgemeinen Wohls und der öffentlichen Sicherheit zu regulieren. Ihre heftigsten Angriffe richteten sich dabei gegen britische Maßnahmen wie den Contagious Diseases Act, der Prostituierte zu Untersuchungen hinsichtlich möglicher Blutkrankheiten zwang. Aus Butlers Sicht nahmen sämtliche Regulierungsbestrebungen die unmoralische Entwürdigung von Frauen bewusst hin und verliehen der Prostitution so eine Legitimität, die diese sonst nicht gehabt hätte. Butlers Hoffnung bestand vielmehr in der Beseitigung jeglicher Regulierung und jeglicher Toleranz der Prostitution von Seiten der Regierungen, was einhergehen sollte mit einer moralischen Reform, die Frauen von der sexuellen Dienstleistung für Männer befreien und die geläufige Doppelmoral Frauen gegenüber auflösen sollte. Ab den 1880er Jahren wandten sich Butler und mit ihr viele andere Reformerinnen und Reformer aber auch noch einem weiteren Thema zu: der Frage der „weißen Sklaverei“. Butler und ihre Mitstreiter machten dabei immer wieder darauf aufmerksam, dass zahlreiche Frauen und insbesondere auch junge Mädchen in europäischen und amerikanischen Städten entführt und anschließend an Bordellbesitzer in Länder wie Russland, Brasilien oder Argentinien verkauft würden. Es handelte sich hierbei um eine von Angst und Wut bestimmte, emotional hoch aufgeladene international geführte Debatte, die in den 1880er und 1890er Jahren vor allem von Frauen dominiert wurde. In ihr artikuliert sich ein Gefühl der Bedrohung des eigenen Lebens und des Lebens der eigenen Töchter. Butlers Brief illustriert einige Fragen, die in Anknüpfung an den transatlantischen Feminismus des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Historikerinnen und Historikern bis heute diskutiert werden. Ein erster entscheidender Punkt ist hier das Verhältnis von Feminismus und Religion: Der Feminismus war eine völlig neuartige Bewegung und wurde von vielen gläubigen Anhängerinnen des Christentums abgelehnt, gleichzeitig zogen aber viele führende Feministinnen Kraft aus religiösen – christlichen und jüdischen – Überzeugungen, die nicht unbedingt im Einklang mit der jeweiligen Tradition stehen mussten. Die Analyse dieser speziellen Mischung und der Beziehungen zwischen dem —————— 4
Zu Butlers Biographie: Petrie, Glen, A singular iniquity. The campaigns of Josephine Butler, New York 1971
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Feminismus, der europäischen Kultur und den Geschlechterverhältnissen ist nach wie vor eine besondere Herausforderung. Butler spricht weiter, wenn auch eher implizit, das Verhältnis von Feminismus und sozialer Klasse an. Viele der führenden Politiker des 19. Jahrhunderts teilten die Gesellschaft in Eigentümer und Arbeiter ein, in angesehene sowie weniger bis gar nicht angesehene Teile der Gesellschaft. Feministinnen wollten eine andere Sicht der Dinge schaffen, doch viele Historikerinnen und Historiker bezweifeln, dass es ihnen gelang, die gesellschaftlichen Trennlinien zu überwinden. Insofern kann hier legitimerweise auch gefragt werden, was wohl Arbeiterfrauen und Prostituierte von Butlers Bestrebungen und Argumenten gehalten und wie sie wohl den Beitrag des Feminismus zur Auflösung der herrschenden sozialen Ungleichheit einschätzt hätten. Feministinnen setzten sich jedoch nicht nur für neue Frauenrechte ein, sondern entwickelten und vermittelten, drittens, auch bestimmte Frauenbilder – was im Übrigen implizit auch immer einen Vergleich mit entsprechenden Männerbildern enthielt. Auch in dieser Hinsicht provozieren Teile des Dokuments eine Stellungnahme und werfen vor allem die oft diskutierte Frage auf, ob die Reformerinnen für eine Gleichheit der Geschlechter eintraten, oder aber lediglich nur für eine „Besserbehandlung“ der Frauen eintraten, zu der kein grundsätzlicher Wandel der bestehenden hierarchischen Strukturen zwischen den Geschlechtern nötig war. Ein vierter Diskussionspunkt bezieht sich auf den Internationalismus. Es ist faszinierend zu sehen, wie schnell der organisierte Feminismus eine internationale Dimension anstrebte. Neben der schon älteren Anti-Sklaverei-Bewegung und neben der international organisierten Arbeiterschaft war auch der Feminismus eine moderne Reformbewegung, die klar auf eine Überwindung von nationalen und kulturellen Grenzen hin orientiert war. Aber auf welcher Grundlage war es Feministinnen überhaupt möglich, gemeinsame Streitpunkte für die gesamte westliche Welt und tatsächlich auch darüber hinaus zu definieren? Deutlich wird, dass der Internationalismus, um den es hier geht, auch im Zusammenhang mit der Entwicklung des europäischen Imperialismus zu sehen ist. Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, welche Reformansätze Feministinnen in internationalen Zusammenhängen etwa in Länder wie z.B. Indien übermittelten, so ergibt sich zwangsläufig die Frage, wieweit das von ihnen immer wieder betonte Humanitätsideal eigentlich trug. Denn ganz unzweifelhaft entwickelte sich der internationale Feminismus, wie wohl auch zu erwarten war, sehr ungleichmäßig, dies gilt sowohl in regionaler Hinsicht als auch in Bezug auf die Rolle und das Gewicht einzelner seiner Protagonistinnen. Und dies traf im Übrigen bis vor kurzem auch noch auf den Feminismus innerhalb Europas zu. Allerdings werden damit die Forderungen, die international gestellt wurden und werden, keineswegs uninteressanter. Dann ist da schließlich noch das Schreckbild der weißen Sklaverei selbst. Historiker haben herausgefunden, dass die verbreitete Angst in keinem Verhältnis zu dem historisch rekonstruierbaren, quantitativ zu genauer zu umreißenden Problem des Frauenhandels stand. Dies soll nicht die Ernsthaftigkeit Butlers und ihrer Mitstreiterinnen in Abrede stellen. Dennoch drängt sich die Frage auf, warum eben genau zu jener Zeit die Debatte um diese übertrieben wahrgenommene Bedrohung so emotional geführt wurde. Was spielte sich im Leben von Frauen in Europa, in den Vereinigten Staaten und in der Welt insgesamt ab? Womit ist diese neue Art von Angst zu erklären, die eben nicht nur einfach auf ein verbreitetes neuartiges Verbrechen zurückzuführen ist? An dieser Stelle
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reicht es nicht mehr, allein die Quelle zu interpretieren, selbst wenn man genau hinschaut und zwischen den Zeilen liest. Hier ist ein breiteres Wissen über die sozialen und kulturellen Hintergründe dringend erforderlich, ein Wissen, das auch Migrationsstrukturen und die neue Präsenz von Frauen in der Öffentlichkeit mit einbeziehen muss. Das aktive Eintreten gegen die „weiße Sklaverei“ hatte letztlich Konsequenzen. Nach 1900 setzte sich die französische Regierung an die Spitze neuerer Bemühungen um eine stärkere internationale Kontrolle durch zwischenstaatliche Abkommen. Schließlich begannen in den 1920er Jahren auch die Regierungen von Ländern wie Argentinien, die sich zuvor durch ein besonders laxes Verhalten gegenüber den „weißen Sklavenhaltern“ negativ bemerkbar gemacht hatten, neue Kontrollmechanismen einzuführen, um die Prostitution in den großen Zentren zu beschränken. Ab diesem Zeitpunkt begann das Schreckensbild der „weißen Sklavinnen“ in sich zusammen zu fallen, teilweise aufgrund der ergriffenen Maßnahmen, teilweise, weil es inzwischen andere, neue internationale Sorgen gab, teilweise aber auch wegen des allmählichen Wandels der Sexualmoral und des Sexualverhaltens von Frauen insbesondere in der europäischen Welt. Aber auch hier sollte im Folgenden einiges an Kontinuität bestehen bleiben oder zumindest wiederaufleben. So gelangten zu Beginn des 21. Jahrhunderts Bedenken über die sexuelle Ausbeutung von Frauen sowie den verstärkten Menschenhandel erneut auf die Tagesordnung, vor allem in Hinblick auf Menschen aus Osteuropa und Südostasien. Einige der Themen und Ziele, für die Butler und ihre Mitstreiterinnen bereits vor über einem Jahrhundert gestritten hatten, gewannen so erneut an Aktualität. Der internationale Feminismus hat sich nicht zuletzt im Zuge seiner großen Weltkonferenzen über das 20. Jahrhundert hinweg bis heute fortgesetzt. Im Mittelpunkt standen dabei immer wieder Bemühungen, Grundlagen für weltweite Frauenrechte zu legen. Ein Beispiel hierfür ist das seit 1975 von den Vereinten Nationen initiierte „Jahr der Frau“. Menschen wie Josephine Butler haben mit ihrer Arbeit entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen. Gleichzeitig standen aber auch immer Fragen der Sexualmoral im Blickpunkt des Feminismus. Sie bewegen sich nach wie vor in den oben erwähnten Spannungsfeldern. Das Wiederaufleben des Feminismus in den 1960er Jahren in Europa und den Vereinigten Staaten ging oft einher mit einer neuen Offenheit gegenüber gelebter weiblicher Sexualität. Und dennoch stießen die Auswirkungen der sogenannten sexuellen Revolution bei einigen Feministinnen auf großen Widerstand. Diese sahen Frauenkörper in den Medien ausgebeutet und die feministische Sache in puren Hedonismus pervertiert. Amerikanische Feministinnen reagierten hier heftiger als europäische. Die Streitfrage, wie es um das Verhältnis von Feminismus und der jeweils zeitgenössischen Sexualkultur steht, ist bis daher heute keineswegs gelöst.
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Quelle Nr. 2.5 Josephine Butler, The International Council of Women and the fight against white slavery (1888)5 It would be impossible for me either to appear at or write to your Convention in the aim of furnishing a contribution to your deliberations, except in connection with my own life-work, and the deep convictions which instigated that life-work, and which have become even more and more profound as I continued in it. The committee of our Ladies’ National Association, strongly desired that a delegate should be selected from our midst who had been associated in that work from an early period, and such an one is Mrs. Steward, who has been indefatigable in her labors, not only in England, but in Belgium, for the saving of the English girls bought, stolen, and destroyed under this diabolical system of State-protected vice in that country. There is now a crowd of younger women who are bravely preaching the purity crusade and doing excellent vigilance work; but there are but few of the veterans left who in 1869 inaugurated the fierce contest with our government, the Houses of Lords and Commons, the medical boards, the press, and the upper classes generally, in order to gain the abolition of the vice-protecting laws, and to assert the equality of the moral law for the two sexes, as well as the dignity and sacredness of womanhood. [...] In 1874 a „new departure“ was inaugurated. The battle was carried across the channel to France – where, under the First Napoleon, this abominable and impure tyranny had first been instituted in the end of the eighteenth century – to Italy, to Switzerland, to Germany, and to the Netherlands. It spread afterwards to Spain, Holland, Denmark, Austria, Hungary, and Sweden and Norway. We now have friends in Russia, but no association is yet formed there. In the first report of the Continental work the movement was thus described by our financial secretary, Professor Stuart, M.P.: „It was indeed a wise intuition which led the women of England to carry into its original strongholds the campaign against the system of regulated vice, against whose encroachments we are contending in this country. Not only have we seen, during the year of work just concluded, refuges for the fallen established throughout many cities of Europe, and men and women of many languages joining to call for and work for the abolition of regulated prostitution, and to aim through that at the abolition finally of prostitution itself, but we have seen whole cities shaken as it were with the wind of a new revival, recognizing the crime that they have committed before God, in regulating and licensing the destruction of his image; we have seen through the length and breadth of nations, societies actively working in a cause which had before lain dormant, and we have seen the whole great nation of Italy, called as it were by the voice of God, through his poor and weak servants, recognizing that virtue and purity alone can be the basis of its future greatness.“ In a brief time we had won the public adhesion to our cause of many of the most distinguished persons on the Continent, among whom we counted Joseph Mazzini and Garibaldi, in Italy; Jules Favre, Jules Simon, and Victor Hugo, in France; the Count Agenore de Gasparin and the Countess de Gasparin, of Geneva; Baron de Bunsen and Count Ungern Sternberg, in Germany; M. Emile de Laveleye, the well-known writer and economist, of Belgium, and many others. But it is not so much to the adhesion of the great men that we hold, as to the active concurrence of the thousands of women on the Continent of Europe, who have been awakened on this question and who have formed numerous and ever-increasing associations for working out our aims, more especially in
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Auszüge aus Butler, Josephine, Bulletin letter to the International Conference of women at Washington (march 1888), zit. n. National Woman Suffrage Association, Report of the International Council of Women, Washington 1888, S. 257-263.
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Switzerland, Holland, France, and the Scandinavian peninsula. Our Continental secretary, M. Humbert, writing on this subject after fourteen years’ experience, says: „Happy are those nations in which women themselves have taken the initiative in this great movement, for in such cases it will never die, whereas in countries where the work is left entirely to men, although some reforms may be achieved, the movement never possesses the same life.“ This brings me to speak of our work in the Colonies and in India. It is in allusion to this new expansion that M. Humbert writes the letter just quoted. He continues: „How are we to proceed successfully for the emancipation of women from the hateful thraldom imposed on them by the civilization of conquering races (the thraldom of compulsory and state regulated prostitution), among Buddhists, Brahmins, Mahometans, or Pagans, where the fate of women, in this world at least, depends absolutely on the will of man, their master. This is a difficult question to answer. We see occasionally a spark kindled among those nations, but the light is short lived, and it requires to be continually rekindled.“ [...] As an inevitable and necessary accompaniment of the establishment of licensed houses of illfame under government patronage all over the world, there exists, as you all know, the most extensive slave traffic in the interest of vice. This fact has become so fully acknowledged during the last few years as to have given rise to that admirable and much-needed society, the „International Association of Friends or Girls,“ originating in Switzerland and now spreading all over and far beyond Europe. That society has been greatly strengthened in England since the congress held in London in 1886; and this fact is brought home to us by the reassuring sight at various railway stations and landing places, of the warnings and friendly placards so diligently distributed and put up by the English branch of the society, informing all girls and women of where they may find friends, and of what dangers they must beware. Our Federation has collected carefully many facts and statistics concerning this world-wide slave traffic. People in Europe speak with indignation of the traffic in negroes. It would be just as well if they would open their eyes to what is going on much nearer, throughout the whole of Europe, especially in Germany and Austria, where the exportation of white slaves is carried on on a large scale. A terrible picture is presented to us of the enforced movement to and fro upon the face of the earth, of these youthful victims of human cruelty. Numbers are embarked at Hamburg, whose destination is South America, Bahia, and Rio de Janeiro. The greater number are probably engaged for Montevideo and Buenos Ayres; others are sent by the Straits of Magellan to Valparaiso. Other cargoes are sent to North America, some being forwarded through England, others direct. The competition which the traders meet with when they land, sometimes constraints them to go further ahead; they are found, therefore, descending the Mississippi with their cargoes, to New Orleans and Texas. Others are taken on to California. In the market of California they are sorted, and thence taken to provision the different localities on the coast, as far as Panama. Others are sent from the New Orleans markets to Cuba, the Antilles, and Mexico. Others are taken from Bohemia, Germany, and Switzerland across the Alps to Italy, and thence further south to Alexandria and Suez, and eastward to Bombay, Calcutta, Singapore, Hong-Kong, and Shanghai. The Russian official houses of vice draw their slaves in a great measure from eastern Prussia, Pomerania, and Poland. The most important Russian station is Riga; it is there that the traders of St. Petersburg and Moscow sort and get ready their cargoes for NijniNovgorod, and from this latter place cargoes are sent on to the more distant towns of Siberia. At Tschita a young German was found who had been sold and resold in this manner. [...] It may be that I am writing to some who have been accustomed to think of the poor outcasts of society as beings different from others, in some way tainted from their birth; creatures apart, without the tenderness and capacities for good possessed by your own cherished daughters. You may have imagined them to be for the most part reckless and willful sinners, or, if in the first instance betrayed or forced into sin, now, at least, so utterly destroyed and corrupted as to have become something unmentionable in polite society. Now, all who have had a practical acquaintance
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with the lives of poor and tempted women, know how mistaken is such a judgment, how cruelly false in most cases. But, granting for the moment that women who have fallen from virtue have become so degraded as to be repulsive or uninteresting to you, what have you to say concerning outraged children? And thousands of these are but children in age and in knowledge. This letter is sent forth with the earnest prayer that, while pardoning the imperfections of my poor appeal, God would make use of it, to fan the holy and purifying fire which, I feel sure, is already kindled in your hearts. When I kneel in my chamber to plead for the deliverance of these little ones for whom Christ died, I seem to see the childish faces gathering in crowds around me, filling the space on every side - the faces of the slaughtered dead as well as of the living. These victims, voiceless and unable to plead their own cause, seem to make their ceaseless, mute appeal from their scattered, unknown graves, and from out those dark habitations of cruelty where they are now helplessly imprisoned. But their weeping has been heard in Heaven, and judgment is at hand.
Literatur Bristow, Edward, Vice and vigilance. Purity movements in Britain since 1790, Dublin 1977 Loades, Ann, Feminist theology: Voices from the past, Cambridge/Mass. 2001 Nadelmann, Ethan, Global prohibition regimes: the evolution of norms in international society, in: International Organization 44 (1990), S. 479-526 Rupp, Leila, Worlds of women. The making of an international women’s movement, Princeton 1997 Walkowitz, Judith, Prostitution and Victorian society. Women, class and the state, Cambridge 1982
PRIVATE WOHLTÄTIGKEIT UND ANTISEMITISMUS UM 1900: AUSGEZEICHNET UND 1 VERLEUMDET – DER BERLINER FÜRSORGEPIONIER HERRMANN ABRAHAM Von Harald Dehne Der strahlende Glanz, der das rasante Wachstum der Hauptstadt des Deutschen Reiches seit 1871 begleitete, vermochte den besorgniserregenden Anstieg der Zahl von unterstützungsbedürftigen Arbeiterfamilien nicht zu verbergen.2 Wie jede Kommune zur Armenpflege verpflichtet, versuchte der Berliner Magistrat die schlimmste Not zu lindern, aber alle städtischen Fürsorgebestrebungen wären ein Tropfen auf dem heißen Stein geblieben ohne die vielfältige Wohltätigkeit engagierter Bürger der Stadt.3 Um die hungrigen Berliner Schulkinder etwa kümmerten sich ausschließlich private Vereine, angeführt vor allem von jüdischen BerlinerInnen wie Agnes Blumenfeld (Verein zur Speisung armer Kinder und Notleidender, gegründet 1875) oder Lina Morgenstern (Verein Berliner Volksküchen von 1866). Eine der herausragenden Persönlichkeiten unter ihnen war der wohlhabende Rentier Herrmann Abraham, der nach dem Verkauf seines Tuchgeschäftes im Jahre 1890 im Alter von 43 Jahren sein zweites Leben als ein Vorreiter in der privaten Ernährungsfürsorge begonnen hatte.4 Sein Verein für Kindervolksküchen hatte innerhalb von zehn Jahren so sehr Furore gemacht, dass der Kaiser ihn 1903 für seine Verdienste mit dem Kronen-Orden auszeichnete. Aber mit seinen scheinbar ausufernden Wohlfahrtsaktivitäten – gelegentlich kritisch als „Wohltätigkeitssport“ bezeichnet – hatte Abraham auch eine Gegnerschaft erzeugt, sowohl unter den konservativen Sozialpolitikern5 als auch in den erstarkenden antisemitischen Kreisen im Deutschen Reich.6 Diese nutzten diese Auszeichnung zu einer öffentlichen Diffamierung des jüdischen Wohltäters. In diesem Spannungsfeld beleuchtet der im Folgenden abgedruckte Artikel aus der Staatsbürger-Zeitung aus dem Sommer des Jahres 1903 eine typische Affäre.7 Diese hatte schon einige Monate zuvor begonnen und sollte min—————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 2.6, Artikel über Hermann Abraham aus der Staatsbürger-Zeitung (1903). Ritter, Gerhard A.; Tenfelde, Klaus, Arbeiter im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, Bonn 1992; Landwehr, Rolf; Baron, Rüdeger (Hg.), Geschichte der Sozialarbeit. Hauptlinien der Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Weinheim und Basel 1983; Tennstedt, Florian, Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Vom 18. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg, Göttingen 1981. Scarpa, Ludovica, Gemeinwohl und lokale Macht. Honoratioren und Armenwesen in der Berliner Luisenstadt im 19. Jahrhundert, München 1995. Dehne, Harald, Die fremde arme Welt in der heilen Stadt. Ernährungsdefizite im Übergang, bürgerlicher Missionseifer und die Einbildungen des Berliner Magistrats 1871-1914, in: Kühberger, Christoph; Sedmak, Clemens (Hg.), Aktuelle Tendenzen der historischen Armutsforschung, Münster 2004, S. 127-163. Wie zum Beispiel bei Albrecht, Heinrich, Handbuch der sozialen Wohlfahrtspflege in Deutschland, Berlin 1902, Teil I, S. 81. Bergmann, Werner, Geschichte des Antisemitismus, München 2002; Zumbini, Massimo Ferrari, Die Wurzeln des Bösen. Gründerjahre des Antisemitismus: Von der Bismarckzeit zu Hitler, Frankfurt am Main 2003. Vgl. Quelle Nr.2.6; Dem Verdienste seine Krone, in: Staatsbürger-Zeitung vom 21.8.1903.
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destens bis zum Ende des Jahres neben der Öffentlichkeit auch das Berliner Polizeipräsidium und das Potsdamer Innenministerium beschäftigen. Zunächst fällt uns heute an diesem Beitrag auf, dass der Berliner Verein für Kindervolksküchen bereits um 1900 eine für die Mediensituation im Kaiserreiches ausgesprochen effektive Öffentlichkeitsarbeit betrieb, denn er machte auf seine Erfolge durch eigene Presseinformationen aufmerksam. Erst der genauere Blick auf den Artikel, abgedruckt in der als antisemitisch bekannten Staatsbürger-Zeitung, lässt dann erkennen, dass hier in populistischer Weise Gerüchte kolportiert und Halbwahrheiten zu Gehilfen der Lüge instrumentalisiert werden. Das Ziel des Artikels war es offenbar, Missgunst zu schüren und dem Ruf des wohltätigen Philanthropen, dem soeben ein kaiserlicher Orden verliehen worden war, zu schaden. Durfte ein in Berlin lebender Jude denn überhaupt zu einem deutschen Ritter geschlagen werden? Der Erlass vom 28. Juli 1903, der Herrmann Abraham mit dem Kronen-Orden vierter Klasse auszeichnete, kam von „Allerhöchster“ Stelle, daran war schließlich nicht mehr zu rütteln – aber es blieb der Weg der Verleumdung des Geehrten und der Unruhestiftung selbst in Ministerialebenen. Nach der vom Redakteur in den Raum gestellten Frage, wofür der Jude denn die Auszeichnung verdient haben soll, wird die nachfolgende Denunziation Abrahams als profitgieriger „Humanist“ auf einer Lüge aufgebaut, eine Lüge, die der Autor – sicherheitshalber? – aus einer anderen Zeitung der antijüdischen Pressephalanx zitiert. Diese besteht in der Behauptung der Deutschen Tageszeitung, Abraham betreibe ein Lebensmittelgeschäft und verdiene sich an seiner Wohltätigkeitsspeisung privat eine goldene Nase. Da dies wohl noch nicht anrüchig genug ist, wird eine fast vergessene Geschichte von Neuem aufgetischt: Der sogenannte Fleischskandal während der Berliner Gewerbeausstellung 1896 im Treptower Park. Neben dem Vorwurf, dass Abraham Subunternehmer zum Sponsoring zwingen wollte, wird ihm vor allem unterstellt, aus Kostengründen Hygienevorschriften umgangen zu haben, was ihn ins Visier der Königlichen Staatsanwaltschaft gebracht habe. Die Botschaft dieses Zeitungsartikels: „In Wohltätigkeit machen“ scheint modern zu sein und bringt einen zu etwas, auch wenn es nicht mit rechten Dingen zugeht. Am Ende steht: Dieser Jude könne kein Ehrenmann sein, der Orden gebühre ihm gar nicht. Damit bleiben die beiden zentralen Fragen aber unbeantwortet: Wofür hat Herrmann Abraham diese Auszeichnung erhalten und wer hat ihn vorgeschlagen? Abraham, der im Jahre 1847 als Sohn eines preußischen Kultusbeamten in der Provinz Posen geboren wurde, ging mit 17 Jahren nach Berlin und gründete hier ein Jahr später eine Tuchhandlung. Insbesondere nach der Reichsgründung 1871 brachte sie ihm so viel Gewinn ein, dass er sie 1893 für die phantastische Summe von einer halben Million Mark verkaufen und bereits im Alter von 43 Jahren von den Zinsen seines Vermögens leben konnte. Zunächst engagierte er sich im Rahmen jüdischer Wohltätigkeit und beköstigte jüdische Flüchtlinge aus Russland, aber schon im Jahre 1893 gründete er seinen eigenen Wohltätigkeitsverein, den Verein für Kindervolksküchen. Dieser unterhielt 1902 zwölf Küchen, in denen Schulkinder gespeist wurden, teils für geringes Entgelt, teils als Armenspeisung. Vom Magistrat kam ein lächerlicher Zuschuss, der aber so umfangreich bemessen war, dass er von dieser fürsorgerischen Aufgabe entbunden erscheinen konnte. Das erforderliche Geld für die Kinderspeisung sammelte Abraham in den besten Kreisen der Gesellschaft durch Kollekten, Spendeneinwerbung, Benefizkon-
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zerte und Wohltätigkeitsbasare. In vielen Fällen wurde das Geld sehr offensiv eingeworben, eine Praxis, die von Kritikern nicht immer als würdig empfunden wurde. In die Aktivitäten des Vereins für Kindervolksküchen, der 1902 über 2.000 Mitglieder hatte, wurden die Honoratioren und insbesondere deren Ehefrauen aktiv eingespannt. Als Ehrendamen beaufsichtigten sie die Arbeit der Küchen und absolvierten prüfende Hausbesuche bei den bedürftigen Familien, deren Schulkinder zur Beköstigung in die Küchen geschickt wurden. Sie hießen Frau Baronin, Frau Admiral oder Frau Amtsgerichtsrat. Und nicht zuletzt wusste Abraham seine Beziehungen zu den gesellschaftlichen Oberschichten für seine Wohltätigkeitsbestrebungen durchaus geschickt zu nutzen. Immerhin genossen es Ihre Durchlaucht, Prinzessin Elisabeth zu HohenloheSchillingsfürst – und wer denkt da nicht an den ehemaligen Reichskanzler? –, mit dem Titel der Ehrenvorsitzenden der Frauengruppe des Vereins für Kindervolksküchen geehrt zu sein. Die wichtigste „Exzellenz“ für Abraham war allerdings Frau Staatsminister Dr. Studt, die seit 1898 bis zu ihrem Tode 1932 als führende Vereinsdame die Arbeit der Vorsteherinnen koordinierte. Ihr Gatte war 1899 bis 1907 preußischer Kultusminister. Tatsächlich ging von ihm die offizielle Anfrage aus, ob einer Ordensverleihung zu Ehren des Vereinsvorsitzenden etwas im Wege stünde. Schließt sich hier ein Kreis? Nimmt man heute entsprechende Archivakten und die Selbstdarstellungen des Vereins zur Hand, so fällt einiges Licht auf die Hintergründe, und es lässt sich mit einiger Plausibilität vermuten, wie die Sache ungefähr gelaufen sein könnte. Im November 1902 beschließt die Generalversammlung des Vereins für Kindervolksküchen den Rechenschaftsbericht für 1900/1901 und 1901/1902. Die Mitglieder sind mit den Ergebnissen zufrieden und veröffentlichen ihren Bericht, aus dem unter anderem hervorgeht, dass Herr Staatsminister Studt zwar kein Mitglied ist, aber drei Mark gespendet hat. Das zehnjährige Jubiläum rückt heran. Am 3. März 1903 bricht sich Abraham beide Beine, als er eine Veranstaltung in der Philharmonie vorbereitet. Am Sonntag, den 10. Mai 1903, schreiben die mitleidenden Ehrendamen und Küchenvorsteherinnen wahrscheinlich einen Brief an den Herrn Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten Studt. Nach einem Monat Wartezeit – oder möglicherweise auch diversen telefonischen und persönlichen Abstimmungen – entschließt dieser sich am 11. Juni 1903 zu einer Anfrage an den Polizeipräsidenten. „Durch die Vorsteherinnen der ‚Berliner Kinder-Volksküchen‘, deren Bericht vom 10. Mai 1903 hier beiliegt, ist bei mir in Anregung gebracht worden, den Vorsitzenden des Vereins Rentier Herrmann Abraham in Berlin, welcher augenblicklich infolge eines auf dem Wege zu einer Vereinssitzung erlittenen Unglücksfalles darniederliegt, anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Vereins mit einer Allerhöchsten Auszeichnung für seine Verdienste um den Verein zu belohnen. Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich ergebenst, über die Personalverhältnisse des p. Abraham zu berichten und sich darüber gefälligst zu äußern, ob der Erwirkung einer Ordensverleihung für denselben ein Bedenken im Wege steht.“8 Bereits nach elf Tagen ist das positive Führungszeugnis für den Rentier Herrmann Abraham erstellt. Der Polizeipräsident von Borries antwortet am 29. Juni 1903: „Gegen die Verleihung einer Allerhöchsten Auszeichnung an den Rentner Herrmann Abraham —————— 8
Landesarchiv Berlin, A Pr. Br. Rep. 30 Polizeipräsidium Berlin, Tit. 94., Nr. 8748, Bl. 26.
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in Berlin-Wilmersdorf, Schaperstraße 34 wohnhaft, habe ich in Anbetracht seiner in jeder, auch in politischer, Beziehung einwandfreien Führung keine Bedenken geltend zu machen. Nach meinem unvorgreiflichen Dafürhalten würde der Königliche KronenOrden 4. Klasse am Platze sein und, soweit ich mich darüber unterrichten konnte, auch den Wünschen Abrahams entsprechen.“9 Diesen klar geäußerten Hoffnungen entspricht nur einen Monat später auch der Kaiser, so dass Abraham, der sich immer noch in der Königlichen Klinik in der Ziegelstraße befindet, am 15. August 1903, einem Samstag, vom Polizeipräsidenten offiziell informiert und beglückwünscht wird. Diese Nachricht verbreitet der Verein für Kindervolksküchen unverzüglich als eine triumphale Mitteilung an alle Zeitungen, was wiederum die antisemitische Presse provoziert. Noch bevor der amtliche Auszeichnungsvorgang am 25. August 1903 beendet ist und die General-Ordens-Commission dem Polizeipräsidenten das Besitzzeugnis über den Kronen-Orden Abrahams übersendet, haben die antisemitischen Attacken auf den soeben Ausgezeichneten begonnen. Der verunsicherte Minister Studt hält die wachsende Unruhe durch bösartige Zeitungsnachrichten über den Ordensträger Abraham am 23. September 1903 offenbar nicht länger aus. Er schickt – gemeinsam mit dem Innenminister – entsprechende Zeitungsausschnitte an den Polizeipräsidenten und bittet unter Verweis auf dessen „wohlwollenden Bericht“ vom 29. Juni um Äußerung zu den neuerlichen Vorwürfen wegen der Sache auf der Gewerbeausstellung 1896. Gelassen antwortet von Borries, dass diese gehässigen Behauptungen der antisemitischen Presse lediglich Wiederholungen darstellten und Abraham schließlich freigesprochen worden sei. Delikat daran ist, dass der Berliner Polizeipräsident im Jahre 1903 jetzt den Juden Abraham verteidigt, wohingegen sein Vorgänger Guido von Maday ihn 1881 bis 1884, zur Zeit der Sozialistengesetze also, noch misstrauisch hat bespitzeln lassen, nur weil er sich – privat und nicht politisch motiviert – mit Bekannten traf, die als Sozialdemokraten observiert wurden. Staatsminister Studts Nervosität bleibt, und so verlangt er im November Einsicht in die Akten der seinerzeit ermittelnden Staatsanwaltschaft, die ihm der Polizeipräsident Mitte Dezember 1903 auch übersendet. Danach scheint die Sache im Sande zu verlaufen. Unklar bleibt in der Rekonstruktion, warum Konrad Studt Angst vor seiner eigenen Courage bekommen hat – die telefonischen und persönlichen Absprachen sind ja leider nicht überliefert. Vielleicht hat ihn die Gemahlin überredet, dem geschätzten Abraham einen persönlichen Gefallen zu tun. Abraham aber stand mit beiden – selbst mit seinen derzeit gebrochenen – Beinen in der Öffentlichkeit, war stets präsent, aber durchaus auch umstritten. Für seine zeitgenössisch „menschenfreundliches Werk“ genannte ehrenamtliche Sozialarbeit10 in der Stadtgemeinde hatte er viele Befürworter, aber zugleich auch eben so viele Feinde. Sie tadelten ihn wegen seiner Methoden und bekämpften ihn aber auch wegen des Inhalts seines sozialen Engagements, das der dama—————— 9 Ebd., Bl. 27. 10 Frerich, Johannes; Frey, Martin, Handbuch der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland. Bd. 1: Von der vorindustriellen Zeit bis zum Ende des Dritten Reichs, München 1993; Sachße, Christoph; Tennstedt, Florian, Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Bd. 2: Fürsorge und Wohlfahrtspflege 1871 bis 1929, Stuttgart 1988; Wendt, Wolf Rainer, Geschichte der sozialen Arbeit. Von der Aufklärung bis zu den Alternativen und darüber hinaus, 3. überarb. und erw. Auflage, Stuttgart 1990.
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lige Stadtschulrat Heinrich Walter Bertram bereits als „Anfang des Kommunismus“ fürchtete – was seine Gattin im Übrigen allerdings nicht daran hinderte, als Vorsteherin der Kinder-Volksküche am Halleschen Tor ihre Haltung in dieser Frage zu demonstrieren. Und Abraham war angreifbar. Erstens wegen seiner offensiven und medienwirksamen Art, für sein „mildtätiges Wirken“ zu werben und Geld zu akquirieren. In seine Reklame spannte er alle Prominenz ein, bestellte allenthalben Lobpreisungen und Dankesbriefe, die er seitenlang in seinen Rechenschaftsberichten abdruckte. Viele missbilligten seine schillernden Benefizkonzerte in der Philharmonie, die er etwa unter dem Motto „Indisches Fest“ oder „Im Casino von Monte Carlo“ veranstaltete, die zwar nicht jedermanns Geschmack trafen, jedoch einen großen Reinerlös für die Vereinsarbeit einbrachten. Kritikwürdig war zweitens seine Vorliebe für den Glamour hochwohlgeborener Kreise, mit dem er sich und seine Sache, dies beides ließ sich kaum mehr trennen, gerne schmückte, und so war er der Verein. In der Professionalität seiner extrovertierten Selbstdarstellung war Abraham seiner Zeit unzweifelhaft voraus. Sich mit seinem Anliegen der Öffentlichkeit durch lärmende Reklame zu empfehlen, galt seinerzeit allerdings noch als wenig ehrenhaft, stand diese Reklame doch zu sehr in der Nähe der Übertreibung. Ein paar Jahre später, als Abraham fast durch einen Besuch der Kaiserin in einer seiner Küchen beehrt worden wäre, urteilte der nunmehrige Polizeipräsident Ernst von Stubenrauch auf Anfrage des Königlichen Schlosses entsprechend ambivalent: „Der in Folge eines Unfalls jetzt an Krücken gehende 62 Jahre alte Mann neigt stark zur Reklame für sich und seinen Verein und sucht aus Allem für seine Bestrebungen Vorteil zu ziehen, wenn auch seine persönliche Uneigennützigkeit in keiner Weise anzuzweifeln ist.“11 Und schließlich war er auch in seiner Eitelkeit anfechtbar. Abraham war ein reicher und angesehener Bürger. Er war selbstlos, wenn es darum ging, sich mildtätig für Hilfsbedürftige seiner Stadt zu betätigen. Dafür opferte er viel Geld und ein Grundstück; aber zugleich erwartete er von der Öffentlichkeit, dass sie diese altruistischen Taten auch entsprechend wahrnahm und gebührend honorierte. So wuchs mit seinen Erfolgen in der Wohltätigkeit für Schulkinder auch sein Geltungsdrang, was seine wohl nicht zufällig ausgeplauderten Hoffungen auf einen Orden erklärt. Bleibt noch die Frage, wofür Abraham 1903 den Orden erhalten hat. Man kann ihn als eine wohlverdiente Auszeichnung für zehn Jahre private Wohltätigkeit betrachten, die ein Jahr zuvor als Fürsorge für arme Juden begonnen hatte, aber von Anfang an offen für alle Hilfsbedürftigen war. Die zehn Jahre Verein für Kindervolksküchen waren ein sinnfälliges Beispiel für die religionsübergreifende Humanität eines assimilierten Juden. Aus heutiger Sicht ist vor allem sein feines Gespür für eine leise Hilfsbedürftigkeit und für die dahinter stehenden gesellschaftlichen Wandlungen bemerkenswert. Er brauchte nicht erst die statistischen Belege, die Berliner Schulärzte erst ab 1900 erhoben und ab 1905 veröffentlichten, sondern er spürte mit seinem Herzen die Hilfsbedürftigkeit von Kindern aus unbemittelten Haushalten oder aus hilflosen Familien, die sich entweder erst kürzlich in der Metropole niedergelassen hatten oder die in der ungewohnten Andersartigkeit der städtischen Hauswirtschaft noch immer unbeholfen wa—————— 11 Landesarchiv Berlin (wie Anm. 8), Bl. 56.
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ren.12 Er musste nicht erst das Verbot der Kinderarbeit im Deutschen Reich von 1903, Englands Schulspeisungsgesetz von Ende 1906 oder die Debatte um die deutsche Volksgesundheit nach 1907 abwarten, die Sozialreformern wie Helene Simon oder Emil Münsterberg endlich Rückenwind gab.13 Ihm ging es nicht um die Bedeutung, die eine hinreichende Ernährung der Kinder für den Staat hatte, sondern um diejenige für deren eigene Gesundheit und Wohlfahrt. Abraham war ein emotional tief empfindender Mensch, der engagiert seine wohltätigen Ziele verfolgte und auch öffentlich eine klare Position bezog.14 Für seine Idee nahm er in Kauf, dass er gegen reformfeindliche Armenfürsorger und konservative Politiker kämpfen musste, dass er von seinen Gegnern gar in die Nähe der Sozialdemokratie und des Kommunismus gestellt wurde, und dass er von antisemitischen Kreisen verunglimpft wurde, was manchen bürgerlichen Politiker – zumindest zeitweilig – durchaus verunsichern konnte. Herrmann Abraham war ein deutscher Fürsorgepionier, weil er auf beherzte und pragmatische Weise frühzeitig eine soziale Fürsorge zur Realität werden ließ, die erst ab 1907 zum Gegenstand einer öffentlichen Reformdebatte in Deutschland wurde. Quelle Nr. 2.6 Artikel über Hermann Abraham aus der Staatsbürger-Zeitung (1903)15 Wir berichteten dieser Tage, daß der „Volksernährer“ Herrmann Abraham den Kronen-Orden 4. Klasse erhalten hat und knüpften daran die Frage, weshalb ihm diese Ehre wohl zuteil geworden sein möge. Jetzt wird der Mitwelt Aufklärung hierüber, und zwar von einer Seite, die es wissen muß. Der Verein für Kinder-Volksküchen, dessen Bureau sich in dem Hause des Vorsitzenden, Schaperstr. 34, befindet, verschickt nämlich mit der Bitte um Veröffentlichung das Nachstehende: „Seine Majestät der Kaiser und König haben dem Rentier Herrn Herrmann Abraham in Berlin den Kronen-Orden 4. Klasse verliehen. Diese Auszeichnung ist erfolgt als Anerkennung seiner [des Herrn Abraham] Humanität.“ Ohne Zweifel ist es angebracht, diese so erfolgreiche „Humanität“ des Herrn Abraham zu jedermanns Nutz und Frommen einmal näher zu beleuchten. Das tut denn auch die „Deutsche Tageszeitung“ folgendermaßen: „Herr Abraham besaß, als er noch nicht Rentier war, ein Landesproduktengeschäft; er handelte mit Mehl, Grütze, Rosinen und dgl. Er gründete auch den Verein für Kinder-Volksküchen, den er
—————— 12 Dehne, Harald, „Das Essen wird also auch ‚ambulando‘ eingenommen“. Das ‚belegte Brot‘ und andere schnelle Kostformen für Berliner ArbeiterInnen und ihre Kinder im Kaiserreich, in: Martin Schaffner (Hg.), Brot, Brei und was dazugehört. Sozialer Sinn und physiologischer Wert der Nahrung, Zürich 1992, S. 105-123; Dehne, Harald, Dem Alltag ein Stück näher?, in: Alf Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, S. 137-168, S. 156ff. 13 Dehne, Harald, „... sitzen völlig nüchtern auf den Bänken der Staatsschule.“ Freie Liebestätigkeit und soziale Disziplinierung im Berlin des Kaiserreichs. in: Mitteilungen aus der kulturwissenschaftlichen Forschung, Heft 37, Berlin 1996, S. 192-215. 14 Dehne, Harald, Hauptsache: Ordnung. Hungrige Kinder, Schulspeisung und der Berliner Rektorenprotest von 1895, in: Gailus, Manfred; Volkmann, Heinrich (Hg.), Der Kampf um das tägliche Brot. Nahrungsmangel, Versorgungspolitik und Protest 1770-1990, Opladen 1994, S. 258-281. 15 Dem Verdienste seine Krone, in: Staatsbürger-Zeitung vom 21.8.1903.
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als Vorstand noch heute leitet. Für den Verein wurde die sogen. gute Gesellschaft mobil gemacht; es gab Basare mit großen Überschüssen; berühmte Sängerinnen und Schauspieler mußten wohl oder übel sich in den Dienst der guten Sache stellen; die Stadt Berlin gab einen erklecklichen Zuschuß; genug, die gute Sache ging ausgezeichnet. Mehrere Millionen Portionen Mittagessen sind im Laufe der Jahre gegen geringes Entgelt oder auch umsonst an Arme abgegeben worden, und sämtliche Materialien dazu hat ununterbrochen das Geschäft des Herrn Abraham geliefert. Niemand behauptet, daß das Geschäft des Herrn Abraham sich dabei habe Unredlichkeiten zu schulden kommen lassen; jedermann meint aber, daß solche Humanität durchaus „praktisch“ ist. Die Erfolge der KinderVolksküchen ließen es Herrn Abraham angezeigt erscheinen, auf der Berliner Gewerbe-Ausstellung im Jahre 1896 als Volkswirt und Menschenfreund in seiner bekannten „Volksernährung“ aufzutreten. Das Unternehmen stand unter dem Protektorat des Professors Virchow; Herr Abraham steckte 30.000 Mark hinein und bat dafür in aller Bescheidenheit die Lieferanten um einen kleinen Beitrag zu seinem menschenfreundlichen Werk. So verlangte z.B. Herr Abraham u.a. von einer Hamburger Firma für den alleinigen Ausschank von Kakao, Schokoladen u. dgl. zuerst die Summe von 5.000 Mk. Als die Firma darauf nicht einging, wollte die Leitung der „Volksernährung“ sich mit 3.000 Mk.–1.500 in bar und 1.500 in Waren – begnügen. Die Hamburger Firma hatte aber wohl kein rechtes Verständnis für Berliner Geschäftsführung und lehnte auch die letzte Forderung ab, so daß sich die Sache zerschlug. Andere Lieferanten müssen weniger bedenklich gewesen sein, denn der „Volksernährung“ fehlte es daran nicht. Sogar ein Herr Ihde in Grevesmühlen war darunter. Dieser betreibt einen schwunghaften Handel mit Faßfleisch und hat seit Jahren mit vielen Zentnern seiner Ware zur Veredelung der Berliner Delikateßwurst beigetragen. Dieser Ihde hatte damals ein rechtes Pech. Ein von ihm gelieferter Posten von 425 Pfund Rind- und Kalbfleisch wurde in der Küche der „Volksernährung“ als tuberkulös, verdorben und zur menschlichen Nahrung ungeeignet beschlagnahmt und dem Abdecker überwiesen. Als alle Zeitungen Lärm schlugen und die „Deutsche FleischerZeitung“ das Vorkommnis eine „bodenlose Schweinerei“ nannte, da bezeugten in großen Anzeigen das Komitee und die Ehrendamen der „Volksernährung“ Herrn Abraham, das er ein Ehrenmann sei. Dann kam jedoch die „Allgemeine Fleischer-Zeitung“ mit folgender Meldung: „Das Etablissement „Zur Volksernährung“ auf der Gewerbeausstellung, dem neulich ein Posten Fleisch konfisziert wurde, hat nicht zum ersten Male von dem früheren Sattlergesellen, jetzigen Fleischhändler IhdeGrevesmühlen Fleisch bezogen, wiewohl Ihde bei der hiesigen Fleischschau als Lieferant kranken Fleisches berüchtigt ist. Am 13. Mai bezog schon das Etablissement von Ihde 255 Kilo Fleisch, am 16. Mai 107 Kilo. Es handelt sich also bei dem jetzt konfiszierten Fleisch nicht, wie behauptet wird, um einen ersten Versuch, sondern um eine dritte Bestellung. Ihde liefert, wie hier bekannt ist, nur Ausschnittfleisch, dessen Einführung laut Reglement in Berlin überhaupt verboten ist. Die Konfiszierung ist nicht infolge einer Denunziation erfolgt, sondern durch die Wachsamkeit eines Fleischbeschaubeamten auf dem Güterbahnhofe ermöglicht worden, der beobachtete, daß das Fleisch nicht zur Untersuchung gebracht wurde und daraufhin die Beschlagnahme veranlaßte.“ Darauf haben Komitee und Ehrendamen zwar nichts erklärt, aber Herr Abraham fühlte sich in seiner Unschuld so sicher, daß er nicht einmal die Gerichte zur Bestrafung der schlimmen Verleumdungen in Anspruch nahm. Er begnügte sich mit der Tatsache, daß er auf dem Gebiete der praktischen Humanität nach wie vor Verdienste auf Verdienste häufte. Und sein Beginnen ist belohnt worden, wie die Matrikel des Kronen-Ordens ausweisen. Ehre dem Ehre gebühret!“ Wir aber fragen – denn die Sache, wenn sie auch den Spott herausfordert, ist doch auch wiederum sehr ernst – wer mag wohl diesen Herrn Abraham und seine „Humanität“ zu einer Ordensauszeichnung empfohlen haben? Man gewinnt leider zuweilen den Eindruck, als gehöre heutzutage nichts weiter dazu, um etwas zu werden, als daß man in „Wohltätigkeit“ „macht“, ganz gleich, ob dabei alles ganz einwandfrei zugeht oder nicht!“
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Harald Dehne
Literatur Ullrich, Volker, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt am Main 1999 Berghahn, Volker Rolf, Das Kaiserreich 1871-1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat, Stuttgart 2003 Berding, Helmut, Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt am Main 1988 Nitsch, Meinolf, Private Wohltätigkeitsvereine im Kaiserreich. Die praktische Umsetzung der bürgerlichen Sozialreform in Berlin, Berlin 1999 Allen, Keith R., Hungrige Metropole. Essen, Wohlfahrt und Kommerz in Berlin, Hamburg 2002
IM WIDERSTAND GEGEN DEN WANDEL. DAS AGRARISCHE MILIEU IN DER WEIMARER REPUBLIK1 Von Jürgen Bergmann Die „Deutsche Tageszeitung“ war eine den Großagrariern und speziell dem „ReichsLandbund“ nahe stehende Tageszeitung. Anders als zu erwarten, beschränkte sich die Zeitung allerdings nicht nur auf landwirtschaftliche Probleme, sondern erhob einen allgemeinen, gesellschaftlichen und politischen Anspruch und erörterte daher auch Fragen von grundsätzlicher Bedeutung. In der „Deutschen Tageszeitung“ spiegelte sich vorrangig die Haltung und Einstellung der Großagrarier und insbesondere die der östlichen Rittergutsbesitzer wieder. Da aber der großagrarisch bestimmte „Bund der Landwirte“ sowie später dann auch der „Reichs-Landbund“ auf die gesellschaftlichen und politischen Einstellungen weiter Kreise der Bauernschaft einen prägenden Einfluss ausübte, sind die Ausführungen der „Deutschen Tageszeitung“ vielfach auch repräsentativ für große Teile des gesamten agrarischen Milieus in der Weimarer Republik. Insofern gibt die in der nachfolgend abgedruckten Quelle geäußerte Stellungnahme zum Gedenktag der Revolution von 1918 ein durchaus einflussreiches Stimmungsbild wieder.2 Ebenso aufschlussreich sind aber auch einige weitere vergleichbare Ausschnitte, die im Folgenden erörtert werden sollen und die verdeutlichen, wie breit gefasst die Skepsis gegenüber der neuen Republik in diesem großen gesellschaftlichen Bereich war. Das so genannte agrarische Milieu, das in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt steht, gehörte aufgrund eines ganzen Ursachenbündels gesellschaftlich und politisch überwiegend zum konservativen Lager in Deutschland. Grundlegend war einerseits die kritiklose Verklärung der Vergangenheit mit ihrer durch Monarchie, Obrigkeitsstaat und Militär geprägten Grundstruktur: Über die Empfindung, dass die Kriegsniederlage sowie der Zusammenbruch des Kaiserreiches als eine verhängnisvolle Katastrophe anzusehen sei, bestand hier uneingeschränkte Einigkeit. In den Kommentaren zum Reichsgründungstag von 1871 zeigte sich überaus deutlich jene fest gefügte gesellschaftliche und politische Wertordnung der Agrarier, die ihre Haltung zur Weimarer Republik grundlegend bestimmte. Aller Glanz ruhte unverbrüchlich auf dem Kaiserreich mit seiner monarchischen Ordnung. Dieser Blick zurück in die glorreiche Vergangenheit kontrastierte für sie ständig mit dem Elend der Gegenwart nach 1918. Kennzeichnend dafür war vor allem der Kult der „großen Männer“. Verglichen mit den großen heldenhaften Persönlichkeiten der Vergangenheit trat der Abstand zu ihren „armseligen Nachfolgern“ nach 1918 deutlich zutage. Bismarck habe das deutsche Reich gegründet, „nicht Herr Scheidemann“, so skandierte die „Deutsche Tageszeitung“ bereits im Januar 1921 und führte dann weiter an, dass sich der Sinn für das Große langsam wieder durchsetze, da die Erinnerung an deutsche Heldenkraft die Menschen für die —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 2.7, Artikel aus der Deutschen Tageszeitung zum zehnten Jahrestag der Revolution von 1918 (7.11.1928). Vgl. Quelle Nr. 2.7; Deutsche Tageszeitung, Nr. 527 vom 7.11.1928.
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Gegenwart stärke. Wenn der Dienst für das Vaterland wieder oberster Wert sei, werde die Vergangenheit zur Hoffnung auf die Zukunft.3 Dabei wurde schon ein weiterer Schwerpunkt der politischen Wertordnung der Agrarier deutlich: Das „Vaterland“, das „Reich“ standen über allem anderen, das heißt, der Nationalismus gehörte zu den grundlegenden Werten und Überzeugungen des agrarischen Milieus – wie es die „Deutsche Tageszeitung“ nach 1918 ausdrückte: „Auch dem Dummsten mußte klar werden, daß es etwas Höheres gibt als die kleinen Parteifragen der inneren Politik – das Vaterland“4, und nur durch die Rückkehr zur selbstlosen Hingabe an das Ganze werde der erneute Aufstieg Deutschlands möglich sein.5 Dabei war es außenpolitisch besonders der Aspekt der Weltgeltung Deutschlands, der für den Nationalismus der Agrarier eine zentrale Rolle spielte. In der Reichsgründung von 1871 verkörperte sich für sie die Erfüllung der deutschen Geschichte, womit sich vor allem auch weltgeschichtliche Aussichten von unbegrenzter Weite eröffneten, wie die „Deutsche Tageszeitung“ im Januar 1921 ausführte.6 Die Niederlage Deutschlands und seine außenpolitische Schwäche nach 1918 mussten daher immer erneut die Ablehnung der glanzlosen Weimarer Republik bestärken und den Hass auf die vermeintlich daran Schuldigen anfachen. Im Inneren wurden mit der Reichsgründung „die Voraussetzungen zu einem wirtschaftlichen, militärisch-politischen und geistig-sozialen Aufschwung ohnegleichen geschaffen.“ Dadurch wurden noch elementarere Werte zur vollen Entfaltung gebracht: „das stolze Gefühl des unverlierbaren Eigenwertes deutschen Wesens, deutscher Kraft und deutscher Gesinnung“ konnte jetzt voll zum Ausdruck kommen. Vor allem zählte der Glaube, „daß im deutschen Volkstum Kräfte liegen, die uns ein geistiges Fortleben sichern.“7 Besonders der völkische Gedanke, der dabei angesprochen wurde, besaß für die Agrarier seit dem späten 19. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung. Immer wieder wurde betont, dass „nur eine völkische Erneuerung im Geist und in der Wahrheit uns die heldischen Kräfte des 18. Januar wiedergeben kann. Wenn wir wieder empor zur Macht wollen, brauchen wir die innere deutsche Volkgemeinschaft.“8 Dieses so verstandene Reich oder die Nation als geschlossene harmonische Volksgemeinschaft wurden oft ins Heilige oder Religiöse überhöht und mit jener welthistorischen Sendung versehen, wie sie sich seit dem frühen 19. Jahrhundert herausgebildet hatte. Verglichen damit waren das Erscheinungsbild und das Selbstverständnis der Weimarer Republik so armselig und unwürdig, dass ihre dauerhafte Ablehnung auch von daher für die Agrarier selbstverständlich war. Noch 1924 hieß es, dass Deutschland ohne eine Erneuerung des alten preußischen Geistes nicht leben könne. Das sei nur möglich durch eine Abkehr von allem internationalen Denken und eine Erneuerung im völkischen Sinn, wodurch Deutschland wieder aufsteigen werde „in neuer Freiheit und Kraft“.9 —————— 3 4 5 6 7 8 9
Deutsche Tageszeitung, Nr. 26, 17.01.1921. Deutsche Tageszeitung, Nr. 30, 17.01.1918. Deutsche Tageszeitung, Nr. 29, 18.01.1924. Deutsche Tageszeitung, Nr. 27, 18.01.1921. Deutsche Tageszeitung, Nr. 27, 18.01.1926. Deutsche Tageszeitung, Nr. 29, 19.01.1921. Deutsche Tageszeitung, Nr. 29, 18.01.1924.
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Vor dem Hintergrund dieser Überzeugungen und Werte der Agrarier erhält die Rede von der Kluft, die sich infolge der Ereignisse von 1918 ihrer Meinung nach durch das deutsche Volk zog, ihren Sinn. Aus ihrer Sicht hatten die Revolution und die Träger der neuen Ordnung das unbesiegte deutsche Heer von hinten erdolcht und damit das ganze Elend Deutschlands verschuldet, und das zudem aus ganz persönlich-egoistischen Motiven und Interessen ihrer Führungsschichten und aufgrund niedrigster Instinkte ihrer Basis.10 Die Sicht auf die Träger der Revolution und der neuen Ordnung besaß also von Anfang an den Charakter übelster Diffamierung und Kriminalisierung, sodass die „Deutsche Tageszeitung“ noch 1924 schrieb, der 9. November 1918 habe das gesunde Blut des deutschen Volkes vergiftet, und es gehe in der Auseinandersetzung damit nicht um eine Frage der Politik, sondern der Kriminalität.11 Dieses Urteil wurde mit geringen Einschränkungen auch immer wieder auf die neue Ordnung der Weimarer Republik und ihre Träger, besonders die Sozialdemokratie, übertragen.12 Doch es gab auch andere Töne. Wie die unten abgedruckten Betrachtungen zum Jahrestag der Revolution aus dem Jahre 1928 zeigen, gab es durchaus auch einige deutliche Aufrufe zu stärkerer Besonnenheit und Mäßigung. Der Grund lag in der gesellschaftlichen und politischen Veränderung seit 1924. Die Weimarer Republik war in diesem Zeitraum wirtschaftlich und teilweise auch politisch in eine gewisse Konsolidierungsphase eingetreten. Ein zaghafter wirtschaftlicher Aufschwung gab etwas Hoffnung, die Umsturzversuche von rechts und links schienen zunächst erlahmt zu sein, und politisch hatte besonders die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten die Situation verändert: Ein System, das durch einen ehemaligen kaiserlichen General als Reichsoberhaupt repräsentiert wurde, ließ sich nicht mehr ohne weiteres absolut ablehnen, geschweige denn bekämpfen. Insofern führte die Wahl Hindenburgs das rechte Lager der Weimarer Republik einen deutlichen Schritt näher. Die Betrachtung der „Deutschen Tageszeitung“ zum Revolutionstag von 1928 schlägt sehr viel moderatere, von mehr Verständnis und Abgewogenheit getragene Töne an als jemals zuvor und gelangt damit auch zu Einsichten und historischen Interpretationsansätzen, die sie als Zeitdokument und als Deutungsangebot für komplexe historische Zusammenhänge aus vergleichbaren Quellen der Zeit hervortreten lässt. Deutlich wird, wie stark „der Riss“ durch die deutsche Gesellschaft, die Aufsplitterung in einander unversöhnlich gegenüberstehende Lager, von den Zeitgenossen unverändert empfunden wurde – die verschärfte gesellschaftliche und politische Lagerbildung nach 1918 beziehungsweise die Fragmentierung der politischen Kultur mit allen ihren verhängnisvollen Folgeerscheinungen ist ja auch in der Forschung immer wieder herausgestellt worden.13 Aber eindeutig ist auch, dass in der Betrachtung aus den angeführten Gründen heraus mehr um Verständnis für die gegnerische Seite gerungen und dabei auch stärker versucht wurde, zu erklären als zu diffamieren. Hierbei galt zwar nach wie vor die Verratsthese, aber diese bezog sich nur —————— 10 Vgl. dazu Bergmann, Jürgen, „Das Land steht rechts!“ Das „agrarische Milieu“, in: Lehnert, Detlef; Megerle, Klaus (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 191. 11 Deutsche Tageszeitung, Nr. 528, 8.11.1924. 12 Vgl. Bergmann (wie Anm. 10), S. 194. 13 Vgl. Lehnert, Detlef; Megerle, Klaus (Hg.), Pluralismus als Verfassungs- und Gesellschaftsmodell. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1993.
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noch auf einen kleinen Teil der Bevölkerung, sodass die vorher immer wieder vollzogene diffuse Identifizierung des gesamten Weimarer Systems und seiner Träger mit dem „Novemberverbrechen“ der Revolution aufgegeben wurde. Umso aussagekräftiger ist die Betonung der unveränderten Fremdheit und Beziehungslosigkeit beider politischer Flügel, was darauf verweist, dass das konservative Lager eben doch nur begrenzt für die Weimarer Republik gewonnen worden war. Das bestätigt die Einsichten der historischen Forschung, dass es sich in dieser Hinsicht nach 1924 nur um eine Scheinkonsolidierung handelte. Um nur einige von vielen Ursachen anzuführen, die dafür genannt werden: Die konservativen Schichten in Deutschland hatten sich, über Jahrhunderte hinweg an Gehorsam, Obrigkeitsstaat und strenge autoritäre Führung von oben gewöhnt, nicht in dem kurzen Zeitraum seit 1918 an das parlamentarische System mit seinen Interessenauseinandersetzungen und stets als „faul“ empfundenen Kompromissen gewöhnen können. Die Parteien entsprachen diesen Bedürfnissen ihrer Anhänger und erwiesen sich für die Regelmechanismen des demokratisch-parlamentarischen Systems vielfach als zu unflexibel. Der Parlamentarismus funktionierte daher mehr schlecht als recht und verstärkte damit wieder die Unzufriedenheit mit dem neuen System. Dazu kam, dass der zunehmende Nationalismus in der glanzlosen Weimarer Republik nach wie vor keine Identifikationsmöglichkeit und keine Bestätigung fand. Das verhinderte nicht nur eine echte Konsolidierung, sondern führte auch noch zu einer schleichenden Erosion der ohnehin ungefestigten Weimarer Demokratie, die ihren Ausdruck in der anhaltenden Abwanderung des Wählerpotentials der bürgerlich-liberalen Parteien nach rechts in den Wahlen nach 1924 fand. Seine entscheidende Verschärfung und Zuspitzung erfuhr dieser Prozess durch den Ausbruch der Weltwirtschaftskrise seit 1929. Diese Krise mit ihren verheerenden Auswirkungen auf die wirtschaftliche und soziale Lage fast aller Bevölkerungsschichten in Deutschland führte zu einer dreifachen Bewegung auf verschiedenen Ebenen des Systems sowie schließlich zum Sturz der Weimarer Republik: Zu beachten ist einmal eine Mobilisierung und Radikalisierung an der Basis, die sich im Aufbegehren weiter Bevölkerungskreise, in Massenprotesten, Demonstrationen und Unruhen äußerte, ihren Hauptausdruck aber in dem Wählerzustrom zu den extremen Parteien von rechts und links fand, wie er in den „Schicksalswahlen“ vom September 1930 gipfelte. Hinzu kommt, zum Zweiten, eine gezielte politische Aktion auf der obersten politischen Ebene. Sie konzentrierte sich um den Beraterkreis des Reichspräsidenten, die Reichswehrführung und wurde von konservativen Eliten aus Wirtschaft und Gesellschaft unterstützt, mit dem Ziel, die Weimarer Republik zu einem autoritären, rechts regierten politischen System zu verschieben. Dieses Ziel wurde mit der Errichtung der Präsidialkabinette seit 1930 im Grunde schon erreicht. Die dritte und gefährlichste Bewegung gegen die Weimarer Demokratie lag in der Wiederaufnahme der konzentrierten Angriffe der rechtsextremen Bewegungen, Organisationen und Parteien zum Sturz der Republik, in deren Zentrum zunehmend die NSDAP stand. Diese Bewegung, die sich später teilweise in der „Harzburger Front“ zusammenschloss, führte schließlich auch zur „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten 1933. Die so nur knapp skizzierte Radikalisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse spiegelte sich auch in den weiteren Ausführungen und Kommentaren der „Deutschen Tageszeitung“. Die in der Betrachtung von 1928 hervortretende, seit 1925 feststellbare relative Besonnenheit und Abgewogenheit verschwand wieder. Der Ton
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verschärfte sich erneut, und die Angriffe auf die politischen Gegner, im Grunde auf das gesamte andere politische Lager der Revolution und der Weimarer Demokratie, für das 1928 noch zumindest im Ansatz ein gewisses Verständnis aufgebracht worden war, bekamen wieder grundsätzlichen und überwiegend polemischen Charakter. Die Umkehr setzte im Grunde bereits im weiteren Verlauf des Jahres 1928 wieder ein, wenn etwa erneut die „Herrschaft der Sozialdemokratie und der Demokratie des Asphaltabfalls über das Wohl des Staates“ gegeißelt wurde.14 Dabei trat in den Folgejahren bis 1933 im Rahmen des rechtsextremen Ansturms der „nationalen Revolution“ gegen die Weimarer Republik der Nationalismus der Agrarier wieder besonders hervor, ausgedrückt etwa in der Äußerung der „Deutschen Tageszeitung“ 1931: „Wir wollen leben – leben aus national-sittlicher Stärke, frei von dem Narrentum des Weltgewissens“.15 In solchen und ähnlichen Passagen drückt sich unmissverständlich aus, dass die Nation über allem stehen sollte, sogar über dem Völkerrecht sowie auch über jeglicher Moral. Neben den erneut zunehmend schärfer werdenden Angriffen auf alle politischen Gegner, das heißt im Grunde auf alle Träger der Weimarer Republik, trat jetzt immer stärker die Auseinandersetzung um die künftige Ordnung eines neuen autoritären, völkischen und nationalistischen Deutschlands. Die relative Annäherung an die Weimarer Republik zwischen 1925 und 1928, die noch in der Betrachtung von 1928 zum Ausdruck kam, war vergessen, und die zaghaften Anzeichen von Verständnisbereitschaft und Abgewogenheit hatte wieder dem alten Radikalismus Platz gemacht, der erneut und endgültig den bedingungslosen Kampf gegen die Weimarer Republik zum Programm erhob. Diese Haltung und Politik der Agrarier gegenüber der Weimarer Republik spielten eine folgenschwere Rolle nicht nur für die deutsche, sondern auch für die europäische Geschichte dieser Zeit, weit stärker als vom Gewicht und der Bedeutung des Agrarbereichs in der Weimarer Wirtschaft und Gesellschaft her zu erwarten war. Die Ursache dessen lag einmal in der zentralen Funktion der Agrarier und der von ihnen beeinflussten Bereiche der Landbevölkerung für das rechte Lager und für den von ihm ausgehenden Ansturm auf die Weimarer Republik nach 1930. Zum Zweiten, und vielleicht noch bedeutsamer, lag sie in dem ausschlaggebenden Einfluss der östlichen Rittergutsbesitzer auf den alten Reichspräsidenten von Hindenburg und auf seine politischen Beschlüsse gerade in der Endphase der Republik, womit das agrarische Milieu unmittelbar auf das zentrale Entscheidungszentrum der deutschen Politik in diesem Zeitraum einwirken konnte und wesentlichen Einfluss auf den Verlauf der Geschichte dieser Jahre gewann. Das agrarische Milieu trug auf diese Weise grundlegend zur Machtergreifung der Nationalsozialisten bei, und damit in der Folgezeit zu einem radikalen Umbruch in der europäischen Geschichte, der durch den Zweiten Weltkrieg und durch die Ausbreitung der NS-Terrorherrschaft über weite Teile Europas gekennzeichnet war.
—————— 14 Deutsche Tageszeitung, Nr. 521, 8.11.1928. 15 Deutsche Tageszeitung, Nr. 29, 17.01.1931.
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Quelle Nr. 2.7 Artikel aus der Deutschen Tageszeitung zum zehnten Jahrestag der Revolution von 1918 (7.11.1928)16 „Diese trüben Herbsttage, an denen sich der Zusammenbruch Deutschlands und der „Sieg“ der Novemberrevolte zum zehntenmal jährt, lassen noch einmal all die erschütternden Ereignisse dieser schicksalsschweren Zeit vor unseren Augen erstehen. Viel ist in diesen vergangenen zehn Jahren über Zusammenbruch und Revolution geschrieben und geredet worden. Anklage steht noch immer gegen Anklage. Wir wissen heute, daß der Riß, den dieses Kriegsende mitten durch das deutsche Volk, ja mitten durch das Bürgertum hindurch gebrochen hat, sich im Laufe der Jahre eher verbreitert als geschlossen hat. Schwarz-weiß-rot steht heute auf der einen, Schwarz-rot-gold auf der anderen Seite des Grabens, und wenige schwache Brücken führen hinüber. Auch wenn die politischen Parteien mit ihren Kompromißbildungen diesem Bild nicht ganz entsprechen, so trifft es für die Massenstimmungen doch durchaus zu. Nicht etwa im Sinne eines Zwei-Parteien-Systems, sondern als Zeichen der völligen Entfremdung, des völligen Nichtverstehens zwischen den beiden großen Lagern. Für das deutsche Volk, das schon an der konfessionellen Spaltung und an den ungelösten sozialen Gegensätzen schwer zu tragen hat, ist der neue Riß vom November 1918 ganz besonders verhängnisvoll. Die im Volke wurzelnden einigenden Symbole, die gerade unser zur Eigenbrötelei neigendes Volk besonders nötig hatte, sind damals gestürzt worden, ohne daß etwas anderes an ihre Stelle gesetzt werden konnte, das in gleicher Weise über die Parteien hinweg zusammenführend wirken und als nationale Kraftquelle dienen konnte. Am 9. November und selbst in den ersten Zeiten des neuen Regimes stand es noch keineswegs fest, daß es so kommen würde. Wir wissen heute, wie verhältnismäßig klein ursprünglich der Kreis der eigentlichen Revolutionäre war, der damals Volk und Regierung überrumpelte. Es kann heute als feststehend gelten, daß nur ein Bruchteil unseres Volkes mitten in unserem schwersten Verzweiflungskampf bewußt Verrat geübt hat und planmäßig auf den Zusammenbruch hingearbeitet hat. Das ist eine moralische Entlastung für unser Volk und doch kein Trost, wenn man an die Abwehrmöglichkeiten denkt, die damals unausgenutzt blieben.“
Literatur Bergmann, Jürgen; Megerle, Klaus, Protest und Aufruhr der Landwirtschaft in der Weimarer Republik (1924-1933). Formen und Typen der politischen Agrarbewegung im regionalen Vergleich, in: Bergmann, Jürgen u.a. (Hg.), Regionen im historischen Vergleich. Studien zu Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Opladen 1989, S. 200-287 Bergmann, Jürgen, „Das Land steht rechts!“ Das „agrarische Milieu“, in: Lehnert, Detlef; Megerle, Klaus (Hg.), Politische Identität und nationale Gedenktage. Zur politischen Kultur in der Weimarer Republik, Opladen 1989, S. 181-206 Puhle, Hans-Jürgen, Politische Agrarbewegungen in kapitalistischen Industriegesellschaften. Deutschland, USA und Frankreich im 20. Jahrhundert, Göttingen 1975 Sontheimer, Kurt, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik, München 1962 Winkler, Heinrich August, Weimar. 1918-1933, München 1993
—————— 16
Deutsche Tageszeitung, Nr. 527 vom 7.11.1928.
DIE VIELFALT DER MODERNE: EIN BLICK 1 DEN „MULTIPLE MODERNITIES“
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ÜBERLEGUNGEN
ZU
Von Shmuel N. Eisenstadt Der Begriff der Modernisierung hat sich in den letzten Jahrzehnten sehr verändert. Der deutlichste Wandel betrifft vor allem die Frage, unter welchen Umständen sich moderne Institutionen herausbilden. Dieser Wandel führte schließlich zu einer neuen Begrifflichkeit, nämlich des Konzepts der „multiple modernities“, das die Vielfalt der Moderne in den Vordergrund rückte.2 Vor diesem Hintergrund möchte ich an dieser Stelle Auszüge aus einem meiner frühen Texte zur Modernisierung, der mit The Basic Characteristics of Modernization überschrieben ist, erneut zur Diskussion stellen.3 Der Text erschien 1966 in meinem Buch mit dem Titel „Modernization, protest and change“ und gleich eingangs findet sich die zentrale Begriffsdefinition: „Historisch gesehen bezeichnet Modernisierung den Prozess der Entwicklung hin zu denjenigen sozialen, ökonomischen und politischen Systemen, die sich in Westeuropa und NordAmerika zwischen dem siebzehnten und neunzehnten Jahrhundert herausbildeten und anschließend in andere europäische Länder sowie nach Südamerika, Afrika und Asien verbreitet wurden. Moderne Gesellschaften entwickelten sich aus einer großen Vielfalt unterschiedlicher traditioneller, vormoderner Gesellschaften heraus.“4 Schon hier, wie auch in einigen anderen meiner noch früheren Texte, betonte ich die großen Unterschiede der Ausgangsposition. Damit wandte ich mich gegen die Sichtweisen einiger klassischer Modernisierungstheorien, wie zum Beispiel von Lerner, Inkeles und Parsons,5 und setzte meine Überlegungen vor allem von der Theorie einer Konvergenz der Industriegesellschaften ab. Die Vielfalt vormoderner Gesellschaften zeigte sich aus meiner Sicht gerade auch in verschiedenen Traditionen, in denen diese unterschiedlichen Gesellschaften verwurzelt waren. Und doch scheint mir heute, dass ich eben jene Vielfalt damals lediglich als inhärente Varianten des vorherrschenden westlichen Modells ansah. Letztlich ging ich implizit davon aus, dass die verschiedenen Dimensionen von Modernität, nämlich die strukturelle, institutionelle und kulturelle Dimension, einem Trend zur Angleichung gehorchen würden. Mit der Zeit wurde ich allerdings immer unzufriedener mit vielen —————— 1 2 3 4 5
Essay zur Quelle Nr. 2.8, Shmuel N. Eisenstadt: The Basic Characteristics of Modernization (1966). Essay aus dem Englischen von Florian Kemmelmeier. Anm. des Übers.: Der Begriff der „multiple modernities“ ist nicht ohne weiteres ins Deutsche zu übersetzen. Am ehesten ist er mit „Pluralität der Moderne“ bzw. „Vielfalt der Moderne“ wiederzugeben, vgl. Eisenstadt, Shmuel N., Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. Vgl. Quelle Nr. 2.8; mit Auszügen aus dem einleitenden Kapitel in: Eisenstadt, Shmuel N., Modernization, protest and change, Eaglewood Cliffs 1966. Ebd., S.1; das Zitat wird hier auf Deutsch wiedergegeben [Anm. des Übers.]. Lerner, Daniel, The passing of traditional society: Modernizing the Middle East, Glencoe 1958; Inkeles, Alex; Smith, David H., Becoming modern. Individual change in six developing countries, Cambridge/Mass. 1974; Parsons, Talcott, The evolution of societies, New Jersey 1977.
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dieser Annahmen. Diese Unzufriedenheit führte mich schließlich zur Entwicklung des Konzepts der „multiple modernities“. In diesem Begriff einer „Vielfalt der Moderne“ ist eine ganz bestimmte neue Sichtweise enthalten, die Moderne nunmehr als Kultur zu begreifen sucht. Dieser Blick auf die Moderne impliziert, dass diese als eine sich neu herausbildende Form von Kultur zu sehen ist, analog etwa zur Entstehung und Verbreitung der Weltreligionen. In dieser Sichtweise besteht der Kern der Moderne in der Herausbildung und Entwicklung eines oder mehrerer Interpretationsmuster für die Welt, die eine grundlegende ontologische Vision, einen bestimmten sozialen „Vorstellungsraum“ (imaginaire) darstellen, um hier Cornelius Castoriadis´ Terminologie anzuwenden.6 Bjorn Wittrock spricht in diesem Zusammenhang von „epistemologischen Vorannahmen“.7 Es geht also um ein spezifisches kulturelles Programm, das mit der Herausbildung einer Reihe institutioneller Neubildungen einhergeht, die in ihrem Kern einerseits von einer völlig neuartigen „Öffnung“, andererseits aber auch von Unsicherheit geprägt sind. Diese Kultur der Moderne, bzw. dieses spezifische kulturelle Programm mit seinen Konsequenzen auf der Ebene der Institutionen kristallisierte sich in Westeuropa heraus und verbreitete sich anschließend in anderen Teilen Europas, auf den zwei amerikanischen Kontinenten und später in der ganzen Welt. Damit war der Anstoß für sich kontinuierlich verändernde kulturelle und institutionelle Muster gegeben, die ihrerseits wiederum nicht zu einer gemeinsamen homogenen Moderne führten, sondern vielmehr, wie oben angedeutet, zu der besagten Vielfalt der Moderne. Der Blick auf die Moderne als spezifische Kultur, als spezifisches kulturelles Programm, macht es notwendig, analytisch zwischen der strukturellen und institutionellen Dimension einerseits (und dabei vor allem den Trends zur strukturellen Differenzierung) und der kulturellen Dimension andererseits zu unterscheiden. Natürlich war die Herausbildung des kulturellen Programms der Moderne, der spezifischen Interpretationsweise der Welt und der Versuche, diese in Institutionen zu verankern, historisch eng mit den jeweiligen strukturell-institutionellen Dimensionen moderner Gesellschaften verbunden. Hier spielte vor allem die Auflösung älterer, relativ geschlossener sozialer Gebilde eine Rolle, genauso wie das Schaffen neuer Räume, in denen sich Institutionen etablieren konnten. Es ist richtig, dass man von einer engen Wahlverwandtschaft zwischen der Entstehung von Offenheit und der Entwicklung von sozialen Institutionen im Rahmen des kulturellen Programms der Moderne sprechen kann. Gleichwohl kann auf der anderen Seite entgegen den Annahmen vieler Modernisierungstheoretiker – und dies gilt genauso für liberale wie Parsons oder Inkeles8 als auch für marxistische Theoretiker wie zum Beispiel Hoogvelt9 – kein notwendiger Zusammenhang zwischen irgendeiner bestimmten Form von Institutionen der Moderne und den verschiedenen Elementen des modernen kulturellen Programms festgestellt werden, seien es im wirtschaftlichen Bereich nun kapitalistische oder „gelenkte“ sozia—————— 6 7 8 9
Vgl. Castoriadis, Cornelius, L’imaginaire social de la société, Paris 1975; dt.: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt am Main 1984. Vgl. Wittrock, Bjorn, Modernity. One, none or many? European origins and modernity as a global condition, in: Eisenstadt, Shmuel N. (Hg.), Multiple modernities, New Brunswick 2002, S. 31-60. Vgl. Parsons und Inkeles; Smith (beide wie Anm. 5). Vgl. Hoogvelt, Ankie M.M., The sociology of developing societies, London 1976.
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listische Ökonomien oder im politischen Bereich pluralistische, autoritäre oder totalitäre Regime. Diese unterschiedlichen Aspekte der Moderne beziehungsweise Dimensionen moderner Gesellschaften – ihre strukturelle, institutionelle und kulturelle Dimension – sind analytisch voneinander trennbar. Ihr Zusammenwirken findet je nach spezifischem Kontext jeweils in unterschiedlicher Art und Weise vor dem Hintergrund der gegebenen historischen Konstellation statt. So entwickelten sich zum Beispiel in der TokugawaZeit in Japan viele institutionelle, vor allem ökonomische Grundlagen, die vielleicht zu einer modernen kapitalistischen Marktwirtschaft hätten führen können, ohne dass damit jedoch die Entwicklung eines spezifisch modernen kulturellen Programms einhergegangen wäre.10 Erst unter dem Einfluss des Westens entwickelte sich schließlich ein solches Programm, wenn auch wiederum ein sehr spezifisches. Wie das Beispiel illustriert, entstand die Dynamik von Gesellschaften gerade in der Verflechtung von jeweils spezifischen institutionellen Konstellationen mit verschiedenen Dimensionen bzw. Elementen des kulturellen Programms der Moderne mitsamt der darin enthaltenen Antinomien. Festzuhalten bleibt also, dass die unterschiedlichen kulturellen Programme und institutionellen Muster der Moderne sich nicht, wie in einigen der früheren Modernisierungsstudien dargestellt, auf der Grundlage allgemeiner Evolutionschancen herausbildeten, die potentiell jeder menschlichen Gesellschaften zu eigen sind. Ebenso wenig beruhten die kulturellen Programme der Moderne, wie in der frühen Kritik dieser Studien geäußert, auf der natürlichen Entfaltung der jeweiligen spezifischen Traditionen und der Neuverortung in wechselnden internationalen Kontexten. Sie wurden vielmehr durch eine kontinuierliche Interaktion von verschiedenen Faktoren geprägt, von denen der allgemeinste die unterschiedlichen Machtkonstellationen, zum Beispiel den Wettstreit der Eliten und deren Verbindung zu breiteren Bevölkerungsschichten betreffen. Jeweils unterschiedliche ontologische Konzepte und politische Ideologien, die in den verschiedenen Gesellschaften vorherrschten, bildeten den Rahmen für den entstehenden Diskurs um die Moderne, an dem verschiedene politisch Aktive und Intellektuelle beteiligt waren, nicht zuletzt vor allem aber die sozialen Bewegungen, die innerhalb dieses Prozesses der Neuinterpretation und der Herausbildung neuer institutioneller Muster die Hauptakteure waren. In Zusammenhang mit diesen Erwägungen ergibt sich auch die Frage nach der besonderen Stellung Europas. Anstatt auf die Europäische Moderne als auf das einzig gültige Modell zu schauen und damit die historische Erfahrung Europas sehr zu verkürzen, muss die historische Erfahrung Europas zwar als das erste, aber auch als ein sehr spezifisches Muster der Moderne angesehen werden, das keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann. Zu den spezifischen Kennzeichen der europäischen Moderne kann gezählt werden, dass das moderne Europa durch beständige Umbildungs- und Neubildungsprozesse seiner Zentren und seiner nationalen Gemeinschaften geprägt wurde. Als weiteres Charakteristikum ist das Spannungsfeld zwischen Autorität und Egalität zu nennen, dessen Rahmen sowohl für die Herausbildung politischer Ordnungen von wesentlicher Bedeutung war, wie auch für die Schaffung kollektiver Identitäten im ur—————— 10 Collins, Randall, An Asian Route to Capitalism. Religious Economy and the Origins of SelfTransforming Growth in Japan, in: American Sociological Review 62 (1997), S. 843-865.
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sprünglichen und sozialen Rahmen. Darüber hinaus waren schließlich überaus wirkungsmächtige utopische Zukunftsvisionen für die europäische Moderne von Bedeutung.11 Insofern kommt es also darauf an, die internen und interkulturellen Rahmen des Begriffs der Moderne letztlich immer wieder in ihrer jeweiligen Besonderheit zu bestimmen. Quelle Nr. 2.8 Shmuel N. Eisenstadt: The Basic Characteristics of Modernization12 Historically, modernization is the process of change towards those types of social, economic and political systems that have developed in western Europe and North America from the seventeenth century to the nineteenth and have then spread to other European countries and in the nineteenth and twentieth centuries to the South American, Asian and African continents. Modern or modernizing societies have developed from a great variety of different traditional, premodern societies. […] As we shall see, the different starting points of the processes of modernization of these societies have greatly influenced the specific contours of their development and the problems encountered in the course of it. And yet beyond these variations there are also developed many common characteristics which constitute perhaps the major core of „modernization“ of a modern society, and it would be worth while to analyze these characteristics. […] [pp. 1-2] In the societies that have made the journey, the movement to modernity has passed through a certain sequence of stages. Thus, to take the political field at different stages of the development of modern political systems, different problems became politically important and different types of political organization tended to develop. At certain stages of modernization, the problem of suffrage, of the definition of the new political community, of attainment of its independence, assumed central importance. In other societies or at other stages, problems of religious toleration or of socalled secularisation of culture were most prominent. In still other stages of modernization the economic and social problems were most pertinent. The development of each of these problems was necessarily connected with the entrance of different new groups and strata in the political arena. […] [pp. 5-6] Historically, the first processes of modernization, those of western and central Europe, have developed from within a social order that was characterized by the existence of multiplicity of different political units sharing the same cultural heritage. While modernization has in many ways disrupted many aspects of this order, in other ways it only accentuated the identification with this common cultural heritage and intensified the relations between the new emerging political units. […] Many of the specifically modern social groups and elites – such as religious and intellectual groups or entrepreneurial firms – developed close relations cutting across existing and emerging political boundaries. Moreover, the very spread of modernization from its initial upsurge in western Europe was to no small degree due to the concomitant development of a new type of international system or systems. The development of the first modern national states – England, France, the Netherlands, and the Scandinavian states – created a challenge to the more „traditional“ rulers of central, eastern, and southern Europe, and later of the Middle East – to set on a program of limited (mostly technical) modernization that would enable them to stand on their own in the new international framework. On the other hand these very attempts of the rulers, as well as the increasing
—————— 11 Vgl. Eisenstadt, Shmuel N., European civilizations in a comparative perspective, Oslo 1987. 12 Eisenstadt, Shmuel N., Modernization, protest and change, Eaglewood Cliffs 1966, S. 1-2; 5-6; 18-19.
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flow of communication between theses societies has created within theses societies many new elite groups, which tend to establish relations with similar groups in other countries, creating in a way an international system of their own within which new impetus – often in opposition to those of the rulers – tend to develop. […] In the first stages of modernization these various international trends converged mostly around problems of formation and crystallization of national communities and symbols. Later, in contemporary Europe and to some extent in Latin America and Africa, when the process of social and economic differentiation or of political interrelationships began more and more to cut across older units, many new concrete economic and organizational (and not only symbolic) frameworks tend to arise and processes and problems of interstate integration become more important. Thus the boundaries of the overall political communities that tended to crystallize into the processes of modernization were not fixed or given, but tended to change in different periods or stages of modernization. […] [pp. 18-19]
Literatur Eisenstadt, Shmuel N., Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000 Ders. (Hg.), Multiple modernities, New Brunswick 2002 Inkeles, Alex; Smith, David H., Becoming modern. Individual change in six developing countries, Cambridge/Mass. 1974 Lerner, Daniel, The passing of traditional society. Modernizing the Middle East, Glencoe 1958 Parsons, Talcott, The evolution of societies, New Jersey 1977 Zapf, Wolfgang (Hg.), Die Modernisierung moderner Gesellschaften, Frankfurt am Main 1991
3. SELBST- UND FREMDBILDER ZWISCHEN NATION UND EUROPA
CARL RITTERS SOZIALGEOGRAFIE EUROPAS UM 18001 Von Iris Schröder Europa war für viele Europäer in der Zeit um 1800 kein unbeschriebenes Blatt. Die französische Revolution hatte nicht nur Frankreich erfasst, sondern als europäisches Großereignis auch viele andere Europäer mit in ihren Bann gezogen. Die nachfolgenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Großmächten, die Koalitionskriege sowie die anschließende Napoleonische Herrschaft über weite Teile Süd-, West- und Mitteleuropas sollten die europäische Staatenwelt umfassend verändern. Europa selbst diente dabei für die Gelehrten, die Gebildeten sowie für die Literaten der Zeit als Telos zahlreicher alternativer politischer Ordnungsentwürfe und Projektionen. Vor allem in Kreisen deutscher Romantiker sollte Europa oft mit der Christenheit in eins gesetzt werden. Überdies dominierte in vielen ihrer Schriften die Kritik an der französischen Besatzung. Ein Europa der Nationen, als loser Staatenbund, sogar die Nation selbst sollte in den neuen Europaentwürfen als Garant für die erstrebte Freiheit jenseits der Despotie dienen.2 Vor diesem Hintergrund war das geografische Europawerk des Frankfurter Erziehers und Hauslehrers Carl Ritter (1779-1859) ein eigensinniges Vorhaben, blieb doch in diesem Werk der politische Streit um die napoleonische Herrschaft offenbar schlicht außen vor. Carl Ritter war im Jahre 1804, als er den ersten Band seiner Schrift Europa, ein geographisch-historisch-statistisches Gemälde publizierte, noch keine anerkannte akademische Größe.3 Erst gut 15 Jahre später, im Jahre 1820, sollte er zunächst als außerordentlicher sowie ab 1825 als ordentlicher Professor den ersten Lehrstuhl für Geografie an der Berliner Universität innehaben und – aus heutiger Sicht – neben Alexander von Humboldt zu einem der maßgeblichen Wegbereiter der wissenschaftlichen Geografie im 19. Jahrhundert werden.4 1779 in Quedlinburg im Harz geboren, hatte Ritter schon als Kind seinen Vater verloren und gelangte so in sehr jungen Jahren in die 1784 —————— 1 2 3
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Essay zur Quelle Nr. 3.1, Carl Ritter: Europa – ein Gemälde. Siehe hierzu Lützeler, Michael Paul, Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart, Stuttgart 21998, S. 33-72. Ritter, Carl, Europa, ein geographisch-historisch-statistisches Gemälde für Freunde und Lehrer der Geographie, für Jünglinge, die ihren Cursus vollendeten, bei jedem Lehrbuche zu gebrauchen. Nach den neuesten Quellen bearbeitet von C. Ritter, 2 Bde, Bd. 1: Frankfurt am Main 1804; Bd. 2: Frankfurt am Main 1807. Beck, Hanno, Carl Ritter. Genius der Geographie. Zu seinem Leben und Werk, Berlin 1979.
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von Christian Gotthilf Salzmann gegründete philanthropische Erziehungsanstalt in das in Thüringen gelegene Dorf Schnepfental bei Gotha. Die von Salzmann und anderen Philanthropen vertretene Maxime einer Erziehung zur so genannten „Industriösität“, zu Arbeitsamkeit, Fleiß und Zeitökonomie sollte Ritter in jungen Jahren unübersehbar prägen. Den ersten Teil des von ihm 1804 veröffentlichten „Europa-Gemälde“ widmete er daher dem „ehrwürdigen Vater Salzmann“ anlässlich seines sechzigsten Geburtstags – eine Widmung, die auch inhaltlich ihren Niederschlag fand.5 Ritters geografischer Europaentwurf beginnt mit einer Vorrede an den Leser, die im Folgenden in Auszügen als Quelle wiedergegeben ist. Ritter entwickelt in dieser Vorrede sein geografisches Vorhaben und erläutert hierfür akribisch den „Zweck [seiner Darstellung], die Art der Bearbeitung und die benützten Hülfsmittel“. Ritters erklärtes Ziel ist es, seine Leser für die Wissenschaft „zu gewinnen“, jene Wissenschaft, der wir, wie er emphatisch ausführt, so „viele wichtige Kenntnisse von der Erde und ihren Bewohnern verdanken“. Das dazugehörige Konzept galt einer „lebendigen Ansicht des ganzen Landes, seiner Natur- und Kunstproducte, der Menschen- und Naturwelt.“ In dieser bemerkenswerten Mischung skizzierte Ritter das umfassende Programm einer Sozialgeografie, mehr noch, er konstatierte bereits das Vorhandensein einer Wissenschaft von der Erdoberfläche, einer Wissenschaft, die es eigentlich noch gar nicht gab, denn Geografie war zu der Zeit kaum mehr als eine Hilfswissenschaft, geschweige denn eine eigene Disziplin. „Europa – ein Gemälde“ griff somit seiner Zeit voraus. Andererseits war die Vorrede allerdings insofern ein zeittypisches Produkt, als die veröffentlichten Bände das versprochene Programm nicht unbedingt einzulösen vermochten, ein Merkmal, das im Übrigen so manche mit wissenschaftlichem Anspruch vorgetragene Schrift der Zeit bestimmte. Ebenso auffällig und zeittypisch war, dass es zumindest einer von Ritters Ambitionen durchaus entsprach, sich mit dem Werk auch für eine künftige wissenschaftliche Laufbahn gleichsam selbst zu empfehlen. Hierzu gehörte nicht zuletzt die Art und Weise wie er sich beim lesenden Publikum einführte und sein Werk, dem zeitgenössischen Geschlechterkodex folgend, für die „Freunde und Lehrer der Geografie sowie für die Jünglinge präsentierte“.6 Ritters Europa war ein Europa der Länder, erst in ihrer Gesamtschau sollten sich die einzelnen Länderportraits zu dem gewünschten Gemälde von Europa zusammenfügen. Auf drei Bände angelegt, behandelte der erste Band zunächst den Norden. Dieser umfasste Russland, Schweden, das Dänische Reich und Preußen. Die den einzelnen Ländern jeweils gewidmeten Kapitel folgten den in der Vorrede dargelegten Gliederungsprinzipien: Beginnend mit einem knappen einleitenden so genannten „culturhistorischen“ Teil, der auch politische Daten einbezog, folgte stets ein längeres Kapitel zur Naturbeschaffenheit des behandelten Landes. An diese Kapitel schlossen sich längere Ausführungen zu wirtschaftlichen Daten, insbesondere zu „Industrie und Handel“ an. —————— 5
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Vgl. Schmitt, Hanno, Pädagogen im Zeitalter der Aufklärung. Die Philanthropen: Johann Bernhard Basedow, Friedrich Eberhard von Rochow, Joachim Heinrich Campe, Christian Gotthilf Salzmann, in: Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.), Klassiker der Pädagogik, Bd. 1:Von Erasmus bis Helene Lange, Neuausgabe des zuerst 1979 v. Hans Scheuerl hg. Werks, München 2003, S. 119-143. Vierhaus, Rudolf, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung: aus Anlaß des 250jährigen Bestehens des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1983, S. 7-17, bes. S. 12 und S. 14.
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Der vorletzte und letzte Teil waren schließlich den „Einwohner[n]“ sowie den „Städte[n]“ gewidmet. Ritters Quellengrundlage, die er genauestens aufführte, speiste sich aus zweierlei Gruppen, zum einen aus den gelehrten, in zahlreichen Kompendien zusammengefassten statistischen Landesbeschreibungen, zum anderen aus einigen von ihm als zuverlässig angesehenen Reiseberichten. Beide Quellengattungen bestimmen den Doppelcharakter des Werkes. Das oft in Tabellen aufbereitete statistische Wissen zu geografischen Daten, über die bekannte Fläche der Länder, die Gewässer, die Gebirgszüge sowie über Flora und Fauna verbindet sich dabei mit dem seinerzeit bekannten Wissen über die Bevölkerung sowie über Industrie und Handel.7 Insbesondere die nochmalig in Tabellen zusammengefassten Städtekapitel verraten in ihren narrativen Passagen eine Passion für Reisen und Reiseerzählungen. Die von Ritter in seinem Vorwort für sich reklamierte Anschaulichkeit kommt in diesen Abschnitten unübersehbar zum Tragen. Das ausführliche Kapitel zu London, am Ende des zweiten Bandes, nimmt den Leser beispielhaft mit auf einen imaginären Spaziergang durch die Stadt, bei dem der Ausblick von „Shooters Hill“ ebenso genossen wird wie die vielen anderen Sehenswürdigkeiten, die, wie etwa die zahlreichen Brücken über die Themse, die Bank von England, die Fleetstreet oder das Ostindische Compagniehaus unterwegs gleichsam in Augenschein genommen werden.8 Andere Passagen sind nüchterner gefasst und sollen offenbar nur schlicht informieren. Die im ersten Band mit detailverliebter Exaktheit aufgeführte Fläche des europäischen Russland, die in einer Tabelle mit Hinweis auf die 38 einzeln aufgeführten Statthalterschaften vorgerechnet wird, verdeutlicht aber auch den neuen Willen zu größtmöglicher Exaktheit, der Ritter schon zu dieser Zeit als späteren Weggefährten seines ebenso an eine Ethik der Präzision glaubenden Zeitgenossen Alexander von Humboldt ausweist. Gleichermaßen wie Humboldts Studien ist auch Ritters geografische Arbeit an jener Umbruchstelle zu verorten, an der in der Geografie ein schrittweiser Übergang vom Sehen zum Messen, mithin von der Anschauung zur Abstraktion, geprobt werden sollte. Ritter sollte diesen Übergang nie vollständig mit nachvollziehen, entsprechend gab er in seinem Spätwerk der anschaulich gefassten Darstellung weiterhin Vorrang und räumte dem Visuellen stets eine hohe Bedeutung ein.9 —————— 7
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Zu den statistischen Verfahren der Zeit: Bödeker, Hans-Erich, On the origins of the 'statistical gaze': modes of perception, formes of knowledge, and ways of writing in the early social sciences, in: Becker, Peter; Clark, William (Hg.), Little tools of knowledge. Historical essays on academic and bureaucratic practices, Ann Arbor 2001, S. 169-196. Zur kartografischen Aufbereitung dieser Wissensbestände: Nikolow, Sybilla, Die Versinnlichung von Staatskräften. Statistische Karten um 1800, in: traverse. Zeitschrift für Geschichte. Revue d'Histoire 6 (1999), Heft 3, S. 63-82. Ritter, Carl, Europa (wie Anm. 3). Zu den Reisen um 1800: Bauerkämper, Arnd; Bödeker, HansErich; Struck, Bernhard (Hg.), Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt am Main 2004; Bourguet, Marie-Noëlle, Écriture du voyage et construction savante du monde. Le carnet d’Italie d’Alexander von Humboldt, Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte, preprint Nr. 266, Berlin 2004. Ritter, Europa – ein Gemälde, (wie Anm. 3), Bd. 1, S. 25ff.; zur Ethik der Präzision bei Humboldt siehe die Argumentation bei Bourguet, Marie Noelle; Licoppe, Alain, Voyages, mesures et instruments. Une nouvelle expérience du monde au Siècle des lumières, in: Annales, Histoire, Civilisation 52 (1997), S. 1115-1151, die auf die allmähliche forschungspraktische Verschiebung vom „Sehen“ zum „Messen“ hinweisen; zu weiteren Umbrüchen in den Wissenschaften um 1800: Jardine, Nico-
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Ritters Hauptinteresse in seinem Europawerk gilt dem europäischen Binnenraum, entsprechend knapp wird nur auf einer guten halben Seite die zwischen dem asiatischen und dem europäischen Teil Russlands zu ziehende Grenze erörtert, wobei sogar noch die Vor- und Nachteile verschiedener Grenzverläufe kurz miteinbezogen werden. Diese nur sehr wenig problematisierte Trennlinie mag erstaunen. Sie trifft aber – so scheint es – auf große Teile der unter Geografen geführten Debatte über Europas Erdteilberechtigung zu, in der die mögliche Festlegung europäischer Außengrenzen im frühen anders als im späten 19. Jahrhundert nur vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit fand.10 Ritters anschließende Ausführungen zu Russland folgen der in seinem Vorwort vorgeschlagenen Abfolge, obschon das mangelnde Material, wie Ritter selbst einschränkend einräumt, die angestrebte Darstellung in weiten Teilen nur skizzenhaft erlaubte. Für jene Teile, in denen die Materiallage umfassender war, wie etwa im Falle des in Bezug auf die Entwicklung von Industrie und Handel weit fortgeschrittenen England, widmete Ritter einzelnen Industriezweigen je einen eigenen Abschnitt. Auch den britischen Handel, der das wirtschaftliche Wachstum Großbritanniens erst ermöglichte, würdigte Ritter ausführlich, wobei er ihn freilich nicht allein in seinen europäischen Bezügen erörterte, die durch die seit 1806 eingerichtete Kontinentalsperre sehr eingeschränkt waren, sondern auch die weltweiten Verflechtungen in Richtung Amerika, Afrika und Asien mit einbezog.11 Ritters Europawerk ist ein Übergangstext in einer Übergangszeit. Übernahm er sichtlich einige Teile aus der älteren Staatenkunde des 18. Jahrhunderts, so kombinierte er diese mit neuen Elementen geografischen Wissens sowie nicht zuletzt mit einer neuen Aufmerksamkeit für den sich im Verlauf der Industrialisierung vollziehenden sozialen und strukturellen Wandel in großen Teilen Europas. Die genaue Aufnahme der Erdbeschaffenheit verband Ritter auf diese Weise mit einer genauen Sicht auf die auf der Erdoberfläche agierenden Menschen und, wie er betonte, die von ihnen geschaffenen „Producte“ – eine deutliche Hommage an Salzmanns Erziehung zu Arbeit und Fleiß. In systematischer Hinsicht mögen Ritters frühe Ausführungen zu Europa in ihrer nur lückenhaften Durchführung dennoch so manchen enttäuschen. Zu lose erscheint in den Bänden der im Vorwort so wortreich beschriebene Gesamtzusammenhang, zu willkürlich die oft nur knapp verbundenen Teile, zu unüberschaubar die unterschiedlichen Quellen, zu mühselig der an manchen Stellen für den Laien nur schwer zu prüfende Gehalt des von Ritter präsentierten Materials. Das im Vorwort so vielfach beschworene Gemälde ebenso wie das oft genannte Ganze erscheinen im Verlauf der Bände vielmehr als grobe zuweilen sogar unzusammenhängende Skizze. Das Vorwort wird damit um so mehr zu einem Programm, wenn nicht gar zu einem regelrechten Werbetext, dessen —————— las; Secord, James A.; Spary, Emma C. (Hg.), Cultures of Natural History, Cambridge/Mass. 1996; zu Ritters Spätwerk beispielhaft: Ritter, Carl, Europa. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin, Berlin 1863. 10 Vgl. Schultz, Hans-Dietrich, Europa: (k)ein Kontinent? Das Europa deutscher Geographen, in: Schröder, Iris; Höhler, Sabine (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt am Main 2005, S. 204-232; Pécout, Gilles, Jusqu'où va l'Europe au XIXe siècle?, in: Ders. (Hg.), Penser les frontières de l'Europe du XIXe au XXIe siècle. Élargissement et union: approches historiques, Paris 2004, S. 97-117. 11 Ritter, Europa, (wie Anm. 3)., Bd. 2: zur Industrie, S. 407-428; zum Handel, S. 428-431.
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offenkundiges Ziel es ist, der künftigen Wissenschaft zu neuer Publizität zu verhelfen. Diese gewünschte Publizität sollte die Rittersche Geografie im 19. Jahrhundert mühelos erlangen, denn Geografie wurde in dieser Zeit nicht zuletzt infolge seiner Arbeit zunehmend populär: Wie Friedrich Ratzel in seinem Ritter-Portrait in der Allgemeinen Deutschen Biographie 1889 anmerkte, gehörten Ritters Vorlesungen an der Berliner Universität seit den 1830er Jahren zu den großen Publikumserfolgen.12 Hinzu kam, dass Ritter seinen Wirkungskreis über die Universität hinaus zu erweitern wusste, unterrichtete er doch parallel auch an der Preußischen Kriegsschule. Und schließlich pflegte er darüber hinaus seine Überlegungen gern in den diversen wissenschaftlichen Vereinen vor einem bildungsbeflissenen Publikum zu präsentieren. Insbesondere die von ihm mitgegründete Berliner Gesellschaft für Erdkunde bot Ritter ein willkommenes Forum, in dem er seine geografischen Überlegungen regelmäßig vortrug. Ritter etablierte dementsprechend also nicht nur die Erdkunde als Wissenschaft, sondern trieb zugleich auch deren Popularisierung stets mit voran. Und Ritter war dabei keineswegs nur eine lokale Berliner Größe. Im Zuge seiner steigenden wissenschaftlichen Bekanntheit verfügte er bald über einen internationalen Ruf. Ritters Entwürfe setzten sich entsprechend fort, vor allem in einigen Schriften Friedrich Ratzels sowie in denen Elisée Reclus' und Paul Vidal de la Blaches, um beispielhaft nur einige Geografen zu nennen, die sein Werk aufmerksam rezipierten und für dessen Verbreitung sorgten. Insbesondere in den ersten Entwürfen der géohistoire und so auch in den frühen „Annales“ und hier vor allem im Werk von Lucien Febvre und Fernand Braudel kommt Ritters Plädoyer für die von Menschen gemachten Schauplätze und Orte und damit auch sein Blick für die soziale und die natürliche Welt an vielen Stellen zum Tragen. In dem Maße wie sich die Geschichtswissenschaft in jüngster Zeit der Geografie in neuer Weise wieder zu nähern beginnt, erhalten die Schriften Ritters sowie die von seinem Werk ausgehenden Versuche, die Geschichte und ihre Räume erneut miteinander zu verbinden, auch hierzulande inzwischen zunehmend Aufmerksamkeit. Für all jene, die sich den Räumen der Geschichte sowie der Geschichte der Räume zuwenden, bieten die Ritterschen Schriften – trotz mancher irritierender Passagen – eine durchaus weiterführende Lektüre. Aus welchen Gründen diese so lange Zeit dem historiografischen Vergessen anheim fallen konnten, bleibt allerdings eine offene, nicht gerade leicht zu beantwortende Frage.13
—————— 12 Ratzel, Friedrich, Carl Ritter, in: ADB, Bd. 28, 1889, S. 679-697, hier S. 690. 13 Über die sich im 19. Jahrhundert weiter vertiefende Trennung der Geschichte und der Geografie ist in jüngster Zeit bereits viel diskutiert worden, vgl. zuletzt: Schlögel, Karl, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 40-44.
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Quelle Nr. 3.1 Carl Ritter: Europa – ein Gemälde14 An den Leser. Gebildeteren Jünglingen, Lehrern und allen Freunden der Erdbeschreibung übergebe ich diesen ersten Theil des Gemäldes von Europa, in der Hoffnung, daß dessen Inhalt sie belehren und für eine Wissenschaft immer mehr gewinnen wird, der wir so viele wichtige Kenntnisse von der Erde und ihren Bewohnern verdanken. Ich lege Ihnen die Bearbeitung eines Theiles von Europa vor, und ich fühle mich verpflichtet, über den Zweck, die Art der Bearbeitung und die benutzten Hülfsmittel, einiges zu sagen, um zu zeigen, daß es mir nicht darum zu tun war, die große Zahl schon vorhandener Bücher mit einem ähnlichen ohne weitern Zweck zu vermehren. Meine Arbeit war für das gebildetere Publicum bestimmt, bey dem ich die ersten geographischen Kenntnisse voraussetzen konnte, oder dem es leicht seyn würde, sich mit dem Detail und der Topographie eines Landes aus jedem gewöhnlichen Handbuche ein wenig bekannt zu machen. Mein Zweck war, den Leser zu einer lebendigen Ansicht des ganzen Landes, seiner Natur und Kunstproducte, der Menschen und Naturwelt zu erheben, und dies alles als ein zusammenhängendes Ganzes so vorzustellen, daß sich die wichtigsten Resultate über die Natur und die Menschen von selbst zumahl durch gegenseitige Vergleichungen, entwickelten. Dies konnte nur dadurch geschehen, daß ich in einer ernsten, soviel möglich gedrängten Sprache, das Einzelne immer in Hinsicht auf das Ganze vorführte, und so nicht bloß allgemeine Bemerkungen, sondern eine Reihe von Thatsachen und Schilderungen in einer geistigen Verbindung lieferte, denen ich immer das Charakteristische Gepräge ihres Gegenstandes zu geben suchte. Dadurch schmeichle ich mir dem Lehrer der Geographie vielen Stoff beim Unterricht in dieser Wissenschaft gegeben zu haben, und dem Dilettanten einen gedrängten Auszug über das Wesentlichste aus vielen der besten und neuesten einzelnen naturhistorischen oder geographischen Werke und Reisebeschreibungen, deren Anschaffung teils zu kostbar oder deren Lesung ihm zu sehr zeitraubend gewesen seyn würde. Daher ist die Sprache kurz und oft abgebrochen, der Druck sehr gedrängt, um alles Weitschweifige zu vermeiden. So mir das Buch zu bearbeiten, war mir beym Unterricht selbst Bedürfniß geworden. Da meine Hauptabsicht Veredelung des Geistes und nicht bloße Sammlung für das Gedächtnis war: so suchte ich alles so viel als möglich in Zusammenhang zu bringen und als Ursache und Folge darzustellen; ich suchte die Geographie, wenn ich mich des Ausdrucks bedienen darf, pragmatisch zu machen. Die Erde und ihre Bewohner stehen in der genauesten Wechselverbindung und ein Theil läßt sich ohne den andern nicht in allen seinen Verhältnissen getreu darstellen. Daher werden Geschichte und Geographie immer unzertrennliche Gefährtinnen bleiben müssen. Das Land wirkt auf die Bewohner, und die Bewohner auf das Land. Zuerst folgt daher in die Geographie jedes Reiches eine historische Einleitung, die uns ganz kurz zeigt, wie sich nach und nach das Volk und der Staat, unter den jedesmaligen Verhältnissen entwickelte und bildete. Sie gibt uns allenfalls den Maßstab zu dem, was wir von dem gegenwärtigen Zustande der Menschen und des Landes zu erwarten berechtigt sind, sie soll zeigen, was das Land dem Menschen verdankt. Daher stellt sie nur die Culturgeschichte dar, und behandelt die politische Geschichte, nur in so fern als sie Einfluß auf die Bildung des Staats und der Regierungsform hat, von welcher wiederum so vieles abhängt. Billig ist es nun auch zu zeigen, was die Natur für den Menschen hat. – Leider ist unsere Culturgeschichte noch zu keinem hohen Grade der Vollendung gediehen, und nur fragmentarisch bearbeitet worden. Daher wurde
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Ritter, Carl, Europa, ein geographisch-historisch-statistisches Gemälde für Freunde und Lehrer der Geographie, für Jünglinge, die ihren Cursus vollendeten, bei jedem Lehrbuche zu gebrauchen. Nach den neuesten Quellen bearbeitet von C. Ritter, 2 Bde, Bd. 1: Frankfurt am Main 1804; Bd. 2: Frankfurt am Main 1807, Auszug: Bd. 1: S. V-VIII. Kursive Textpassagen in der Quelle sind im Original gesperrt gesetzt.
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auch meine Bearbeitung hier und da mager; aber desto trefflicher sind viele Zweige der Naturgeschichte und der physikalischen Geographie aufgeklärt. Es schien mir, als wenn man bisher den wichtigen Einfluß der Naturbeschaffenheit in den Geographien zu leicht und oberflächlich behandelt hätte, und ich machte es mir zum besonderen Augenmerk, ihren Einfluß zu zeigen. So wie Chronologie die Basis der Geschichte ist, ohne deren Hülfe alle Facta verwirrt sind, eben so nothwendig schien mit die physikalische Beschaffenheit, die Basis der Geographie (im Raume so wie jene in der Zeit) zu seyn. Sie ist das Skelett, um welches alles andere nur Fleisch und Muskel ist; sie gibt dem ganzen Zusammenhang und jedem Theile seinen eigentümlichen Character und sein Leben. Nun können wir sehen, was beide gemeinschaftlich Natur und Kunst oder Menschenmühe hervorbringen – Producte. Ihr Erwerb ist die Quelle aller Tätigkeit und ihr Besitz fast das einzige Ziel alles Strebens; darum verdienen sie eine genauere Beschreibung. Sie setzen Manufacturen, alle Arten von Gewerbe und den Handel in Bewegung. So mannigfaltig das Detail aller dieser Gegenstände ist: so läßt es sich doch wieder durch Zahlen unter gewisse Hauptansichten bringen, welche allein das Resultat zu fixieren im Stande sind. Die Darstellung aller Gewerbe und des Handels leiten uns nun wieder auf den Menschen, den Hauptgegenstand unserer Anschauungen zurück. Wir betrachten ihn zuerst in seinen physicalischen, dann in seinen moralischen und intellectuellen Verhältnissen – Religion, Erziehung, Regierung. Zuletzt kehren wir zu seiner geselligen Vereinigung, als Bürger oder Knecht eines Staates, dann zum Staat selbst zurück und beschließen dieses zusammenhängende Ganze mit der Macht, welche der Staat besitzt, sich auch in den widrigsten Verhältnissen seine Existenz und seine Dauer zu erhalten. Zur leichteren Uebersicht des Culturzustandes jedes Reiches, sind Städtetabellen beygefügt, die ganz neu und so vollständig bearbeitet sind, als es mir für diesen Zweck nothwendig zu seyn schien. Da wo ich von diesem Gange abwich, da vermochten mich andere Umstände dazu, oder Mangel an den gehörigen Materialien und die Scheu, ein gewagtes Urtheil hinzusetzen. Wo ich gegen diesen Plan ganz fehlte, da geschah es gegen meinen Willen, denn dieser Anordnung und Darstellung wegen gab ich dem Buch vielleicht etwas zu anmaßend, den Titel: Gemälde, da es bescheidener nur „Schilderung“ heißen sollte, aber dieser Titel wiederum meinem Zwecke nicht entsprach.
Literatur Bourguet, Marie-Noëlle, Écriture du voyage et construction savante du monde. Le carnet d’Italie d’Alexander von Humboldt, Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte, preprint Nr. 266, Berlin 2004 Koselleck, Reinhart, Raum und Geschichte, Schlußvortrag geh. auf dem Historikertag in Trier 1985, abgedr. in: Ders., Zeitschichten. Studien zu Historik, Frankfurt am Main 2000, S. 7896 Livingstone, David N., The geographical tradition: Episodes in the history of a contested enterprise, Oxford 1993 Osterhammel, Jürgen, Geschichte, Geographie, Geohistorie, in: Küttler, Wolfgang; Rüsen, Jörn, Schulin, Ernst (Hg.), Geschichtsdiskurs: Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt am Main 1997, S. 257-271 Withers, Charles; Livingstone David N. (Hg.), Enlightenment and Geography, Chicago 1999
DIE REVOLUTION VON 1848/49. GEMEINSAMES ERLEBEN UND SCHEITERN IN EUROPA?1 Von Arnd Bauerkämper Die gesamteuropäische Dimension der Revolution von 1848/49 ist lange vernachlässigt worden. Konzentrierte sich die historische Forschung zunächst auf den Ablauf der Ereignisse, die unterschiedlichen Trägergruppen und ihre Ziele und dabei insbesondere auf die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Herrschern sowie auf die Wirkungen der Revolution in den einzelnen europäischen National- bzw. Territorialstaaten, so gerieten grenzüberschreitende Beziehungsgeflechte und die Rückkopplungseffekte im revolutionären Prozess zunächst kaum in den Blick. Hinzu kam der empirische Befund, dass sich die revolutionären Ereignisse in Europa ungleichmäßig vollzogen, zumal ein einheitliches, steuerndes Machtzentrum offenbar fehlte und 1848/49 zudem wichtige Teile Europas – so Großbritannien, die Niederlande, das zarische Russland, die iberische Halbinsel und fast ganz Südosteuropa – von der Revolution weitestgehend unberührt blieben. In Erweiterung dieser vorherrschenden Forschungsmeinung hat sich in jüngster Zeit eine neue transnationale Perspektive herauskristallisiert, eine Perspektive, die für eine integrierte vergleichs- und transfergeschichtliche Revolutionsforschung plädiert: Arbeiten aus dieser Richtung diskutieren bereits, inwieweit die Revolutionäre zum Teil identische Kernforderungen vertraten, inwiefern die Ereignisse über die Territorialgrenzen hinweg durchaus ähnlich verliefen und auch inwieweit sie gemeinsame Ursachen aufwiesen. Darüber hinaus interessieren hier auch die beobachtbaren Wechselwirkungen zwischen den revolutionären Prozessen ebenso wie Verflechtungen zwischen den historischen Akteuren.2 Während die neuere Historiografie den gesamteuropäischen Charakter der revolutionären Ereignisse, den schon zeitgenössische Beobachter wie der französische Schriftsteller und Politiker Alexis de Tocqueville herausgestellt hatten, zunehmend, wenngleich keineswegs erschöpfend untersucht hat, ist der Hinweis auf das nahezu gleichzeitige Scheitern der Revolution in den von ihr erfassten europäischen Staaten und Regionen im Sommer 1849 weniger beachtet worden.3 Dies ist umso erstaunlicher, als schon Zeitgenossen den Sieg der Reaktion als ein europäisches Ereignis wahrnahmen, wie das hier im Anschluss an diesen Essay abgedruckte „Rundgemälde von Europa im August 1849“ zeigt.4 Die 1849 in den „Düsseldorfer Monatsheften“ veröffentlichte Federlithografie von 17 x 23 Zentimeter zeigt die Niederlage der Revolutionäre und karikiert die Reaktion in Europa von Frankreich bis Polen. Mit der Erfindung und raschen Verbreitung der Lithografie im frühen 19. Jahrhundert konnten Zeichnungen leichter in illustrierten Zeitschriften veröffentlicht werden. Damit gewann auch die Karikatur, die im —————— 1 2 3 4
Essay zur Quelle Nr. 3.2, Ferdinand Schröder: Rundgemälde von Europa im August 1849. Kaelble, Hartmut, Wege zur Demokratie. Von der Französischen Revolution zur Europäischen Union, Stuttgart 2001, S. 38-41. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. Quelle Nr. 3.2.
Die Revolution von 1848/49
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aufgeklärten England des 18. Jahrhunderts – vor allem in den Stichen William Hogarths (1697-1764) – zeitgenössische Verhältnisse kritisiert hatte, erheblich an Wirksamkeit. Die Revolution von 1848/49 verlieh der Bildpublizistik vor diesem Hintergrund enormen Auftrieb. Als Rundgemälde oder Panoramen dienten Karten Europas – oft stilisiert – als Kulisse für die Darstellung der Akteure von Revolution und Gegenrevolution. Die „Düsseldorfer Monathefte“, deren Herausgeber Lorenz Clasen in seiner Zeitschrift mit Satiren und Allegorien politische Ereignisse kommentierte, erschienen seit 1847. Die Zeitschrift war für die Veröffentlichung von Karikaturen in Deutschland bedeutend. Als Leitorgan nahm sie einen Stellenwert ein, der demjenigen der seit 1830 in Frankreich publizierten satirischen Blätter „La Caricature“ und „Charivari“ gleichkam. Die Federlithografie wurde von dem Augenarzt Ferdinand Schröder (1818-1859) angefertigt, der ein bekannter Zeichner und Radierer war und in der Frankfurter Nationalversammlung den linken Flügel vertreten hatte. Als Holzschnittzeichner und Lithograf war Schröder ein Autodidakt, der auch für die „Fliegenden Blätter“ und den „Kladderadatsch“ arbeitete. Neben dem „Rundgemälde von Europa im August 1849“, das er offenbar im August 1849 abschloss, schuf Schröder 1851 ein Panorama, in dem er die Verschwörung des „Jungen Europa“ von Guiseppe Mazzini darstellte. Im Zentrum der Abbildung fegt Preußen, das im Bild durch König Friedrich Wilhelm IV. mit Pickelhaube und Eisernem Kreuz personifiziert wird, die Aufständischen zusammen, von denen viele Zuflucht unter der breiten Jakobinermütze der schweizerischen Eidgenossenschaft suchen. Hier war 1848 nach dem Bürgerkrieg zwischen liberalen und konservativen Kantonen im vorangegangenen Jahr eine bundesstaatliche Verfassung verabschiedet und durch die neue Vereinigte Bundesversammlung am 6. November 1848 erstmals ein Bundesrat und Bundespräsident gewählt worden. Der neue Bundesstaat bezeichnete sich als „Helvetia“. Auf der Jakobinermütze wird die freiheitliche politische Ordnung darüber hinaus durch zwei gekreuzte Liktorenbündel als Symbol der antiken römischen Republik und durch eine weitere, sehr kleine Jakobinermütze gekennzeichnet. Der preußische König, der im April 1849 die ihm vom Frankfurter Paulskirchenparlament angebotene Kaiserkrone abgelehnt hatte, säubert vor allem Baden, wo zwar bereits 1848 ein von Gustav von Struve und Friedrich Hecker geführter republikanischer Aufstand niedergeschlagen worden war, die Republikaner aber im Frühjahr 1849 vorübergehend die liberale Regierung unter Großherzog Leopold absetzen konnten. Die norddeutschen Territorialherren – darunter König Friedrich August II. von Sachsen und König Ernst August von Hannover – suchen eilig den Schutz Preußens, während sich König Max II. von Bayern (karikiert als Bierkrug) und der württembergische König Wilhelm (als Kasperlefigur) desinteressiert bzw. erschreckt abwenden. In Frankfurt, wo vom 31. März bis 3. April 1848 585 Abgeordnete aus deutschen Landtagen zu einem Vorparlament zusammengetreten waren und die weitgehend demokratisch gewählte Nationalversammlung einen Grundrechtekatalog und eine Verfassung für einen kleindeutsch-monarchischen Verfassungsstaat ausgearbeitet hatte, hängt die zerfetzte schwarz-rot-gelbe Fahne an einer Vogelscheuche, die mit einem Tschako gekrönt ist. Der Kopf des getöteten Vogels hängt nach unten: Nachdem die Revolution in Preußen bereits im Dezember 1848 niedergeschlagen worden war, löste sich die Nationalversammlung in Frankfurt im Juni des darauffolgenden Jahres unter dem Druck der reaktionären Kräfte auf. Von dem Ort, auf den sich noch wenige Monate zuvor in ganz
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Mitteleuropa viele Hoffnungen gerichtet hatten, ist in dem Rundgemälde nur ein Symbol des Scheiterns geblieben. In der österreichisch-ungarischen Monarchie, die hier als Soldat mit dem Doppeladler auf der Pickelhaube erscheint, hatte der Reichstag, der am 22. Juli 1848 von Erzherzog Johann feierlich eröffnet worden war, am 8. Oktober 1848 das Kriegsrecht über Ungarn verhängt. Zudem wurde die Auflösung des ungarischen Reichstages verfügt, der aber das Widerstandsrecht proklamierte und einen Landesverteidigungsausschuss unter Lajos Kossuth bildete. Allerdings konnte die schwache ungarische Streitmacht den Sieg gegenrevolutionärer Militärs in Wien im Oktober 1848 nicht verhindern, und nach ersten militärischen Erfolgen der Ungarn gegen die österreichische Armee unter Fürst Windischgrätz zeichnete sich die Niederlage im Sommer 1849 deutlich ab. Das Scheitern der Erhebung beschleunigte die Intervention russischer Truppen unter Feldmarschall Fürst Paskiewitsch, der im Rundgemälde durch seine Bärenfellmütze kenntlich ist. Auf Bitte des österreichischen Kaisers Franz Josef waren Ende Mai 1949 rund 200.000 russische Soldaten über die Pässe der Karpathen nach Ungarn vorgedrungen. Mit der Kapitulation am 11. August und dem Rücktritt Kossuths als Reichsverweser war die Unterwerfung Ungarns besiegelt. Auch in Prag war ein Aufstand im Juni 1848 von Windischgrätz schon nach drei Tagen niedergeschlagen worden. Die Karikatur verweist auf diese Ereignisse. Der österreichische Soldat setzt mit Unterstützung des russischen Kosaken zum Hieb auf den schutzlosen Ungar an, der deutlich kleiner als die ihn bedrohenden Vormächte erscheint. In Frankreich hatte sich nach dem Rücktritt des Königs Louis Philippe nach einem Aufstand in Paris schon im Februar 1848 eine provisorische Regierung gebildet, deren Anhänger in der zwei Monate später gewählten Nationalversammlung die Mehrheit stellten. Nachdem im Juni 1848 eine Erhebung der Arbeiter und Gesellen, Kleinhandwerker und Ladenbesitzer von der Regierung niedergeschlagen worden war, verbannten die Militärgerichte mehr als 4.000 Aufständische. Am 8. November 1848 wurde in Frankreich schließlich eine neue republikanische Verfassung verabschiedet, die einen Präsidenten als Exekutivgewalt neben eine gesetzgebende Versammlung stellte. Aus den Präsidentenwahlen ging am 10. Dezember 1848 Louis Napoleon Bonaparte, der Neffe des früheren Kaisers, siegreich hervor, der in der Lithografie leicht durch seinen Hut und den Mantel zu identifizieren ist. Er fällt ebenso wie die Schlüsselfiguren der preußischen und österreichisch-ungarischen Monarchie durch seine Größe auf. Ebenso wie der preußische König ist Louis Napoleon mit einem Besen ausgestattet, mit dem er die Oppositionellen vertrieben hat. Der Besen ist direkt an der Grenze zur Schweiz abgestellt, um eine Flucht der französischen Revolutionäre in die Schweiz zu verhindern. In dem Rundgemälde verweist Louis Napoleon die Vertreter der mitteleuropäischen Reaktion auf die Flüchtlinge, die auf Schiffen nach Westen (offenbar Amerika) fahren. Damit wird auch auf das Scheitern eines Aufstandes radikaler Demokraten verwiesen, die im Juni 1849 einen Aufruf an die Nationalgarde und die Armee gerichtet hatten. Als daraufhin 36 Parlamentsabgeordneten ihr Mandat entzogen und das Vereinsrecht eingeschränkt wurde, mutierte Frankreich zur autoritären Republik. Obgleich sich die gesetzgebende Versammlung in den folgenden Jahren auf die Stabilisierung der neuen Ordnung beschränkte, löste sie Louis Napoleon Bonaparte am 2. Dezember 1851 auf. Im darauf folgenden Jahr konnte er schließlich als Napoleon III. ein plebiszitäres Kaisertum etablieren, mit dem die zweite französische Republik beendet war.
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Genährt von Hunger und Arbeitslosigkeit, hatte sich in Italien im Kirchenstaat Papst Pius IX., im Königreich Neapel-Sizilien und in den nördlichen Herzogtümern eine revolutionäre Bewegung gebildet, die Anfang 1848 die päpstliche Herrschaft und Österreich offen herausforderte. Das Zentrum der Revolution bildete die Republik Venedig, deren Fahne in dem Rundgemälde abgebildet ist. Die Aufständischen, die auch von der nationalistischen Programmatik des „Jungen Italien“ Guiseppe Mazzinis mobilisiert worden waren, gerieten im Großherzogtum Toskana, im Königreich Sardinien-Piemont und in Lombardo-Venetien aber schnell in die Defensive, nachdem die österreichische Armee im Sommer 1848 Venetien und Mailand besetzt hatte. Im März 1849 wurde auch das Königreich Piemont-Sardinien endgültig von österreichischen Truppen besiegt. Außer Österreich intervenierte auch Frankreich in Italien, so dass hier die Reaktion durchweg die Oberhand gewann. Im April 1849 wurde die Revolution in Sizilien niedergeschlagen, und mit der Kapitulation der Republik Venedig vor den überlegenen österreichischen Truppen unter Feldmarschall Joseph Radetzky im August 1849 hatte sich die Restauration in ganz Italien gegen das Risorgimento durchgesetzt. Die durchgestrichene Flagge Venedigs symbolisiert in der Lithographie die Niederlage der Aufständischen, die soziale und politische Reformen gefordert hatten und für nationale Selbstbestimmung eingetreten waren. Auch in Polen hatte das Licht der Freiheit nur kurz gestrahlt. Hier war ein Aufstandsversuch der Nationalbewegung im preußisch beherrschten Großherzogtum Posen schon im Februar 1846 gescheitert, und auch in Galizien, dem österreichischen Teilungsgebiet, konnte sich eine neu gebildete Nationalregierung nur wenige Tage halten. Das polnische Nationalkomitee, das sich im März 1848 in Berlin konstituiert hatte, einigte sich nicht auf eine einheitliche Politik gegenüber der Entscheidung der preußischen Regierung, die Provinz Posen in ein Gebiet für den künftigen deutschen Nationalstaat und ein Herzogtum Gnesen zu trennen. Ein bewaffneter Aufstand gegen den Teilungsplan scheiterte schließlich im Mai 1849. Die erloschene Kerze verdeutlicht in dem Rundgemälde das Scheitern der Freiheitsbewegung und die enttäuschte Hoffnung auf einen neuen polnischen Nationalstaat. Dagegen wurde Dänemark durch die Schwäche der Revolutionäre begünstigt, wie der freudig hüpfende König (dargestellt als General mit Dreispitz) bildlich andeutet. Hier war schon am 28. Januar 1848 eine neue Verfassung angekündigt worden, die den Absolutismus beseitigte. Nach einer Protestdemonstration in Kopenhagen erklärte der neue dänische König Friedrich VII. sich im März 1848 zum konstitutionellen Monarchen. Damit war die politische Umwälzung in Dänemark beendet. Jedoch geriet das Königreich schnell in den Strudel der Revolution, die sich in den Staaten des Deutschen Bundes vollzog. Hier hatte die Nationalbewegung im Vormärz eine gemeinsame Verfassung für die beiden Herzogtümer Schleswig und Holstein verlangt und die Einrichtung von Behörden gefordert, die nicht der Kontrolle der dänischen Regierung unterstanden. Anfang 1848 betonte Friedrich VII. demgegenüber seine Entschlossenheit, Schleswig, das ebenfalls von der deutschen Nationalbewegung beansprucht wurde, in seinen Staat einzugliedern. In der Paulskirchenversammlung wurde die Annexion Schleswigs sogar von einzelnen Abgeordneten – vor allem dem Historiker und Staatswissenschaftler Friedrich Christoph Dahlmann – zu einem Testfall und Ausdruck der nationalen Einigung Deutschlands stilisiert. Die preußische Regierung setzte sich aber über den Anspruch der Nationalversammlung, Entscheidungen über Schleswig zu fäl-
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len, ohne Beteiligung des Reichsverwesers hinweg und schloss am 26. August 1848 in Malmö einen neuen Waffenstillstand mit Dänemark ab. Nach dem Vertrag hatten beide Staaten die Herzogtümer zu räumen. Damit musste auch die provisorische Regierung in Kiel aufgelöst werden. Obgleich die Nationalversammlung am 3. September 1848 gegen das Vorgehen Preußens protestierte, war die Schwäche der Provisorischen Staatsgewalt zu offenkundig, um außenpolitische Ansprüche durchsetzen zu können. Im Juli 1849 musste die Belagerung der Festung Friedericia aufgehoben werden. Im Friedensvertrag vom 2. Juli 1850 gewann Dänemark schließlich sogar offiziell die Herrschaft über Schleswig und Holstein zurück Die englische Königin Victoria war nicht direkt von der Revolution betroffen. In der Karikatur beobachtet sie lediglich die revolutionären Ereignisse. Ihr Wagen, den Merkur als Kutscher lenkt, wird von Löwe und Einhorn gezogen. Der Löwe, dessen Kopf mit einer Perücke bedeckt ist, streckt dem europäischen Kontinent seine Zunge entgegen. Der Kutscher trägt in der Hand als Peitsche den Merkurstab mit seinem verschlungenen Ende und auf seinem Kopf einen Flügelhut. Damit sollten die 1846 durchgesetzte Freihandelspolitik und der forcierte Imperialismus symbolisiert werden. Ein Kind in den Armen, wendet sich die englische Königin von den bettelnden Iren ab, von denen seit 1845/46 rund eine Million Menschen (ein Achtel der Bevölkerung) verhungert waren. Im Rundgemälde halten die drei dünnen Iren ihre Hüte der Königin entgegen, die sie um Hilfe und Almosen bitten. Während 1848 in Irland ein Aufstand brutal niedergeschlagen wurde, löste die seit 1838 gewachsene Chartistenbewegung in England nur vereinzelt Proteste aus. Hier hatte schon 1832 eine Parlamentsreform, der eine Protestwelle der städtischen Bevölkerung voranging, die adlige Vorherrschaft eingeschränkt. Die Zahl der Wahlberechtigten erhöhte sich von etwa 500.000 auf rund 813.000 (13 Prozent der volljährigen Männer). Die Reform Bill stärkte auch die politischen Kompetenzen des Unterhauses, auf dessen Mehrheit sich seit 1841 alle Premierminister stützten. Mit der Durchsetzung von Reformpolitik und Parlamentsherrschaft hatten die Regierungen schon in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts wichtige Forderungen bürgerlicher Gruppen aufgenommen. Trotz der anhaltenden Unzufriedenheit der Unterschichten waren politische Probleme in England so weitgehend entschärft worden, dass revolutionäre Unruhen ausblieben. Auch in den Niederlanden hatten politische Reformen einer Revolution die Grundlage entzogen. Hier hatte die Sezession der südlichen Gebiete und die darauf folgende Bildung des Königreichs Belgien 1830/31 beträchtlichen politischen Sprengstoff hinterlassen, der in dem „Rundgemälde von Europa im August 1849“ mit dem Pulverfass allegorisch gefasst wird. Aber auch die Finanznot des Staates, die schlechte soziale Lage breiter Bevölkerungsschichten und Konflikte zwischen Katholiken, Protestanten und Altreformierten verliehen Reformforderungen Auftrieb, die vor allem von dem Leidener Professor Jan Rudolf Thorbecke öffentlich vertreten wurden. Als die revolutionären Erhebungen in Deutschland und Frankreich bereits die monarchische Herrschaft bedrohten, ließ der König in den Niederlanden Reformen zu, die zur Verabschiedung einer Verfassung mit Grundrechtsgarantien und einem Zwei-Kammer-System führten. Die Niederlande wurden damit zu einer konstitutionellen Monarchie auf föderativer Grundlage. Gemessen an den Zielen ihrer Träger, scheiterten die Revolutionen von 1848 trotz Teilerfolgen überall in Europa. Jedoch war damit keineswegs die Hoffnung auf politi-
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sche Reformen und einen nachhaltigen gesellschaftlichen Aufbruch erloschen, der in der Revolution bereits in ganz Europa erlebt worden war. 1848 hatten Bürger in unterschiedlichen europäischen Staaten und Regionen gegen die Herrschenden mehr politische Partizipation, gesellschaftliche Gleichstellung und die Sicherung ihrer Rechte durchgesetzt. Zudem war mit der grenzüberschreitenden Erhebung ein europäischer Kommunikationsraum entstanden. Dieser Prozess der Europäisierung brach mit dem Scheitern der Revolution keineswegs vollständig ab, denn auch die Gegenrevolution vollzog sich nicht nur in einzelnen National- und Territorialstaaten und Regionen, sondern auch in einem gesamteuropäischen Beziehungsgeflecht. So ist in der Historiografie zur deutschen Revolution hervorgehoben worden, dass die Beratungen der Paulskirchenversammlung von der Niederschlagung der Aufstände in Paris und Prag im Juni 1848 ebenso nachhaltig geprägt und überschattet wurden wie vom Konflikt um Schleswig-Holstein und den Friedensvertrag von Malmö. Inwiefern aber war die Unterdrückung der Revolution in Europa miteinander verflochten? Wie wirkte die Reaktion in einzelnen europäischen Staaten und Regionen auf die Akteure in anderen Gebieten Europas zurück? Inwieweit trug auch die Gegenrevolution zur Europäisierung bei? Auf diese Fragen zur Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte der europäischen Gegenrevolution, die von der historischen Forschung bislang kaum erörtert worden sind, verweist das „Rundgemälde von Europa im August 1849“. Hier wird ein nahezu gesamteuropäisches Panorama der Reaktion und ihrer Protagonisten entfaltet, die auf der Karte als Gegner der Revolutionäre dargestellt werden. Die größten Figuren kennzeichneten in dem Rundgemälde jeweils die gegenrevolutionären Kräfte, deren enge Zusammenarbeit angedeutet wird. Vor allem aber die Karte verdeutlicht die Reaktion in ihrer gesamteuropäischen Dimension, die in historisch-vergleichender und beziehungsgeschichtlicher Perspektive noch umfassend untersucht werden muss. Im Sommer 1849 konnte sich eine polemische Bildpublizistik noch entfalten – die beginnende Unterdrückung ist in der Lithografie Ferdinand Schröders aber bereits erkennbar.
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Quelle Nr. 3.2 Ferdinand Schröder: Rundgemälde von Europa im August 18495
Literatur Botzenhart, Manfred, 1848/49. Europa im Umbruch, Paderborn 1998 Hardtwig, Wolfgang (Hg.), Revolution in Deutschland und Europa 1848/49, Göttingen 1998 Langewiesche Dieter (Hg.), Die Revolutionen von 1848 in der europäischen Geschichte. Ergebnisse und Nachwirkungen, München 2000 Mommsen, Wolfgang J., 1848. Die ungewollte Revolution. Die revolutionären Bewegungen in Europa 1830-1849, Frankfurt am Main 1998 Pfister, Christian, Besen und Tarnkappe. Ferdinand Schröders Rundgemälde von Europa im August 1849, in: Bietenhard, Benedikt u.a. (Hg.), Ansichten von der rechten Ordnung. Bilder über Normen und Normenverletzungen in der Geschichte, Festschrift Beatrix Mesmer, Bern 1991, S. 143-156
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Düsseldorfer Monatshefte, 1849. Unter dem Titel „'Rundgemälde von Europa im August MDCCCXLIX' – Karikatur auf die Niederlage der Revolution“ abgedruckt in: Idee Europa. Entwürfe zum ‚Ewigen Frieden’. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union, hg. von Marie-Louise von Plessen, Berlin 2003, S. 199. Weiter ist die Lithografie u.a. abgedruckt in: 1848. Das Europa der Bilder. Der Völker Frühling, Nürnberg 1998, S. 52.
IDENTITÄT UND DIFFERENZ. EIN EUROPÄISCHES SPIEL1 Von Wolfgang Kaschuba Die im Anschluss an diesen Essay abgedruckte Collage europäischer Mentalitäten und Stereotypen stammt aus keiner deutschen Feder, dazu ist sie ganz offensichtlich zu leicht, zu frech, mit zu viel Esprit geschrieben. Doch vielleicht ist auch diese Einordnung bereits wieder einem alten und noch gängigen europäischen Klischee verpflichtet, das solchen Witz automatisch der französischen Kultur zuschreibt. Wie auch immer: Der Autor heißt jedenfalls Aristide Briand, ist also in der Tat Franzose und kein Unbekannter, wenn es um die europäische Geschichte und Kultur des 20. Jahrhunderts geht. Briand wurde am 28. März 1862 in Nantes geboren, ergriff nach dem Studium zunächst den Rechtsanwaltsberuf, bevor er dann über 30 Jahre, von 1902 bis 1932, seinen festen Sitz als Abgeordneter in der französischen Nationalversammlung einnahm. Dabei begann er seine politische Laufbahn auf Seiten der Sozialisten, um sich später den Sozialrepublikanern zuzuordnen. Er war in herausragenden politischen Positionen tätig: zunächst als Kultusminister, dann von 1910 bis 1932, immer wieder im Wechsel, als Ministerpräsident und französischer Außenminister. Geprägt von den bitteren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und von der auch in Frankreich ab 1914 nationalistisch aufschäumenden „Kriegskultur“, die mit der nationalen Mobilmachung gegen Deutschland einherging, wurde aus Aristide Briand zwar kein Pazifist, jedoch ein überzeugter Europäer, der sich nachdrücklich für den Völkerbund engagierte, sich immer wieder um kollektive europäische Sicherheitskonzepte bemühte und insbesondere den Ausgleich zwischen französischen und deutschen Geschichts- wie Politikhorizonten suchte.2 Dies tat er mit großem Erfolg: 1925 entwarf er wesentlich die Locarno-Verträge mit, in denen ein neuer europäischer Status quo nach dem Weltkrieg fixiert wurde. Für diesen Vertragsentwurf erhielt Briand zusammen mit Gustav Stresemann 1926 den Friedensnobelpreis. Auch danach arbeitete Briand überaus aktiv am „Kriegsächterpakt“ mit, der 1928 geschlossen wurde und als Briand-Kellogg-Pakt in die Geschichtsbücher einging. Briand starb am 7. März 1932 in Paris. Den nächsten Weltkrieg wollte er sich offenbar nicht mehr antun. Bemerkenswert an Briands kleiner europäischer Völkerkunde ist sicherlich zunächst einmal der Stoff, aus dem ihre Bilder und Facetten gemacht sind. Natürlich nehmen die Anspielungen auf nationale Charakterologien dabei immer wieder aktuelle Bezüge auf den gerade überstandenen Weltkrieg. Die Kriegserfahrung als tiefe Zäsur europäischer Welt-Anschauung ist bei ihm überaus präsent und sorgt für die dramatischen Akzentuierungen. Andere Bildfacetten jedoch beziehen sich auf andere und ältere kulturgeschichtliche Motive, die weit ins 19. oder 18. Jahrhundert zurückreichen. So sind die Verkörpe—————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 3.3, Aristide Briand: Gedicht (ohne Titel, frühes 20. Jahrhundert). Siehe dazu etwa Horne, John, Der Schatten des Krieges: Französische Politik in den 20er Jahren, in: Mommsen, Hans (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, Köln 2000, S. 143-164.
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rungen russischer Kultur und Gesellschaft in der Figur des Intellektuellen, in der Konfiguration des Balletts und im Szenario der Revolution jenem Repertoire europäischer Geschichts- und Literaturbilder entnommen, das längst vor Beginn des 20. Jahrhunderts solche Klischees „russischen Wesens“ bereithält. Die italienische Mandoline und Mafia wiederum reflektieren Vorstellungen von italienischer Volkskultur und Mentalität, die nicht ohne den begonnenen Italientourismus des 19. Jahrhunderts zu denken sind, in dem Antikenbegeisterung, mediterranes Lebensgefühl und touristisch inspirierte Folklore zu einem panoramatischen Gesamtkunstwerk verschmelzen. Dem steht mit dem sturen deutschen Pedanten ein nationales Stereotyp gegenüber, das an Mentalitätsdiskurse des 19. Jahrhunderts um die „Sekundärtugenden“ anknüpft: der beflissene und rechthaberische Spießbürger, der als Heinrich Manns „Untertan“ zum literarischen und dann auch filmischen Prototyp einer kleinbürgerlichen Lebenswelt wird, wie sie sich um die Jahrhundertwende im Mief zwischen Bierkneipe, Familie, Offiziersreserve und Kaiserbegeisterung eingerichtet hat. Ihm sind also bereits ebenso künstlerische und mediale Denkmäler gesetzt wie dem französischen Liebespaar, das in kaum einem trivialliterarischen Erguss der Zeit mehr fehlen darf. Denn Paris ist längst die „Stadt der Liebe“, wobei käufliche und romantische Liebe hier offenbar ohne Berührungsängste Hand in Hand gehen – jedenfalls in den imaginären und touristischen Bildern der Stadt. Etwas weniger charmant verkörpern die Engländer schließlich mit ihrem Tennismatch die Anfänge der sportiven Freizeitgesellschaft und mit ihrem Empire den Höhepunkt europäischer Kolonialherrlichkeit, während die Amerikaner mit ihrer konsequenten Cocktailkür eben jenen „american way of life“ verkörpern, der dem europäischen Intellektuellen Briand wohl modernistisch, zugleich aber auch zutiefst konformistisch erscheinen mag. Denn damals wird mit dem Schlagwort von der „Amerikanisierung“ auch gern das Bild einer Einheitskultur der „selfmade men“ und der technischen Moderne beschworen, gegen die jene bürgerliche und intellektuelle Zivilisation Europas behauptet werden muss.3 Man mag sich lediglich noch fragen, weshalb Briand so auf den Cocktails bestand und nicht den Whisky bevorzugt hat. Aber das ist gewiss Geschmackssache. Alle diese Bilder entstammen also einem Arsenal, das sich über Geschichtsbücher und Romane, über Malerei und Architektur, über Postkarten und Kino längst in europäischen Köpfen etabliert hat. Neben dem klassischen „kulturellen Erbe“ Europas mit seinen Shakespeares und Michelangelos, seinen Goethes und Mozarts sind es diese populären Bilder, Narrative, Symbole, Mythen und Klischees, aus denen sich europäische Weltbilder speisen. Sie sind Teil einer europäischen Massenkultur, die sich ein eigenes kollektives Wissen schafft, zusammengesetzt aus den unterschiedlichsten Fragmenten und Motiven politischer wie kultureller Geschichte und massenhaft verbreitet über die neuen Bild- und Druckmedien. Damit ist ein neues kollektives europäisches Gedächtnis entstanden, das beides enthält: integrative europäische Horizonte wie distinktive und auf nationale Differenz angelegte Teilansichten. Das Eigene und das Fremde, das Gemeinsame und das Trennende: Die jeweiligen Bilder werden vor diesen Horizonten immer wieder neu ausgehandelt. Dabei spielen nationale Stereotypen und Klischees deshalb —————— 3
Siehe dazu Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001, S. 163.
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eine strukturierende Rolle, weil sie auch eine neue Form von Alltagswissen zu enthalten scheinen. Denn mit dem europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts, der eben nicht nur staatlich-militärische, sondern insbesondere auch kulturelle Repräsentationen schuf, haben nationale Geschichte und Literatur, nationale Malerei und Architektur, nationale Landschaft und Mentalität eine neue Bewertung erfahren. Zwischen die kleine Region und das große Europa ist eine mittlere Ebene getreten, die zur Projektionsfläche neuer Identitäten und Gewissheiten geworden ist. Es ist eine europäische Landkarte und Landschaft der Nationen, an der sich nun Selbstverständnisse und Selbstbilder zu orientieren haben. Auch die Landschaft selbst ist dabei nationalisiert worden. Der „deutsche Rhein“ und der „deutsche Wald“ verkörpern nun ebenso nationale Typen wie der „englische Park“ oder die „italienische Campagna“. Malerei, Literatur, Fotografie und Medien haben hier in schönstem Zusammenspiel räumliche Verkörperungen von Natur und Nation geschaffen. Dieselbe Naturalisierung geschieht längst auch mit den mentalitären Landschaften. Die landscapes und die mindscapes werden in Korrespondenz zueinander gebracht, im Spiel mit Mentalitäten und Nationalismen. Und das ist auch das Spiel Aristide Briands. Ein Spiel allerdings, das er, Politiker wie Intellektueller, Franzose wie Europäer, dazu benutzt, um diese Klischees aufzuspießen, um die dahinter liegende Denkmatrix populärer Vorurteile sichtbar und hinterfragbar zu machen. Da operiert Briand nicht anders als Kurt Tucholsky in Deutschland, der etwa zur selben Zeit schreibt: „Worauf man in Europa stolz ist. Dieser Erdteil ist stolz auf sich, und er kann auch stolz auf sich sein. Man ist stolz in Europa: Deutscher zu sein, Franzose zu sein, Engländer zu sein, kein Deutscher zu sein, kein Franzose zu sein, kein Engländer zu sein.“4 Auch Tucholsky zeigt also, wie dieses Spiel mit Eigen und Fremd, mit Identität und Differenz funktioniert, jenes Spiel, das der Historiker Benedict Anderson als kulturelle Verfertigung „imaginärer Gemeinschaften“ charakterisiert hat.5 Dabei spielen politisch-ästhetische Symbole und Praxen eine wesentliche Rolle, die im 19. Jahrhundert dann in jenem großen Dressurakt mündeten, der die Menschen Nation „fühlen“ ließ. Eine kollektive Ordnung der Gefühle war entstanden, welche die Menschen schließlich dazu befähigte, beim Hören der – eigenen! – Nationalhymne nicht nur innere Empfindungen von Größe und Zugehörigkeit zu verspüren, sondern sogar äußere Gänsehäute zu erzeugen: einen somatischen und dermatischen Ausdruck also tiefster innerer Ergriffenheit durch die akustischemotionale Anmutung des Nationalen. Heute benutzt die Autowerbung im Übrigen dieses Motiv ebenfalls zur Illustration tiefer Betroffenheitsmomente, wenn in ihren TVSpots ein satter Motorton die zarten Armhärchen der Fahrerin zum Aufstellen bringt. Diese populären Stereotypen und Klischees, die Briand zitiert und assoziiert, bilden den Stoff der Witze, Stammtischdebatten und Erzählungen „über die anderen“, die Europa seit Generationen kennt und übt. Und sie verweisen damit auf Diskurs- und Praxisformen des (historischen) Alltags, dem sich auch die Geschichtsforschung weiter annähern muss, wenn sie tatsächlich „nahe“ bei den historischen Akteuren und deren Lebenswelten sein will. Aristide Briand wusste dies genau. Er war zwar Politiker, aber ein —————— 4 5
Tucholsky, Kurt, Zwischen Gestern und Morgen, hg. von Mary Gerold-Tucholsky, Reinbek 1967, S. 29. Anderson, Benedict, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983.
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historisch denkender und kulturell kundiger. Und gute Historiker wissen dies heute auch: Die europäische Ikonographie der nationalen Klischees, Symbole und Mythen ist für die Geschichtswissenschaft mittlerweile wichtiger geworden als die Hagiographie der Herrscherhäuser und die Chronologie von deren Schlachten. Auffällig ist gewiss auch die Form, in die Aristide Briand seine Bilder textlich gebracht hat. Fast erinnern seine Dreizeiler an die Sonettform lyrischer Dichtung, in der sich die Strophen zwar reimen, im Wesentlichen aber doch auch dem Rhythmus verpflichtet sind. Auch wenn Briand also nicht ganz die Dichte und Leichtigkeit der lyrischen Terzette findet, hätte Rainer Maria Rilke als Großmeister dieser kleinen Form an seinen Dreizeilern gewiss seine Freude gehabt. Im Dreierschritt seiner Bilder wiederum offeriert Briand uns jeweils drei Ebenen, die ganz bewusst zunächst das „nationale Individuum“ zu charakterisieren versuchen, dann eine typische Paar- und Zweierkonfiguration, um dann im dritten Schritt ein nationales Kollektivmotiv zu entwerfen. Wie gut ihm dies gelingt, wird wohl allein schon daran deutlich, dass wir auch heute, rund 80 Jahre später, die Botschaft und Logik dieser Assoziationen sofort verstehen. Kein Wunder, denn Aristide Briand spielte damit virtuos auf der Klaviatur europäischer Geschichte und Literatur, deren Noten und Partituren auch wir sehr wohl noch kennen. Sie appellieren an ein tacit knowledge europäischer Geschichte und Kultur, das sich aus unserem „Hinterkopf“ jederzeit abrufen lässt. So ist Briands Text also populär, anschaulich und verständlich. Doch ist er als Quelle damit noch keineswegs klar und geklärt, denn wie so oft bleiben auch hier noch Verstehens- und Verifizierungsprobleme. Zum einen ist das Original in französischer Sprache verfasst, damit bleibt bei aller Nähe von französischen und deutschen Begriffen doch immer eine Differenz kulturgeschichtlich bedingter Unterschiede in Semantik und Sprachgebrauch, die im Einzelnen noch genauer auszuloten wäre. Die hier vorgelegte Übersetzung ist handmade und noch keineswegs kritisch in dem Sinne bearbeitet, dass die einzelnen Sprachbilder tatsächlich verglichen und in Beziehung zueinander gesetzt worden wären. Zum andern ist der Publikationsort dieses Textes bislang noch unklar. Ich selbst war auf ihn bereits vor Jahren in einer Tageszeitung gestoßen, die diese Zeilen Aristide Briands ohne Literaturnachweis veröffentlicht hatte. Und ich wurde wieder daran erinnert, als ich kürzlich an einem Dissertationsverfahren beteiligt war, in dem dieses Zitat ebenfalls auftauchte. Der Kulturwissenschaftler Jens Schneider hatte in seiner Promotionsschrift das kleine Kunstwerk zitiert, allerdings ebenfalls ohne bibliografischen Nachweis.6 So laden Aristide Briands europäische Selbst- und Fremdbilder schließlich in doppelter Weise zum aktiven Umgang mit Geschichte ein: auf der Ebene der Gedanken und Ideen wie auf jener der Quellen- und Archivforschung − in Deutschland wie in Frankreich.
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Inzwischen ist die Dissertation veröffentlicht: Schneider, Jens, Deutsch sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland, Frankfurt am Main 2001, S. 54.
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Identität und Differenz
Quelle Nr. 3.3 Aristide Briand7
Aristide Briand8
[Ohne Titel]
[sans titre]
Ein Russe – ein Intellektueller Zwei Russen – ein Ballett Drei Russen – die Revolution
Un Russe – un intellectuel Deux Russes – un ballet Trois Russes – la révolution
Ein Italiener – eine Mandoline Zwei Italiener – die Mafia Drei Italiener – die Niederlage
Un Italien – une mandoline Deux Italiens – la mafia Trois Italiens – la défaite
Ein Deutscher – ein Pedant Zwei Deutsche – eine Kneipe Drei Deutsche – der Krieg
Un Allemand – un pédant Deux Allemands – une brasserie Trois Allemands – la guerre
Ein Franzose – ein Schwätzer Zwei Franzosen – ein Paar Drei Franzosen – eine Konferenz
Un Français – un bavard Deux Français – un ménage Trois Français – une conférence
Ein Engländer – ein Schwachkopf Zwei Engländer – ein Match Drei Engländer – die größte Nation der Welt
Un Anglais – un imbécile Deux Anglais – un match Trois Anglais – la plus grande nation du monde
Ein Amerikaner – ein Cocktail Zwei Amerikaner – zwei Cocktails Drei Amerikaner – drei Cocktails
Un Américain – un cocktail Deux Américains – deux cocktails Trois Américains – trois cocktails.
Literatur Anderson, Benedict, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London 1983 Horne, John, Der Schatten des Krieges: Französische Politik in den 20er Jahren, in: Mommsen, Hans (Hg.), Der Erste Weltkrieg und die europäische Nachkriegsordnung, Köln 2000, S. 143-164 Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001 Schneider, Jens, Deutsch sein. Das Eigene, das Fremde und die Vergangenheit im Selbstbild des vereinten Deutschland, Frankfurt am Main 2001
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Übersetzung aus dem Französischen von Jens Schneider und Wolfgang Kaschuba. Ort der Erstveröffentlichung unbekannt. Vgl. dazu die Ausführungen am Ende des vorstehenden Essays von Wolfgang Kaschuba. Ort der Erstveröffentlichung unbekannt.
EUROPA, „DIE GROßE ILLUSION“1 Von Luisa Passerini Sprechen wir von „Europa“, dann sprechen wir von einer Idee, die durchaus ambivalente Züge aufweist. Um diese Ambivalenz der Idee „Europa“ näher zu charakterisieren, wähle ich hier den Ausdruck „Die große Illusion“. Das Wort „Illusion“ steht zuallererst für „Täuschung“, doch auf den zweiten Blick erschließen sich weitere Bedeutungen, wie diejenige, die sich aus der etymologischen Herkunft vom lateinischen Verb ludere = spielen und illudere = zum Spielen anregen, ergibt. Fragt man sich, womit denn überhaupt gespielt werden soll, so findet sich etwa im Oxford English Dictionary unter dem Begriff „Illusion“ der Verweis auf unsere Phantasie und unsere Vorstellungskraft. Die Verwendung des Ausdrucks „Illusion“ ist daher in diesem Sinne auch eine Einladung, unserer Phantasie freien Lauf zu lassen, um uns ein anderes, ein mögliches Europa vorzustellen, ohne gleichzeitig dabei die Schwierigkeiten zu übersehen, denen Europa gegenübersteht. Der Ausdruck „Große Illusion“ findet sich im Titel des 1910 zuerst erschienenen Bestsellers The great illusion von Sir Norman Angell (1872-1967).2 Angell, Friedensnobelpreisträger des Jahres 1933, vertrat in diesem Buch die Position, Krieg sei wirtschaftlich sinnlos und politischer Selbstmord. Bereits sein Buch von 1909, Europe’s optical illusion, hatte argumentiert, dass Kriegsrüstung und militärische Eroberung dem Aggressor keinen Nutzen bringe.3 The great illusion wurde durchaus zwiespältig aufgenommen, da Angell auch dem Pazifismus, den er als „old pacifism“ bezeichnete, Sentimentalität und Humanitätsduselei vorwarf. Nichtsdestotrotz trug das Buch, das bis in die 1930er Jahre mehrfach neu aufgelegt wurde, viel dazu bei, Kritik an Krieg und Militarismus zu verbreiten. Es ist sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht absolut sicher, dass Jean Renoir den Titel seines Films La grande illusion aus dem Jahr 1937 von Angells Buch übernahm. Renoir selbst schreibt in seiner Autobiografie, er habe bis zum Abschluss der Dreharbeiten keinen Titel für den Film gehabt, letztlich habe der Produzent dann diesen Titel akzeptiert, da kein besserer zu finden war. Frieden mag vielleicht eine Illusion sein, so lautet die Aussage des Films, aber gleichzeitig ist es unmöglich, Menschen einfach wegzusperren, unvorstellbar, dass sie nicht unablässig nach Freiheit streben und danach, Hindernisse und Grenzen zu überwinden. Ich werde mich hier mehr auf den Film als auf das erwähnte Buch konzentrieren, da ich ihn für besonders bedeutungsvoll im Hinblick auf unsere heutige Zeit halte und er gleichzeitig ein gutes Beispiel für eine innovative historische Studie visueller Quellen abgeben kann. —————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 3.4, Jean Renoir: La grande illusion (Film aus dem Jahr 1937); Übersetzung des Essay aus dem Englischen von Franziska Kuschel und Florian Kemmelmeier. Norman Angell, The great illusion. A study of the relation of military power in nations to their economic and social advantage, London 1910. Ders., Europe´s optical illusion, London 1909.
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La grande illusion von Jean Renoir verursachte 1937 aufgrund seiner pazifistischen Botschaft einen Skandal. Doch der Film enthält auch eine Aussage über Europa, die allerdings nicht unmittelbar auf der Hand liegt, sondern vielmehr entschlüsselt werden muss. In La grande illusion gibt es zwei Versionen von Europa: Zum einen das der Offiziere, einem Franzosen und einem Deutschen, beide Aristokraten, die während des Ersten Weltkriegs auf gegnerischen Seiten kämpfen. Sie werden von Pierre Fresnay und Erich von Stroheim dargestellt.4 Der Franzose ist Gefangener des Deutschen, aber sie teilen die gleichen Werte, sind gleichermaßen verwurzelt in der kosmopolitischen, sozialen Welt der alten europäischen Ordnung, so wie sie auch die Sehnsucht nach den gleichen Vergnügungen, dem „Chez Maxim’s“ in Paris, und, fast noch ritterlich, nach denselben Frauen teilen. Beide kommen um. Der Franzose opfert sich, um zwei französischen Kameraden die Flucht zu ermöglichen. Das zweite Europa des Films ist das der Soldaten, Arbeiter und Bauern.5 Die beiden Soldaten Maréchal und Rosenthal, dargestellt von Jean Gabin und Marcel Dalio, die dank der Aufopferung des französischen Offiziers fliehen können, entwickeln trotz ihrer Konflikte, in denen auch Antisemitismus eine Rolle spielt (einer von ihnen ist Jude), eine starke Solidarität sowohl untereinander als auch zu einer jungen bayrischen Witwe und ihrer kleinen Tochter, von denen die Soldaten aufgenommen und geschützt werden.6 Sie teilen überdies das gleiche Verbundenheitsgefühl mit der Natur, was in der Metapher des Käfigs zum Ausdruck kommt.7 Das eingesperrte Tier, für das Maréchal sorgt, kann als Symbol für die gefangenen Menschen gesehen werden. Die Sehnsucht nach Natürlichkeit, ja nach Freiheit, wird in der letzten Szene am stärksten aufgegriffen, in der sich Jean Gabin nachdenklich mit einer Kuh unterhält und diese darum beneidet, dass für sie die nationalen, künstlichen Grenzen nicht existieren. Zuletzt verlassen die zwei Franzosen schließlich den Zufluchtsort bei der Witwe. Doch der eine verspricht, aus Liebe zu der jungen Frau zurückzukommen. Der Film zeigt den hohlen Charakter des Nationalismus und die Absurdität nationaler Grenzen, den Niedergang des alten Europa und seiner herrschenden Stände und Klassen; gleichzeitig zeigt er aber auch die Kraft individueller Gefühle wie Freundschaft und Liebe, die Menschen über Länder und Kulturen hinweg verbindet. Ein zukünftiger europäischer Raum scheint der einzig angemessene Ort für die Protagonisten des Films zu sein, die abwechselnd auf französisch, deutsch und englisch kommunizieren. Auch Russisch und Altgriechisch kommen vor. Der Film vermittelt so eindrucksvoll den Gedanken, dass es nicht ein Europa, sondern mehrere Europas gibt. Ganz im Sinne von Albert Camus, der während des Zweiten Weltkriegs in seinem Brief an einen deutschen Freund schrieb: „Euer Europa ist nicht das unsere“. Der Film ist nicht nur eines der Meisterwerke in der Geschichte des europäischen Kinos, sondern auch sehr gut dafür geeignet, die Konflikte um die verschiedenen Konzepte von Europa und vom Frieden zu veranschaulichen. Das zeigt die widersprüchliche Rezeption des Films: 1937 erhielt er am Internationalen Festival von Venedig einen Preis; allerdings nicht den Mussolini Preis, der für nicht angemessen gehalten wurde. —————— 4 5 6 7
Vgl. Quelle Nr. 3.4, Bild 1. Vgl. ebd., Bild 2, mit den französischen Soldaten und ihrem Offizier in der Mitte. Vgl. ebd., Bild 3, mit Dita Parlo in der Rolle der Witwe. Vgl. ebd., Bild 4.
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Dennoch wurde der Film im faschistischen Italien aufgrund seines „Quietismus, Pazifismus und Anti-Heroismus“ vom Verleih ausgeschlossen. 1938 bekam La grande Illusion in New York den Preis für den besten ausländischen Film zuerkannt. Die französische Zensur, die den Film für ein Beispiel von Defätismus hielt, erteilte indessen bis 1946 keine Aufführungsgenehmigung. Die starke emotionale Wirkung des Films wird auf verschiedenen Wegen erreicht, unter anderem durch die Verknüpfung von akkuratem Realismus und der „Öffnung hin zur Illusion“, wie es Renoir selbst nannte. Renoir hob hervor, er sei vor allem auch dem Schauspieler Erich von Stroheim für seine Leistung dankbar, weil dieser es verstanden habe, in seiner Rolle das so notwendige „Illusionäre“, „Phantastische“ in den Film einzubringen. Das führt uns zurück auf die doppelte Bedeutung der Illusion. Ein Hauch Illusion darf in einem realistischen Bild nicht fehlen! Wenn wir, was wir auch sollten, an die gewaltigen Hindernisse auf dem Weg zu einer wirklichen Einigung Europas denken, dann ist Europa heute eine Illusion im negativen Sinn. Das bezieht sich nicht nur auf das Fehlen einer gemeinsamen Außenpolitik, sondern auch auf die geringe Intensität der Beziehungen der Europäer im Alltagsleben und die mangelnde Chancengleichheit. Wer auf diesem Kontinent schon einmal in einem anderen als seinem eigenen Land gearbeitet und gelebt hat, kennt die Probleme, die sich zum Beispiel aus der fehlenden Einheitlichkeit des Gesundheits- und Bankwesens für das tägliche Leben ergeben. Wir sollten die Anregung von Margaret Storm Jameson aufnehmen, die in den 1930er Jahren schrieb, der Prozess zur Verwirklichung einer wahren europäischen Union solle auf ein Europa abzielen, in dem alle Menschen und vor allem Kinder den gleichen Grad an Lebensqualität und Sicherheit genießen. Jameson glaubte vor allem an die Entwicklung öffentlicher Infrastrukturen und Dienstleistungen in Europa, etwa im Bereich der Kommunikation und der medizinischen Versorgung. Ihr Programm wartet immer noch darauf, in die Tat umgesetzt zu werden! Denken wir nur an Einrichtungen im Kommunikationsbereich, wo ein Sender wie Arte im TV-Sektor immer noch allzu isoliert dasteht. Ein wirklich europäisches Alltagsleben aufzubauen, ist andererseits vielleicht die größte Illusion, im positiven Sinn einer vorgestellten und noch auszugestaltenden Zukunft! Sicher wird dies für lange Zeit viele Anstrengungen erfordern. Ich glaube, dass ein solches Ziel aber gleichzeitig nur auf dem parallelen Weg einer Umbildung Europas zu einer Friedensmacht verfolgt werden kann, die zu eigenständigen Initiativen auf der internationalen Bühne fähig ist. Der Vorschlag von Balibar, Europa als „verschwindenden Vermittler“ innerhalb einer „Anti-Strategie“ zu sehen, macht Sinn und kann im Rahmen eines Konzepts von Dekonstruktion und Rekonstruktion des Europäischen weiterentwickelt werden. Ich habe mich in den letzten zwölf Jahren vor allem darum bemüht, essentialistische und hierarchische Formen europäischer Zugehörigkeit zu dekonstruieren. Doch historische Arbeit kann nie allein dekonstruktiv sein: die analytische und die narrative Seite unserer Arbeit gleichen sich immer wieder aus. Ich hatte immer den Eindruck, dass beide Aufgaben in freundschaftlicher Zusammenarbeit geteilt werden und in diesem Sinne bin ich dankbar für die vielfältigen Verbindungen zu anderen Historikerinnen und Historikern in ganz Europa und wünsche und hoffe, dass sich unsere konstruktiven Bemühungen noch verstärken werden. Der Film von Renoir macht diesbezüglich viele Vorschläge. Er spricht von Solidarität zwischen Menschen verschiedener Kulturen, Klassen und Nationen, einer Solidarität,
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die auf Kameradschaft, Freundschaft, Sympathie und Liebe beruht. Er spricht von Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit, die sich im Miteinander und gegenseitigen Respekt von Menschen aus dem Volke und den alten Aristokratien verkörpert. Er spricht von Solidarität mit der Natur, was in unserer heutigen Zeit sogar noch wichtiger und dringlicher geworden ist, als es in den 1930er Jahren war. Die Überwindung von Vorurteilen zeigt der Film am Beispiel des Bildes von Rosenthal, der dem kleinen Mädchen bei der Vorbereitung ihrer Weihnachtskrippe hilft und den kleinen Jesus als seinen „Rassenbruder“ bezeichnet. Er erinnert uns schließlich auch an die doppelte Natur der Illusion, die trügerisch sein kann und es auch wirklich war, da ja zwei Jahre nach dem Film der Zweite Weltkrieg begann. Aber er hat doch immer noch eine positive Seite, indem er über die Zeit hinweg die Botschaft von Humanität und Frieden verbreitet. Quelle Nr. 3.4 Jean Renoir: La grande illusion (Film aus dem Jahr 1937)8 Bild 1
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Bessy, Maurice; Chirat, Raymond, Histoire du cinéma français. Encyclopédie des films 19351939, Paris 1987, S. 217-218.
198 Bild 2
Bild 3
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Bild 4
Literatur Balibar, Etienne, L’Europe, l’Amérique, la guerre, Paris 2003 DeVincenti, Giorgio, Jean Renoir. La vita, i film, Venedig 1996 Grossi, Verdiana, Le pacifisme européen 1889-1914, Brüssel 1994 Renoir, Jean, Ma vie et mes films, Paris 1974
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FERENC ERDEI UND DIE UNGARISCHE GESELLSCHAFT IN EUROPA1 Von Susan Zimmermann Unter den ungarischen Soziografen der 1930er Jahre ist Ferenc Erdei vermutlich der bekannteste. Ganz gewiss war Erdei, mehr als seine Weggenossen, Vertreter eines analytischen Geistes und Denkens, und ein hochbefähigter noch dazu. Geboren wurde Erdei2 am 24. Dezember 1910 in einer protestantischen Familie in Makó, einer Agrarstadt der ungarischen Tiefebene. Väterlicherseits stammte die Familie aus der Schicht der Erdarbeiter und landlosen Bauern, mütterlicherseits aus dem mittleren Bauerntum. Die Familie der Mutter lebte das in der Region typische Leben dieser Schicht. Die weitab der Stadt liegende Landwirtschaft betrieb die Familie von einem Außen-Einzelgehöft (tanya) aus, wo man einen Großteil des Jahres verbrachte. In der Innenstadt von Makó besaß die Familie ein Haus, wo sie das Leben verbürgerlichter Bauern lebte. Im Alter hielten sich die Großeltern mütterlicherseits durchgehend in Makó auf, die tanyaWirtschaft wurde zeitweise von Ferenc Erdeis Eltern übernommen, zeitweise verpachtet. Der Junge wuchs damit zwischen Makó-Stadt und tanya in der typischen Zwischenschicht der – so Erdeis eigene Formulierung – „kleinproduzierenden ZwiebelgärtnerFamilie[n]“ auf. Bildung – als Alternative – für die nächste Generation, tagtägliche Mitarbeit in der Landwirtschaft, Einsicht in gesellschaftliche Erscheinungen und Zusammenhänge, und Berührung mit organisiertem politischen Streben nach Veränderung stellten die Leitmotive der väterlichen Erziehung dar.3 1929 schrieb sich Ferenc Erdei an der Szegeder Universität ein. Eine erste soziografische Studie des jungen Hörers der Rechtswissenschaften über das Dorf Királyhegyes in unmittelbarer Nähe des großelterlich-elterlichen tanyas erschien Anfang 1931 in der angesehenen gesellschaftswissenschaftlichen Zeitschrift Századunk. Danach beschäftigte sich der junge Mann in verschiedenen Etappen mit der Abfassung eines nach Struktur-, Gruppen- und Siedlungs—————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 3.5, Ferenc Erdei: Reisebriefe aus westeuropäischen Ländern (1936). Geb. 1910; gest. 1971. Biografische Angaben zu Erdei finden sich insbesondere in Huszár, Tibor, Ferenc Erdei. Portrait of a Sociologist, in: Ders. (Hg.), Ferenc Erdei, Selected Writings, Budapest 1988, S. 389-407 (dieses Werk enthält auch umfangreiche Übersetzungen aus den Arbeiten Erdeis); Erdei, Sándor, Erdei Ferenc élete [Das Leben von Ferenc Erdei], in: Erdei, Ferenc (= FE), Emberül élni. Egy életút mérföldkövei. Válogatás [Menschlich leben. Marksteine eines Lebensweges. Auswahl], Budapest 1974, S. 569-665; Benkő, Péter, A magyar népi mozgalom almanachja [Almanach der ungarischen populistischen Bewegung], Budapest 1996, S. 109-112. Huszár, Tibor (= TH), Történelem és szociológia. A cselekvő ember nyomában. Elvek és utak [Geschichte und Soziologie. Auf der Spur des handelnden Menschen. Prinzipien und Wege], Budapest 1979, S. 251ff. FE: Egy különös falukutatás története [Die Geschichte einer ungewöhnlichen Dorfforschung], in: Gondos, Ernő (Hg.), A valóság vonzásában [Im Anziehungskreis der Wirklichkeit] (1963), wiederabgedruckt in: FE: összegyűjtött művei: Településpolitika, közigazgatás, urbanizáció [Gesammelte Werke von FE: Siedlungspolitik, Verwaltung, Urbanisierung], Budapest 1977, hier S. 15.
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merkmalen gegliederten „Gesellschaftsbildes“ seiner Heimatstadt Makó. Zentrale Bedeutung kam in Erdeis Wahrnehmung dem „Rätsel und der Enträtselung“4 des „Makóer tanya-Systems“ zu, und die Beschäftigung mit dieser gesellschaftlichen Erscheinung sollte zum Ausgangspunkt und Fluchtpunkt von Erdeis intellektuellem Bemühen um die Konzeptualisierung (nicht nur) der Besonderheit der ungarischen Gesellschaft werden. Auf dem Gebiet von Makó, das einschließlich der so genannten „Außengebiete“ eine Fläche von 269 km2 (zum Vergleich Frankfurt am Main heute: 248 km2) und damit außerhalb des eigentlichen Stadtgebietes eine ganze Agrarregion umfasste, befanden sich laut Statistik 1.989 Außen-Einzelgehöfte bzw. tanyas.5 Schon während der Studienzeit stand die Bauern- und Agrarfrage im Zentrum des politischen Interesses von Ferenc Erdei. In Abgrenzung von den im Lande herrschenden nationalkonservativen Strömungen und deren ‚Bauerntümelei‘ bemühte sich der junge Mann bald um konkrete und analytisch begründbare politische Visionen und wenn möglich Taten. Doch fand er weder bei den häufig paternalistischen und isolierten Agrarreformprojekten der Settlement-Bewegung, noch bei der von dogmatischen Auffassungen der Agrarfrage geprägten Linken eine wirkliche politische Heimat. Nachdem Erdei das Studium 1934 mit dem Doktorat abgeschlossen hatte, ging er zunächst zurück nach Makó. Diese Entscheidung war Ausdruck derselben intellektuellen und politischen Suchbewegung, die schon die Studienzeit bestimmt hatte. Von Bedeutung war auch Erdeis Identifikation mit den bäuerlich-agrarischen Schichten, aus denen er selbst stammte, gepaart von früher Jugend an mit einer rebellischen, ja revolutionären Attitüde.6 In Makó engagierte sich der junge Mann politisch und beruflich in der seit 1931 bestehenden Genossenschaft der Zwiebelproduzenten, die sich mit der Organisation der Produktion und dem Absatz der Zwiebeln befasste. Zwischen November 1935 und März 1936 unternahm Erdei im Auftrag dieser Makóer Genossenschaft jene Studienreise ins Ausland, während derer die im Quellenteil abgedruckten Briefe entstanden. Zum Zwecke des „Sammeln[s] von Erfahrung“ besichtigte der junge Mann landwirtschaftliche Genossenschaften und Gärtnereibetriebe in der Schweiz, Deutschland und den Niederlanden. Die Briefe, die Erdei während dieser ersten ausgedehnten Reise nach Westen verfasste, sollten zum Teil ein Tagebuch ersetzen und waren unmittelbar als Konzepte für spätere Schriften gedacht (Quelle Nr. 3.5). Sie zeugen nicht nur vom kathartischen Er—————— 4 5
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So Erdei in seiner autobiografischen Schrift, Die Geschichte einer ungewöhnlichen Dorfforschung, wiederabgedruckt in Gesammelte Werke FE: Siedlungspolitik (wie Anm. 3), hier S. 18. Im Rahmen der gängigen Differenzierung der Kategorien Stadt und Dorf war, so Erdei, eine Analyse dieser sozioökonomischen Erscheinung nicht möglich: „Worum es also geht: das AußenEinzelgehöft, als peripherer Produktionsbetrieb, gehört zum städtischen oder dörflichen Konsumationsbetrieb dazu. Gegenüber dem Dorfsystem, in dem Haus und Hof nicht nur Konsumationsbetrieb, sondern auch Produktionsbetrieb sind, stellt das Außen-Einzelgehöft-System eine Differenzierung dar: die Trennung von Produktions- und Konsumationsbetrieb [... Die Vorteile dieser Trennung bestehen unter anderem darin, dass] sich der Landwirt infolge des ständigen gesellschaftlichen Verkehrs von der Kulturentwicklung nicht entkoppelt.“ FE: Társadalomrajz. A makói tanyarendszer [Gesellschaftsskizze. Das Makóer Außen-Einzelgehöft-System], in: Népünk és nyelvünk (1932), wiederabgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Siedlungspolitik (wie Anm. 3), hier S. 246f., 267. So Erdei in einer autobiografischen Skizze von 1938, zit. in TH (wie Anm. 3), S. 253.
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lebnis dieser Reise selbst. Sie legen auch äußere und innere Bestimmungselemente eines wissenschaftlich-weltanschaulichen Entwicklungsschubes, einer intellektuellen Metamorphose bloß, die das Denken und Schreiben Erdeis in den folgenden Jahren bestimmen und in Fluss halten sollten. Ab 1937 erschienen in rascher Folge mehrere Monografien7, denen es, in soziografisch gefärbtem Gewand, darum zu tun war, Sozialstruktur und historische Entwicklungsdynamik der ungarischen Gesellschaft insgesamt forschend zu begreifen. Erdeis Theorie der ungarischen Gesellschaftsformation trat schließlich in Die ungarische Bauerngesellschaft (1941) und in dem inhaltlich ergänzenden und konzeptuell deutlich weiter ausgreifenden, jedoch Fragment und unveröffentlicht bleibenden Manuskript Die ungarische Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen systematisch und geschlossen hervor.8 Gestalt und Perspektive dieser Gesellschaftstheorie speisten sich aus mehreren miteinander verwobenen Elementen. Zunächst einmal ging die Suche nach verallgemeinerbaren Kategorien in hohem Maße von impliziten und expliziten Vergleichen aus, auf deren Grundlage Erdei ein komplexes typologisches System der Gesellschaftsbeschreibung und -analyse entwickelte. Dabei spielte die Untersuchung unterschiedlicher Elemente der ungarischen Siedlungs- und Sozialstruktur eine wichtige Rolle. Seit der Reise von 1935/1936 kam die systematische Abgrenzung von und Beziehung auf „westliche“ Gesellschafts- und Siedlungsstrukturen hinzu.9 Entsprechende explizit oder implizit vergleichende Analysen der ungarischen Wirklichkeit(en) führten, so legte Erdei wiederholt dar, letztendlich nicht einfach (nur) zu kategorial bestimmbarer Wahrnehmung ungarischer Spezifika, sondern zur Weiterentwicklung bzw. Revision vorgefundener, vermeintlich allgemeiner Kategorien. Dies galt für die Analyse der Agrarstädte der Tiefebene ebenso, wie für die Untersuchung der höchst vielfältigen ungarischen Dorfstrukturen bzw. Dorftypen: „[N]ur die größere Hälfte der ungarischen Landwirte [lebt] im Dorf, die kleinere Hälfte ist in Agrarstädten mit Außen-Einzelgehöften angesiedelt. [...] Darum ist es uns möglich, die dörfliche
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Die Titel waren, in deutscher Übersetzung, unter anderem: Flugsand (1937); Bauern (1938); Ungarische Stadt (1939); Ungarisches Dorf (1940); Ungarische Außen-Einzelgehöfte (1942). FE: A magyar paraszttársadalom [Die ungarische Bauerngesellschaft], Budapest 1941; FE: A magyar társadalom a két háború között [Die ungarische Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen], MS (1944, und z.T. Überarbeitungen aus der Zeit der ersten Monate nach der Befreiung Anfang 1945), erstmals abgedruckt im Zuge der ungarischen Erdei-Renaissance der 1970er und 1980er Jahre in: Valóság (1976) 4 und 5 (Teile 1 und 2). „[Wir] müssen eine deutliche Grenze ziehen zwischen den klassischen Stadt-Dorf-Regionen und den weder dörflich noch städtisch besiedelten Gegenden der ungarischen Tiefebene. [...] Hier gibt es kein wirkliches Dorf, und keine wirkliche Stadt. Der Stadtbegriff westlichen Ursprungs, der dort fehlerfrei angewandt werden kann, und ebenso jener des Dorfes, sind in der Tiefebene sinnlos und unbrauchbar.“ Ein Forscher, der diese Begriffe doch anzuwenden versucht, „wird die Städte der Tiefebene ohne ihre Außen-Einzelgehöfte als unvollkommene westliche Städte zu erkennen glauben, und die Außen-Einzelgehöfte als unvollkommene westliche Streudörfer.“ FE: Az őstermelés városrendezési vonatkozásai [Die stadtplanerischen Bezüge der Urproduktion]. MS für das Handbuch der ungarischen Stadtplanung, hg. V. Bierbauer (1938), abgedruckt in Gesammelte Werke FE: Történelem és társadalomkutatás [Geschichte und Gesellschaftsforschung], Budapest 1984, S. 313f.
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Landwirtschaft mit der nicht-dörflichen Landwirtschaft zu vergleichen, und dies kann die von der Landwirtschaft unabhängigen Charakterzüge des Dorfes erhellen.“10 Über die Kritik der vermeintlich universalen Kategoriensysteme des „Westens“ und über den relationalen Vergleich innerhalb Ungarns und in Europa gelangte Ferenc Erdei zur Idee der konzeptuellen (nicht: historischen) Gleichberechtigung aller vorfindlichen gesellschaftlichen Organisationsmuster. Die Auseinandersetzung mit westlicher Forschungsliteratur, so insbesondere mit der deutschsprachigen Volkskunde und Agrarsoziologie, mit der US-amerikanischen Rural Sociology, den Arbeiten des Doyens der rumänischen Soziologie Dimitrie Gusti, und mit der ungarischen Literatur der verschiedensten Sparten, spielte dabei eine wichtige Rolle.11 Schon während der Reise von 1935/1936 hatte die intensive Beschäftigung mit dem internationalen Schrifttum der Bewältigung des kathartischen Erlebnisses gedient. Erdei zog sich in die Berliner Staatsbibliothek zurück: „Eine Woche ist an mir vorübergegangen ohne daß ich die Zeit auch nur wahrgenommen habe. Ich habe eine unwahrscheinliche Menge Bücher gelesen, eine maßlose Menge an Notizen gemacht, und häufig bin ich in sehr enthusiastischem Zustand in den Hallen der großen Bibliothek spaziert. [...] Nicht [...], daß ich in einzelnen Zweigen der Wissenschaft klarer sehe. Es ist im Ganzen etwas geschehen.“12 Die Konfrontation mit dem „Westen“ meinte für Erdei nicht nur im Bereich der Forschung mehr als eine rein intellektuelle Auseinandersetzung. Auch dem Schlüsselsatz: „Ich bin Bauer“, der während der Reise von 1935/1936 aus der veränderten und erweiterten Erfahrung und Wahrnehmung europäischer Gesellschaftsformen geboren worden war, kam tiefe persönliche, politische und wissenschaftliche Bedeutung zu. Die Wahrnehmungen und Erkenntnisse, die sich in diesem Schlüsselsatz verdichtet hatten, sollten seine Konzeptualisierung der ungarischen Gesellschaft in mehrfacher Hinsicht beeinflussen. Das „Ich bin Bauer“ stand seit der Reise von 1935/1936 für die Erfahrung und Behauptung, dass die Zugehörigkeit zum Bauerntum in Ungarn – anders als in bestimmten durchgehend verbürgerlichten Ländern des „Westens“ – in eins fiel mit gesellschaftlicher Abschließung und gesellschaftlichem Ausschluss gleichermaßen: mit der Existenz „außerhalb der Nation: von den Herren geknechtet, von den Bürgern verachtet“.13 „Bauer“ stand von nun an definitiv für fehlende Durchlässigkeit zwischen den sozialen Schichten bzw. Gruppen, und „Bauer“ stand für den Ausschluss aus der bürgerlichen Kultur und der Kultur der Herren gleichermaßen. Seit 1938 erscheinen die ungarische und mit ihr klar abgrenzbare Teile der europäischen Bauernschaft bzw. Agrarbevölkerung im wissenschaftlichen Werk von Ferenc Erdei als „Gesellschaft in der Gesellschaft“, „Bauern-Unterwelt“, die in sich abgeschlossen „unter der Oberfläche der —————— 10 Zit. n. FE: Magyar falú [Ungarisches Dorf], Budapest 1940, S. 16f. In diesem Werk legte Erdei eine differenzierte Analyse einer ganzen Reihe von Dorf-Typen, und damit keineswegs eine Gegenüberstellung von als je einheitlich begriffenen Verhältnissen in der großen Tiefebene und im übrigen Ungarn vor. 11 Im ungarischen Dorf z.B. listete Erdei in einem bibliografischen Essay zahlreiche entsprechende Werke auf, vgl. S. 232-236; in Parasztok [Bauern], Budapest 1938, findet sich eine umfangreiche gesamteuropäische Bibliografie. 12 FE: Brief an den jüngeren Bruder, 12. Februar 1936, zit. in TH (wie Anm. 3), S. 490. 13 So Erdei in einem Vortragsmanuskript von 1938, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 454.
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Kultur und Zivilisation“ existierte.14 Und tatsächlich ist bis heute „Paraszt!“ – „Bauer!“ in Ungarn eine Beschimpfung, die alle Konnotationen der fehlenden Manieren und Bildung, der Dumpfheit und des Vegetativen, kurz: der Existenz außerhalb des menschlichen Kulturlebens in sich einschließt. Das „Ich bin Bauer“ erfüllte in Erdeis wissenschaftlichem Denken die Funktion der Markierung des eigenen Ortes und Standpunktes. Erdei war dabei in doppeltem Sinne radikal: Es ging ihm in seinen Untersuchungen zunehmend um die Gesellschaft als Ganze.15 Zugleich bestand er darauf, daß dieses Ganze von der existentiellen Erfahrung des gesellschaftlichen Ortes der Agrarbevölkerung ausgehend zu beleuchten war, bzw. darauf, diese Erfahrung zumindest analytisch zum Ausgangs- und Bezugspunkt der wissenschaftlichen Arbeit zu machen.16 Für Erdei gingen also, und dies war ein weiterer wichtiger Baustein seiner Gesellschaftsanalysen, Erfahrung, Identifikation und Interesse mit Forschung zusammen, ja, diese ‚subjektiven‘ Elemente waren unabdingbarer Bestandteil seiner Forschung: „Diese Forschungs-Bewegung war im striktem Sinne keine soziologische Forschung, sondern sehr viel eher literarische Erkundung in politischer Absicht; doch war das Dorf für diese Schriftsteller Erlebnis, das heißt sie haben sehr viel mehr und Glaubwürdigeres über die Wirklichkeit des Dorfes gesagt, als jede andere wissenschaftliche oder sozialpolitische Dorfforschung.“17 Die „Dorfforschung“, von der hier die Rede ist, war zentraler Bestandteil der soziografischen und populistischen Bewegung im Ungarn der 1930er Jahre, in deren Kontext auch die Arbeiten von Ferenc Erdei standen. Die soziografische Herangehensweise stellte denn auch einen weiteren wichtigen Bestandteil der Erdei’schen Bemühungen um die Konzeptualisierung der ungarischen Gesellschaft als Ganzer dar.18 Für Erdei standen —————— 14 FE: Bauern (wie Anm. 7), S. 13-17. Eines der fünf Hauptkapitel dieses Werkes untersucht, nach Großregionen und Ländern differenziert, die Lage der Bauerngesellschaft in ganz Europa. 15 Analytische Problemzonen, die Erdeis Untersuchungen des „Ganzen“ dennoch kennzeichneten, betrafen die (gegenüber den „Bauern“ in den Hintergrund gedrängten) landlosen und eigentlich unterbäuerlichen Schichten die Familie (deren interne Strukturen und Machtverhältnisse verborgen blieben) und die ethnischen Unterschiede in der ungarischen Gesellschaft. Die letzteren setzte Erdei zwar zu keinem Zeitpunkt auf rassistische Weise an die Stelle gesellschaftlicher Unterschiede. Dennoch ließ er sich auf die Kategorien der offen antisemitischen Debatte über gesellschaftliche Ungleichheit als Ungleichheit zwischen „Ungarn“ und „Juden“ ein, die die ungarische Öffentlichkeit der späten 1930er Jahre dominierte (vgl. eine berühmte Stellungnahme von Erdei und anderen Spitzenvertretern der berühmten „März-Front“, in: Válasz (1936) 2, Wiederabdruck in Széchenyi (Hg.), Válasz, S. 472ff.); und immer wieder grenzte Erdei ein – wenn auch wandelbares und zur Integration bereites – „ungarisches“ Wir gegen die übrigen Nationalitäten ab. In der ungarischen Rezeption wurde diese Seite des Erdei’schen Erbes, in der Epoche des Staatssozialismus und darüber hinaus, weitgehend unterdrückt bzw. ignoriert. 16 Vgl. etwa Vortragsmanuskript von 1938, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 454. 17 FE: Ungarisches Dorf (wie Anm. 7), S. 235. 18 Erdei grenzte die von Agrarstädten und tanya-System dominierten Regionen geografisch und im Hinblick auf den Anteil an der ungarischen Gesamtbevölkerung detailliert und auch quantitativ ein. Er beschäftigte sich eingehend auch mit den nicht in diesem Gebiet gelegenen ungarischen Städten „westlichen Charakters“. Vgl. FE: A város és a falu szintézise [Die Synthese von Stadt und Dorf], in:
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Soziografie und Soziologie also in einer engen Wechselbeziehung. Der Soziografie war es – so die berühmten Formulierungen von Gyula Ortutay – um die „Entdeckung Ungarns“ zu tun, weil „wir von unserer Bauernschaft kaum einen [...] klareren Begriff besaßen als von den Eingeborenen der Osterinseln.“19 Und die Gesellschaftstheorie von Erdei brauchte die breite empirische (und eher implizit begriffsbildende) soziografische Basis, um sich von den universalisierenden, im Hinblick auf bestimmte Erscheinungen der ungarischen Gesellschaft von „sinnlosen und unbrauchbaren“20 Begriffen der westlichen Soziologie ablösen zu können. „Unsere Soziographien sind weder Methode noch Wissenschaft [sondern]: aus der Ohnmacht geborenes, notgedrungenes Bemühen um Orientierung.“21 Aus den genannten Bausteinen setzte Erdei schließlich eine vollständige Gesellschaftsanalyse zusammen. Erste entscheidende Schritte zur Ausarbeitung und Systematisierung der entsprechenden Begrifflichkeiten tat er in der Ungarischen Bauerngesellschaft von 1941. Die „Bauer-Gesellschaftsformen“ einschließlich des „ständische[n] Bauerntum[s]“ lebten in Ungarn innerhalb einer „im allgemeinen bereits nach einem anderen Prinzip aufgebauten Gesellschaftsstruktur“ fort. Historisch erkläre sich dieses Fortleben aus dem Zusammenwirken von „zurückgebliebener ungarischer Industrialisierung, Urbanisierung und überhaupt Verbürgerlichung“, der „außergewöhnlichen Überentwicklung des Ständesystems“ und der „Nachbildung“ von „ähnlichen Formen“ wie im Westen. Umgekehrt behindere das Fortleben der „ständischen sozialen Formen“ das Funktionieren der „bürgerlichen Struktur“. Diese geteilte Gesellschaftsstruktur wurde von Erdei als krisenhafter Übergangszustand beschrieben. Die in der ungarischen Gesellschaft fortlebenden „Bauer-Gesellschaftsformen“ verglich er plastisch mit einem Eis-“Block“, wie er sichtbar werde, wenn vom „im Faß gefrorenen Wasser“ die Hülle abgeschlagen werde und die Frühlingssonne darauf zu scheinen beginne. Anders gesagt: In Ungarn sei eine „aus einer früheren Entwicklungsstufe zurückgebliebene soziale Form mit den veränderten Verhältnissen in Widerspruch geraten“.22 In seinem Manuskript Die Ungarische Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen erweiterte Erdei diese in der Bauerngesellschaft entwickelten Perspektiven zu einer umfassenden Gesellschaftstheorie, die mit Marx’schen Kategorien und Denkfiguren operierte. Die ungarische Gesellschaft sei fundamental von einer „Doppelheit“ zwischen kapitalistischen „Produktionsverhältnissen“ und verblockter „Gesellschaftsstruktur“, oder anders gesagt, von massiven Widersprüchen zwischen „Klassenlage und gesellschaftliche[r] Lage“ geprägt. Ungarn sei seit dem 19. Jahrhundert „von außen“ kapitalisiert worden. Die bürgerliche Gesellschaft habe sich dementsprechend, so hieß es nun, als „isoliertes separates Stück neben der [...] historischen ständischen Gesellschaftsstruktur“ angesiedelt, sei ein „koloniales Gebilde [...] und ein ‚Fremdkörper‘ in der all——————
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Társadalomtudomány (1940) 2, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 302ff.; FE: Magyar Város [Ungarische Stadt], Budapest 1939, bes. das Kapitel „Ungarische Städte“. Ortutay, Gyula, Magyarország felfedezése [Die Entdeckung Ungarns], in: Válasz (1936) 2, Wiederabdruck in Széchenyi (Hg.), Válasz, S. 311f. FE, Die stadtplanerischen Bezüge, abgedruckt in: Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 313. Stichwortartiges Vortragsmanuskript von 1938, abgedruckt in Gesammelte Werke FE: Geschichte (wie Anm. 9), S. 453f. FE: Bauerngesellschaft (wie Anm. 7), S. 32-39, 60f.
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gemeinen Struktur der Gesellschaft“. Die Kehrseite dieser Tatsache, die „Konservierung“ der Gesellschaftsformen bzw. -strukturen der ständischen Ordnung, die ihre Wurzeln auch in der vergleichsweise großen Distanz zwischen Adel und Volk hatte, wurde nun (auch) aus der historischen Fremdherrschaft der Habsburger erklärt. Erdei deutete die so entstandene „Doppelheit“ zwischen „Produktionsverhältnissen“ und verblockter „Gesellschaftsstruktur“ nun als Ausdruck einer „Phasenverschiebung“, die sich als sehr dauerhaft erwiesen habe. Im Ergebnis standen bürgerliche und ständische Struktur als „je getrennt stehenbleibende Gesellschaftsentwicklungen“ der Bauerngesellschaft gleichermaßen fremd gegenüber: „So wie die Lebensform der Herren historisch gewachsen ist, und der Welt der unteren Gesellschaft entgegensteht, so ist die städtische bürgerliche Lebensform aus europäischen Beispielen gewachsen; indes stellt sie gegenüber der bäuerlichen Existenzform eine ebenso schwebende obere Welt dar.“23 Die Arbeiterschaft bildete demgegenüber, ungeachtet all ihrer Besonderheiten im Vergleich mit der Arbeiterklasse im Westen, als unterste der im Prozess der Verbürgerlichung entstandenen Schichten einen organischen Teil der bürgerlichen Struktur (und schritt zugleich als „Klasse der Bewegung [...] mit formender Absicht auf den Stufen der Entwicklung“ fort).24 Die Bauerngesellschaft war und blieb demgegenüber eine ausgeschlossene „Bauern-Unterwelt“, deren fehlende Teilhabe am Prozess der Verbürgerlichung die zentrale Problematik der ungarischen Gesellschaft darstellte. In der politischen Weltsicht von Erdei fiel diese Konstellation in eins mit dem Ruf nach dem Aufstand gegen das stigmatisierende „Bauer“-Dasein, welches ein revolutionäres Potential darstelle, das es (so) im Westen nicht gebe. Beides hatte er schon in den Briefen von Anfang 1936 klar zum Ausdruck gebracht: „[W]as ich hier aus der Nähe durchlebt habe, dem ist der Kampfesruf entsprossen, daß wir nicht Bauer sein dürfen. [...] Diese Qualität muß vom Erdboden getilgt werden!“ Während die Revolution im Westen, aufgrund der erfolgreichen Integration auch der Bauern in die bürgerliche Gesellschaftsstruktur, „keinen Sinn“ mache und „nicht möglich“ sei, stelle die sozial ungeklärte Stellung der Bauernschaft „bei uns und weiter östlich“ die „Quelle“ möglicher „bedeutender historischer Ereignisse“ dar. „Die fällige Revolution“, so schrieb Erdei schon am Beginn seiner Reise in den Westen an István Bibó, „ist unser osteuropäisches Privileg.“ Erst nach einem solchen grundsätzlichen Umbruch konnten dann die schon oder noch vorhandenen, „für die Ewigkeit geschaffenen [...] Kulturtaten“ des Bauerntums in den Aufbau einer vereinten besseren Gesellschaft eingebracht werden.25 In der ungarischen Gesellschaft der Zwischenkriegszeit habe die Krise der Bauernschaft dazu geführt, dass die verschiedenen, dem „Block“ der „Bauerngesellschaft“ angehörigen sozialen Gruppen jeden nur möglichen Fluchtweg einschlugen. Der beste Weg heraus aus dem stigmatisierenden Bauer-Dasein, die erfolgreiche Verbürgerlichung und damit Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaftsstruktur, war am weitesten fortgeschritten bei jenen Gruppen, die in den tanya-Strukturen der Tiefebene lebten, sowie bei der Bevölkerung von Dörfern „mit gutem Verkehrsanschluß“ oder in „Stadt—————— 23 FE: Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, abgedruckt in: Valóság (1976) 4, S. 23-30. 24 FE: Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, abgedruckt in: Valóság (1976) 5, S. 56ff. 25 FE: Brief an den jüngeren Bruder, 10. Januar 1936, abgedruckt in: Aus der Briefkiste von Ferenc Erdei. Briefe aus dem Westen; FE: Brief an István Bibó, 24. Dezember 1935, zit. nach TH (wie Anm. 3), S. 472; weitere Briefzitate in ebd., S. 485, 487; und die abgedruckten Quellentexte.
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nähe“ bzw. in den Gebieten mit bedeutender Industrieproduktion, großen Märkten und Handel. Als dekadent betrachtete Erdei demgegenüber das berüchtigte „egyk“-System, also die drastische Reduktion der bäuerlichen Nachkommenschaft, die ‚Folklorisierung‘ verschiedener Dörfer, und eine ganze Reihe anderer Erscheinungen.26 Die „sehr dauerhaft[e]“ Konstellation des „Übergangszustandes“ war auch dafür verantwortlich, dass die „je getrennt stehen bleibenden Gesellschaftsentwicklungen“ doch miteinander „in Kommunikation, Verbindung und Zusammenschluss“ traten. Im Ergebnis stellte darum die ungarische Gesellschaft eine „vielfältig zusammengesetzte Struktur“ dar, in der sich „die unendliche Reihe der Übergangsvarianten der sozialen Formen“ nebeneinander anordnete bzw. „in orientalischer Buntscheckigkeit“ miteinander vermengte. 27 Zu einer detaillierten Untersuchung und umfassenden Typologisierung dieser Gemengelagen kam Ferenc Erdei nicht mehr. Mit der Zeitenwende von 1944/1945 verlagerte sich der Schwerpunkt seiner Tätigkeit stärker in die Welt der Politik. Seit Dezember 1944 stieg er zur Leitfigur des linken Flügels der Nationalen Bauernpartei auf und trat früh als Vertreter einer Volksfrontpolitik in den Vordergrund. In dieser Phase befasste sich Erdei mit Fragen der Bodenreform und des bäuerlichen Genossenschaftswesens. Später wandte er sich den Problemen der staatssozialistischen Produktionsgenossenschaften und nationalen Agrarpolitik zu. Von 1949 bis 1953 war er Landwirtschaftsminister, von 1953 bis 1956 Justizminister, später wiederum Landwirtschaftsminister und schließlich stellvertretender Ministerpräsident. 1956 gehörte er zu jenem Teil der kommunistischen Eliten, der sich (zunächst) aktiv auf die Seite der Veränderung stellte. 1956 wurde er ordentliches Mitglied der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, über Jahrzehnte hinweg übte er in der Akademie Leitungsfunktionen aus. Seit 1957 war er Vorstand eines bedeutenden agrarwirtschaftlichen Forschungsinstituts. Fragen der Landes- und Stadtentwicklung und –planung, der Agrarentwicklung und des landwirtschaftlichen Genossenschaftswesens standen bis zu seinem Lebensende im Zentrum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. 1948 und 1962 erhielt er mit dem Kossuth-Preis die bedeutendste ungarische staatliche Auszeichnung für kulturelle und künstlerische Leistungen. Nach seinem Tod in Budapest am 11. Mai 1971 wurde Ferenc Erdei in seiner Heimat, der bis heute für ihre Zwiebelproduktion bekannten Agrarstadt Makó im äußersten Südosten Ungarns, beigesetzt. Auf seinem intellektuellen Weg durch das Ungarn der 1930er und frühen 1940er Jahre hatte sich Ferenc Erdei konsequent vom Bemühen um die wissenschaftliche und politische Verarbeitung persönlicher und kollektiver Erfahrung leiten lassen. Spätestens seit der Reise in den Westen zur Jahreswende 1935/1936 gehörte dazu neben der Kindheits- und Jugenderfahrung eines Lebens in Agrarstadt und tanya der ungarischen Tiefebene auch das Denken in Kategorien des gesellschaftsstrukturellen Unterschiedes und Vergleiches. Erst beides zusammen, und dazu das – lebenslange – Bestehen auf der Identifikation und intellektuellen wie politischen Solidarität mit jenen, die in einem Lande lebten, in dem „Bauer!“ den Ausschluss aus Kultur, Gesellschaft und Entwicklung bedeutete, ermöglichten den fundamentalen Beitrag Erdeis zur europäischen Ge—————— 26 All dies hatte Erdei schon in der Bauerngesellschaft, bes. S. 50-82, eingehend geschildert. 27 FE: Gesellschaft zwischen den beiden Weltkriegen, abgedruckt in: Valóság (1976) 4, S. 24f.
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sellschaftswissenschaft: eine Analyse der ungarischen Siedlungs- und Gesellschaftsstruktur, deren Perspektive von unten nach oben und vom Lokalen zum GesamtUngarischen in Europa gerichtet war. Erdeis wissenschaftliche und politische Leistung bestand dabei nicht zuletzt darin, dass er aus der Not der Abgrenzung von einer „westlich“ begründeten und auch in Ungarn tief verwurzelten hegemonialen Gesellschaftswissenschaft mit universellem Anspruch eine Tugend machte: die Tugend eines ebenso vergleichenden wie relationalen, empirischen wie typologisierenden, und auf einem inner-wissenschaftlichen Ort für Erfahrung und Interesse bestehenden Neudenkens ungarischer Gesellschaft. Quelle Nr. 3.5: Ferenc Erdei: Reisebriefe aus westeuropäischen Ländern (1936)28 Briefauszug 1: Ferenc Erdei, Brief an den Vater, 14. Januar 1936 Diese Offenbarung hat mich in Genf ereilt, weil ich hier um ersten Mal französischen Boden betreten habe [...]. Die Franzosen sind in jeder Hinsicht das Volk der Freiheit. Ich habe bis jetzt geglaubt im Besitz der Vollständigkeit des Lebens zu sein, also daß es von meiner menschlichen Souveränität abhängt, was und wie ich tue. Und hier mußte ich erfahren, daß die strahlendere Seite der Welt mir auf ewig verboten ist, weil ich durch Blut gebunden und ewigem Dienst verpflichtet bin. Ich bin Bauer! Dieser Begriff wurde für mich hier [...] zum niederdrückenden und brennenden Erlebnis. Ich bin Bauer, und deshalb schirmt ein Verbot das befreite und um seiner selbst willen funkelnde Leben gegen mich ab. Ich weiß gar nicht, welches konkrete Erlebnis diese Erschütterung in mir ausgelöst hat, vielleicht die Statue Rousseau’s, der ein Freiheitskämpfer war, vielleicht eine Frau, zur Schönheit um ihrer selbst willen verfeinert und jeder Fruchtbarkeit fernestehend, vielleicht das Gebäude des Völkerbundes, in dem soviel und so epochemachend ohne jede Anschaulichkeit gesprochen wird. Ich weiß nicht mehr, aber mein Schicksal habe sich so klar gespürt wie noch nie. Es geht hier nicht darum, ob ich mir solch ein Leben um seiner selbst willen wünschen würde [...] was mit schrecklicher Gewalt auf mich einstürzte ist, daß ich, selbst wenn ich so leben wollte, nicht so leben könnte [... – und] die Möglichkeit der Wahl ist eben doch der Gipfel des Lebens, und diese bleibt mir auf ewig versagt. Das ist das Bauernschicksal. Darum verstehe ich nunmehr die Rebellion, und deswegen, Vater, begreife ich Eure Rebellion in ihrer ganzen Tiefe.
Briefauszug 2: Ferenc Erdei, Brief an den jüngeren Bruder, 10. Januar 1936 Und der nächste Tag gehörte Bern. [...] [W]ährend ich die Stadt durchwanderte, durchstreifte ich auch ihr schönes historisches Museum, wo die spannende Kulturgeschichte der sichtbaren Oberfläche der Welt in schöner Reihe zu sehen ist, gotische Zimmer und Hauskapelle, RenaissanceWohnung, die Menschen und Werke der Aufklärung, der Barock, der französische Geist der verschiedenen Louis‘, italienische und niederländische Abbildungen, und im Keller Dokumente der
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Abgedruckt in: Huszár, Tibor, Történelem és szociológia. A cselekvő ember nyomában. Elvek és utak [Geschichte und Soziologie. Auf der Spur des handelnden Menschen. Prinzipien und Wege], Budapest 1979, S. 475f. (Briefauszug 1); Erdei Ferenc levelesládájából. Nyugati levelek Erdei Sándornak [Aus der Briefkiste von Ferenc Erdei. Briefe aus dem Westen an Sándor Erdei], Makó 1996 (Briefauszüge 2, 3 und 4). Auf die Wiedergabe von Hervorhebungen wurde ganz, auf die der Absätze teilweise verzichtet. Übersetzung der Briefauszüge durch Susan Zimmermann.
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Bauern, und in einem Flügel jene der exotischen Völker. Dies war das bisher einzige Museum, wo diese [Bereiche] auf eine solche Weise nebeneinander gestellt waren, und sofort stellte sich für mich heraus: ja, die Bewohner der bürgerlichen Sphäre haben eine Geschichte. Eine erinnerte und verknüpfte Vorgeschichte, und wir Bauern haben nur eine Vergangenheit. Das, was im Volkskundemuseum mit den Tschuktschen und den Menschenfressern zusammen gezeigt wird. Gerade jetzt befinden wir uns auf der Stiege, die herausführt aus der Volkskunde, und für dieses unser wirkliches 29 Hervortreten ist eine Revolution vonnöten! Hinzugefügt werden muß, daß es im Westen keine Bauern gibt. Wie ich es sage: dort sind die Bauern landwirtschaftende Gewerbetreibende. [...] Daß der Bauer nicht nur eine Klasse ist, sondern ein eigenes Land, das habe ich endgültig hier verstanden. Und endgültig verstanden habe ich jetzt auch, daß ein Volk und eine Klasse, solange sie in ihren Grenzen ruhig leben, keine Energie darstellen. Wenn sie im Zerfall begriffen sind, wenn sie etwas anderes sein wollen, dann stellen sie eine politische Energie dar, die fähig ist, jeden Stein hinwegzuwälzen.
Briefauszug 3: Ferenc Erdei, Brief an den jüngeren Bruder, 28. Januar 1936 Um die Sache ganz von Anfang zu beginnen, schreibe ich hier jene „Definition“ nieder, die ich [...] zunächst für den Werkstattgebrauch „geschaffen“ habe: demgemäß wäre der Bauer das folgende: eine im Dorf, im Außen-Einzelgehöft [ung: tanya] und in der Agrarstadt wohnende, gesellschaftliche Gruppe der Landwirtschaftenden und Arbeitenden (dies nenne ich Bauerngesellschaft – im allgemeinen bedeutet Gesellschaft allezeit den gesamten Zusammenhang, niemals eine Schicht, und es muß ein guter Grund dafür vorhanden sein, es zu wagen, eine Gruppe als Gesell[schaft] zu bezeichnen; auf der Basis solch guten Grundes [sage ich] „Ungarische Gesellschaft“ und „Bauerngesellschaft“, und den Ausführungen über all diese Dinge habe ich den Titel gegeben: „Gesellschaft in der Gesellschaft“ [...]), die in einer durch äußere und innere Konventionen (so werden die Regeln, gemäß derer jede Gesell[schaft] organisiert ist: Recht, Gewohnheit usw. genannt) zusammengehaltenen Einheit gemäß einer eigenen Zivilisation und eigenen Kultur lebt (Bauernkultur!), in ständigem und auf außergewöhnliche Weise organisiertem Verkehr mit den übrigen Gruppen der Gesellschaft [...]. Es erscheint als [...] endgültige Gewißheit, daß das Bauerntum eine Kultur geschaffen hat, die auf besonderen Prinzipien und besonderen Regeln beruht, und diese lebt als Fremdkörper, wenn auch nicht isoliert, im Gewebe der anderen Kultur. Daß [dies so ist], dafür sei bei dieser Gelegenheit nur unser beider Leben in den Zeugenstand gerufen, haben wir doch beide, trotz all der Offenheit unserer individuellen Wege, die Fäden, die uns an die Treue zu dieser Gruppe binden, und die Nabelschnur der Kultur nicht zerreißen können. [Des weiteren] ist es eine nicht vertuschbare Wahrheit, daß die Bauerngesellschaft, ungeachtet ihrer lebenstüchtigen und zu entwickelnden zivilisatorischen Werte, als Ganze ausgebeutet und zu Grunde gerichtet ist, und dieser Zustand verlangt auf jeden Fall rasche Befreiung. Hier wiederum will ich nur auf das Leben unseres Vaters verweisen. Doch die letzte Wahrheit ist, daß das Bauerntum Prinzipien der Gesellschaftsorganisation und Kulturtaten produziert hat, die über die Grenzen aller Kulturen hinweg für die Ewigkeit geschaffen sind [...] Und zur Beglaubigung dieser These rufe ich unsere Mutter ins Gedächtnis. Und als Konsequenz der Wahrheiten sehe ich den Aufstand der Gruppe und all ihrer Mitglieder gegen die eigenen Grenzen als Programm, und darüber hinaus den Einbau der Beispiele der [bäuerlichen] Kultur in jene kommende, alles in Eins fassende Kultur.
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In einem weiteren Brief aus derselben Zeit, und ebenfalls an den Bruder gerichtet, zählt Erdei ganz konkret die Schweiz, Holland, Dänemark, England, Skandinavien, und einige außereuropäische Länder auf, deren Verhältnisse dieser Beschreibung entsprächen. Vgl. den abgedruckten Originaltext dieses Briefes in Huszár, Történelem és szociológia (wie Anm. 28), S. 482.
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Briefauszug 4: Ferenc Erdei, Brief an den jüngeren Bruder, 17. Februar 1936 [A]ngerufen durch den Befehl entstammend der weisen Allwissenheit des Engels des Herren, finde ich in dieser Sache gegenwärtig keine Ruhe mehr. [... J]etzt, wo ich mich schon einüben würde in mein Joch will [der Herrgott] mir zureden, doch noch einmal nachzuschauen, und da gibt es mein Joch gar nicht! Das ist nur Phantasie [...]: Bauer? Eine irgendwie gleichartig umgrenzte Menschengruppe, nicht wahr, die nach innen lebt [...]. Nach außen ist wichtig, daß sie unten ist [...] [Aber war] unser Leben auch nur einen einzigen Augenblick lang bäuerlich gesichert? [...] Ist es ein Bürgeroder ein Bauernleben, Deines oder meines oder das unseres Vaters, oder ist es etwas ganz anderes? Die Schläge welcher Seite kennst Du besser, in welchem der beiden Leben fühlst Du Dich mehr zuhause, in welchem bist Du mehr abgeklärt? Oder war überhaupt eines von beiden für Dich mehr als eine vergängliche, lernende Möglichkeit und Gelegenheit? Nein, mein teurer guter Bruder, hier gibt es kein Dogma! Du mußt verstehen, hier gibt es kein Dogma!
Literatur Huszár, Tibor, Ferenc Erdei. Portrait of a Sociologist, in: Ders. (Hg.), Ferenc Erdei. Selected Writings, Budapest 1988, S. 389-407 Ders., Történelem és szociológia. A cselekvő ember nyomában. Elvek és utak [Geschichte und Soziologie. Auf der Spur des handelnden Menschen. Prinzipien und Wege], Budapest 1979 Sipos, Levente; Tóth, Pál Péter (Hg.), A népi mozgalom és a magyar társadalom. Tudományos tanácskozás a szárszói találkozó 50. évfordulója alkalmából [Die populistische Bewegung und die ungarische Gesellschaft. Wissenschaftliche Konferenz zum 50. Jahrestag der Konferenz von Sárszó], Budapest 1997
DER ERBFEIND ALS NACHBAR. FRANZÖSISCH-DEUTSCHE WAHRNEHMUNGEN 1 DER 1950ER JAHRE Von Christoph Conrad Das deutsch-französische Verhältnis weist eine reichhaltige Geschichte gegenseitiger Wahrnehmungen, Charakterzuschreibungen und Stereotypen auf. In der Tat lässt sich diese „histoire croisée“ als eine Verschränkung von Verfeindung und Anfreundung, Verteufelung und Bewunderung schreiben. Was für die Vordenker des Nationalismus im 19. Jahrhundert eine Binsenweisheit war, musste die historische Forschung erst wieder entdecken, nämlich dass sich ohne diesen ständigen Bezug auf den Anderen die eigene Identität nicht entwerfen ließ.2 Aber wie merkt man, dass sich in der Einstellungsmatrix etwas ändert? Wie stellt man fest, ob diese wechselseitigen Vorstellungen auf Annahme und Unterstützung in der breiteren Bevölkerung stoßen? Um sich solchen Fragen zu nähern, bietet sich die Demoskopie, das heißt die standardisierte Erhebung von Einzelmeinungen in repräsentativen Querschnitten der Bevölkerung, als privilegierte Quelle an: „Wenn wir den Umfragen Glauben schenken dürfen, so betrachtet Frankreich heute Deutschland als einen der vertrauenswürdigsten oder sogar vertrautesten Nachbarn. Auch für die Deutschen gehören die Franzosen zu den Nachbarn, die ihnen am nächsten stehen und auf die sie sich am meisten verlassen.“3. Dieser Befund vom Ende der 1980er Jahre weist auf eine grundlegende Abwendung von den distanzierten und feindseligen Haltungen hin, die vermutlich lange Zeit dem normalen Verhältnis zwischen diesen beiden Gesellschaften entsprachen. Historiker von heute und Meinungsforscher von gestern treten hier in einen Dialog ein, dem die Zeitgeschichte bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt hat. Nicht nur die Inhalte, sondern auch die Frage, wie solche Durchschnittsurteile und kollektiven Repräsentationen hergestellt und verbreitet werden, sollten zum Gegenstand historischer Betrachtung avancieren. Sowohl die Messung von Überzeugungen als auch die Überzeugung durch Messungen spielen in der Interaktion von Politik, Medien und Bürgern eine wichtige Rolle. Zusammen genommen können Inhalte und Verwendungsweisen der Demoskopie Einblick gewähren in den kurz- und mittelfristigen Einstellungs- und Wertewandel. Gleichzeitig liefern sie Bausteine für eine Geschichte der europäischen Öffentlichkeit – also einer Instanz, deren Existenz bekanntlich ebenso umstritten ist wie ihre Wirkungsweise unbekannt. Für die vergangen drei Jahrzehnten beruhen Aussagen wie die oben zitierten auf den Ergebnissen der „Eurobarometer“, das heißt der seit 1974 im Auftrag der Europäi—————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 3.6, „Deutschland: noch immer der Erbfeind?“ Ergebnisse französischer Umfragen aus den Jahren 1954/56. Zur wechselseitigen Identitätskonstruktion im 19. Jahrhundert vgl. Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992. Kaelble, Hartmut, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991, S. 9.
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schen Kommission erhobenen und ausgewerteten Umfragen. In diesen Erhebungen, und dazu gehört auch ein Vorläufer von 1970, ist der Bevölkerung einer Reihe von Mitgliedsländern wiederholt eine besondere „Vertrauensfrage“ gestellt worden. Diese betraf zunächst ihre Einschätzung von sich selbst, darüber hinaus aber auch die von den Miteuropäern sowie von Amerikanern, Russen, Schweizern und anderen Nichtmitgliedern. Als Zeitreihen gelesen erlauben diese Umfragen folglich sowohl aktiv als auch passiv geschenktes Vertrauen im Wandel zu verfolgen. Dabei stößt man auf ein NordSüd-Gefälle, in dem die kleinen Länder Nordeuropas sowie die Luxemburger und Niederländer sowohl als besonders vertrauenswürdig gelten als auch selbst gern anderen vertrauen.4 Der generelle Vertrauenszuwachs innerhalb Europas und – darin eingebettet – die besonders positive Entwicklung der wechselseitigen Einschätzung von Deutschen und Franzosen zeigt sich in den Eurobarometern in aller Klarheit. Eng beieinander liegen die beiden Länder etwa in der Mitte zwischen den beliebten Völkern und den eher misstrauisch beurteilten (und beurteilenden) Mittelmeerländern. Die Verlängerung der Serie bis zum Ende der 1990er Jahre lässt jedoch einen gewissen Rückschlag der positiven Einschätzungen Deutschlands in Frankreich und Europa im Gefolge der deutschen Einheit erkennen. Wie aber sah es vor diesem Vertrauensboom, in der Nachkriegszeit und der Periode der deutsch-französischen Annäherung Mitte der 1950er Jahre aus? Mit Hilfe einer im Folgenden in Auszügen wiedergegebenen Quelle5 mit Umfragen aus der Zeit vor den Eurobarometern seien Grundzüge der französischen Haltungen und ihre Rezeption in der Bundesrepublik skizziert. Die seit 1956 erscheinende Monatszeitschrift „Die politische Meinung“ nahm in ihre dritte Nummer eine kommentierte Übersetzung eines französischen Artikels auf, der Umfrageergebnisse über die Haltungen zu Deutschland wiedergab. Die Gründung der deutschen Zeitschrift war – so sollte man erst in ihrer 100. Nummer erfahren – von dem CDU-Bundestagsabgeordneten und Mitinhaber des Instituts für Demoskopie Erich Peter Neumann in Zusammenarbeit mit dem Staatssekretär im Bundeskanzleramt Otto Lenz initiiert worden. Die Redaktion war also günstig platziert, um auch in Zukunft auf Hintergrundberichte aus der demoskopischen Forschung zurückzugreifen. Kein Wunder, dass die deutschen Spezialisten dem übersetzten Artikel einige methodenkritische Anmerkungen voranstellten; unter anderem bemängelten sie die fehlenden Angaben zu den Stichproben und die zum Teil ungenaue Wiedergabe der Fragen. Der ausgewählte Quellentext spiegelt mehrere Ebenen der Herstellung empirischer Daten und deren journalistischer Verarbeitung. Am Anfang steht eine Reihe von Umfragen, die einer der Pioniere der französischen Demoskopie, das „Institut français d’opinion publique (IFOP)“ unter Leitung des Soziologen Jean Stoetzel, in der Nachkriegszeit durchgeführt hat. Das französisch-deutsche Verhältnis stand insbesondere im Mittelpunkt von zwei aktuellen Umfragen vom Juli 1954 und Mai 1956. Ein „beinahe sensationell aufgemachter“ Artikel aufgrund der genannten Daten erscheint ohne Auto—————— 4 5
Delhey, Jan, Nationales und transnationales Vertrauen in der Europäischen Union, in: Leviathan 32 (2004), S. 15-45. Deutschland: noch immer der Erbfeind? Ergebnisse einer Enquête in Frankreich, in: Die politische Meinung. Monatshefte für Fragen der Zeit 1 (1956), Heft 3, S. 73-82; vgl. Quelle Nr. 3.6.
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renangabe im französischen Monatsmagazin „Réalités“, das seit 1946 erscheint.6 Sein Chefredakteur, Alfred Max, gilt wegen der Gründung des „Centre d’études de l’opinion publique“ (1939) als der zweite Pionier der Meinungsforschung in Frankreich; er arbeitete nach Kriegsende mit Jean Stoetzel bei IFOP zusammen und gestaltete Réalités nach dem Vorbild des amerikanischen Magazins Fortune als Lifestyle- und Meinungsmagazin für die modernen oberen Mittelschichten. Fragen der öffentlichen Meinung waren für ihn ein wesentliches Gebiet des anspruchsvollen Journalismus – ein Gebiet, in dem die Presse zudem ihre eigenen Nachrichten erzeugen sowie den Erwartungen der politischen Klasse entgegenkommen konnte.7 An einigen Stellen nimmt der französische Artikel auch Bezug auf deutsche Umfragen, die ihrerseits die Haltung zu Frankreich betreffen. Ihr Urheber, das EMNIDInstitut, gehört wie das IFOP dem internationalen Verbund der Gallup-Institute an, durch deren transatlantische, zum Teil weltweite Zusammenarbeit bereits in den 1950er und 1960er Jahren gleiche Erhebungen in mehreren Ländern unternommen werden können.8 Im Nachkriegsdeutschland war es zunächst vor allem die westalliierte, insbesondere amerikanische Militäradministration, die Bevölkerungsumfragen systematisch anwandte. Gefördert von den Besatzungsbehörden übernahmen dann zunehmend private deutsche Institute – wie DIVO (Frankfurt), EMNID (Bielefeld) und das Institut für Demoskopie (Allensbach) – die Dauerbeobachtung der Gesellschaft. Anders als in Frankreich, wo man sich erst mit der Regierungsübernahme Charles de Gaulles 1958 intensiv für den politischen Nutzen dieser Methoden zu interessieren begann, hatte die Bundesregierung bereits Ende 1950 eine regelmäßige Unterrichtung durch zwei konkurrierende Institute in Auftrag gegeben. Die so auch auf deutscher Seite in großer Zahl vorliegenden Umfragen über das Verhältnis zum Nachbarn jenseits des Rheins lassen ein Spiegelbild des mangelnden Vertrauens erkennen. Im Juli 1956 antworten die Deutschen auf die Frage der Allensbacher Interviewer „Glauben Sie, dass Frankreich heute den guten Willen zur Zusammenarbeit mit uns hat?“ noch mit 27 Prozent Nein und 24 Prozent Ja (bei 26 Prozent teilweise), während dieser Wille von 46 Prozent auf Seiten Amerikas und von 30 Prozent auf Seiten Englands angenommen wird. Auch hier stieg allerdings die Zustimmung gegenüber Frankreich bereits seit Juni 1952 (12 Prozent Ja) an und nahm die gegenteilige Überzeugung noch deutlicher ab.9 —————— 6 7 8
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La France a-t-elle pardonné? La première analyse exhaustive de ce que les Français pensent des Allemands, in: Réalités 126 (1956), Juli, S. 55-62. Blondiaux, Loïc, La fabrique de l’opinion. Une histoire sociale des sondages, Paris 1998, S. 292f., 299ff., 472. Die dank des Gallup-Netzwerks möglichen Vergleiche lassen die besondere Stärke der französischen Antipathie erkennen: 1950 empfanden nur 3 Prozent der Franzosen, aber immerhin 21 Prozent der Norweger und 29 Prozent der Niederländer Sympathien „mit dem deutschen Volk“. Die späteren IFOP-Umfragen zeigen allerdings auch, wie sehr Mitte der 1950er Jahre ein Umschwung in den Haltungen eingeleitet wurde, vgl. von dem damaligen Chef von EMNID: Stackelberg, Karl-Georg von, „Alle Kreter lügen“. Vorurteile über Menschen und Völker, Düsseldorf 1965, S. 78ff. Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, hg. von Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, Allensbach 1956, S. 345; Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, S. 337.
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Schon die Formulierung der Fragen und die Art der Annäherung an problematische Themenkreise zeigen auch Unterschiede im Umgang mit der unmittelbaren Erfahrung des Weltkrieges und der Besatzung. Auf französischer Seite geht die hier dokumentierte IFOP-Umfrage von 1954 direkt auf die Opfer und Leiden ein: „Infolge der Kriege gegen Deutschland (1914 bis 1918, 1939 bis 1945) haben von 100 Franzosen: 24 Prozent einen sehr nahen Verwandten verloren; 28 Prozent Zerstörungen, Plünderungen oder schwere Beschädigungen ihrer Wohnungen erlitten; 19 Prozent sind selbst verwundet oder in ihrer Gesundheit geschädigt worden.“10 Auf deutscher Seite wird in einer Allensbach-Umfrage, zum Beispiel vom Juni 1950 die Nachkriegserfahrung angesprochen: „Wie waren – einmal ganz allgemein gesagt – Ihre Erfahrungen 1945 bei der Besetzung?“ Diejenigen, die im Falle der Besetzung durch französische Truppen, „schlecht“ angeben, machen 65 Prozent aus – sie werden nur von den 95 Prozent aus der sowjetisch besetzten Zone übertroffen.11 Ein Aspekt der Kriegserfahrung selbst erscheint dagegen verklausuliert unter der Frage „Waren Sie eigentlich schon einmal im Ausland?“, worauf im Juli 1952 70 Prozent der Männer antworten „Ja, in Kriegszeiten“ und 70 Prozent der Frauen „Nein, nie“. Spitzenreiter bei den ‚Reisezielen’ der Männer ist Frankreich mit 51 Prozent noch vor Russland mit 37 Prozent.12 Der Reichtum an verfügbaren Daten verführt den heutigen Historiker, sich in das Spiegelkabinett der historischen Meinungsforschung hineinziehen und sich von den vielfältigen Perspektiven anregen zu lassen. Vergessen wir jedoch nicht, dass die hier zitierten Befunde veröffentlicht worden sind, wenn nicht sofort, dann doch mit nur wenigen Jahren Abstand. Im Sommer 1956, dem Erscheinungsdatum des Quellentextes, trug dieses Meinungsbild, seine Auswahl, seine Kombination und seine Kommentierung sowohl in Frankreich als auch in Deutschland zum politischen Tagesgeschehen bei, das vor allem durch die Lösung der Saarfrage gekennzeichnet war: In der Volksbefragung vom 23. Oktober 1955 hatten fast 68 Prozent der Saarbevölkerung ein europäisches Statut für ihr Land abgelehnt; am 4./5. Juni 1956 einigten sich Guy Mollet und Konrad Adenauer auf die Eingliederung des Saargebiets in die Bundesrepublik, und am 27. Oktober desselben Jahres konnte der deutsch-französische Vertrag über die Regelung der Saarfrage unterzeichnet werden. Das Insistieren auf den starken Vorbehalten und frischen Kriegserinnerungen der französischen Bevölkerung in der Quelle trägt eine interessante Grundierung zu diesen Ereignissen bei. Die Art, wie die Ergebnisse präsentiert sind, und vor allem die hier wiedergegebene Passage, die auf die positiveren und offeneren Perspektiven der jugendlichen Befragten eingeht, lassen folgende Interpretation zu: Sowohl Réalités als auch Die politische Meinung standen ihrer jeweiligen Regierung nahe, die deutsche Zeitschrift war direkt mit der CDU verbunden. Der Artikel unterstützte den sich in den 1950er Jahren abzeichnenden Durchbruch in den deutschfranzösischen Beziehungen dadurch, dass er gerade auf die Bedeutung der negativen Einstellungen und die erst relativ tastenden Ansätze zu ihrer Überwindung hinwies. Dabei sollten offenbar unterschiedliche Lesergruppen angesprochen werden: In Frankreich zielte man auf die abwartende bis feindliche Mehrheit, die ihre Erfahrungen gespiegelt —————— 10 Enquête (wie Anm. 5), S. 75. Bei dieser Frage waren Mehrfachantworten möglich. 11 Jahrbuch 1947-1955 (wie Anm. 9), S. 146. 12 Ebd., S. 49.
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fand und sich so beruhigter gegenüber der Verständigung aus Vernunftgründen öffnen konnte. In Deutschland erinnerten die offen gelegten französischen Einstellungen an die Tiefe des zu überbrückenden Grabens und wandte sich so an diejenigen, die der Auffassung waren, dass Adenauer zu viele Zugeständnisse machte. Dürfen wir „den Umfragen Glauben schenken“? Sicher, wenn wir sie dazu nutzen, Fragestellungen zu entwickeln, Tendenzen zu identifizieren und Umbruchperioden zu lokalisieren. Statt fertiger Antworten geben die demoskopischen Daten Einblicke in die Bedingungen und Bausteine von Meinungsbildung und Öffentlichkeit. In der hier betrachteten Periode besonders intensiver bilateraler und europäischer Politik führen sie uns die Verflüssigung vorgeblich erstarrter nationaler Vorurteile vor. Im Kontext gelesen erlaubt die Quelle Schlüsse in drei Richtungen: Erstens ist auch die Zeit vor dem deutsch-französischen Vertrauensboom der späten 70er und 80er Jahre bereits durch deutliche Verschiebungen in der Wertigkeit und Intensität der gegenseitigen Urteile gekennzeichnet. Zweitens ist das bilaterale Verhältnis eng mit den realen und imaginierten Beziehungen zu den anderen Partnern und Konkurrenten in Europa und der Welt verknüpft. Das neue Feindbild Sowjetunion lässt die alten Gegner in zunehmendem Maße vertrauenswürdig erscheinen. Drittens zeigt sich in der Entstehungsgeschichte der Quelle, dass die ‚öffentliche’ Meinung erst durch die mediale Diffusion ihre volle potentielle Wirksamkeit erreicht. Quelle Nr. 3.6 „Deutschland: noch immer der Erbfeind?“ Ergebnisse französischer Umfragen aus den Jahren 1954/5613 Die Zeitschrift „Réalités“ veröffentlicht in ihrem Juli-Heft unter dem Titel „Hat Frankreich verziehen?“ Ergebnisse von Umfragen des „Institut Français d’Opinion Publique“, in denen die Einstellung der Franzosen zu Deutschland und den Deutschen behandelt wird. Diese große, ja beinahe sensationell aufgemachte Publikation erscheint uns in mehrfacher Hinsicht so interessant, daß wir sie im Wortlaut wiedergeben. Sie vermittelt einen guten Eindruck von den Schwierigkeiten, denen eine Politik des Ausgleichs zwischen den beiden Völkern in Frankreich begegnet. Wir erfahren, welche Kraft das Ressentiment drüben noch immer entfaltet, und wir sehen, daß das Bedürfnis, die Deutschen besser kennenzulernen, nicht eben sehr verbreitet ist. [...] „Neue Besprechungen über einen gemeinsamen europäischen Markt, Unterhaltungen über Euratom, Verhandlungen über die Saar, wiederholte Begegnungen französischer und deutscher Minister ... Seit einigen Wochen bietet sich eine neue Gelegenheit, die deutsch-französischen Streitigkeiten zu liquidieren. Sind die Franzosen aber begierig darauf, gleichsam „Schwamm drüber“ zu sagen? Réalités hat es für unerlässlich gehalten, die Reaktionen der öffentlichen Meinung zu kennen. Eine Untersuchung vom Mai 1956 erlaubt uns festzustellen, daß der Wunsch einer Annäherung an Deutschland sehr verbreitet ist; denn 49 Prozent der Franzosen erklären sich dafür, gegenüber 35 Prozent, die sich dagegen aussprechen – ohne daß der Wunsch freilich so stark ist, wie er es 1954 gewesen sein mag, dem Jahr der halben Flitterwochen zwischen den beiden Ländern.
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Deutschland: noch immer der Erbfeind? Ergebnisse einer Enquête in Frankreich, in: Die politische Meinung. Monatshefte für Fragen der Zeit 1 (1956), Heft 3, S. 73-82. (Französische Vorlage: Réalités Nr. 126 (1956), Juli, S. 55-62).
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Christoph Conrad
Dieser Befund ist wichtig für die Ausarbeitung einer konsequenten Politik. Er bleibt aber unbefriedigend. Aus dem Wunsch, die Haltung der Franzosen gegenüber den Problemen, die von Deutschland und den Deutschen gestellt werden, zu psychoanalysieren, hielten wir es für angebracht, alles Material zusammenzustellen, das seit 1945 über diesen Gegenstand entstanden ist, Material, das bisher nicht veröffentlicht wurde. Der wichtigste Beitrag ist ganz jungen Datums. Es handelt sich um eine Erhebung des Institut Français d’Opinion Publique aus dem Juli 1954. Unsere Studie gestattet uns, drei wesentliche Folgerungen zu ziehen: 1. Die Franzosen haben Deutschland gegenüber ein tiefes Ressentiment; 2. Trotz dieser Ressentiments geben sie die Notwendigkeit einer Verständigung zu; 3. Die jungen Jahrgänge begünstigen häufiger eine Verständigung als die anderen. [...] Wenn im Laufe eines Interviews zum ersten Mal das Wort „Deutschland“ auftaucht – anlässlich einer Frage, die ermittelt, ob man sich das Recht zuerkennt, über Deutschland und die Deutschen zu urteilen, werden spontan und zuweilen lebhaft dramatische Erinnerungen an Krieg und Besatzung wachgerufen. Die Mehrheit der Franzosen (56 Prozent) spricht sich das Recht zu, über die Deutschen zu urteilen. Das geschieht in der Hauptsache auf Grund dessen, was sie erlitten haben. [...] Aus den Aussagen der befragten Personen geht hervor, dass infolge der beiden Weltkriege von je zwei französischen Haushalten einer unter den Deutschen zu leiden hatte, daß zwei Männer von dreien die Waffe gegen Deutschland ergriffen und daß die Mehrzahl der Franzosen, die nach Deutschland gegangen sind, dies infolge militärischer Siege oder Niederlagen taten. [...] 1948 hielten die Franzosen noch die Deutschen für ihren Feind Nummer Eins. Von 100 befragten Franzosen bezeichneten 34 die Deutschen als Hauptfeind, 32 die Russen, 7 die Italiener, 6 die Amerikaner. Die anderen gaben keine genaue Antwort. (Zur gleichen Zeit hielten von 100 Deutschen 79 die Russen für den Hauptfeind, 3 die Polen, 2 die Franzosen, die anderen gaben keine genaue Antwort.) 1954 hat sich die Lage verändert: Von 100 Franzosen nennen 27 die Russen, 22 die Deutschen, 10 die Amerikaner, und nur 10 Prozent der Franzosen glauben, daß Deutschland eine Gefahr für den Frieden darstellt, während 56 die UdSSR nennen, 36 die Vereinigten Staaten, 14 China. [...] Die Hindernisse für eine deutsch-französische Annäherung liegen zum Teil in der Art, wie die Franzosen die deutsche Mentalität einschätzen. 1956 wie 1954 denkt mehr als ein Drittel der Franzosen, daß die Mentalität im heutigen Deutschland dieselbe ist wie zur Zeit Hitlers. Es ist freilich wahr, daß 31 Prozent der Franzosen im Jahr 1954 das Gegenteil dachten, und es sind 41 Prozent, die jetzt das Gegenteil denken. [...] Unter den Fehlern, welche die Franzosen den Deutschen am meisten vorwerfen, sind drei – der Militarismus, die Grausamkeit, der Mangel an moralischer Integrität –, die eine besondere Prüfung verdienen. [...] Zu allem, was wir bisher haben Revue passieren lassen, kommt ein Faktor hinzu, der uns auf lange Sicht eine Idee von der Entwicklung der Gefühle der Franzosen gibt: die Stellung der Jungen. Handelt es sich darum, die Deutschen besser kennenzulernen? Während die Mehrheit der Franzosen ihre Kenntnisse über Deutschland und seine Bevölkerung vervollkommnen sollte, bekunden die jungen Franzosen von 18 bis 24 Jahren, die den ersten Weltkonflikt nicht gekannt haben und während des zweiten noch ganz jung waren, Deutschland gegenüber ein viel ausgesprocheneres Interesse als die älteren Leute. Diese Haltung findet sich weniger stark, aber durchaus real, auch bei den Franzosen zwischen 25 und 34 Jahren. Handelt es sich darum, die Entwicklung der deutschen Mentalität zu beurteilen? Die Franzosen zwischen 18 und 35 Jahren haben klarer als die anderen den Eindruck, glauben zu können, die Mentalität unterscheide sich heute von der zur Zeit Hitlers. Die gebildeteren Franzosen meinen übrigens ebenfalls in großer Zahl, die Mentalität habe sich geändert. Handelt es sich darum, eine deutsch-französische Annäherung zu suchen?
Der Erbfeind als Nachbar
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Auch da sind wieder die Franzosen zwischen 18 und 35 Jahren zu 60 Prozent für eine solche Annäherung. Zusammengefaßt, wünschen die jungen Generationen, mit der Vergangenheit zu brechen, und nehmen Deutschland und den Deutschen gegenüber eine entschieden andere Stellung ein als die älteren Generationen. [...]“
Literatur Βlondiaux, Loïc, La fabrique de l’opinion. Une histoire sociale des sondages, Paris 1998 Delhey, Jan, Nationales und transnationales Vertrauen in der Europäischen Union, in: Leviathan 32 (2004), S. 15-45 Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1947-1955, hg. von Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, Allensbach 1956; Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1957, Allensbach 1957 Jeismann, Michael, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992 Kaelble, Hartmut, Nachbarn am Rhein. Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991 Stackelberg, Karl-Georg von, „Alle Kreter lügen“. Vorurteile über Menschen und Völker, Düsseldorf 1965
EUROPAZWEIFEL ALS KENNZEICHEN DES EUROPÄERS. DENIS DE ROUGEMONTS 1 INTELLEKTUELLE KONSTRUKTION EUROPAS Von Martin Kirsch Welche Rolle spielen aus heutiger Sicht die Überlegungen über die europäische Kultureinheit, mit denen der westschweizerische Europäer Denis de Rougemont 1959 den vom Briten Max Beloff verfassten Band über Europa und die Europäer einleitete? Inwiefern sind sie im Hinblick auf aktuelle Probleme, wie die politische Einigung Europas, die Erweiterung der Union um ein islamisch geprägtes Land, den Vorwurf des Eurozentrismus und der Ignoranz gegenüber Fragen der Globalisierung2, von Interesse? Mir erscheint es angesichts der nach wie vor in großen Teilen der europäischen Gesellschaft weit verbreiteten Skepsis gegenüber dem Elitenprojekt Europa sinnvoll, die Aufmerksamkeit für einen Moment auf diesen fast fünfzig Jahre alten Text zu lenken. Den Verfasser, Denis de Rougemont, mit einem Etikett zu versehen, fällt schwer. Der Lebensweg führte den 1906 im schweizerischen Kanton Neuchâtel in einem evangelischen Pfarrerhaushalt geborenen Schriftsteller, Gelehrten und Politiker nach Wien, Paris, Deutschland, die USA und schließlich endgültig nach Genf, wo er 1985 verstarb. Manche Autoren nennen ihn einen Schriftsteller, hat er doch diverse persönlich gefärbte Reise- oder, besser gesagt, Epochenbeschreibungen dieser Wanderung zwischen den unterschiedlichen Welten geschrieben. Er war nicht nur ein Pionier der EuropaHistoriografie bereits in den 1930er Jahren, sondern auch ein Wissenschaftsmanager, der über Jahrzehnte hinweg mit großem Erfolg das von ihm begründete Centre européen de la culture in Genf leitete. Nicht zu vergessen sei sein Engagement als Europapolitiker, erst als einer der führenden Köpfe der europäischen Föderalistenbewegung nach 1945, dann als Vordenker für die Einrichtung grenzüberschreitender autonomer Regionen in Europa. In dem 1959 publizierten Beitrag über Europa als Kultureinheit und die Passion der Europäer für Differenzierungen begegnen wir dem Historiker, Politiker und Intellektuellen Denis de Rougemont in verschiedenen Facetten; ein engagierter Intellektueller schreibt einen Essay über das Europäische des Europäers. Der Europarat hatte ihn aufgrund seines Europaengagements gebeten, den Vorsitz für zwei hochkarätig besetzte Gesprächsrunden (1953 und 1956) zu übernehmen, deren Ziel es war, das Thema „Europa und die Europäer“ aus unterschiedlichen Perspektiven der Geschichte, der Wirtschaft, der Politik, der Kultur und der Wissenschaft zu beleuchten. Die Ergebnisse dieser Diskussionen der Studiengruppe von 30 bis 40 Politikern und Wissenschaftlern arbeitete Max Beloff schließlich in die von ihm verfasste Monografie ein, die 1957 in —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 3.7, Denis de Rougement: Europa als Kultureinheit (1959). Vgl. zu diesem Vorwurf an die Adresse der Europahistoriker: Conrad, Sebastian; Randeria, Shalini, Einleitung. Geteilte Geschichten – Europa in der postkolonialen Welt, in: Dies. (Hg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2002, S. 10ff.
Europazweifel als Kennzeichen des Europäers
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Englisch und zeitversetzt in Deutsch, Italienisch und Portugiesisch erschien.3 Aufgrund seiner Entstehungsgeschichte als Gemeinschaftsarbeit kann man den Band von Beloff als ein „europäisches Buch“ betrachten. Warum schreibt nun de Rougemont ein Vorwort, wo er doch aktiv an der Diskussion teilgenommen hat und zudem Beloff selbst ein Kapitel zum „Problem der Definition“ Europas liefert? Legt man de Rougemonts Definition zugrunde, dass die Betonung der Differenz etwas typisch Europäisches sei, so führt er mit diesem Vorwort selbst den faktischen Beweis für seine Begriffsfassung. Als strikter Anhänger des Föderalismus als politischem Prinzip für ein zukünftiges Europa versucht er auf diese Weise, die Position des Engländers Beloff abzuschwächen, der nämlich im letzten Kapitel der Monografie den Begriff „föderativ“ für Europas politische Gestaltung ablehnt.4 Letztlich war diese Skepsis de Rougemonts gegenüber Beloff berechtigt, denn dieser betonte noch in seinem autobiografischen Rückblick aus dem Jahre 1992 den Gegensatz zwischen den Briten und den Kontinentaleuropäern; er argumentiert gegen die europäischen Gemeinsamkeiten einerseits aus der nationalen, anderseits aus der universalen Perspektive.5 Er verhält sich damit – so würde de Rougemont argumentieren – typisch „europäisch“, denn das Bestreiten des „Europäischen“ und die Neigung zum „Nonkonformismus“ seien geradezu grundlegende Kennzeichen des Europäers. De Rougemont argumentiert in seinem Vorwort in vielerlei Hinsicht „konstruktivistisch“. Hier scheint seine Erfahrung als Verfasser der Geschichte der Liebe in Europa – im französischen 1939 unter dem Titel L’amour et l’occident“ erschienen – auf, wo er zur Herausarbeitung europäischer Grundzüge nicht etwa Amerika oder die innereuropäischen Zustände, sondern das indische Beispiel als Vergleichsmatrix wählte.6 Der Blick von außen, also das Fremdbild, wird mit Hilfe des Kulturvergleichs dafür genutzt, das existierende Selbstbild zu beschreiben. De Rougemont blieb mit diesem kulturvergleichenden Ansatz eine Ausnahme der frühen Europa-Historiografie, denn diese nutzte die europäische Geschichte stärker zur positiven Selbstvergewisserung gegenüber den totalitären Bedrohungen seit den 1930er Jahren. Im weiteren Verlauf des Vorworts argumentiert de Rougemont als Historiker und hält dem Argument, dass Europa zu vielfältig sei, als dass es eine Einheit erreichen könne, entgegen, dass die starken regionalen Gegensätze die nationale Einigung in Frankreich, Deutschland, Italien und der Schweiz auch nicht dauerhaft verhindert hätten. Wenn de Rougemont versucht, sich dem Begriff der „Europäischen Kultur“ zu nähern, so zeigt er sich auch hier erstaunlich aktuell, denn er erweist sich gerade nicht als „eurozentrisch“. Er verweist selbstverständlich nicht nur auf die vielfältigen Ursprünge der europäischen Kultur, sondern gleichzeitig auf die große Bedeutung der außereuropäischen Einflüsse bei deren Entwicklung – eine Vorstellung, die Rémi Brague mit seiner These von Europas exzentrischer Identität zu Beginn der 1990er Jahre populär gemacht —————— 3 4 5 6
Beloff, Max, Europa und die Europäer. Eine internationale Diskussion, Köln 1959, S. 7f. (Vorwort) bzw. S. 5 (Gliederung des Buches). Ebd., S. 398. Beloff, Max, An historian in the twentieth century. Chapters in intellectual autobiography, New Haven 1992, S. 104ff. de Rougemont, Denis, Das Wagnis Abendland, München 1957, S. 17ff.; Ders., L’amour et l’occident, 3. Aufl., Paris 1972, S. 50ff. [Erstauflage 1939]
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Martin Kirsch
hat.7 De Rougemonts Kulturbegriff nimmt bisweilen essentialistische Züge an, etwa wenn er literarisch vom „weisen Asiaten“ oder dem „zu Magie neigenden Afrikaner“ spricht. Trotzdem zieht de Rougemont eine formale Definition von Kultur vor, wenn er davon spricht, dass die Gemeinsamkeit der Europäer als Gruppe nicht „an Hand ihres institutionellen Gerüstes definiert“ werden kann, sondern „nur durch ihre Lebensgewohnheiten, ihre Wertbegriffe, durch die besondere Bedeutung, die dem Leben beigemessen wird, der Liebe, dem Tode, den Beziehungen zwischen den Menschen, den Dingen, dem Körper, dem Geist“ begründet wird. Nimmt man diese aufzählende Definition ernst, so ergibt sich daraus ein durchaus aktuelles und längst nicht eingelöstes Forschungsprogramm für eine neuere Kulturgeschichte Europas. Dieser Kulturbegriff ließe sich meines Erachtens aber auch in der aktuellen Debatte nutzen, denn die heutige Frage, ob ein islamisch geprägtes Land wie die Türkei in die bisherige Europäische Union integrierbar sei, könnte mit Hilfe dieser Begrifflichkeit „gemessen“ werden.8 Hierfür müssten wir in einem ersten Schritt überhaupt klären, wie es in dieser Hinsicht um Europa steht, denn wir wissen ja bislang nur sehr grob, welche Wertbegriffe die Europäer heute in der längeren historischen Perspektive der letzten 50 bis 60 Jahre gemeinsam haben.9 Zu ihrer Haltung gegenüber den existentiellen Fragen wie etwa nach der Liebe, dem Tode oder den zwischenmenschlichen Beziehungen, der Bedeutung der Dinge und des Geistes wird man gesamteuropäische Aussagen schon deshalb kaum treffen können, weil uns für die Zeit bis 1989 für diejenigen Länder Ostmittel- und Südosteuropas, die zum sozialistischen Staatensystem gehörten, die entsprechenden soziologischen Untersuchungen weitgehend fehlen. Dementsprechend müsste in einem zweiten Schritt erst noch gezeigt werden, dass es zwischen der türkischen und der gesamteuropäischen Kultur unüberbrückbare Unterschiede gäbe, was angesichts der umfangreichen Europäisierung der Türkei in den Bereichen Wirtschaft, Recht und teilweise auch Politik meines Erachtens zu bezweifeln sein dürfte. Auch die Forderung de Rougemonts, dass eine europäische Politik nicht ohne eine europäische Kultur gelingen könne, da sich Politik und Kultur so wie Form und Inhalt zueinander verhalten würden, ist bislang weitgehend uneingelöst geblieben. Auch wenn wir der föderativen Lösung – wie sie de Rougemont immer propagiert hat – mit der Verabschiedung einer Verfassung für Europa im Jahre 2004 einen deutlichen Schritt näher gekommen sind, so wird diese nur auf Dauer mit Leben gefüllt werden, wenn sie die kulturelle Ergänzung erhalten wird, die de Rougemont nicht müde wurde, sein Leben lang zu betonen. Es kann dabei nicht um eine zentralistische Gleichmacherei gehen, sondern darum, die Dynamik der Vielfalt Europas zu nutzen. —————— 7 8
9
Brague, Rémi, Europa. Eine exzentrische Identität, Frankfurt am Main 1993 [zuerst Französisch 1992]. Der Autor dieser Zeilen hält den Maßstab „Kultur“ für die Integrationsfähigkeit islamischer Länder nur für einen unter mehreren, denn neben Wirtschaft und Politik müsste zudem auch das Recht berücksichtigt werden, wobei die Türkei gerade im Rechtswesen ein Land seit den 1920er Jahren war, dass sehr stark europäisches Recht – in den 1930/40er Jahren mit Hilfe der emigrierten Wissenschaftler – rezipierte und umsetzte. Therborn, Göran, Die Gesellschaften Europas 1945-2000. Ein soziologischer Vergleich, Frankfurt am Main 2000, S. 290ff.
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Quelle Nr. 3.7 Denis de Rougemont: Europa als Kultureinheit (1959)10 Tatsächlich gibt es nichts, was europäischer wäre als diese Zweifel und diese Skepsis – dieser Hang, Dinge immer wieder in Frage zu stellen, Platitüden abzulehnen und auf Unterscheidungen zu bestehen. Nichts ist kennzeichnender für eine Zivilisation, die keineswegs zufällig die parallelen Begriffe der „Originalität“ und des „Nationalcharakters“ geprägt hat und deren beste Köpfe seit je eine Art Passion für Differenzierungen pflegten – dies in einem Maße, daß sie ihre Differenzen für das eigentlich Erstrebenswerte hielten, so daß sie allesamt bereit waren, das zu ignorieren, was allen gemeinsam ist, was von jedem anerkannt wird und deshalb nicht ausgesprochen zu werden braucht. […] Die Neigung zum Nonkonformismus – ist sie nicht genau das, was der übergroßen Mehrheit der Europäer gleichermaßen eigen ist und was sie auf den ersten Blick nicht nur vor dem sowjetischen Menschen, sondern auch vor dem weisen Asiaten und dem zur Magie neigenden Afrikaner auszeichnet? […] Sollte der Europäer nicht tatsächlich jenes seltsame Wesen sein, das sich in genau dem Maße als Europäer offenbart, in dem es sein Europäertum bezweifelt und, im Gegenteil, den Anspruch erhebt, entweder mit dem Universalmenschen seiner Vorstellung oder mit einer der Komponenten des großen Europa-Ganzen identifiziert zu werden, als dessen Teil es sich durch die einfache Tatsache erweist, daß es das bestreitet? […] [S. 13] 1. Man braucht nur Europa zu verlassen, gleich in welcher Richtung, um die Realität unserer Kultureinheit zu spüren. Schon in den Vereinigten Staaten, in der Sowjetunion sofort und ohne jeden Zweifel in Asien werden Franzosen und Griechen, Engländer und Schweizer, Schweden und Kastilianer als Europäer betrachtet. Das muß seine Ursachen haben; und wenn ich mir das von allen Seiten her ansehe, dann kann ich keine bessere Ursache dafür finden als diese berühmte Kulturgemeinschaft, die sich all unseren Definitionen so leicht entzieht, die aber so schwer vor anderen Leuten zu verbergen ist. Von außen gesehen ist die Existenz „Europas“ augenscheinlich. […] 2. Ich habe wohl bereits vermerkt, daß jene Europäer, die mit dem größten Nachdruck auf die universelle Natur unserer Probleme verweisen und, davon ausgehend, dem zu einigenden Europa jede wirtschaftliche, soziale oder wissenschaftliche Eigenpersönlichkeit absprechen – daß jene Europäer oft die gleichen sind, die mit Hilfe einer Wendung um hundertachtzig Grad erklären, daß wir unseren alten Kontinent eben wegen der tiefwurzelnden Unterschiede, die unsere Nationen jahrhundertelang voneinander schieden, nicht einigen können. Wollte man diesen Europäern glauben, so gäbe es (jedenfalls was die jeweiligen Spezialgebiete dieser Leute betrifft) keine wesentlichen Unterschiede zwischen Europa und dem Kongo oder Kaschmir, während andererseits zwischen Briten und Franzosen, zwischen Franzosen und Deutschen – diese Reihe könnte man fortsetzen – unüberbrückbare Gegensätze bestünden. […] [3.] Die Nationalisten sagen uns, die Kontraste zwischen Deutschen und Franzosen, Isländern und Kontinentalen, Schweden und Griechen (um dabei nur von der Geographie, der neueren Geschichte und den Lebensgewohnheiten zu sprechen und Religion, Wirtschaft, politische Institutionen und ähnliches beiseitezulassen) schlössen jede Vereinigung aus und gäben uns Veranlassung, die Existenz einer Kultureinheit, also einer Basis für die Vereinigung, von vornherein in Zweifel zu ziehen. Zunächst jedoch haben die Unterschiede der Sprache, der Religion, der „Rasse“, die Unterschiedlichkeit der Lebensgewohnheiten und Lebensbedingungen zwischen den Bretonen und den Bewohnern des Languedoc, zwischen Friesen und Bayern, zwischen Piemontesern und Sizilianern,
—————— 10
de Rougemont, Denis, Einleitung, in: Beloff, Max, Europa und die Europäer. Eine internationale Diskussion, Köln 1959, S. 13, 15-17, 20-21, 22-23.
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zwischen dem katholischen Schafhirten Appenzells und dem protestantischen Bankier in Genf die nationale Einigung Frankreichs und Deutschlands, Italiens und der Schweizer Kantone nicht behindert – nicht stärker behindert, als die Einigung jene Unterschiede unterdrückt hat (und man könnte in diesem Zusammenhang darauf hinweisen, daß diese Länder ein Jahrhundert der Staatserziehung hinter sich haben, während niemand von einem Bundesstaat Europa je irgend etwas dieser Art erwartet hat). […] [S. 15-17] [6.] Oft war man versucht, das Vorhandensein einer echten „europäischen Kultur“ nicht nur mit dem Argument zu bestreiten, daß eine derartige Kultur schwer zu bestimmen ist, sondern auch damit, daß man mit der Vielfalt ihrer Ursprünge und mit der Bedeutung außerkontinentaler Einflüsse, denen sie ausgesetzt war, konfrontiert wird. Diese Argumente sind jedoch hier genauso stichhaltig wie gegenüber dem Konzept der „nationalen Kulturen“ aus dem neunzehnten Jahrhundert. „Was besitzt Ihr, das Ihr nicht empfangen habt?“, könnte Europa die Nationen fragen; die Antwort würde den Nationen schwerfallen. Sei sie spezifisch europäisch oder nicht – die Kultur Europas ist in jedem Falle älter als unsere Aufteilung in sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Nationalstaaten, die es bis jetzt noch nicht fertiggebracht haben, die sogenannte Autonomie ihrer Kulturen zu definieren. Tatsächlich kann keine schöpferische Realität in dieser Beziehung mit den zufälligen und oftmals sehr frischgezogenen Grenzen eines unserer Staaten identifiziert werden; und das gilt auch in einem anderen Sinne – wer kann nicht auf den ersten Blick sehen, daß die entscheidenden Dinge im zwanzigsten Jahrhundert aufgehört haben, nationale Angelegenheiten zu sein? […] [S. 20- 21] 7. Hier kommen wir in den Herrschaftsbereich der Politik, welche in meinen Augen nichts anderes ist als das Mittel, mit dessen Hilfe das Zusammenleben einer menschlichen Gruppe geordnet wird. Eine derartige Gruppe kann nicht an Hand ihres institutionellen Gerüstes definiert werden, sondern nur durch ihre Lebensgewohnheiten, ihre Wertbegriffe, durch die besondere Bedeutung, die dem Leben beigemessen wird, der Liebe, dem Tode, den Beziehungen zwischen den Menschen, den Dingen, dem Körper, dem Geist und der Zeit – kurz, durch eine Kultur in dem Sinne, in welchem ich das Wort gebrauche. Zwischen Politik und Kultur, beide im angegebenen Sinne begriffen, sollten Beziehungen wie zwischen Form und Inhalt bestehen. Eine Vereinigungspolitik kann man erst dann betreiben, wenn man mit einer Kultureinheit zwischen jenen, die man einigen möchte, beginnen kann. Diese Politik wird späterhin nur Wert haben, wenn sie das, was in dieser Gemeinschaft schöpferisch ist, zum Ausdruck bringt und zu bewahren sucht. Ich schließe daraus, daß die politische Gestalt, die eine echte europäische Union haben müßte, nur föderativ sein kann. Denn unsere Gegensätze bilden die reichste Quelle unserer schöpferischen Kraft – in dem Maße natürlich, in welchem sie weder isoliert noch zu einem nebelhaften Etwas vermengt werden, sondern in einem Zustand der Spannung bleiben, autonom und doch miteinander verbunden. Dieses dynamische Gleichgewicht, das stets in Gefahr ist, diese an den Tatsachen orientierte und subtile Kunst, zwischen der Charybdis eines engstirnigen Partikularismus und der Scylla eines alles gleichmachenden Zentralismus zu manövrieren, ist das Geheimnis eines gesunden Europa. An diesem Punkte vereinigen sich Kultur und Politik in der einen gemeinsamen Forderung: der Forderung nach einer föderativen Union unserer Völker. […] [S. 22-23]
Literatur Ackermann, Bruno, Denis de Rougemont. Une biographie intellectuelle, 2 Bde., Genf 1996 Benzoni, Maria Matilde, Il Consiglio d’Europa e la communità degli storici: dalla discussioni del 1952-56 alle richerche di Beloff, Renouvin, Schnabel e Valsecchi, in: Dies.; Vigezzi, Brunello (Hg.), Storia e storici d’Europa nel XX secolo, Mailand 2001, S. 35-82
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Duchhardt, Heinz, Europa-Diskurs und Europa-Forschung. Ein Rückblick auf ein Jahrhundert, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 1-14 Kirsch, Martin, Europäische Historiker im Exil: zur historiographischen (Re-)Konstruktion Europas und die Erfahrung der Schattenseiten der „Moderne“ (1930er – 60er Jahre) in: Ranft, Andreas; Meumann, Markus (Hg.), Traditionen – Visionen. 44. Deutscher Historikertag in Halle an der Saale vom 10.-13. September 2002. Berichtsband, München 2003 de Rougemont, Denis, Œuvres complètes, Bd. 3: Écrits sur l’Europe, 2 Teilbde., hg. v. Christophe Calame, Paris 1994
MILAN KUNDERA UND DIE RENAISSANCE ZENTRALEUROPAS1 Von Philipp Ther Gelegentlich haben europäische Intellektuelle Visionen von Europa, die sich als prophetisch erweisen. So ist es im Falle Milan Kunderas, einem der großen tschechischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Er hatte 1983 Vorstellungen von Europa, die durch den EU-Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten 2004 zur Realität wurden. Sein Text zeigt das klare Bewusstsein, dass Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei eigentlich zum westlichen Kulturkreis Europas gehören. Diese mentale Orientierung auf den Westen Europas war einer der Pfeiler des Widerstandes gegen die von Moskau gesteuerten Regimes. Daher bedeutete der Diskurs über Zentraleuropa keine Nostalgie zum Habsburgerreich, sondern war ein Versuch, über ein neues „Mental Mapping“ zur Veränderung der politischen Karte Europas beizutragen.2 Kundera trägt diese Vorstellungen vordergründig als Hilferuf und Anklage an das westliche Europa vor, das die zentraleuropäischen Gesellschaften in der sowjetische Einflusssphäre vergessen habe. Für diese Anklage gab es Anfang der 1980er Jahre genügend Anlass. Die westeuropäischen Staaten hatten sich nach der Umsetzung des Nato-Doppelbeschlusses mit dem Status Quo der Teilung des Kontinents weitgehend abgefunden. Die Unterstützung für die Charta 77 in der Tschechoslowakei ging abgesehen von einigen Intellektuellen und kirchlichen Kreisen über ein Lippenbekenntnis kaum hinaus. Insbesondere in Polen wurde gerade durch die SPD die oppositionelle Gewerkschaftsbewegung Solidarność als Unruheherd angesehen, während man sich mit dem Regime arrangierte. Und im innerdeutschen Verhältnis belegte der von Franz-Josef Strauß vermittelte Milliardenkredit an die DDR den Eindruck, dass sich auch die Konservativen mit dem Status quo zufrieden gaben. Zudem schien das politische System im „Ostblock“ gefestigt. Die jeweiligen Parteiführungen machten zwar den Eindruck einer absterbenden Gerontokratie, aber gerade für die Tschechen und Slowaken gab es nach 1968 keinerlei Hoffnung auf Reformen. Kundera war von diesen Entwicklungen abgeschnitten, weil er 1975, wie zuvor zahlreiche weitere tschechische Intellektuelle, ins Exil gegangen war. Ihn verstörte vor allem, dass man auch im Westen Europas den Kommunismus inzwischen als normal und gegeben ansah. Daher die wütende Anklage am Ende seines Textes, dass der Westen die Länder Zentraleuropas vergessen habe. Kundera hielt den Europäern vor, dass sie dabei einen Teil von sich selbst, von ihrer eigenen Kultur verdrängt hätten. Dies zeigt sich bereits im Titel der französischen Originalversion des Essays, der „Un Occident kidnappé“ lautete und im November 1983 in der Zeitschrift Le débat erschienen —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 3.8, Milan Kundera: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas (1983). Vgl. zu diesem Thema den Band 3/2002 der Zeitschrift Geschichte und Gesellschaft und dort vor allem den Aufsatz des dänischen Historikers Bugge, Peter, „Land und Volk“ – oder: Wo liegt Böhmen?, S. 404-434.
Milan Kundera und die Renaissance Zentraleuropas
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war. Die Wirkung dieses Essays war enorm. Er wurde sofort ins Englische übersetzt und im April 1984 im New York Review of Times publiziert,3 wenig später auch in der deutschen Zeitschrift Kommune. In den USA erschien der Text bereits unter einem anderen Titel, benannt als die „Tragödie Zentraleuropas“. Dabei stand also eine räumliche Kategorie im Mittelpunkt, die vor allem in den USA eine große Karriere machte. Die amerikanische Perspektive auf den „Ostblock“ war ursprünglich durch den Blick auf Moskau geprägt. Man achtete auf jede kleine Veränderung innerhalb des Kremls, während die Staaten in Mittel- und Osteuropa als Satelliten angesehen wurden. Dieser Moskau-Zentrismus spiegelte sich in der akademischen Welt wider. Kremlologen dominierten die politische Befassung mit Osteuropa und die Russland-Spezialisten die Osteuropa-Geschichte. Letzteres ist im Grunde bis heute spürbar. Dieser Fokus auf Moskau geriet in den USA vor allem durch die Solidarność in Polen und Papst Johannes Paul II. ins Wanken, den man ebenfalls als einen Vordenker eines vereinten Europas ansehen kann. Kunderas Aufsatz brachte die westlichen Intellektuellen in Bewegung und zeigte, dass sich hinter dem „Eisernen Vorhang“ nicht nur homogene sozialistische Gesellschaften verbargen. Mit Kunderas Aufsatz waren gleichzeitig die Eckpunkte des Mitteleuropa-Diskurses unter den europäischen Intellektuellen festgelegt.4 Dazu gehörten vor allem die strikte Abgrenzung gegenüber der Sowjetunion und Russland. Kundera spricht in seinem Text von einer „russischen Zivilisation“, die er dem Westen und der Mitte Europas mit diversen historischen und kulturellen Argumenten gegenüberstellt. Der Essay gipfelt in der Feststellung, die „Zivilisation des russischen Totalitarismus“ sei die „radikale Negation des Westens“. Russland wird trotz aller Wertschätzung für bestimmte Schriftsteller als Gefahr und Bedrohung dargestellt. Demgegenüber sind die Gesellschaften Zentraleuropas nach Kundera ein Bollwerk des Westens, eine Rhetorik, die bereits den Mitteleuropa-Diskurs aus der Zwischenkriegszeit prägte. Schon zu Beginn des Textes grenzt sich Kundera nicht nur von den Russen, sondern generell von der „östlichen Zivilisation“ ab, die er durch Orthodoxie und Despotismus definiert sieht (in den Auszügen des Essays aus Platzgründen nicht enthalten). Kunderas Aufsatz erscheint darin wie ein Vorgriff auf Huntingtons Clash of Civilizations, in dem ebenfalls strikt zwischen einem lateinisch geprägten Westen und mittleren Europa und einem orthodox geprägten Osten Europas unterschieden wird. Kundera ist hier wiederum prophetisch – allerdings im Negativen, denn die EU-Erweiterung beruhte auf einer Vertiefung der Gräben zu den GUSStaaten und einer Abgrenzung gegenüber Russland und der Ukraine, die jedoch auch von vielen westlichen Einflüssen geprägt ist. Ähnliche Klagen wie einst Kundera führen heute die westukrainischen Intellektuellen, die sich von der EU und ihren einstigen zentraleuropäischen Nachbarn vergessen und mutwillig dem russischen Orbit ausgeliefert sehen. Die Frage, ob der europäische Einigungsprozess an der polnischen Ostgrenze —————— 3
4
Der Text, der sich von deutschen und französischen Version im Aufbau unterscheidet, ist nachgedruckt in: The tragedy of Central Europe. Milan Kundera (April 26, 1984), in: Stokes, Gale (Hg.), From Stalinism to pluralism. A documentary history of Eastern Europe since 1945, New York 1991, S. 217-223. Dazu gibt es inzwischen eine kaum überschaubare Literatur. Gut zusammengefasst wird der Mitteleuropa-Diskurs u.a. in: Judt, Tony, The rediscovery of Central Europe, in: Daedalus 119/1 (1990), S. 23-54.
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Halt machen soll, beeinflusst indirekt auch die Geschichtswissenschaft. In jüngeren Ansätzen zum Zivilisationsvergleich wurde die Ukraine ebenfalls dem Osten und einer östlichen Zivilisation zugeschlagen, obwohl gerade in der Westukraine mit der Griechisch-Katholischen Kirche eine Mischkultur existiert, die von westlichen Einflüssen, vor allem der Renaissance und der Aufklärung geprägt wurde. Von großer Bedeutung ist auch, wie Kundera sein Zentraleuropa definiert. Er betont das Erbe des Habsburgerreiches, die Prägung durch „kleine“ Nationen und den starken jüdischen Einfluss. Kundera verortet den Widerstand gegen den Kommunismus vor allem in der Sphäre der Kultur. In dem Mangel an Kultur und kulturellen Bewusstsein sieht er schließlich den wichtigsten Grund, warum der Westen Europas, also die damalige EU, die Nachbarn in der Mitte vergessen konnte. Kundera betont die Bedeutung der Kultur für die Einigung Europas in mehreren Passagen, die auch heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. In einer Zeit, in der Europa politisch uneinig erscheint und selbst das Projekt einer Verfassung umstritten bleibt, ist die Kultur vielleicht wirklich das wichtigste einigende Band. Beachtenswert ist auch der dramatische Aufbau des Essays. Er beruht auf einer Gegenüberstellung von Gut und Böse und vor allem von Kultur und Barbarei. Kundera betont neben der Heldenhaftigkeit die „Schönheit“ der Opposition, spricht von einer „glücklichen Vereinigung von Kultur und Leben“, die ihm im Exil offenbar fehlte, von „schöpferischem Elan“ und der „unnachahmlichen Aura“ der Aufstände gegen die Sowjetherrschaft. Heute mag diese Ästhetisierung des Widerstands als kitschig erscheinen, aber sie steht im Kontrast zur medialen Verarbeitung des Sozialismus, insbesondere im deutschen Kino. Dort herrscht seit einigen Jahren die Tendenz, die DDR in einem allzu milden Licht erscheinen zu lassen und ausgerechnet den einst als grau verrufenen Alltag im Sozialismus im Nachhinein zu ästhetisieren. Bei Kundera ist der Widerstand schön, und nicht der Sozialismus. Die jungen Demokratien in Zentraleuropa, zu denen auch die vereinigte Bundesrepublik zählt, brauchen angesichts der „Ostalgie“ und der verbreiteten Geschichtsklitterung in den Medien vielleicht gerade eine solche Sicht auf ihre eigene Wurzeln vor 1989. Jedenfalls könnte dann die Tradition des Widerstands, der maßgeblich zum Zusammenbruch des Kommunismus und der Entstehung eines vereinigten Europas beitrug, leichter an die junge Generation vermittelt werden. Quelle Nr. 3.8 Milan Kundera: Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas (1983)5 […] Was bedeutet nun tatsächlich Europa für einen Ungarn, einen Tschechen, einen Polen? Von Anbeginn an gehörten diese Nationen zu jenem Teil Europas, dessen Wurzeln im römischkatholischen Christentum liegen. An allen Phasen seiner Geschichte waren sie beteiligt. Das Wort „Europa“ bezeichnet für sie kein geographisches Phänomen, sondern einen geistigen Wert, ist ein Synonym für „Okzident“, den „Westen“. In dem Moment, wo Ungarn nicht mehr Eu-
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Kundera, Milan, Un occident kidnappé oder die Tragödie Zentraleuropas, in: Kommune. Forum für Politik und Ökonomie 2 (1984), Nr. 7, S. 43-52.
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ropa, das heißt Westen ist, wird es aus seiner Bahn, aus seiner Geschichte geworfen; ja, es verliert die Substanz seiner Identität. Geographisch war Europa (das vom Atlantik bis zum Ural reicht) immer in zwei Hälften geteilt, die sich getrennt voneinander entwickelten: War die eine mit dem alten Rom und der katholischen Kirche verbunden (mit dem Kennzeichen des lateinischen Alphabets), so war die andere in Byzanz und der orthodoxen Kirche verankert (mitsamt dem kyrillischen Alphabet). Nach 1945 verschob sich die Grenze zwischen diesen beiden Teilen Europas um einige hundert Kilometer nach Westen, und einige Nationen, die sich immer als westlich verstanden hatten, erwachten eines schönen Tages und stellten fest, daß sie sich im Osten befanden. Folglich bildeten sich nach dem Krieg in Europa drei grundlegend verschiedene Zustände heraus: der von West- und der von Osteuropa und, am kompliziertesten von allen, der jenes Teils, der geographisch im Zentrum, kulturell im Westen und politisch im Osten liegt. Diese widersprüchliche Situation jenes Europas, das ich zentral nenne, kann uns begreiflich machen, warum sich dort seit 35 Jahren das Drama Europas konzentriert: der großartige Ungarnaufstand von 1956 mit dem darauffolgenden blutigen Massaker; der Prager Frühling und die Besetzung der Tschechoslowakei 1968; die polnischen Revolten von 1956, 1968, 1970 und die Bewegung der letzten Jahre. Jeder dieser Aufstände wurde nahezu vom ganzen Volk getragen. Wären die Regime nicht von Russland unterstützt worden, hätten sie sich dort keine drei Stunden halten könnten. So gesehen sind die Ereignisse von Prag oder Warschau in ihrem Wesen nicht als Drama Osteuropas, des sowjetischen Blocks, des Kommunismus zu verstehen, sondern vielmehr als das Zentraleuropas. […] Die Identität eines Volkes oder einer Zivilisation spiegelt sich wider und lässt sich zusammenfassen in der Gesamtheit der Geistesfrüchte, die gemeinhin „Kultur“ genannt werden. Wenn diese Identität tödlich bedroht ist, dann wird das kulturelle Leben intensiver, dehnt sich aus, und die Kultur wird zum lebendigen Wert, um den sich die Bevölkerung zusammenschließt. Deshalb haben in all den mitteleuropäischen Aufständen das kulturelle Erbe wie zeitgenössische Werke eine so große und entscheidende Rolle gespielt wie nirgends sonst und je in irgendeinem europäischen Volksaufstand. […] Und in der Tat konnte für Mitteleuropa und seine Leidenschaft für Vielfältigkeit nichts fremder sein als das einförmige, auf Verbreitung dieser Einförmigkeit bedachte zentralistische Russland […]. Ist nun nach alledem der Kommunismus die Negation der russischen Geschichte oder eher ihre Vollendung? Er ist sicher ebenso ihre Aufhebung (beispielsweise in Gestalt der Verleugnung ihrer Religiosität) wie ihre Vollendung (im Sinne der Verwirklichung ihrer zentralistischen Tendenzen und imperialistischen Träume). Man macht sich längst keine Illusionen mehr über das Herrschaftssystem der russischen Satellitenstaaten. Aber man vergisst, was ihre Tragödie hauptsächlich ausmacht: Sie sind von der Karte des Westens verschwunden. […] Die Polen, die Tschechen, die Ungarn blicken auf eine sehr bewegte, von Brüchen gekennzeichnete Geschichte zurück sowie auf eine Tradition schwächerer und unbeständigerer Staatswesen als die großen europäischen Völker. Eingezwängt zwischen den Deutschen auf der einen und den Russen auf der anderen Seite erschöpften sich die Kräfte dieser Nationen im Kampf um ihr Überleben und um ihre Sprache zu sehr. Nicht imstande, sich ausreichend ein europäisches Bewusstsein nahezubringen, blieben sie der am wenigsten bekannte und zerbrechlichste Teil des Westens, verborgen zudem hinter dem Vorhang von seltsamen und schwer zugänglichen Sprachen. Österreich besaß einmal eine gute Chance, in Zentraleuropa einen starken Staat zu errichten. Aber die Österreicher waren hin und hergerissen zwischen dem arroganten Nationalismus des großen Deutschland und ihrer eigenen zentraleuropäischen Mission. So gelang es ihnen nicht, einen föderativen Staat gleichberechtigter Nationen aufzubauen, und ihr Scheitern wurde zum Unglück für ganz Europa. Unbefriedigt ließen die anderen zentraleuropäischen Nationen das Imperium 1918 auseinander bersten, ohne sich klarzumachen, daß es trotz aller Unzulänglichkei-
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ten unersetzbar war. Somit verwandelte sich Zentraleuropa nach dem 1. Weltkrieg in eine Region kleiner, anfälliger Staaten, deren Schwächen einem Hitler seine ersten Eroberungen und Stalin schließlich den Triumph erlaubten. Vielleicht verkörpern diese Länder im kollektiven europäischen Unterbewusstsein immer noch einen gefährlichen Unruheherd. […] Was also Zentraleuropa ausmacht und bestimmt, können nicht die politischen Grenzen sein, sondern die großen gemeinsamen Erfahrungen, die die Völker wieder zusammenführen und sie immer wieder neu und anders gruppieren innerhalb nur imaginärer und stets wechselnder Grenzen, wo die gleiche Erinnerung, die gleiche Erfahrung, die Gemeinsamkeit einer gleichen Tradition fortlebt. […] Tatsächlich ist kein anderer Teil der Welt so tiefgreifend vom jüdischen Genie geprägt worden. Überall fremd und überall zu Hause, aufgewachsen in einem quasi über den nationalen Streitigkeiten stehenden Geiste, waren die Juden im 20. Jahrhundert das wesentliche kosmopolitische und integrative Element Zentraleuropas, sein intellektueller Kitt, die Verdichtung seines Esprits, die Schöpfer seiner geistigen Einheit. Deshalb liebe ich sie und fühle mich ihrem Erbe so leidenschaftlich und nostalgisch nahe, als handelte es sich um meine eigene Geschichte. Etwas anderes macht mir die jüdische Nation so lieb und teuer: In ihrem Schicksal scheint sich mir das Los Zentraleuropas zu konzentrieren, widerzuspiegeln, einen symbolischen Ausdruck zu finden. Was ist das, Zentraleuropa? Die unsichere Zone kleiner Nationen zwischen Russland und Deutschland. Ich möchte das unterstreichen: kleine Nation. Denn was sind die Juden andres als eine kleine Nation, die kleine Nation par excellence? Die einzige von all den kleinen Nationen aller Zeiten, die die Reiche und den verheerenden Gang der Geschichte überlebt hat. Aber was nun ist eine kleine Nation? Ich schlage folgende Definition vor: Eine kleine Nation ist jene, deren Existenz in jedem beliebigen Moment in Frage gestellt werden kann, die untergehen und verschwinden kann – und die darum weiß. Ein Franzose, ein Russe, ein Engländer beschäftigt sich gewöhnlich nicht mit Fragen, die das Überleben seiner Nation betreffen. Ihre Nationalhymnen besingen nichts als Größe und Ewigkeit. Die polnische Hymne dagegen beginnt mit der Zeile: „Noch ist Polen nicht verloren …“. Insofern ist Zentraleuropa seinem Selbstverständnis nach ein Hort kleiner Nationen, und diese Sicht der Dinge basiert auf einem tiefen Misstrauen gegenüber der Geschichte. Die Geschichte, diese Göttin von Hegel und Marx, diese Inkarnation der Vernunft und des Geistes, die uns richtet und uns unseren Platz zuweist, ist die Geschichte der Sieger. Doch die mitteleuropäischen Völker sind keine Sieger. Zwar sind sie untrennbar mit der europäischen Geschichte verbunden, existierten nicht ohne sie, doch sie stellen nur die Kehrseite dieser Geschichte dar, ihre Opfer und ihre Außenseiter. In dieser ernüchternden historischen Erfahrung liegt die Quelle der Eigentümlichkeit ihrer Kultur, ihrer Weisheit, ihres „Sinns für's Unernsthafte“, der sich über Glanz und Gloria lustig macht. „Vergessen wir nicht, daß wir uns der heutigen Geschichte nur entgegenstellen können, indem wir uns der Geschichte überhaupt entgegenstellen.“ Diesen Satz von Witold Gombrowicz würde ich gerne über dem Eingang Zentraleuropas einmeißeln. […] Heute lebt Mitteleuropa unter dem russischem Joch, mit Ausnahme des kleinen Österreich, das eher durch Zufall denn historische Notwendigkeit seine Unabhängigkeit gewahrt hat, aber, der zentraleuropäischen Umgebung entrissen, seinen besonderen Charakter und seine Bedeutung größtenteils verloren hat. Der Verlust des kulturellen Mittelpunkts in Zentraleuropa war gewiss eines der größten Ereignisse des Jahrhunderts für die westliche Zivilisation. Ich wiederhole also meine Frage: Wie ist es möglich, daß dies nicht wahrgenommen und nicht benannt wird? Meine Antwort ist schlicht: Europa hat den Verlust seines wichtigen kulturellen Zentrums nicht bemerkt, weil es seine Einheit nicht mehr als kulturelle begreift. Worauf beruht die Einheit Europas denn nun? Im Mittelalter war es die allen gemeinsame Religion. In der Neuzeit, wo der Gott des Mittelalters seine Verwandlung in den Deus absconditus, in den verborgenen, transzendenten Gott erfuhr, räumte die Religion der Kultur das Feld, in der sich nun die höheren Werte vereinten, in denen sich die Europäer wiederfanden, durch die sie sich definierten und identifizierten. In unserem Jahrhundert nun scheint sich mir ein weiterer Wechsel anzu-
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kündigen, ebenso bedeutsam wie jener, der das Mittelalter von der Neuzeit scheidet. Wie Gott einst der Kultur wich, so büßt die Kultur ihrerseits heute ihre Rolle ein. Aber zu wessen Gunsten? In welchem Bereich werden sich die höheren Werte zusammenfassen, die imstande sind, eine einigende Kraft in Europa zu entfalten? Sind es die technischen Errungenschaften? Der Markt? Die Medien? (Wird der große Dichterfürst durch den großen Journalisten ersetzt werden?) Oder gar die Politik? Aber welche? Die rechte oder die linke? Gibt es jenseits dieses ebenso dummen wie unüberwindlich schroffen Gegensatzes noch ein allgemein akzeptiertes Ideal? Könnten das Prinzip der Toleranz, der Respekt vor dem Glauben, den Überzeugungen und Gedanken des anderen dies leisten? Falls nun aber diese Sorte von Toleranz nicht länger auch große Werke und starke Gedanken schützt, wird sie dann nicht leer und nutzlos? Und wie sieht es mit der Dichtkunst, der Musik, der Architektur, der Philosophie aus? Auch sie haben die Fähigkeit, ein einheitliches Europa zu schmieden und dessen Basis abzugeben, eingebüßt. […] Die letzte, auf eigener Erfahrung beruhende Erinnerung der zentraleuropäischen Länder an den Westen bezieht sich auf die Zeit zwischen 1918 und 1938. Sie ist ihnen näher als irgendeine andere Epoche ihrer Geschichte (wie heimliche Umfragen beweisen). Ihre Vorstellung vom Westen indes ist ein Bild von gestern; es spiegelt sich darin eine westliche Welt, wo das kulturelle Band noch nicht völlig verschwunden war. […] Ich möchte noch einmal folgendes unterstreichen: Gerade am östlichsten Punkt des Westens wird Russland viel mehr als anderswo als Gegensatz zum Westen, als antiwestlich wahrgenommen; es erscheint eben nicht nur als eine europäische Macht unter anderen, sondern als eine ganz besondere, eine andere Zivilisation. Denn in der Tat verkörpert die Zivilisation des russischen Totalitarismus die radikale Negation des Westens, so wie er sich mit dem Beginn der Neuzeit herausbildete, sich auf das denkende und zweifelnde Ich gründete und durch kulturelles Schaffen charakterisiert war, das sich als Ausdruck dieses einzigartigen und unnachahmlichen Ich verstand. Der Einmarsch der Russen hat die Tschechoslowakei in die „nachkulturelle“ Epoche geworfen und somit entwaffnet und nackt der russischen Armee und dem allgegenwärtigen Staatsfernsehen ausgeliefert. […] Mit der Zerschlagung des Habsburgerreiches hat Zentraleuropa seine Bollwerke verloren. Hat es nicht nach Auschwitz, das die jüdische Nation in diesem Raum vernichtete, seine Seele verloren? Und 1945 von Europa losgerissen, existiert es überhaupt noch? Gewiss, seine Werke und seine Revolten zeigen, daß es „noch nicht verloren ist“. Aber wenn leben heißt, in den Augen derer, die man liebt, da zu sein, dann gibt es dieses Zentraleuropa nicht mehr. Genauer: In den Augen seines geliebten Europa ist es nichts als ein Teil des sowjetischen Imperiums, nichts als das und nicht mehr als das. […]
Literatur Stokes, Gale (Hg.), From Stalinism to pluralism. A documentary history of Eastern Europe since 1945, New York 1991 Judt, Tony, The rediscovery of Central Europe, in: Daedalus 119/1 (1990), S. 23-54 Lemberg, Hans, Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom „Norden“ zum „Osten“ Europas, in: Jahrbücher für die Geschichte Osteuropas 33 (1985), S. 48-91 Schenk, Frithjof Benjamin, Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 493-514 Szücs, Jenö, Die drei historischen Regionen Europas, Frankfurt am Main 1994
NATIONALE IDENTITÄT REVISITED – DIE TSCHECHEN UND IHR ŠVEJK IM 20. JAHRHUNDERT1 Von Martina Winkler Grotesk, absurd, in seiner Symbolhaftigkeit komisch und tragisch zugleich ist die eine Abbildung aus dem Buch „Der brave Soldat Švejk“, die wohl mehr als alle anderen Illustrationen die zentrale Aussage und Komplexität des Romans zeigt: Die Zeichnung Josef Ladas, die Švejk in einem Rollstuhl sitzend und mit den Krücken winkend zeigt, von einer alten Frau mühsam durch die Straßen geschoben und entschlossen – „Nach Belgrad, nach Belgrad!“ – Kriegsbegeisterung bekundend. Hier soll dieses Bild nicht interpretiert werden, die Bedeutung ist zu offensichtlich. Der Kontrast zwischen dem Heldenbild des Großen Krieges und einer abstrakten Kriegsvorstellung und der konkreten, lächerlichen Situation von in den Kampf ziehenden Menschen ist ebenso deutlich wie die symbolhafte Verkörperung des kranken Österreich, alt, lahm und krank und dennoch laut krakeelend. Interessant jedoch ist, dass dieses Bild, gemeinsam mit anderen Švejk-Zeichnungen Ladas, im Jahre 1997 auf eine Briefmarke der Tschechischen Republik gedruckt wurde2 und damit, so kann man wohl behaupten, eine Art Ritterschlag nationaler Symbolhaftigkeit und Identität erhalten hat. Denn nicht immer war die Identifikation tschechischer Öffentlichkeiten mit der weltbekannten Figur des Josef Švejk so eindeutig – und ein genaueres Hinsehen zeigt, dass der brave Soldat für viele Tschechen auch heute nicht nur eine naiv-sympathische Symbolfigur für touristisch attraktive Bierlokale ist. Auf den folgenden Seiten soll ein Blick auf die Entwicklung der tschechischen Perspektiven auf Švejk gewagt werden, ein Blick, der das tschechische Selbstverständnis und die tschechische Position in Europa zunächst nicht klären, sondern eher komplizieren wird, letztlich aber, so ist zu hoffen, neue Einsichten ermöglicht. Jaroslav Hašek entwarf die Figur des Švejk in mehreren Anläufen skizzenhaft zwischen 1911 und 1917. Seine Karriere in der tschechischen Öffentlichkeit begann Švejk unter schlechten Vorzeichen und mit sehr ambivalentem Echo. Hašek war nach kurzer Soldatenkarriere, russischer Kriegsgefangenschaft und journalistischer Arbeit für die Bolševiki in Kiev Ende 1920 nach Prag zurückgekehrt. Die Tschechoslowakische Republik existierte seit zwei Jahren, und Hašek fiel es schwer, sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden. Angesichts seiner Vorkriegslaufbahn als Journalist, Humorist und Anarchist war er in Intellektuellenkreisen kein Unbekannter. Hatten sein Alkoholkonsum und seine notorische Unfähigkeit, eine Arbeit über längere Zeit zu behalten, ihm bereits vor dem Krieg Feindschaften eingetragen, so war seine Lage nun, als Rückkehrer mit dem Ruf eines Kommunisten, Verräters und obendrein Bigamisten, doppelt belastet. Doch er brauchte Geld, und so begann er ernsthaft am Švejk zu arbeiten. Als kein —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 3.9, Der von den Tschechen rehabilitierte Švejk (Briefmarke, 1997). Ich bedanke mich für die freundliche Unterstützung durch Herrn Gerhard Batz, der die Briefmarke für diese Publikation zur Verfügung stellte.
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Verleger das Werk drucken wollte, organisierte er selbst die Vervielfältigung in Heftform und verkaufte die Exemplare in Prager Kneipen. Das Kneipenpublikum war begeistert, und prompt reagierte auch ein Verleger auf den Erfolg. Anders die Literaturkritik: Hašeks Werk wurde lange Zeit hartnäckig ignoriert. Nur wenige, durchgehend linksorientierte Journalisten besprachen das Buch positiv.3 Wie bekannt die Figur des Švejk dennoch auch in gebildeten Kreisen war, zeigt ein Blick auf Parlamentsdebatten der zwanziger Jahre. Švejk und insbesondere der Begriff der Švejkovina – letzteres annähernd zu übertragen mit der deutschen „Schildbürgerei“ – dienten auffällig häufig als Metaphern politischer Rhetorik. Die pejorative Konnotation war dabei eindeutig vorherrschend, Švejk stand für Dummheit und Chaos, Drückebergertum (ulejváctví) und kopflose Bürokratie. Im literarisch-intellektuellen Diskurs wurde die fast einhellige Ablehnung des Švejk durch den internationalen Ruhm des Buches gestört. Dieser war spätestens dann nicht mehr zu ignorieren, als Erwin Piscator den Švejk in Berlin auf die Bühne brachte. Der große Erfolg der Inszenierung ging einher mit einer breiten, fast weltweiten literarischen Anerkennung Hašeks. Švejk wurde als neuer Typus verstanden, und Hašek zählte nun zu den anerkannten Autoren der europäischen Literatur. Das Dilemma, in dem sich die tschechische Literaturkritik nun befand, war nicht allein durch divergierende Meinungen über die literarische Qualität des Švejk bedingt. Viel dramatischer erschien ein politisch-gesellschaftliches Problem: Švejk wurde von deutschen, österreichischen und amerikanischen Kritikern nicht nur als literarisches Meisterwerk gefeiert, sondern auch und vor allem als eine Verkörperung des typisch Tschechischen verstanden. Diese Identifikation wurde von bekannten Kritikern des liberalen Lagers und vor allem von rechtsgerichteten Journalisten4 als hochproblematisch empfunden. Die Situation war entsprechend paradox, denn endlich einmal wurde ein tschechischer Autor weltweit gelesen, übersetzt und bewundert, endlich schien das Ziel der Anerkennung der tschechischen Nation und der tschechischen Sprache erreicht. Doch der Anlass dieser Anerkennung war ein Text, der nicht in der engagiert entwickelten tschechischen Literatursprache verfasst war, sondern im als ordinär eingestuften Prager Dialekt. Und die Geschichte, mit der die tschechische Nation nun europaweit nicht nur bekannt, sondern auch identifiziert wurde, war keine Schilderung von Helden und nationalem Leiden, sondern eine Anekdotensammlung über Dummheit und Drückebergertum. Der Antiheld Švejk und vor allem natürlich auch der als Säufer und Anarchist bekannte Autor des Buches konnten in der Nachkriegsgesellschaft nicht als typisch für die tschechische Nation akzeptiert werden. Linke Journalisten interpretierten Švejk zwar als charaktervolle Figur, die hinter ihrer vorgeblichen Dummheit das unterdrückte, mit eigenen Mitteln gegen die Herrschenden kämpfende Volk in cleverer Weise verkörperte. Doch —————— 3
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So vor allem Olbracht, Ivan, Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války, in: Rudé právo 15.11.1921 und Fuchs, Alfred, Několik vážných poznámek k humoru Jaroslava Haška, in: Socialistická budoucnost 14.1.1923; später auch Fučík, Julius, Čehona a Švejk. Dva typy z české literatury i života, geschrieben 1939, Neudruck in: Ders., Milujeme svůj národ III, Prag 1951, S. 108-112. Viktor Dyk kritisierte Hašeks Werk 1928 als insbesondere in der aktuellen politischen und vor allem militärischen Situation gefährlich in: Hrdina Švejk, in: Národní listy, 15.4.1928.
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dieser mögliche Weg aus dem Interpretations- und vor allem Akzeptanzproblem um Švejk wurde nur von wenigen Angehörigen des liberalen Lagers eingeschlagen.5 Neben dem noch jungen und deshalb besonders empfindlichen Selbstbild der tschechischen Nation spielt hier auch eine andere Differenz zu den westlichen Nationen, die Švejk so liebten, eine Rolle: das Verhältnis zum noch kaum verarbeiteten Weltkrieg. Die heutige Sicht auf die tschechische Haltung im Ersten Weltkrieg ist weitgehend von einer Betonung der Kriegsablehnung bestimmt.6 Den Tschechen von 1914, so der weit verbreitete Tenor, war die Kriegsbegeisterung anderer europäischer Nationen fremd. Als Begründung wird in erster Linie die Situation der zum Kampf für den fremden Staat Österreich gezwungenen jungen Nation angeführt; und auch der traditionelle Topos von den friedlichen Slaven schwingt in der Argumentation mit. Doch auch wenn der tschechische nationale Diskurs dem Krieg nicht den Rang beimaß, den dieser bei anderen – west- wie osteuropäischen – Nationen erhielt, war doch die Kriegserinnerung während der Ersten Republik nicht ganz ohne Bedeutung. In den auflageschwachen Medien der Rechten ist durchaus eine an deutsche Debatten erinnernde existentialistische Überhöhung der Kriegserfahrung zu erkennen. Und auch im liberalen Kontext spielte der Kriegsmythos durchaus eine Rolle. Der junge tschechoslowakische Staat war aus dem Krieg hervorgegangen, und um die Gefahren zu umgehen, die dem Topos des „geschenkten Staates“ anhafteten, wurden die in Zahl und militärischem Einfluss eher schwachen tschechoslowakischen Legionen in Russland, Frankreich und Italien gern überschätzt. Kriegsheldenmythen waren also für die tschechoslowakische Staatsidee doch nicht ganz unbedeutend – und stets latent gefährdet. Ein Buch, das den Krieg und seine Mythen entlarvte, war somit problematisch und machte die Bedrohung des heroischen Anteils der Staatsidee virulent. Auf der anderen Seite hatten nur relativ wenige Tschechen erlebt, was heute als typische Erfahrung des Ersten Weltkrieges begriffen wird. Das Entsetzen des Grabenkrieges war den meisten erspart geblieben, und der Krieg hatte, weil weit entfernt und sehr abstrakt, Pathos und Erhabenheit nicht eingebüßt. Hašeks Arbeiten erinnern in mancherlei Hinsicht an die Texte eines Leonhard Frank oder Wolfgang Borchardt und zuweilen an Bilder von Otto Dix. Im europäischen Kontext ist der Beifall für die Verbindung von Witz und Grauen verständlich. Ebenso verständlich aber ist das Fehlen einer solchen Begeisterung im Rahmen der tschechischen Nachkriegsgesellschaft. Dies umso mehr, als neben diesem militärischen Kontext auch ein explizit ziviler Zusammenhang von der internationalen Švejk-Begeisterung betroffen war. Die Tschechoslowakei als aus dem „Völkergefängnis Österreich“ hervorgegangener „National“staat verlangte nach Legitimation. Einen Ansatz bildete die ausgesprochen starke Betonung dessen, was heute häufig als Zivilgesellschaft bezeichnet wird. Die Person Thomas G. Masaryks war hier von großer Bedeutung, und so hat auch seine Betonung von Bildung und „kleiner Arbeit“ (drobná práce) das Bild – und bis zu einem gewissen Grad auch die Realität – der Ersten Tschechoslowakischen Republik als unprätentiöser, ex—————— 5 6
So die Autoren der unter der Schirmherrschaft der Masaryk-Akademie der Arbeit herausgegebenen Československá vlastivěda VII, Písemnictví, Prag 1933, S. 192. Z.B. Galandauer, Jan, Vznik Československé republiky, Prag 1988, S. 20; Ders., Wacht am Rhein a Kde domov můj. Válečné nadšení v Čechách v létě 1914, in: Historie a vojenství 5 (1996), S. 22–43.
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plizit unideologischer und an den kleinen Schritten gesellschaftlicher Entwicklung orientierter Staat geprägt. Švejk nun verkörperte das genaue Gegenteil eines solchen Ideals: als dummer, ungebildeter Kneipengänger, der sich seinen Lebensunterhalt durch einen kleinkriminellen Handel mit als reinrassig verkauften Promenadenmischungen verdiente, war er keine ideale Verkörperung des tschechischen Wesens. Dass er dieses Leben im alten Österreich geführt hatte, konnte nur die Wenigen trösten, die nicht erkannten, dass Hašeks Buch keinesfalls politisch genug war, um als Anklage der k.u.k.-Monarchie zu gelten: Švejk bildete, diese Interpretation hatte sich bald durchgesetzt, die Verkörperung der bequemen Faulheit, des alkoholvernebelten Genusses und des alle Werte ablehnenden ideologiefreien Anarchismus schlechthin. Die Ablehnung einer solchen Figur erscheint durchaus nachvollziehbar: Weshalb also, diese Frage liegt nahe, ist es möglich, dass Švejks Position heute eine so ganz andere ist? Wie ambivalent Švejk von Anfang an war, ist nicht nur an den unterschiedlichen Reaktionen seiner Leser, je nach nationaler oder sozialer Zugehörigkeit, zu erkennen. Bereits die Darstellung im Roman selbst ist zwiespältig. Die von vielen beklagte vulgäre Sprache und das oft als egoistisch, ja asozial beklagte Verhalten der Figur steht neben der Beschreibung durch Hašek als naiv und liebenswürdig. Švejk schaut mit großen, blauen Augen offen und nichts Böses ahnend in die Welt. Insbesondere aber die erst nach dem Tode Hašeks in der heute bekannten Form entstandenen Illustrationen durch Josef Lada zeigen einen Švejk, der ganz anders ist als derjenige, der zwischen Polizeispitzeln und Prostituierten sein Bier trinkt. Die Bilder zeigen nicht Schmutz und Vulgarität, sondern Gemütlichkeit und einfache Zufriedenheit. Angesichts ihrer unterschiedlichen Rezeption ist es kaum zu glauben, dass Hašek und Lada Freunde waren: das Bild Hašeks bewegt sich zwischen Genialität und Versagen. Ein unglücklicher Mensch, bestimmt vom Alkohol sowie der Treulosigkeit gegenüber Frau, Kind und Nation, erschien nicht geeignet als öffentliche Identifikationsfigur. Die Bilder Josef Ladas dagegen, der nie als hervorragender Künstler galt, sind berühmt und verkörpern die schöne und märchenhafte Seite tschechischer nationaler Identität. Als Postkarten, Buchillustrationen und Kalender sind sie jedem Kind bekannt; Ladas Kunst ist leicht zu konsumieren und lädt zur Identifikation ein. Die Einladung Hašeks an seinen Freund Lada zur Zusammenarbeit am Švejk macht deutlich, wie einseitig die Wahrnehmung des renommierten Literaturkritikers Arne Novák war, der Švejk als nationale Identifikationsfigur ablehnte und ihm als Antitypus die „typisch tschechische“ babička gegenüberstellte: Die Großmutterfigur aus dem gleichnamigen Roman von Božena Němcová von 1855 als Personifikation des ländlichen, idyllischen und traditionsbewussten Tschechentums. Weder babička noch Švejk sind als Typen so eindeutig, wie Novák es gern gehabt hätte. Nicht literarische, sondern national-politische Motive spielten hier die entscheidende Rolle. Nicht sehr viel anders verhält es sich, wenn gegen Ende des 20. Jahrhunderts Švejk wahrgenommen wird als populäre und zur Identifikation einladende Figur. Švejk ist überall: Als Metapher wird er in politischen Debatten genutzt – nicht unbedingt viel häufiger als in den zwanziger Jahren, aber mit eindeutig anderer Konnotation. So steht Švejk, dessen heutige Bedeutung in gewisser Weise mit der Funktion Loriots im deutschen Kontext vergleichbar ist, für ironischen, versteckt intelligenten Witz, für eine distanzierte Betrachtung absurder Realitäten im politischen Alltag, und in vielen Situatio-
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nen passt der Ausruf „so eine Švejkovina“. Einerseits ist es dabei Ladas gemütlicher Švejk, der diese Popularität genießt, andererseits aber scheint auch heute, wie schon in der Zwischenkriegszeit, Švejk mit dem unbequemen Hašek verwechselt zu werden. Damals als unverantwortlicher Säufer verschrien, steht er nun für den Witz, mit dem sich Jaroslav Hašek über die politische Öffentlichkeit und die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der Parteien lustig machte. Daneben personifiziert Švejk in einem kommerziell durchaus lohnenden Zusammenhang natürlich die tschechische Bierkultur7, das Ursprünglich-Rustikale der tschechischen Gastronomie. Das Selbstbild wird hier ebenso bedient wie die touristische Suche nach dem wahren Prag. Ein Besuch in Švejks Kneipe „U kalicha“ gehört zum Pflichtprogramm jedes Pragbesuchs, und neuerdings verlässt sich eine ganze Restaurantkette mit dem Namen „Švejk“ auf die Wirkung des populären braven Soldaten – „In einer von Informationen übersättigten Welt funktionieren heute alte und noch immer neue Symbole“ – und verbindet ein hochmodernes Franchisingsystem mit den Effekten traditioneller Rezepte „aus Großmutters Kästchen“ und folkloristischer LadaDekoration.8 Der seit 1989 insbesondere in Prag überbordende Tourismus verändert die identifikationsstiftenden Elemente der Stadt, Europäisierung und Nationalisierung oder auch Globalisierung und (der Schein der) Individualisierung bilden eine paradoxe Mischung. Neben Švejk hat hier in ähnlicher Weise übrigens auch Franz Kafka, der als deutsch schreibender Jude mit seinen hochkomplexen und kaum zur populären Lektüre taugenden Texten keinesfalls als klassische Identifikationsfigur der tschechischen Nation gelten kann, in den letzten Jahren zunehmend als Ausstellungsobjekt und T-ShirtMotiv Beliebtheit erlangt. Der düstere Charakter seines Lebens wie Werkes wirkt einfach zu faszinierend auf ausländische Besucher der Stadt und passt allzu gut zum neuen wohlkonstruierten dämmerigen gothic-novel-Postkarten-Image Prags, als dass die Tourismusindustrie ihn sich als Motiv entgehen lassen könnte. Aus der Hauptstadt der „kleinen“, aber fortschrittsorientierten tschechischen Nation wird so im Zuge der Europäisierung ein romantisch-rückständiger Ort voll mittelalterlicher Topoi. Švejk dagegen wird auf sein Lächeln reduziert, auf das naive Gesicht der Zeichnungen Ladas. Und dies ist nicht nur eine Frage des Kommerzes: Während in der Zwischenkriegszeit das Konzept der Zivilgesellschaft die Rezeption des Švejk ausgesprochen negativ beeinflusst hat, so bildet heute ein anderes Gesellschaftskonzept günstigere Voraussetzungen. Aus der kommunistischen Erfahrung hat die tschechische Gesellschaft eine in vieler Hinsicht sehr pragmatische, gegen das Pathos gewandte, zuweilen antipolitische Haltung mitgebracht. Auch die Europabegeisterung zeigt sich brüchig, gestört von unverständlich erscheinender Bürokratie und der Angst vor wirtschaftlicher und kultureller Beherrschung. Neben dem relativen ökonomischen Erfolg der letzten 15 Jahre mag hier durchaus die traditionelle bzw. traditionell beschworene tschechische „Nüchternheit“ (česká střízlivost)9 eine Rolle spielen. Die Betonung des Praktischen und Nicht-Ideologischen erinnert in mancherlei Aspekten an die „kleine Arbeit“ der Masarykschen Zeit. Und doch sind entscheidende Unterschiede zu erkennen: So zeigt —————— 7 8 9
Vgl. zu Tradition und Topos hier: Hospody a pivo v české společnosti, Prag 1997. (15.11.2004) Vgl. z.B. Gabriel, Jiří, Pozitivismus, in: Česká filozofie ve 20. století. Směry, osobnosti, problémy. Band 1, Brünn 1995, S. 22-39.
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sich im Umgang mit der eigenen Geschichte ein offen pragmatischer und zuweilen bewusst schnodderig-ironischer Zug. Die Verknüpfung von Geschäft und Geschichte bildet hier ein Beispiel, ein anderes war bereits bei der ersten Präsidentenwahl nach 1989 an jeder Straßenecke zu bewundern: Plakate, auf denen für die Wahl Havels geworben wurde mit dem an den idealisierten mittelalterlichen König gemahnenden Slogan: „Wählt ihn! Er ist doch schließlich ein Wenzel!“ (Volte ho, vždyť je to Václav). In einer Internetdebatte über die Probleme des tschechischen Gesundheitssystems nahm ein Teilnehmer mit dem Satz „Švejk wach auf! Den Blaníker Rittern sind wir doch egal.“10 Bezug auf die bekannte Legende von den ruhenden Rittern, die nur auf die Gelegenheit warten, das tschechische Volk von seinem Leid zu erretten, und setzt gegen das Pathos von Legende und Geschichte den respektlosen Humor Hašeks bzw. Švejks. Und auch die offizielle Anwesenheit des Senatsvorsitzenden Petr Pithart bei einer Tagung über Hašek und Švejk verhindert keinesfalls den Witz, die Entspanntheit und letztlich wohl auch Bierseligkeit, die mit dem Namen Švejk verknüpft sind. 11 Švejk wird nur mehr selten als ein gefährliches Identifikationsmoment für die Nation gesehen, der andere, heroischere oder idyllischere Figuren wie Hus oder Žižka12 entgegengestellt werden müssen.13 Die Zivilgesellschaft, ein zumindest in deutscher Wahrnehmung so eng mit Ostmitteleuropa verbundenes Konzept, hat offenbar andere Implikationen erworben als in der Ersten Republik. Waren es dort Arbeit und Bildung in Verbindung mit einem hohen moralischen Anspruch sowie besonders seit den späteren zwanziger Jahren mit dem Gefühl politischer und militärischer Bedrohung, so weist zumindest der Umgang mit dem Švejk-Topos heute auf eine viel laxere Atmosphäre hin. So sehr die Masaryk-Tradition auch gefeiert wird, so wird doch die Allgegenwärtigkeit des Politischen und Gesellschaftlichen, die Einbeziehung des Einzelnen in ein gemeinsames Projekt offenbar auch mit Misstrauen betrachtet. Eines der Leitwerke des ostmitteleuropäischen Zivilgesellschaftskonzeptes der achtziger Jahre trug den Titel „Antipolitik“.14 Die gern als betont europäisch verstandene Stoßrichtung der damaligen Intellektuellenbewegung kann jedoch auch mit deutlich anti-europäischen und antipolitischen Tendenzen verknüpft werden. Denn bei allem Erfolg, den die tschechische Demokratie relativ gesehen zu verzeichnen hat, ist doch neben der Betonung der Politik auch ein starker Akzent auf dem Präfix des „Anti-“ zu erkennen. Ein Hauch des Postnationalen und Postpolitischen ist zu spüren, Švejk ist Kult und vermittelt damit Identität ohne Pathos, aber mit Ironie.15 Er ist eine hybride Figur, die im politischen Kontext ebenso nutzbar ist wie als Namensgeber für ein Lokal, mit der nationale Identität kon—————— 10 Wörtlich: Škoda že tu není Hašek. Toby [sic] bylo žůžo téma. A to počteníčko. Švejku vzbuď se! Blaničtí rytíři na nás kašlou!, in Novinky: (16.08.2004) 11 Ich bedanke mich für die Unterstützung durch Frau Marcela Lanková vom Büro des Senators, die mir den Text der launigen Rede zur Verfügung gestellt hat. 12 Parlamentsdebatte ČSR, 40. Sitzung, 29. April 1936. 13 Eine Ausnahme bildet hier ein Essay: Linhart, Milan, Švejk – český národní symbol, in: KDU, (14.11.2004). 14 Konrád, György, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen, Frankfurt am Main 1985. 15 So erschien 1998 und 1999 eine zweibändige Enzyklopädie für Švejk-Liebhaber. In einer ironischen Švejkologie werden militärische und andere heute unverständliche Begriffe enzyklopädisch zusammengestellt und erläutert. Hodík, Milan, Encyklopedie pro milovníky Švejka s mnoha vyobrazeními, Prag 1998 und 1999.
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struiert und gleichzeitig den europäischen Erwartungen entsprochen werden kann. Und so wird Švejk nicht mehr – nur – als subversiver Säufer verstanden. Vielmehr ist der heute aus dem Buch gezogene Kern deutlicher an den charmanten Zeichnungen Ladas und weniger an der drastischen Sprache Hašeks orientiert und lautet im Werbetext der bereits erwähnten Restaurantkette folgendermaßen: „Der Geist des Buches und Švejks Figur tragen eine Botschaft, die stets aktuell ist: Mit der Ruhe und einem Lächeln kann man auch in der stürmischen Welt an jedem Ort seine Ruhe finden. An jedem solchen Ort ist mit uns ... Švejk.“16 Quelle Nr. 3.9 Der von den Tschechen rehabilitierte Švejk (Briefmarke, 1997)17
Literatur Střitecký, Jan, Die tschechische nationale Wiedergeburt, in: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 31 (1990), S. 38-54 Schulze Wessel, Martin, Die Mitte liegt westwärts. Mitteleuropa in tschechischer Diskussion, in: Bohemia 29 (1988), S. 325-344 Raßloff, Ute, Gründungsmythen in der tschechischen Literatur, in: Behring, Eva; Richter, Ludwig; Schwarz, Wolfgang F. (Hg.), Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas, Stuttgart 1999, S. 233-260 Holý, Ladislav, The little Czech and the great Czech Nation: National identity and the postcommunist transformation of society, Cambridge 1996 Hahn, Eva, Masaryks Konzept eines „Neuen Europa“: ein alter Hut oder Rezept für heute?, in: Kipke, Rüdiger (Hg.), Identität, Integrität, Integration. Beiträge zur politischen Ideengeschichte Tschechiens, Münster 1997, S. 17-54
—————— 16 (15.11.2004) 17 Quelle: Briefmarkenausgabe der Tschechischen Republik MiNr. 153; Ausgabetag: 10. September 1997 von 1997: Osudy dobrého vojáka Švejka, graphisch aufbereitet durch Zdeněk Ziegler; gestochen von Josef Herčík; kombinierter Stahlstich- und Rastertiefdruck; für die Wiedergabe geringfügig vergrößert. Einsehbar unter: (14.11.2004).
KARTEN – REPRÄSENTATIONEN EUROPAS AUS VIER JAHRHUNDERTEN1 Von Bo Stråth Europakarten bestimmen oft die Grenzen von Europa, insofern stellen sie Repräsentationen von Europa her. Im Wortsinn meint repräsentieren etwas wieder sichtbar machen und weist auf etwas Größeres oder Authentischeres hinter dem Begriff hin. Dieser Zusammenhang wird zum Beispiel deutlich in Bezug auf den Begriff der politischen Repräsentation, bei dem ein konstituierendes Volk hinter der parlamentarischen Repräsentation mitgedacht wird. Entsprechend sind Karten als Repräsentationen des Raumes zu betrachten: mit der Karte assoziieren wir einen kartografisch aufbereiteten größeren Raum. Der Raum beeinflusst als analytische Kategorie inzwischen wieder mehr die Gesellschaftswissenschaften, weil sich vormalige Grenzen, die wir als unveränderliche Größen angenommen hatten und die zur Kategorisierung in den Wissenschaften dienten, mit dem Ende des Kalten Krieges auflösten. Je poröser und durchsichtiger die Grenzen innerhalb Europas mit der fortschreitenden Integration werden, desto größer scheint das Interesse am europäischen Raum und seinen Außengrenzen zu werden.2 Auch Begriffe wie hyper space und virtual reality problematisieren den Zusammenhang zwischen Raum und Repräsentation. Sie bilden keine tatsächlich vorhandenen geografischen Einheiten ab, sondern kreieren Repräsentationen symbolischer Räume mit neuen imaginativen Horizonten. Diesen aktuellen Repräsentationen wächst symbolische Macht zu und sie schaffen eher Wirklichkeitsbilder, als dass sie vorhandene reproduzieren. Die Deutung des Repräsentationsbegriffes hat sich damit radikal verändert. Entsprechend veranschaulichen auch Karten von Europa zeitgenössische Visionen von Europa. Eine Analyse von Karten verschiedener Epochen zeigt, wie die räumliche Dimension Europas dem zeitlichen Wandel unterworfen ist, denn Europavorstellungen sind nicht essentiell oder gar statisch. Vielmehr erscheint der Europabegriff sehr veränderlich, die Grenzen von Europa sind sensibel hinsichtlich Zeit und Raum, Geschichte und Kultur – und dies ist der Grund warum europäische Kartenprojektionen vom zeitlichen und räumlichen Wandel Europas erzählen. Die Vorstellung von Europa als eine Art Gegenbild zum Nationalstaat verläuft quer zum Prozess der Nationenbildung seit dem frühen 19. Jahrhundert. In Bezug auf die kriegerischen Auseinandersetzungen der europäischen Nationalstaaten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte die europäische Friedensordnung eine Art Gegenentwurf dar. Letztlich war Europa so auch im Faschismus und Nationalsozialismus präsent, —————— 1
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Essay zu den Quellen Nr. 3.10, Europakarten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Ich danke James Kaye für anregende Gespräche zum Thema dieses Beitrages und für seine Hilfe bei der Quellensuche. Ebenso danke ich Angela Schenk für die sprachliche Überarbeitung sowie Iris Schröder und Rüdiger Hohls für sehr gute Vorschläge im Rahmen ihrer Herausgebertätigkeit für diesen Band. Harley, John B., The new nature of maps. Essays in the history of cartography, hg. von Paul Laxton, Baltimore 2001; Black, Jeremy, Maps and politics, London 1997; Jacob, Christian, L'empire des cartes: approches théoriques de la cartographie à travers l'histoire, Paris 1992.
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in der Zwischenkriegszeit und im sich anschließenden Kalten Krieg. Natürlich handelt es sich bei der vorliegenden Auswahl von Europakarten nur um wenige Beispiele, um die imaginäre und fiktive Beschaffenheit des Europaprojektes zu demonstrieren. Sie zeigen, dass Europa ein Gebiet mit umstrittenen Grenzen und inhaltlichen Zuschreibungen ist. Die Abgrenzung Europas erfolgt in einzelnen Karten sehr klar und deutlich. In anderen Kartenprojektionen aber wird Europa fiktiv, entflieht der Definition und nimmt den Status eines Diskurses an. Als Fiktion gewinnt Europa an Kraft, zum Besseren und zum Schlechteren hin, als ein Friedensprojekt und als Zentrum von politischer und militärischer Macht. Bis ins 18. Jahrhundert hinein wurde der unter osmanischer Herrschaft stehende Balkan als europäische, das übrige Reich als asiatische Türkei bezeichnet. Im 19. Jahrhundert war das osmanische Reich Teil des sogenannten „europäischen Konzerts“ (Metternich). Eine ähnliche Ambivalenz, ‚dazwischen’, also sowohl innerhalb und außerhalb Europa zu liegen, betraf auch Russland.3 Während Westeuropa seit dem 16. Jahrhundert mit der Eroberung des amerikanischen Kontinents beschäftigt war, eroberte Moskau große Teile Sibiriens und erreichte im Süden das Schwarze und das Kaspische Meer. In Westeuropa kümmerte man sich wenig um diese Expansion. Erst der Vorstoß in Richtung Ostsee und die damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen, vor allem mit Schweden, zwangen den Rest Europas, Kenntnis von Russland zu nehmen. Durch die Konflikte im Baltikum beschwor Russland die gespenstische Vorstellung herauf, der Ostseeraum und Osteuropa würden von seinen endlosen ‚Horden’ überschwemmt werden, zumal Reiseberichte vom asiatischen Aussehen der Russen erzählten.4 Erst die Abgrenzung Europas von seinem nichteuropäischen kontinentalen Gegenstück schuf, wie Kirti Chaudhuri gezeigt hat, die Idee von Asien. Es wundert daher nicht, dass der Begriff Asien als Bezeichnung eines Kontinents aus dem Westen stammt. Darüber hinaus verhält sich die Idee von Europa als ein „Volk von vielen Völkern“ gegenüber der von Asien als einem Kontinent isomorph zueinander. Die eine Seite überträgt ihre strukturelle Einheit auf die andere im Verhältnis 1:1. Erst durch dieses komplizierte Ineinandergreifen von Gegensätzlichkeit und Gleichheit wurde Asien gegenüber Europa als eine entsprechende Einheit konstruiert.5 Der Mythos von Europa und dem Stier und von Europa als Erdteilallegorie fand zahlreiche ikonografische Ausdrücke eines „irgendwie“ gedachten Europas. Die kartografische Repräsentation von Europa ab dem 16. Jahrhundert erzeugte demgegenüber ein präziseres Bild und verfeinerte die notwendig gewordene Definition des Begriffes. Es musste entschieden werden, was dazugehörte und was nicht, auch wenn häufig die binnenkontinentalen Grenzen nach Osten hin ins Unbekannte verwischt wurden. Dadurch, dass die Karten die innere Anatomie Europas visualisierten wie kein anderes ikonografisches Mittel, unterstützten sie ein genaueres Bewusstsein von Europa. Die kartografischen Repräsentationen von Europa zeigen, dass Europa eine Idee und eine Vorstellung ist, die unaufhörlich gedacht, formuliert und umformuliert wurde. Die Idee —————— 3 4 5
Siehe hier vor allem Wolff, Larry, Inventing eastern europe. The map of civilisation on the mind of enlightenment, Stanford 1994. Schmale, Wolfgang, Geschichte Europas. Wien 2000, S. 53. Vgl. auch Wolff (wie Anm. 3). Chaudhuri, Kirti N., Asia before Europe. Economy and civilisation of the Indian Ocean from the rise to Islam to 1750, Cambridge 1990, S. 22.
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von Europa als Erdteil unterstützt historische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Einigungsprojekte, wobei die Frage von Macht und militärischer Stärke immer zentral war.6 Einheit schloss Vielfalt nicht aus, sondern baute darauf auf. Dies ist deutlich im Nuovo Atlante Portatile von 1777 (Karte 1). Europa ist darin in 16 Länder oder stati principali eingeteilt.7 Der Le Sage Atlas von 1807 (Karte 2) beschreibt das Europa vor der napoleonischen Expansion. 1807 schließen Napoleon und Alexander I. den Frieden von Tilsit. Napoleon plante jedoch schon damals die Eroberung Russlands und träumte von einer Hegemonie unter ihm „des colonnes d’Hercule au Kamtchatka“. Es ist nahezu unmöglich, den auf das französische Publikum zielenden Sage Atlas von 1807 nicht als eine Warnung an Napoleon zu lesen. Alles andere als unter dem französischen Alleinherrscher geeinigt, teilt die Karte Europa in 23 Länder und sieben Religionen ein, die Türkei mit islamischer Religion inbegriffen. Das Kartenbild und die Geschichte, die es vermittelt, können nicht nur als Warnung, sondern auch als eine Art Gegenentwurf zum Traum Napoleons interpretiert werden.8 Nach den napoleonischen Kriegen wurde der Machtausgleich in Europa durch den Wiener Kongress 1815 etabliert. Metternich sprach mit Blick auf die Machtbalance vom europäischen Konzert. Die Revolutionsjahre und der Umsturz des Kontinents wurden von der Restauration abgelöst. Jedoch blieb das Versprechen der Revolution, von der Vereinbarkeit von Nation, Autonomie und Demokratie für viele ein Leitbild und er—————— 6 7
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Schmale (wie Anm. 4), S. 53. Diese sind nummeriert von I bis XVI: Portugal, Spanien, Deutschland (mit Wien als Hauptstadt), die Schweiz („Gli Svizzeri“ im Plural), Italien (fast hundert Jahre vor der Einigung), die Niederlande, die Britischen Inseln, Dänemark, Norwegen (aufgeführt als selbständiges Land, was zwar formal richtig war, aber in Wirklichkeit war Norwegen damals eine Provinz unter dem alleinherrschenden dänischen König), Schweden, Russland, Preußen (Hauptstadt Königsberg), Polen (Hauptstadt Krakow), Ungarn (Hauptstadt Pressburg, das heißt Bratislava) und die europäische Türkei. Diese Staaten hatten dem Begleittext gemäß fünf verschiedene Regierungsformen: eine despotische, monarchische, aristokratische, demokratische und eine gemischte. Die einzige Despotie war die Türkei. Die Republik Venedig wurde als Beispiel für die Aristokratie und Genf für die Demokratie genannt; letztlich kamen also neue politische Einheiten hinzu, in Ergänzung zu den 16 Hauptstaaten. Welche Regierungsform nach Auffassung des Autors am besten war, lässt sich nicht ohne weiteres herauslesen, aber klar ist für den Autor, dass die Despotie am schlechtesten ist. Europa hatte drei Kaiser, den deutschen, den Zar von Moskau und il Gran Signore der Türkei, elf Könige (Spanien, Portugal, England, Polen, Dänemark, Schweden, Preußen, Ungarn, Böhmen, die Zwei Sizilien und Sardinen), einen Erzherzog (Österreich), einen Großherzog (Toskana), den Papst, vier große und vier kleine Republiken. Hier wurden also wiederum neue politische Einheiten aufgezählt, die zur Vielfalt der europäischen Einheit beitrugen. Zur politischen Geschichte Europas im 18. Jahrhundert siehe Blanning, Timothy C. W. (Hg.), The eighteenth century. Europe 1688-1815, Oxford 2000. Frankreich wurde 18 Jahre nach der Revolution noch immer als katholisch und protestantisch eingestuft. Erstaunen ruft jedoch die prominente Berücksichtigung des Feldzugs des schwedischen Königs Karls XII. zwischen 1700 und 1718 hervor, dabei fast an das Schicksal von Ahasverus erinnernd, weil ruhelos umherirrend in Russland, Osteuropa und der Türkei. Die Karte hat einen ausführlichen Begleittext, in dem Karls XII. letztlich hoffnungsloses Projekt geschildert wird. Sie zeigt auch die Teilungen Polens zwischen 1772 und 1795 durch Russland, Preußen und Österreich, jedoch ohne Beteiligung Frankreichs. Zur politischen Geschichte Europas um 1800 siehe Blanning, Timothy C. W. (Hg.), The nineteenth century. Europe 1789-1914, Oxford 2000.
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schütterte 1848 erneut die europäische Ordnung und Stabilität durch Machtausgleich. Die Formierung der Nationen Europas löste Konkurrenzkämpfe aus und brachte neue Nationsentwürfe (Italien, Deutschland, Skandinavien, Balkan, Südslavien) hervor. Nach kriegerischen Verwicklungen im Namen der Nation wurde der Kontinent 1871 neu gedacht. Der Prospetto Politico dell’Europa von 1874 (Karte 3) zeigt den neuen Machtausgleich.9 Aus demselben Jahr stammt auch die europäische Sprachenkarte (Karte 9), in der die Vielfalt nicht in Machtkategorien gedacht wird. Die Unterteilung in zwölf Sprachgruppen (I-XII) zeigt, wie offen die Grenzen zwischen Europa und Asien waren, und dass Nordafrika danach eher zum europäischen Kulturkreis gehörte. Die Kerngruppe ist die erste, die mit Indoeuropa bezeichnet wird und zu der die Untergruppen Celti, Germani, Romani und Slavi zählen.10 Der Erste Weltkrieg demonstrierte die Instabilität der Kaiserreiche und Nationalstaaten. Eine Folge des Krieges war die russische Revolution, die einerseits für viele im Westen Hoffnungen auf eine bessere Zukunft weckte, andererseits jedoch von vielen anderen als neue große Bedrohung wahrgenommen wurde. Die Karte 4 aus Knaurs Weltatlas von 1928 zeigt, wie dieser Bedrohung durch eine neue Variante des Machtausgleichs nach dem Weltkrieg begegnet wurde. Er basierte auf dem Prinzip „eine Nation – ein Staat“ und einer neuen Form der Volkssouveränität. Durch Woodrow Wilsons Vorgaben für die Friedensverhandlungen in Versailles, „make the world safe for democracy“, entstanden neue Staaten in Mittel- und Osteuropa: Finnland (schon 1917 im Zusammenhang mit der Russischen Revolution), Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Bulgarien und Rumänien, die gleichzeitig als ein cordon sanitaire, eine Barriere gegen das sowjetische Ansteckungsrisiko, gedacht waren. Dieser Entwurf einer neuen europäischen Sicherheit stützte sich auf alte Vorstellungen und Urteile, nach denen die Verbreitung von russischen/asiatischen ‚Horden’ nach Westen als eine Bedrohung Europas wahrgenommen wurde. Schon Sully hatte sich 1632 in der Mitte des Dreißigjährigen Krieges (Karte 5) in seinem als „großem Plan“ bekannt gewordenen europäischen Nachkriegsprojekt eine ähnliche Ordnungsvision entwickelt.11 —————— 9
Schmale (wie Anm. 4), S. 53. Der Machtausgleich geschah durch vier Imperien im Osten (Russland, Deutschland, Österreich-Ungarn, Türkei) und größere Nationalstaaten wie Italien, Spanien und Frankreich neben kleineren eingesprengten Einheiten wie Griechenland, Belgien, den Niederlanden und Dänemark. Im Westen das Vereinigte Königreich Großbritannien mit seinem Imperium außerhalb Europas und im Norden die Vereinigten Königreiche Schweden und Norwegen. 10 Dazu gehörten interessanterweise auch Armenen und Kurden. Die großräumige Varianz des Grenzverlaufs zwischen Europa und Asien wird auch betont bei: Schultz, Hans-Dietrich, Europa: (k)ein Kontinent? Das Europa deutscher Geographen, in: Schröder, Iris; Höhler, Sabine (Hg.), WeltRäume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt am Main 2005. Karte 9 ist nur im Webportal zum Buch einsehbar. 11 „[...] von Moskau oder Polen rede ich hier nicht: Dieses ungeheuere Land, welches sich auf sechshundert Meilen in die Länge und auf vierhundert in die Breite erstreckt, wird zum Teil noch von Götzendienern bewohnt, zum Teil auch von schismatischen Griechen und Armeniern, deren Gottesdienst mit tausenderlei abergläubischen Gebräuchen vermischt ist und mit dem unsrigen eben deswegen sehr wenig Ähnlichkeit hat; es kann überdies mit ebenso vielem Grunde zu Asien als zu Europa gerechnet und für ein ganz unzivilisiertes Land gehalten werden, so dass es mit der Türkei in
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Ein zweiter Punkt in Sullys politischem Entwurf betraf die Religion, bezog sich also auf Fürsten, die sich nicht zur „christlichen“ Religion bekannten, und bestand darin, dass man diejenigen aus Europa vertrieb, die sich nicht zur Annahme einer der christlichen Religionen bewegen ließen. Wenn aber auch der Zar von Russland sich weigern sollte, diesem „christlichen“ Europa beizutreten, nachdem man ihn dazu eingeladen hatte, dann müsse man ihn wie den türkischen Sultan behandeln, indem man ihn seiner europäischen Besitzungen berauben und ihn nach Asien zurücktreiben müsse. Europa wurde hier immer noch christlich im Sinne der Ausbreitung der römisch-katholischen Kirche definiert, was aber nach dem 30 Jahre tobenden Religionskrieg unmöglich wurde. Die Feinde Europas waren im großen Plan Sullys genauso deutlich gezeichnet wie Europa selbst.12 Der Ural als Grenze zwischen Europa und Asien wurde im 18. Jahrhundert nicht zuletzt von russischer Seite unter Peter dem Großen ins Spiel gebracht. Die Grenze sollte den asiatischen Teil des russischen Reiches gegenüber einem als europäisch erachteten Teil markieren; eine Idee, die sich dann durchsetzte, ohne die Diskussion über die Zugehörigkeit Russlands zur europäischen Zivilisation zu beenden. Trotz des immer stärkeren Engagements Russlands in der europäischen Politik und seines Aufstiegs im Konzert der europäischen Mächte, besonders seit Napoleons Niederlage, wuchs im Westen die Neigung keineswegs, Russland fraglos zu Europa zu rechnen. Alexis de Tocqueville stellte zum Beispiel in seinem Buch über die Demokratie in Amerika fest, dass es 1835 zwei große Völker auf der Erde gab, die auf das gleiche Ziel zuzuschreiten schienen, die Russen und die Anglo-Amerikaner. Alle anderen Völker schienen etwa die von der Natur abgesteckten Grenzen erreicht und nur noch die Aufgabe ihrer Konservierung zu haben. Dagegen waren die USA und Russland im Wachsen begriffen, während alle anderen Länder einen Stillstand erreicht hatten.13 Es läuft eine Kontinuitätslinie von Sullys rempart zur Idee eines cordon sanitaire nach dem Ersten Weltkrieg. Die Leitfrage war in beiden Fällen, wie man den Frieden sichern konnte. Die Friedensfrage war auch ein wichtiger Ausgangspunkt für Richard Coudenhove-Kalergis paneuropäische Bewegung, die Anfang der 1920er Jahre als ein Friedensprojekt gegründet wurde. In seinem Europaentwurf gab es Berührungspunkte mit Sully und mit der Idee vom cordon sanitaire, aber auch klare Unterschiede. Coudenhove-Kalergi sah Europa in einem globalen Zusammenhang. Seine Weltkarte (Karte 6) folgt der damals gängigen Auffassung von fünf Wirtschaftsgroßräumen im globalen Maßstab. Ähnlich operierte John Maynard Keynes zu jener Zeit mit seiner Europakonzeptualisierung.14 —————— eine Klasse gehört, ob man ihm gleich fünfhundert Jahren eine Stelle unter den christlichen Mächten angewiesen hat.“ Zit. n. Schmale (wie Anm. 4), S. 54-55. 12 Zur konfessionellen Spaltung Europas in der Frühen Neuzeit siehe Schilling, Heinz, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten, 1250 bis 1750, Berlin 1999. 13 Schmale (wie Anm. 4), S. 55. 14 Coudenhove-Kalergi projizierte seine politisch-ökonomischen Europapläne in die Karte: Sein Paneuropa umfasste auch die französischen, spanischen und portugiesischen Kolonien, erstreckte sich also nicht allein auf den Kontinent Europa, klammerte allerdings Großbritannien mit seinem Empire und Russland bzw. die Sowjetunion aus. Die Zuordnung der Türkei, Äthiopiens und Siams (nach 1939 Thailand) wurde im Sinne offener Entwicklungen mit Fragezeichen versehen. Links unten im Kartenbild ist „Paneuropa“ als Detailskizze mit den Grenzen der Nationalstaaten ausgewiesen. Zu Ri-
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Die Technik der politischen Kartografie mit dem Ziel einer europäischen Neuordnung wurde dann seit den 1930er Jahren von den Nationalsozialisten propagandistisch ausgebaut („Großraum Europa“, „Großwirtschaftsräume“). Dabei wurde die zentrale Rolle Mitteleuropas betont, die Coudenhove-Kalergi eher herunterspielte. Zwei typische Beispiele für die nationalsozialistische Verwendung von Europadarstellungen liefern die beiden Plakate: Das erste illustriert die angebliche Einkreisung Deutschlands durch feindliche Mächte Anfang der 1930er Jahre, wobei der Hinweis auf die Begrenzung der Armee Deutschlands auf 100.000 Mann im Versailler Friedensvertrag nicht fehlen darf (Karte 8). Das zweite Plakat zeigt Deutschlands Rolle nach den Kriegserfolgen von 1939/40 als Garant der europäischen Zivilisation gegen die Bolschewiken und Stalins Sowjetunion im Osten, wobei Großbritannien als Friedhof Churchills ausgeklammert wird (Karte 10).15 Im Kalten Krieg wurde der „Eiserne Vorhang“ zu einer Trennlinie quer durch Europa, was zahlreiche Karten zeigen, die hier nicht reproduziert werden können. Wegen der Belastung durch die Nationalsozialisten und wegen dieser Ost-West-Polarisierung verschwand der Begriff Mitteleuropa. Europa bestand nunmehr aus West- und Osteuropa. Mitteleuropa kam nach 1990 zurück, eher in der englischen Form Central Europe, um Kontinuitätslinien zum nationalsozialistischen Begriff zu vermeiden. Einige der Kernländer des cordon sanitaire nach dem Ersten Weltkrieg definierten sich in den 1990er Jahren als Central Europe, um eine deutliche Abgrenzung zu Russland zu betonen. Osteuropa war nun der Begriff, der für Russland, Weißrussland und die Ukraine übrig blieb. So gesehen lebte die alte Trennlinie im Osten wieder auf, auch wenn sie seit dem Kalten Krieg verschoben ist. Die auf den Eurobanknoten abgebildeten Karten der Europäischen Union der 25 weisen schematisch auf diesen Umstand hin.16 Hier stehen eigentlich nur die Konturen West-, Nord- und Südeuropas als Symbol für ein nicht zuletzt durch die Einführung des Euro wirtschaftlich und politisch geeintes Europa. Die gesamte Ostgrenze verschwimmt, da der kartografische Ausschnitt abgeschnitten wird. Überwölbt werden die Kartendarstellungen durch Brücken, um symbolisch zu verdeutlichen, dass Europa keine Festung, sondern offen ist und Verbindungen schaffen will, statt abzugrenzen und auszuschließen. Aber die Schlüsselfrage für die Zukunft Europas bleibt, inwieweit die Ostgrenze eine Festung zementieren oder ob es der Europäischen Union gelingen wird, über Durchlässigkeit und Austausch eine stufenweise politische, wirtschaftliche und kulturelle Transformation an den östlichen Rändern zu fördern. Die Frage ist aber auch, ob eine um Rumänien, Bulgarien und die Türkei erweiterte EU eine binneneuropäische Grenzlinie zwischen den germanischen und romanischen Teilen auf —————— chard Coudenhove-Kalergis Plänen vgl. Orluc, Katiana, A wilhelmine legacy, Coudenhove-Kalergi's Pan-Europe and the crisis of european modernity, 1922-1932, in: Eley, Geoff; Retallack, James (Hg.), Wilhelminism and its legacies. German modernities and the meanings of reform. 1890-1930, New York 2004, S. 219-234. 15 Zur politischen Kartografie der Zwischenkriegszeit siehe Herb, Guntram H., Under the map of Germany. Nationalism and propaganda 1918-1945, London 1997. Karte 10 ist nur im Webportal zum Buch einsehbar. 16 Ansichten der Banknoten liefert die deutsche Bundesbank, in: (05.12.04)
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der einen Seite und den slawischen auf der anderen entwickeln wird. Und zu fragen ist auch, wie Europa aus der Perspektive der Balkanhalbinsel künftig aussehen wird. Die Zukunft Europas ist heute genauso offen wie sie es immer war, und die hier vorgestellten Karten belegen, dass es sich bei Europa um eine Idee handelt, die unaufhörlich von seinen Intellektuellen und Bürgern neu zu denken und zu formulieren ist. Die ausgewählten Karten machen deutlich, wie Traditionen der Repräsentationserstellung Europas mithilfe von Karten bestehen. Die venezianische Karte von 1777, der Ausschnitt aus dem Le Sage Atlas und die anderen Karten zeigen, sei es nun mit scharfen oder unscharfen Konturen, ein sich im ständigen Wandel befindliches Bild von Europa. Quellen Nr. 3.10 Europakarten seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert Karte 1: Europa II. (Venedig 1777)17
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Nuovo Atlante Portatile, Venedig 1777, zweite Karte, Europa.
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Karte 2: Europe Moderne (Florenz 1807)18
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Le Sage, A., Atlas historique, chronologique, géographique et généalogique, mit Korrekturen und Ergänzungen, Florenz 1807.
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Karte 3: Prospetto Politico dell’ Europa (Gotha 1874)19
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Stieler, Adolf; Berghaus, Hermann, Atlante Scolastico per la geografia politica e fisica, Gotha 1874, „Europa, Prospetto politico“, Tafel 15.
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Karte 4: Europa (Berlin 1928)20
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Riedel, Johannes (Hg.), Knaurs Weltatlas, Berlin 1928, Karte Nr. 5 „Europa“.
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Karte 5: Festung Europa. Das politische Projekt von Maximilien Herzog de Béthume Sully21
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Foucher, Michel (Hg.), Fragments d’Europe. Atlas de l’Europe mediane et orientale, Paris 1993, S. 21. Es handelt sich hier um eine mit modernen kartografischen Mitteln erzeugte Rekonstruktion des Entwurfes von Sully, die nur mithilfe der Textüberlieferung erstellt werden konnte.
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Karte 6: Globe Universelle (Wien 1923)22
Karte 7: Zone de couverture d’Eutelsat (Paris 1993)23
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Coudenhove-Kalergi, Richard N., Pan-Europe, Neuauflage vorbereitet durch Marco Pons und André Poulin im Auftrag der Paneurope Suisse und der Coudenhove-Kalergi Stiftung, Genf 1997, Tafel III (Erste Ausgabe: Coudenhove-Kalergi, Richard N., Pan-Europa, Wien 1923). Foucher (wie Anm. 21), S. 301.
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Karte 8: Deutschland (in Weiß) mit der im Versailler Frieden auf 100.000 Mann begrenzten Armee, umgeben von stark bewaffneten Nachbarn.24
Literatur Harley, John B., The new nature of maps. Essays in the history of cartography, hg. v. Paul Laxton, Baltimore 2001 Herb, Guntram H., Under the map of Germany. Nationalism and propaganda 1918-1945, London 1997 Jacob, Christian, L'Empire des cartes: approches théoriques de la cartographie á travers l'histoire, Paris 1992 Schröder, Iris; Höhler, Sabine (Hg.), Welt-Räume. Geschichte, Geographie und Globalisierung seit 1900, Frankfurt am Main 2005 Wolff, Larry, Inventing eastern europe. The map of civilisation on the mind of enlightenment, Stanford 1994
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Quelle: (19.01.2005).
AUF DER SUCHE NACH DEM EUROPÄISCHEN GEDÄCHTNIS1 Von Etienne François Neben der Diskussion um das Vorhandensein bzw. Nicht-Vorhandensein einer europäischen Öffentlichkeit2 gehört das Problem eines möglichen europäischen Gedächtnisses mit zu den am intensivsten von Publizisten und Politikern, Historikern und Sozialwissenschaftlern in allen europäischen Ländern diskutierten Fragen. Bei aller Unterschiedlichkeit der vertretenen Standpunkte und Perspektiven fällt allerdings auf, dass die in dieser Diskussion aufgestellten Thesen überwiegend spekulativer und hypothetischer Art bleiben. Während sich in der Tat in den letzten Jahrzehnten die Untersuchungen zu den länderspezifischen Gedächtniskulturen vermehrt haben – zum Beispiel durch die Übertragung des zuerst am französischen Beispiel durch Pierre Nora erprobten Ansatzes der „lieux de mémoire“ auf andere Länder – fehlten bis jetzt überzeugende historische Arbeiten und sozialwissenschaftlich gesicherte Untersuchungen, die es erlaubt hätten, eine fundierte Antwort auf die Frage zu geben, ob ein europäisches Gedächtnis überhaupt existiert. Umso erfreulicher sind daher die in den anbei liegenden Tabellen zusammengefassten Ergebnisse einer repräsentativen Meinungsumfrage im Januar 2003: Sie ermittelte in den sechs bevölkerungsreichsten Ländern Europas, genauer gesagt: in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Polen und Spanien, die Beliebtheit historischer Persönlichkeiten, die die europäische Identität verkörpern.3 Die Initiative zu dieser Meinungsumfrage, die im Übrigen die erste ihrer Art ist, ging von mehreren europäischen Stiftungen aus. Unter ihnen waren die französischen Stiftungen „Europartenaires“ und „Jean-Jaurès“ sowie die deutsche Friedrich-Ebert-Stiftung vertreten, hinzu kam eine Zusammenarbeit mit dem Fernsehsender Arte sowie den Zeitungen „Le Monde“, „El Pais“, „La Stampa“ und „Frankfurter Rundschau“. Federführend waren zum einen die französischen Historiker Philippe Joutard und Jean Lecuir, die schon mehrere repräsentative Meinungsumfragen über das französische „historische Pantheon“ für die Zeitschrift „L’Histoire“ organisiert hatten4, zum anderen das Meinungsforschungsinstitut „C.S.A.“, das im Auftrag der Organisatoren in jedem der untersuchten Länder zur gleichen Zeit einer repräsentativen Auswahl von je 1.000 Personen über 18 Jahren drei identische Fragen stellte. —————— 1 2 3 4
Essay zur Quelle Nr. 3.11, Eine Beliebtheitsskala der historischen Persönlichkeiten in Europa. Eine Meinungsumfrage (2003). Vergleiche hierzu vor allem Kaelble, Hartmut (Hg.), European public sphere and European identity in 20th century history, Themenheft des Journal of European Integration History 8/2 (2002). Diese sechs Länder zählen zusammen 337,3 Millionen Einwohner, also fast drei Viertel der GesamtBevölkerung der Europäischen Union (74,3 Prozent genau). Joutard, Philippe; Lecuir, Jean, „Le palmarès de la mémoire nationale: Sondage sur les héros des Français“, in: L’Histoire, n° 242 (2000), S. 32-39.
Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis
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Bei der ersten Frage handelte es sich um eine „offene“ Frage, das heißt eine Frage ohne vorgegebene Antwort, mit folgendem Wortlaut: „Stellen Sie sich bitte vor, Sie haben die Möglichkeit, sich eine Stunde lang mit einer historischen Persönlichkeit zu unterhalten, die den Gedanken der europäischen Identität vertritt. Wen würden Sie sich aussuchen?“. Sie wurde durch zwei „geschlossene“ Fragen ergänzt, die jeweils 14 historische Figuren aus der Zeit vor 1800 und aus dem 19. und 20. Jahrhundert enthielten. Die Frage lautete: „Wer bzw. welche der historischen Persönlichkeiten in dieser Liste verkörpert in Ihren Augen am besten die europäische Identität?“. Diese Listen der „Grands Hommes européens“, wie man in der Sprache der „Aufklärung" sagen würde, waren in Zusammenarbeit mit Historikern aus den jeweiligen Ländern erarbeitet worden: Sie enthielten die Namen von unterschiedlichen historischen Persönlichkeiten aus den sechs Ländern und waren so konzipiert, dass sie nicht nur Männer, sondern auch Frauen, nicht nur Regenten und Politiker, sondern auch Vertreter von Wissenschaft und Kunst, Religion und Kultur miteinbezogen. Die Ergebnisse der Untersuchung wurden im März 2003 auf einer internationalen Tagung in den Räumen der UNESCO in Paris vorgestellt und diskutiert, ehe sie später in Form eines Sammelbandes einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.5 Welche Schlüsse lassen sich nun aus dieser innovativen, äußerst aufschlussreichen wie auch höchst differenzierten Untersuchung ziehen? Als erstes Ergebnis fällt schlicht auf, dass das Experiment, das bis jetzt noch nie erprobt worden war, funktioniert hat und im Großen und Ganzen als gelungen betrachtet werden kann. Dieser Erfolg ist umso höher zu bewerten, als der Ansatz dieser Untersuchung sich sehr stark an einem in Frankreich entwickelten Modell orientierte. Ebenso wie die erfolgreiche Übertragung des auch zuerst am französischen Fall entwickelten Modells der „lieux de mémoire“ zeigt der Erfolg der Umfrage, dass die Gemeinsamkeiten zwischen den europäischen Ländern in der Frage der Einstellung zur Vergangenheit letztendlich viel stärker sind als ihre Unterschiede – entgegen der oft vertretenen These von der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des französischen „rapport au passé“. Dieser Erfolg sollte allerdings nicht über ein zweites grundlegendes und ernüchterndes Ergebnis hinwegtäuschen, nämlich die Zweitrangigkeit der europäischen Identität gegenüber der nationalen Identität. Dies wird zuerst durch den ausgesprochen hohen Anteil an Nicht-Antworten („keine Antwort“) auf die offene Frage deutlich (44 Prozent im Durchschnitt für die sechs untersuchten Länder), aber auch bei den an sich leichter zu beantwortenden „geschlossenen“ Fragen (13 Prozent bzw. 15 Prozent NichtAntworten). – Dieser Anteil ist umso schwerwiegender, als bei den zahlreichen vergleichbaren Meinungsumfragen, die nur in einem Land durchgeführt werden und bei welchen es nur um Persönlichkeiten der eigenen Geschichte geht, der Anteil an NichtAntworten im Durchschnitt zwischen 5 Prozent und maximal 10 Prozent liegt. Die Tatsache, dass bei der Antwort auf die offene Frage die befragten Personen in jedem Land zuerst und vor allem ihre Landsleute, ob aus der Geschichte oder der Gegenwart, nannten, ist ein weiterer Beleg für den Primat des nationalen Bezugsrahmens. In den sechs untersuchten Ländern, wie vermutlich in den anderen europäischen Ländern auch, ord—————— 5
Jeanneney, Jean-Noël; Joutard, Philippe (Hg.), Du bon usage des grands hommes en Europe, Paris 2003.
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Etienne François
net sich die Einstellung zur Vergangenheit und zur kollektiven Identität spontan und wie selbstverständlich zuvorderst in den nationalen Rahmen und erst in einem zweiten Schritt in einen größeren, europäischen Rahmen ein. In politischer wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht hat der Nationalstaat sehr viel von seiner früheren Bedeutung verloren; auf der Ebene der kollektiven Vorstellungen sowie auch in der Einstellung zur Vergangenheit bleibt er aber bestimmend. Noch mehr vielleicht als zur Zeit von Ernest Renan sind unsere heutigen europäischen Nationen „Gedächtnis-Nationen“.6 Darüber hinaus weisen die nach den üblichen Kriterien der sozialwissenschaftlichen Analyse (Alter, Geschlecht, Beruf, Bildungsniveau, regionale, politische und konfessionelle Zugehörigkeit) gewichteten Ergebnisse der Untersuchung eindeutig nach, dass das Interesse für die Identität und Geschichte Europas höchst selektiv ist. So ist das Interesse für Europa stärker bei Männern als bei Frauen, stärker bei der jüngeren als bei der älteren Generation, stärker bei Stadtbewohnern, insbesondere in den Großstädten, als bei der Landbevölkerung und stärker bei den oberen als bei den unteren Schichten. In allen Ländern schließlich lässt sich eine besonders starke Korrelation zwischen dem Interesse für Europa und dem Bildungsniveau feststellen; ob in Spanien oder in Polen, in GroßBritannien oder in Italien: je höher das Bildungsniveau, desto stärker das Interesse an Europa, je niedriger das Bildungsniveau, desto stärker das Desinteresse. Die Ergebnisse dieser vergleichenden Meinungsumfrage sind zweifelsohne eine hilfreiche Warnung vor der Versuchung, eine schlichte „europäische Illusion“ anzunehmen. Aber sie verdeutlichen auch noch mehr als das, denn ihre Ergebnisse lassen in mehrerlei Hinsicht Ansätze einer im Entstehen begriffenen, ja möglicherweise schon bestehenden europäischen Gedächtniskultur erkennen. Die auf die offene Frage hin gegebenen Antworten sind ein erster Hinweis in diese Richtung; da hier keinerlei Antwort vorgegeben war, sind sie besonders aufschlussreich. Unter den Persönlichkeiten, die mindestens 2 Prozent der Stimmen erhielten, findet man in der Tat außer den führenden Politikern der jeweiligen Länder, außer dem Papst und Romano Prodi, der ohne Zweifel viel eher aufgrund seiner Qualitäten als italienischer Politiker als in seiner Eigenschaft als Präsident der Europäischen Kommission genannt wurde, vier Persönlichkeiten, nämlich de Gaulle, Napoleon, Churchill und Victor Hugo, die einer entfernteren Vergangenheit angehören und die – was mindestens die drei ersten betrifft – nicht nur von ihren eigenen Landsleuten genannt wurden, sondern auch von andern. Gleichermaßen kann man feststellen, dass, wenn auch die befragten Personen ihre eigenen Landsleute an erster Stelle platzieren, sie doch danach auch spontan Persönlichkeiten aus anderen europäischen Ländern erwähnen: so erwähnen zum Beispiel die Polen nur wenig überraschend zuerst ihren Präsidenten Alexander Kwasniewski und gleich danach „ihren“ Papst; dann aber folgen, allerdings mit deutlichem Abstand, Gerhard Schröder und Margaret Thatcher, Napoleon und Churchill, de Gaulle, Tony Blair und Jacques Chirac. Der gleiche Befund gilt für die fünf anderen Länder. —————— 6
In seiner berühmten Rede „Qu’est-ce qu’une nation?“ („Was ist eine Nation?“), die er am 11. März 1882 in der Pariser Sorbonne hielt, definierte der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823-1892) die Nation als „eine Seele, ein geistiges Prinzip“, die u.a. auf dem „gemeinsamen Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen“ beruht, vgl. Renan, Ernest, „Was ist eine Nation?“, in: Jeismann, Michael; Ritter, Henning (Hg.), Grenzfälle. Über alten und neuen Nationalismus, Leipzig 1993, S. 290-311, Zitat S. 308.
Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis
253
Was sich schon in den Antworten auf die „offene“ Frage andeutete, tritt in den Antworten auf die zwei „geschlossenen“ Fragen viel deutlicher hervor. Unter den insgesamt 28 historischen Persönlichkeiten, die in den zwei Listen zur Auswahl standen, haben sich die gefragten Personen eindeutig für sechs entschieden, die sie an hervorgehobener Stelle platziert haben: Leonardo da Vinci, Columbus und Luther für die Liste vor 1800, Churchill, Marie Curie und de Gaulle für die Liste des 19. und 20. Jahrhundert. Auffällig ist dabei nicht nur, dass diese sechs „europäischen Persönlichkeiten“ alle anderen klar distanzieren, sondern auch, dass sie in allen Ländern gut platziert sind: In der „älteren“ Liste steht Leonardo da Vinci an erster Stelle in Italien, an zweiter Stelle in Deutschland und in Spanien, an dritter Stelle in Frankreich und Großbritannien und an vierter Stelle in Polen, während in der „jüngeren Liste“ Churchill an erster Stelle in Großbritannien steht, an dritter Stelle in Italien und Polen und an fünfter Stelle in Deutschland, Frankreich und Spanien. Darüber hinaus lässt sich errechnen, dass keine dieser Persönlichkeiten von einer Mehrheit aus dem eigenen Land gewählt wurde: unter 100 Personen, die Leonardo erwähnt haben, findet man nur 22 Italiener gegenüber 24 Franzosen, 23 Deutschen, 18 Briten, acht Spaniern und fünf Polen. Unter 100 Personen, die Churchill erwähnten zählt man neben 48 Briten immerhin 16 Franzosen, 14 Deutsche, 13 Italiener, fünf Polen und vier Spanier, das heißt insgesamt 52 Nicht-Briten. Welche Ansätze zu einem gemeinsamen Geschichtsbild lassen sich nun aus diesen Ergebnissen ziehen? Für die Zeit vor 1800 deutet der erste Platz von Leonardo da Vinci, Columbus und Luther bereits darauf hin, dass die heutigen Europäer, im Unterschied zur europäischen Gründer-Generation unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht das „christliche Abendland“ in seiner katholisch-karolingischen Ausprägung favorisieren, sondern im Gegensatz dazu das Europa der Renaissance und der Reformation. Es ist ein Europa der Entdeckungen, des Aufbruchs und des Abenteurertums, das sich kritisch und kreativ mit seinem mittelalterlichen Erbe auseinandersetzt, sich der ganzen Welt öffnet und schließlich viel mehr Wert auf die Kultur und die Künste, die Wissenschaft und die Technik, kurzum auf den Geist legt als auf Macht und Herrschaft, Krieg und Eroberung. Ein ähnliches Bild drückt sich für die Zeit nach 1800 in der Zweitplatzierung von Marie Curie aus; eine Platzierung, die im Übrigen eindeutig den Stimmen der befragten Frauen zu verdanken ist, handelt es sich doch auch hier um eine Wissenschaftlerin, die durch ihre Entdeckungen und ihr persönliches Engagement sich um den wissenschaftlich-technischen Fortschritt und den Kampf gegen Krankheiten verdient machte und so zum Wohl der Menschheit im Sinne der Aufklärung beigetragen hat. In der Erst- und Drittplatzierung von Churchill und de Gaulle lässt sich schließlich die Bewunderung der heutigen Europäer für zwei Persönlichkeiten wiederfinden, die beide auch in Zeiten, in denen die Situation aussichtslos schien, entschiedene, mutige und kompromisslose Gegner des Nationalsozialismus und darüber hinaus überzeugte Demokraten wie auch resolute Gegner des Kommunismus waren. Beide waren dabei nicht nur engagierte Patrioten, sondern traten auch als Förderer des europäischen Gedankens und Akteure der europäischen Einigung hervor. Und schließlich stellen diese zwei Männer auch historische Persönlichkeiten dar, deren Bedeutung sich durch ihre Fähigkeit, die lebendige Tradition ihres Landes und die Idee eines freien Europas zu verkörpern nicht allein auf die Politik beschränkte: Churchill bekam den Literaturnobelpreis verliehen und de Gaulle gilt mit Recht als einer der größten Meister der französischen Sprache des 20. Jahrhunderts.
254
Etienne François
Als weitere Beobachtung aus den Ergebnissen der Meinungsumfrage fällt die Nähe untereinander, ja sogar die fortgeschrittene Verschränkung der „Nachbarn am Rhein“ auf7: In den Antworten auf die offene Frage wie in denen auf die geschlossenen Fragen zeichnen sich Deutsche und Franzosen durch den geringsten Prozentsatz an NichtAntworten aus. Außerdem repräsentieren sie die zwei Länder mit der größten Annäherung ihres jeweiligen „historischen Pantheons“: Zusätzlich zum gemeinsamen „Stammvater“ Karl dem Großen/Charlemagne sieht man, wie in der Beliebtheitsskala der Franzosen Luther, Gutenberg und Adenauer auf den höheren Plätzen auftauchen, während umgekehrt Voltaire, Napoleon und de Gaulle in der deutschen Liste vergleichbar gut platziert sind. Zwischen keinen anderen Ländern lässt sich eine so weit fortgeschrittene Verschränkung beobachten. Es sieht so aus, als ob in beiden Ländern der durch die deutsch-französische Aussöhnung und Zusammenarbeit bedingte Erfahrungsaustausch zu einem allmählichen Wahrnehmungswandel geführt habe, demzufolge die heutigen Franzosen und Deutschen die jeweilige Vergangenheit des Partnerlandes inzwischen auch als einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit akzeptieren, wenn nicht sogar anerkennen.8 Die dabei deutlich gewordenen Ansätze eines europäischen Gedächtnisses erschöpfen sich allerdings weder im Konsens noch in der Verschränkung. Sie lassen sich genauso gut im transnationalen Austausch wie auch in Konflikten festmachen. Die hohe Wertschätzung von Persönlichkeiten, die nicht nur der Geschichte eines Landes, sondern der von mehreren Ländern gleichzeitig zugehörig erscheinen, unterstreicht die Bedeutung dieser transnationalen Dynamik, die gerade auch für die vornationalen Epochen der europäischen Geschichte kennzeichnend ist: Dies gilt für Karl den Großen (Deutschland und Frankreich), Leonardo da Vinci (Italien und Frankreich) und Columbus (Italien und Spanien) ebenso wie für Marie Curie (Polen und Frankreich) und Picasso (Spanien und Frankreich). Neben den konsensfähigen bzw. transnationalen Persönlichkeiten sollte man schließlich die Persönlichkeiten nicht vergessen, die bei einem Teil der europäischen Bevölkerung großen Zuspruch erhalten, während sie bei anderen Widerspruch oder Ablehnung hervorrufen: Wie die Beispiele von Voltaire und Karl Marx zeigen, erfreuen sich diese als ideologisch-politisch stark konnotierte Persönlichkeiten quer durch ganz Europa einer großen Beliebtheit bei den linksorientierten und kirchenfernen Kreisen, während sie von den christlich geprägten und konservativen Bevölkerungsgruppen abgelehnt werden. Vergleichbare Brüche der Gedächtniskulturen lassen sich im Übrigen auch innerhalb der sechs untersuchten Länder entlang der weltanschaulichen, politischen bzw. regionalen Grenzen beobachten. Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass das Gedächtnis ebenso spalten wie zusammenführen kann. Das deutsche Beispiel ist in der Hinsicht besonders aufschlussreich. In der Beantwortung der geschlossenen Fragen lässt die Feinanalyse der Ergebnisse mit Hilfe der Differenzierungsparameter zwei gegensätzliche Geschichtsbilder hervortreten. Für die Persönlichkeiten der Zeit vor 1800 trennen —————— 7 8
Kaelble, Hartmut, Nachbarn am Rhein: Entfremdung und Annäherung der französischen und deutschen Gesellschaft seit 1880, München 1991. Rosoux, Valérie-Barbara, Les usages de la mémoire dans les relations internationales. Le recours au passé dans la politique étrangère de la France à l’égard de l’Allemagne et de l’Algérie, de 1962 à nos jours, Brüssel 2001.
Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis
255
sich die Gedächtniskulturen entlang der konfessionellen Grenze: während die Katholiken Karl den Großen und Leonardo an den beiden ersten Stellen platzieren, geben die Protestanten zuerst Luther und dann Gutenberg den Vorzug. Für die Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts wiederholt sich diese Spaltung, aber diesmal entlang der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze: während die Bewohner der „alten“ Bundesländer Adenauer an erster Stelle platzieren, gefolgt von Brandt und de Gaulle, setzen die Bewohner der „neuen“ Bundesländer Brandt an die erste Stelle, gefolgt von Adenauer und Karl Marx. Am Ende dieses kurzen Essays stehen eine gesicherte Schlussfolgerung, eine wahrscheinliche Erklärung und ein doppelter Wunsch: Als gesicherte Schlussfolgerung gilt, dass man tatsächlich, selbst wenn man die weiterhin ausgesprochen dominante Ausprägung des nationalen Bezugsrahmens berücksichtigt, von einem mindestens in Ansätzen vorhandenen europäischen Gedächtnis sprechen kann, und zwar von einem Gedächtnis, das schon über eine gewisse Selbstständigkeit verfügt und bei welchem man alle Merkmale der Gemeinsamkeit und der inneren Spannung wiederfindet, die für ein authentisches Gedächtnis typisch sind. Als wahrscheinliche Erklärung für diesen Befund liegt die Vermutung nahe, dass dieses gemeinsame Gedächtnis als eine Nachwirkung der langsam erfolgten sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas „von unten“ verstanden werden kann, und wahrscheinlich weitaus mehr darauf zurückzuführen ist als auf den Erfolg einer voluntaristischen Identitätspolitik „von oben“. Die weit vorangeschrittene Annäherung und Verflechtung der französischen und deutschen Gedächtniskulturen, das heißt der zwei Länder, die am frühesten und am intensivsten an diesem Einigungsprozess beteiligt worden sind, zeigt dies ebenso deutlich wie die eher distanzierte und auf die eigene Vergangenheit bezogene Gedächtniskultur jener Länder, die erst später zur Europäischen Union beigetreten sind, wie insbesondere Spanien und Polen. Wünschenswert wäre nun schließlich, dass zum einen weitere Meinungsumfragen dieser Art durchgeführt werden, auf dass man nicht nur über eine einzige Momentaufnahme, sondern über eine Reihe von Daten verfügt, die es ermöglichen, den Prozess der Entstehung und Entwicklung eines genuin europäischen Gedächtnisses im einzelnen zu verfolgen. Ebenso wünschenswert wäre es, dass die quantitative Untersuchung darüber hinaus durch zahlreiche qualitative Untersuchungen ergänzt würde, um zu einem präziseren und tieferen Verständnis der realen Bedeutung und der subjektiven Tragweite dieser ersten Beobachtungen zu gelangen. Das europäische Gedächtnis ist ein weites Feld, und wir sind erst am Beginn seiner Erschließung.
256
Etienne François
Quelle Nr. 3.11 Eine Beliebtheitsskala der historischen Persönlichkeiten in Europa. Eine Meinungsumfrage9 Antworten auf Frage I: „Stellen Sie sich bitte vor, Sie haben die Möglichkeit, sich eine Stunde lang mit einer historischen Persönlichkeit zu unterhalten, die den Gedanken der europäischen Identität vertritt. Wen würden Sie sich aussuchen?“ (Liste der Persönlichkeiten, die in allen sechs Ländern von mindestens 2 Prozent der Befragten genannt wurden, die eine Antwort gaben.) (Offene Frage, Antwort nicht vorgegeben) Joschka Fischer Gerhard Schröder Charles de Gaulle Tony Blair Jacques Chirac Napoleon Winston Churchill Johannes-Paul II. Edmund Stoiber Alexander der Gr. Angela Merkel José Maria Aznar Helmut Kohl Romano Prodi François Mitterrand Victor Hugo Silvio Berlusconi Margaret Thatcher
Gesamt (6 Länder) 9 8 6 5 5 4 4 3 3 3 2 2 2 2 2 2 2 2
Frankreich
Deutschl and
1 29 1 16 12 3 2 1 9 8 -
30 26 1 2 11 8 5 -
Großbritannien 2 2 29 3 3 18 1 1 1 8
Spanien
Italien
Polen
2 1 2 20 1 -
5 3 3 12 11 1
4 1 1 1 2 2 26 36 3
Antworten auf Frage II: „In dieser Liste, wer ist bzw. wer sind die Persönlichkeiten, die in Ihren Augen die europäische Identität am besten verkörpern?“ (Persönlichkeiten des 19. und 20. Jahrhundert). (Antworten mit Hilfe einer Liste gegeben)
Gesamt
Frankreich
Deutschland
%
Rang
%
Rang
%
Winston Churchill Marie Curie
22 19
1 2
20 41
5 2
13 10
Großbritannien
Spanien
Italien
Polen
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
5 7
60 25
1 2
8 17
5 2
17 5
3 11
9 17
3 1
—————— 9
Jeanneney, Jean-Noël; Joutard, Philippe (Hg.), Du bon usage des grands hommes en Europe, Paris 2003, S. 45, 181, 189, 191; Übersetzung aus dem Französischen von Florian Kemmelmeier und Franziska Kuschel.
257
Auf der Suche nach dem europäischen Gedächtnis
(Antworten mit Hilfe einer Liste gegeben)
Gesamt
Frankreich
Deutschland
%
Rang
%
Rang
%
Charles de Gaulle Konrad Adenauer Willy Brandt Napoleon I. Pablo Picasso Charlie Chaplin Königin Victoria Victor Hugo Frederic Chopin Karl Marx Garibaldi Goethe Keine der Personen (Antwort nicht
19 15 14 14 12 10 10 9 8 8 6 5 3
2 4 5 5 7 8 8 10 11 11 13 14
51 12 6 22 13 15 10 33 7 5 2 3 2
1 8 11 4 7 6 9 3 10 12 14 13
23 44 45 10 8 6 4 3 6 12 1 15 5
Großbritannien
Spanien
Italien
Polen
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
3 2 1 7 9 10 12 13 10 6 14 4
8 3 5 10 10 10 23 5 6 9 3 2 -
8 12 10 4 4 4 3 10 9 7 12 14
6 4 4 13 24 15 8 8 8 6 4 1 -
9 11 11 4 1 3 5 5 5 9 11 14
7 6 3 21 15 13 10 5 11 9 26 3 6
9 10 13 2 4 5 7 11 6 8 1 13
8 3 3 8 6 2 4 2 11 3 1 2 -
4 8 8 4 6 11 7 11 2 8 14 11
vorgeschlagen)
Keine Antwort Gesamt
13 (1)
2 (1)
2 (1)
9 (1)
13 (1)
8 (1)
68 (1)
(1) Gesamtsumme höher als 100, da die Befragten bis zu drei Antworten geben konnten
Antworten auf Frage III: „In dieser Liste, wer ist die bzw. wer sind die Persönlichkeiten, die in ihren Augen die europäische Identität am besten verkörpern?“ (Persönlichkeiten des Mittelalters und der frühen Neuzeit). (Antworten mit Hilfe einer Liste gegeben)
Gesamt
Frankreich
Deutschland
Großbritannien
Spanien
Italien
Polen
%
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
Leonardo da Vinci Christoph Columbus Martin Luther Karl der Große William Shakespeare Franz von Assisi Isaac Newton Voltaire Gutenberg Nikolaus Kopernikus Dante Alighieri
25 21
1 2
35 36
3 1
23 15
2 6
25 25
3 3
16 16
2 2
32 20
1 4
10 11
4 2
19 15 14
3 4 5
21 36 14
5 1 7
28 19 11
1 4 9
25 2 32
3 9 1
10 9 8
5 7 8
13 13 11
5 5 7
7 4 6
5 8 6
13 11 10 10 9
6 7 8 8 10
8 9 27 20 9
10 8 4 6 8
12 6 12 20 16
7 10 7 3 5
13 28 5 2 3
6 2 7 9 8
7 8 5 4 6
10 8 12 13 11
24 7 5 3 4
3 8 9 11 10
11 3 2 3 18
2 9 11 9 1
6
11
2
14
2
13
2
9
3
14
25
2
2
11
258 (Antworten mit Hilfe einer Liste gegeben) Karl V. Theresia von Ávila Miguel de Cervantes Saavedra Keine der Personen (Antwort nicht
Etienne François
Gesamt
Frankreich
Deutschland
Großbritannien
%
Rang
%
Rang
%
Rang
%
4 4 4
12 12 12
5 4 3
11 12 13
5 3 2
11 12 13
2 2 1
Spanien
Italien
Polen
Rang
%
Rang
%
Rang
%
Rang
9 9 14
14 10 19
4 5 1
2 2 1
12 12 14
1 5 1
13 7 13
5
4
3
-
-
5
-
15 (1)
3 (1)
4 (1)
17 (1)
12 (1)
7 (1)
65 (1)
vorgeschlagen)
Keine Antwort Gesamt
(1) Gesamtsumme höher als 100, da die Befragten bis zu drei Antworten geben konnten
„Keine Antwort“ auf Frage I bis III (Angaben in Prozent) Land Deutschland Frankreich Spanien Italien Großbritannien Polen Insgesamt (6 Länder)
Offene Frage 32 33 39 47 52 59 44
Geschlossene Frage (früher als 19. Jahrhundert) 4 3 12 7 17 65 15
Geschlossene Frage (19. und 20. Jahrhundert) 2 2 13 8 9 68 13
Literatur Le Débat, Nr. 78 (Januar-Februar 1994), Sondernummer „Mémoires comparées“ Flacke, Monika (Hg.), Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama, Berlin 1998 Dies. (Hg.), Mythen der Nationen. 1945, Arena der Erinnerungen, 2 Bde., Mainz 2004 Mendras, Henri, L’Europe des Européens. Sociologie de l’Europe occidentale, Paris 1997 Plessen, Marie-Louise von (Hg.), Idee Europa. Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union, Berlin 2003
4. EUROPA UND DIE WELT
DAS VERHÄLTNIS ZWISCHEN HOLLÄNDERN, INDO-EUROPÄERN UND INDONESIERN. EUROPÄISCH-SÜDOSTASIATISCHE KONTAKTGESCHICHTE VOM 17. BIS 20. JAHRHUNDERT1 Von Vincent Houben Die europäisch-südostasiatische Kontaktgeschichte erforscht unter anderem die historischen Verbindungen zwischen Europa und den außereuropäischen Weltregionen, die zur Kolonisierung von Großteilen des Südens geführt haben. Im Rahmen der Etablierung und Konsolidierung der europäischen Kolonialstaaten im südostasiatischen Raum fanden wichtige Transfers statt: Die Macht wurde nach europäischem Muster zentralisiert. Die Kolonialstaaten errichteten moderne, rationale Verwaltungsinstitutionen und zogen international anerkannte Grenzen hoch. Anders als in Europa kam der Prozess der allmählichen Beschränkung der Staatsgewalt jedoch lange nicht in Gang und der Mehrheitsbevölkerung wurden keine Bürger- und politischen Mitspracherechte eingeräumt. In den kolonisierten Gebieten mussten die Europäer trotz ihrer Überlegenheit allerdings auch auf einheimische Strukturen und Personen zurückgreifen, was dem Kolonialstaat einen eigenartigen, hybriden Charakter verlieh. Die Geschichte Indonesiens zeigt exemplarisch, wie sich die Kontaktgeschichte zwischen Ost und West inhaltlich gestaltet hat, und wie im Projekt der Kolonisierung schon die Voraussetzungen für die Dekolonisierung angelegt waren. Die Beziehung zwischen Niederländern und Indonesiern lief nach einer Phase der gegenseitigen Interaktion auf eine Verschärfung und Politisierung der Verhältnisse hinaus, weil die Unterworfenen sich der Ungleichheit der Machtverhältnisse immer bewusster wurden. Aufgrund des Zugangs zur westlichen Bildung bildete sich eine einheimische Intelligenzija, welche die westlichen Ideen der Nation und der nationalen Unabhängigkeit auf den durch die Kolonisierung geschaffenen Raum projizierte und eine breite Emanzipationsbewegung ins Rollen brachte. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dadurch eine Restauration der Kolonialhegemonie verunmöglicht. Die Errichtung eines unabhängigen Staates war damit unausweichlich geworden. Historisch ist das europäisch-südostasiatische Verhältnis zum einen durch Prozesse der Polarisierung und Abgrenzung gekennzeichnet, zum anderen durch Prozesse des Kulturtransfers und der Vermischung zwischen Europa und Asien und zwischen (einheimischer) Tradition und (europäischer) Moderne. Eine besondere, in der Historiogra—————— 1
Essay zur Quelle Nr. 4.1, Thomas Anthonij Fruin über die Rolle und Zukunft der Indo-Europäer in den Niederländischen Kolonien Südostasiens (1931).
260
Vincent Houben
fie Südostasiens bisher aber kaum beachtete, Rolle spielten dabei die Indo-Europäer oder europäisch-einheimischen Mestizos („Mischlinge“). Die ersten Niederländer ließen sich in Indonesien im 17. Jahrhundert nieder. Damals untersagte die holländische Handelskompanie europäischen Frauen die Überfahrt nach Asien. Den holländischen Kaufleuten und Soldaten war es jedoch erlaubt, eine einheimische Frau als Partnerin zu nehmen. Bedingung für die offizielle Heirat war, dass die Frau dem Christentum beitrat und der Mann über den Grad von Wohlstand verfügte, der eine für Europäer angemessene Lebensführung gestattete. Da die meisten Europäer mit ihren einheimischen Frauen im Konkubinat lebten, stammten die IndoEuropäer mehrheitlich aus nicht vom Staat und der Kirche sanktionierten Beziehungen. In der Umgebung der ersten Handelsplätze und Festungen der Europäer bildeten sich ethnisch gemischte Siedlungen, in denen neben Chinesen, Arabern, Indern und Javanern auch Indo-Europäer oder „Mestizos“ lebten. Da bis Ende des 19. Jahrhunderts die Zahl der europäischen Männer die der Frauen weit übertraf, wurde bis dahin das so genannte europäische Element in der niederländischen Kolonialgesellschaft vom „Mestizo“ geprägt. Tatsächlich schon im 18. Jahrhundert, formal-gesetzlich aber erst seit 1854 wurde zwischen Europäern, Einheimischen und „fremden Östlichen“ unterschieden. Innerhalb der indo-europäischen Gemeinschaft wurde eine Trennlinie gezogen zwischen denjenigen, die durch einen europäischen Vater nach der Geburt als Nachkommen anerkannt wurden und deshalb den Status von Europäern erworben hatten, und denjenigen, denen eine solche Anerkennung fehlte und die deshalb den Einheimischen zugerechnet wurden. Eine weitere soziale Kluft entstand am Ende des 19. Jahrhunderts, als aufgrund der verbesserten Transportmöglichkeiten mehr europäische Frauen in Indonesien eintrafen, die eine bürgerlich-europäische Moral mitbrachten und die einheimischen Konkubinen aus dem Haus verbannten. Damit wurde innerhalb der Kolonie eine neue soziale Barriere zwischen den „weißen Europäern“ und den „braunen Europäern“ errichtet. Mit der Entstehung der indonesischen Nationalbewegung wuchs der Abstand zwischen Europäern und einheimischen Indonesiern, was die Indo-Europäer weiter ins Abseits brachte und ihnen letztendlich die Wahl aufzwang, sich entweder für oder gegen einen Zusammenschluss mit den Europäern zu entscheiden. 1912 wurde, unter dem Motto „Indien für die Inder“ die Indische Partei gegründet, welche die niederländische Kolonisierung radikal ablehnte und die Selbständigkeit unter der Herrschaft aller ‚Einheimischen’ – Indonesier, Chinesen und Indo-Europäer – einforderte. Die Partei, die primär ein Ausdruck der eigenständigen Emanzipationsbewegung von Indo-Europäern war, wurde jedoch verboten. Ihre Anführer wurden verbannt. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde 1919 der Indo-Europäische Verbund errichtet, mit dem Ziel, die soziale, intellektuelle und wirtschaftliche Entwicklung dieser Bevölkerungsgruppe zu fördern. Die Partei baute stark auf der niederländischen Kolonialpolitik und Kultur auf. Diese Tendenz verschärfte sich im Zuge der Radikalisierung der Nationalbewegung. Die Entwicklung der niederländischen Kolonialpolitik war für die gesellschaftliche Rolle der Indo-Europäer im 20. Jahrhundert von entscheidender Bedeutung. 1901 wurden die bisherigen offiziellen Leitprinzipien „Beherrschung“ und „Abschöpfung“ ersetzt durch die Konzepte „Entwicklung“ und „Selbstverwaltung“. Das war die Wende zur „ethischen Politik“, womit ein Programm bezeichnet wurde, das den gesamten indone-
Das Verhältnis zwischen Holländern, Indo-Europäern und Indonesiern
261
sischen Archipel und seine Bevölkerung unter niederländischer Leitung und nach westlichem Vorbild zur Selbstverwaltung führen sollte. Die Konkretisierung und Umsetzung dieser Prinzipien erfolgte jedoch nur halbherzig, insbesondere durch eine zweckorientierte Wohlfahrtspolitik, die zu einer Erweiterung von Bildungsmöglichkeiten und einer Ausweitung von Reisfeldern durch die Verbesserung der Bewässerungsanlagen führte. Die Entwicklungspolitik wurde von den meisten Kolonialpolitikern nicht zu Ende gedacht, da eine zeitliche Begrenzung der Kolonialherrschaft nicht beabsichtigt war. Als die indonesische Emanzipationsbewegung zunehmend politische Forderungen stellte, wurde das „ethische Prinzip“ als Leitfaden der Kolonialpolitik aufgegeben und abgelöst von einer repressiven Herrschaft. Die Begründung dafür lautete, dass die Indonesier noch nicht über den notwendigen Entwicklungsstand für die Selbstverwaltung verfügten. Von der konservativen Haltung der Kolonialbehörden unterschied sich nur die Stuw (Staudamm)-Gruppe, die sich von 1930 bis 1933 für eine Weiterverfolgung der „ethischen Prinzipien“ einsetzte. Die Stuw-Gruppe, der hohe Beamte der niederländischen Kolonial- und Staatsverwaltung, wie H. J. van Mook, F. M. van Asbeck und Th. A. Fruin, angehörten, befürwortete eine Loslösung von Indonesien aus der niederländischen Kolonialherrschaft innerhalb absehbarer Zeit und wandte sich gegen den Versuch, die indonesische Nationalbewegung zu unterdrücken. Die Stuw-Bewegung konnte sich jedoch nicht gegen das herrschende politische Klima durchsetzen und zerbrach nach wenigen Jahren. Th. A. Fruin, Professor an der Rechtshochschule in Batavia und Vorsitzender der Stuw-Gruppe bezog in seinen 1931 veröffentlichten „Bemerkungen zum IndoProblem“2 Stellung zu Fragen der Kolonialgesellschaft und ihrer Zukunft sowie der Rolle der Indo-Europäer. Fruin war zwar für seine Zeit fortschrittlich, aber immer noch den orientalistischen Schemata des Gegensatzes von Ost und West verhaftet. So stand auch für ihn der Westen für Rationalismus und Fortschritt, während der Osten Emotionalität und Stillstand repräsentierte. In einer ‚dualistischen’ Wirtschaft vertraten somit die Europäer und Chinesen die Dynamik der Moderne, die Indo-Europäer und Indonesier eine extensive Tradition. Fruin hat in seinem Essay die Zukunft zum Großteil richtig vorhergesagt. Er schätzte die grundlegende Bedeutung der indonesischen Nationalbewegung richtig ein, indem er die fortschreitende Emanzipation der Indonesier als historische Notwendigkeit bewertete. Zugleich aber war er zu Recht pessimistisch, was die Möglichkeit der IndoEuropäer, sich zum Bindeglied zwischen Europa und Asien zu entwickeln, betraf. Aufstrebende westlich ausgebildete Indonesier sollten sie aus dieser Rolle verdrängen. Nur in einem Punkt hat Fruin sich geirrt: Die Zukunft der Indo-Europäer lag seiner Ansicht nach in der Assimilation mit den Indonesiern. Seine Einschätzung war damit von einer gewissen, unter damaligen Europäern üblichen Geringschätzung der „Mestizo“Bevölkerung geprägt. Nach 1950 ist, wie wir jetzt wissen, die Mehrheit der IndoEuropäer dann aber nicht im indonesischen Volk aufgegangen, sondern in die Niederlande, nach Australien und Nordamerika ausgewandert und damit Teil der westlichen Moderne geworden. —————— 2
Vgl. Quelle Nr. 4.1.
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Vincent Houben
Quelle Nr. 4.1 Thomas Anthonij Fruin über die Rolle und Zukunft der Indo-Europäer in den Niederländischen Kolonien Südostasiens (1931)3 [...] Das „Indo-Problem“ könnte wie folgt dargestellt werden: Haben die Indo-Europäer hier zu Lande, zumindest ein Teil von ihnen, eine Zukunft als separate Gruppe, einerseits mit der indonesischen Bevölkerung zusammenlebend, andererseits aber nicht in dieser aufgehend? Meint man mit 4 Koks , dass das nur „innerhalb einer bestimmten ökonomischen Ordnung“ möglich ist, in welcher der Weiße sich wie ein Führer auf die inländische Bevölkerung „aufpfropft“, so muss meines Erachtens diese Frage verneinend beantwortet werden. Es gibt kein einziges Anzeichen, dass die in Indien etablierte europäische Bevölkerung (Indos und Dauereingesessene) gesellschaftlich dauerhaft fähiger und geeigneter als die Indonesier sein würde. Und selbst, wenn sie besser geeignet wäre, müsste fragwürdig bleiben, ob das genügte, ihre führende Rolle dauerhaft zu festigen. Die Gesellschaften Westeuropas sind rationalistisch-wirtschaftlich orientiert, dem haben sie ihre übermächtige Position im Orient zu verdanken. Die Nachkommen der Westlichen jedoch, haben in dem ganz andersartigen Umfeld nicht die gleiche Orientierung wie ihre westlichen Vorfahren behalten, von einer eventuellen Blutvermischung mit den Indonesiern abgesehen. Koks weist zurecht darauf hin, dass die Ostindische Kompanie dem Privathandel mit kurzen Unterbrechungen immer entgegengewirkt hat, dass auch unter dem Kultivierungssystem wenig Platz dafür war, und dass, nachdem letztendlich im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts Platz für Privatinitiativen gemacht worden war, westliche Unternehmen, in zunehmenden Maße mit importierten Arbeitskräften arbeitend, den Bereich der Großbetriebe fast komplett erobert haben, während die Chinesen den Zwischenhandel und, zusammen mit den Indonesiern, den Kleinhandel besetzten. Die indo-europäische Bevölkerung spielt seit langem auf dem wirtschaftlichen Terrain eine sehr bescheidene Rolle, die eher geringfügiger als größer wird. Sie zeigt dann auch – nichtsdestotrotz der Ausnahmen – auf wirtschaftlichem Gebiet eine Natur, die dichter bei der indonesischen als der westlichen steht. Dass sie durch größere Eignung im Stande sein sollten, Westler und Chinesen im Wirtschaftsbereich zu verdrängen und zugleich der aufkommenden einheimischen Mittelschicht die Stirn zu bieten, erscheint als Illusion. Im staatlichen und öffentlichen Sektor, wo vor allem Zeugnisse gelten, sieht die Zukunft der Indos nicht besser aus, seitdem bei den Indonesiern die westliche Bildung genügend ausgeweitet worden ist, um diese zum kräftigen Wettbewerb zu befähigen. Man kann außerdem wiederholt in 5 „Unsere Stimme“ die Klage lesen, dass sich die einheimischen Schüler in den Mulo-Schulen und den Sekundarschulen viel mehr anstrengen als die indischen Jungen. Die bereits auf den unteren Ebenen begonnene Verdrängung des Indos durch den Indonesier wird sich in der unmittelbaren Zukunft bis in die mittleren und höchsten Ränge fortsetzen; es sei denn, die Emanzipation der einheimischen Gesellschaft wird blockiert. An der Indo-Gesellschaft als Bindeglied zwischen der rein westlichen und rein östlichen Sphäre gibt es immer weniger Bedürfnis. Koks weist auf einige ausgezeichnete indische Bauunternehmer hin, die durch die Kombination von westlicher Energie und Organisationsvermögen sowie mit
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Fruin, Thomas Anthonij, Opmerkingen over het Indo-vraagstuk, in: De Stuw. Orgaan der Vereeniging van maatschappelijke en staatkundige ontwikkelung van Nederlandsch Indië 2 (1931) Nr. 18 (16. September 1931), S. 5-10, Auszüge von S. 7-8; Übersetzung aus dem Niederländischen von Vincent Houben. Koks, Joseph Theodore, Koloniaal-Sociografische Bijdrage, Diss. Amsterdam 1930. Mulo stand für ‚Meer Uitgebreid Lager Onderwijs’, eine fortgesetzte Grundschule mit Abschluss auf mittlerem Niveau.
Das Verhältnis zwischen Holländern, Indo-Europäern und Indonesiern
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Kenntnissen des Einheimischen ausgezeichnete Resultate erreicht haben. Man darf daraus jedoch keine allgemeinen Schlussfolgerungen ziehen. Ein Großteil der Indo-Welt besteht aus Stadtbewohnern, die den urbanen Einheimischen kennen, aber wenig von den richtigen Dorfbewohnern wissen, weniger sogar als der zivilisierte holländische Beamte, der sich durch Studium und Wahrnehmung informiert hat, während der hier Geborenen meint, er wüsste schon alles darüber. […] Das Bindeglied zwischen Ost und West kann aus diesen Gründen anstelle des Indo besser vom Indonesier gebildet werden, der den westlichen Geist in sich aufgenommen hat, ohne aufgehört zu haben, Ostler zu sein. Sicherlich sind solche Indonesier im Moment noch sehr spärlich vorhanden. Aber ihre Zahl wächst spürbar. Langsam drängt die Erkenntnis in der einheimischen intellektuellen Welt durch, dass eine westliche Ausbildung nicht zur Vernachlässigung des eigenen Östlichen führen darf, sondern dass man individuell eine Synthese anstreben soll. Das in Kraft und Tiefe zunehmende Nationalbewusstsein liefert dazu, wie bei so vielen anderen Angelegenheiten, die große motorische Kraft. Kurzum, in dem Maße wie die Emanzipation der einheimischen Gesellschaft fortschreitet und diese aus der eigenen Mitte immer mehr geeignete Kräfte für mittlere und höhere Positionen in der Gesellschaft liefert, verliert die indo-europäische Gruppe ihre Existenzberechtigung als separate Klasse. Dies bedeutet, dass die Zukunft der Indos entweder im Aufgehen in der rein westlichen Sphäre, oder in der Verschmelzung mit den indonesischen Massen, oder aber in der Bildung einer eigenen Gesellschaft in einer nur dünn durch Indonesier besiedelten Region (Kolonisierung NeuGuineas) liegt. [Nachdem Fruin die erste und letzte Möglichkeit verworfen hat, kommt er zu folgender Schlussfolgerung:] Die Zukunft liegt für den Indo deshalb in der Verschmelzung mit den indonesischen Gruppen, wobei es für ihn darauf ankommt, dass diese Verschmelzung harmonisch und unter günstigen Konditionen stattfindet.
Literatur Bosma, Ulbe; Raben Remco, De oude Indische wereld 1500-1920, Amsterdam 2003 Wedema, Steven, „Ethiek“ und Macht. Die niederländisch-indische Kolonialverwaltung und indonesische Emanzipationsbestrebungen 1901-1927, Stuttgart 1998 Willems, Wim (Hg.), Indische Nederlanders in de ogen van de wetenschap, Leiden 1990
EIN AMERIKANER IN PARIS. DER AMERIKANISCHE SELFMADEMAN UND DIE EUROPÄISCHE ARISTOKRATIE IM WERK VON HENRY JAMES1 Von Maria Malatesta Der Prozess der Nationsbildung war in Europa und in den Vereinigten Staaten vom Aufkommen von Vorstellungen begleitet, durch die sowohl die Unterschiede als auch die möglichen Gemeinsamkeiten der beiden Kontinente betont wurden. Das von Literaten, Journalisten, Reisenden und Dilettanten entwickelte Verfahren der „gekreuzten Sichtweisen“, trug wesentlich zur Herausbildung eines nationalen Bewusstseins und zum Bewusstsein des Eigenen und des Anderen in der Alten und der Neuen Welt bei. Henry James hat an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in besonders eindringlicher Weise die Schwierigkeiten des kulturellen Austausches zwischen der neuen Weltmacht und dem europäischen Kontinent, wo noch die Altlasten des Ancien Régime abzutragen waren, beschrieben. Sein literarisches Werk ist ebenso wie seine Biografie ein außerordentliches Zeugnis des Bildes, welches die Eliten der nordamerikanischen Ostküste von Europa hatten, ein Zeugnis der unwiderstehlichen Faszination, die der alte Kontinent ausübte, und jener Suche nach Vermittlung zwischen zwei Kulturen, im Bestreben, die erst seit kurzer Zeit erworbene eigene Identität nicht zu gefährden. Als Sohn einer reichen, gebildeten und unkonventionellen Familie in New York im Jahre 1843 geboren, ließ sich Henry, der Bruder des Philosophen William, im Jahre 1881 endgültig in London nieder, nachdem er sich seit seinen Jugendjahren lange Zeit in Europa aufgehalten hatte. Die bewusste Teilnahme an zwei Welten beeinflusste seine gesamte literarische Arbeit, welche in dieser „internationalen Perspektive“ ihren roten Faden hat. Mittels der Technik der „gekreuzten Sichtweisen“ erzählt James von der Verunsicherung seiner amerikanischen Figuren gegenüber den europäischen Sitten und Manieren, hinter deren formalen Raffinesse sich ein mörderischer, auf Jahrtausende alten Zivilisationsschichten gediehener Zynismus verbirgt. In seinen ersten, zwischen 1875 und 1881 geschriebenen Romanen werden die amerikanischen Figuren vom Gewicht der europäischen Geschichte erdrückt, während in den letzten, zwischen 1901 und 1904 veröffentlichten Romanen das Motiv der „gekreuzten Sichtweisen“ in einen Kontext eingeflochten ist, der reich an metaerzählerischen Elementen ist. Hier wird Euroamerika zu einer Landschaft der Seele, zu einer Metapher der individuellen Reifung und zugleich zur Landschaft der gesamten abendländischen Kultur, wo alle Gegensätze zuletzt ihren Einklang finden. Dank des Erfolgs der intellectual history in den vergangenen Jahrzehnten hat die Historikerzunft ihre Aufmerksamkeit vermehrt der Literatur zugewandt. Nun wird dem „Diskurs“ eine große Bedeutung eingeräumt, und es werden literarische Texte vor allem wegen ihrer Eignung, Mentalitäten und Imaginationen wiederzugeben, als Quellenmaterial herangezogen. Der Text, von dem ich hier ausgehe, ist dem Roman The American —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 4.2, Henry James: A French gentilhomme (1876/77); Übersetzung des Essays durch Anton Walther.
Ein Amerikaner in Paris
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von Henry James entnommen, welcher zuerst zwischen 1875 und 1876 in Einzelfolgen in einer amerikanischen Zeitschrift veröffentlicht wurde. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus einer Darstellung der französischen Aristokratie, die den Schwerpunkt des Romans bildet und die zur Metapher für Europa wird. Der Dialog findet im Paris des Zweiten Kaiserreichs statt: Zwischen Valentin de Bellegarde, dem jüngsten Spross einer verarmtem alten Adelsfamilie, der einen düsteren Palast im Faubourg Saint-Germain bewohnt, und Christopher Newman, einem reichen und unternehmungslustigen Selfmademan von wenigen Worten und vielen Taten. Sein Name verweist metaphorisch auf die Reise, die er durch Europa zur Gewinnung historischen und existenziellen Wissens unternimmt. Von der Grand Tour erwartet sich Newman eine umfassende kulturelle Bereicherung: Er möchte alle Gemälde und Kirchen Europas sehen und ein seinem Reichtum angemessenes soziales Kapital erwerben, indem er ein schönes adeliges europäisches Mädchen mit erwählten Manieren heiratet. Was ihn zum Amerikaner macht, ist seine Naivität, die so kolossal ist, dass er glaubt, die Fähigkeiten, die ihm in seiner Heimat Erfolg garantiert haben, seien ausreichend, um auch in Europa zu reüssieren. Im Dialog zwischen Newman und Valentin sind einige der Vorstellungen und Deutungsmuster skizziert, auf die sich die erzählerische Struktur des Romans stützt. Der alte französische Adel wird als unbewegliche Gesellschaftsschicht beschrieben, die sich nicht mit der Bourgeoisie vermischt, in sozialer Isolation lebt und sich weigert, sich mit dem Milieu der Geschäftswelt abzugeben. Es ist ein legitimistischer Blutsadel, der sich vom politischen Leben fernhält und die Erben Bonapartes verabscheut; er ist genauso alt wie schmarotzerisch, ungebildet, unnütz und nur fähig, sich in der eigenen Dekadenz zu gefallen und sich am Stolz über die eigene Abstammung und die Entsagungen, die man sich aufbürdet, aufzubauen. James’ übertriebene und durch die Dramatisierung der sozialen Abkapselung und Passivität ironisierte Darstellung des Pariser Adels verschleiert natürlich die Verbindungen der Aristokratie zur kulturellen Welt und insbesondere zur Geschäftswelt, die im damaligen Frankreich auch für den Adel zu den wichtigsten Ressourcen wurden. Entgegengestellt wird im Dialog, nach einem symmetrischen Schema, eine ebenfalls stereotype Vorstellung von der amerikanischen Gesellschaft. Individuelle Freiheit, soziale und geografische Mobilität, schneller Reichtum seien die Ingredienzien des amerikanischen Traums, die Valentin Bellegarde, zugleich neidisch und ängstlich, an Newman wahrnimmt. Dem amerikanischen Traum stellt Valentin das kulturelle Merkmal bzw. Handlungsmotiv entgegen, das seine Gesellschaftsschicht im Roman auszeichnet: den katholischen, oder besser noch: papistischen Glauben. In The American hat der Katholizismus von Bellegarde eine entscheidende erzählerische Funktion, da er die Grundlage für die Einführung des „puritanischen Kanons“ bildet, der in allen Romanen von James mit internationalem Handlungsrahmen anzutreffen ist. In den Augen des Amerikaners nährt und steigert der Katholizismus aufgrund der fehlenden Strenge die Korruption der europäischen Sitten. Die katholische Religion ist somit einer jener kulturellen Faktoren, welche die Anschauungen über die Alte und Neue Welt im gesamten literarischen Werk von Henry James bedingen, einem Werk, das auf dem Gegensatz zwischen „Sitten“ und „Moral“, zwischen Zivilisation, Dekadenz und Verderbtheit auf der einen Seite, Naivität, Energie und Integrität auf der anderen, aufbaut.
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Maria Malatesta
In The American besiegen die Sitten die Moral. Newman hält um die Hand der Schwester von Valentin an, was ihm zunächst auch gewährt wird. Aber die Mutter und der Erstgeborene der Familie, beide ein Ausbund ahnherrlicher Perfidie, ziehen das Versprechen zurück und ziehen dem Einzug von Reichtum wirtschaftlicher Herkunft in ihr Adelshaus den wirtschaftlichen Ruin vor. „We really cannot reconcile ourselves to a commercial person“2, werden sie bei Newmans Abfertigung verkünden. Newman kapituliert vor dem Zynismus des alteuropäischen Herrscherstandes. Er kapituliert aber auch vor sich selbst, denn seine Naivität ist so ausgeprägt, dass er nicht in der Lage ist, die an ihn gerichteten Botschaften zu entschlüsseln, die es ihm ermöglicht hätten, an seinen Gewissheiten zu zweifeln. Im Laufe des Dialogs sendet ihm Valentin, der sein Freund ist, eine erste Botschaft: Bellegarde-Männer heiraten keine reichen bürgerlichen Frauen. Wir wissen, dass diese Form ehelicher Verbindungen im 19. Jahrhundert vom europäischen Adel bevorzugt wurde, da sie es erlaubte, sich das Vermögen der Bourgeoisie bei gleichzeitiger Bewahrung des eigenen Familiennamens einzuverleiben. Unvorstellbar war aber, dass eine solche Familie ihrer Tochter erlaubt hätte, Newman zu heiraten, wenn sie dadurch den Nachnamen eines Bürgerlichen hätte annehmen müssen. Die andere Botschaft wird Newman während des Balls, der im Palais Bellegarde veranstaltet wird, um ihn dem Kreis der Familienfreunde vorzustellen, zuteil. Der Amerikaner macht sich bei dieser Gelegenheit durch seine übertrieben herzlichen und formlosen Manieren lächerlich, doch er wird sich dessen erst gewahr, als die Marquise de Bellegarde es ihm eröffnet. Der Zusammenprall zwischen den beiden Kulturen wird im Roman so durch die gegenseitige Unvereinbarkeit und Unverständlichkeit unterschiedlicher Verhaltenskodizes dargestellt. Nachdem die Bellegardes das gegebene Wort zurückgezogen haben, kommt es zum Zusammenbruch und zum paradoxen Finale. Die Braut wird Nonne und zieht sich in die Klausur zurück. Valentin, das einzige humane Wesen der Familie, stirbt im Duell, um die Ehre einer Kokotte zu verteidigen. Newman kehrt nach Amerika zurück. Historischkulturell betrachtet hat er zwar eine Niederlage erlitten, moralisch ist er jedoch der eigentliche Sieger der Geschichte, da er nicht dem Teufelskreis der Rache verfällt: Er widersteht der Versuchung, der Pariser Gesellschaft ein Verbrechen zu offenbaren, das in der Vergangenheit die Marquise de Bellegarde und ihr Erstgeborener begangen haben. Der in Paris verfasste Roman kann als Bekenntnis eines „Amerikaners in Paris“, also des echten Henry James, der hier ein Jahr vor seinem Umzug nach London lebte, angesehen werden. Wie James selbst zugibt, war Frankreich damals ein Land, das ihm das Gefühl vermittelte, ein Fremder zu sein. Das „Euroamerika“ des frühen James ist somit angelsächsisch und protestantisch geprägt, während ihm das katholische Europa, das in seinen Romanen durch Pariser Aristokraten und italienische Prinzen von streng päpstlichem Adel verkörpert wird, ein geheimnisvoller und unentzifferbarer Kontinent bleibt. —————— 2
James, Henry, The American, zuerst in: The Atlantic Monthly 1876-77, zit. n. der Ausgabe der New American Library of World Literature, New York 1963, S. 224.
Ein Amerikaner in Paris
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Etwa dreißig Jahre später änderte James seine Anschauungen. Anlässlich der zwischen 1907 und 1909 erfolgten Abfassung des Vorwortes für die Gesamtausgabe seiner Werke erklärte er, dass die Darstellung der Bellegardes damals ausschließlich durch die literarische Notwendigkeit bedingt war, den in der Figur des Newman liegenden Romantizismus hervorzuheben. Nach einer neuen Betrachtung der Romanhandlung sei er sich jetzt sicher, dass die Bellegardes sich in der Realität wohl vollkommen anders verhalten hätten. Die adlige Familie hätte wohl keine Skrupel gehabt, sich mit einem Geschäftsmann verwandtschaftlich zu verbinden; sie hätte mit absoluter Gelassenheit ihre Ansprüche und ihren Stolz an diese Gegebenheiten angepasst. „They would positively have jumped then, the Bellegardes, at my rich and easy America, and not have ‘minded’ in the last any drawback – expecially as, after all, given the pleasant palette from which I have painted him, there were few drawbacks to mind.“3 Das Vorwort zu The American stellt somit eine weitere Quelle dar, die nicht getrennt vom vorgestellten Text betrachtet werden kann, sondern vielmehr gemeinsam mit diesem Text untersucht werden muss. Das Vorwort interessiert den Historiker nicht so sehr wegen der literarischen Rechtfertigungsversuche, die Henry James unternimmt, sondern wegen der veränderten Sicht auf die Aristokratie. Nachdem James fünfundzwanzig Jahre in Großbritannien gelebt hatte, änderten sich seine Vorstellungen über den europäischen Adel. Der Mythos des aristokratischen Stolzes, nach dem sich ein Mitglied der New Yorker Eliten gesehnt hatte, musste vor der Notwendigkeit, die alten Sitten an die neuen Zeiten anzupassen, zerfallen. Auch die Bellegardes hätten wohl letztlich, mit neidlos praktischem Anpassungssinn, die sozialen Barrieren übersprungen, sich in die unternehmerische Bourgeoisie eingegliedert und ihre Tochter einem Amerikaner aus dem Mittelwesten zur Frau gegeben. Es waren jedoch nicht nur die materiellen Umstände (in der Zwischenzeit war es zur großen Depression und zum wirtschaftlichen Zusammenbruch eines guten Teils des europäischen Adels gekommen), welche die Ansichten des Romanciers über den Adel verändert haben. Das Vorwort zu The American folgt wenige Jahre nach seinem letzten Roman, „The Golden Bowl“ (1904). Hier finden amerikanische „Moral“ und „Verdorbenheit“, personifiziert durch eine reiche amerikanische Erbin und einen römischen Prinzen, der sie aus wirtschaftlichem Interesse heiratet, ihren Berührungspunkt und ihre Befriedung: durch das Bemühen der Gattin um Entschlüsselung der Spielregeln der aristokratischen Welt, welcher der Gatte zugehört, und durch die Entdeckung der ehelichen Liebe durch den Gatten. Auf den Vorstufen zum Ersten Weltkrieg hat sich James’ „Euroamerika“ endlich verwirklicht.
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James, Henry, Preface to The American, in: Ders., The art of the novel. Critical prefaces, with an Introduction by Richard P. Blackmur, New York 1934, S. 35.
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Quelle Nr. 4.2 Henry James: A French gentilhomme (1876/77)4 ''What I envy you is your liberty," observed M. de Bellegarde, „your wide range, your freedom to come and go, your not having a lot of people, who take themselves awfully seriously, expecting something of you. I live," he added with a sigh, „beneath the eyes of my admirable mother." "It is your own fault; what is to hinder you ranging?" said Newman. 'There is a delightful simplicity in that remark! Everything is to hinder me. To begin with, I have not a penny." "I had not a penny when I began to range." "Ah, but your poverty was your capital. Being an American, it was impossible you should remain what you were born, and being born poor – do I understand It? – it was therefore inevitable that you should become rich. You were in a position that makes one's mouth water; you looked round you and saw a world full of things you had only to step up to and take hold of. When I was twenty, I looked around me and saw a world with everything ticketed 'Hands off!' and the deuce of it was that the ticket seemed meant only for me. I couldn't go into business, I couldn't make money, because I was a Bellegarde. I couldn't go into politics, because I was a Bellegarde – the Bellegardes don't recognise the Bonapartes. I couldn't go into literature, because I was a dunce. I couldn't marry a rich girl, because no Bellegarde had ever married a roturière, and it was not proper that I should begin. We shall have to come to it, yet. Marriageable heiresses, de notre bord, are not to be had for nothing; it must be name for name, and fortune for fortune. The only thing I could do was to go and fight for the Pope. That I did, punctiliously, and received an apostolic flesh-wound at Castelfidardo. It did neither the HoIy Father nor me any good, that I could see. Rome was doubtless a very amusing place in the days of Caligula, but it has sadly fallen off since. I passed three years in the Castle of St Angelo, and then came back to secular life." "So you have no profession – you do nothing?" said Newman. "I do nothing! I am supposed to amuse myself, and, to tell the truth, I have amused myself. One can, if one knows how. But you can't keep it up for ever. I am good for another five years, perhaps, but I foresee that after that I shall lose my appetite. Then what shall I do? I think I shall turn monk. Seriously, I think I shall tie a rope round my waist and go into a monastery. It was an old custom, and the old customs were very good. People understood life quite as well as we do. They kept the pot boiling till it cracked, and then they put it on the shelf altogether." "Are you very religious?" asked Newman, in a tone which gave the inquiry a grotesque effect. M. de Bellegarde evidently appreciated the comical element in the question, but he looked at Newman a moment with extreme soberness. "I am a very good Catholic. I respect the Church. I adore the blessed Virgin. I fear the Devil."
Literatur Cannadine, David, The decline and fall of the British aristocracy, New Haven 1990 Daumard, Adeline, Noblesse et aristocratie en France au XIX siècle, in: Les noblesses européennes au XIXe siècle. Actes du colloque (Collection de l’école française de Rome 107), Mailand 1988, S. 83ff. Edel, Leon, Henry James, a life, New York 1985 Jenkins, Keith (Hg.), The postmodern history reader, London 1997
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James, Henry, The American, in: The Atlantic Monthly, 1876-1877; zit. n. der Ausgabe der New American Library of World Literature, New York 1963, S. 87-88.
Ein Amerikaner in Paris
Malatesta, Maria, Le aristocrazie terriere nell’età contemporanea, Rom 1999 Perosa, Sergio, L’Euro-America di Henry James, Vicenza 1979
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„EUROPA IST EINE ANDERE WELT UND DIE EUROPÄER SIND ANDERE MENSCHEN“ – KOMMENTARE EINES REISENDEN TATARISCHEN AUFKLÄRERS (1899/1902)1 Von Ingeborg Baldauf Unter dem Titel Avrupa Säjaxatnamäse – „Europareise“ – erschien 1902 in Sankt Petersburg das Buch zu einer Reise, die der muslimisch-tatarische Aufklärer Fatix Kärimi (1870-1937) im Jahre 1899 an der Seite des Goldmillionärs und Mäzens Shakir Rämiev unternommen hatte. Der Text gehört unter den zahlreichen russlandtürkischen Reisebeschreibungen aus dieser Zeit zu denen, auf die ein zuweilen gegenüber dem Genre Reiseliteratur generell geäußertes Urteil tatsächlich zutrifft: dass wir durch sie über die physische und mentale Heimat des Autors eigentlich mehr erfahren als über die jeweils besuchte Weltgegend. Trotzdem ist es keine Zufälligkeit, dass Fatix Kärimi seine Reflexionen und Projektionen ausgerechnet aus Anlass einer Begegnung mit Europa niedergelegt hat, und darum trägt sein Text hoffentlich bei zu einem aus vielen Quellen genährten umfassenden Blick auf das Phänomen „Europa“. In seinem Reisebericht beschreibt der aus Zentralrussland stammende Fatix Kärimi Berlin, Brüssel und Paris, die Côte d’Azur, Mailand, Südtirol und Wien zunächst durchaus der zeitgenössischen Wirklichkeit entsprechend. Seine zusammenfassenden Überlegungen zu Europa, denen der folgende Quellenauszug entnommen ist, verfasste er hingegen erst auf der Weiterfahrt nach Istanbul, hinter Budapest, seinem Empfinden nach offenbar Europa bereits verlassend. Bereits die Auswahl dessen, was Fatix Äfände2 an „Europa“ erwähnenswert findet, und erst recht seine weiterführenden Überlegungen, zu denen ihn das Erlebte inspiriert, zeigen, dass es sich bei seinem angeblichen Reisebericht letztlich viel eher um die sehr persönlich gefärbten Gedanken eines modernistischen Muslims handelt, der als Pädagoge und Schriftsteller aus gegebenem Anlass versucht, seinem Aufklärungsauftrag nun auch mithilfe des speziellen Genres der Reiseliteratur nachzukommen. Europa ist in der Darstellung von Fatix Kärimi technologisch führend, es ist gebildet und bildungsbürgerlich, auffallend weiblich, moralisch beinahe einwandfrei und sehr grün. Und vor allem ist Europa in jeder Hinsicht wohlgeordnet (muntazam) – was in der Ausdruckweise der Progressisten unter den islamischen Reformern3 gleichbedeu—————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 4.3, Europa als Vorbild und Projektionsfolie: Aus einem tatarischen Reisebericht (1902). Im Osmanischen Reich war „Efendi“ die übliche Anrede an Herren aus der besseren Gesellschaft. Bei den Tataren eignete man sich das Wort für solche Personen an, die in ihrer Lebensart stark nach Istanbul, nach dem Westen (!) orientiert waren. Für Fatix Äfände, der wie sein viel bekannterer Mentor Ismail Gasprinskij zu dieser Gruppe gehörte, verwende ich dem zeitgenössischen Usus folgend diese Namensform. Muslimische Reformer des 19. und frühen 20. christlichen Jahrhunderts konnten regressiv, im Sinne der Wiederherstellung des verloren gegangenen Ideals der Frühzeit des Islam, orientiert sein wie die „Erneuerer“ (mujaddid), von denen ein jedes islamische Jahrhundert mindestens einen prominenten kannte. Progressisten dagegen, wie auch Fatix Kärimi, projizierten das Ideal in die Zukunft; ihre Me-
„Europa ist eine andere Welt und die Europäer sind andere Menschen“
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tend war mit dem als solchem nicht existierenden Wort „modern“. Europa war bereits „in Ordnung gebracht“, und das nicht etwa nach den Maßstäben einer goldenen Frühzeit des Islam, sondern nach den Vorgaben des neuzeitlichen Lebens. Europäer haben sich ihren Orient mittels Mystifikation und Dämonisierung konstruiert, um so dessen Unterwerfung zu legitimieren. Russland entwickelte eine eigene Spielart des Orientalismus, die an der eigenen europäisch-asiatischen Janusköpfigkeit gebrochen war und mit einem nicht weniger belasteten Okzidentalismus einherging, der sich ein Europa aus dem Blickwinkel ambitionierter Defensive heraus konstruierte. An der Wende zum 20. Jahrhundert kokettierte der russische Zeitgeist mit der asiatischen, „skythischen“, wilden Hälfte des Selbst – zugleich aber bemächtigte sich das Imperium im Namen einer selbst erteilten zivilisatorischen Mission seiner asiatischen Territorien und Bewohner mit einem Zugriff, der an Härte dem nicht nachstand, was Europa in seinen Kolonien zum Maß des Handelns gemacht hatte. Die Tataren, die nach einem jahrhundertelangen Zusammenleben mit den Russen an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien jeden Schritt in die Moderne und jeden zurück analog setzten zu denen der russischen Seite, hätten sich auch diesem Oszillieren zwischen Orient- und Okzidentalismus anschließen können. Wer unter den „TurkoTataren“4, wie etwa Kazem-Bek und Chokan Valixanov, vergessen konnte, dass er nicht der herrschenden, sondern einer beherrschten Nationalität Russlands angehörte, tat dies ja letztlich auch. Unter den Tataren waren die Vertreter eines solchen kopierten Orientalismus, der sich nicht zuletzt auf sie selbst bezogen hätte, jedoch sehr rar. Intellektuelle wie Fatix Kärimi, von denen viele eine doppelte kulturelle Sozialisierung im islamischen und im „russischen“ Sinne hatten, blickten auf Europa ähnlich wie die Modernisten Palästinas, Ägyptens, Persiens oder Indiens, wenn auch mit weniger Hang zu Irreligiosität als diese: Der Tanz zwischen den Kulturen, für den sich viele Tataren entschieden, erforderte gelegentlich die Abgrenzung vom eigenen Quasi-Europa, dem christlichen Russland, und hierfür war eine unaufgekündigte Verankerung im Islam die Rückversicherung. Die Europäer machten sich den Orient als das „ganz Andere“ zurecht, die Russen den „Osten“. In den letzteren waren jedoch Teile des eigenen russländischen Territoriums einbezogen und es war die Aufgabe der russländischen Muslime, in diesem Konzept den Part des „eigenen Fremden“ zu spielen. Wer von den Tataren – die ——————
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thode war nicht die Reparatur (islah), sondern das Neu-Ordnen (tanzim), die Reform als Set von Ordnungsmaßnahmen (tanzimat), an deren Zielpunkt die Gesellschaft in Ordnung gebracht (muntazam) sein würde. Vgl. Lazzerini, Edward J., Beyond renewal. The Jadid response to pressure for change in the modern age, in: Gross, Jo-Ann (Hg.), Muslims in Central Asia. Expressions of identity and change, Durham 1992, S. 151-166; Baldauf, Ingeborg, Jadidism in Central Asia within reformism and modernism in the muslim world, in: Die Welt des Islams 41/1 (2001), S. 72-88. Unter diesem Sammelbegriff wurden im Russländischen Reich die Angehörigen diverser türksprachiger Bevölkerungsgruppen der Wolgaregion, Kaukasiens, Mittelasiens und Sibiriens zusammengefasst. Die Ausdifferenzierung in „Nationalitäten“ und Festlegung auf eine moderne Selbstbezeichnung – etwa „Tataren“ für bestimmte Bevölkerungsgruppen an der Wolga und in Südwestsibirien – war an der Jahrhundertwende noch im Fluss, vgl. Bauer, Henning; Kappeler, Andreas; Roth, Brigitte (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Stuttgart 1991. Um Verwirrung zu vermeiden, wende ich die Zuschreibung „Tatare“ schon hier an, historisch verfrüht und wohl wissend, dass namentlich Fatix Kärimi sich dagegen heftig verwehrt hätte, weil er wie viele seiner Zeitgenossen für sich eine übergeordnete, verbindende Identität als „Türke“ reklamierte.
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Ingeborg Baldauf
mancher Europäer noch an der Schwelle zum 20. Jahrhundert als Tartaren bezeichnete unter nonchalanter Verwendung des ‚r’, das sie zur Höllenbrut aus Asien stempelte – sich an diesem Orient/Okzident-Spiel beteiligen mochte, verstand sich gleichzeitig auch darauf, in der Gestalt Mittelasiens einen weiteren, noch östlicheren Orient zu konstruieren. Den Part des „Fremden im Eigenen“ wiederum schoben die tatarischen Progressisten ihren innergesellschaftlichen Widersachern zu: den Anhängern der regressiven Reform, den Konservativen und anderen Verweigerern von Aufklärung und Fortschritt, wie sie ihn sich vorstellten. Das Verhältnis der Progressisten zu Russland war so ambivalent wie dessen Positionierung auf der Weltkarte: Wussten sie das Leben unter einer nicht-islamischen Herrschaft ob der besseren Entfaltungsmöglichkeiten für eigene Ideen zu schätzen und konnten sie nicht umhin zuzugestehen, dass Fortschritt leichter in Anbindung an Russland als ohne oder gar gegen es zu erreichen war, so fanden sie sich gleichzeitig auch Auge in Auge mit dem hässlichen anderen Gesicht Russlands, seinem möchtegern-europäischen Imperialismus. Umso heller konnte dafür in der Gegenüberstellung das ferne, das wirkliche, das ganz andere Europa strahlen.5 Was den Goldminenbesitzer Shakir Rämiev aus Orenburg an der eurasiatischen Grenze nach Westen zog, war die technologische Überlegenheit Europas: Das eigentliche Ziel der Reise war für ihn, in Belgien modernste Grubentechnik anzukaufen. An seiner Seite lernte auch Fatix Kärimi in Berlin die Taxameter der Droschken schätzen, die ein Feilschen und Betrügen wie bei den Fuhrleuten zu Hause überflüssig bzw. unmöglich machten, und ließ sich im Hotel auf einem gepolsterten Sitz „in einem kleinen Kämmerchen“ ins Obergeschoss befördern. Von der Beleuchtung auf den abendlichen Straßen Europas war Fatix Äfände genauso beeindruckt wie von den Dammanlagen in der Po-Ebene und den praktischen Rollstühlen für TBC-Kranke in den Parks von Meran. Fatix Kärimi musste sich wie alle Muslime zwischen Marokko und Indonesien bewusst sein, dass es letztlich der technische Fortschritt war, der Europa in die im ausgehenden 19. Jahrhundert bestehende Überlegenheitsposition gebracht hatte. Die Dialektik von Fortschritt und kolonialer bzw. imperialer Unterdrückung, die sich zu diesem Zeitpunkt eingestellt hatte, drohte, die Kluft zwischen Europa und den anderen Regionen unaufhaltsam tiefer werden zu lassen. Entsprechend groß waren die Hoffnungen, dass man durch eine schnelle, rückhaltlose Aneignung von technischen Methoden und Instrumenten zu Europa aufschließen und sogar dessen Joch abwerfen würde. Dauerhafte Vorbehalte gegen moderne Technik hatten nicht einmal die konservativsten tatarischen Denker, von Händlern und Leuten aus der aufkeimenden Industriebourgeoisie ganz zu schweigen. Für Fatix Kärimi war es also gar nicht notwendig, in seinem Buch Avrupa Säjaxatnamäse Überlegungen anzustellen, ob die Übernahme technischer Neuerungen mit den Normen des islamischen Rechts zu vereinbaren sei. Dass Europas technologischer Fortschritt auch geistige und politische Voraussetzungen hatte und eine Öffnung gegenüber technologischen Neuerungen gleichzeitig eine Abschottung gegenüber geistigen und politischen Veränderungen erschweren würde, dieser Umstand sollte schon weniger als zwei Jahrzehnte später die modernistischen —————— 5
Vgl. auch das Zitat im Titel des Essays „Europa ist eine andere Welt und die Europäer sind andere Menschen“; siehe Kärimi, Fatix, Avrupa Säjaxatnamäse, Sankt Petersburg 1902, S. 148.
„Europa ist eine andere Welt und die Europäer sind andere Menschen“
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Muslime Asiens und Afrikas in zwei Lager zerfallen lassen: Das eine Lager blieb Europa weiterhin verbunden, das andere wurde zunehmend europafeindlich und antiwestlich. Für Fatix Kärimi war allerdings noch völlig unstrittig, dass der europäische Weg der Aufklärung und Europas bürgerlicher Liberalismus positiv zu bewerten sei, ja, für ihn stellte sich die Frage einer anderen Bewertung überhaupt noch nicht. Das bedingungslose Vertrauen in den Wert jeglicher Bildung, das er mit all jenen gemein hatte, die in ihren Ländern als „Lehrer der Nation“ wirkten – von Ahmed Midhat im Osmanischen Reich über Ismail Gasprinskij auf der Krim bis zu Mahmud Tarzi aus Afghanistan und Abulkalam Azad auf dem indischen Subkontinent – lässt Fatix Äfände im Reisebericht seine Leser mit systemlos zusammengestellten Fakten überhäufen, frei nach der Devise, mehr Wissen könne nie schaden. Gern hätte sich Fatix Kärimi auch dem Lebensstil eines europäischen Bildungsbürgers angenähert, aber daran hinderte ihn letztlich sein großbürgerlicher Mäzen, den seinerseits auf der Reise offensichtlich keine selbst auferlegten Bildungszwänge plagten. Im Text wird dies deutlich bei jeder verschämten Begründung, warum ein bestimmter Museumsbesuch dann doch dem Gang ins Café weichen musste oder warum der Theater- schließlich doch einem Revuebesuch zum Opfer fiel. Was die berühmten europäischen Bildungsstätten angeht, so war es Fatix Kärimi immerhin vergönnt, ein paar Blicke in ein frühmorgendlich leeres Mailänder Gymnasium zu werfen... Alles, was er nicht im Original sehen konnte, besorgte er sich in Form von Reiseführern auf Papier und stopfte sich damit für spätere Verwendung den Koffer voll. Auch seinen Lesern mutete er so manches „zum allfälligen Gebrauch“ zu. So etwa das 11-Punkte-Programm einer Genfer Konferenz zur Frauenemanzipation aus den mittleren 1890er Jahren, das ihm eine ebenso hübsche wie gebildete junge Reisebekanntschaft aus Holland zwischen Nizza und Mailand zusteckte. An solchen Stellen verfestigt sich in der Tat der Eindruck, für Fatix Kärimi sei auf seiner Reise über weite Strecken der Weg das Ziel gewesen: Wann, wenn nicht auf einer viele Stunden dauernden abendlichen Fahrt im Dunkeln, ohne Sehenswürdigkeiten vor den Zugfenstern, hätte der Leser informiert werden können, dass es „[...] in Europa eine Forderung gibt namens Emancipation des femmes, will sagen, Freiheit der Frau. Die Absicht der Leute, die sich in den Dienst dieser Forderung gestellt haben, ist, die Frauen all die Rechte erlangen zu lassen, welche die Männer schon erlangt haben, sie also gleichberechtigt zu machen; ihnen ausreichend Macht und Mittel an die Hand zu geben, dass sie selbst für ihr Leben sorgen können, und sie davon zu erlösen, praktisch Gefangene der Männer zu sein. Eine ganze Menge Personen von Rang und Namen, Frauen wie Männer, haben sich dieser Idee verschrieben. Damen, die dieser Partei zugehören und für diese Idee arbeiten, veranstalten an liberalen Orten wie London, Paris und Genf internationale Konferenzen, zu denen sich Frauen aus Amerika und Europa versammeln und ihre Gedanken austauschen. Auch auf solche Probleme brachte ich das Gespräch mit dem Fräulein aus Holland und nützte die Gelegenheit. [...]“6. Davor hatte er bereits die Gelegenheit genützt, das Fräulein mit der wohlbekannten islamisch-modernistischen apologetischen Figur zu beeindrucken, im Islam werde die Zivilehe bereits seit 1300 Jahren praktiziert, während die meisten Länder Europas sich 1899 dazu noch nicht verdingen mochten. Oder mit dem —————— 6
Kärimi (wie Anm. 5), S. 145.
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eben so geläufigen Hadith7, demzufolge Bildung fromme Pflicht für jeden Muslim und jede Muslima sei. Letzteres Statement nützte er zugleich für einen kleinen Seitenhieb auf diejenigen unter seinen Lesern, nach deren Meinung es hinsichtlich der Bildung von Frauen ausreichte, wenn diese mit Inbrunst populär-religiöse Texte aus dem 13. (christlichen) Jahrhundert herunterleiern konnten. Dass die junge Holländerin mit dieser Andeutung nicht viel anzufangen wusste, entging nicht einmal dem Autor selbst, doch der Wink an die ‚Anderen unter den Eigenen’ musste einfach sein. Hier in Europa konnte Fatix Kärimi die Frauenfrage offen ansprechen – zu Hause an der Wolga ließ sogar noch 1909 die Übersetzung von Qasim Amins sensationellem Buch „Die Befreiung der Frau“, das im Jahr von Fatix Äfändes Europareise in Ägypten erschienen war8, die Wellen der Befremdung sehr hoch gehen, und das, nachdem Fatix Kärimi die Thematik in einem Essayband „Dies und das“ bereits erneut aufgeworfen hatte9; 1899 war die Frau für die meisten tatarischen Autoren wie Autorinnen nicht mehr als ein bloßes Objekt der Erziehung, auf dass sie ihrerseits wiederum die nächste Generation – und in erster Linie die Söhne – gut erziehen möge. Wann immer Fatix Kärimi von europäischen Frauen berichtet, rückt er neben deren gepflegter Natürlichkeit und eindrucksvoller Bildung vor allem ihre souveräne Charakterfestigkeit in den Blick. Das holländische Fräulein und ihre Mutter sind ebenso von feiner und selbstsicherer Höflichkeit wie die Industriellengattin in Brüssel, welche die beiden tatarischen Gäste in Abwesenheit ihres Gatten zu Hause empfängt, genau so wie die Offiziersdamen, die in Meran einen Wohltätigkeitsbasar ausrichten, und sogar die Zimmermädchen, die er flüchtig kennen lernt. Indirekt, nämlich indem er die positiven Eigenschaften der europäischen Frauen so auffällig thematisiert und entsprechende Beschreibungen bei Männern unterlässt, bleibt Fatix Kärimi natürlich in der Falle der herkömmlichen doppelten Standards. Trotzdem weist er die Doppelmoral nach außen hin klar zurück und bürdet nicht etwa die Moralität der gesamten Gesellschaft bloß den Frauen auf – ein Ansatz, mit dem er sich im Übrigen am deutlichsten als kongenialer Mitstreiter von Ismail Gasprinskij erweist, der Anfang der 1890er Jahre in einem ironisch-dystopischen Kurzroman über das Amazonenreich in der Sahara10 den Abschied vom diskriminatorischen islamischen Geschlechter- und Moraldiskurs gefordert hatte. Die Leichtfertigkeit Europas nimmt Fatix Kärimi nur einmal auf seiner Reise wahr, und an dieser Stelle, im Casino von Monte Carlo, bleibt sie geschlechtslos: Dass dort wohlhabende Menschen, ob Männer oder Frauen, über Nacht zu Bettlern werden, kann der Aufklärer nicht billigen, der auf Bildung und Entwicklung setzt und nicht auf Nummern im Roulette. Wüsste der Leser des Säjaxatnamä nicht aus anderen Quellen schon „Bescheid“ über den angeblichen moralischen Zustand Europas, könnte er Fatix Äfändes salvatorischen Kommentar im vorletzten Absatz des Quellentextes gar nicht verstehen – von leichten Mädchen oder Frauen ist im Reisebericht nichts zu lesen. Fatix Kärimi weist im Resümee der Doppelmoral seiner eigenen Gesellschaft einen noch niedrigeren Rang zu als der offenen Frivolität Europas. Demnach braucht eine moderne Gesellschaft —————— 7 8 9 10
Arabisch: überlieferter, verbürgter Ausspruch des Propheten Muhammad. Amin, Qasim, Tahrir al-Mar’a, Kairo 1899. Kärimi, Fatix, Andan bundan, Orenburg 1907. Qadynlar ölkäsi, „Das Land der Frauen“, erschien 1890-1891 in Fortsetzungen in Gasprinskijs krimtatarisch-russischer Zeitung Terjiman.
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Technik, Bildung, Geschlechtergerechtigkeit und Offenheit – nur dann hat sie wahre Kultur, wie Europa. Doch nicht nur Europas Kultur, auch seine Natur beeindruckte Fatix Kärimi, und so soll abschließend von dieser noch kurz die Rede sein. Bei den Zugfahrten entlang der Côte d’Azur, durch Oberitalien, von Tirol bis Wien – mit dem Blick aus dem Fenster versucht der Reisende die Schönheit der Blumengärten, Obsthaine, Almen und Felder in Worte zu fassen und muss doch immer wieder eingestehen, dass es ihm an solchen fehle. In Prater, Schlosspark Schönbrunn und Bois de Boulogne verbringen die beiden Tataren halbe Tage, und die größte Sehenswürdigkeit von Brüssel seien überhaupt nicht Rathaus, Fabriken oder Museen, sondern seine Parks. Fatix Kärimis Europa floriert in Grün. Wenn man von der Faszination einmal absieht, die die Wogen des Mittelmeers und die Gletscherbäche Südtirols auf den Steppenbewohner ausüben, ist es allerdings vor allem nicht die ‚natürliche’, wilde oder gar bizarre Natur, die Fatix Äfändes Aufmerksamkeit fesselt, sondern die gebändigte, wie er sagt „erzogene“ (= tärbijä it), vernünftig gemachte, durch die menschliche Hand Ordnung gewinnende Natur: Parks, nicht Wälder, der ins Steinbett gebannte Po, nicht Rhein oder Mosel, die planierten Kornfelder und die terrassierten Weinberge Oberitaliens sind die Natur Europas, auf die er seine Leser verweisen will. Fatix Kärimi bereiste 1899 ein durch die Bemühungen seiner Menschen rundum wohl geordnetes Europa, ein modernes Land, dessen Städte einander in ihrer übersichtlichen Anlage so ähnlich waren, in dem sogar die Natur kultiviert war und in dem Grenzen keine wesentliche Rolle zu spielen schienen. Hinter Budapest verließ er diesen Erdteil – allerdings nicht, um seinem Diskurs eine Wendung ins Negative zu geben. Nein, an Istanbul, der sehr viel „eigeneren“ Stadt, in der die Reise endet, findet Fatix Äfände ebenfalls viel Positives, und dies nicht nur im „europäischen“ Stadtteil Pera. Reise und Reisebericht Kärimis hatten offensichtlich nicht zum Ziel, ein selektiv wahrgenommenes Europa gegen einen Orient nach tatarischer Konstruktionsweise auszuspielen. Sein Avrupa Säjaxatnamäse liest sich vielleicht am ehesten als eine Parabel über Modernität und Modernismus, für die Europa die Motive bot und in der das rastlose Vorwärts der Eisenbahn den Takt für das Tun des reisenden Bourgeois und das Wollen seines intellektuellen Begleiters schlug. Kaum ein Jahrzehnt nach der Europa-Reise stürzte sich Shakir Äfände aus einem Zug nach Sankt Petersburg. Fatix Kärimi kam 1937 unter die Räder des Stalinismus. Quelle Nr. 4.3 Europa als Vorbild und Projektionsfolie: Aus einem tatarischen Reisebericht (1902)11 „Die Hauptstädte Europas sind im Wesentlichen von gleicher Anordnung, zum Beispiel: In jeder von ihnen gibt es, gleich wenn man ankommt, ein paar prachtvolle, ordentliche Straßen und Plätze, an denen Standbilder aufgerichtet sind. Jede hat eine so genannte Kathedrale, also die größte Hauptkirche, des Weiteren ein so genanntes Rathaus, also Stadtverwaltungsgebäude, Theater und Museen, Universitäten und Krankenhäuser, Parlamentsgebäude und Königspaläste; das sind die
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Kärimi, Fatix, Avrupa Säjaxatnamäse, Sankt Petersburg 1902, S. 161-162; Übersetzung des Originals von Ingeborg Baldauf.
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größten und prächtigsten Gebäude, welche jeder Reisende besucht und besichtigt. Welche Mühe und welchen Eifer (die Europäer) einsetzen, kann man allenthalben an Zeugen von Kultur und Wohlstand ersehen, wie Produkte von Handwerk und Industrie und die zugehörigen Fabriken es sind, auch an Museen und Druckerzeugnissen (als Zeugen für) Wissenschaft und Künste, und hinsichtlich Moral und Literatur wiederum an der Vielzahl von Theatern und anderen Einrichtungen kulturell-literarischer Art. Mühe und Eifer der Europäer, ihre Beständigkeit und Ausdauer in allen Dingen und ihre Fortschrittlichkeit in Wissenschaft und Bildung sowie Handwerk und Industrie sind von einem Ausmaß, dass wir es uns nicht einmal richtig vorstellen können. Es sieht so aus, als gäbe es in Europa viel Unmoral und schlechte, verdorbene Sitten. Aber wenn man es ehrlich betrachtet, dürften wir (den Europäern) darin nicht in viel nachstehen. Der Unterschied liegt wohl nur darin, dass sie alles offen tun, während es bei uns irgendwie heimlich gemacht wird. Kazan, Orenburg, Ufa und Troick, also Zentren des Islam, haben zwar keine einzige nützliche und zivilisierte Einrichtung wie Büchereien und Lesesäle oder Literatur- und Wissenschaftsvereine – aber ein paar öffentliche Puffs voller muslimischer Mädchen unter der Leitung von sauberen Muslimen hat ein jedes davon. Und dass die Asiaten den Europäern gegenüber geradezu vorneweg sind, wenn es um Neid und üble Nachrede, List und Trug, Unruhestifterei, Dummheit und Uneinigkeit geht, daran kann auch kein Zweifel bestehen. Wer nach Europa reist, wird viel nachzudenken und sich manches Scheibchen abzuschneiden finden, und dass ihm um das Geld, das er dafür ausgeben muss, nicht Leid sein wird, steht gewiss fest. So können wir nur von ganzem Herzen hoffen, dass unsere Leute, die es sich leisten können, mit der gebotenen Großherzigkeit direkt und gleich die Wege für Geschäftsbeziehungen mit Europa öffnen und ihre Kinder angemessen erziehen und ausbilden lassen und zu zeitgemäßen Menschen machen. Die Zeit seinem eigenen Wollen und Meinen unterwerfen zu wollen ist falsch und sowieso unmöglich. Der Mensch ist vielmehr von Natur aus dazu bestimmt, sich dem Gebot der Zeit zu unterwerfen. Wer in einen Eisenbahnwaggon steigt, kommt seinem Ziel mit jedem Tag näher. Wenn sich einer aber dem Zug entgegenstellen und ihn aufhalten will, dann wird der Zug nicht für diesen Menschen anhalten, sondern er wird diesen armen Widerständler unter seinen fürchterlichen Rädern zermalmen. Mit der Zeit ist das auch nicht anders.“
Literatur Lazzerini, Edward J., Beyond renewal. The Jadid response to pressure for change in the modern age, in: Gross, Jo-Ann (Hg.), Muslims in Central Asia. Expressions of identity and change, Durham 1992, S. 151-166 Baldauf, Ingeborg, Jadidism in Central Asia within reformism and modernism in the Muslim world, in: Die Welt des Islams 41 (2001), S. 72-88 Bauer, Henning; Kappeler, Andreas; Roth, Brigitte (Hg.), Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897, Stuttgart 1991 Motika, Raoul; Herzog, Christoph, Orientalism alla Turca: late 19th / early 20th century Ottoman voyages into the Muslim ‘outback’, in: Die Welt des Islams 40 (2000), S. 139-195 Georgeon, François, Un Tatar au Japon, voyage d’Abdürrechid Ibrahimov en Extrême-Orient (1908-1910), Paris 2002
WELTGESCHICHTE UM 19001 Von Matthias Middell An der Wende zum 20. Jahrhundert entdeckten die europäischen Intellektuellen auf neue Weise globale Zusammenhänge. Der russisch-japanische Krieg vermittelte ebenso wie die spanische Niederlage gegen die USA 1898, mit der die letzten Reste des ehemals riesigen Kolonialreiches davon gerissen wurden, dass neue Konkurrenten einen allzu selbstgewissen Eurozentrismus herausforderten. Der Welthandel hatte rasant zugenommen und in seiner Dynamik die Wachstumsraten der Weltproduktion weit hinter sich gelassen. Seit dem ersten Patent für Samuel Morse 1839 hatte die Telegrafie eine bis dahin unvorstellbare Beschleunigung der Informationsübertragung ermöglicht, und 1880 war es möglich, von London aus Telegramme in alle Teile des weltweiten Empire zu versenden. Seit 1896 synchronisierte eine erste globale Hochkonjunktur die ökonomischen Entwicklungen, deren Rückgrat die zweite Welle der Industrialisierung wurde. Die Einbeziehung in die weltweite Vernetzung war zu einer unvermeidlichen Voraussetzung für den politischen Erfolg aller Regionen der Erde geworden. Zugleich forderte die Verdichtung des planetarischen Zusammenhangs die Positionsbestimmung und die Überprüfung bisher gültiger Weltordnungsentwürfe heraus. Für das Selbstbild der Europäer galt dies zunächst im Verhältnis zu den USA, deren Rolle auf den entstehenden Weltmärkten nicht mehr zu ignorieren war und deren scheinbar von keinem Ancien Régime beeinflusste gesellschaftliche Dynamik nicht länger als bloße Ausdehnung Europas zu fassen war. Biologistische und rassistische Theorien über den Rest der Welt, die seit den 1870er Jahren in Europa Konjunktur hatten und den neuen Run auf die außereuropäischen Gebiete begleiteten, brachen sich an den neuen Kolonialerfahrungen und am Kontakt zu den ostasiatischen Kulturen, von deren teilweise noch schlummernder Kraft jene, die China und Japan genauer beobachteten, überzeugt waren. Im Spiegel der Amerikaerfahrungen verhandelten europäische Intellektuelle aber auch den Übergang der eigenen Gesellschaften in einen Zustand, in dem die soziale Frage und die Integration der Unterschichten immer drängender wurden. Die gemeinsame Reise einer großen Delegation deutscher Wissenschaftler zum Kongress der Künste und Wissenschaften (Congress of Arts and Sciences) im Rahmen der Weltausstellung von St. Louis im September 1904 bot reichlich Anschauungsunterricht für die neuen Weltbilder, und einige der Reisenden nutzten vorangegangene Kontakte aus dem gerade einsetzenden deutsch-amerikanischen Professorenaustausch, um in den USA weitere ethnographische Beobachtungen zu sammeln und die neu gewonnenen Erkenntnisse am lokalen Publikum auszuprobieren. Der Leipziger Kulturhistoriker Karl Lamprecht nutzte die Einladung an die Columbia University in New York, um Ende Oktober in vier Vorlesungen die Grundideen sei—————— 1
Essay zur Quelle Nr. 4.4, Karl Lamprecht: Universalgeschichtliche Probleme (1904/05).
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ner zwölfbändigen „Deutschen Geschichte“ vorzutragen. Die letzte, fünfte Vorlesungsstunde nutzte der in New York zum Ehrendoktor Ernannte allerdings, um über diese Art akademischer Werbekampagne hinauszugehen. Unter dem Titel „Universalgeschichtliche Probleme“ erörterte er die Möglichkeiten, auf den Nationalgeschichten aufbauend eine Geschichte des neuen globalen Zusammenhangs zu entwerfen.2 Dieser Essay, der anschließend auch in Deutschland publiziert wurde, ordnet sich in eine ganze Welle weltgeschichtlicher und weltpolitischer Betrachtungen im Wilhelminischen Kaiserreich ein. Was ihn jedoch auszeichnet, sind zahlreiche methodologische Erwägungen, die davon ausgehen, dass der Kern einer globalen Geschichte die Analyse der Interaktionen zwischen den verschiedenen Gesellschaften ist. Wir finden hier vorgeformt, was heute als Geschichte kultureller Transfers oder Verflechtungsgeschichte zu den modernsten Werkzeugen der Historiografie gehört. Dies geschieht natürlich noch nicht in der Sprache von heute und vor dem Hintergrund heutiger empirischer Kenntnisse. Entsprechend füllte Lamprecht Lücken der Belegbarkeit seiner methodisch begründeten Annahmen mit Metaphern und Analogieschlüssen. Dafür diente ihm die Völkerpsychologie seines berühmten Leipziger Kollegen Wilhelm Wundt als Anregung, um von Beobachtungen der Individuen auf das Verhalten von sozialen Gruppen und ganzen Gesellschaften zu schlussfolgern. Für eine europäische Geschichte gewinnt dieser Vorschlag, dem die zeitgleichen Bemühungen von Hans F. Helmolt3 oder von Kurt Breysig4 an die Seite zu stellen wären, eine besondere Bedeutung, weil er mit der Konzentration auf die Gründe für eine europäische Überlegenheit in der Moderne brach und die grundsätzliche Gleichberechtigung aller Weltregionen als Ausgangspunkt wählte. Lamprecht selbst, der ab 1905 ein Institut für Kultur- und Universalgeschichte an der Universität Leipzig aufbaute, hat seinen theoretischen Entwurf nur in einer Skizze über die europäischen Expansionen für die Ullstein-Weltgeschichte, die Pflugk-Harttung herausgab, realisiert. Hier zeichnete er die Ausbreitung der ökonomischen Macht Europas über große Teile der Welt nach, konstatierte aber für seine Gegenwart eine Rückkehr zu einem Gleichgewichtszustand, in dem „Expansion gegen Expansion stehen wird“.5 Und dieser Zustand habe seine Ursache gerade darin, dass nicht ökonomische, politische oder militärische Überlegenheit entscheidend für die Weltpolitik seien, sondern die Fähigkeit zum kulturellen Lernen, zur kreativen Aneignung an anderer Stelle gemachter Innovationen. Die Narrative europäischer und globaler Geschichte haben nach dem Ersten Weltkrieg im Wesentlichen nicht an diesen Entwurf angeknüpft. Umso wichtiger scheint es, an ihn zu erinnern, nachdem inzwischen der eurozentrische Hochmut fundamentale Erschütterungen erfahren hat.
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Vgl. Quelle Nr. 4.4, ein Auszug aus Karl Lamprecht, Universalgeschichtliche Probleme, in: Ders., Moderne Geschichtswissenschaft, Freiburg 1905, S. 103-130. Helmholt, Hans F., Gegenstand und Ziel einer Weltgeschichte, in: Ders. (Hg.), Weltgeschichte, Bd. 1, Leipzig 1899. Breysig, Kurt, Formen der Weltgeschichtsschreibung, in: Die Zukunft 7 (1903), Bd. 45, S. 399-409. Lamprecht, Karl, Europäische Expansion in Vergangenheit und Gegenwart, in: Pflugk-Harttung, Julius von (Hg.), Ullsteins Weltgeschichte, Bd. 6, Berlin 1908, S. 618.
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Quelle Nr. 4.4 Karl Lamprecht: Universalgeschichtliche Probleme (1904/05)6 Viel wichtiger sind für unsere Betrachtungen diejenigen Vorgänge universaler Beziehungen, in denen es gelingt, tatsächliche starke Einflüsse einer bestimmten menschlichen Gemeinschaft einer anderen innerhalb ihres menschlich verlaufenden Entwicklungsprozesses als in ständiger Entwicklung fortdauernd einzuimpfen. Und darum kommt es darauf an, zunächst festzustellen, unter welchen Bedingungen und in welchen Erscheinungen solche Einflüsse tatsächlich stattfinden. Offenbar handelt es sich hier zunächst um zweierlei: um die Wege, auf denen solche Einflüsse verlaufen, und um die Gefäße, in welchen sie vermittelt werden. Der erste Punkt führt auf die Geschichte des zwischengemeinschaftlichen menschlichen Verkehrs und damit auf ein Gebiet unendlich verschiedener Möglichkeiten, das im einzelnen in seiner Entwicklung zu gliedern und zu verstehen schon an sich eine der größten universalgeschichtlichen Aufgaben ist. Hinsichtlich des zweiten Punktes aber scheint wiederum eine Doppelteilung am Platze: das Gefäß der Übertragung können entweder Menschen selbst sein oder irgendwelche menschliche Produkte. Der erste Fall liegt z.B. bei allen Völkerwanderungen vor, insofern sie mit dem dauernden Durcheinanderwohnen zweier oder mehrerer menschlicher Gemeinschaften enden; der zweite wird durch die Übertragungen von Werkzeugen, Erfindungen überhaupt, dann aber vor allem durch die Übertragungen rein geistiger Werte durch Denkmäler, Sprache und Schrift (Bilder-, Buchstaben-, Noten- usw. Schrift) bezeichnet. Dabei kann wohl als Gesetz gelten, daß zu allen Zeiten die Elemente der mehr instinktiven und die menschliche Gemeinschaft als solche konstituierenden Kultur, insbesondere die Werte der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kultur, schwerer zu übertragen gewesen sind, da für ihre Übertragbarkeit nicht die geeigneten Wege und Gefäße zur Verfügung stehen; woraus sich die Tatsache erklärt, daß sich der Verlauf der Universalgeschichte wesentlich auf dem Wege der Überlieferung höherer Kulturelemente vollzieht. Ist es nun aber möglich, die unendlichen Kombinationen und Permutationen der denkbaren Übertragungswege und Übertragungsgefäße rein rational, gleichsam an der Hand mathematischer Formeln zu systematisieren und dann im Sinne eines Systems klärlich zu überblicken? Keineswegs! Nur eine sehr eingehende Erfahrung wird hier an der Hand fortgesetzter universalgeschichtlicher Vergleichungen Klarheit schaffen können; und nur empirisch kann eine der Vermutung nach schließlich sehr einfache und elementare Übersicht über die Übertragungsvorgänge in der bisher betrachteten Richtung gewonnen werden. Einstweilen aber stehen die hierhergehörigen Forschungen, soweit sie überhaupt dem hier aufgestellten oder einem verwandten allgemeineren Gesichtspunkte unterstellt werden, noch ganz in den Anfängen; es handelt sich zumeist noch um die Beschreibung des äußeren Vorganges und keineswegs schon um die Erkenntnis des inneren, psychologischen Kerns der Sache. Da kann z.B. der Weg der Vermittlung entweder ein spezifisch räumlicher oder ein zeitlicher sein, und im ersteren Falle mag man von Rezeption, im zweiten von Renaissance sprechen. Daneben kann der Weg dieser Vermittlung ein ein- oder mehrmaliger, ein intermittierender, ein lange Zeit andauernder, ein einseitiger, nur der Initiative der einen in Betracht kommenden Gemeinschaft offenstehender oder ein zweiseitiger sein: Unterschiede, die gelegentlich auf besondere geographische und klimatische Verhältnisse, nicht selten auch auf besondere Kulturdifferenzen zurückgehen mögen. Und dementsprechend wird man, unter Anwendung des Bildes eines bekannten physikalischen Vorganges, für einzelne dieser Vorgänge etwa von osmotischen Erscheinungen, Diosmose, Endosmose, Exosmose sprechen können. Was aber die Gefäße der Übertragung angeht, so scheint der wichtigste Unterschied der zwischen kurz- und langandauenden Gefä-
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Auszug aus: Lamprecht, Karl, Universalgeschichtliche Probleme, in: Ders., Moderne Geschichtswissenschaft, Freiburg 1905, S. 103-130, hier S. 110-115.
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ßen zu sein. Zu den kurzandauernden gehört z.B. der Einzelmensch, zu den langandauernden die Rasse und die Schrift. Auf den langandauernden beruht die Möglichkeit des mindestens teilweisen Wiedererwachens einer als Ganzes schon erstorbenen Kultur, also die Renaissance in jederlei Form: eine der merkwürdigsten Erscheinungen menschlicher Entwicklung. Es versteht sich, daß mit den wenigen soeben geäußerten Worten alles andere als etwa eine Theorie der Wege und Gefäße universalgeschichtlicher Beeinflussung gegeben ist; genug, wenn die Größe der hier vorliegenden Probleme einigermaßen angedeutet erscheint. Denn wie unendlich viel ist auf diesem Gebiete noch zu arbeiten, wie liegen hier die Goldbarren gleichsam großer wissenschaftlicher Entdeckungen auf der Straße für den, der sie finden will! Ebensowenig aufgeklärt, doch rascher Aufklärung anscheinend zugänglicher sind Fragen, die sich an das Ergebnis solcher zwischengemeinschaftlicher, universalgeschichtlicher Übertragungen knüpfen. Man kann da vornehmlich nach dem Ausbreitungsraume, dem Zeitmaße und der (natürlichen psychischen) Wirkungsmöglichkeit der Übertragungen fragen. Auf diese Fragen geben die bisher genauer bekannten hierhergehörigen Vorgänge schon einigermaßen Antwort; zugleich verhelfen teilweis allgemeine psychologische Erkenntnisse wenigstens zur richtigen Problemstellung. Was den Ausbreitungsraum betrifft, so erscheint er für ein vereinzelt übertragenes Objekt unter Umständen unbegrenzt, der Regel nach freilich zunächst an den Verbreitungsbereich der Tätigkeit gebunden, in dessen Gebiet das Objekt einschlägt. Macht dieser Satz den Eindruck der Selbstverständlichkeit, so ist es doch bemerkenswert, daß er auch da zutrifft, wo es sich um die Übertragung ganzer Summen von Objekten, ja ganzer Kulturen handelt. Auch sie begreifen zunächst nicht die ganze fremde Gemeinschaft, sondern nur diejenigen Angehörigen dieser, die zu ihnen besondere Beziehungen haben oder sich zu ihnen in besondere Beziehungen setzen. Und zwar gilt das für Rezeptionen wie Renaissancen. So ist z.B. die Rezeption des nordfranzösisch-provençalischen Ritterideals des 12. Jahrhunderts in den anderen europäischen Kulturen zunächst und in der entscheidenden Zeit allein von Rittern vollzogen worden, setzte also das Dasein des Rittertums mit seinen wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen oder wenigstens Keimen dieser allenthalben voraus; und die verschiedenen Renaissancen der Antike waren nur möglich, wo sich, autonom oder von oben her geschaffen, bereits entwickelte Elemente von Kopfarbeitern vorfanden, die zur Antike emporsahen, wenn nicht gar des Wahns lebten, sich enthusiastisch in sie versetzen zu können. Dies sind nun gewiß erst einige ganz verstreute Erfahrungen über die Raumfrage – auch die sozialen Fragen, die hier in Betracht kommen, möchte man zunächst als zur Raumfrage gehörig bezeichnen –, wie sie bei universalgeschichtlichen Übertragungen auftauchen: um wie viel klarer, um wie viel wichtiger für die richtige Beurteilung des Einzelfalles wird das Bild dieser Raumfrage einmal werden, wenn es die Erfahrungen der ganzen uns zugänglichen Menschheitsgeschichte zusammenfaßt! Ebenso wichtig und für die allgemeine Erkenntnis der psychischen Mechanik des geschichtlichen Verlaufes vielleicht noch belangreicher ist die Betrachtung des Zeitmaßes der Übertragungseinflüsse. Hier scheint so gut wie ausnahmslos zu gelten, daß dieses Zeitmaß, an der Hand des Zeitmaßes der inneren Entwicklungsvorgänge der aufnehmenden menschlichen Gemeinschaft geprüft, sich als beschleunigt ergibt. Ja häufig ist der Eindruck der der vollen Überstürzung; und von ihm aus könnte man die allgemeine psychische Wirkung der inneren Entwicklungsvorgänge wohl als kontinuierlich, die der Übertragungen als katastrophal bezeichnen. Dabei ist die Erklärung dieses Unterschiedes vielleicht schon aus der heute gesicherten historischen Erfahrung her möglich, wenigstens soweit allgemeinere Übertragungen in betracht kommen. Diese sind entweder erzwungen: dann werden sie mit Gewalt eingeführt: also in beschleunigtem Tempo. Oder aber sie sind freiwillig; dann entwickeln sie sich nur, wenn die aufnehmende Gesellschaft sie lebhaft ersehnt: also wieder in beschleunigtem Tempo. Gewiß ist dabei, und alsbald als einfache Folge abzuleiten, daß, überall gleiches Rassetemperament vorausgesetzt, unter mehreren menschlichen Gemeinschaften die Entwicklung derjenigen Gemeinschaft der Zeit nach am raschesten abläuft, die am meisten
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fremde Einflüsse aufnimmt. Es ist eine Beobachtung, die z.B. vieles im Verlaufe der griechischen Geschichte, verglichen mit den Schicksalen jüngerer Nationen, z.B. der französischen, erklärt. Doch wir sind mit den letzten Erwägungen schon im Begriffe, in den Bereich eines anderen Problems einzutreten, nämlich der Frage, welches denn die Wirkung, die psychische Wirkung von Übertragungen in der aufnehmenden Gemeinschaft sei. Und hier läßt sich der Ausgang der Betrachtung von einigen elementaren psychologischen Gesetzen, vor allem denen der Assoziation, nehmen. Da kommt zunächst das Gesetz der Ähnlichkeitsassoziation in Betracht: in jedem seelischen Vorgange liegt die Tendenz, gleichartige seelische Vorgänge ins Leben zu rufen. Und des weiteren das Gesetz der Erfahrungsassoziation: Trifft mit einem seelischen Vorgang ein anderer zeitlich zusammen, oder fügt sich zu einem ersten ein zweiter unmittelbar hinzu, so werden beide zu einem Ganzen oder zu einem Gesamtvorgang, derart, daß die Wiederkehr eines Teiles dieses Ganzen die Tendenz der vollen Wiederkehr des Ganzen in sich schließt. Neben diesen Gesetzen aber muß noch ein anderes herangezogen werden: das, wonach seelische Eindrücke nicht dann am stärksten sind, wenn der Kontrast zwischen der Aufnahmefähigkeit und der Kraft des Eindruckes am größten, sondern wenn er ein mittlerer ist, derart, daß das Große der Eindruckskraft und das Kleine der Aufnahmefähigkeit sich nicht isoliert und dadurch abstößt, sondern in sich vergleichbar bleibt. Hieraus ergibt sich für die Fragen, die uns beschäftigen, in einfacher Ableitung: Erstens: wo die Gefäße und Wege der Übertragung einer menschlichen Gemeinschaft nicht einzelne Momente, sondern das Ganze einer fremden Kultur nahebringen, besteht die Tendenz, nicht bloß einzelnes, sondern das Ganze dieser Kultur aufzunehmen und mit der eigenen Kultur zu verschmelzen. Und zweitens: diese Tendenz wird nur unter der Bedingung wirksam, daß die fremde Kultur gegenüber der eigenen nicht Gradunterschiede der psychischen Kraft aufweise, welche so stark sind, daß die Vergleichbarkeit beider Kulturen aufhört. Diese beiden Folgerungen werden nun allerdings durch alle bisher bekannten geschichtlichen Tatsachen vollauf bestätigt. Insbesondere ist es eine der bekanntesten historischen Erscheinungen, daß Völker mit einer sehr niedrigen Kultur an dem Import sehr hoher Kulturen zugrunde gehen, und daß Völker sehr hoher Kultur selbst Einzelelemente niedriger Kulturen schwer aufnehmen. Im übrigen braucht kaum gesagt zu werden, von wie großer allgemeiner Tragweite diese Feststellungen sind: die erste erschließt das allgemeinste Gesetz universalhistorisch fruchtbaren Zusammenhanges; die zweite zeigt, inwiefern innerhalb dieses Zusammenhanges gleichwohl die innere sozialpsychische Entwicklung der einzelnen geschichtlichen Gemeinschaft, mit anderen Worten die Abfolge der Kulturzeitalter gewahrt bleibt. Allgemeiner weltgeschichtlicher Zusammenhang, aber gebunden an eine Folge von typischen Entwicklungen großer menschlicher Gemeinschaften, ist also das Ergebnis. Hat man aber dieses Ergebnis in der Hand, so ist es auch möglich, noch etwas Genaueres und doch Generelles über die intimere psychische Wirkung fremder Einflüsse in menschlichen Gemeinschaften auszusagen. Die entscheidende Frage ist hier natürlich, wie sich solche Übertragungen zu der inneren psychischen Mechanik der Kulturzeitalter verhalten. Und da ist denn freilich das Prinzip des Verhaltens schon durch die einfachen Konsequenzen festgelegt, welche soeben aus allgemeinen individual- wie sozialpsychologischen Gesetzen gezogen worden sind: diese Mechanik, eng an die Abfolge der Kulturzeitalter überhaupt gebunden, kann wohl leise Ausbiegungen und Abweichungen, namentlich aber Verstärkungen ihrer Tendenzen erfahren, außer Kraft gesetzt wird sie nicht. Es ist wie mit den von außen kommenden psychischen Einflüssen auf ein einzelnes Menschenleben; gewiß können sie von großer Bedeutung sein, allein jene psychische Mechanik zu beseitigen, die von dem Seelenleben des Jünglings zu dem des Mannes und von dem des Mannes zu jenem des Greises führt, liegt außerhalb ihrer Macht.
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Matthias Middell
Literatur Bergenthum, Hartmut, Weltgeschichten im Zeitalter der Weltpolitik. Zur populären Geschichtsschreibung im Wilhelminischen Deutschland, München 2004 Chickering, Roger, Karl Lamprecht. A German academic life (1856-1915), Atlantic Highlands, New Jersey 1993 Kamphausen, Georg, Die Erfindung Amerikas in der Kulturkritik der Generation von 1890, Weilerswist 2002 Lamprecht, Karl, Americana. Reiseeindrücke, Betrachtungen, Geschichtliche Gesamtansicht, Freiburg 1906 Middell, Matthias, Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890-1990, Leipzig 2005
MAHATMA GANDHI UND DIE BRITISCHE FREMDHERRSCHAFT IN INDIEN1 Von Dietmar Rothermund Mahatma Gandhi schrieb die in Quelle Nr. 4.5 wiedergegebenen Zeilen über die britische Fremdherrschaft in Indien an Bord eines Schiffes auf der Rückfahrt von London nach Südafrika. Sein Besuch in London stand im Zusammenhang mit seinen Bemühungen um die indische Minderheit in Südafrika. Doch während seines Aufenthaltes in London hatte er viele Gespräche mit jungen indischen Nationalisten und mit seinem väterlichen Freund Dr. Pranjivan Mehta geführt. Dieser kluge Arzt und Jurist hatte Gandhi 1881 in London empfangen, als er als junger Student dort eintraf. Damals gab es noch nicht einmal den indischen Nationalkongress, der erst 1885 gegründet wurde. Inzwischen aber hatte sich die politische Atmosphäre in Indien grundlegend geändert. Der Nationalkongress hatte sich 1907 in einen gemäßigten und einen radikalen Flügel gespalten. Die Radikalen, auch „Extremisten“ genannt, neigten zum Terrorismus. Ein indischer Terrorist hatte kurz vor Gandhis Besuch einen Beamten des Indienministeriums in London erschossen. Zur gleichen Zeit stand die erste große Verfassungsreform in Indien bevor, die vom gemäßigten Flügel des Nationalkongresses begrüßt wurde. Gandhis älterer Freund und Mentor Gopal Krishna Gokhale, ein Führer der „Gemäßigten“, war mehrfach in London gewesen, um mit dem Indienminister Lord Morley über diese Reform zu verhandeln. Gandhi stand den „Gemäßigten“ näher als den „Extremisten“, setzte sich aber auch mit den Argumenten der Extremisten auseinander. Auch Dr. Mehta diskutierte wohl mit Gandhi über die politischen Tagesfragen. Gandhi erklärte später einmal, dass er die Gedanken, die er in nur elf Tagen auf seiner Rückreise von London nach Südafrika zu Papier gebracht hatte, als eine Resonanz auf die Gespräche mit Dr. Mehta betrachtet habe. Gandhi gab dem politischen Manifest, das auf diese Weise entstand, den Titel „Hind Swaraj“ (Indiens Freiheit) und stellte gleich zu Beginn des Textes klar, dass er weder ein „Gemäßigter“ noch ein „Extremist“ sei, aber beiden dienen wolle, wenn es um die Freiheit der Nation ginge. Er war ein großer Bewunderer des Sokrates und hatte dessen Verteidigungsrede ins Gujarati übersetzt und in seiner Zeitschrift „Indian Opinion“ in Südafrika veröffentlicht. Die britisch-indische Regierung hatte diese GujaratiÜbersetzung als aufrührerisches Schrifttum verboten. Nun verfasste er „Hind Swaraj“ in der Form eines sokratischen Dialogs. Als Gesprächspartner, der die Fragen stellte, diente ein junger indischer Nationalrevolutionär von der Art, wie sie Gandhi in London begegnet waren. Er selbst beantwortete in der Gestalt des Herausgebers seiner Zeitung die Fragen in didaktischem Stil. Der Text erschien zuerst in Gujarati, erst danach veröffentlichte Gandhi die englische Ausgabe. Er behielt dabei den Stil des Gujarati-Textes bei, der sich an einfache Leser richtete, die sich nicht mit politischen Theorien beschäftigten. —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 4.5, Mahatma Gandhi: Hind Swaraj (1909).
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In den hier zitierten Textstellen griff Gandhi eine Frage auf, die zu jener Zeit immer wieder gestellt wurde: „Wie war es den Briten gelungen, Indien zu erobern und dann für so lange Zeit zu beherrschen?“ Darauf gab Gandhi die ungewöhnliche Antwort, dass die Inder den Briten das Land geradezu freiwillig überlassen hatten und sie auch immer noch im Lande hielten. Er ging sogar noch einen Schritt weiter und verglich die Haltung der Inder mit der eines Süchtigen, der dem, der ihm die Mittel zur Befriedigung seiner Sucht verkauft, keinen Vorwurf daraus machen könne. Der Süchtige selbst müsse seine Sucht bekämpfen. Die Droge, die er nennt (bhang = Hanf), ist in Indien allgemein bekannt. Gandhi konnte damit rechnen, dass seine Leser ihn verstanden. Im zweiten Zitat greift er das Thema wieder auf und weist nun auf die miteinander streitenden Inder hin, deren Kämpfe untereinander die Briten nutzten, um die Oberhand zu gewinnen. Es entspricht dem Grundmuster seines Denkens, dass Gandhi keine überpersönlichen Kräfte, die das Handeln des Menschen determinieren, ins Spiel bringt, sondern von den Akteuren ausgeht und ihr Fehlverhalten kritisiert. Er bereitet auf diese Weise sein Plädoyer für die Nichtzusammenarbeit mit den Briten vor, das er den Nationalisten als Mittel zur Befreiung von der Fremdherrschaft empfiehlt. Er hat es bereits in „Hind Swaraj“ ausführlich begründet und erst elf Jahre später in seiner großen Nichtzusammenarbeitskampagne in Indien praktiziert. Ein Thema, das in „Hind Swaraj“ eine große Rolle spielt, ist die Kritik an der westlichen Zivilisation. Gandhi rezipierte dabei das im Europa der Jahrhundertwende (dem Fin de Siècle) in vielen Publikationen reflektierte „Unbehagen an der Zivilisation“. Er nennt die einschlägigen Autoren in seiner Bibliografie, so z.B. Max Nordau (Simon Maximilian Südfeld, 1849-1923). Nordau war ein jüdischer Arzt aus Ungarn, der seinen Namen sozusagen um 180 Grad drehte, um sein Pseudonym zu erfinden. Ähnlich verfuhr er mit seinem Gegenstand; die „Segnungen“ der Zivilisation wurden als Fluch dargestellt, ihre Werte als Lügen. Sein Werk „Die conventionellen Lügen der Menschheit“ erschien 1883. Es lag Gandhi in englischer Übersetzung als „Paradoxes of Civilisation“ vor. Für Gandhi war diese „Umwertung“ besonders eindrucksvoll, denn die Briten hatten ja immer selbstbewusst hervorgehoben, dass sie den Indern die Segnungen der Zivilisation gebracht hätten. Doch eigentlich war diese Zivilisation eine Sucht, der die Inder verfallen waren. Gandhi konnte diese westliche Zivilisationskritik jedoch aus der Außenperspektive betrachten. Die indische Kultur war von ihr nicht betroffen, sie war die Ressource, auf die die Inder zurückgreifen mussten, um sich von der Sucht zu befreien. Das aber war eine persönliche Entscheidung so wie das „Festhalten an der Wahrheit“ (satyagraha), das zum Leitmotiv von Gandhis Leben und Handeln wurde. In Südafrika hatte Gandhi die Praxis des bürgerlichen Ungehorsams (civil disobedience) entwickelt, um die Rechte der indischen Minderheit durchzusetzen. Es ging dabei um die bewusste Übertretung ungerechter Gesetze in aller Öffentlichkeit. Die Behörden wurden davon zuvor informiert und die „Ungehorsamen“ nahmen ihre Strafe klaglos hin. Nach seiner Rückkehr nach Indien fand Gandhi zunächst keine Ansatzpunkte für diese Methode, zumal 1915, als er in Indien eintraf, das Kriegsnotstandsrecht herrschte. Als jedoch die britisch-indische Regierung nach Kriegsende dieses Notstandsrecht durch eine neue Gesetzgebung fortschreiben wollte, sah Gandhi darin ein ungerechtes Gesetz, das mit bürgerlichem Ungehorsam zu beantworten war. Nur handelte es sich bei dem betreffenden Gesetz um ein Ermächtigungsgesetz, das später nie angewandt wurde und daher auch nicht übertreten werden konnte. Gandhi behalf sich
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zunächst mit der Ausrufung einer Art Generalstreiks der Händler (hartal), der aber an einigen Orten zu gewalttätigen Ausschreitungen führte, die Gandhi verurteilte. Als sich die Spannungen zwischen Regierung und Bevölkerung im Jahr 1920 vergrößerten, griff Gandhi schließlich auf die Methode der Nichtzusammenarbeit zurück, die er bereits in „Hind Swaraj“ ausführlich begründet hatte. Nur ging aus dieser Begründung noch keine Handlungsanweisung hervor, die allen einleuchtete, die aufgefordert wurden, sich daran zu beteiligen. Nun gab es bereits ein historisches Vorbild für die Praxis der Nichtzusammenarbeit: die Behandlung, die der britische Hauptmann Charles Boycott 1880 in Irland erfuhr, als er sich weigerte, in den Ländereien, die er für einen britischen Adligen verwaltete, die Pacht zu senken, wie es von Charles Parnell und seiner Irish Land League gefordert wurde. Die Iren beschlossen, ein Exempel zu statuieren und sorgten dafür, dass Boycott keinen Knecht mehr fand, der bereit war für ihn zu arbeiten, in den Kaufläden nicht bedient wurde und ihm auch keine Post zugestellt wurde. Sein Name wurde danach zum Schlagwort für diese Art gezielter Meidung. Gandhi berief sich nicht explizit auf dieses Beispiel, aber er wandte es nun auf die von den Briten in Indien eingerichteten Institutionen an, die Colleges und Universitäten, die Gerichtshöfe und schließlich auch die Landtage. Ferner forderte er die Inder auf, ihre aus britischen Textilien hergestellten Kleidungsstücke öffentlich zu verbrennen und nur noch einheimische Ware zu kaufen. Die Verbrennungen waren die augenfälligsten Bestandteile seiner Kampagne, aber es gelang ihm auch, viele Studenten dazu zu bewegen, ihre Colleges und Universitäten zu verlassen, Rechtsanwälte davon zu überzeugen, dass sie ihre Praxis aufgeben und nicht mehr in den Gerichtshöfen erscheinen sollten und schließlich auch einen Boycott der zu dieser Zeit anstehenden Landtagswahlen durchzusetzen. Im Laufe eines Jahres wurde viel davon verwirklicht, aber es verblasste auch der Reiz der Neuheit. Die Briten reagierten klug; Gandhi wurde nicht verhaftet und man ließ die Kampagne im Sande verlaufen. Gandhi war leichtsinnig genug gewesen, Freiheit in einem Jahr zu versprechen, wenn seine Handlungsanweisungen befolgt würden. Das Jahr verging und die Kolonialherren saßen so fest im Sattel wie eh und je. Die einzige langfristige Folge der Kampagne war, dass einige Studenten nicht in die Universitäten zurückgingen und einige Anwälte ihre Praxis für immer aufgaben; aus ihren Reihen gingen die Politiker hervor, die künftig für den Nationalkongress arbeiteten und sich auch nicht scheuten, ins Gefängnis zu gehen. Gandhi war ein begnadeter Spendensammler und schaffte Millionenbeträge herbei, mit denen er diese Gefolgschaft ernähren konnte. Als er 1930 wiederum eine große nationale Kampagne zu organisieren hatte, rief er nicht wieder zur Nichtzusammenarbeit auf, sondern fand nun einen geeigneten Ansatzpunkt für den bürgerlichen Ungehorsam. Es war dies das britisch-indische Salzgesetz, das die Produktion und den Vertrieb von Salz zum einträglichen Staatsmonopol machte. Das indische Klima bewirkt, dass Menschen, um zu überleben, viel Salz konsumieren müssen. Auch die Ärmsten der Armen mussten es kaufen. Das Salzgesetz war also ein ungerechtes Gesetz, das sich zudem leicht übertreten ließ. Schon das Aufheben eines Salzkörnchens am Meeresstrand genügte, um sich strafbar zu machen. Das tat Gandhi dann auch, nachdem er zuvor mit einer Schar ausgewählter Gefolgsleute einen langen Marsch durch Gujarat angetreten hatte, der als „Salzmarsch“ in die Geschichte eingegangen ist. Überall in Indien tat man es ihm nach, und die Gefängnisse füllten sich mit „Straftätern“. Es war Gandhi gelungen, eine symbolische Revolution zu inszenieren, die
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freilich auch symbolisch blieb. Sie führte jedoch den Kolonialherren vor Augen, dass ihre Herrschaft über Indien nicht unangefochten blieb. Auch aus dieser Kampagne gingen wieder viele politische Rekruten hervor, die Gandhis Gefolgschaft mehrten. Im unabhängigen Indien kamen manche von ihnen zu Amt und Würden und machten den Nationalkongress für lange Zeit zu einer dominanten Partei, die sich immer wieder an den Wahlurnen behaupten konnte. Das hatte Gandhi so gar nicht beabsichtigt. Aber er hatte viele Inder, die sonst als Kollaborateure der Briten Karriere gemacht hätten, mit dem Aufruf zur Nichtzusammenarbeit mit den Kolonialherren aus der gewohnten Bahn gerissen und sie zum Dienst für die Nation gewonnen. So war es ihm gelungen, eine Organisation aufzubauen, die es so in kaum einem anderen Land gab, das nach dem Zweiten Weltkrieg in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Quelle Nr. 4.5 Mahatma Gandhi: Hind Swaraj (1909)2 [...] The English have not taken India, we have given it to them. They are not in India because of their strength, but because we keep them. Let us now see whether this proposition can be sustained. They came to our country originally for purposes of trade. [...] They had not the slightest intention at that time of establishing a kingdom. Who assisted the Company´s officers? Who was tempted at the sight of their silver? Who bought their goods? History testifies that we did all this. In order to become rich all at once we welcomed the Company´s officers with open arms. We assisted them. If I am in the habit of drinking bhang and a seller thereof sells it to me, am I to blame him or myself? By blaming the seller, shall I be able to avoid the habit? And, if one particular retailer is driven away, will not another take his place? A true servant of India will have to go to the root of the matter. [...] We have already seen that the English merchants got a footing in India because we encouraged them. When our Princes fought amongst themselves they sought the assistance of (the Company). That corporation was versed alike in commerce and war. It was unhampered by questions of morality. Its object was to increase its commerce and to make money. It accepted our assistance and increased the number of its warehouses. To protect the latter it employed an army which was utilised by us also. Is it then not useless to blame the English for what we did at that time? The Hindus and the Mahomedans were at daggers drawn. This, too, gave the Company its opportunity and thus we created the circumstances that gave the Company its control over India. Hence it is truer to say that we gave India to the English than that India was lost.
Literatur Bondurant, Joan V., Conquest of violence. The Gandhian philosophy of conflict, überarbt. Aufl., Princeton 1988 Brown, Judith M., Gandhi. Prisoner of hope, New Haven 1989 Rothermund, Dietmar, Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie, 2. erw. Aufl. München 1998 Ders., Geschichte Indiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2002. Ders., Mahatma Gandhi, München 2003
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Gandhi, Mohandas K., Hind Swaraj (first published 1909), in: Collected Works of Mahatma Gandhi, Vol. X, Ahmedabad 1983, S. 22.
DAS PARIS DER AFRIKANER UND DIE ERFINDUNG DER NÉGRITUDE1 Von Andreas Eckert Léopold Sédar Senghor (1906-2001), der erste gewählte Staatspräsident des unabhängigen Senegal, war im April 1961 erst seit wenigen Monaten im Amt. Seine erste Reise nach Europa führte ihn, wenig überraschend, zur ehemaligen Kolonialmacht Frankreich. In seinen Reden während des Staatsbesuches, wie auch in seiner Ansprache auf dem Empfang des Stadtrates von Paris am 20. April, die der vorliegende Essay als Ausgangspunkt wählt, betonte Senghor wiederholt die engen und positiven Verbindungen zwischen den beiden Ländern. Für diese engen Verbindungen stand nicht zuletzt seine Biografie.2 Senghors Karriere war eng mit Frankreich und vor allem mit Paris verknüpft: Senghor hatte zunächst nach seinem Studium in den 30er Jahren dort als Lehrer zu arbeiten begonnen und war nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der bekanntesten afrikanischen Poeten geworden, zugleich aber auch als nationalistischer Politiker hervorgetreten. Zwanzig Jahre lang war er Präsident des Senegal. Diese Zeit endete 1980, als er als erstes afrikanisches Staatsoberhaupt freiwillig von seinem Amt zurücktrat. Vier Jahre später, 1984, wurde er zum Mitglied der Académie Française ernannt. Mit kurzen Unterbrechungen lebte Senghor von 1928 bis 1960 in Paris, also in der Stadt, über die er sich in seiner Ansprache gegenüber dem Stadtrat so freundlich äußert. Die positive Darstellung war daher nicht allein diplomatischen Gepflogenheiten geschuldet. Vom „Geist von Paris“, den Senghor in seiner Rede beschwört, hat er wahrscheinlich mehr als die meisten Kolonisierten profitiert, auch wenn ihm rassistisch motivierte Demütigungen nicht erspart blieben. Die Stadt an der Seine markierte im 20. Jahrhundert für Senghor wie für viele Intellektuelle aus den französischen Kolonien einen Ort, an dem sie wesentliche Prägungen erfuhren und – auf unterschiedliche Weise – ihr Profil etwa als Schriftsteller, Wissenschaftler oder auch als Politiker schärften. Eine Sozialund Kulturgeschichte des „Black Paris“ liegt bislang allerdings bestenfalls nur in Ansätzen vor: Senghor nimmt in dieser Geschichte eine tragende Rolle ein.3 Die französische Hauptstadt entwickelte sich nach dem Ersten Weltkrieg zum unbestrittenen kulturellen Zentrum Europas und zu einem Treffpunkt kreativer Köpfe aus vielen Teilen der Welt, nicht zuletzt aus den Vereinigten Staaten. „Paris, ein Fest fürs Leben“ – damit setzte etwa Ernest Hemingway den Pariser „roaring twenties“ ein literarisches Denkmal. Kosmopolitisch orientierte Pariser Intellektuelle und Künstler entfalteten zunehmendes Interesse an Afrika und der afrikanischen Diaspora. Die im ethno—————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 4.6, Léopold Sédar Senghor: Der Geist von Paris (1961). Über Senghor sind inzwischen zahlreiche biographische Studien entstanden. Die mit Abstand beste ist Vaillant, Janet G., Black, French, and African. A life of Léopold Sédar Senghor, Cambridge/Ma. 1990; ferner u.a. Hymans, Jacques Louis, Léopold Sédar Senghor: An intellectual biography, Edinburgh 1971; Biondi, Jean-Pierre, Senghor ou la tentation de l’universel, Paris 1993; Sorel, Jacqueline, Léopold Sédar Senghor. L’emotion et la raison, Saint-Maur-des Fossés 1995. Vgl. etwa Jules-Rosette, Bennetta, Black Paris. The African writers’ landscape, Chicago 1998.
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grafischen Museum am Trocadéro ausgestellte afrikanische Kunst faszinierte Maler wie Picasso. Die große Expedition Dakar-Djibouti 1931-33 unter Leitung des Ethnologen Marcel Griaule sorgte für öffentliches Aufsehen und intensivierte die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Kontinent.4 Freilich verband die Mehrheit der Pariser „Afrika“ eher mit Ereignissen wie den Auftritten Josephine Bakers in der „Revue Nègre“ im Theater an den Champs d’Elysées oder mit der großen Pariser Kolonialausstellung von 1931.5 Eine große Sensation war 1921 die Verleihung des renommierten Prix Goncourt an René Maran aus Martinique, einem Mitarbeiter der Kolonialverwaltung in Zentralafrika, für seinen Roman „Batoula“, die Geschichte eines afrikanischen Dorfes. Im Vorwort des Buches sparte Maran nicht mit Kritik an der französischen Kolonialadministration, was ihn – trotz der literarischen Auszeichnung – seinen Posten kostete. Der Roman wurde in den französischen Kolonien verboten.6 In Frankreich tätige politische Aktivisten aus Afrika und den Antillen gerieten im Übrigen rasch in den Ruch, kommunistische Agitatoren zu sein und mussten mit Verfolgung durch staatliche Behörden rechnen. Dennoch entwickelte sich Paris in der Zwischenkriegszeit zu einem Zentrum panafrikanischer Aktivitäten.7 In Organisationen wie der „Ligue de Défense de la Race Nègre“ dominierten Studierende oder auch ehemalige Studierende von den Antillen. Im Vergleich zu Großbritannien waren Zahl und politische Bedeutung afrikanischer Studenten in Frankreich vor dem Zweiten Weltkrieg allerdings gering.8 Senghor war in dieser Zeit offenbar der einzige Student aus Afrika, der einen Abschluss in den Geisteswissenschaften, in seinem Fall in Latein und Griechisch, anstrebte. Und 1935 gelang es ihm als erstem Afrikaner überhaupt, die ebenso begehrte wie rare Agrégation zu erlangen, einen Abschluss, der eine feste Stelle im Staatsdienst nach sich zieht. Der Beginn seiner Studienzeit in Paris gestaltete sich für den Sohn einer wohlhabenden Serer-Kaufmannsfamilie, der mit Bravour in der senegalesischen Hauptstadt Dakar die Schule abgeschlossen hatte, jedoch keineswegs verheißungsvoll. In der Ansprache erwähnt er rückblickend seine Enttäuschung, die er bei seiner Ankunft über das graue Antlitz der Stadt empfand. Als frustrierend erwies sich zunächst auch das Studi—————— 4 5 6
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Vgl. Sibeud, Emmanuelle, Une science impériale pour l’Afrique: La construction des savoirs africanistes en France 1878-1930, Paris 2002, Kap. 9. Zur Expedition vgl. die berühmten Tagebücher von Leiris, Michel, L’Afrique fantôme, Paris 1988 (1934). Vgl. Ezra, Elizabeth, The colonial unconscious. Race and culture in interwar France, Ithaca 2000. Senghor hat den großen Einfluss von Maran auf die afrikanischen Studenten und Intellektuellen in Paris beschrieben in: René Maran. Précurseur de la Négritude, in: Senghor, Léopold Sédar, Liberté 1. Négritude et humanisme, Paris 1964, S. 407-411. Senghors erste Publikation beschäftigte sich ebenfalls mit Maran: Senghor, Léopold Sédar, L’humanisme et nous: René Maran, in: L’Etudiant Noir 1 (1935). Vgl. Liauzu, Claude, Aux origines du tiers-mondismes. Colonisés et anticolonialistes en France (1919-1939), Paris 1982; Dewitte, Philippe, Les mouvements nègres en France 1919-1939, Paris 1985; Spiegler, James, Aspects of nationalist thought among french-speaking West Africans, 19211939, unpubl. D. Phil Thesis, Oxford 1967; Geiss, Immanuel, Panafrikanismus. Zur Geschichte der Dekolonisation, Frankfurt am Main 1968, Kap. II, 7; Langley, J. Ayodele, Pan-Africanism in Paris 1924-1936, in: Journal of Modern African Studies 7 (1969), S. 69-94. Vgl. Eckert, Andreas, Afrikanische Studenten und anti-koloniale Politik in Europa, 1900-1960, in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 7 (2004), S. 129-145.
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um an der Sorbonne. Senghor fühlte sich isoliert und überfordert. Auf den Rat eines wohlwollenden Professors wechselte Senghor bald an das Lycée Louis-le-Grand, eine der ältesten Kaderschmieden des französischen Bildungssystems, um sich auf die Aufnahmeprüfung zur Ecole Normale Supérieure vorzubereiten. An dieser Schule schloss er – wie er auch in der Ansprache berichtet – lebenslange Freundschaften: vor allem mit Georges Pompidou, dem späteren Präsidenten Frankreichs, mit dem vietnamesischen Schriftsteller und Diplomaten Pham Duy Khiem, mit dem sozialistischen Politiker Robert Verdier und mit dem Schriftsteller Robert Merle.9 Das „old boys network“ dieser Pariser Einrichtung konnte Senghor in seiner späteren Karriere als Politiker wiederholt nutzen. Insbesondere mit Hilfe von Pompidou „entdeckte“ Senghor nun auch die Stadt. Der kalte Regen seiner Ankunft wich „langen Spaziergängen unter einem warmen Regen oder in blaugrauem Nebel.“10 Trotz guter Leistungen misslang Senghor die Aufnahmeprüfung zur Ecole Normale Supérieure, er wechselte daraufhin wieder an die Sorbonne, weiterhin unterstützt durch ein staatliches Stipendium. Seine Unterkunft fand er in der neuen Cité Universitaire, im Haus der Fondation Deutsch de la Meurthe. Senghor knüpfte nun intensive Kontakte zur „schwarzen Diaspora“ in Paris und versuchte, Westinder und Afrikaner zusammenzubringen – ein nicht einfaches Unterfangen, denn die meisten Studenten von den Antillen betrachteten sich als Franzosen und pflegten auf die „primitiven Afrikaner“ hinabzuschauen. Gemeinsam mit Léon Dumas aus Guyana und Aimé Césaire aus Martinique gründete Senghor 1935 die kulturell-literarische Zeitschrift „L’Etudiant Noir“, die auch den Kern der Négritude-Bewegung bildete. Senghor hat die Anfänge später etwas dramatisierend so beschrieben: „Mit einigen anderen schwarzen Studenten verfielen wir in eine Art panische Hoffnungslosigkeit. Der Horizont verschloss sich, keine Reform war in Aussicht, und die Kolonisatoren rechtfertigten unsere politische und wirtschaftliche Abhängigkeit mit der Theorie des unbeschriebenen Blattes. Sie meinten, wir hätten bisher niemals etwas erfunden und erschaffen, nichts geschrieben und geforscht, nicht gemalt, nicht gesungen. Um unsere eigene und wirkliche Revolution zu beginnen, mussten wir unsere entliehenen Kleider, die Kleider der Assimilation, ablegen und unser eigenes Sein bejahen, nämlich unsere Négritude.“11 Das Projekt der Négritude, das in Paris seinen Ausgang nahm, blieb ein äußerst widersprüchliches Projekt, dem es nicht zuletzt darum ging, den Kolonialismus zunächst ideell zu überwinden. Rasch sorgten die Texte aus dem Umfeld dieser Bewegung unter der schwarzen Diaspora und in den Intellektuellenkreisen von Paris für Aufsehen. Die Weihe, gleichsam Teil des Weltgeistes zu sein, gab der Bewegung jedoch erst Jean-Paul Sartre, der die Négritude in seinem klassischen Essay „Der schwarze Orpheus“ 1948 emphatisch analysierte. Sartre konstruierte die Négritude als einen „anti-rassistischen
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Vgl. dazu auch Senghor, Léopold Sédar, Lycée Louis-le-Grand, haut lieu de culture française, in: Ders., (wie Anm. 6), S. 403-406. 10 Ebd., S. 405. 11 Senghor, L’Esprit de la civilisation ou des lois de la culture Negro-Africaine (1956), zit. n. der Übersetzung in Imfeld, Al (Hg.), Verlernen, was mich stumm macht. Lesebuch zur afrikanischen Kultur, Zürich 1980, S. 83.
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Rassimus“, dessen Aufgabe es sei, „sich seiner Rasse bewusst zu werden.“12 Senghor hingegen blieb in der Bestimmung seines Afrika-Bildes immer ambivalent und spekulativ. Einerseits plädierte er für einen kulturellen Synkretismus, andererseits suchte er die Négritude als das zu konstituieren, was afrikanischen Geist vom europäischen trennt. In diesem Zusammenhang stellte er die äußerst kontroverse These auf, Afrikaner eigneten sich die Welt nicht wie die Europäer mit Vernunft, sondern mit Emotionen an. Die Négritude entstand, wie Senghor in seiner Ansprache kurz erwähnt, in intensiver Auseinandersetzung mit europäischen Schriften über Afrika, auf die er in Paris stieß. Die Schriften der Ethnografen Leo Frobenius und Maurice Delafosse sowie des Kolonialbeamten und Afrikaspezialisten Robert Delavignette übten auf ihn einen besonders nachhaltigen Einfluss aus.13 Ihre größte Wirkung entfaltete die Négritude schließlich in der ersten Dekade nach dem Zweiten Weltkrieg. „Présence Africaine“, die 1947 gegründete Zeitschrift, zu der sich bald das gleichnamige Verlagshaus gesellte, gab diesem Einfluss sichtbaren Ausdruck.14 Senghor publizierte weiter Gedichte und Essays, agierte fortan aber vor allem als Politiker. Als Abgeordneter Senegals saß er in der französischen Nationalversammlung und setzte sich von Paris aus für die Unabhängigkeit der afrikanischen Kolonien ein. In den 1950er Jahren artikulierte sich auch erstmals grundlegende Kritik an Senghors Konzept der Négritude. Auf dem von Présence Africaine im September 1956 organisierten Kongress der schwarzen Schriftsteller und Künstler in Paris konstatierte etwa Frantz Fanon, der Theoretiker einer antikolonialen Revolution, dass die Négritude im Grunde eine Spielart des westlichen Rassismus sei, indem sie einem essentialistischen „schwarzen Wesen“ das Wort rede.15 Die jüngere Generation afrikanischer Schriftsteller und Künstler in Paris bezieht sich nur noch selten auf Senghor oder grenzt sich gar explizit von ihm ab. Für jene Historiker, denen es darum zu tun ist, die Geschichte der Moderne als eine „verwobene Geschichte“ zu konzeptualisieren, für welche (freilich durch Asymmetrien und Hierarchien geprägte) Interaktionen zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden konstitutiv sind, bieten Senghors Aktivitäten in Paris und seine Perzeption der imperialen Metropole hingegen wichtiges Material, denn nicht zuletzt war Paris im 20. Jahrhundert ein Ort, an dem französische und afrikanische, europäische und außereuropäische Geschichte sich vermischten.
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Sartre, Jean-Paul, Orphée Noir, in: Senghor, Léopold Sédar (Hg.), Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française, Paris 1948, S.IX-XLIV (dt.: Schwarzer Orpheus, in: Sartre, Jean-Paul, Situationen, Reinbek 1965, S. 189-211). Vgl. Vaillant (wie Anm. 2), S. 121ff.; zu den vielen Quellen, die Senghors Denken beeinflussten, vgl. ferner Lölke, Ulrich, Kritische Traditionen. Afrika. Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt am Main 2001. Vgl. Mudimbe, Valentin Y. (Hg.), The surreptitious speech. Présence africaine and the politics of otherness 1947-1987, Chicago 1992. Fanon, Frantz, Racisme et culture, in: Présence Africaine 8-10 (1956), S. 125f.
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Quelle Nr. 4.6 Léopold Sédar Senghor: Der Geist von Paris (1961)16 [...] Wie ich Paris kennen- und lieben lernte, dies möchte ich Ihnen in gebotener Kürze berichten. Seien Sie versichert, ich werde weder von der politischen noch von der ökonomischen Bedeutung von Paris sprechen. Dafür wäre ich nicht der Richtige. Und wenn ich den Handel erwähne, so wird es um den Handel des Geistes gehen, in welchem Paris eine bedeutende Rolle spielt: die der Hauptstadt und Metropole. Es regnete kalt aus dem Oktoberhimmel, als ich eines Morgens in Paris ankam. Alles war grau, selbst die berühmten Gebäude. Welch eine Enttäuschung! Und doch hatte ich bereits einen Sonnenstrahl auf den blassen Gesichtern entdeckt: ein aufmerksames Lächeln, eine Freundlichkeit die zur Freundschaft einlud und die ich nirgendwo in Europa so wiederfinden sollte. Und tatsächlich, meine tiefsten Freundschaften nahmen ihren Anfang in Paris, auf den Bänken des Lycée Louis-le-Grand – Freundschaften von nun schon dreißig Jahren. Und es waren eben jene Freunde vom Lycée, durch die ich Paris kennen lernte, und sie es gleichzeitig mit mir. Nicht über abstraktes Wissen, sondern durch das Erleben. Wir durchstreiften gemeinsam zu Fuß das Paris der Zwischenkriegszeit: vom Jardin du Luxembourg zum Parc Montsouris, von Notre-Dame bis Sacré Coeur, von der Concorde zur Porte d’Auteuil und von der Bastille zur Porte Dorée. Ich lernte von Paris zunächst also die Straßen kennen, einem neugierigen Touristen gleich. Weniger das Paris by night als vielmehr die Hauptstadt mit ihren bei Tageslicht so verschiedenen Gesichtern. Ach, dieses Licht, das auch der Rauch aus den Fabrikschornsteinen nicht zu verdecken vermag! Blond, blau, grau, je nach Jahreszeit, Tag oder Stunde bleibt dieses Licht immer weich und reich an Nuancen, scheint auf Bäume und Steine und belebt alles mit dem Geist von Paris. Paris erstreckt sich nicht nur bis zu seinen äußeren Boulevards, die ganze Île de France ist noch Paris! Die berühmten Hügel, die in der Ferne die Hauptstadt wie eine Krone umgeben, die Wälder von Cheuvreuse und Ermenoville, von Chantilly und Montmorency, die Täler der Oise, Marne und Seine, all diese Landschaften sind in dasselbe Licht getaucht, unsterblich gemacht durch die größten Maler. Überall dort künden das Lächeln des Mai und die Pracht des Septembers von der Süße des Lebens. Ja, für mich ist Paris vor allem dies: eine Stadt – eine Symphonie aus Steinen –, die an ihren Rändern in eine harmonische Landschaft von Gewässern, Blumen, Wäldern und Hügeln übergeht. Eine Landschaft, die eine Seelenlandschaft ist, dem Menschen zugetan. Und auf all dies scheint das Licht des Geistes. Dieser Geist von Paris, der ein Musterbeispiel für den französischen Geist ist, war es, wonach ich während meiner Studienjahre suchte und ich widmete mich dieser Sache mit einer ganz afrikanischen, ja primitiven Leidenschaft. Vielleicht versäumte ich dabei etwas, denn ich besuchte sehr viel häufiger als die Nachtclubs die Theater, die Museen, die Konzertsäle und Kunstausstellungen. Ausgestellt und dargeboten wurden dort vielfach ausländische Meisterwerke. Eben diese Weltoffenheit, die Suche nach dem Anderen, ist ein Merkmal des Pariser Geistes. Ich würde aber noch weitergehen: In diesem unstillbaren Wissensdurst, in der aktiven Bereitschaft, etwas in sich aufzunehmen, um etwas hervorzubringen, zeigt sich das Wesen des Geistes von Paris, ja des französischen Genies [...] Was seinen besonderen Wert ausmacht, ist, dass dieses Genie eine schöpferische Wahl ist. Nichts bleibt, wie es sich präsentiert, in seinem Schwung und seinem Übermaß; alles wird auf seine
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Ansprache Leopold Senghors auf einem Empfang des Stadtrates von Paris am 20. April 1961, in: Ders., Liberté 1. Négritude et humanisme, Paris 1964, S. 312-314; Übersetzung aus dem Französischen von Andreas Eckert.
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gehörigen Proportionen, auf sein gesundes menschliches Maß gebracht. Alles spricht vom Mensch und strebt zum Mensch, alles vollzieht sich als Ausdruck des Geistes, der ein Geist des Menschen ist. Die wichtigste Lektion, die mir in Paris zuteil wurde, bestand indessen weniger in der Entdeckung der anderen als vielmehr in der Entdeckung meiner selbst. Indem die Metropole mir die Welt der anderen erschloss, half sie mir, Kenntnis von mir selbst zu erlangen. Wenn Paris nicht ohnehin das größte Museum schwarzafrikanischer Kunst ist, so wurde die schwarze Kunst jedenfalls nirgendwo in diesem Maße verstanden, kommentiert, überschwänglich gelobt und aufgenommen. Dadurch, dass Paris mir die Werte der Kultur meiner Vorfahren vermittelte, zwang es mich gleichsam, diese Werte zu akzeptieren und in mir reifen zu lassen – und dies betraf nicht nur mich, sondern eine ganze Generation schwarzer Studenten von den Antillen wie aus Afrika. Paris inspirierte uns gleichermaßen mit seinem Geist. Es lud uns ein, aus seinen Museen wie aus seiner universitären Ausbildung keine Genussobjekte oder nutzlosen Zierrat zu machen, sondern Instrumente der Kultur, Instrumente von Befreiung und Fortschritt. Es wurde gesagt, dem Geist von Paris fehle die kosmische, die göttliche Dimension. Ich glaube vielmehr, dass dieser Geist, ohne irgendetwas zu verwerfen, uns gelehrt hat, die Götter auf die Erde zu holen und an jede Sache sehr genau den Menschen als Maßstab anzulegen: um in der Welt und in uns klar zu sehen und um jedem Ding – Tatsachen, Ideen, Gefühlen – seinen richtigen Platz zuzuweisen. Herr Präsident des Stadtrates, Sie werden mir verzeihen, dass ich nicht von den Pariser Vergnügungen gesprochen habe, weder von der Mode noch vom Pariser Stil. Für mich macht all das nicht Paris aus. Der Geist von Paris, das sind auch nicht jene Wortspiele, die den Fremden erfreuen, jene listigen Scherze, an denen wir im Lycée Louis-le-Grand Gefallen fanden. Die Freundlichkeit, die Freundschaft bedeutet, die Neugier, die Wissen ist, dies ist in ihrem Wesen die Gabe der Schöpfung, die Paris kennzeichnet [...]
Literatur Ezra, Elizabeth, The colonial unconscious. Race and culture in interwar France, Ithaca 2000 Jules-Rosette, Bennetta, Black Paris. The African writers’ landscape, Urbana 1998 Lölke, Ulrich, Kritische Traditionen: Afrika – Philosophie als Ort der Dekolonisation, Frankfurt am Main 2001 Mudimbe, Valentin Y. (Hg.), The surreptitious speech. Présence africaine and the politics of otherness. 1947-1987, Chicago 1992 Vaillant, Janet G., Black, French, and African. A life of Léopold Sédar Senghor, Cambridge/Mass. 1990
EUROPÄISCHE INTERESSENPOLITIK IM WELTFUßBALL1 Von Christiane Eisenberg Der moderne Fußball entwickelte sich zuerst in Europa, verbreitete sich jedoch schon vor 1914 auch nach Übersee und wird heute in allen Ländern der Erde gespielt. Der europäische Fußball gewann vor dem Hintergrund dieses Verbreitungserfolgs auf zweifache Weise an Profil: zum einen durch die zunehmende Intensität des sportlichen Austausches innerhalb Europas, zum anderen durch die Verteidigung der sportlichen und sportpolitischen Vorherrschaft gegenüber den außereuropäischen Neulingen. In der nachfolgend abgedruckten Stellungnahme des italienischen Fußballfunktionärs Ottorino Barassi in der italienischen Sportzeitschrift „Calcio“ aus dem Jahre 1960 kommt diese zweite Dimension des europäischen Fußballs zum Ausdruck. Ingenieur Dr. Ottorino Barassi (1898-1971) war ein verdienter Fußballfunktionär. 1960 avancierte er zu einem von mehreren Vizepräsidenten der Fédération Internationale de Football Association (FIFA). Besondere Meriten hatte Barassi sich als Organisator der zweiten FußballWeltmeisterschaft in Italien 1934 und als Präsident der Federazione Italiano Giuoco Calcio (1946-1958), des italienischen Fußballverbandes, erworben. Darüber hinaus gilt er als einer der „Väter“ der 1954 gegründeten Union des Associations Européennes de Football (UEFA), in der er ebenfalls hohe Ämter innehatte.2 Als Advokat des europäischen Fußballs tritt uns Barassi auch in dieser Quelle entgegen. Worum geht es konkret? Auf den ersten Blick scheinen es organisatorische Fragen des Verhältnisses von FIFA und UEFA zu sein, die Barassi Sorge bereiten. Die FIFA sei zu groß und schwerfällig geworden. Daher solle die Entscheidungsfindung innerhalb des Verbands künftig dezentralisiert und mithilfe der sogenannten Konföderationen für die einzelnen Fußball-Kontinente erfolgen, von denen im Jahr 1960 bereits vier bestanden: die Confederación Sudamericana de Fútbol (CONMEBOL, gegr. 1916), die UEFA (gegr. 1954), die Asian Football Confederation (AFC, gegr. 1954) und die Confédération Africaine de Football (CAF, gegr. 1957).3 Bei näherem Hinsehen ging es Barassi jedoch um etwas anderes: Er wollte das Abstimmungsprinzip in der FIFA verändern. Nur noch auf der Ebene der Konföderationen sollten die Mitgliedsverbände nach dem gleichen Stimmrecht abstimmen dürfen. In der FIFA sollten sie sich nur noch —————— 1 2
3
Essay zur Quelle Nr. 4.7, Ottorino Barassi: Die Weltorganisation bedarf dringend der Modernisierung (1960). Dr. Ottorino Barassi (Ing.) war 1960 Vizepräsident der Fédération Internationale de Football Association (FIFA) Vizepräsident der Federazione Italiana Giuoco Calcio (FIGC); zu weiteren Lebensdaten vgl. den Nachruf auf Barassi in: FIFA News Nr. 103, Dezember 1971; Barassi, Ottorino, Coppa del Mondo. Cronistoria del campionato mondiale di calcio, Rom 1934; Ghirelli, Antonio, Storia del calcio in Italia, Turin 1990, Kap. 5; mit Bezug auf die „Vaterschaft“ an der UEFA: Schreiben von Sir Stanley Rous an Helmut Käser vom 28.8.1953, in: FIFA-Archiv Zürich, Box Individual ExCo Members, Folder Sir Stanley Rous. Die Confederation of North, Central American and Caribbean Association Football (CONCACAF) entstand 1961, die Oceania Football Confederation (OFC) 1966.
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indirekt, eben über die Konföderationen, Gehör verschaffen können. Diese Forderung war, wie die Quelle belegt, explizit gegen die jungen afrikanischen und asiatischen Mitgliedsverbände gerichtet. Wenn eine entsprechende Statutenänderung auf der FIFAGeneralversammlung nicht erfolge, werde sich Europa im Weltfußball verselbständigen und seine eigene internationale Meisterschaft ausrichten, drohte Barassi – was im Jahr 1960 durchaus ernst zu nehmen war. Denn die UEFA hatte 1958 mit dem Europäischen Nationen-Pokal, der späteren Fußball-Europameisterschaft, bereits einen entsprechenden Wettbewerb ins Leben gerufen; das erste Endspiel fand 1960 statt. Als weiteres Novum wurde 1960 erstmals ein Europa/Südamerika-Pokal ausgetragen. Um Barassis Initiative zu verstehen, muss man sich die Entwicklung des Weltfußballs nach 1945 vergegenwärtigen. Die FIFA, im Jahr 1904 von einigen für den internationalen Fußball begeisterten jungen Leuten aus West-, Nord- und Mitteleuropa gegründet, war zu einer weltumspannenden Organisation herangewachsen und verfügte mittlerweile über so viele nationale Mitgliedsverbände, dass das ursprüngliche Abstimmungsverfahren nach dem Prinzip „one association, one vote“ in der Tat sehr aufwendig geworden war. Dieses Organisationswachstum erfolgte besonders rapide unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als sich das Nationalstaatsprinzip auf der Erde verallgemeinerte. Aus mehr als hundert ehemaligen Kolonien, Teilterritorien von Großstaaten und vielfältigen anderen politischen Gemeinwesen wurden nun in rascher Abfolge unabhängige Nationalstaaten, und für viele von ihnen gehörte die Mitgliedschaft in der FIFA zu den unverzichtbaren Insignien der Souveränität, ähnlich wie die Nationalflagge, die eigene Währung oder der eigene Postdienst.4 Wie die nachfolgende Tabelle zeigt, wuchs die FIFA-Mitgliedschaft bis Mitte der 1960er Jahre um mehr als 100 Prozent, das heißt in dem 20-jährigen Zeitraum 1945-1964 entwickelte sich der Weltfußballverband doppelt so schnell wie 1904-1944, den ersten vierzig Jahren seiner Existenz. Die Entwicklung ging auf Kosten der europäischen Fußballverbände. Denn sie führte dazu, dass der Anteil der europäischen Verbände an der Gesamtmitgliedschaft der FIFA zwischen 1945 und 1955 von 54 Prozent auf 42 Prozent sank. Mit der Dekolonisierung Afrikas und Asiens setzte sich der Trend fort. Allein 31 von 43 neuen Mitgliedern, die dem Weltfußballverband im Jahrzehnt nach 1957 beitraten, repräsentierten den afrikanischen Kontinent.5 —————— 4
5
Vgl. Meyer, John W.; Boli, John; Thomas, George M.; Ramirez, Francisco O., World society and the nation state, in: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144-181. Die FIFA akzeptierte in Ausnahmefällen sogar Fußball-Assoziationen aus politisch abhängigen Gemeinwesen, sofern der nationale Mitgliedsverband des Staates, zu dem dieses Gemeinwesen gehörte, die Aufnahme befürwortete und einen entsprechenden Antrag stellte; vgl. FIFA-Archiv Zürich, Minutes of the extraordinary congress held on 14th and 15th November 1953, S. 6-7. Zu den Ländern, die von dieser Regelung profitierten, gehörten Kenia, Lesotho, Mauritius, Nigeria, Sudan, Uganda, Zypern, Malaysia, Singapur und Syrien. Eigene Berechnungen auf der Basis einer Übersicht (FIFA: Affiliated National Associations – Year of Affiliation), die von Heidrun Homburg für das in Anm. 5 erwähnte FIFA-Projekt erstellt wurde.
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Mitgliederwachstum der FIFA 1904-19646 Zeitraum Neuzugänge Anzahl der Mitglieder am Ende des Zeitraums 1904-1944 60 60 1945-1949 8 68 1950-1954 12 80 1955-1959 11 91 1960-1964 32 123
Wachstum seit 1945
+ 33 % + 50 % + 103 %
Insbesondere die südamerikanischen Delegierten, deren Länder im Fußball nach dem Zweiten Weltkrieg auch auf dem grünen Rasen klar dominierten (im WM-Endspiel 1950 hatte sich Uruguay und Brasilien gegenüber gestanden), wussten bei den FIFAGeneralversammlungen diese Situation für sich zu nutzen, indem sie Blockabstimmungen mit den Afrikanern oder Asiaten organisierten. Diese Erfahrung der Majorisierung war für manch einen Europäer in der FIFA und so auch für Barassi bitter, zumal die von den afrikanischen und asiatischen Delegierten vertretenen Verbände in der Regel Papiertiger waren. Eine spätere Erhebung der FIFA aus dem Jahr 1970 sollte jedenfalls unterstreichen, dass sein Vorschlag, die Stimmen der FIFA-Mitgliedsverbände unterschiedlich zu gewichten, nicht einem diffusen Ressentiment gegen den „schwarzen“ und den „gelben Kontinent“ entsprang, sondern durchaus begründet war. Obwohl die afrikanische Konföderation zu diesem Zeitpunkt 28 Prozent aller registrierten Fußballverbände auf der Welt umfasste, entfielen auf sie nämlich nur 3 Prozent der Teams und Spieler. Bei der asiatischen Konföderationen und den mittlerweile hinzugekommenen Organisationen für die Karibik und Ozeanien sah es nicht anders aus.7 Was wurde aus Barassis Initiative? Sie scheiterte auf der ganzen Linie, so muss man aus der historischen Rückschau feststellen. Schon seine erste Forderung, Entscheidungskompetenzen an die Konföderationen zu verlagern, war im Jahr 1960 wenig originell und dürfte bei den meisten seiner Funktionärskollegen in der FIFA auf Ablehnung gestoßen sein.8 Zwar konnten die Konföderationen in der Tat bei der Entscheidungsfindung entlastend wirken, wie Barassi zu Recht hervorhob; darüber hinaus dienten sie als Clearing-Stellen für die Konfliktregulierung im Weltfußball. Aber die Konföderationen verstanden sich auch als regionale Interessenorganisationen und versuchten daher, mit Hilfe inter-konföderaler Koalitionen ihre speziellen Anliegen durchzuset—————— 6
7 8
Ausgezählt nach einer Übersicht „National Associations – Foundation Year“, die Heidrun Homburg auf der Basis der Daten im FIFA-Archiv angelegt hat. Die Übersicht wurde im Rahmen des Projekts „100 Jahre FIFA“ erstellt, dessen Ergebnisse mittlerweile publiziert sind: Eisenberg, Christiane; Lanfranchi, Pierre; Mason, Tony; Wahl, Alfred, FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen 2004. Fédération Internationale de Football Association (1972). Report covering the period from June 1970 till June 1972, presented to the FIFA General Congress in Paris, 22. 23. August 1972. Bezeichnenderweise findet Barassis Artikel im Protokoll der 32. Generalversammlung, an die er verteilt worden war, keine Erwähnung; vgl. FIFA-Archiv Zürich, Bestand XXXIInd Congress.
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zen.9 Dementsprechend waren bereits in den 1950er Jahren in der FIFA-Spitze immer wieder Befürchtungen geäußert worden, dass die fortschreitende Regionalisierung des Weltfußballs zentrifugale Tendenzen befördern werde.10 Auch der Vorschlag, das gleiche Stimmrecht auf der FIFA-Generalversammlung abzuschaffen und die Stimmen der jungen und mitgliederschwachen Verbände aus Afrika und Asien geringer zu gewichten als die der altehrwürdigen europäischen, fand in der FIFA wenig Resonanz. Hier hätte nur die Generalversammlung selber das Stimmrecht ändern können, und dort waren eben diese jungen und mitgliederschwachen Verbände in der Mehrheit. Wenig überraschend blieben auch spätere Vorstöße anderer Einzelpersonen ebenso wie die der UEFA gänzlich erfolglos.11 Längerfristig gesehen, wuchs die Mehrheit für das Prinzip „one association, one vote“ sogar Jahr für Jahr an, weil immer mehr der mittlerweile mehr als 200 FIFA-Mitgliedsorganisationen zu den kleinen und kleinsten Verbänden gehörten. Schließlich verschwand auch das Drohpotential eines internationalen europäischen Fußballturniers, was das Scheitern der europäischen Interessenpolitik nochmals belegt. Die UEFA-Europameisterschaft vermochte sich niemals zu einer Konkurrenz der FIFA-Weltmeisterschaft zu entwickeln. Die Durchführung des Turniers zwischen zwei Weltmeisterschaften begründete vielmehr eine friedliche Koexistenz. Barassis Initiative von 1960 wirft mithin ein Schlaglicht auf die durchweg schwache Position der europäischen Interessen in der FIFA nach dem Zweiten Weltkrieg.12 Sie erhellt zugleich das strukturelle Entwicklungsproblem der Weltfußballorganisation: Wenn die FIFA tatsächlich eine globale Organisation sein und die Interessen aller ihrer Mitglieder gleichermaßen berücksichtigen wollte, so durfte sie ihren wichtigsten Stützen, den europäischen Fußballverbänden, keine Sonderkonditionen gewähren. In manchen Situationen musste – und muss – sie die europäischen Interessen sogar systematisch verletzen, um den Fußball auf globaler Ebene zu fördern. Das ist heute regelmäßig dann der Fall, wenn es um die Verteilung der Milliardeneinnahmen aus dem Verkauf von Fernsehrechten für die Weltmeisterschaft geht. Der Großteil dieser enormen Summen stammt aus Europa. Zu den Nutznießern gehören jedoch überwiegend die kleinen und armen Fußball-Länder Afrikas und Asiens, denn die Gesamtsumme wird zu gleichen Teilen an alle Mitgliedsverbände verteilt. Während diese Geldspritzen für die reichen europäischen Verbände, salopp formuliert, einen Zuschuss für die Portokasse bedeuten, sind sie für die kleinen und armen Verbände eine unverzichtbare FußballEntwicklungshilfe. Die Gelder sind umso willkommener, als die Verantwortlichen vor Ort entscheiden dürfen, wofür sie verwandt werden sollen.13 —————— 9 10 11 12 13
Die bereits 1916 gegründete CONMEBOL hatte während des Zweiten Weltkriegs, als die Zürcher FIFA-Zentrale weitgehend manövrierunfähig war, sogar versucht, die Weltorganisation zu usurpieren; vgl. Eisenberg u.a. (wie Anm. 5), S. 77. Vgl. Darby, Paul, Africa, football and FIFA. Politics, colonialism and resistance, London 2002, S. 47ff. Vgl. dazu Darby, Africa, insb. Kap. 3 u. 6. Vgl. dazu auch ebd., Kap. 3, sowie Sugden John; Tomlinson, Alan, Global power struggles in world football: FIFA and UEFA, 1954-1974, and their legacy, in: The International Journal of the History of Sport 14 (1997), S. 1-25. Vgl. Eisenberg u.a. (wie Anm. 5), Kap. 11.
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Diese Umverteilungspolitik wird von den europäischen Fußballverbänden und ihrer Interessenorganisation, der UEFA, genauso wenig goutiert wie seinerzeit das gleiche Stimmrecht der Afrikaner und Asiaten von Barassi. Allerdings hört man in Reaktion darauf nicht mehr die Forderung nach einer ungleichen Stimmengewichtung der Nehmerländer aus Afrika, Asien und anderen, aus europäischer Perspektive entlegen erscheinenden Gegenden der Welt. Angesichts der gewachsenen Sensibilität für globale Ungleichgewichte sind solche Forderungen in der europäischen Öffentlichkeit, zunehmend auch bei politisch aufgeklärten Fußballfunktionären offenbar nicht mehr akzeptabel; sie verbieten sich aus Gründen der Vernunft und der „political correctness“. Dennoch bleibt zu fragen, ob nicht Barassis Vorschläge schon seit längerem gewissermaßen im neuen Gewand daherkommen. Gemeint sind die in der europäischen Presse breit erörterten Korruptionsvorwürfe gegen die beiden jüngsten FIFA-Präsidenten, den Brasilianer João Havelange (1974-1998) und den Schweizer Joseph S. Blatter (seit 1998).14 Beide haben die globale Ausrichtung und die Umverteilungspolitik der FIFA seit den 1970er Jahren dezidiert vertreten. Beide wurden in einen Abwehrkampf gegen Anfeindungen verstrickt, die von Vertretern der europäischen Fußballinteressen ausgingen. In beiden Fällen haben sich die Korruptionsvorwürfe als unbegründet erwiesen. Daher spricht einiges für die Interpretation, sie als funktionales Äquivalent der nicht mehr durchsetzbaren Forderung nach einer größeren Gewichtung der europäischen Stimmen im Weltfußball zu betrachten. So gesehen, wären diese Vorwürfe ein moralisch verbrämtes „Foul“ infolge der gescheiterten europäischen Interessenpolitik. Quelle Nr. 4.7 Ottorino Barassi: Die Weltorganisation bedarf dringend der Modernisierung (1960)15 […] Die [FIFA-]Generalversammlung der nationalen Fußballverbände ist heute eine zweitrangige Veranstaltung, deren wichtigste Aufgabe neben der Wahl des Verbandspräsidenten die Vergabe der Weltmeisterschaft und die Anpassung der Statuten im Hinblick auf interkontinentale Angelegenheiten ist. Das Exekutivkomitee agiert seit längerem unabhängig von den Kontinentalverbänden, welche dennoch fortfahren, die Wünsche größerer repräsentativer Gruppen einzureichen – womit aufgrund der Vielzahl der Meetings zu untragbaren Kosten die Gefahr einer Aufblähung und Ineffizienz der Hauptorganisation einhergeht. Wenig überraschend, werden in der Praxis die tatsächlichen Entscheidungen von den Kommissionen getroffen. Demgegenüber wäre es richtig, vieles von dem, was heute von der F.I.F.A. erledigt wird, den Kontinentalverbänden zu überantworten, obwohl auch einige von diesen bereits zu groß sind. Auf dem asiatischen Kontinent sind die Interessenunterschiede zwischen den Europa nahen und den anderen Ländern derartig ausgeprägt (ganz abgesehen von dem ernsten Problem der Entfernungen), dass sich eine weitere Untergliederung
—————— 14 Dazu ausführlich Darby, Paul, Africa, the FIFA presidency and the governance of world football: 1974, 1998 and 2002, in: Moving Bodies, 1, 2003, S. 47-61. 15 Dr. Ottorino Barassi, The world organisation urgently requires modernising. Excerpt from magazine "Calcio", published in Milan by the F.I.G.C. Lega Nationale II [1960], No. 1/3, pp. 36/40. Distributed to the delegates of the FIFA XXXIInd Congress held at the „Confederazione Italiana Dirigenti d’Azienda“, Via Nazionale 75, in Rome on August 22 and 23, 1960, [Rom 1960]; Übersetzung des englischen Originals von Christiane Eisenberg.
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empfiehlt. Eine solche existiert bereits in Amerika, wo es trotz der nicht sehr zahlreichen Mitgliedsländer bereits drei Dachorganisationen gibt: für Süd-, Mittel- und Nordamerika. Die Situation des Fußballs ist im Hinblick auf den Entwicklungsstand und die Perfektion des Spiels in den einzelnen Kontinenten recht unterschiedlich. Es ist die Aufgabe der F.I.F.A., den Fortschritt in den am meisten bedürftigen Regionen zu befördern, aber das demokratische Konzept, dass alle möglichen Nationalverbände auf der Generalversammlung mit gleichen Stimmrechten ausgestattet sind, kann nicht länger umstandslos angewandt werden. Sport ist keine politische, sondern eine technische Angelegenheit, und es ist nicht einsehbar, dass England, das Land, das mit seinem kraftvollen Fußballverband alle anderen anführte, genauso viel zählen soll wie der jüngste und kleinste Mitgliedsverband. Entweder muss man sich ein neues gewichtetes System ausdenken, so wie es auch in anderen Sportarten besteht, oder die einzelnen Nationalverbände können nur vor den kontinentalen Konföderationen gleiche Rechte und Pflichten haben; solche Konföderationen sind daher auszubauen. Die Beziehungen mit der F.I.F.A. werden dann ausschließlich von den kontinentalen Konföderationen geregelt. Ernsthafte Besorgnis stellt sich ein bei der Vorstellung, was alles geschehen könnte, wenn die neuen afrikanischen und asiatischen Verbände (um nur ein Beispiel zu nennen) sich zusammentäten, auf der Generalversammlung der F.I.F.A. eine zahlenmäßige Mehrheit bildeten und Entscheidungen treffen wollten, ohne die Isolation der europäischen und amerikanischen Gruppe oder einer der beiden in Erwägung zu ziehen. Würden doch die Anzahl und Qualität dieser Nationalverbände allein einen hinreichend interessanten Spielbetrieb auf internationaler Ebene erlauben, und eine europäische, amerikanische oder gemischte Meisterschaft würde genauso viel gelten wie die Weltmeisterschaft, wenigstens für die Europäer. Glücklicherweise ist Europa im Fußball eine authentische und vollkommene Einheit – was leider in der Politik nicht der Fall ist. Es ist deshalb von allgemeinem Interesse, im Geist einer gedeihlichen Zusammenarbeit für die Schaffung neuer Statuten zu wirken, die es vermeiden helfen, dass die Fortentwicklung und der Fortschritt im Fußball behindert werden. Der außerordentliche [FIFA-]Kongress des nächsten Jahres in London wird aufgerufen sein, diese gewichtige und für den Weltfußball entscheidende Aufgabe zu erfüllen.
Literatur Darby, Paul, Africa, football and FIFA. Politics, colonialism and resistance, London 2002 Darby, Paul, Africa, the FIFA presidency and the governance of world football: 1974, 1998 and 2002, in: Moving Bodies, 1 (2003), S. 47-61 Eisenberg, Christiane; Lanfranchi, Pierre; Mason, Tony; Wahl, Alfred, FIFA 1904-2004. 100 Jahre Weltfußball, Göttingen 2004 Sugden, John; Tomlinson, Alan, Global power struggles in world football: FIFA and UEFA, 1954-1974, and their legacy, in: The International Journal of the History of Sport 14 (1997), S. 1-25
EUROPA ALS KONTINENT DER ZUKUNFT. PIERRE BERTAUX UND DIE ZEITDIAGNOSTIK DER 1960ER JAHRE1 Von Alexander Schmidt-Gernig Das Schlusskapitel der Zukunftsstudie „Mutation der Menschheit“ des französischen Germanisten Pierre Bertaux ist für die Analyse des europäischen Selbstverständnisses nach dem Zweiten Weltkrieg in mehrerlei Hinsicht ein Schlüsseltext. Er bündelt erstens die vielfältigen Stränge des europäischen Selbstverständnisses des 19. und 20. Jahrhunderts, wie sie Hartmut Kaelble umfassend herausgearbeitet hat.2 Er reflektiert zweitens eine bestimmte Perspektive zur Erklärung der Besonderheiten Europas im Vergleich zu anderen Kulturen und Zivilisationen, wie sie gegenwärtig in der Geschichtswissenschaft diskutiert wird. Und er ist drittens ein Schlüsseltext für eine Mentalitätsgeschichte der 1960er Jahre, indem er die starke Zukunftsorientierung dieses Jahrzehnts spiegelt. Der 1907 in Lyon geborene Pierre Bertaux verkörpert in exemplarischer Weise den europäischen Intellektuellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Leben ist zugleich beispielhaft für die wechselseitige Faszination der deutschen und französischen Kultur, aber auch für die tiefen Spannungen und Brüche zwischen beiden Ländern in dieser Zeit: Er absolviert als Sohn eines Germanisten die französische Eliteausbildung an der Ecole Normale Supérieure und promoviert selbst in Germanistik mit einer Arbeit über Hölderlin, dessen Werk ihn zeitlebens beschäftigt und dessen Interpretation er entscheidend prägt. Gleichwohl wird auch ihm wie so vielen anderen Intellektuellen die Politik zum „Schicksal“: Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gehört Bertaux der französischen Armee an und wird nach der Niederlage Frankreichs zu einem der führenden Köpfe der Résistance in Südfrankreich. Nach dem Einmarsch der Alliierten durchläuft er über verschiedene ministeriale Führungsposten einen steilen Aufstieg bis zum Direktor der „Sûreté nationale“ und zu einer führenden Position in der Kolonialverwaltung in Afrika, bevor er 1958 wieder an die Hochschule zurückkehrt und sich bis zu seinem Tod 1986 erneut der Germanistik und zeitdiagnostischen Studien widmet. Bertaux ist mit diesem Lebenslauf insofern auch ein „typischer Europäer“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Er ist international gebildet, durch die Erfahrung des Krieges und durch führende politische Ämter gleichwohl national orientiert, über die Erlebnisse in den Kolonien aber auch durch eine globale Perspektive geprägt. Er erfährt den Zivilisationsbruch Europas im Zweiten Weltkrieg hautnah. Er ist mit dem Niedergang der politischen Macht Europas und damit Frankreichs angesichts des Aufstiegs der beiden Supermächte USA und Sowjetunion im Zuge des Kalten Krieges konfrontiert. Er erlebt zugleich eine bis dahin ungekannte technisch-wissenschaftliche Entwicklungsdynamik – bezeichnenderweise beginnt er, wie er selbst im Vorwort darlegt, mit der Niederschrift von „Mutation der Menschheit“ am 4. Oktober 1957, also an dem Tag, an —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 4.8, Pierre Bertaux: Mutation der Menschheit (1963/64). Vgl. Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001.
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dem der erste Satellit, der sowjetische „Sputnik“, ins Weltall geschossen wird. Es ist diese besondere historische Konstellation, die ihn über „Europa“, sein Selbstverständnis und damit auch sein Schicksal nachdenken lässt. Der unveränderte Nachdruck 1979 dokumentiert, dass diese Überlegungen für ihn auch fünfzehn Jahre nach Erscheinen der Erstauflage nichts von ihrer Aktualität verloren hatten. Bertaux begreift die europäische Identität im Sinne einer „Geisteshaltung“ zunächst als universalistisches Modell ganz in der Tradition der Aufklärung, die Bildung als zentrale Voraussetzung für die Partizipation an Staat und Gesellschaft begreift. Bildung wird dadurch für ihn zum zentralen Paradigma des „Europäer-Seins“. Er steht damit zugleich in der Tradition des französischen republikanischen Staatsverständnisses, das grundsätzlich jeden integriert, der die Prinzipien und Werte der Republik teilt und vertritt. Der zweite Strang seiner Definition bezieht sich auf ein Europa, das aufgrund dieser universalistischen Werte der Aufklärung zur Selbstreflexion und damit zur Modernisierung befähigt ist: Europa wird damit auch die Quelle aller Modernisierungsprozesse, die sich in der Gegenwart beschleunigen und zugleich globalisieren. Es verkörpert damit ein überlegenes Paradigma, dem die anderen Kulturen und Zivilisationen letztlich in irgendeiner Weise nachfolgen müssen, auch wenn Europa dafür keinen „Dank“ erwarten darf, sondern mit massiven Konflikten rechnen muss. Gleichwohl ist Europa auch eine besondere Kultur, die durch ihre enorme Dichte an intellektueller Potenz und historischer Erfahrung nicht ihresgleichen hat und insofern auch nicht „kopiert“ werden kann. Europa ist jedoch – und dies ist der letzte Baustein in Bertaux’ Analyse – nicht nur durch die „Flammen“ dieser im Kern von ihm selbst weltweit entfachten revolutionären Modernisierung bedroht, sondern auch durch die neuen Großmächte, die es zu erdrücken drohen. Aber die alte Überlegenheit Europas, da ist Bertaux sich sicher, wird wiederkehren, weil keine andere Zivilisation in der Lage ist, aufgrund intensiver geistiger Austauschprozesse ein vergleichbares Innovationspotential zu generieren. Hartmut Kaelble hat in seiner Analyse des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert genau diese Facetten europäischer Identität herausgearbeitet: Er unterscheidet das Leitbild des „überlegenen Europa“, des „bedrohten Europa“, des Europa der „universalen Modernisierung“, des „andersartigen Europa“ und des „Europa der inneren Vielfalt“.3 Diese Leitbilder sind Idealtypen, die in den Debatten nie isoliert auftauchen, gleichwohl aber besondere Deutungskonjunkturen aufweisen. Das „überlegene Europa“ dominiert beispielsweise im 19. Jahrhundert und teilweise auch noch nach 1918, gründend auf der herausragenden Rolle von Wissenschaft und Technik, der besonderen Hervorhebung des Individuums, des wirtschaftlichen Erfolgs, der besonderen Bildung und der verfeinerten Lebensweisen und Lebensstile in Europa, aber auch auf dem spezifisch europäischen Interesse für andere Kulturen. Das „bedrohte Europa“ wiederum findet sich als Deutungsmuster primär in der Zwischen- und unmittelbaren Nachkriegszeit als Reaktion auf die Krise Europas nach dem Ersten Weltkrieg, die den Niedergang der europäischen Zivilisation durch die Dominanz der neuen Mächte USA und Sowjetunion antizipiert und zu neuer europäischer Geschlossenheit ermahnt. Das Leitbild eines „Europa der universalen Modernisierung“ sieht Europa dagegen primär als Träger universaler Werte wie Demokratie, Wohlstand, Zivilgesellschaft oder Recht—————— 3
Vgl. Kaelble (wie Anm. 2), besonders S. 25-51.
Europa als Kontinent der Zukunft
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staatlichkeit und damit als Pionier im weltweiten Modernisierungsprozess – ein typisches Leitbild der neuen Fortschrittsorientierung der 1950er Jahre. Die beiden anderen, sich stärker vom Überlegenheitsdenken abwendenden Paradigmen – das andersartige und das vielfältige Europa – tauchen im Europa-Diskurs auch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf, werden aber erst im letzten Drittel des Jahrhunderts prägend. Hintergrund dafür sind unter anderem die Erfahrungen der Entkolonialisierung und der beginnenden Globalisierung, aber auch die Chancen der neuen wirtschaftspolitischen Einheit der Europäischen Gemeinschaften. Bertaux bündelt in seinem Text all diese Paradigmen wie in einer Art Bilanz. Das liegt nicht zuletzt daran, dass er an einer entscheidenden Schnittstelle der europäischen Entwicklung Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahre über Europa nachdenkt, geprägt noch von einem elitären europäischen Überlegenheitsbewusstsein gegenüber anderen Kulturen. Dieses Überlegenheitsbewusstein überschneidet sich aber mit der Erfahrung der Weltkriege, des Holocaust und der Entkolonialisierung und dadurch mit dem Bewusstsein einer tiefen zivilisatorischen Krise des alten Kontinents. In Bertaux’ Analyse findet sich jedoch angesichts des sich abzeichnenden außerordentlichen Wirtschaftsund Technikbooms zugleich die Hoffnung auf ein neues Zeitalter europäischer Blüte – auch dies ein Topos des europäischen Identitätsdiskurses insbesondere nach den Brüchen der Weltkriege. Der zentrale Fokus seiner Analyse und damit auch die Hoffnung für die Zukunft Europas ist dabei die Faszination durch das naturwissenschaftliche und technische Denken. In ihr kulminiert die Besonderheit Europas, von ihr nimmt das „Schicksal“ der weltweiten Modernisierung seinen Ausgang. Bertaux nimmt damit indirekt einen Strang der heutigen Historiografie vorweg, der im Paradigma des wissenschaftlich-technischen Fortschritts die Besonderheit Europas bzw. des Westens im interkulturellen Vergleich verortet. So sieht beispielsweise der amerikanische Historiker David Landes4 die Besonderheit Europas in der strukturellen Fähigkeit zur „Erfindung des Erfindens.“ Entscheidend sind für Landes dabei Faktoren wie die Kontinuität und Regelmäßigkeit der Erfindungsprozesse, die wissenschaftliche Autonomie und der hohe Stellenwert des wissenschaftlichen Experiments, die Verifizierbarkeit von Wissen als Leitbild (im Gegensatz etwa zur Autorität traditionellen Wissens im Konfuzianismus oder Islam), der hohe Stellenwert individueller Erfahrung gegenüber „traditionellem Wissen“ und vor allem die unmittelbare „Belohnung“ durch Umsetzungserfolge auf konkurrierenden Märkten oder im Kampf zwischen Herrschaftssystemen. Landes betont dabei durchaus kulturelle Faktoren wie etwa das jüdisch-christliche Erbe der Hochschätzung der Handarbeit und des Ideals der Naturbeherrschung, des linear-progressiven Zeitmodells sowie des Ideals eines freien Unternehmertums, aber sie sind letztlich nur Voraussetzungen für die Dynamik einer vor allem wissenschaftsbasierten Eigendynamik der westlichen Moderne. Genau diese technisch-wissenschaftliche Fortschrittslogik ist der Motor für eine in den 1960er Jahren rasch anwachsende Zukunftsorientierung und -euphorie, die Bertaux’ Text von der ersten bis zur letzten Seite durchzieht. Charakteristisch ist dabei die Idee —————— 4
Vgl. Landes, David, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999.
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eines fundamentalen Epochenbruchs, die nicht nur bei Bertaux, sondern in vielen zeitdiagnostischen Studien auftaucht. Die Grundlage dieser Deutung ist die Macht eines unumkehrbaren Trends zur Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche, am sichtbarsten in Gestalt von „big science“ und ihrer technologischen Umsetzung in Form von Atomwaffen, Raketen, Satelliten oder Computern. Dies gilt aber auch für das Alltagsleben von der Massenmotorisierung über die Automatisierung der Arbeitsabläufe bis zur Einführung der Waschmaschine und anderer mechanischer Haushaltsgeräte in nahezu jedem Haushalt.5 Dieser universelle Trend zur Verwissenschaftlichung bedeutet für Bertaux und viele andere Zeitdiagnostiker langfristig einen evolutionären Sprung der Menschheit – einen Sprung, dessen Konturen sich in der Gegenwart mit der Revolutionierung der Arbeitsverhältnisse und der globalen Bevölkerungsexplosion bereits deutlich abzeichnen. Bertaux spitzt dies sogar auf eine biologisch-genetische Mutation der Gattung Mensch zu, die langfristig den „Homo sapiens“ ersetzen werde. Dieser sich abzeichnende Epochenbruch basiert vor allem auf einer Revolution der Kommunikationsverhältnisse. Bertaux skizziert dies als Basis der „Mutation“: „Die Menschheit nimmt immer mehr die Gestalt eines weltweiten Netzes von Kommunikationen, Kontakten und Informationen an, dessen Entwicklung auf immer engeren Zusammenhalt, völlige Solidarität und Schnelligkeit des Reaktionsaustauschs hinzielt. Damit stehen wir am Anfang einer ‚globalen Ära’, der ‚Planetarisierung der Gattung’, um mit Teilhard de Chardin zu sprechen. Diese Planetarisierung kann nicht ohne Folgen für die Entwicklung der Gattung bleiben [...].“6 Diese Kommunikationsrevolution, deren Geschwindigkeit sich im 20. Jahrhundert tatsächlich um den Faktor 10 hoch 7 steigert7, eröffnet eine neue globalpolitische Agenda, die nach neuen Denkmodellen und Wissensformen verlangt. Sie verlangt vor allem nach einem neuen Steuerungswissen und nach neuen Herrschaftsformen, denn nicht nur die wirtschaftlichen Chancen, sondern vor allem die Risiken bis hin zum ökologischen Totalkollaps steigen im Kontext militärisch forcierter Großforschung, globaler Vernetzung und wachsender Ausdifferenzierung der Arbeitswelten. Dies ist der Ansatzpunkt der neu entstehenden Zukunftsforschung, die auch den Hintergrund für Bertaux’ Studie bildet.8 Initiator dieser neuen Futurologie sind die USA, wo „think tanks“ wie die RAND-Corporation gegründet werden, die zunächst militärische Forschung betreiben, sich zunehmend aber auch auf allgemeine Langfristprognosen spezialisieren. Ein solcher Trend zur Prognostik als Basis für umfassende Militär-, aber auch Wirtschaftsplanung ist jedoch auch in Westeuropa und insbesondere in Frankreich zu beobachten. Die französische Regierung richtet bereits 1946 das Commissariat Général du Plan ein, das —————— 5 6 7 8
Vgl. u.a. Hobsbawm, Eric, Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995, besonders S. 645ff. Bertaux, Pierre, Mutation der Menschheit. Zukunft und Lebenssinn, Frankfurt am Main 1979, S. 70f. Vgl. Borscheid, Peter, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt am Main 2004, S. 356. Vgl. dazu Schmidt-Gernig, Alexander, Ansichten einer „Welt-Zukunft“ – Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer transnationalen Expertenöffentlichkeit, in: Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 393-421.
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als zentralisierte Verwaltungsbehörde die Rahmenplanung der französischen Wirtschaft im Sinne einer „gemischten Wirtschaft“ aus Privatwirtschaft mit starken Anteilen an verstaatlichten Betrieben und keynesianischer Wirtschaftslenkung koordiniert und dafür regelmäßig Zukunftsszenarien erstellen lässt. Die allgemeine Planungsorientierung, die auch Bertaux im Rahmen seiner ministerialen Tätigkeiten prägt und die er in „Mutation der Menschheit“ euphorisch diskutiert, ermöglicht auch die Gründung privater think tanks, die sich professionell mit Prognostik beschäftigen, so beispielsweise die renommierte „Association Futuribles Internationale“. Aber auch allgemeine politische Institutionen arbeiten immer stärker mit Prognosen und Voraussagen. Überdies lässt sich seit Beginn der 1960er Jahre ein außerordentlicher Boom allgemeiner Zukunftsstudien auf den Buchmärkten beobachten, der Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre darin kulminiert, dass pro Jahr allein zwischen achtzig und hundertzwanzig Monografien in englischer Sprache erscheinen, von denen nicht wenige zu Bestsellern avancieren sollten. Ein zentraler Hintergrund dieses Zukunftsbooms ist das neue wissenschaftliche Leitbild der Kybernetik. Die Kybernetik hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg als neue Wissenschaft der Steuerung biologischer wie technischer Systeme entwickelt. Einer ihrer Gründerväter, der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener, definiert sie als systematische Erfassung von Kommunikations- und Steuerungsvorgängen in Systemen bzw. Organisationen aller Art.9 Die Erkenntnis leitende Grundannahme besteht darin, dass biologische, technische und soziale Systeme sich in gewissen Grundmerkmalen gleichen und in erster Linie durch Kommunikation im Sinne von Informationstransfers strukturiert sind. Der Schwerpunkt kybernetischer Analysen liegt auf den dynamischen Wechselwirkungen zwischen System und Umwelt, gestützt auf die Analyse von Regelkreis-Mechanismen im Sinne von Entscheidungs-, Regulierungs- und Kontrollfunktionen. Entscheidend dabei ist, dass offene Systeme lernfähig sind und somit ihre Intelligenz verstärken können, da Informationen über die Wirkungen des eigenen Operierens immer wieder rückgekoppelt werden und damit die nachfolgenden Operationen des Systems verstärkend oder abschwächend beeinflussen. Grundsätzlich gilt daher, dass die Anpassungs- und damit Komplexitätsfähigkeit eines Systems davon abhängt, wie viel Information es aufnehmen und verarbeiten kann.10 Bertaux, der den Bezug zur Kybernetik in seinem Buch immer wieder direkt oder indirekt anklingen lässt, deutet diesen erkenntnisleitenden Hintergrund auch noch einmal im Schlusskapitel an, wenn er Europa als „offenes System“ beschreibt und ihm auch die selbstreflexive Begrifflichkeit eines „offenen soziologischen Systems“ als Besonderheit zugesteht. Europa wird vor diesem Hintergrund aufgrund seiner besonders intensiven „Reibung der Gehirne“ gewissermaßen selbst zum kybernetischen Rückkopplungssystem und damit zu einem Generator von Rationalisierungs- und Lernprozessen. Es treibt durch die besondere Intensität der kybernetischen Rückkoppelungsprozesse zugleich die Planetarisierung des Globus voran. Es ist trotz aller Zerstörungen und —————— 9
Vgl. Wiener, Norbert, Cybernetics or Control and communication in the animal and the machine, New York 1948. (Dt.: Kybernetik: Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf 1963). 10 Vgl. zum Einfluss dieses Paradigmas in der Geschichtswissenschaft Herbst, Ludolf, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004.
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Katastrophen deshalb gerade kein „alter“ oder „müder“ Kontinent, zumindest solange es seine Basis – die besondere Intensität der intellektuellen Austauschprozesse und deren institutionelle Ausprägung – nicht aus den Augen verliert. Vor diesem Hintergrund ist die Menschheit in Bertaux’ Augen geradezu auf Europa angewiesen, denn sie ist durch die Dramatik der vom „Westen“ ausgehenden technischen Entwicklung gleichsam zur Zukunft verdammt. Für Bertaux und andere Zukunftsdenker ist damit auch klar, dass historische und damit primär national orientierte Leitbilder keinen zureichenden Orientierungsrahmen mehr zur Lösung zukünftiger Probleme einer „planetarisch“ integrierten Gesellschaft bereithalten. Die Lösung dieser Probleme versprechen neue, naturwissenschaftlich-kybernetisch inspirierte Paradigmen, die ein neues Zeit- und Raumverständnis einleiten – das ist auch der Anfang vom Ende des utopischen Denkens an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert.11 Quelle Nr. 4.8 Pierre Bertaux: Mutation der Menschheit (1963/64)12 Europa – wenn wir diesen Namen aussprechen, denken wir nicht an einen Kontinent, nicht an diesen kleinen Ausläufer Asiens: genausowenig denken wir an dieses oder jenes Volk, an sechs oder zehn Staaten Europas. Europa, das bedeutet vor allem eine Geisteshaltung, ein besonderes Verhältnis zu den Dingen. Man ist nicht Europäer von Geburt, sondern man wird es durch Bildung. Europa ist das erste ‚offene System’ gewesen. Ein jeder, ganz gleich, wo er geboren ist und welcher Rasse er angehört, ist Europäer, sobald er die europäische Bildung annimmt und ihre Grundsätze akzeptiert, die einfach die der ‚offenen Welt’ sind. Europa hat den menschlichen Prozeß ausgelöst, der heute in eine neue, entscheidende Phase tritt; Europa hat die Bewegung in Gang gebracht, die heute den ganzen Planeten ergreift und, wie es scheint, in naher Zukunft ihre ‚Fluchtgeschwindigkeit’ erreichen wird. Europa hat den Gott einer geometrischen Schöpfung erfunden, die Mathematik, die Logik, die Naturwissenschaften und die von ihnen abstammenden Techniken. Europa hat den dreidimensionalen Raum, die Perspektive erfunden. Europa hat die räumliche Darstellung der Zeit erfunden und die vierte Dimension den drei anderen angeglichen. Europa hat den Begriff des Bezugssystems geschaffen. Europa hat die Buchführung erfunden. Europa hat den Kapitalismus geschaffen und den Marxismus aus ihm abgeleitet. Europa hat den Begriff des ‚offenen soziologischen Systems’ geschaffen. Europa hat die Geschichte geschaffen. Europa hat schließlich immer wieder alles in Frage gestellt, alles von Grund auf neu ins Werk gesetzt.
—————— 11 Vgl. Bohrer, Karl Heinz; Scheel, Kurt (Hg.), Zukunft denken. Nach den Utopien (Merkur 55, H. 9/10), Stuttgart 2001. 12 Quelle: Bertaux, Pierre, Mutation der Menschheit. Zukunft und Lebenssinn, Frankfurt am Main 1979, S. 203-205. Unveränderter ND der 1. Aufl., die zunächst mit abweichendem Untertitel „Diagnosen und Prognosen“ erschien, Frankfurt am Main 1963. Das franz. Original erschien erst 1964 unter dem Titel: La mutation humaine. Paris. In den Folgejahren wurde das Buch auch in andere europäische Sprachen übersetzt.
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Die sich mit dem europäischen Geist solidarisch fühlen, dürfen darauf stolz sein; doch sie dürfen nicht erwarten, daß ihnen die übrige Welt deshalb Ruhmeskränze flicht. Dankbarkeit ist weder ein natürliches noch ein politisches Gefühl. Europa darf nicht auf Nachsicht und Schonung seitens der anderen rechnen, nur weil es der Menschheit ihren Weg gewiesen hat. [...] Europa hat ein Feuer entzündet; nun schlagen die Flammen um das eigene Haus. Alle Revolutionäre haben diese Erfahrung gemacht: die Revolution verschlingt die, die sie angestiftet haben. Unser geteiltes, zerrissenes, überholtes Europa – ist sein Urteil bereits gesprochen? Es gibt Leute, die sich ihre Überzeugung nicht rauben lassen, daß es sein letztes Wort noch nicht gesprochen hat, daß es genügend Reserven besitzt, um noch eine entscheidende Rolle zu spielen. Europa ist immer ein Zentrum der Gärung, ein außerordentlich fruchtbarer Nährboden bahnbrechender Wandlungen gewesen, und es gibt keinen Grund, warum es aufhören sollte, es zu sein. Die menschliche ‚Gärung’, die intellektuelle, soziale, technische Aktivität, steht zwar in einem engen Wechselverhältnis zur Dichte, und zwar nicht nur zur rein zahlenmäßigen Dichte der Individuen pro Quadratkilometer, sondern zur Dichte der menschlichen Beziehungen. Nun ist aber der Austausch von Informationen, die ‚Reibung der Gehirne’, welche die geistige Temperatur der Gruppe steigert, heute noch nirgendwo intensiver als in Europa. Gerade weil es in verschiedene Sprachgebiete zerfällt, ist in Europa der Gedankenaustausch fruchtbarer als in jedem anderen Teil der Welt. Die Freiheit des Geistes, d.h. die Möglichkeit, Fragen zu stellen, ist nirgendwo größer. Wir nähern uns aber einem Zeitpunkt, wo es sehr darauf ankommen wird, daß man in der Lage ist, alles erneut in Frage zu stellen. Das alte Europa könnte durchaus diese Fähigkeit den beiden ‚Großen’ voraushaben, die in ihren Anstrengungen, ja vielleicht in ihren Erfolgen erstarren. Wir meinen, daß Europa weiterhin seine Rolle als Herd der Wandlungen zu erfüllen vermag. [...] Europa ist nicht ‚alt’, nicht ‚müde’; bisher hat es noch immer verstanden, rechtzeitig wieder jung zu werden.
Literatur Borscheid, Peter, Das Tempo-Virus. Eine Kulturgeschichte der Beschleunigung, Frankfurt am Main, 2004 Herbst, Ludolf, Komplexität und Chaos. Grundzüge einer Theorie der Geschichte, München 2004 Kaelble, Hartmut, Europäer über Europa. Die Entstehung des europäischen Selbstverständnisses im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001 Landes, David, Wohlstand und Armut der Nationen. Warum die einen reich und die anderen arm sind, Berlin 1999 Schmidt-Gernig, Alexander, Ansichten einer „Welt-Zukunft“ – Westliche Zukunftsforschung der 60er und 70er Jahre als Beispiel einer transnationalen Expertenöffentlichkeit, in: Kaelble, Hartmut; Kirsch, Martin; Schmidt-Gernig, Alexander (Hg.), Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002, S. 393-421
5. AUTOKRATIE, DIKTATUR UND DEMOKRATIE
LIBERALISMUS IN RUSSLAND1 Von Manfred Hildermeier Die Geschichte der großen Umwälzungen in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist wieder in Bewegung geraten. Wenn es noch eines weiteren Belegs für die Zeit- und Perspektivenabhängigkeit historischer Forschungsinteressen bedurfte – das Ende der kommunistischen Welt hat ihn erbracht. Ganz gleich, ob die neokantianische Vorstellung von den „höchsten Wertideen“, die ihr „Licht [...] auf einen stets wechselnden endlichen Teil des ungeheuren chaotischen Stromes von Geschehnissen“ werfen2, auch solch profane Schleuderbewegungen des Zeitgeists gemeint hat, der Wandel liegt auf der Hand. Dabei lässt sich sogar eine „Heftigkeitsrelation“ beobachten, die mit dem Charakter dessen zusammenhing, was in den Fluten unterging. Mit dem Sowjetregime verschwanden der Monopolanspruch seiner Ideologie und die Vorgaben und Tabus für die Geschichtswissenschaft. Unpersonen wurden wieder Personen, Russland erhielt die andere Hälfte seiner Vergangenheit zurück. Man brauchte und braucht sie für eine neue Zukunft. Zu den wiederentdeckten Erscheinungen der russischen Geschichte gehört nicht zuletzt der Liberalismus. Dabei sollte man mit dem Begriff weiterhin sehr vorsichtig umgehen.3 Er bleibt eine Aushilfe, die mehr vom westeuropäischen Ursprung transportiert als gerechtfertigt ist. Denn was in Russland als liberal galt, entstand nicht nur fast ein halbes Jahrhundert später als vergleichbare Ideen in Mitteleuropa. Gruppen und Bewegungen, die sie zu Grundgedanken ihrer öffentlich-politischen Aktivitäten erhoben, mussten auch erhebliche Kompromisse eingehen. Die Konfrontation mit einem absolutistischen Regime war dabei noch eines der ähnlichsten Merkmale. Auch im Mitteleuropa der Restaurationszeit führte die Forderung nach politischer Freiheit und Demokratie zwangsläufig zum Konflikt mit einer Herrschaft, die sie nicht zulassen konnte, ohne sich selbst aufzugeben. Als Extremform unbeschränkter Herrschaft entfaltete die Auto—————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 5.1, Das Oktobermanifest vom 30. Oktober 1905. Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Winckelmann, Johannes, 4. neu durchges. Aufl., Tübingen 1973, S. 213f. Anders als: Leontovitsch, Victor, Geschichte des Liberalismus in Russland, Frankfurt am Main 1957; dagegen: Löwe, Heinz-Dietrich, Bürgertum, liberale Bewegung und gouvernementaler Liberalismus im Zarenreich um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, in: Langewiesche, Dieter (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 515533.
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kratie jedoch über Jahrhunderte eine solche Kraft, dass sie liberale Strömungen im geistigen und politischen Leben auch inhaltlich stark einengte. Zum einen trocknete sie den Boden aus, auf dem solche Ideen hätten florieren können. Ein Aufklärer wie Alexander Radiščev, der sich für die Menschenwürde und Freiheit auch der Bauern einsetzte, wurde nach Sibirien verbannt, sein Werk eingestampft.4 Sympathisanten französischer Ideen in der nachrevolutionären Epoche, die Dekabristen, scheiterten mit ihrem Komplott vom Dezember 1825 kläglich.5 Schon ihre Programme hatten mit liberalen Kernideen wie parlamentarischer Kontrolle, einem Wahlrecht auch für Unterschichten oder gar dem Ideal einer politisch egalitären Gesellschaft wenig zu tun. Was sie wollten, war im Wesentlichen eine verfassungsmäßige Beschränkung des Monarchen. Auch der „Adelsliberalismus“ der späten 1850er Jahre6 hatte bestenfalls die soziale Emanzipation der Bauern im Sinne der Herstellung ihrer persönlichen Freiheit und Entlassung aus der Leibeigenschaft (das heißt Hörigkeit, nicht Sklaverei) zum Ziel. Politisch blieb er äußerst bescheiden, war mit den ständischen, von ihm selbst beherrschten Gremien der begrenzten „Selbstverwaltung“, wie sie 1864 als zemstva eingerichtet wurden7, im Kern zufrieden und wünschte sich darüber hinaus höchstens eine gesamtstaatliche Dachorganisation, die dem Herrscher hätte zur Seite treten sollen. Dieser korporativ bestellten „Beratung“ – wie man den alten russischen Begriff duma für Parlament übersetzen sollte – tatsächliche Kontroll- und Partizipationsrechte zu geben, wäre den meisten schon zu weit gegangen. Auch der Adel war über Jahrhunderte in der Autokratie groß geworden. Dennoch: Wenn überhaupt eine – noch ständisch verfasste – Schicht im Zarenreich über die Voraussetzungen verfügte, verfassungs- und gesellschaftspolitische Ideen zu entwickeln und in die entstehende Öffentlichkeit zu transportieren, war es die der Wohlgeborenen und der – in der Regel im Zivil- und Militärdienst stehenden – Nobilitierten. Insofern gilt wie für Polen auch für Russland, dass der Adel Funktionen erfüllte, die in Westeuropa von städtisch-bürgerlichen Schichten wahrgenommen wurden. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass Russland nach wie vor ein großes Dorf mit wenigen, ökonomisch kaum entwickelten Städten und noch weniger wirtschaftlich erfolgreichen und gebildeten Bewohnern war. Hinzu kam, dass der Adel im autokratischen Staat selber von politischer Teilhabe ausgeschlossen war. Zum „kulturellen Kapital“ gesellten sich Interessen – und ein privilegierter Zugang zu westlichen Ideen, die es erlaubten, sie in politische Forderungen zu kleiden. So ausgestattet, wurde der Adel zum wichtigsten Promotor liberaler Anschauungen und Politik in Russland vor der Jahrhundertwende. —————— 4 5 6 7
Vgl. De Madariaga, Isabel, Russia in the age of Catherine the Great, New Haven 1981, S. 532ff.; Walicki, Andrzej, A history of Russian thought from the enlightenment to Marxism, Oxford 1980, S. 35ff.; McConnell, Allen, A Russian philosophe Alexander Radishchev 1749-1802, Den Haag 1964. Vgl. Mazour, Anatole G., The first Russian Revolution 1825. The Decembrist Movement. Its origins, development and significance, Stanford 1961; Raeff, Marc (Hg.), The Decembrist Movement, Englewood Cliffs 1966. Vgl. Löwe (wie Anm. 3). Vgl. Emmons, Terence; Vucinich, Wayne S. (Hg.), The zemstvo in Russia. An experiment in local self-government, Cambridge 1982; Philippot, Robert, Société civile et état bureaucratique dans la Russie tsariste: Les zemstvos, Paris 1991.
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Seit den 1890er Jahren kam mit wachsender Sichtbarkeit eine zweite Kraft hinzu. Zur kulturellen Verwestlichung und sozialen Modernisierung des Reiches gehörte der verstärkte Ausbau des Schul- und Universitätswesens. Durch Prämien in Gestalt verkürzter Dienstzeiten gab vor allem die Militärreform von 1874 dem Bildungsdrang einen starken Impuls. Erhöhte technische Anforderungen in der Industrie, der wachsende Bedarf an Rechtsanwälten, Ärzten, Lehrern, Agronomen und ähnlichen Berufen mehr legten das Fundament für die Entstehung einer neuen Schicht akademisch Qualifizierter. Diese Intelligenz (im breiten soziologischen Wortsinn) zeigte von Anfang an eine große Vorliebe für liberale Ideen. Sie litt in besonderem Maße an der Diskrepanz zwischen ihrer geistigen Orientierung am Westen und ihrer politischen Rechtlosigkeit, wobei offen bleiben mag, welche Rolle ihre bescheidene materielle Lage spielte. In der deutschen Emigration entstand 1902 eine Gruppe mit dem bezeichnenden Namen „Befreiung“, die eine gleichnamige Zeitschrift herausgab (Osvoboždenie). Sie wurde zum Kristallisationspunkt der zweiten Strömung im russischen Liberalismus, als dieser während des russisch-japanischen Krieges 1904 zu einer landesweiten Oppositionsbewegung anschwoll. Neben den Adelsliberalismus in den zemstva trat ein Liberalismus der Intelligenz. Dieser war radikaler. Er forderte ein allgemeines und gleiches Wahlrecht (das aber Frauen ausschloss) und ein auf diese Weise gewähltes Parlament als alleinige Legislative, der die Regierung verantwortlich sein sollte.8 Diese beiden Lager waren klar erkennbar, hatten sich aber organisatorisch noch nicht verselbständigt, als jene Kette von Streiks und Protesten immer weiterer Kreise der Bevölkerung einsetzte, die bald als erste Russische Revolution bezeichnet wurde. Sie begann mit den Schüssen der Wache auf einen Zug friedlich demonstrierender Arbeiter vor dem Winterpalast am „Blutsonntag“, dem 9. Januar 1905. Sie setzte sich fort in wochenlangen Streiks gegen diese sinnlose Brutalität und die Autokratie generell, denen sich im Laufe des Sommers fast alle der neu entstehenden Berufsverbände der Intelligenz, von den Apothekern bis zu den Professoren, sowie der Bauernverband anschlossen. Als in Moskau am 6. Oktober ein Generalstreik begann und auch die Bauern die gutsherrlichen Höfe mit vermehrter Heftigkeit plünderten – da ging die Autokratie, vom verlorenen Krieg gegen Japan erschöpft und getroffen, in die Knie und lenkte ein. Widerwillig fügte sich der Zar dem Zwang, das Manifest vom 17. Oktober zu verkünden.9 Dessen Inhalt lässt sich in wenigen Worten zusammenfassen. Zum einen gewährte Nikolaus II. einige grundlegende Menschen- und Bürgerrechte: die Unverletzlichkeit der Person, Religionsfreiheit, die Freiheit des Wortes, der Versammlung und der Koalition. Zum anderen musste er die Ausweitung des Wahlrechts auf die Arbeiter zusagen, die vom letzten Versuch, die Aufständischen zu beruhigen, dem Gesetz über die so genannte Bulyginsche Duma vom 6. August 1905, übergangen worden waren. Und drit—————— 8
9
Vgl. u.a. Galai, Shmuel, The liberation movement in Russia 1900-1905, Cambridge 1973; Fröhlich, Klaus, The emergence of Russian constitutionalism 1900-1904. The relationship between social mobilization and political group formation in pre-revolutionary Russia, Den Haag 1981; Pipes, Richard, Struve. Liberal on the left 1870-1905, Cambridge/ Mass. 1970, S. 308ff. Vgl. Quelle Nr. 5.1; sowie Ascher, Abraham, The revolution of 1905. Russia in disarray, Stanford 1988, S. 211ff.; Mehlinger, Howard D.; Thompson, John M., Count Witte and the tsarist government in the 1905 revolution, Bloomington 1972, S. 29ff.
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tens versprach er die Einberufung eines Parlaments (Duma) auf Reichsebene, die ein obligatorisches Mitwirkungsrecht an jedem Gesetz und ausreichend Kompetenzen erhalten sollte, um die „Gesetzmäßigkeit“ des Regierungs- und Verwaltungshandelns überwachen zu können. Solche Vorschläge stießen auf ein geteiltes Echo. Den Sozialisten gingen sie ohnehin nicht weit genug; sie riefen nach uneingeschränkter Demokratie und betrachteten die politische Freiheit, deren Priorität sie zu dieser Zeit zustimmten, nicht nur als Voraussetzung, sondern auch als Verpflichtung zur Herstellung sozialer Gleichheit. Aber auch die Liberalen waren uneins. Den meisten der gemäßigten Zemstvo-Liberalen reichten die Zugeständnisse aus. Sie hatten nicht ernsthaft mit mehr gerechnet und wollten im Wesentlichen eines: die „Straße“ beruhigen und die gute Ordnung wiederherstellen. Viele wären sogar mit einer verbrieften Beratungsfunktion der Duma nach Art der „Landesversammlungen“ des 17. Jahrhunderts zufrieden gewesen; schließlich hatte der Zar selbst solche Veranstaltungen mehrfach abgelehnt. Die Sympathisanten dieser Position verzichteten daher darauf, einen eigenen Forderungskatalog auszuarbeiten. Sie versammelten sich hinter dem Oktobermanifest und nannten die Partei, die sie Anfang Dezember förmlich begründeten, programmatisch „Verband des 17. Oktober“.10 Der Autokrat hatte seinen Adel und seine Großunternehmer – dies die zweite soziale Stütze der Liberalkonservativen – erhört. Weitergehende Partizipationsrechte der Gesellschaft wollte man nicht. Die „Oktobristen“ waren moderate Konstitutionalisten. Dagegen waren die Linksliberalen enttäuscht. Sie hatten sich bezeichnenderweise schon in den letzten Tagen des Generalstreiks als „Partei der Volksfreiheit“ oder „Konstitutionellen Demokraten“ (abgekürzt: K.D. oder Kadetten) konstituiert.11 Sie begriffen sich zu dieser Zeit als radikale Demokraten, deren Ziele mit der Fortexistenz auch einer „beschränkten Autokratie“ nicht vereinbar waren. Insofern verdienen sie die Bezeichnung „revolutionär“, auch wenn sie Gewalt als Mittel der Politik ablehnten und ihr Programm auf legalem Wege umsetzen wollten. Eben deshalb vermissten sie im Oktobermanifest jene Zusagen, die eine wirkliche Parlamentarisierung eingeleitet und die Souveränität vom Monarchen auf eine legitime Volksvertretung übertragen hätte. Wohlweislich stellte der Zar nur nebulös in Aussicht, dass sich kompetente Gremien Gedanken über die „weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts“ machen würden; dieses selbst, das sich die Kadetten als gleiches, von Stimmengewichtung freies vorstellten, versprach er nicht. Und auch von einer „Konstituierenden Versammlung“ als demjenigen Gremium, das in liberaldemokratischer Sicht allein legitimiert sein würde, eine Verfassung auszuarbeiten, war nicht die Rede. Konsequente Liberale konnten mit solchen Zugeständnissen nicht zufrieden sein. Dies band sie nicht nur an die Arbeiter und Bauern, denen sie schon in der ersten Revolution mit großer Skepsis —————— 10 Vgl. u.a. Emmons, Terence, The formation of political parties and the first national elections in Russia, Cambridge/Mass. 1983, S. 206ff.; Manning, Roberta T., The crisis of the old order in Russia. Gentry and government, Princeton 1982, S. 177ff.; Birth, Ernst, Die Oktobristen 1905-1913. Zielvorstellungen und Struktur, Stuttgart 1974. 11 Als Ersatz für eine fehlende Parteigeschichte aus nichtrussischer Feder vgl. Stockdale, Melissa K., Paul Miliukov and the quest for a liberal Russia, 1880-1918, Ithaca 1996; Programm bei: Scheibert, Peter (Hg.), Die russischen politischen Parteien von 1905-1917. Ein Dokumentationsband, Darmstadt 1972, S. 60-68.
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begegneten, sondern auch an die revolutionären Parteien, ohne die jene misstrauisch beäugten Bundesgenossen kaum zu mobilisieren waren. So drückte die Autokratie (im umfassenden Wortsinn als Gesamtsystem) dem russischen Liberalismus auf mindestens dreifache Weise ihren Stempel auf: Sie verlangsamte seine Entwicklung und vermittelte ihm ein stark adeliges Gepräge; die ihr abgerungenen, zur temporären Befriedung der Lage soeben ausreichenden Konzessionen bildeten den Auslöser für seine Spaltung; und sie schuf eine Konstellation, die von einer tiefen Kluft zwischen dem Liberalismus beiderlei Couleur als politisch-geistigem Milieu und dem revolutionären Sozialismus geprägt war, zugleich aber dem radikalen Liberalismus weitgehend die Möglichkeit nahm, seine Ziele ohne sozialistische Bündnispartner zu verwirklichen. Mit dieser Ausgangsposition hatten die russischen Liberalen sehr unterschiedliche Voraussetzungen, an der veränderten politischen Ordnung mitzuwirken. Die Kadetten blieben eine Partei der Revolution. Solange die Autokratie ein Wiederaufleben der Unruhe fürchtete, konnten sie vergleichsweise ungehindert agieren. Sie stellten die mit Abstand stärkste Fraktion in den ersten beiden Dumen der Jahre 1906-07.12 Ihre Redner beherrschten deren Debatten. Ihre Vorschläge zur Agrarreform, dem drängendsten Problem der alten Ordnung, bestimmten die politische Tagesordnung. Als sich das alte Regime aber erholt hatte, als es sich seines Sieges sicher war, vertagte es die Duma und dekretierte eine Wahlrechtsänderung, die Grundbesitz prämierte und Pavel Miljukov und seine „Intelligenzler“-Partei zu einer bedeutungslosen Minderheit degradierte. Ihr Verbot und die Beobachtung durch eine wiedererstarkte Geheimpolizei trockneten auch ihre ohnehin nicht große Anhängerschaft in der Provinz aus. Das Bewusstsein dieser Schwäche mochte dazu beitragen, dass sie sich auch inhaltlich zähmten. Vor allem im Nationalismus auf Kosten der alten Forderung nach Selbstbestimmung auch der nichtrussischen Reichsvölker entstand mehr Gemeinsamkeit mit der Autokratie, als je denkbar schien. Genau das umgekehrte Schicksal widerfuhr den Oktobristen. Zu konservativ für die Revolutionszeit, erkor sie der Ministerpräsident der nachfolgenden Jahre, Petr Stolypin, zu einer der beiden Parteien, mit deren Hilfe er seiner Politik in der Duma eine Mehrheit zu verschaffen suchte. Auch wenn er dem Parlament formal nicht verantwortlich war und auf der „Selbstherrschaft“ der zarischen Regierung bestand und obgleich er in der Partei der gemäßigten Rechten eine Alternative hatte, wurden die Oktobristen durch sein „System“ aufgewertet. Stolypin verschaffte ihnen Bedeutung im politischen Prozess – die sie bald einbüßten, nachdem er im September 1911 ermordet worden war.13 Linke und rechte Liberale erlebten im Weltkrieg eine Renaissance. In dem Maße, wie der alte Staat vor allem an der Heimatfront, in der Invalidenfürsorge, in der Organisation der Kriegswirtschaft und in der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung versagte, wuchsen Macht und Prestige der zemstva und verwandter städtischer Selbstverwal—————— 12 Vgl. Emmons (wie Anm. 10); Dahlmann, Dittmar, Die Provinz wählt. Rußlands KonstitutionellDemokratische Partei und die Dumawahlen 1906-1912, Köln 1996; Maklakov, Vasilij A., The First State Duma. Contemporary reminiscences, Bloomington 1964; Stockdale, Miliukov (wie Anm. 11). 13 Vgl. u.a. Pinchuk, Ben-Cion, The Octobrists in the Third Duma 1907-1912, Seattle 1974; Ascher, Abraham, P.A. Stolypin: the search for stability in late imperial Russia, Cambridge 2001; Hosking, Geoffrey A., The Russian constitutional experiment: Government and Duma 1907-1914, Cambridge 1973; Levin, Alfred, The Third Duma. Election and profile, Hamden 1973.
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tungsorganisationen. Sie verwalteten das Land faktisch und bewahrten es vor dem Zusammenbruch. In ihnen aber gaben die Liberalen den Ton an; sie waren aufs engste mit deren Fraktionen in der Duma verbunden.14 So lag eine erhebliche Zwangsläufigkeit darin, dass die Arbeiter und Soldaten, die das Ancien Regime in der letzten Februarwoche 1917 durch ihre Proteste zum Einsturz brachten, die Reklamierung der neuen Souveränität durch die führenden liberalen Oppositionspolitiker akzeptierten. Für zwei Monate war Russland ein allein von Liberalen regiertes Land. Danach, seit Ende April, mussten sie die Macht mit den moderaten Sozialisten teilen, mit denen zusammen sie im Oktober, gewiss nicht ohne eigenes Verschulden, durch den bolschewistischen Staatsstreich gestürzt wurden. Reichte der Liberalismus mithin bis Russland und wäre er beinahe doch zum Zug gekommen? Zunächst muss man festhalten, dass es ein spezifischer Liberalismus war. Er nahm spät, während der „Großen Reformen“ der 1860er Jahre, Kontur an, verbreitete sich zunächst im politisch aktiven Provinzialadel und hatte in ihm auch weiterhin eine starke Stütze. In dieser Form war er in erheblichem Maße autochthonen Gedanken von einem adeligen Mitregiment verpflichtet, die er gleichsam konstitutionell zuspitzte, ohne nach westlicher Art demokratische Forderungen zu erheben. Das wirtschaftsbürgerliche Element, das in der ersten Revolution hinzutrat, war sichtbar, in einigen Personen sogar prominent, aber nicht dominant und sammelte sich fast ausschließlich in seinem konservativen Lager, bei den Oktobristen. Auf der Gegenseite formierte sich die akademische Intelligenz, die große Prägekraft entfaltete, das demokratische Programm des frühen, revolutionären europäischen Liberalismus weitgehend übernahm und seinen linken Flügel beinahe ausschließlich repräsentierte. Früh wurde der russische Liberalismus – wie der deutsche der Revolution von 1848 – gezwungen, Stellung zur sozialen Frage zu beziehen. Dies ist ihm immer schwerer gefallen, weil die soziale Grenzlinie in Russland nicht zuletzt eine kulturelle war. Die Angst vor dem „Mob“ der Städte und den „dunklen Massen“ auf dem Dorf aber vermochte auch die gebildete Gesellschaft nicht abzuwerfen. So kam es zu einem Paradox: Wohl nirgendwo im Europa des 19. und 20. Jahrhundert erhielt der politische Liberalismus (mit beiden Lagern und Parteien) eine so große Chance und ein so großen Vertrauensvorschuss, eine neue politische Ordnung und eine neue Politik zu begründen. Wohl nirgends hatte er so unversöhnliche Feinde, und wohl nirgends scheiterte er so gründlich – an diesen, vor allem aber an seiner Unfähigkeit, Rezepte für die Lösung der „sozialen Frage“ zu finden. Freilich werden die Stimmen derer immer lauter, die davor warnen, das Schicksal des parteipolitisch organisierten Liberalismus mit den Chancen für eine Alternative zur bolschewistisch-sozialistischen Revolution gleichzusetzen. Sie stützen sich vor allem auf die Verfassungswirklichkeit und den politischen Prozess, so wie er auf der Grundlage des Oktobermanifests und der nach seinen Vorgaben ausgearbeiteten Verfassung vom 23. April 1906 Gestalt annahm. Was der Zar, so könnte man den Kerngedanken dieser Einwände kennzeichnen, zuließ, war wenig. Aber der reale politische Prozess ging im Buchstaben der „Grundgesetze“ nicht auf. Er entwickelte eine Eigendynamik, —————— 14 Vgl. u.a. Pearson, Raymond, The Russian moderates and the crisis of tsarism 1914-1917, London 1977; Hamm, Michael F., Liberal politics in wartime Russia. An analysis of the progressive bloc, in: Slavic Review 33 (1974), S. 453-468; Stockdale, Miliukov (wie Anm. 11).
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die den Begriff der Autokratie zu einer leeren Formel machte. Nicht nur genehme Parteien bestanden nach 1907 fort, sondern trotz verweigerter Registration, das heißt förmlicher Legalisierung, auch die Kadetten. Das Parlament wurde zwar mehrfach entlassen und durch Wahländerung in seiner Zusammensetzung verändert. Aber es schlug als Einrichtung und Vertrauensträger so tiefe Wurzeln, dass niemand mehr daran denken konnte, es abzuschaffen. Eine Presse entstand, die bunter war, als den Zensoren lieb sein konnte. Parlament, Parteien und Zeitungen schufen eine Öffentlichkeit, die mit wachsender Selbstverständlichkeit zum Forum der Erörterung wichtiger politischer Entscheidungen wurde. Politik trat aus dem Arkanum von Ministerien und zarischen Kanzleien heraus und wurde publik. Mit wachsender Aufmerksamkeit nahm daran auch die politische Elite der Provinz teil, die zugleich mehr und mehr Interesse an der Regelung der sie unmittelbar betreffenden Angelegenheiten, an Regional- und Kommunalpolitik entwickelte. In diesem Wandel: im zivilgesellschaftlichen Eigenengagement im Umkreis der Duma, der Parteien, gouvernementaler und städtischer Selbstverwaltungsorgane, der Presse und einer Vielzahl anderer „gesellschaftlicher Organisationen“ (als russische Bezeichnung für Vereine und Klubs) lag eine in den letzten Jahrzehnten wohl unterbewertete Chance, dass Russland einen anderen Ausweg aus der tiefen Krise hätte finden können, in die es infolge einer wachsenden Diskrepanz zwischen sozioökonomischem Wandel, sozialer Mobilisierung, kultureller Verwestlichung und geringer Reformbereitschaft einer nichtpartizipatorischen politischen Ordnung geraten war.15 Quelle Nr. 5.1 Das Oktobermanifest vom 30. Oktober 190516 Die Wirren und Aufregungen in den Hauptstädten und in vielen Gegenden Unseres Reiches erfüllen Unser Herz außerordentlich mit großem und schwerem Leid. Das Wohl des russischen Zaren ist untrennbar von dem Wohle des Volkes, und die Trauer des Volkes ist seine Trauer. Aus den jetzt entstandenen Erregungen kann eine tiefe Unordnung im Volke und eine Bedrohung der Einheit des Allrussischen Reiches hervorgehen. Das große Gelübde des Zarenamtes gebietet Uns, mit allen Kräften des Verstandes und der Macht nach der schnellsten Beendigung dieser für das Reich so gefährlichen Wirrsal zu streben. Nachdem Wir den kompetenten Behörden befohlen haben, Maßnahmen zur Beseitigung direkter Erscheinungen der Unordnung, der Schlechtigkeiten und Gewalttätigkeiten zu ergreifen zum Schut-
—————— 15 Vgl. u.a. Szeftel, Marc, The Russian constitution of April 23, 1906. Political institutions of the Duma monarchy, Brüssel 1976; Hagen, Manfred, Die Entfaltung politischer Öffentlichkeit in Rußland 1906-1914, Wiesbaden 1982; Bönker, Kirsten, Akteure der Zivilgesellschaft vor Ort? Presse, Lokalpolitik und die Konstruktion von "Gesellschaft" im Gouvernement Saratov 1890-1917, in: Bauerkämper, Arnd (Hg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt am Main 2003, S. 77-104; Häfner, Lutz, Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Die Wolgastädte Kazan’ und Saratov (1870-1914), Köln 2004; Hausmann, Guido (Hg.), Gesellschaft als lokale Veranstaltung. Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches, Göttingen 2002; Hildermeier, Manfred, Liberales Milieu in russischer Provinz. Kommunales Engagement, bürgerliche Vereine und Zivilgesellschaft 1900-1917, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 51 (2003), S. 498-548. 16 Aus: Scheibert, Peter (Hg.), Die russischen politischen Parteien von 1905 bis 1917. Ein Dokumentationsband, Darmstadt 1972, S. 29f.
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Manfred Hildermeier
ze der friedlichen Leute, die der ruhigen Erfüllung der einem jeden obliegenden Pflicht nachstreben, haben Wir zur erfolgreichen Ausführung der allgemeinen, von Uns zur Befreiung des Staatslebens beabsichtigten Maßnahmen für notwendig erachtet, die Tätigkeit der obersten Regierung zu vereinheitlichen. Der Regierung legen Wir als Pflicht die Erfüllung Unseres unerschütterlichen Willens auf: 1. der Bevölkerung unerschütterliche Grundlagen der bürgerlichen Freiheit nach den Grundsätzen wirklicher Unantastbarkeit der Person, der Freiheit des Gewissens, des Wortes, der Versammlungen und der Vereine zu geben; 2. ohne die angeordneten Wahlen zur Reichsduma aufzuhalten, jetzt zur Teilnahme an der Duma, soweit das bei der Kürze der bis zur Berufung der Duma bleibenden Zeit möglich ist, die Klassen der Bevölkerung heranzuziehen, die jetzt völlig des Wahlrechts beraubt sind, indem die weitere Entwicklung des Grundsatzes des allgemeinen Wahlrechts der neueingeführten gesetzgeberischen Ordnung anheimgestellt bleibt und 3. als unerschütterliche Regel festzustellen, daß kein Gesetz ohne Genehmigung der Reichsduma Geltung erhalten kann und daß den vom Volke Erwählten die Möglichkeit wirklicher Teilnahme an der Aufsicht über die Gesetzmäßigkeit der Akte der von Uns eingesetzten Behörden gesichert ist. Wir rufen alle treuen Söhne Rußlands auf, ihrer Pflicht gegen das Vaterland eingedenk zu sein, zur Beendigung der unerhörten Wirrsal zu helfen und mit Uns alle Kräfte zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung des Friedens auf dem Heimatboden anzuspannen.
Literatur Birth, Ernst, Die Oktobristen 1905-1913. Zielvorstellungen und Struktur, Stuttgart 1974 Emmons, Terence, The formation of political parties and the first national elections in Russia, Cambridge /Mass. 1983 Fröhlich, Kaus, The emergence of Russian constitutionalism 1900-1914. The relation between social mobilization and political group formation in pre-revolutionary Russia, Den Haag 1981 Galai, Shmuel, The Liberation Movement in Russia 1900-1905, Cambridge 1973 Pinchuk, Ben-Cion, The Octobrists in the Third Duma 1907-1912, Seattle 1974 Stockdale, Melissa K., Paul Miliukov and the quest for a liberal Russia 1880-1918, Ithaca 1996
DIE KOLLEKTIVIERUNG DER LANDWIRTSCHAFT UND DER TERROR GEGEN DIE KULAKEN1 Von Jörg Baberowski Vjačeslav Michajlovič Molotov (1890-1986) war im Jahre 1930 nicht nur Vorsitzender des Rates der Volkskommissare. Er gehörte auch dem Politbüro und dem Sekretariat des Zentralkomitees der kommunistischen Partei an. Molotovs Einfluss wuchs mit der Macht Stalins, dessen Alleinherrschaft 1930 schon nicht mehr in Zweifel stand. In der Partei galt Molotov als „Stellvertreter“ Stalins, als treuer Gefolgsmann, der sich dem Willen des Diktators bedingungslos unterwarf. Molotov war die Stimme Stalins. Wo er das Wort ergriff, sprach er aus, was der Diktator ihm aufgetragen hatte.2 So war es auch im Februar 1930, als Molotov den Parteisekretären der Sowjetrepubliken erläuterte, wie sich Stalin, der an der Versammlung teilnahm, den Vollzug der Kollektivierung in der Sowjetunion vorstellte. Die im Folgenden in Auszügen abgedruckte Rede verrät uns, wie die Täter im Zentrum der Macht verstanden, was sie anderen antaten. Es vergingen freilich mehr als 70 Jahre, bis der Archivbestand, zu dem dieses Dokument gehört, Historikern zugänglich gemacht werden sollte. Molotovs Ansprache vor den lokalen Parteiführern im Februar 1930 fiel mit dem Beginn des Massenterrors zusammen, den das sowjetische Regime gegen die Bauern entfachte. Was in ihr gesagt wird, ist nur im Kontext des Geschehens, das sie kommentiert, verständlich. Zu Beginn des Jahres 1928, anlässlich einer Getreidebeschaffungskrise, hatten Stalin und seine radikalen Anhänger im Politbüro den Beschluss gefasst, mit Gewalt gegen Bauern vorzugehen, die Getreide zurückhielten, das der Staat für die Versorgung der Städte und für den Export benötigte. Wo Bauern sich der Getreideablieferung verweigerten, handelten sie aus ökonomischem Kalkül. Sie verkauften ihr Getreide nur jenen, die angemessene Preise zahlten. Und weil es in der Sowjetunion nur wenig Brauchbares zu kaufen gab, die staatlichen Ankaufpreise zu gering waren, zogen zahlreiche Bauern es vor, ihr Getreide auf den Schwarzmarkt zu bringen oder selbst zu verbrauchen. Stalin und seine Gefolgsleute verstanden, was ihnen aus der Provinz gemeldet wurde, als einen Versuch der Bauern, sich gegen das Regime zu erheben. Diese Rebellion musste der Staat mit überlegenen Gewaltmitteln im Keim ersticken. Daran jedenfalls ließ Stalin keinen Zweifel aufkommen. Wo Widerstand aufschien, arbeitete der Klassenfeind. Dieser Feind war überall, er konnte, wenn die Aufmerksamkeit nachließ, auch in die Apparate des Regimes eindringen und sie von innen zerstören. Deshalb versuchten die Bolschewiki, den Kampf um das Getreide mit dem Kampf gegen vermeintliche Großbauern, die „Kulaken“, zu verbinden. Zu Beginn des Jahres 1928 reiste Stalin selbst nach Sibirien, um die lokalen —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 5.2, Rede Molotovs vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion in Moskau am 11. Februar 1930. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Stalin und Molotov und die Erinnerung von Stalins Sekretär Boris Bažanov: Lih, Lars; Naumow, Oleg; Chlewnjuk, Oleg (Hg.), Stalin. Briefe an Molotov. 19251936, Berlin 1996; Basanov, Boris, Ich war Stalins Sekretär, Frankfurt am Main 1977.
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Partei- und Sicherheitsorgane auf den neuen Kurs einzustimmen: Es galt nunmehr, die Bauern zu zwingen, ihr Getreide den staatlichen Beschaffungsbrigaden auszuliefern sowie die Kulaken aus den Dorfsowjets auszuschließen und sie mit ruinösen Strafsteuern zu belegen.3 Auf diese Weise aber verschärften die Bolschewiki die Getreidebeschaffungskrise, denn die Bauern lieferten weniger, sie ernteten weniger und sie leisteten Widerstand. Aber Stalin und seine Anhänger sahen nur, was ihrer Perspektive auf das Leben entsprach. Und weil sie das eigene Bedeutungsuniversum schon nicht mehr verlassen konnten, entkamen sie ihren selbst geschaffenen Fiktionen nicht mehr: dass nämlich die Partei von bösartigen Saboteuren und Feinden umstellt war, die an der Destruktion der Sowjetunion arbeiteten. Der Kulak aber lebte nur in den Köpfen der Parteiführer, im Leben der Bauern kam er nicht vor.4 Nur so wird die Eskalation der Gewalt gegen die Bauern verständlich, die die Rede Molotovs dokumentiert. Die Bolschewiki regierten, aber sie übten in den Dörfern der Sowjetunion keine Macht aus, weil es ihnen an Übermittlern ihrer Vorstellungen fehlte. Im Dorf blieben die Bolschewiki ohne Einfluss. Sie waren sprachlos und ohnmächtig. So aber konnte sich das Regime weder in den Besitz des Getreides bringen noch konnte es die Bauern „zivilisieren“ und der neuen Ordnung unterwerfen.5 Diesem Zweck sollte die Kolchose dienen. Sie ermöglichte es dem Regime, sich die Ernte der Bauern anzueignen und die Dorfbewohner unter ständige staatliche Kontrolle zu stellen. Die Idee, die Bauern zu enteignen und in Kollektivwirtschaften einzusperren, kam 1928 auf. Stalin setzte die lokalen Parteiführer unter Druck und zwang sie in einen Wettbewerb um die Beschaffung von Getreide und die Einrichtung von Kolchosen. Was 1929 begonnen hatte, eskalierte zu Beginn 1930, als aus den Städten entsandte Arbeiterbrigaden und Kommunisten die Dörfer überfielen und die Bauern enteigneten. Die Kollektivierungsquoten erreichten schwindelnde Höhen, wenngleich, was als Kollektivierung ausgegeben wurde, anfangs kaum mehr war als eine „wilde“ Enteignungs- und Terrorkampagne, die sich nur durch die Anwesenheit der städtischen Kommunisten und GPU-Truppen am Leben erhielt. Die Bauern empfanden, was das Regime ihnen antat, als Wiederkehr des Antichristen und Strafe Gottes. Sie schlachteten ihr Vieh, verbrannten ihre Ernte, sie flohen zu Hunderttausenden aus den Dörfern in die Städte, und wo sie blieben, leisteten sie Widerstand. In manchen Regionen, wie in Sibirien, in der Ukraine und im Kaukasus, brach die Staatsgewalt zusammen. Im März 1930, also kurz nach Molotovs Brandrede, stand das Regime mit dem Rücken zur Wand.6 —————— 3 4
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Hughes, James R., Stalin, Siberia and the crisis of the New Economic Policy, Cambridge 1991; Ders., Stalinism in a Russian province. Collectivization and dekulakization in Siberia, London 1996. Lewin, Moshe, Who was the Soviet Kulak?, in: Ders., The Making of the Soviet System. Essays in the Social History of Interwar Russia, New York 1985, S. 121-141; Altrichter, Helmut, Die Bauern von Tver. Vom Leben auf dem russischen Dorfe zwischen Revolution und Kollektivierung, München 1984; Wehner, Markus, Bauernpolitik im proletarischen Staat. Die Bauernfrage als zentrales Problem der sowjetischen Innenpolitik 1921-1928, Köln 1998. Pethybridge, Roger, One step backwards, Two steps forward. Soviet society and politics under the New Economic Policy, Oxford 1990. Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulacivanie. Dokumenty i materialy, 5 Bde., Moskau 1999-2004, hier Bd. 2, Moskau 2000; Ivnickij, Nikolaj A., Kollektivizacija i raskulačivanie (načalo 30-ch godov), Moskau 1996; Viola, Lynne, Peasant rebels under Stalin. Collectivization and
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Stalin und seine Helfer sahen im bäuerlichen Widerstand eine Bestätigung ihrer Wahnvorstellungen von einer „sozial verunreinigten“ Umwelt. Für sie reflektierten die Aufstandsbewegungen nicht nur die Unzufriedenheit der Bauern. Aus der Rebellion sprach die Sprache des Feindes. Dieser Feind war in Kollektiven organisiert, und deshalb konnte er auch nur kollektiv beseitigt werden. So kam es, dass die Bolschewiki die Kollektivierung mit der Vernichtung sozialer Kollektive verbanden. Im November 1929 hatte Molotov auf einer Plenarsitzung des Zentralkomitees erklärt, Kulaken müssten als „bösartige Feinde“ aus den Kolchosen ausgeschlossen werden.7 Im Dezember kam es zu einer weiteren Eskalation, als Stalin öffentlich erklärte, es komme nunmehr darauf an, die Kulaken als Klasse zu „liquidieren“. Stalins Terrorbefehl blieb nicht ohne Folgen. Am 30. Januar 1930 schon versandte das Politbüro einen „geheimen Beschluß“, in dem es den lokalen Parteikomitees mitteilte, wie mit den registrierten Kulaken zu verfahren sei. Konterrevolutionäre und Bauern, die aktiven Widerstand gegen die Kollektivierung geleistet hätten, müssten in Konzentrationslager eingewiesen oder erschossen, alle übrigen Kulaken sollten verhaftet und nach Sibirien oder Zentralasien deportiert werden. Bis Ende Mai 1930 seien 60.000 Bauern in Konzentrationslager einzuweisen, 150.000 seien zu deportieren, wie das Politbüro in seinem Beschluss präzisierte. Dabei stand es im Ermessen der lokalen Dienststellen, selbst zu entscheiden, wer zu verhaften, wer zu erschießen und wer zu verbannen sei.8 Das Regime beauftragte sogenannte Arbeiterbrigaden, die aus den Städten in die Dörfer entsandt wurden, das dringend benötigte Getreide zu beschaffen. Darüber hinaus oblag diesen Brigaden, die Kulaken zu verhaften und auszusiedeln. Mehr als 25.000 solcher Aktivisten hielten sich Anfang 1930 in den Dörfern der Sowjetunion auf, zumeist junge, fanatisierte Arbeiter-Kommunisten und Komsomolzen, die die Bauern mitleidlos terrorisierten.9 Stalin aber gab sich mit der Eigeninitiative lokaler Aktivisten nicht zufrieden. Er entsandte seine wichtigsten Gefolgsleute aus dem Politbüro in die Provinzen, damit sie überprüften, ob die Beschlüsse des Zentrums auch wirklich ausgeführt wurden. Mitte Februar 1930 wurden die Parteiführer der Republiken und Gebiete nach Moskau gerufen, wo Molotov sie aufforderte, den Terror gegen Kulaken und Feinde der Sowjetmacht zu verschärfen. Molotov war, darin glich er Stalin, ein skrupelloser Gewalttäter, der, was er anderen antat, nicht nur als reinigendes Gewitter verstand, das die Gesellschaft von ihren Feinden erlöste. Gewalt und Terror gehörten für ihn zur Essenz des bolschewistischen Herrschaftsstils. Hier sprach kein kühler Technokrat, sondern ein Terrorist, der „Schweinehunde“ in den Apparaten erschießen und Kulaken in Flüssen ersäufen lassen wollte. Wer dem Terror vorgriff, der Führung entgegenarbeitete und dem Zentrum maßlose ——————
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the culture of peasant resistance, Oxford 1996; Baberowski, Jörg, Der Feind ist überall. Stalinismus im Kaukasus, München 2003, S. 691-721. Plenum CK VKP (B) 10-17 nojabrja 1929 g., in: Kak lomali NEP. Stenogrammy plenumov CK VKP(B) 1928-1929, Bd. 5, Moskau 2000, S. 373. RGASPI, Bestand 17, Findbuch 162 (osobaja papka), Akte 8, Blatt 64-69; Tragedija (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 163-167; Baberowski, Jörg, Stalinismus „von oben“. Kulakendeportationen in der Sowjetunion 1929-1933, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 46 (1998), S. 572-595. Kopelew, Lew, Und schuf mir einen Götzen. Lehrjahre eines Kommunisten, 2. Aufl., München 1981, S. 289-337 (Komsomol = Kommunistischer Jugendverband).
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Vorschläge unterbreitete, wie die Mitglieder des Gebietsparteikomitees im Nordkaukasus, durfte mit seiner Zustimmung rechnen. „Für den Anfang ist das schon mal was“, und was immer die lokalen Parteikomitees sich in dieser Frage ausdächten, werde im Zentrum „begrüßt“, so kommentierte Molotov den vorauseilenden Gehorsam der Genossen aus dem Kaukasus.10 Es waren diese Signale, die die Partei- und Sicherheitsorgane in den Provinzen dazu veranlassten, maßlosen Terror gegen die Bauern auszuüben. Die Verschickung der Kulaken folgte keiner ökonomischen Rationalität. Molotov selbst räumte ein, dass das Politbüro nicht wisse, was mit den Deportierten geschehen solle. Für ihn schien der Zweck erfüllt, wenn die Kolchosen von ihren Feinden befreit, wenn die Funktionäre in den Apparaten und in den Dorfsowjets in Furcht und Schrecken versetzt wurden. Stalin und Molotov kam es darauf an, die Lebensweise der Bauern, das Russland der „Ikonen und Kakerlaken“, wie Lev Trockij es einst genannt hatte, für immer zu zerstören. Die in den Dörfern zurückgebliebenen Bauernfamilien wurden nicht nur in Kolchosen eingesperrt und an die Scholle gebunden. Man wollte sie brechen und „zersetzen“. Diesem Zweck ordneten die führenden Bolschewiki alle übrigen Erwägungen unter. Molotov litt nicht an Gewissensqualen. Zwar warnte er die Zuhörer am Ende seiner Ansprache davor, auszuplaudern, was das Politbüro beschlossen habe. Aber diese Geheimhaltung stand nicht im Dienst des Gewissens. Was in der Parteiführung beschlossen wurde, musste exklusives Wissen bleiben. Denn jenseits der Partei herrschte der Feind. Die Loyalität der Stalinschen Gefolgschaft beruhte darauf, dass sie Geheimnisse mit dem Führer teilte und dass sie über ein Wissen verfügte, in dessen Besitz sonst niemand gelangen konnte. Molotov sah auch vierzig Jahre später, als er mit dem Journalisten Feliks Čuev über seine Rolle in der Stalin-Zeit sprach, keinen Grund, warum er sich von den Terrorbefehlen der Vergangenheit distanzieren sollte. Er urteilte über die Ausweisung der Kulaken in den 1970er Jahren nicht anders als er es 1930 getan hatte. Für ihn war solcher Terror eine historisch notwendige Tat.11 Was Molotov im Februar 1930 zum Vortrag brachte, war eine Repräsentation der totalitären Versuchung des 20. Jahrhunderts. In ihr verband sich das Streben nach eindeutigen, „europäischen“ Ordnungen mit dem Wahn, es müssten feindliche Kollektive vernichtet werden, die sich in diese Ordnungen nicht einfügen ließen. Deshalb führte die Vorstellung vom Staat als Gärtner unter sowjetischen Bedingungen in den Massenterror.12
—————— 10 RGASPI, Bestand 82, Findbuch 2, Akte 60, Blatt 152-153. 11 Čuev, Feliks, Sto sorok besed s Molotovym. Iz dnevnika F. Čueva, Moskau 1991. 12 Bauman, Zygmunt, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Frankfurt am Main 1995, S. 29-30, 61.
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Quelle Nr. 5.2 Rede Molotovs vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion in Moskau am 11. Februar 193013 [...] Und so stehen die Räte vor neuen Aufgaben im Dorf. Diese Aufgaben ergeben sich aus der sich entfaltenden sozialistischen Umgestaltung der Landwirtschaft. Damit sind auch gewaltige Aufgaben der Umgestaltung der gesamten bäuerlichen Lebensweise verbunden. Die Verwirklichung der neuen Aufgaben ist nur dann möglich, wenn ein beharrlicher und erbarmungsloser Kampf gegen das Kulakentum geführt wird. Die Vertreibung aller und jeglicher Personen aus den Räten, die den Kulaken nach dem Munde reden, steht derzeit in den Räten im Dorf in besonderer Schärfe an. Zugleich werden die Räte im Dorf mit ihren Aufgaben nur auf der Grundlage des Zusammenschlusses des Kerns der einfachen Bauernschaft und der Landarbeiter, und nur auf der Grundlage intensiven Bemühens um die Organisation der Dorfarmut fertig werden. Und es kann jetzt für die Räte keine andere Aufgabe wichtiger sein als der Zusammenhalt der Landarbeiter und der armen Bauern in den Räten, um auf dieser Grundlage die proletarische Führung der Kolchosbewegung zu stärken. Und nur der Rückhalt der Dorfarmut und das Bündnis mit den Mittelbauern ermöglichen den Räten schnelle und entschlossene Erfolge im Kampf gegen das Kulakentum, indem es die Zerschlagung des Kulakentums für alle Zeiten ermöglicht. Unter der Losung „mit dem Gesicht zur Kolchose gewandt“ beginnen wir eine bis an die Wurzel gehende Umstrukturierung der Arbeit und eine Erneuerung der Räte. Die zu Tausenden und Abertausenden ins Dorf entsandten Arbeiter sollen die aktivsten Teilnehmer des Umbaus der Arbeit in den Räten werden. Fünfundzwanzigtausend fortschrittliche Proletarier spielen im Dorf eine gewaltige Rolle bei der Zusammenführung der armen Bauern und der Landarbeiter im Dorf, beim Aufbau eines Kerns von armen Bauern und Landarbeitern in den Räten und bei der Festigung des Bündnisses mit dem Mittelbauern. Aus den besten Proletarier-Aktivisten, aus dem Kern der armen Bauern und Landarbeitern, aus den fortschrittlichen Kolchosbauern sollten neue Räte im Dorf gewählt werden. [...] Und wir gehen an der Spitze und erst das wird die Räte wirklich umgestalten. Das wird eine neue Kampagne zur Neuwahl der Räte werden. Das ist es, was wir brauchen. Wir schieben die Frage über den Umbau unserer Organe der Sowjetmacht nicht auf. Habt ihr etwa vergessen, dass wir schon seit mehr als einem Jahr die zentrale Frage über den Kampf mit dem Bürokratismus im Zentralapparat hinausposaunen. Und gibt es etwa in den Dorfsowjets keinen Bürokratismus? Warum führen wir also im Zentrum den Kampf gegen den Bürokratismus, und warum wird er in den unteren Sowjetapparaten nicht geführt? Unsere zentrale Aufgabe besteht in der Verbesserung des Sowjetapparates. Schreien wir denn etwa nutzlos herum? Nein, nicht nutzlos! Wozu haben wir denn Arbeiterbrigaden für den Kampf gegen den Bürokratismus geschaffen, wozu schaffen wir denn Arbeiterbrigaden zum Eintreiben der Rückstände? Warum vertrauen wir das denn nicht unseren Finanzbehörden an? Weil unsere Finanzbehörden verdreckt sind vom Bürokratismus, von Veruntreuungen, von jeglichen bourgeoisen und kleinbürgerlichen Demoralisierungen und wir sie da herausreißen müssen. Aber haben wir denn nicht schon begonnen mit dieser Sache, beschäftigen wir uns denn nicht damit? Ja, wir beschäftigen uns damit. Wofür haben wir die Astrachaner erschossen? Um zu zeigen, dass diese Schweinehunde, die unseren Apparat zerlegen, die ihn mit ihrem bourgeoisen und kleinbürgerlichen Bürokratismus anstecken, dass wir ihnen einen auf den
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Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorii Moskva (RGASPI), Bestand 82, Findbuch 2, Akte 60, Rede V. M. Molotovs vor einer Versammlung von Parteichefs der Republiken und Gebiete der Sowjetunion in Moskau am 11. Februar 1930; die abgedruckten Auszüge betreffen die Blätter 129-130, 134, 139-141, 152-153. Aus dem Russischen von Jörg Baberowski.
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Schädel hauen, dass wir sie jetzt erschießen und auch weiterhin erschießen werden. Und nicht nur im Dorf, sondern auch in der Stadt werden wir diesen Kampf führen. [...] Jetzt die Frage hinsichtlich des Kulaken [...] Wir haben da eine Kommission ernannt. Diese Frage ist von außerordentlicher Wichtigkeit. Wir haben eine Kommission ernannt, welche diese Fragen praktisch ausarbeiten muss. Wir bringen das vor das Politbüro. Mit einzelnen Genossen hatten wir eine Besprechung. Insbesondere Genosse Stalin ist darüber im Bilde. Die Rede ist da von einem Dreiergespann (trojka): die Genossen Kaganovič, Stalin und ich, wir haben uns über die Bildung einer „Kulaken“-Kommission abgesprochen. (Gelächter). Das ist eine außerordentlich wichtige Frage. Wer glaubt, dass einzig auf der Grundlage einer Resolution diese Sache als beendet angesehen werden kann, der ist schon ein komischer Kauz (čudak). Das ist eine langfristige Sache. Und es ist auch klar, dass es einfach zu wenig ist, in dieser Sache nur eine Linie durchzuführen. Welche Maßnahmen zu ergreifen sind? Ich sagen es ihnen im Vertrauen. Als mich auf dem 14 November-Plenum einzelne Genossen gefragt haben, was mit den Kulaken werden soll, da habe ich gesagt: ‚Wenn es ein geeignetes Flüsschen gibt, dann ertränkt sie.’ Aber nicht überall gibt es ein Flüsschen, das heißt, dass die Antwort unzureichend ist. Aber von daher wird klar: man muss sie vernichten. Da sind viele Schädel zu zählen. Da sind wirklich genug Schädel zu zählen, wenn sie so wollen, so viele, dass selbst das ZKK die Norm dafür nicht festlegen kann. Hier sind selbst Normen zuwenig. Wir werden all das begrüßen, was man sich an den Orten Nützliches dazu ausdenkt. [...] Aber natürlich ist es unmöglich, diese Aufgabe einzig allein nur am Ort zu lösen. Mir scheint, dass es außer jeglichem Zweifel steht, dass wir ohne administrative Maßnahmen nicht auskommen werden und dass wir wohl auch erschießen müssen. (Zuruf: aussiedeln!). Die erste Kategorie: erschießen, die zweite Kategorie: aussiedeln. Ich muss anmerken, dass es einen Beschluss des heute so schweigsamen Nordkaukasus gibt. Sie haben uns um Erlaubnis gebeten, zwanzigtausend Kulaken auszusiedeln. Dieser Vorschlag verdient Aufmerksamkeit. Für den Anfang ist das schon mal was. Wir können ja wahrscheinlich nicht alles auf einmal machen. Hier muss man noch die Frage entscheiden, wohin wir sie aussiedeln, wie viele und an welche Orte. (Kaganovič: Unter Umständen kann es sehr schwierig werden, einen solchen Bezirk zu finden, wohin man die ganzen Kulaken aussiedeln kann.) Wir werden ihn finden. Aber es ist offensichtlich, dass wir gezwungen sind, ordentliche Repressionsmaßnahmen anzuwenden. Um die Aussiedlung einer ordentlichen Anzahl von Personen an die unterschiedlichsten Ecken kommen wir nicht herum. Wo sollen wir sie hin15 schicken? (Zuruf: zu Ėjche ). In Konzentrationslager, und wenn sie bei Ėjche sind, dann zu Ėjche. Wir müssen uns überlegen, zu welchen Arbeiten wir sie verschicken, vielleicht zur Holzbeschaffung, vielleicht kann man sie in unberührte Gebiete schicken, um Neuland urbar zu machen. Vielleicht müssen wir aber auch Sovchosen mit den Kulaken organisieren. Macht ja nichts, stellen wir ein paar Kommunisten an die Spitze der Sovchosen und dann werden sie arbeiten. Das können wir nicht ausschließen. Alle siedelst du nicht aus. Hier müssen wir auch um das Dorf herum noch etwas bewegen. Hier muss man die Familien zersetzen, politisch zersetzen. Da wird es diesen Frühling einen wütenden Kampf geben. Wer das bis jetzt noch nicht kapiert hat, der wird es dann spätestens an seiner eigenen Haut spüren. [...] Es geht darum, dass am 30. Januar die Anordnung des ZK über die Liquidierung der Kulakenhöfe in den Rayons der Totalkollektivierung angenommen worden ist. Wissen die anwesenden Genossen von dieser Anordnung, haben Sie sie gelesen? Alle schweigen, das bedeutet, Sie haben sie gelesen. [...] [...] Ich muss Sie warnen, Genossen. Der Beschluss vom 30. Januar ist ein geheimer Beschluss. Wir haben ihn nicht weit verbreitet, wir haben ihnen diese Beschlüsse zugeschickt, damit Sie sie an
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Molotov bezieht sich auf das Plenum des Zentralkomitees vom 10.-17. November 1929. Robert Ėjche war zu jener Zeit Erster Sekretär des Gebietsparteikomitees von Westsibirien und Mitglied des Zentralkomitees.
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das ZK zurückgeben, damit sie nicht verbreitet werden können und damit die Maßnahmen, die wir durchgeführt haben und die wir durchführen, nicht vor unseren Feinden aufgedeckt werden, weil es hier sehr viele wichtige und komplizierte Sachen gibt und wir unsere Feinde darüber nicht offen informieren dürfen. [...] Ich muss Sie warnen, dass mir die Genossen auf keinen Fall etwas aus diesem Beschluss ausplaudern, umso mehr wir vorher auch Klartext gesprochen haben. Das ist eine völlig unzulässige Sache und ich bitte die Genossen auch nach der gegenwärtigen Besprechung so zu verfahren. Das, was in dieser Besprechung entschieden wird, wird sich ganz offensichtlich auch unter den Geheimbeschlüssen befinden. Unsere Maßnahmen müssen aufs Äußerste gut organisiert und ohne große Verlautbarung unserer Entscheidungen durchgeführt werden. Die Sache ist äußerst mühevoll und schwierig. Ich warne die Genossen erneut vor der Verletzung der unbedingten Geheimhaltungspflicht der Ergebnisse dieser Besprechung. [...]
Literatur Baberowski, Jörg, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, 2. Aufl., München 2004 Fitzpatrick, Stalin´s peasants. Resistance and survival in the Russian village after collectivization, Oxford 1994 Lih, Lars; Naumow, Oleg; Chlewnjuk, Oleg (Hg.), Stalin. Briefe an Molotov. 1925-1936, Berlin 1996 Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulacivanie. Dokumenty i materialy, 5 Bde., Moskau 1999-2004 Viola, Lynne, Peasant rebels under Stalin. Collectivization and the culture of peasant resistance, Oxford 1996
IM WIDERSTAND GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS. MOLTKE UND YORCK IM KONFLIKT UM DIE GRUNDLAGEN DES STAATES1 Von Peter Steinbach Über die Zielsetzung des deutschen Widerstands gegen den Nationalsozialismus wird nach wie vor gestritten – in der Regel aus der Perspektive der Nachlebenden, die angesichts der zuweilen tief im 19. Jahrhundert wurzelnden vorkonstitutionellen Grundvorstellungen des Widerstands bezweifeln, dass der Umbruch als Folge eines gelungenen Anschlags auf Hitler wirklich die viel beschworene Neuordnung aus dem Widerstand gebracht hätte.2 Dabei beziehen sich Kritiker in der Regel auf die außenpolitischen Vorstellungen der Regimegegner, die in den Strukturen des nationalstaatlichen Hegemonialdenkens verhaftet waren. Weniger fragten sie nach den theoretisch geklärten und akzeptierten Staatsvorstellungen einer neu geordneten Gesellschaft, die sich auf Prinzipien bezog, die sich in der Folgezeit als die Grundlage der Demokratie in Europa herausstellen sollten. Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit, Wahlrecht als Ausdruck der Volkssouveränität und Respekt vor der Vielfalt der europäischen Traditionen, Kulturen und Gesellschaften galten im bürgerlichen Widerstand ohne Zweifel als unverzichtbare Prinzipien, die im Zuge einer postdiktatorischen Neuordnung zu verwirklichen allerdings voraussetzte, die Staatsorientierung der deutschen Gesellschaft zu überwinden und einer politischen Theorie Raum zu geben, die in England mit Locke als Civil Society bezeichnet wurde. Helmut James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg orientierten sich beide, jeder für sich, an diesen Prinzipien. Moltke hatte die englische Theorie der Civil Society in seiner Oxforder Studienzeit kennen gelernt und später mit der Konzeption der „Kleinen Gemeinschaften“ verbunden, die auf den Gedanken der kommunalen Selbstverwaltung verwiesen. Yorck fußte geistig stattdessen im deutschen Staatsdenken und war geneigt, dem Staat selbst eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der deutschen Gesellschaft zuzusprechen. Der Konflikt zwischen beiden, die man als Herz und Kopf jener Widerstandsgruppe bezeichnet hatte, die von der Gestapo nach dem 20. Juli 1944 —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 5.3a, Brief von Helmuth James Graf von Moltke an Peter Graf Yorck von Wartenburg vom 17. Juni 1940, und Quelle Nr. 5.3b, Brief von Peter Graf Yorck von Wartenburg an Helmuth James Graf von Moltke vom 7. Juli 1940. Vgl. allgemein etwa die Spiegel-Berichterstattung zum Widerstand vom Sommer 1984 und vom Sommer 1994, letztere ist in der von Christiane Richter und Torsten Kupfer zusammengestellten „Auswahlbibliographie der 1994 zum 50. Jahrestag des 20. Juli 1944 erschienenen Zeitungs- und Zeitschriftenartikel“, dokumentiert die Quelle: (25.01.2005), sowie speziell im Sommer 2004 die Diskussion über die Thesen des Historikers Christian Gerlach bei den Aschaffenburger Gesprächen unter Leitung von Guido Knopp, vgl. dazu (25.01.2005). Beiträge und Materialien zum 60. Jahrestag des Umsturzversuches vom 20. Juli 1944 werden im von Zeitgeschichteonline in Kooperation mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand Berlin geschaffenen Themenschwerpunkt gebündelt: (25.01.2005).
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„Kreisauer Kreis“ genannt wurde, haben so früh wie kaum andere Angehörige des Widerstands die Auseinandersetzung um die prinzipielle Grundlegung einer neuen Ordnung begonnen. Obwohl wegen der Verfolgung des Widerstands durch die Gestapo die überlieferten Quellen dürftig sind, ist der Beginn der Kontroverse gut nachvollziehbar. Denn es sind einige frühe Briefe dieser beiden Kreisauer im Besitz von Freya von Moltke erhalten geblieben. Sie spiegeln mehr als den Austausch kontroverser Meinungen. Diese Briefe stammen aus dem Sommer 1940 – damals waren die meisten Deutschen von Hitlers militärischen Erfolgen wie dem Sieg über Frankreich fasziniert. Moltke und Yorck glaubten nicht an den dauerhaften Sieg der „Macht des Bösen“. Sie waren nicht fasziniert, sondern waren überzeugt, dass das NS-Regime untergehen müsste. Dabei bezogen sie sich auf die Erneuerung des Rechts. Sie meinten damit mehr als die Rückkehr zur Verfassungsordnung der Weimarer Republik. Diese war ursprünglich ein großes Verfassungsangebot und orientierte sich an der Achtung vor Minderheiten, am Schutz sozialer Gruppen, an Rechtssicherheit in Staat und Gesellschaft, an der Überprüfbarkeit von Rechtssprüchen, der ordnungsgemäßen Gesetzgebung im Parlament, der Öffentlichkeit der Verhandlungen und der Rechtmäßigkeit der Strafverbüßung. Recht und Gerechtigkeit waren, das wussten Moltke und Yorck, zwar niemals in völlige Deckung zu bringen. Nach dem Willen der Weimarer Nationalversammlung sollten sie sich jedoch möglichst weit annähern. Die Reflexion über die Prinzipien des Rechtsstaates konnte nur im kleinen Kreis angestellt werden. Dabei musste mit den überkommenen Vorstellungen gebrochen werden, die in der rückwärtsgewandten Wertschätzung des überkommenen monarchischen Obrigkeitsstaates zum Ausdruck kamen. Die nationalsozialistische Wirklichkeit erleichterte die Entwicklung einer neuen Sichtweise, die dann rasch in eine neue Wertschätzung der häufig als überholt eingeschätzten Institutionen und Normen des Rechtsstaates münden konnte. Wiederherstellung des Rechts konnte angesichts der in Rechtsnorm gebrachten Unterdrückung im Innern, der Pervertierung des Rechts zum beliebigen Herrschaftsmittel einer weltanschaulich skrupellosen Führungsschicht, der Verbrechen an politischen Gegnern, an Juden, an den Einwohnern der besetzten Gebiete zunehmend weniger eine abstrakte Forderung sein; hinter dem Anspruch, die „vollkommene Majestät des Rechts“ zu sichern, waren die geschändeten Rechte der vom Tode bedrohten und extremer Willkür ausgelieferten Mitmenschen deutlich sichtbar. Jeder Eingeweihte begriff das Ziel, wenn der Verfall der Rechtsordnung und die Zerstörung der Rechtssicherheit konstatiert wurden. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb in allen Überlegungen des deutschen Widerstands, der sich seit 1938/39 zur Möglichkeit eines Anschlags auf die Führungsschicht des NS-Staates und damit auch Hitlers durchrang, die Frage der neuen Fundierung eines rechtlich eingehegten und klaren sittlichmoralischen Prinzipien verpflichteten Staates eine zentrale Rolle spielte. Dies lässt sich für die Zusammenkünfte der Berliner Mittwochsgesellschaft vereinzelt, für den Kreisauer Kreis um Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg ganz deutlich greifen. Aus dem Jahre 1940 ist ein Brief Moltkes an
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Yorck überliefert, in dem die staatstragenden Prinzipien des Rechts deutlich ausgedrückt und als Auftrag für zukünftige Überlegungen formuliert werden3. In der Erwartung eines „Triumphs des Bösen“, der auch durch den „schlimmen Sumpf von äußerem Glück, Wohlbehagen und Wohlstand“ nicht verdeckt werden konnte, will sich Moltke im Juni 1940, zum Zeitpunkt also des als Triumph der Machtpolitik empfundenen Siegs über Frankreich, mit Yorck über die Grundlagen einer „positiven Staatslehre“ auseinandersetzen. Moltke glaubte zu dieser Zeit in keiner Weise an die Möglichkeit eines Wandels des NS-Staates zum Guten und forderte seine Brief- und Gesprächspartner in einer Weise heraus, die an Platons Dialog Politeia erinnerte. Kriterium eines akzeptablen Staates sollte die Verwirklichung der Gerechtigkeit sein. Im Unterschied zum antiken Dialog einigten sich die Kontrahenten rasch auf eine Definition. Gerechtigkeit bestünde darin, „dass im Rahmen des Staatsganzen ein jeder sich voll entfalten und entwickeln könnte“. Dabei ging es nicht um eine ungehinderte Selbstverwirklichung, denn jedem einzelnen sollte eine „schwere Hypothek“ auferlegt werden, die Einschränkungen „im Rahmen des Staatsganzen“ verlangen könnte. Angesichts der nationalsozialistischen Wirklichkeit kam es darauf an, die „Hypothek“ präzise zu bestimmen und damit auch die Opfer und Leiden zu begrenzen, die der einzelne im Rahmen der bestehenden politischen Ordnung für seinen Staat auf sich zu nehmen hätte, ohne dass es sich um die Verwirklichung und Praktizierung des Unrechts handelte. Moltke reflektierte über die klassische Frage der Staatsgrenzen und Staatsziele, die in jeder Widerstandsdiskussion verborgen ist. Das Fazit lautete: „Die letzte Bestimmung des Staates ist es daher, der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Dann ist es ein gerechter Staat.“ Die hier formulierten Grundsätze mussten sich an der staatlichen Wirklichkeit des totalen NS-Staates stoßen und sich letztlich gegen dessen Grundlagen richten. Konsequent zielte Moltke deshalb auf einen Kern seiner Motivation, die sich seitdem verfestigte und bis zur Stunde seines Todes nicht erschüttert wurde: Mit „Furcht, Macht und Glaube, soweit sie nicht von den einzelnen Staatsbürgern abgeleitet sind“ – also individualistisch geprägt sind –, will er Grundanschauungen des „heutigen Staates beseitigen“. Dabei war er sich bewusst, dass Furcht, Macht und Glaube auch im wünschenswerten Staat Grundlagen menschlichen Zusammenlebens seien. Entscheidend war jedoch, dass im neuen Staat die „Hypothek“ zugunsten des Staates präzisiert werden sollte. Sie musste aus einem Kompromiss verschiedener Möglichkeiten und Wirklichkeiten hervorgehen und sollte durch eine Minimierung ihrer realen Last charakterisiert sein. Die Hypothek als Kompromiss – die positive Verwendung eines aus der Weimarer Zeit belasteten Begriffs signalisiert einen Wandel politischer Grundanschauungen. Es ging nicht mehr um das Absolute, welches das Recht außer Kraft setzte und den einzelnen beliebigen Zukunftszielen verfügbar machte, die sich als schwere Belastung entlarven mussten, sondern es ging um ein bewusstes „Zugeständnis an die Wirklichkeit, welches man so klein halten muss wie eben möglich“. Hypotheken, die aufgenommen worden waren, mussten abgetragen werden. Es ging also keineswegs um die Chance des NS-Staates, sich zur Gerechtigkeit zu wandeln, als —————— 3
Vgl. Quelle Nr. 5.3a.
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vielmehr um die Übernahme der historischen Hypothek als schwere Last für die Zukunft, die im Zuge einer Überwindung dieses Staates getragen werden musste: Deshalb resümierte Moltke in seinem Brief an Yorck: „Der Staat, den wir bestenfalls erwarten können, wird mit einer sehr schweren Hypothek auf den Einzelnen anfangen, und es wird die Aufgabe sein müssen, diese Hypothek so schnell wie möglich abzutragen.“ In seiner Antwort auf Moltkes Schreiben bezweifelte Yorck die Möglichkeit, den Freiheitsbegriff präzise bestimmen zu können und die Aufgabe des Staates, Hüter der Freiheit zu sein, verbindlich festzulegen.4 Für Yorck kam der „Rückbezogenheit“ des Einzelmenschen auf die Gemeinschaft eine große Bedeutung zu, denn der Einzelmensch solle „voller Sicherheit“ leben können und seinem „Nächsten“ keinen Schaden zufügen, ja sogar für ihn leben und handeln. Freiheit war nicht individualistisch definiert, sondern ethisch durch Mitmenschlichkeit geprägt. Recht und Pflicht verbanden sich und machten den Kern der Hypothek aus, um die die Gedanken kreisten. Freiheit war für Yorck durch ihren Fremdbezug geprägt, der Konsequenzen für das Rechtsverständnis, aber auch die Praxis des Widerstands als stellvertretendes mitmenschliches Handeln zeitigte. Angesichts des Missbrauchs des Begriffs und der Praxis des Dienens war sich Yorck dessen bewusst, dass er es bei der bloßen Verwendung dieses Schlagwortes nicht belassen konnte. Deshalb präzisierte er die Verpflichtung des Dienens durch den signifikanten Bezug der Tat auf das Recht und die Rechtmäßigkeit. Recht wurde dabei nicht als Schutz der Schwachen verstanden, sondern als Verpflichtung und qualifizierte Normierung des individuellen Verhaltens in Staat und Gesellschaft. Allein durch diese Bindung an das Recht ließ sich auch das Risiko der „Hypothek“ mindern, welches ursprünglich den Ausgangspunkt der Staats- und Rechtsdiskussion zwischen den führenden Vertretern des späteren Kreisauer Kreises gebildet hatte. Aus dieser Überzeugung musste unvermeidlich eine fundamentale Kritik der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis resultieren, denn die Inpflichtnahme des Staates für das Recht band den Staat selbst an die Grundlagen einer rechtlich bestimmten Sittlichkeit: „Der wahre Inhalt des Staates ergibt sich mir nun dort, wo er als Trieb göttlicher Ordnung den Menschen erscheint und von ihnen empfunden wird.“5 In den Diskussionen des Kreisauer Kreises verbanden sich verschiedene Traditionen und Entwicklungsmöglichkeiten politischen Denkens in den Auseinandersetzungen mit den konkreten und philosophisch zunächst nicht zu bewältigenden Erscheinungen der Gegenwart, die dem Staatsbürger nicht eine „Hypothek“ aus „Pflicht und Recht“ bedeutete, sondern ihn durch staatlich gewollte und sanktionierte, politisch und ideologisch motivierte und nur aus der Lösung an das Recht denkbare Verbrechen belastete. Die Erörterungen zwischen Moltke und Yorck zeitigten insofern Folgen, als sie weit davon entfernt waren, „Pflicht und Recht“ pauschal zu diskreditieren. Alle neue Ordnung musste sich vielmehr durch die Wiederherstellung des Rechts und die rechtmäßige Bestrafung der „Rechtsschänder“ legitimieren. So wurde der wünschenswerte Zustand auf den verabscheuten Stand politischer Ordnungen bezogen, sosehr sich die beiden Kreisauer auch bemühten, die „Bestimmung des Staates“ positiv zu betrachten und nicht aus den Erscheinungen der Tyrannis heraus —————— 4 5
Vgl. Quelle Nr. 5.3b. Vgl. Quelle Nr. 5.3b.
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negativ zu begründen. Dennoch bedurften sie gerade dieses Bezugs ihrer Überlegungen auf die Realität, um die bestehenden Differenzen bei der Begründung der „letzten Rechtfertigung“ staatlichen Handelns zu überwinden. Moltke konnte den Zweck des Staates nämlich nicht aus seiner Sittlichkeit ableiten. Ethik band seiner Überzeugung nach den einzelnen, nicht aber das Staatsganze. So akzeptierte er lediglich den kategorischen Imperativ Kants, der einer langen Reihe von Verwaltungsbeamten Richtschnur ihres Handelns war und – wie etwa im Schlusswort des Mitglieds der Weißen Rose, Professor Kurt Huber, sichtbar wird – auch viele Widerstandskämpfer zu einer Radikalität ihres Denkens führte, die dann auch die letzten Konsequenzen bewusst ins Kalkül zog. Auch die göttliche Ordnung akzeptierte Moltke nicht als Grundlage staatsphilosophischer Erörterungen, denn „die Staatslehre“ dürfe „einer staatlichen Ordnung“ keine „religiöse Erklärung und einen religiösen Unterbau [...] geben“. Bezugspunkt des Staates und seines Rechts habe der einzelne Mensch zu sein. Sinn des Staates sei es, „Menschen die Freiheit zu verschaffen, die es ihnen ermöglicht, die natürliche Ordnung zu erkennen und zu ihrer Verwirklichung beizutragen“. Ordnungsgemäße Zustände wurden vielfach durch den Begriff des Rechts charakterisiert. Recht war das Gegenteil von „Willkür“, die als „polizeiliche Willkür“ in das Leben vieler Menschen und Völker eingegriffen hatte. So stand die Proklamation, das Recht wiederherzustellen, für den Anspruch, die Ordnung des nationalsozialistischen Unrechtsstaates zu überwinden – und zwar auf eine denkbar rasche Weise. Aus diesem Prinzip entwickelte sich das weitere Programm der Kreisauer bis zur Konturierung einer außenpolitischen Nachkriegsordnung auf föderaler Grundlage. Wesentlich wurde überdies die Überzeugung, dass der Staat wie die Wirtschaft der Menschen wegen existierte. Damit hatte die englische Vorstellung von der Civil Society, die eine Regierung einsetzt, um sich selbst zu lenken, ohne auf Teilhabe an der politischen Macht zu verzichten, über den deutschen Staatsgedanken gesiegt. Quelle Nr. 5.3 Aus Briefen von Helmuth James Graf von Moltke und Peter Graf Yorck von Wartenburg vom Sommer 1940
Quelle Nr. 5.3a Brief von Helmuth James Graf von Moltke an Peter Graf Yorck von Wartenburg vom 17. Juni 19406 […] Die Grundlage aller Staatslehre besteht für mich etwa in folgenden Grundsätzen: 1. Es ist nicht die Bestimmung des Staates Menschen zu beherrschen und durch Gewalt oder durch Furcht vor Gewaltanwendung zu zügeln, vielmehr ist es die Bestimmung des Staates, die Menschen in eine solche Beziehung zueinander zu bringen und sie darin zu erhalten, daß der Ein-
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Roon, Ger van, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967, S. 480ff.
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zelmensch von jeder Furcht befreit in voller Sicherheit und doch ohne Schaden für seinen Nächsten zu leben und zu handeln vermag. 2. Es ist nicht die Bestimmung des Staates, Menschen zu wilden Tieren oder zu Maschinen zu machen, vielmehr ist es die Bestimmung des Staates, dem Einzelmenschen denjenigen Rückhalt zu geben, der es ihm ermöglicht, Körper, Geist und Verstand ungehindert zu betätigen und zu entwickeln. 3. Es ist nicht Aufgabe des Staates, unbedingten Gehorsam und blinden Glauben an sich oder an etwas Anderes vom Menschen zu fordern, vielmehr ist es die Bestimmung des Staates, den Einzelmenschen dahin zu führen, daß er nach den Geboten der Vernunft lebt, die Vernunft bei allen Dingen betätigt und ihn sogleich dahin zu leiten, dass er seine Kraft nicht in Haß, Ärger, Neid verschwendet oder sonst unrecht handelt. Die letzte Bestimmung des Staates ist es daher, der Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Dann ist es ein gerechter Staat. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß diese Sätze sich voll verwirklichen lassen. Aber ich betrachte sie als das Ziel an dem wir alle staatsrechtliche Gestaltung messen müssen. Grob ausgedrückt kann man sagen, dass ich drei Ansichten des heutigen Staates beseitigen will: Furcht, Macht und Glaube, soweit sie nicht von den einzelnen Staatsbürgern abgeleitet sind. Nichts davon lässt sich voll verwirklichen: die Furcht ist notwendig, um den inneren Frieden zu wahren, die Macht, um den äußeren Frieden zu wahren, der Glaube, um das Herz des Staatsdieners zu beteiligen und ihm die nötige Antriebskraft zu geben, die nur wenige Menschen aus der Vernunft schöpfen können. Trotzdem sind das Kompromisse, die im Interesse der praktischen Wirksamkeit gemacht werden müssen, aber nicht Dauererscheinungen, die eine innere Berechtigung haben. Damit komme ich zu dem Kernpunkt, den ich daraufhin klären möchte, ob zwischen uns eine Meinungsverschiedenheit in der Grundlage besteht oder nicht: Ihre ‚Hypothek’ ist ein solcher Kompromiß, ein Zugeständnis an die Wirklichkeit, welche man so klein halten muß wie eben möglich und an dessen Verringerung durch geeignete Erziehung – der Kinder wieder Erwachsenen – man arbeiten muß. Der Staat, den wir bestenfalls erwarten können, wird mit einer sehr schweren Hypothek auf den Einzelnen anfangen, und es wird die Aufgabe sein müssen, diese Hypothek so schnell wie möglich abzutragen. […]
Quelle Nr. 5.3b Brief von Peter Graf Yorck von Wartenburg an Helmuth James Graf von Moltke vom 7. Juli 19407 […] Aus den drei negativen Bestimmungen der Aufgabe des Staates resumieren (sic!) Sie seine positiven Aufgaben dahin, Hüter der Freiheit des Einzelmenschen zu sein. Der Freiheitsbegriff ist nun soviel Wandlungen unterworfen gewesen, daß es der Klarstellung bedarf, in welchem Sinne er an dieser Stelle gebraucht wird. Mir scheint, dass ich ihn in ihren Worten finden soll, der Einzelmensch solle voller Sicherheit und ohne Schaden für seine Nächsten leben und handeln können. Damit wird diese Freiheit einem ethischen Postulat unterstellt, das auf die Gemeinschaft und wieder auf den Staat hinweist. Diese Rückbezogenheit von Einzelmensch und Gemeinschaft scheint mir bei der Erörterung das Wesentliche und in ihr liegt die Kumulation von Recht und Pflicht, die ich in dem Gespräch als Hypothek auf dem Einzelmenschen bezeichnete. Ich wollte damit die Freiheit für sich selbst umwerten zu der Freiheit für die Anderen, die nach meinem Dafürhalten nur
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die Grundlage staatlichen Lebens sein kann. Ich wollte zum Ausdruck bringen, daß die Zeit der Bedrängnis, die trotz der äußeren Erfolge kommen wird, die Pflicht zum gemeinnützigen Handeln, zum „Dienen“ besonders hervortreten lassen wird. Doch das geschieht im Rahmen der Reichsidee, wonach die objektive staatliche und rechtliche Ordnung zugleich ein persönliches Rechtsgut des Einzelnen ist, der nicht der politischen Willkür des allgewaltigen Staates ausgeliefert sein darf, demgegenüber sich der Staat vielmehr auch in dem Verhältnis von Pflicht und Recht befindet. Ein Zweites Wesentliches gilt es noch zu beachten, daß nämlich Recht und Sittlichkeit untrennbar zusammengehören und auch der Staatswille sich der Sittlichkeit beugen muß. Der Wahre Inhalt des Staates ergibt sich mir nur dort, wo er als Trieb göttlicher Ordnung den Menschen erscheint und von ihnen empfunden wird. Deshalb liegt es mir näher, seine Bestimmung positiv zu betrachten und nicht aus der Tyrannis heraus negativ zu entwickeln. […]
Literatur Bleistein, Roman (Hg.), Dossier: Kreisauer Kreis – Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1987 Brakelmann, Günter, Der Kreisauer Kreis, in: Steinbach, Peter; Tuchel, Johannes (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Bonn 2004, S. 358-374 Oppen, Beate Ruhm von (Hg.), Helmuth James von Moltke, Briefe an Freya 1939-1945, München 1995 Roon, Ger van, Neuordnung im Widerstand. Der Kreisauer Kreis innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung, München 1967 Winterhager, Wilhelm Ernst, Der Kreisauer Kreis – Porträt einer Widerstandsgruppe, Berlin 1985
DIE ILLUSION DER EUROPÄISCHEN KOLLABORATION. MARSCHALL PÉTAIN UND DER ENTSCHLUSS ZUR ZUSAMMENARBEIT MIT DEM NATIONALSOZIALISTISCHEN DEUTSCHLAND 19401 Von Dieter Gosewinkel Im Herbst 1940 hielten die Armeen des nationalsozialistischen Deutschen Reiches große Teile des europäischen Kontinents besetzt. Der Sieg über Frankreich im Juni 1940 schaltete die letzte gegnerische Großmacht auf dem europäischen Kontinent aus, denn mit der Sowjetunion teilte das Reich einvernehmlich das besetzte Polen. Auch das nationalsozialistische Regime begann zu dieser Zeit Pläne für die Neuordnung Europas zu entwerfen, ein Europa unter nationalsozialistischer Hegemonie. Mehrere Varianten der Hegemonie standen zur Diskussion: direkte, territorial und militärisch ausgeübte Herrschaft oder indirekte Dominanz, die befreundete Regime möglichst in Form von Satellitenstaaten errichten und unter dem politischen Einfluss des Deutschen Reiches halten sollte. Den zweiten Weg, den „Weg der Kollaboration“, beschritten am 24. Oktober 1940 die Regierungen Frankreichs und des Deutschen Reiches. Der französische Staatschef Marschall Philippe Pétain und der Reichskanzler Adolf Hitler verabredeten in einer Unterredung die Kollaboration: Die im Folgenden abgedruckte Rede Pétains, die „Botschaft vom 30. Oktober 1940“, betraf das Treffen mit Hitler in Montoire und informierte die französische Bevölkerung über einen Sachverhalt, der viele in politische Aufregung versetzt hatte. War tatsächlich die Zusammenarbeit mit dem Erbfeind mehrerer Jahrhunderte beschlossen worden, mit der Okkupationsmacht, die seit Juli 1940 das überwiegende Territorium Frankreichs militärisch besetzt hielt und den französischen Rumpfstaat politisch kontrollierte? Pétain sah sich zweifellos in der schwierigen Lage, die Bevölkerung seines Landes, das militärisch und politisch gespalten war, vom Nutzen der Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht zu überzeugen. Er wählte dazu das Mittel einer Radiobotschaft, die am Spätnachmittag des 30. Oktober 1940 in der „zone libre“, dem verbliebenen französischen Staatsgebiet, ausgestrahlt wurde. Trotz ihrer Wichtigkeit drangen die den Botschaften Pétains allein vorbehaltenen Rundfunkmitteilungen jedoch kaum über die „zone libre“ hinaus, denn die Reichweite der Rundfunkanstalten war aufgrund der Waffenstillstandsbedingungen der deutschen Besatzungsmacht beschränkt. Die Regierung von Vichy ließ deshalb binnen zweier Wochen eine Million gedruckter Exemplare der Rede auch in der besetzten Zone verteilen und eine Schallplattenversion verkaufen. Neue Quellenforschungen belegen, dass die von Pétain verlesenen Reden inhaltlich weitgehend von ihm selbst geschrieben waren, obschon eine große Gruppe von Beratern und Politikern immer wieder auf Formulierungen der Redeentwürfe redaktionell Einfluss nahm. Wie der Vergleich mit dem Manuskript zeigt, versuchte Pétain im gesprochenen Wort die Härte der ursprünglichen Situationsbeschreibung abzumildern, um —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 5.4, Pétains Erklärung zur „Kollaboration“ vom 30. Oktober 1940.
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zugleich seinen Führungsanspruch als alleiniger „Chef“ des Staates zu unterstreichen. Die Rede fand sehr große Beachtung, wie zahlreiche Berichte belegen. Wie bedeutend sie dem Vichy-Regime erschien, zeigt sich daran, dass sie unter erheblichen Anstrengungen mithilfe der zu der Zeit zur Verfügung stehenden modernen Technik verbreitet werden sollte. Die Ausstrahlung als Rundfunksendung unterstrich sowohl den Anspruch auf Authentizität als auch persönliche Führungskraft, mit der Pétain seine neue Politik der Kollaboration dem zweifelnden französischen Volk nahe bringen wollte. Pétain genoss zu diesem Zeitpunkt großes Vertrauen in der französischen Bevölkerung. Der greise Marschall, Sieger der Schlacht von Verdun, galt als nationaler Held. Nach der Niederlage gegen die Wehrmacht hatte es daher auch die Mehrheit der Franzosen gebilligt, dass er im Juli 1940 die geschwächte Dritte Republik durch ein autoritäres Regime ersetzte, das nun die konservativen Werte von „Arbeit, Familie, Vaterland“ gegen Liberalismus, Parlamentarismus und Sozialismus auf die politische Tagesordnung setzte. Pétain vereinigte als „Chef de l’État Français“ in seiner Person eine nahezu absolute Führungsmacht, die durch keine Verfassung und kein Parlament beschränkt war. Unter seiner Führung verkörperte jetzt auch der französische Staat den Typus des autoritären Regimes, der in einer konservativen Revolution gegen die Werte der französischen Revolution seit den Machtantritten Mussolinis 1922 und Hitlers 1933 immer weitere Teile Europas erfasst hatte Indem er zum Abschluss seiner Rede den begütigenden Ton des weisen „Vater(s)“ in den Anweisungsstil des „Chefs“ umschlagen ließ, warf Pétain das gesamte Gewicht seiner Machtfülle in die Waagschale. Gefangen in dem Dilemma zwischen seinem ausgeprägten Nationalbewusstsein einerseits und seiner politisch-ideologischen Nähe zum Nationalsozialismus andererseits stellte Pétain den Appell an die Würde Frankreichs sowie den ausgesprochenen Wunsch nach seinem Wiedererstarken gleich an den Anfang seiner Rede. Erst auf dieser Grundlage konnte er die geplante Kollaboration rechtfertigen und Glaubwürdigkeit für seine Behauptung beanspruchen, die Verabredung mit dem Führer entspringe keinem „Diktat“. Der Opposition gegen die Kollaboration billigte Pétain so auch noble Motive zu, warnte sie aber zugleich vor blinder Hartnäckigkeit und falscher Prinzipienfestigkeit. Dagegen betonte er die bald zu erwartenden Vorteile der Kollaboration: die verbesserte Lage der französischen Kriegsgefangenen, die das Deutsche Reich zur Arbeit in seinen Rüstungsbetrieben zwang; die Minderung der außerordentlich hohen Besatzungskosten, die Frankreich zum Objekt wirtschaftlicher Ausbeutung machten und ein zentrales Motiv für die wirtschaftliche Kollaboration darstellten; schließlich die größere Durchlässigkeit zwischen den Zonen in die Frankreich wirtschaftlich und politisch zerrissen war. Im Gegenzug verlangte Pétain von den Franzosen, was auch die deutsche Besatzungsmacht von ihm erwartete: dass die Kollaboration aufrichtig und ohne Feindseligkeit verlief. Welchen Gewinn konnte Pétain dafür den tief verunsicherten Franzosen versprechen? – Zunächst vor allem die Aussicht, die Souveränität und Einheit Frankreichs aufrechtzuerhalten, die seit „zehn Jahrhunderten“ bestand und die das Sanktuarium des französischen Nationalbewusstseins darstellte. Um dieses religiös aufgeladene Allerheiligste Frankreichs zu retten, suchte Pétain institutionellen Rückhalt „im Rahmen einer neuen Ordnung Europas“. Pétain war sehr wohl bewusst, dass die Souveränität Frankreichs prekär bleiben würde, zumal sie von zwei Seiten zugleich bedroht war: zum einen von der deutschen Besatzungsmacht, die kraft der Waffenstillstandsbedingungen und ihres militärischen Übergewichts die faktische Herrschaft auf französischem Territorium besaß bzw. jeder-
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zeit vollständig herstellen konnte; zum anderen aber auch von der französischen Opposition, der Résistance um Charles de Gaulle, der am 18. Juni 1940 gegen das PétainRegime zum bewaffneten Widerstand aufgerufen hatte. In dieser schwierigen Lage, die durch die deutsche Hegemonie sowie zugleich durch die innere Spaltung Frankreichs geprägt war, konnte nur eine Neuordnung Europas einen „Rahmen“ abgeben. Idealerweise sollte dieser Rahmen die deutsche Hegemonialmacht dazu bringen, sich selbst zu binden sowie verbündeten Regimen – zumindest teilweise – Souveränität garantieren und sie damit auch an der Herrschaft in Europa teilhaben lassen. Pétain griff damit einen Gedanken auf, der seit dem Sommer 1940 auf deutscher wie auch französischer Seite zunehmend eine Rolle spielte, denn die strategischen Planer in deutschen Regierungs- (und Militärkreisen) mussten gerade in den Septembertagen 1940 erkennen, dass die deutsche Herrschaft über den europäischen Kontinent zwar umfassend, aber keineswegs gesichert war. England war unbesiegt, und der von Hitler umworbene spanische Diktator Franco wahrte seine Neutralität. Aus der Sicht des Reiches erschien es daher nützlich, die Truppen des französischen Staates, die sich als loyal im Kampf gegen de Gaulle erwiesen hatten, bei der Sicherung der deutschen Herrschaft im Mittelmeerraum einzusetzen – und so spielte Pétain genau darauf auch in seinem Hinweis auf „unsere Seeleute“ an. Die französische Kollaboration war nicht einheitlich, die ihr zugrunde liegenden verschiedenen Strömungen verband jedoch eine Reihe von Motiven: Zum einen bestand eine starke nationale Tendenz, die ihr vornehmliches Ziel darin sah, die Einheit und Souveränität Frankreichs zu erhalten. Pétain selbst stand für diese Richtung und forcierte sie in seiner Botschaft. Daneben existierte eine Linie, die vor allem von Pierre Laval, dem Ministerpräsidenten, und einer Gruppe jüngerer Funktionäre, Politiker und politischer Berater angeführt wurde. Diese Gruppierung trat für eine stärker deutsche, „nordiste“ genannte Position ein. Sie nahm eine deutsche Herrschaft über große Teile Europas nicht nur hin, sondern befürwortete sie sogar ausdrücklich und stritt dabei für eine angemessenere Rolle Frankreichs in der gewünschten engen Zusammenarbeit mit dem Deutschen Reich. Viele Mitglieder dieser Gruppe waren durch die europapolitischen Gruppierungen sowie die Initiativen zu einer deutsch-französischen Verständigung der Zwischenkriegszeit geprägt, in der der deutsche Botschafter in Paris, Otto Abetz, zu einer Zentralfigur in einem Netzwerk intellektueller und künstlerischer Kollaboration wurde, die auf ideologische Affinität gründete. Die französischen Kollaborationsgruppen vertraten daher – im Unterschied zu anderen Kollaborateuren im besetzten Europa – eine betont „europäische“ Ausrichtung. Sie lehnten eine territoriale und politische Einfügung Frankreichs in das Deutsche Reich ab und sahen die Selbständigkeit ihres Landes am ehesten in einer europäischen Ordnung gesichert. Die Motive französischer Intellektueller, Funktionäre und Politiker, gerade im totalitären Deutschen Reich den Geburtshelfer und Schutzherrn eines „neuen Europa“ zu sehen, sind vielschichtig und für gegenwärtige Historiker oftmals schwer nachvollziehbar. Zeitgenössische und spätere Analysen sind dieser Haltung des kollaborierenden „Europäismus“ mit scharfer Kritik begegnet: Sie warfen zum Beispiel Schriftstellern wie Drieu la Rochelle, Abel Bonnard und Robert Brasillach sowie den Politikern um Pierre Laval, Marcel Déat und Yves Bouthillier Defätismus gegenüber der militärischen Übermacht Deutschlands vor und hielten ihnen ihr Taktieren um politisch einflussreiche Posten oder ihren schlichten Zynismus entgegen – eine Kritik, die in vielerlei Hinsicht
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den Motiven der Betroffenen entspricht. Unübersehbar ist andererseits, dass der Aufbruch des „Europäismus“ unter französischen Intellektuellen seit dem Sommer 1940 keine bloße ad-hoc-Konstruktion oder blanker Opportunismus gegenüber dem propagandistischen Werben der deutschen Besatzungsmacht war. So wurde zwar die Verkündung eines „europäischen“ Plans durch den Reichswirtschaftsminister Walther Funk am 25. Juli 1940 begrüßt, der nun den Übergang vom Reich der Phantasie in die Welt der Tatsachen einer neuen europäischen Wirtschafts- und Raumordnung versprach. Viel mehr als diese kurzfristigen Beteuerungen waren hingegen andere ideelle Wurzeln bestimmend, insbesondere das Denken in dem Modell eines „Dritten Weges“ zwischen Liberalismus und Sozialismus. Der Europagedanke der Zwischenkriegszeit hatte für viele Intellektuelle und Politiker gerade daraus seine Anziehungskraft bezogen, dass er föderative Lösungen jenseits der überkommenen politischen Denkmuster verhieß. Jenseits des Nationalstaats mit seinen scharfen Abgrenzungen und kriegerischen Souveränitätskonflikten, jenseits der liberalen und demokratischen Systeme, die die politische Entscheidungskraft aufsplitterten, jenseits auch des Sozialismus, der die schöpferische Kraft des Einzelnen lähmte, sollte, so die Vision, die Einigung „Europas“ die Brücke zu einer friedlichen, wohlgeplanten und wirtschaftlich erfolgreichen Zukunft schlagen. Unter dem Dach eines so konstruierten „neuen Europa“ trafen sehr verschiedene politische Strömungen und Motive zusammen: neben Pazifisten und ehemaligen Sozialisten standen autoritäre, dem Totalitarismus des NS-Regimes zuneigende Richtungen und neben Denkern des Föderalismus in der Tradition Aristide Briands befanden sich Visionäre einer technokratisch-rationalen Denkweise, die Europa als eine planbare Konstruktion voranbringen wollten. Ihnen gemeinsam war die Erwartung, dass der Sieg des nationalsozialistischen Reiches über die Dritte Republik nicht das Ende, sondern der Beginn der Hoffnung auf eine seit langem erstrebte politische Neuordnung war, die die Grenzen des französischen Nationalstaats deutlich überschritt. Pétains Hinweis auf eine „neue europäische Ordnung“ enthielt eine Konzession an diese Richtung. Wie aber verhielt sich die von Pétain angebotene Einfügung Frankreichs in eine „neue europäische Ordnung“ unter nationalsozialistischer Führung zu der beanspruchten Souveränität Frankreichs als politischer Einheit? Hier öffnet sich ein Riss in der Argumentation Pétains, hinter dem ein ganzes Tableau immanenter Widersprüche, einseitiger Erwartungen und absehbarer politischer Enttäuschungen sichtbar wird. Das Ziel, das souveräne Frankreich aufrechtzuerhalten, war nach hergebrachten staatsrechtlichen Begriffen nicht oder nur schwer damit vereinbar. Während die überzeugten kollaborationsbereiten Europäer gerade die nationalstaatlichen Grenzen überwinden wollten, strebte Pétains „Nationale Revolution“ auf eine innere Veränderung Frankreichs hin, das damit um so wirksamer seine Eigenständigkeit verteidigen und zugleich in einer zwischenstaatlichen Kollaboration beweisen sollte. Aber diese Vorstellung von Kollaboration als Kooperation auf gleicher Ebene beruhte auf einer Täuschung. Sie täuschte sich über die Interessenlage der deutschen und den Handlungsspielraum der französischen Seite. Die Führung des Deutschen Reiches verfügte aufgrund des Waffenstillstandsabkommens über genügende Handhabe, um den verbleibenden französischen Staat zu loyaler Mitarbeit zu zwingen. Sie kontrollierte die Gesetzgebung und Besetzung der öffentlichen Spitzenämter in ganz Frankreich, konnte jederzeit den Waffenstillstand kündigen oder auch jederzeit die „zone libre“ unter militärischen Druck setzen und aushungern. Das Interesse des Reiches ging dahin, mit Hilfe französi-
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scher Behörden vor allem jene unliebsamen Maßnahmen reibungsloser durchzusetzen, die im deutschen Interesse geboten schienen. An eine „loyale“ Kollaboration war von deutscher Seite nicht gedacht. Dies zeigte sich bereits einen Monat nach der Zusammenkunft von Montoire, als die deutsche Besatzungsmacht mehrere hunderttausend Franzosen aus der annektierten Zone Lothringen auswies und damit großen Unmut über das Kollaborationsregime Pétains in der französischen Bevölkerung auslöste. Auch eine „neue Ordnung Europas“, in der Frankreich oder französische Politiker eine nennenswerte Rolle hätten spielen sollen, entsprach weder den Planungen noch den Interessen der deutschen Führung. Hitler stellte die „Falle der formalen Souveränität“ (Marc Olivier Baruch), um den französischen Staat unter dem Schein der Staatskollaboration wirksamer für die eigenen Zwecke einzuspannen. Die Botschaft Pétains vom 30. Oktober 1940 dokumentiert mithin eine Erwartung, die in mehrfacher Hinsicht scheiterte: Die Hoffnung auf loyale Kollaboration zwischen dem besetzenden und dem besetzten Staat zerschlug sich rasch, da sie in ihrer Grundanlage von einer Form der Gleichberechtigung ausging, die niemals im Interesse des Deutschen Reiches lag. Die hochgespannten Erwartungen der ‚Europäer’ in den Kreisen der Kollaboration scheiterten ebenfalls. Dies lag nicht nur an ihren widersprüchlichen Vorstellungen hinsichtlich der Mittel der Kollaboration, sondern auch an der Grundanlage des nationalsozialistischen Systems, das auf Homogenität und nicht auf föderale Vielfalt, auf Unterordnung und nicht auf Teilhabe an einem gemeinsam zu gestaltenden Ganzen hin angelegt war. Und dennoch hat das Dokument eine bleibende Wirkung entfaltet. Es wirkte zunächst begriffsprägend. „Kollaboration“ ist seit der „Botschaft vom 30.10.1940“ endgültig ein politischer Begriff. Von der Bezeichnung des spezifischen Falls Frankreich ist dieser zum Gattungsbegriff für alle Regime besetzter Länder aufgestiegen, die während des Zweiten Weltkriegs und in dessen Folge mit einer Besatzungsmacht kooperierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg überwog diese politische Semantik so sehr, dass die allgemeine Bedeutung des Wortes zeitweilig dahinter zurücktrat. Schließlich zeugt Pétains Botschaft im Kontext der Publizistik ihrer Zeit aber auch von einem Strang des europäischen Einigungsdenkens, der heute vielfach unterschätzt oder sogar übergangen wird. Die „neue europäische Ordnung“ im nationalsozialistisch beherrschten Großraum sollte nach Auffassung ihrer Protagonisten keine liberale und demokratische sein. Ungeachtet aller politischen Naivität und allen Opportunismus, die in dieser Vorstellung mitschwangen, war sie jedoch eine Spielart europäischen Denkens, die in der Europabewegung der Zwischenkriegszeit wurzelte und unter gänzlich anderen politischen Vorzeichen nach 1945 zum Durchbruch kommen sollte.
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Quelle Nr. 5.4 Pétains Erklärung zur „Kollaboration“ vom 30. Oktober 19402 Franzosen, Ich habe am letzten Donnerstag den Kanzler des Deutschen Reiches getroffen. Diese Begegnung hat Hoffnungen geweckt und Besorgnis hervorgerufen. Ich schulde Ihnen dazu einige Erklärungen. Eine solche Unterredung ist, vier Monate nach der Niederlage unserer Armeen nur möglich gewesen dank der Würde der Franzosen im Angesicht der Prüfung, dank der immensen Anstrengung des Wiederaufbaus, der sie sich gewidmet haben, dank des Heroismus unserer Seeleute, der Energie unserer Verwaltungsspitzen in den Kolonien, dank auch der Loyalität unserer eingeborenen Bevölkerung. Frankreich hat sich wieder gefasst. Diese erste Begegnung zwischen dem Sieger und dem Besiegten zeigt, dass unser Land sich jetzt wieder aufrichtet. Ich bin aus freiem Entschluss der Einladung des Führers gefolgt. Ich habe von seiner Seite keinerlei „Diktat“, keinerlei Druck erfahren. Eine Kollaboration zwischen unseren beiden Ländern ist ins Auge gefasst worden. Ich habe dies dem Grunde nach akzeptiert. Die Modalitäten werden später diskutiert werden. All denjenigen, die heute das Wohl Frankreichs erwarten, sage ich, dass das Wohl Frankreichs vor allem in unseren Händen liegt. All denjenigen, die sich aufgrund ehrenwerter Skrupel von unserem Denken entfernen könnten, will ich sagen, dass es die erste Pflicht jedes Franzosen ist, Vertrauen zu haben. All jene, die zweifeln, wie auch jene, die sich beharrlich verweigern, erinnere ich daran, dass die schönsten Eigenschaften wie Zurückhaltung und Stolz immer dann an Kraft zu verlieren drohen, wenn sie sich bis zum Äußersten versteifen. Derjenige, der das Schicksal Frankreichs in die Hand genommen hat, hat die Pflicht, eine möglichst gute Atmosphäre herzustellen, um die Interessen unseres Landes zu wahren. Ich betrete in Ehren den Weg der Kollaboration, um die Einheit Frankreichs zu erhalten – eine Einheit von zehn Jahrhunderten – und dies geschieht im Rahmen des Aufbaus einer neuen europäischen Ordnung. Schon in naher Zukunft könnte so das Gewicht der Leiden unseres Landes gemindert, das Schicksal unserer Kriegsgefangenen gemildert und die Last der Besatzungskosten erleichtert werden. Auch die Demarkationslinie könnte so durchlässiger, die Verwaltung und Ernährung des Gebiets erleichtert werden. Diese Kollaboration muss aufrichtig sein. Sie muss jedes aggressive Denken ausschließen. Sie muss von einer geduldigen und vertrauensvollen Bemühung getragen werden. Der Waffenstillstand ist im Übrigen kein Friedensschluss. Frankreich ist durch zahlreiche Verpflichtungen gegenüber dem Sieger gebunden. Zumindest [aber] bleibt es souverän. Diese Souveränität verpflichtet es, seinen Boden zu verteidigen, die Meinungsverschiedenheiten beizulegen und den Abfall seiner Kolonien zu mindern. Dies ist meine Politik. Die Minister sind nur mir gegenüber verantwortlich. Über mich allein wird die Geschichte richten.
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Marschall Philippe Pétain, Botschaft vom 30. Oktober 1940, in: Barbas, Jean-Claude (Hg.), Philippe Pétain, Discours aux Français 17 juin 1940 – 20 août 1944, Paris 1989, S. 94-96; aus dem Französischen von Dieter Gosewinkel. Die im nachfolgenden Text kursiv hervorgehobenen Passagen sind im Original der Quelle fett gesetzt.
Die Illusion der europäischen Kollaboration
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Ich habe bisher in der Sprache des Vaters zu Ihnen gesprochen. Heute rede ich zu Ihnen in der Sprache des Chefs. Folgen Sie mir. Bewahren Sie Ihr Vertrauen in das ewige Frankreich. [Transkription von Schallplattenaufnahmen aus der Sammlung Marschall Philippe Pétain]
Literatur Baruch, Marc Olivier, Das Vichy-Regime. Frankreich 1940-1944, Stuttgart 1999 Bruneteau, Bernard, “L’Europe nouvelle“ de Hitler. Une illusion des intellectuels de la France de Vichy, Monaco 2003 Burrin, Philippe, La France à l’heure allemande 1940 – 1944, Paris 1995 Cointet, Jean-Paul, Histoire de Vichy, Paris 2003 Delpla, François, Montoire. Les premiers jours de la collaboration, Paris 1996
INDIVIDUELLE SCHICKSALE VERFOLGTER IN MASSENQUELLEN DES 1 NATIONALSOZIALISTISCHEN DEUTSCHLAND Von Ruth Federspiel Die politisch erzwungene Emigration während des Nationalsozialismus ist in ihren Folgen eng mit der Frage individueller Mobilität verknüpft. Mittels Vermögensbeschlagnahme und Vermögensentzug gelang es der gut organisierten deutschen Bürokratie zu dieser Zeit, weit über ihren eigentlichen Einflussbereich hinaus, die Mobilität von rassisch oder politisch Verfolgten zu erzwingen. Im Westeuropa der dreißiger und vierziger Jahre betrafen diese Maßnahmen wahrscheinlich mehrere tausend Personen. Allgemeine quantifizierende Aussagen lassen sich dazu nicht machen, da anders als bei den klassischen historischen Mobilitätsstudien nicht allein eine Massenquelle ausgewertet werden kann, sondern diese auch mit zahlreichen individuellen Lebensverläufen von Emigranten verknüpft werden müsste. Auch wenn Verwaltungsvorgänge im Zentrum dieses Essays und der ausgewählten Quelle stehen, so betrifft er doch auch zwei individuelle Lebenswege. Die in der Quelle erwähnten Emigranten Ison und Gerda Rosenthal stehen exemplarisch für den Zugriff der Behörden auf den Besitz der jüdischen Bevölkerung, der in den überlieferten Akten zum Vermögensentzug zwischen 1933 und 1945 festgehalten ist. Schreiben wie der weiter unten abgedruckte, die Eheleute Ison und Gerda Rosenthal betreffende Brief gingen bei der beim Oberfinanzpräsidenten in Alt-Moabit angesiedelten Vermögensverwertungsstelle zahlreich ein. Sie finden sich in vielen der mehr als 40.000 allein in der Vermögensverwertungsstelle Berlin-Brandenburg angelegten Akten, die den legalisierten Raub jüdischen Vermögens bis hin zu dessen letzten Resten im Falle der deportierten Menschen akribisch festhalten.2 Es ist eine Massenquelle, die den heutigen Betrachter, aufgrund der ins Auge fallenden kühlen Verwaltungsroutine des Schreibens, nicht zuletzt mit der Frage nach der Bedeutung jener Emotionslosigkeit der modernen Bürokratie zurücklässt, die von Max Weber einst als hohes Gut dargestellt worden war.3 Der Absender „Geheime Staatspolizei“ assoziiert sofort die Zeit des Nationalsozialismus, der Adressat „Oberfinanzpräsident Berlin-Brandenburg“ klingt harmlos, auch —————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 5.5, Schreiben der GeStaPo Berlin an die „Vermögensverwertung-Stelle“ vom 8. Februar 1943. Die Akten der Vermögensverwertungsstelle Berlin-Brandenburg liegen heute im Brandenburgischen Landeshauptarchiv Potsdam [BLHA]. Zur Geschichte dieser Akten, die in allen Oberfinanzdirektionen des Deutschen Reiches entstanden, zu ihrer Nutzung für Restitutions- und Entschädigungsverfahren, ihrem anschließenden Verschluss und der erst seit wenigen Jahren in großem Stile begonnenen wissenschaftlichen Auswertung und Bearbeitung, vgl. Friedenberger, Martin; Gössel, KlausDieter; Schönknecht, Eberhard (Hg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumente, Bremen 2002, S. 7-9. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. revidierte Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972, S. 562f.
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die genauere Zuordnung „Vermögensverwertung-Stelle“ weckt noch keinen Verdacht. Der regt sich erst bei der Jahresangabe 1943 und den genannten Personen, deren Familienname mit dem Zusatz „Juden“ und den Zwangsvornamen „Sara“ und „Israel“ versehen ist, laut Schreiben fallen sie unter die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz. Im Folgenden wird klar, dass ein Zusammenhang zwischen dieser Verordnung und dem Zugriff auf das Vermögen des hier genannten Ehepaares Rosenthal besteht. Die genannten Eheleute Rosenthal lebten zum Zeitpunkt dieses Schreibens im Exil in London, sie waren 1938 aus Berlin emigriert, das im Schreiben der Gestapo aufgeführte Vermögen hatten sie zurücklassen müssen. Durch die 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 verloren alle deutschen Juden, die sich im Ausland aufhielten, die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Finanzbehörden erhielten mit der 11. Verordnung die verwaltungsrechtliche Grundlage für den legalen Vermögensentzug. Zunächst betraf dies alle Emigranten, denen die Staatsbürgerschaft noch nicht unter einem der möglichen Vorwände wie Steuerschulden, Devisenvergehen oder staatsfeindlichem Verhalten aberkannt worden war. Ihr Vermögen ging jetzt automatisch und nicht wie zuvor nach einem aufwändigen Einzelverfahren in den Besitz des Deutschen Reiches über. Nach dem Beginn der Deportationen sind auf der ‚Rechtsgrundlage‘ der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz dann auch die tausendfach anfallenden kläglichen Vermögensreste eingezogen und verwertet worden. Die Arbeitsteilung zwischen Gestapo und Finanzbehörden war dabei klar geregelt, die Gestapo stellte die Listen der Betroffenen zusammen, die Vermögensverwertungsstelle beim Oberfinanzpräsidenten wickelte den Vermögensentzug verwaltungsrechtlich korrekt ab. Auch wenn es Verfolgten gelang, dem Zugriff des NS-Regimes auf Leib und Leben zu entkommen, bedeutete das nicht, dem Zugriff der Verwaltung entkommen zu sein. Die moderne Verwaltung, die den Aufstieg Deutschlands zu einer der führenden Industrienationen begleitet hatte, war in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft ein wichtiges Instrument geworden, um Emigranten ihres Besitzes zu berauben.4 Am Beispiel der Eheleute Rosenthal lässt sich zeigen, wie die Enteignung der zumeist jüdischen Emigranten geregelt war und welch bürokratische Perfektion dabei zutage trat. Das abgebildete Dokument stand am Ende einer langen Reihe von finanzrechtlichen Vorgängen, die einzig dem Zweck dienten, möglichst viel Besitz von Emigranten in die Verfügungsgewalt des Staates zu bringen. Die wichtigste Einnahme bei vermögenden Emigranten war die Reichsfluchtsteuer, die mit 25 Prozent des fiskalisch ermittelten Vermögens zu Buche schlug. Diese Steuer ging auf die 1931 erlassene „4. Verordnung zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens“ zurück, ebenso die Maßnahmen der Devisenzwangsbewirtschaftung. Aus der wirtschaftlichen Notlage der Weimarer Republik entstanden, sollte die Steuer der Auswanderung und der damit verbundenen Abwanderung von Kapital entgegenwirken. In den Jahren nach 1933 ermöglichte die Reichs—————— 4
Die Rolle, die der perfekt organisierten Verwaltung bei der Ermordung der europäischen Juden zukam, soll hier nicht Thema sein, diese hat schon früh Hans Günther Adler herausgearbeitet, vgl. Ders., Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974. Auf der Suche nach einem Ansatz zur Erklärung des Holocaust hat Zygmunt Bauman, besonders die tragende Rolle der modernen Bürokratie betont, vgl. Ders., Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992.
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fluchtsteuer den legalen Zugriff auf das Vermögen der jüdischen Emigranten, deren Auswanderung ganz im Sinne der NS-Ideologie war. Ihrem ursprünglichen Zweck nach hätte die Steuer nun eigentlich abgemildert, wenn nicht sogar abgeschafft gehört. Doch schon im Mai 1934 hatte eine Gesetzesnovelle die Höhe des Vermögens, ab der die Steuer zu entrichten war, von 200.000 RM auf 50.000 RM gesenkt, im Falle hoher Einkommen verringerte sie den ursprünglich im Gesetz vorgesehenen Wert des Jahreseinkommens von mehr als 20.000 RM auf 5.000 RM. Die Reichsfluchtsteuer musste vor der Ausreise entrichtet werden, andernfalls wurde ein Steuersteckbrief veröffentlicht, in dem der Steuerpflichtige zur Fahndung ausgeschrieben wurde. Die Emigranten der ersten Fluchtwelle nach der Machtübernahme und den Märzwahlen mussten das Land meistens innerhalb kürzester Zeit verlassen, was eine geordnete Abwicklung ausschloss.5 Unbezahlte Reichsfluchtsteuer bot einen willkommenen Vorwand für die Beschlagnahme von Immobilienbesitz als Sicherungsleistung für die ausstehende Steuersumme. Als am 14. Juli 1933 das Gesetz über den „Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft“ erlassen wurde, bedeutete das für die zumeist prominenten Betroffenen zugleich den Verlust ihres in Deutschland verbliebenen Besitzes, da mit der Ausbürgerung der Vermögensentzug verknüpft war.6 Am 8. Oktober 1934 trat das Steueranpassungsgesetz in Kraft, das mit Paragraf 1 die nationalsozialistische Auslegung der Steuergesetze vorschrieb. Besondere Beachtung fanden dabei die Reichsfluchtsteuer und die Einhaltung der Zoll- und Devisengesetze, die 1934 drastisch verschärft wurden – es war Emigranten nun nicht gestattet, mehr als 10 RM in ausländischen Zahlungsmitteln aus Deutschland auszuführen.7 Die Folge war, dass es Emigranten auch nach Zahlung der Reichsfluchtsteuer nicht möglich war, ihr verbliebenes Vermögen ins Ausland mitzunehmen. Die sogenannte Devisenzwangsbewirtschaftung zwang sie, dieses auf ein „Auswanderersperrmark-Konto“ in Deutschland einzuzahlen, wobei der Verkauf der Sperrkonten-Mark gegen Devisen mit Kursverlusten bis zu 50 Prozent einherging und zudem genehmigungspflichtig war. Aus diesem Grund konnte die Gestapo 1943 noch Konten von Ison und Gerda Rosenthal mit einem Guthaben von über 10.000 RM beschlagnahmen. Wenn Einrichtungs- oder Kunstgegenstände ausgeführt werden sollten, so war darauf eine Abgabe zu bezahlen, die bei Anschaffungen nach dem 1. Januar 1933 dem Kaufpreis entsprach. Kunstobjekte und andere Wertgegenstände durften grundsätzlich nicht ausgeführt werden. Unter diesen Umständen waren viele Emigranten gezwungen, gerade die Teile ihres Besitzes zurückzulassen, die einen Neubeginn erleichtert hätten. —————— 5
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Friedenberger, Martin, Die Finanzverwaltung und die Vernichtung der deutschen Juden, in: Ders.; Gössel; Schönknecht (wie Anm. 2), S. 12-16. Zur Praxis der Besteuerung vgl. auch Blumberg, Gerd, Etappen der Verfolgung und Ausraubung und ihre bürokratische Apparatur, in: Kenkmann, Alfons; Rusinek, Bernd A. (Hg.), Verfolgung und Verwaltung. Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden, Münster 1999, S. 15-49, bes. S. 16f. Rechtsgrundlage für den Vermögensentzug waren dabei die Gesetze über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens und Einziehung kommunistischen Vermögens vom 14. Juli/26. Mai 1933. Vgl. Blumberg (wie Anm. 5), S. 18ff.
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Das Eigentum, das die Emigranten zurücklassen mussten, gehörte zunächst offiziell noch ihnen. Das „Gesetz über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft“ bot jedoch dem NS-Regime die Möglichkeit, dieses Besitzes habhaft zu werden. Zunächst war dieses Gesetz vorrangig auf die politisch missliebigen Emigranten gemünzt, deren Vermögen mit der Ausbürgerung „zugunsten des Deutschen Reiches verfiel“. Zuständig für die reichsweite Abwicklung war das Finanzamt Moabit-West, das, von der Gestapo über die beabsichtigte oder bereits erfolgte Ausbürgerung einer Person informiert, die Abwicklung des Vermögensentzuges präzise und arbeitsteilig betrieb. Ab 1936 kam es dann zu regelrechten Massenausbürgerungen jüdischer Emigranten, die damit ihr Vermögen an das Deutsche Reich verloren. Am Beispiel des emigrierten Ehepaares wird die Verschärfung der Situation sehr deutlich, denn nach den Bestimmungen von 1931 wäre der 1905 in Posen geborene Holzhändler Ison Rosenthal nicht zur Reichsfluchtsteuer veranlagt worden. Die Ermittlung seines Vermögens für 1935 ergab 26.000 RM, die allgemein gültige Vermögenssteuer in Höhe von 0,5 Prozent belief sich auf 130 RM. Seine Frau Gerda hatte für 1935 eine eigene Vermögenssteuererklärung abzugeben, da sie erst im Oktober 1935 geheiratet hatten. Die 1911 in Berlin geborene Gerda Katz besaß die Hälfte eines Grundstückes und einige Pfandbriefe und musste schließlich Vermögenssteuer von 10 RM jährlich entrichten. Als das Ehepaar im Jahr 1938 seine Auswanderung betrieb, hatte eine Vielzahl von Verordnungen und Gesetzen die Lebensverhältnisse der jüdischen Bevölkerung immer weiter eingeengt. Seit Frühjahr des Jahres verhandelte der Beauftragte für den Vierjahresplan Göring auf mehreren Konferenzen mit Vertretern der Wirtschaft über geeignete Maßnahmen zur zügigen Arisierung der noch verbliebenen jüdischen Unternehmen. Ein Ergebnis war die von Göring und Reichsinnenminister Frick erlassene „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“ vom 26. April 1938. Sie markierte einen wichtigen Einschnitt hinsichtlich der vollständigen Erfassung jüdischen Vermögens für die Betroffenen, da mit dieser Verordnung „die Substanz des jüdischen Vermögens bereits in die Verfügungsgewalt des Reiches über(ge)führt“ wurde.8 Am 29. Juni 1938 reichte Ison Rosenthal die Erklärung über sein Vermögen und das seiner Frau beim Polizeiamt Schöneberg-Wilmersdorf ein. Im Dezember 1938 zeigte Gerda Rosenthal eine Veränderung gegenüber Juni an. Sie teilte dem Polizeiamt mit, dass ihr Mann 15.000 RM aus dem Betriebsvermögen entnommen und auf ein Konto seiner Frau eingezahlt habe. Das Konto hatte die Zollfahndungsstelle „sichergestellt“. Weiter habe ihr Mann Kundenwechsel über 15.763 RM „bei der Bankfirma A.E. Wassermann zum Inkasso liegen“, diese hatte die Zollfahndungsstelle ebenfalls „sichergestellt“.9 Aus der Meldung ergab sich eine Verringerung des Vermögens von Ison Rosenthal auf 25.000 RM. Für den heutigen Leser verdeutlicht das Schreiben die finanzielle Bewegungsunfähigkeit der in Berlin zurückgebliebenen Ehefrau, die auf keines der Konten zurückgreifen konnte und damit nahezu mittellos Ende des Jahres nach London abreiste. Im November 1938 hatte das Finanzamt Schöneberg an Ison Rosenthal einen Reichsfluchtsteuerbescheid über 8.949 RM mit dem Vermerk geschickt, dass diese be—————— 8 9
Adler (wie Anm. 4), S. 493. Schreiben vom 6. Dezember 1938, BLHA Potsdam, Rep. 36a, Rosenthal, Bl. 17.
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reits in voller Höhe beglichen sei.10 Die Bezahlung der Reichsfluchtsteuer war die Voraussetzung, um die steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung zu beantragen, ohne die eine legale Ausreise nicht möglich war. Ison Rosenthal hatte seine Heimat am 20. Oktober 1938 verlassen, wie er den Neubeginn in London schaffte, ist nicht bekannt. Ein Viertel seines Vermögens hatte er für die Reichsfluchtsteuer aufgebracht, die von ihm freigemachten Barmittel waren beschlagnahmt und seiner Verfügungsgewalt entzogen. Gerda Rosenthal folgte ihrem Mann erst Ende Dezember 1938 und erlebte so noch unmittelbar die Festsetzung einer neuen Zwangsabgabe. Die Verfügungsgewalt des Reiches über das Vermögen der Rosenthals hatte sich bald nach der Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 offenbart, denn die wirtschaftliche Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung veränderte sich nun dramatisch. Ausgangspunkt dafür war die Konferenz vom 12. November 1938 im Reichsluftfahrtministerium, in deren Folge Göring noch am gleichen Tag drei Verordnungen erließ, deren erste die „Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit“ über eine Milliarde RM an das Deutsche Reich war. Bei einem Vermögen von mehr als 5.000 RM mussten 20 Prozent als so genannte Judenvermögensabgabe entrichtet werden.11 Da die Milliarde so noch nicht erreicht wurde, erhöhte der zuständige Minister Schwerin von Krosigk die Abgabe auf 25 Prozent, das Deutsche Reich nahm über 1,12 Milliarden ein. Auch in der Akte des Ehepaares Rosenthal ist die Berechnung der Judenvermögensabgabe festgehalten, die auf einem stigmatisierenden, für Finanzbeamte sofort zu erkennenden, gelben Formularbogen erfolgte. Im Fall von Gerda Rosenthal wies der Berechnungsbogen des Finanzamts Schöneberg zunächst 7.800, nach der Erhöhung auf 25 Prozent schließlich 9.750 RM aus. Vor ihrer Ausreise hatte sie zusätzlich Reichsfluchtsteuer bezahlt, somit verlor sie innerhalb kürzester Zeit die Hälfte ihres Vermögens an das Deutsche Reich. Anfang Januar 1939 teilte Gerda Rosenthal dem Finanzamt Schöneberg per Postkarte mit, dass sie ausgereist sei. Ison Rosenthal war zwar noch vor der Pogromnacht außer Landes gegangen, was ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit vor der Verschleppung in eines der Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald oder Dachau bewahrte, da er aber noch als deutscher Staatsbürger galt, wurde er zur Zahlung von 6.250 RM Judenvermögensabgabe herangezogen. Die Berechnung nahm Ende 1938 das für Emigranten zuständige Finanzamt Moabit-West vor, die Bezahlung erfolgte aus den Guthaben der „sichergestellten“ Konten. Aus dem Vermögen der Rosenthals scheint letztlich kaum etwas übrig geblieben zu sein. Was das für ihr Leben in der Emigration tatsächlich bedeutete, dies lässt sich nur erahnen. In jedem Fall verdeutlicht das Beispiel der Rosenthals aber, wie unter der Herrschaft des Nationalsozialismus im Zusammenhang mit der politischen Emigration aus Deutschland individuelle Mobilität in einer Vielzahl von Fällen erzwungen wurde. —————— 10 BLHA Potsdam, Rep. 36a, Rosenthal. Der Bescheid und andere Dokumente aus der Akte sind abgebildet in: Verfolgung und Verwaltung. Die Rolle der Finanzbehörden bei der wirtschaftlichen Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung in Berlin. Dokumentation einer Ausstellung im Haus am Kleistpark, hg. von der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz und dem Haus am Kleistpark, Berlin 2003, S. 117f. 11 Ausführlich zur Konferenz ebd., S. 69-80.
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Quelle Nr. 5.5 Schreiben der GeStaPo Berlin an die „Vermögensverwertung-Stelle“ vom 8. Februar 194312 Geheime Staatspolizei Staatspolizeileitstelle Berlin An den Herrn Oberfinanzpräsidenten Berlin-Brandenburg „Vermögensverwertung-Stelle“ Berlin NW 40 Alt Moabit
Berlin, den 8.2.1943
Betrifft: Juden Ison Israel Rosenthal, 25.9.05 Posen geb., und Ehefrau Gerda Sara, geb. Katz, 9.2.11 Grunewald zul. whg. in Berlin-Schöneberg, Bamberger Str. 47 Die Obengenannten fallen unter die Bestimmung der Elften Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25.11.41. Für den Ehemann habe ich bei dem Bankhaus Heinz von Tecklenburg und Co, Berlin W 8, Wilhelmplatz 7, ein Konto in Höhe von 7655.- RM beschlagnahmt. Die Ehefrau besitzt folgende Vermögenswerte: ¼ Anteil an dem Nachlass ihrer Mutter, Frau Betty Sara Katz, geb. Stelitz. Zu dem Nachlass gehört das Grundstück in Märkisch-Rietz, Krs. Beeskow, bei Storkow. Es handelt sich um eine Gärtnerei. Das Grundstück ist eingetragen im Grundbuch von Märkisch-Rietz, Band 2, Blatt 67. Verwalter ist Hans May in Beeskow. bei der Commerzbank, Depositenkasse AB, ein Konto in Höhe von 2674.- RM Die Feststellung nach § 8 der obigen Verordnung habe ich beim Chef der Sicherheitspolizei und des SD. beantragt. Ich bitte, die Verwaltung der angegebenen Vermögenswerte zu übernehmen, jedoch die Verwertung bis zum Eingang der Verfallerklärung seitens des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD. zurückzustellen. Meine Akten habe ich geschlossen. Im Auftrage: [Unterschrift – nicht lesbar]
Literatur Bauman, Zygmunt, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992 Friedenberger, Martin; Gössel, Klaus-Dieter; Schönknecht, Eberhard (Hg.), Die Reichsfinanzverwaltung im Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumente, Bremen 2002 Voß, Reimer, Steuern im Dritten Reich. Vom Recht zum Unrecht unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, München 1995
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Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 36a, Rosenthal.
HOFFNUNGEN IM HERBST 1956: UNGARN HAT ÜBER DIE SOWJETISCHEN TRUPPEN 1 UND DAS EIGENE TERRORREGIME GESIEGT Von Hartmut Zwahr Dem nachstehenden Text vom 30. Oktober 1956 begegne ich gleichsam mit doppeltem Blick, dem eigenen, denn ich bin der Verfasser, sowie dem des Historikers auf vergessene Notizen, die ich im vorigen Jahr wiederfand. Ich kenne die Personen, den Ort, die Verhältnisse, die in sie hineinspielenden sorbischen Umstände2, aber aus dem Gedächtnis könnte ich das Geschehen, das diese Quelle festhält, seine Spezifik und die damit verbundenen Reflexionen nicht rekonstruieren. Das Eigene erscheint inzwischen als das fast völlig Fremde. Ich habe Distanz und Tendenz mit den Mitteln der historischen Methode3 zu überwinden. Die Hartmut Kaelble gewidmete Festschrift fragt nach Europa, und im Lichte der seit dem 1. Mai 2004 um zehn neue Mitgliedsländer, Estland, Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische Republik, die Slowakei, Ungarn, Slowenien, Malta und Zypern, erweiterten Europäischen Union zeigt sich die Einzigartigkeit des europäischen Experiments. Ich erörtere es im Lichte jenes Geschehens, das im Text vom 30. Oktober 1956 reflektiert wird. Die wesentlichen Errungenschaften der europäischen Einigung sind: Frieden statt Krieg, Demokratie statt Diktatur und Unterdrückung, Wohlstand statt Armut. „Wir haben uns frei vereinigt. Wir handeln im Geist der Kooperation und der Solidarität. Wir arbeiten zusammen für gemeinsame Ziele in Institutionen, die es sonst nirgendwo gibt.“4 Der Text aus dem Jahr 1956 zeigt einen Aspekt des weiten historischen Kräftefeldes der in der Ära des Kalten Krieges geteilten Welt, verbunden durch das Ereignis der ungarischen Revolution: die Sowjetunion (Moskau) als Besatzungsmacht, Polen (Warschau), Ungarn (Budapest), die DDR (Leipzig, Berlin (Ost), Potsdam), am Rande Rumänien, auf der anderen Seite Berlin (West), die Bundesrepublik Deutschland (Bonn), das neutralisierte Österreich. Die studentische Solidarität mit Ungarn, am Beispiel von Leipzig, steht für den langen Weg nach Westen.5 Für Polen und Ungarn wurde —————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 5.6, Niederschrift des Leipziger Studenten Hartmut Zwahr vom 30. Oktober 1956. Die sorbischen Studierenden waren im Hochschulverband der Domowina zusammengefasst. Eine biographische Arbeit über Paul Nedo, den Volkskundler und Sorabisten am Sorbischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig, gibt Einblick in sorbische Zusammenhänge. Vgl. Bresan, Annett, Pawoł Nedo 1908-1984. Ein biographischer Beitrag zur sorbischen Geschichte, Bautzen 2002. Vgl. Hüttenberger, Peter, Überlegungen zur Theorie der Quelle, in: Rusinek, Bernd A.; Ackermann, Volker; Engelbrecht, Jörg (Hg.): Einführung in die Interpretation historischer Quellen. Schwerpunkt: Neuzeit, Paderborn 1992, S. 253-265. Der irische Ministerpräsident und amtierende Ratsvorsitzende der EU, Bertie Ahern, zit. nach: Von Portugal bis Estland: Die EU feiert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Mai 2004. Vgl. für das Jahr 1956 Winkler, Heinrich August, Der lange Weg nach Westen. Bd. 2: Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 187f.
Hoffnungen im Herbst 1956
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das Jahr 1956 zu einer tiefen Zäsur.6 In der DDR führte es zu innenpolitischen Spannungen und Erschütterungen besonders an Universitäten und Hochschulen. Genannt seien der sich am ungarischen Petöfi-Klub orientierende Ostberliner Jakobiner-Klub, Gruppen in Halle, Dresden und Jena, die zur politischen Aktion übergingen.7 Drei Jahre nach dem 17. Juni 19538 war die Furcht vor Bespitzelung („Wir müssen sehr vorsichtig sein.“) und Repression („keiner wagt den Anfang“; die Furcht vor der Straße) allgegenwärtig. Doch wird das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) nicht erwähnt, woraus ich schließe, dass der Begriff Stasi damals noch nicht in die Alltagssprache eingedrungen war. Der zur europäischen Vereinigung überleitende zentrale Sachverhalt besteht in der breiten grenzüberschreitenden Solidarität mit dem ungarischen Volksaufstand, aber auch in der Hinwendung zu Polen, sei es, dass die Akteure die sowjetische Besatzungsmacht einzuschränken (Polen) oder aufzuheben (Ungarn) suchten. Ungarn gab am 30. Oktober 1956 durch den vom Volk erzwungenen Abzug der sowjetischen Besatzungstruppen ein Signal, das auch die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands ins Blickfeld rückte, unverhofft zwar, vage, Tage später schon wieder undenkbar, aber in deutlicher Kontinuität zu den politischen Zielen des 17. Juni 1953. Die Berichterstattung über die Ereignisse in Ungarn wieder zeigt den Informationsfluss über das Radio von Deutschland West nach Deutschland Ost und von Österreich in die DDR. Die historische Quelle steht in einem weiten historischen Spannungsbogen. Er reicht von der beginnenden Entstalinisierung auf dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 zum „Gulaschkommunismus“ Kádárs, von Giereks moderater Führung zur Streikbewegung der Solidarność (1980), vom Kriegsrecht unter Marschall Jaruzelski in den 1980er Jahren zum parlamentarischen Machtwechsel in Polen. In Ungarn führte die anhaltende Liberalisierung im September 1989 zu der Entscheidung, den DDRFlüchtlingen die Grenze nach Österreich zu öffnen.9 Der Fall der Berliner Mauer war damit besiegelt. Er leitete zu einer demokratischen und nationalen Wiedervereinigungsrevolution über.10 Zu diesem Gesamtgeschehen gehört die bis heute ungetrübte Ungarnfreundschaft der DDR-Deutschen, die viele Gründe hat, beginnend mit dem Fußball der frühen Jahre, den „Ballkünstler“ wie Puskás und Hildegkuti vorführten, im „Spiel des —————— 6
Siehe auch Klimó, Árpád von, Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Nützenadel, Alexander; Schieder, Wolfgang (Hg.), Zeitgeschichte als Problem, Göttingen 2004, S. 283-306, bes. 303-306. 7 Dazu Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, 2. Aufl. Bonn 2000, S.129f. Die historische Forschung hat diesen Zeitabschnitt vernachlässigt; vgl. Heydemann, Günther, Die Innenpolitik der DDR, München 2003, S. 19f., S. 74f. 8 Vgl. Roth, Heidi, Der 17. Juni 1953 in Sachsen, Köln 1999; Zwahr, Hartmut, Drei Geschichten in einer, in: 17. Juni 1953. Ein Lesebuch, hg. von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Dresden 2003, S. 77-82. 9 Dazu Hertle, Hans-Hermann, Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SEDStaates, Opladen 1996, S. 91-109; Hefty, Georg Paul, Dann gingen sie durch. DDR-Flüchtlinge und die Malteser, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. August 2004. 10 Dazu Zwahr, Hartmut, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993, S. 136-164; Ders., Die 89er Revolution in der DDR, in: Wende, Peter (Hg.), Große Revolutionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2000, S. 366-373.
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Hartmut Zwahr
Jahrhunderts“ im Londoner Wembleystadion mit 6:3 gegen England, im Rückspiel am 23. Mai 1954 im Budapester Nepstadion sogar mit 7:1, zuletzt im Endspiel zur Fußballweltmeisterschaft gegen die deutsche Mannschaft, das die Ungarn verloren.11 In einer Umfrage zur EU-Osterweiterung im Februar 2004 sprachen sich 84 Prozent der Ostdeutschen für die Aufnahme Ungarns aus.12 Die Abwendung von der sowjetischen Hegemonialmacht verband die europäische reformkommunistische Bewegung in der Sache. Als die Warschauer Paktmächte 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten,13 scheiterte sie endgültig. Mehr als zwei Jahrzehnte danach ging die Sowjetunion in einem Reformprozess unter, den Gorbatschows Glasnost und Perestroika eingeleitet hatten. Inzwischen veränderte sich das Trennende, aber es ist geblieben und dauert im Verhältnis zu Russland über den Tag der EU-Erweiterung hinaus an. Quelle Nr. 5.6 Niederschrift des Leipziger Studenten Hartmut Zwahr vom 30. Oktober 195614 Ereignisreiche Tage liegen hinter und noch vor uns. Für viele waren sie Tage des politischen Lernens und der Neuorientierung. Man kann sagen, die studentische Jugend beginnt zu erwachen. Mehr und mehr zeigt sich, welche Bedeutung im eigenen Denken vieler liegt. Diskussionen, Diskussionen. Selbsterkenntnis folgt auf Selbsterkenntnis. „Die Theorie wird zur materiellen Gewalt, 15 wenn sie die Massen ergreift.“ So deutlich ist mir der Ausspruch von Karl Marx noch nie geworden, wie gerade in diesen Tagen. Jeder Student hört den Westfunk, österreichische Sendung und 16 auch Polen. Ob Genossen oder Parteilose, einerlei. „Es geht uns um Klarheit!“ Und trotzdem darf nicht vergessen werden, daß man bei uns jeden der Wortführer beobachten wird. Für die Erben des Stalinismus gibt es nur noch eine Parole – wo sich etwas Aufrührerisches zeigt, greifen wir zu. Was keiner von uns für möglich hielt, ist eingetreten. Ungarn hat über die sowjetischen Trup17 18 19 pen und das eigene Terrorregime gesiegt. Nagy erklärte heut die Abschaffung des Einparteien-
—————— 11 Zum so genannten „Wunder von Bern“ vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. April 2004. 12 Vier Jahre zuvor 74 Prozent. Umfrage des Leipziger Instituts für Marktforschung, in: Leipziger Volkszeitung, 9. März 2004 (Die meisten Deutschen in Ost und West begrüßen größere EU). 13 Vgl. Zwahr, Hartmut, Rok šedesatý osmý. Das Jahr 1968. Zeitgenössische Texte und Kommentare, in: François, Etienne u.a. (Hg.), 1968 – ein europäisches Jahr?, Leipzig 1997, S. 111-123. 14 Auszug (nach Dudennorm) aus dem handschriftlichen Original. Transkription durch Hartmut Zwahr. 15 In Anlehnung an Marx, Karl, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: MEW, Bd. 1, S. 385. „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen, die materielle Gewalt muß gestürzt werden durch materielle Gewalt, allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“ 16 Sorbische Studierende bezogen Informationen auch aus dem polnischen Rundfunk. 17 Geschrieben unter dem Eindruck des von Ministerpräsident Imre Nagy ausgehandelten Abzugs der sowjetischen Truppen, der am 30. Oktober, dem Tag der Regierungsumbildung zu einer Koalitionsregierung, erfolgte. Der Angriff sowjetischer Truppen auf Budapest und die Bildung einer prosowjetischen Regierung durch Kádár führten seit dem 4. November 1956 zum Scheitern der ungarischen Revolution; diese umfasst die Ereignisse vom 23. Oktober bis etwa 15. November 1956. 18 Imre Nagy (1896-16.6.1958, Reformkommunist, hingerichtet): seit der Nacht vom 23. zum 24. Oktober 1956 wieder Ministerpräsident. János Kádár (ungarischer Ministerpräsident seit 4.11.1956 und Erster Sekretär des ZK der neu gegründeten kommunistischen Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei seit 25. Oktober 1956) leitete nach der Besetzung durch sowjetische Truppen die Verfolgung der am Auf-
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systems und die Säuberung des Rundfunks von den Elementen, die der Wahrheit noch nicht den 20 Vorzug geben wollten. NW-Rundfunk meldete 5.000 Tote in Budapest und 30.000 Verletzte. Hilfsaktionen sind im Gange. Die Bewegung nimmt zu den antisowjetischen Formen jetzt scheinbar antikommunistische an. 21 Die Nachricht vom Einfall Israels in Ägypten wird wahrscheinlich die Situation bei uns etwas 22 erleichtern. Unsere Presseorgane setzen sich offen in Widerspruch zu Polen, Ungarn, Rumänien und auch 23 zur SU. Aus Protest ist von vielen das ND abbestellt worden. Die Bevölkerung ist in Unruhe. Eine kaum wiederkehrende Chance für die Einheit Deutschlands ist gegeben. Ich bin gespannt, wie die Bonner Regierung handeln wird. Man munkelte, Verlegung der Regierung nach Berlin, Abzug der amerikanischen Truppen. Die Bevölkerung der DDR orientiert sich eindeutig westlich. Sämtliche Abendnachrichten 24 25 werden von uns Studenten abgehört. Bei Max waren heut an die zehn Mann im Zimmer. Unter 26 27 ihnen auch F. Michałk, der aus polnischen Zeitungen – Trybuna Ludu – übersetzte. „My 28 29 dyrbimy jara skedźbliwi być.“ Auch Frank Förster äußerte sein Erstaunen über unseren offenen 30 Ton. Er kommt von der „roten Hochburg“ Potsdam, an deren Pädagogisch-Historischer Fakultät 31 notorische Nichtskönner sitzen. Ihre Stütze ist die Partei , ist der Apparat. Wirklich tief erschüttert
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stand Beteiligten ein. 1958 wurde Nagy in einem geheimen Gerichtsverfahren zum Tode verurteilt und hingerichtet; rehabilitiert am 16. Juni 1989 in einem Staatsakt. Nach Wiederzulassung der Parteien am 30. Oktober versprach Nagy Freie Wahlen, kündigte am 1. November die Mitgliedschaft im Warschauer Pakt und proklamierte die Neutralität Ungarns. Die Zahlen sind überhöht; der Aufstand forderte 2.652 Todesopfer, 239 Aufständische wurden hingerichtet. Der Krieg, den England und Frankreich auf dem Höhepunkt der Ungarnkrise, zusammen mit Israel, seit dem 29. Oktober 1956 gegen Ägypten führten, um die Verstaatlichung der Suezkanalgesellschaft rückgängig zu machen. Am 6. November willigten die Beteiligten in einen Waffenstillstand ein. Im Sinne von: entspannen. Die Tageszeitung Neues Deutschland. Abk. ND. Organ des Zentralkomitees der SED. Max Schurmann (geb. 1934 in Seidewinkel bei Hoyerswerda); Besuch der Sorbischen Oberschule in Bautzen; studierte an der Karl-Marx-Universität im 7. Semester Geschichte. Im „Handrij-Zejler-Heim“, dem Wohnheim für sorbische Studierende, Leipzig C 1, Johann-SebastianBach-Str. 44. Dr. habil. Siegfried Michalk (Frido Michałk, geb. 1927 in Rachlau bei Bautzen, gest. 1992), Slawist und Sorabist, damals Assistent am Sorbischen Institut der KMU, später wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für sorbische Volksforschung der Akademie der Wissenschaften der DDR in Bautzen. Vgl. Michałk, Frido, Studia o jezyku łużyckim. Studije k serbskej rěči, Warschau 1994; Ders., Studien zur sorbischen Sprache, Bautzen 1995; ferner: Faßke, Helmut; Jentsch, Helmut; Michalk, Siegfried, Sorbischer Sprachatlas – Serbski rěčny atlas, Bde. 1-15, Bautzen 1965-1996. Trybuna Ludu (poln. Tribüne des Volkes). Zentralorgan der Polnischen Kommunisten. „Wir müssen sehr vorsichtig sein.“ Die Gespräche wurden vorwiegend auf Sorbisch geführt. Frank Förster (geb. 1937 in Bad Muskau), studierte nach dem Besuch der Oberschule in Weißwasser an der Karl-Marx-Universität Leipzig im 3. Semester Geschichte und im ersten Semester Sorabistik (einschließlich Volkskunde). Vgl. Musiat, Siegmund, Prof. Dr. Frank Förster 65 Jahre, in: Lětopis. Zeitschrift für sorbische Geschichte, Sprache und Kultur 49 (2002) 1, S. 148f. Die Pädagogische Hochschule Potsdam, von der Förster nach zwei Semestern an die KMU Leipzig wechselte. Die SED (Sozialistische Einheitspartei Deutschlands).
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erzählte mir Frank, er habe dort nicht einmal seinem besten Freunde etwas berichten können, 33 jeder dachte das Gleiche, aber die Furcht hielt alle nieder. In jedem Studienjahr wurde ein Präzedenzfall statuiert, der die anderen abschrecken sollte. „Nach 14 Tagen hatte man mich fertig gemacht, dann wagte ich nichts mehr zu sagen, und langsam verlernte man das Denken. Hier in Leipzig bin ich mir der Lage erst wieder einmal bewußt geworden. Ihr könnt euch ja gar nicht vorstellen, wie das ist. Meinst du nicht, daß es in eurem Studienjahr, in eurer Seminargruppe einen gibt, 34 der die Äußerungen schön säuberlich in ein Notizbuch einträgt? Ich habe Damm gesagt, du verbrennst dir auch noch einmal die Schnauze. Sagt mir, wem nützt ihr, behaltet die Sache für euch. 35 36 37 Der XX. Parteitag hat nichts geändert, der neue Kurs ist der alte geblieben.“ Im Grunde genommen, hat er Recht. Vorsicht tut not. Wenn wir nicht solche Professoren wie 38 39 40 41 42 43 Sproemberg, Morenz, Bardtke, Mayer, Bloch, Schulz hätten, die das politische Klima und die Personalpolitik mitbestimmen, hätte man uns schon längst das Fell über die Ohren gezogen.
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Hartmut Zwahr (geb. 1936 in Bautzen), Student der Geschichte im 3. und der Germanistik im ersten Semester; vgl. Figuren und Strukturen in der Geschichte. Ehrenkolloquium für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, hg. vom Rektor der Universität Leipzig, Leipzig 2002. Autobiographische Einblicke in vergleichbaren Lebens- und Arbeitsbedingungen an der SEDParteihochschule während der Aufbauphase liefert Weber, Hermann (in Zusammenarbeit mit Gerda Weber), Damals, als ich Wunderlich hieß. Vom Parteihochschüler zum kritischen Sozialisten. Die SEDParteihochschule „Karl Marx“ bis 1949, Berlin 2002. Peter Damm, Geschichtsstudent im 3. Semester, verließ noch als Student die DDR. Der XX. Parteitag der KPdSU vom 14. bis 25. Februar in Moskau mit seinen Entstalinisierungsfolgen vor allem in Ungarn (u.a. die Ablösung Rakosis als Erster Sekretär der Partei der Ungarischen Werktätigen) sowie Polen. Der vom SED-Politbüro am 9. Juni 1953 verkündete Neue Kurs, in den der Ausbruch des Aufstandes vom 17. Juni 1953 hineinwirkte. Ulbricht beendete den neuen Kurs, indem er die Auswirkungen des XX. Parteitages auf die DDR blockierte und die Entstalinisierung der SED und damit der DDR verhinderte. Dazu Mitter, Achim; Wolle, Stefan, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993, S. 163-366. Der Mediävist Heinrich Sproemberg (1889-1966), seit 1950 Direktor der Mittelalter-Abteilung des Instituts für Allgemeine Geschichte und des Landesgeschichtlichen Instituts, seit 1951 Leiter der Fachrichtung Geschichte, 1958 im politischen Konflikt durch Emeritierung ausgeschieden; zur Biographie Unger, Manfred, Heinrich Sproemberg †. 1889-1966, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte 3 (1968), S. 276279. Der Ägyptologe Siegfried Morenz (1914-1970), Direktor des Instituts für Ägyptologie sowie Vizepräsident der Sächsischen Akademie der Wissenschaften. Der Theologe Hans Bardtke (1906-1975), Professor für alttestamentliche Wissenschaft. Der Literaturwissenschaftler Hans Mayer (1907-2001), lehrte von 1948 bis 1963 am Germanistischen Institut. Vgl. Mayer, Hans, Ein Deutscher auf Widerruf. Erinnerungen, Bd. 2, Frankfurt am Main 1984, S. 94-260. Der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977), vom Ministerium für Volksbildung per Dekret am 25. Mai 1948 als Professor und Direktor des Instituts für Philosophie der Universität Leipzig eingesetzt. Am 1. September 1957 mit seinem Einverständnis, aber wohl gegen seinen Willen emeritiert, kehrte er nach dem Bau der Mauer nicht in die DDR zurück. Blochs Lehrtätigkeit endete schon im Januar 1957. Vgl. Denken ist Überschreiten. Ernst Bloch in Leipzig. Ausstellung der Kustodie der Universität Leipzig, 13. Mai bis 17. Juli 2004; Mayer, Thomas, Erkundungstour in schwieriges Gelände. Uni-Ausstellung über Ernst Bloch und Leipzig, in: Leipziger Volkszeitung, 8./9. Mai 2004. Robert Schulz (1914-2000), als Kriegsgefangener in der Sowjetunion im Nationalkomitee Freies Deutschland als Lehrer tätig; von 1951 bis 1959 an der KMU Professor für Dialektischen und Historischen Materialismus.
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Die Bewegungen an der Humboldt-Universität sind unterdrückt worden , der Berliner Ober45 bürgermeister Suhr forderte die Studenten auf, sich nicht herausfordern zu lassen, um Blutvergießen zu vermeiden. Um Berlin sind russische Truppen zusammengezogen worden. „Erst muß der Deckel runter.“ (Damit ist U.[lbricht] gemeint, auf den sich der Haß der Bevölkerung konzentriert; es soll überkochen). Die Massen strömen nur so am Sonnabend und Sonntag in das Leipziger Ka46 barett „Pfeffermühle“ , um sich einmal Luft zu machen. Einen Monat vorher waren die Kabarettisten nahe am Bankrott. Es liegt etwas in der Luft, aber keiner wagt den Anfang. Die Zeitungen 47 schreiben von Vertrauensbeweisen, neu gebildeten GST-Einheiten und Normerfüllung aus Pro48 test gegen die „Konterrevolution“ in Ungarn. Besonnene Leute bei uns fürchten eine Bewegung auf der Straße. Die antikommunistischen 49 Bevölkerungsteile sind so stark, ich denke an die prowestliche Kundgebung (Kaiserslautern gegen 50 51 Aue ), daß bei uns linksradikaler stalinistischer Flügel mit den Nationalkommunisten zusam52 mengeht. Einen deutschen Gomułka würde die Bewegung einfach beiseite schieben. Daher schweigen die Zeitungen und versuchen, die öffentliche Meinung zu beruhigen. Aber dennoch. Von Mund zu Mund gehen die Nachrichten über die neuen Ereignisse (Puskás sollte schon gefallen 53 54 sein, Czermak, ebenfalls, auch Kocsis kämpfen auf der Gegenseite) und über die Geheimdoku55 56 57 mente des XX. Parteitages. In Polen und Ungarn waren die Studenten Führer der Bewegung.
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Am 5. November 1956 demonstrierten die Studenten aus Protest gegen die Niederschlagung der Ungarischen Revolution noch einmal am nahe der Universität gelegenen Brandenburger Tor. Zur „Unruhe an allen Universitäten der DDR, hauptsächlich aber in Berlin“ vgl. Neubert (wie Anm. 7), S. 129f. Otto Suhr (1894-1957), SPD, von 1955 bis zu seinem Tode Regierender Bürgermeister von Berlin (West). Gegründet 1954. Dazu Hoerning, Hanskarl, Die Leipziger Pfeffermühle. Geschichten und Bilder aus fünf Jahrzehnten, Leipzig 2004. Gesellschaft für Sport und Technik, im Sommer 1952 in zeitlicher Nähe zur Kasernierten Volkspolizei (KVP) gegründet; die GST diente der vormilitärischen Ausbildung und Erziehung. Missverständlich. Aus Protest gegen das Ereignis, das die SED die ungarische „Konterrevolution“ nannte. Der 1. FC Kaiserslautern gewann im Leipziger Zentralstadion am 6. Oktober 1956 (!) das Fußballspiel gegen Aue mit 5:3 vor 110.000 Zuschauern, die überwiegend der westdeutschen Mannschaft zujubelten. So viele Besucher gab es danach nie wieder. Meine Eintrittskarte hat die Nr. 70.789. Vgl. auch Leipziger Volkszeitung, 1. April 2004 (Willy Tröger gestorben). Die Betriebssportgemeinschaft Wismut Aue: 1954 vom Deutschen Fußball-Verband (DDR) umbenannt in Sportclub SC Wismut Karl-Marx-Stadt (bis 1963). Die Umbenennung wurde nie wirklich angenommen. Für die nationalkommunistische Oppositionsgruppe stand innerhalb der SED Wolfgang Harich (19211995), schon am 29. November 1956 verhaftet. Vgl. Janka, Walter, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Reinbek 1990; Harich, Wolfgang, Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin 1993. Władysław Gomułka (1905-1982). Der nach Inhaftierung (1951/54) und Posener Aufstand (Juni 1956) im „Polnischen Oktober“ rehabilitierte Gomułka versprach bei Respektierung der sowjetischen Vorherrschaft, einen polnischen Weg zum Sozialismus einzuschlagen. Seine Popularität schwand, je stärker die Parteiführung die 1956 gewährten Freiheiten abbaute. 1968 gehörten er und Ulbricht zu den entschiedensten Befürwortern einer militärischen Intervention gegen den „Prager Frühling“; dazu Selvage, Douglas, The Treaty of Warsaw: The Warsaw Pact context, in: Bulletin of the German Historical Institute, Supplement 1, Washington 2004, S. 67-79. Ein Gerücht. Ferenc Puskás (später bei Real Madrid) und Sandor Koczis (später beim FC Barcelona) standen 1954 im Berner Endspiel um die Fußballweltmeisterschaft. Die Enttäuschung vieler Ungarn über die Niederlage führte erstmals zu Demonstrationen gegen das politische System. Bei Ausbruch des Aufstands gingen Kispest Honved FC und MTK Hungaria FC, die führenden Budapester Klubs, auf
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Literatur Borhi, László, Hungary in the Cold War: 1945-1956. Between the United States and the Soviet Union, Budapest 2004 Foitzik, Jan (Hg.), Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand; politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, Paderborn 2001 Heydemann, Günther; Roth, Heide, Systembedingte Konfliktpotentiale in der DDR der fünfziger Jahre. Die Leipziger Universität in den Jahren 1953, 1956 und 1961, in: Hoffmann, Dierk; Schwartz, Michael; Wentker, Hermann (Hg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre, München 2003, S. 205-234 Klimó, Árpád von, Zeitgeschichte als moderne Revolutionsgeschichte. Von der Geschichte der eigenen Zeit zur Zeitgeschichte in der ungarischen Historiographie des 20. Jahrhunderts, in: Nützenadel, Alexander; Schieder, Wolfgang (Hg.), Zeitgeschichte als Problem, Göttingen 2004, S. 283-306 Zwahr, Hartmut, Ende einer Selbstzerstörung. Leipzig und die Revolution in der DDR, Göttingen 1993
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Europatournee. Unter den Bedingungen des Ausnahmezustands kehrte eine Reihe von Spielern nicht zurück. Vermutlich Hörfehler. Die so genannte Geheimrede Chruschtschows zu Stalin und dessen Herrschaftspraxis. Die studentischen Demonstrationen im „Polnischen Oktober“ brachten Gomułka am 19.10.1956 an die Spitze der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR). Beginnend in Budapest, wo Studenten am 23. Oktober 1956 auf einer Kundgebung eine unabhängige nationale Politik forderten, beruhend auf den Prinzipien des Sozialismus, demokratischen Reformen und geheimen Wahlen sowie der Gleichheit gegenüber allen Staaten (also auch gegenüber der Sowjetunion).
DER BEITRITT SPANIENS ZUR EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT 1 ODER: WARUM DIE SPANIER FÜR EUROPA VOTIERTEN
IN DEN
1980ER JAHREN,
Von Joaquín Abellán Am 12. Juni 1985 wurde in Madrid der Beitritt Spaniens und Portugals zur Europäischen Gemeinschaft (EG) feierlich unterzeichnet. Beide Länder erlangten am 1. Januar 1986 die Vollmitgliedschaft. Damit wurde ein 1977 eingeleiteter Entwicklungsprozess abgeschlossen. Dieser ging auf das Beitrittsgesuch durch das erste demokratische Parlament nach dem Tod Francos (1975) zurück. Eine halbe Generation zuvor war im Jahr 1962 die Franco-Regierung von der EG schon einmal abgewiesen worden, mit dem Hinweis, dass es diktatorischen Regimen nicht möglich sei, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beizutreten. Das darauf folgende Abkommen Spaniens mit Brüssel von 1970 beschränkte sich dementsprechend allein auf Wirtschaftsfragen und wurde nach der ersten Erweiterung der EG 1975 auch nicht wiederverhandelt, nachdem in Spanien eine Reihe von inhaftierten Terroristen hingerichtet worden waren. Zeitweilig verließen damals alle europäischen Botschafter Madrid. Die im folgenden in Auszügen abgedruckte Rede von Felipe González, der von 1982 bis 1996 spanischer Regierungschef war, markiert eine neue Epoche: In seiner Rede unterstrich González mehrfach die von allen Seiten geteilten spanischen Gründe, der EG beizutreten, ein Wunsch, der im Übrigen auch das gesamte Parteienspektrum einte. Die neue Hinwendung Spaniens zu Europa versprach eine Reihe von historischen Problemen zu lösen. Hierzu gehörten der Wunsch nach einer Konsolidierung der Demokratie, die Hoffnung auf die wirtschaftliche und soziale Modernisierung des Landes sowie die als dringend notwenig erachtete Aufhebung der franquistischen Isolation und damit die Rückkehr Spaniens in die internationale Gemeinschaft. Der einhellige Konsens, der sich auf den EG-Beitritt sowie – fast ebenso einhellig auch – auf die neue demokratische Verfassung Spaniens aus dem Jahre 1978 bezog, war zu dieser Zeit allerdings relativ neu und erst zustande gekommen, nachdem einige Parteien wesentliche Aspekte ihres Parteiprogramms revidiert hatten. Die Mitte-Rechts-Parteien wie etwa die Unión de Centro Democrático und die Alianza Popular waren freilich zuvor schon entschiedene Europabefürworter gewesen. Aus ihrer Sicht bestand die europäische Integration vor allem in einem „wirtschaftlichen Imperativ“, der sich aus dem bereits erreichten Niveau der spanisch-europäischen Wirtschaftsbeziehungen ergab und der gleichzeitig die neue spanische Demokratie stabilisieren helfen sollte. Für beide Parteien bildete ein künftiger NATO-Beitritt Spaniens die notwendige Ergänzung zur EG-Mitgliedschaft, die die vorangegangene internationale Isolation Spaniens mit überwinden sollte. Die Sozialdemokraten (Partido Socialista Obrero Español), die sich ausdrücklich zu Europa bekannt hatten, mussten ihr Parteiprogramm hingegen abändern und vor allem ihre marxistische Interpretation des europäischen Imperialismus und Kapitalismus revidie—————— 1
Essay zur Quelle Nr. 5.7, Rede des Ministerpräsidenten Felipe González anlässlich des spanischen EG-Beitritts (1985).
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ren. Auf einem geschichtsträchtigen Kongress von 1978 verabschiedete sich die Partei von ihrer marxistischen Basisideologie sowie von der dazugehörigen Deutung der Wirtschaftsbeziehungen und bekannte sich uneingeschränkt zur wirtschaftlichen Integration in die EG. Gegenüber einem möglichen NATO-Beitritt vertraten die Sozialdemokraten jedoch eine andere Position. Diese sollten sie dann aber ebenfalls Ende der 1980er Jahre nach dem tatsächlichen Betritt zur NATO revidieren. Seit 1977, dem Jahr ihrer Legalisierung, befürworteten auch die Kommunisten (Partido Comunista de Espagña) die europäische Integration. In Zusammenhang mit dem erstarkenden Eurokommunismus der 1960er Jahre hatten sie sich grundsätzlich auf Europa zurückorientiert. Da auch die Partido Comunista de Espagña darauf hoffte, dass sich die junge spanische Demokratie im Zuge der europäischen Integration stabilisieren werde, votierte sie ebenfalls für den spanischen Beitritt, zugleich aber widersprach sie entschieden einem Beitritt zur NATO, eine Frage, die sie als vollkommen unabhängig von dem anvisierten EG-Beitritt zur Debatte stellte. Die Bereitschaft der spanischen Parteien, das Beitrittsgesuch der Regierung zu unterstützen, war also mit sehr unterschiedlichen, klar erkennbaren politischen Motiven verbunden. Obwohl die damalige EG vor allem den Charakter einer Wirtschaftgemeinschaft besaß, verstanden schließlich nahezu alle Parteien die europäische Integration in erster Linie als eine wirksame Garantie für die junge spanische Demokratie. So war schon zu Zeiten der Franco-Diktatur der Umstand, dass Spanien von der EG ausgeschlossen geblieben war, von der demokratischen Opposition als ein schlagkräftiges Argument vorgebracht worden, um den Franquismus zu delegitimieren. Und ebenso politisch motiviert war auch die Hoffnung auf ein mit dem EG-Beitritt verbundenes Ende der internationalen Isolation. Die Aufnahme Spaniens in die Institutionen der EG verdeutlichte somit auch unmissverständlich das Scheitern der Franco-Diktatur. Nicht zuletzt deshalb betonte Felipe González in seiner Rede, in welchem Umfang der Beitritt Spaniens einen qualitativen Sprung innerhalb der politischen Entwicklung des eigenen Landes bedeute. So klar der von allen Seiten immer wieder betonte Konsens zur europäischen Integration zu beobachten war, so interessant ist es zu sehen, welcher Europabegriff die Debatten der spanischen Parlamentarier zwischen 1977 und 1985 bestimmte, ein Begriff, der im Übrigen ohne Zweifel auch die Rede von Felipe González grundlegend prägte. Besonders aufschlussreich und wichtig ist es dabei zu erkennen, dass die EG und Europa nicht nur in den Parlamentsdebatten, sondern auch in der Presse synonym verwandt wurden. Europa verstand man hier als ein Symbol für die Ideale der Freiheit, des Friedens und der Modernisierung. Und darüber hinaus stand Europa für ein vitales Interesse in vielen Lebensbereichen der spanischen Politik, ohne dass der Rückbezug auf Europa jedoch zu klaren Definitionen und politischen Handlungsdirektiven geführt hätte. Bei näherem Hinsehen wird entsprechend deutlich dass insbesondere diese begriffliche Unschärfe, die breite Zustimmung zu Europa erst ermöglichte. Mit anderen Worten erlaubte der Symbolcharakter Europas es den spanischen Abgeordneten, in ausschweifender Ambivalenz, ohne ein klares Konzept und ohne sich der tatsächlichen Konsequenzen bewusst zu sein, über die Integration ihres Landes zu sprechen. In gewisser Weise wandelte sich der Europabegriff auf diesem Weg zu einem metapolitischen Phänomen, ohne dass er an Wichtigkeit in den öffentlichen Debatten eingebüßt hätte. Dessen ungeachtet
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verlor er aber die Möglichkeit, im Rahmen politischer Auseinandersetzungen neu definiert zu werden. Auf derselben Linie bewegte sich auch die parlamentarische Diskussion über die Folgen der europäischen Integration für die eigene nationale Identität. Entsprechend ließ Felipe González' Rede keinen Zweifel an dem notwendigen Fortschritt zur europäischen Einheit sowie an der spanischen Bereitschaft, dabei tatkräftig mitzuwirken. Die möglichen Konsequenzen einer intensivierten europäischen Einheit gegenüber der eigenen nationalen Identität wurden jedoch weder in González' Rede noch in den parlamentarischen Debatten vor 1985 angesprochen. Im Rahmen der emphatischen Proklamation der als großes Ideal bezeichneten europäischen Einheit versäumten es die Parlamentarier, die möglichen Transformationseffekte auf die nationale und politische Identität zu bedenken. Die Debatte ging vielmehr durchgängig von einer überzeitlich stabilen Identität aus und wurde so als eine Identität gedacht, die im Zuge des Kompetenztransfers an die Institutionen der EG als immun anzusehen sei. Trotz der großen Bedeutung, die dem Wandel zu einer europäischen Einheit zugesprochen wurde, war man sich also nicht über die Wechselwirkung der europäischen Integration mit den jeweils beteiligten Nationalstaaten im Klaren. Der überzeitlich gedachte Charakter der nationalen spanischen Identität verhinderte damit allerdings prinzipiell auch die Frage nach dem eigentlichen Kernpotential einer Europäischen Union. Insofern stand das Bekenntnis zur europäischen Einheit in Spanien in einem scharfen Gegensatz zu den fehlenden Überlegungen zur künftigen nationalen Souveränität sowie zu ebenso wenig vorhandenen Reflexionen über die Grundlagen nationaler Identität. Der politische Diskurs in Spanien bewegte sich folglich auch hier erneut auf einer durchaus rhetorischen Ebene. Diese war unfähig, politische Debatten anzuregen sowie politisch klar Position zu beziehen. Interessant ist es in diesem Zusammenhang abschließend auch zu sehen, wie die spanische Öffentlichkeit den Beitritt zur EG diskutierte. Hier war klar zu erkennen, dass viele die europäische Integration Spaniens als eine Frage nationaler Ehre erlebten. Verbunden damit verbreitete sich in der Hauptphase des EG-Beitritts ein alter Nationalstolz erneut wieder aus. Hinzu kam eine große Begeisterung darüber, nun den alten „angestammten Platz“ in Europa wieder mit Leben füllen zu können. Dieser neue und zugleich alte Nationalstolz sollte den vorausgegangenen ausgeprägten kollektiven Minderwertigkeitskomplex der Franco-Ära überwinden helfen. Für die Spanier schlossen somit der Wille zur europäischen Integration sowie ein ausgeprägter Nationalstolz einander nicht aus. Dass beides möglicherweise einmal miteinander in Konflikt geraten könne, stand in der spanischen Öffentlichkeit ebenso wenig wie im Parlament zur Debatte.
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Quelle Nr. 5.7 Rede des Ministerpräsidenten Felipe González anlässlich des spanischen EG-Beitritts (1985)2 [...] Der heutige Tag ist ein historischer Schritt für Spanien und für Europa. Denn mit den Unterschriften im Beitrittsvertrag zur Europäischen Gemeinschaft haben wir nicht nur die politische Isolierung Spaniens überwunden, sondern auch einen Meilenstein in der Vollendung der Einheit unseres alten Kontinents gesetzt. Nun trägt auch Spanien dazu bei, die Ziele aus der Präambel der Römischen Verträge Wirklichkeit werden zu lassen. Ideale, unter denen die Gründer der Gemeinschaft damals alle Völker Europas einluden, an der Festigung des Friedens und der Freiheit teilzunehmen. [...] Heute können wir mit Genugtuung sagen, dass es die richtige Entscheidung war, jene demokratisch gewählten Vertreter des spanischen Volkes in ihrem Schritt zum Beitritt in die Europäische Gemeinschaft uneingeschränkt zu unterstützen und der Regierung besonders zu Beginn der Verhandlungen den Rücken zu stärken. Damit haben wir von Anfang an klar gemacht, dass unser Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft eine parteiübergreifende Staatsangelegenheit ist, dessen Ursprung in der überwältigenden Mehrheit der Bürger, ihrem Wunsch nach Integration Spaniens in Europa und der Teilnahme an den Idealen der Freiheit, des Fortschritts und der Demokratie lag. [...] Durch die Verbindung der alten Selbstverständlichkeit, Teil von Europa zu sein, mit der wiedergewonnenen Möglichkeit, erneut an Europa teilzuhaben – zunächst durch die Vertretung im Europäischen Rat und nun in der Europäischen Gemeinschaft –, durch dieses Wiederanknüpfen an das Vermächtnis der Vergangenheit gewinnt eine ganze Nation ihr eigentliches Geschichtsbewusstsein wieder. [...] Der Beitritt Spaniens zur Europäischen Gemeinschaft ist ein ehrgeiziges und weitreichendes Projekt, das wesentlich über den reinen Wortlaut der nun unterzeichneten Vertragsklauseln hinausgeht. Für Spanien bedeutet der Beitritt zugleich die endgültige Überwindung der politischen Isolation und die Chance auf Teilnahme am gemeinsamen Schicksal der westeuropäischen Länder. Zweifelsohne impliziert der Beitritt für unser wirtschaftliches und soziales Leben eine Herausforderung zu mehr Modernität, die einen Mentalitäts- und Strukturwandel nach sich ziehen muss. Schwieriger noch als für die damaligen Gründungsstaaten der Europäischen Gemeinschaft wird diese Angleichung deshalb ausfallen, weil wir uns mit Verspätung in einen bereits laufenden Prozess eingliedern. Dennoch bin ich sehr zuversichtlich, dass unsere Gesellschaft (Arbeiter und Unternehmer, Selbstständige, Techniker und Forscher, Männer und Frauen aller Völker Spaniens) auf diese Herausforderung deutlich reagieren wird. Durch die Anstrengungen aller und mit der Hoffnung eines ganzen, dynamischen und jungen Volkes werden wir die Aufgabe der wirtschaftlichen, sozialen und technologischen Modernisierung meistern, die einen selbstbewussten und sicheren Übergang an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert gewährleistet. Für Europa als Ganzes darf die Erweiterung der Gemeinschaft durch den Beitritt Spaniens und Portugals keine reine Rechenoperation sein, sondern sollte als besondere Gelegenheit für einen qualitativen Sprung in seiner politischen Entwicklung gewertet werden. [...]
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Feierliche Rede des Regierungspräsidenten Felipe González zum Anlass der Unterzeichnung des Beitrittsvertrages zwischen Spanien und der EG, Madrid, 12. Juni 1985, abgedruckt in: El País (Madrid), 13.06.1985; Übersetzung der Quelle aus dem Spanischen von Joaquín Abellán.
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Was Spanien betrifft, lassen Sie mich eine Sache ganz klarmachen: wir werden weder eine Last für die Gemeinschaft, noch ein Hindernis auf ihrem Weg zu mehr politischer und wirtschaftlicher Integration sein. Ganz im Gegenteil: innerhalb der Vertretung unserer Kerninteressen werden wir mit allen Kräften am Voranschreiten der europäischen Einheit mitarbeiten. [...] Dafür steuert Spanien das Wissen einer alten Nation und den Enthusiasmus eines jungen Volkes bei, überzeugt davon, dass die Einheit in der Zukunft die einzig mögliche Zukunft für Europa ist. Das Ideal dieser europäischen Entwicklung ist bedeutender denn je, gerade weil die Welt von heute und von morgen uns dazu auffordert. [...] Wir dürfen nicht vergessen, dass unsere Arbeit zwar der Verbesserung der Gegenwart gilt, aber vor allem auch den nachfolgenden Generationen ein Vermächtnis des Friedens, der Gerechtigkeit und des Fortschritts hinterlassen soll. Diese Einstellung bedeutet, an Europa zu glauben, und so hoffen wir auf ein gerechteres, solidarischeres und gemeinsameres Europa der Zukunft. [...]
Literatur Alvarez-Miranda, Berta, El sur de Europa y la adhesión a la Comunidad: los debates políticos. Madrid, 1996 Barbé, Esther, La política europea de España, Barcelona 1999 Helmerich, Antje, Die Außenpolitik Spaniens. Vom Konsens zum Bruch – und wieder zurück Bonn 2004. In: Niehus, Gerlinde Freia, Die Außenpolitik Spaniens nach Franco, in: Bernecker, Walther L.; Oehrlein, Josef (Hg.), Spanien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt am Main 1991, S. 225-264 Powell, Charles, Cambio de régimen y política exterior, 1975-1989, in: Tusell, Javier; Avilés, Juan; Pardo, Rosa (Hg.), La política exterior de España en el siglo XX, Madrid 2000, S. 413-454
GLASNOST' UND DIE GESELLSCHAFTLICHE AUFARBEITUNG DES STALINISTISCHEN TERRORS1 Von Stephan Merl Der Terror unter Stalin hat mehr als zehn Millionen Menschenleben gefordert. Anders als in Deutschland steht eine ernsthafte gesellschaftliche Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse in Russland dennoch bis heute aus. Nach Stalins Tod gab es kein Diktat von Siegermächten, das der politischen Klasse eine Rechtfertigung über ihre Tätigkeit unter der Diktatur Stalins abverlangt hätte. Ebensowenig forderte bisher die Bevölkerung, etwa der deutschen Studentenbewegung Ende der 1960er Jahre vergleichbar, eine öffentliche Debatte über Stalins Verbrechen. In der Sowjetunion behielten vielmehr die Mittäter das Heft des Handelns in der Hand. Sie bestimmten die Regeln der „Entstalinisierung“ unter Chruschtschow und ließen sich dabei von ihren machtpolitischen Interessen leiten. Sie entschieden selbst, welche Fragen zugelassen waren. Erst unter dem Einfluss von Gorbatschows Glasnost' („Transparenz“) wurde es Ende der 1980er Jahre möglich, öffentlich über den Terror zu sprechen und Einzelschicksale zu rekonstruieren. Das mangelnde Interesse der sowjetischen Gesellschaft an der Aufarbeitung der Verbrechen hat nicht zuletzt seine Ursache darin, dass es nicht nur die Millionen Opfer des Terrors gab, sondern eine mindestens gleich große Zahl von Tätern. Und nicht anders als in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg richtete sich das primäre Interesse der Überlebenden nicht auf die Aufklärung der Verbrechen. Warum habe ich gerade den Zeitungsartikel „Der grausame Preis“ des Pravdakorrespondenten I. Lachno aus dem Jahr 1988 als Quelle ausgewählt, um diese Problematik zu erörtern? Ausschlaggebend war die Vielschichtigkeit der Aussage. Dieser Text vermittelt Aufschlüsse über die gegenwärtige Einstellung in Russland zu den Verbrechen Stalins, er präsentiert ein Einzelschicksal, das Einblicke in typische Züge des „Alltags des Terrors“ unter Stalin zulässt, damit eröffnet der Text indirekt auch Vergleichsmöglichkeiten zum Nationalsozialismus und schließlich setzt er sich auch kritisch mit der dominierenden Position in der Historiografie über den Stalinismus auseinander. Der Artikel von Lachno fiel mir im Herbst 1988 eher zufällig bei der abendlichen Zeitungslektüre in die Hände. Ich hatte mich auch damals schon mehr als ein Jahrzehnt mit Stalins Terror befasst, die gewaltige Zahl der Opfer war mir wohl vertraut. Und dennoch traf mich diese an und für sich banale Geschichte eines einfachen und „kulturlosen“ Bauern wie ein Schlag. Sein Schicksal spiegelt die typischen Züge von Stalins Terrorregime und die unergründliche Willkür, mit der es zuschlug. Dennoch darf und will ich der berechtigten quellenkritischen Frage nicht ausweichen: Hat sich der Vorfall überhaupt so abgespielt, oder präsentiert uns Lachno einfach eine literarische Fiktion? Ich muss gestehen, dass ich bisher nicht in die heutige Ukraine gereist bin, um den Fall in den dortigen Archiven zu rekonstruieren. Dort müsste es die Akte des Untersuchungs—————— 1
Essay zur Quelle Nr. 5.8, I. Lachno: Der grausame Preis. Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos (1988).
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verfahrens mit dem Urteilsspruch geben. Ebenso müsste eine Akte über Kapinos „Führung“ in den Lagern existieren. Über das eigentliche Opfer Kapinos würden wir aus diesen Akten aber kaum etwas erfahren. Während meiner mittlerweile jahrzehntelangen Beschäftigung mit Stalins Terror habe ich entsprechendes Archivmaterial immer wieder in der Hand gehabt, ebenso Archivakten zur Überprüfung von Urteilen der Stalinzeit sowie zur Rehabilitierung von Opfern. Dennoch habe ich nicht gezögert, gerade auf diesen Artikel zurückzugreifen. Es ist Lachnos Verdienst, uns einen Einzelfall plastisch sowohl in seiner ganzen Banalität als auch Grausamkeit vor Augen zu führen. Alle geschilderten Handlungsabläufe kann ich aus meiner Kenntnis des Archivmaterials als gesichert und „typisch“ identifizieren. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass es sich um Fiktion handeln sollte, bliebe der Text immer noch eine Quelle zur Beurteilung der Glasnost'-Politik. Ein aufmerksamer Beobachter der russischen Entwicklung in den letzten Jahren wird das Entstehen dieses Textes unschwer in die Anfangsphase von Gorbatschows „Glasnost'„ auf die Jahre 1988 und 1989 verorten. Weder davor noch danach hätte eine zentrale Zeitung so einen Artikel abgedruckt. Und die Prawda war auch 1988 keine beliebige Zeitung, sondern das Zentralorgan der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Nur zu diesem Zeitpunkt trafen sich zwei Faktoren: die Bereitschaft der Herrschenden, unbequeme Fragen über die Geschichte der Sowjetunion in der Öffentlichkeit zuzulassen, und die Neugier der Beherrschten zu erfahren, was wirklich geschehen war. Das öffentliche Interesse an den Enthüllungen über die Verbrechen Stalins erreichte im Herbst 1988 seinen Höhepunkt. Es ließ zugleich alte Wunden aufbrechen. Aus den Leserzuschriften an die Presse ist abzulesen, dass sich auch Jahrzehnte nach Stalins Tod an der Unversöhnlichkeit der Position von Tätern und Opfern – bzw. ihrer Kinder und Enkel – noch immer nichts geändert hatte. Hielten die einen Stalins Taten für notwendig zur Kräftigung des Landes und seine Opfer für schuldig, klagten die anderen über das erlittene und nicht entschädigte Unheil. Die unvermeidliche, von Gorbatschow aber nicht vorhergesehene Konsequenz der Glasnost' war angesichts der Ungeheuerlichkeit von Stalins Verbrechen die totale Diskreditierung und Delegitimierung der Herrschaft der Kommunistischen Partei und damit das Auseinanderfallen der Sowjetunion. Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass es zunächst die breite Öffentlichkeit war, die an der Wende zu den 1990er Jahren das Interesse an weiteren Enthüllungen verlor. Für sie rückte wieder der tägliche Überlebenskampf in den Vordergrund, der mit der Einleitung der Systemtransformation immer neue Herausforderungen schuf. Doch auch die Herrschenden kehrten sich von der Glasnost' ab, nachdem diese in Widerspruch zu ihren Machtinteressen geriet. Rückblickend können wir feststellen, dass Jelzin die Abkehr theatralisch inszenierte, als er im Oktober 1993 das „Weiße Haus“ – das russische Parlament – in Brand schießen ließ, weil er keine Lust hatte, mit den gewählten Volksvertretern zu sprechen und Kompromisse zu schließen. Seither läuft alles wieder seinen geregelten Gang. Die Volksvertreter werden unter Putin bereits vor der Wahl handverlesen, und die Schulbücher über die Russische Geschichte hat der Präsident, formal gestützt auf die Forderungen der „Veteranen“, wieder von der „Beschmutzung“ Stalins befreit. Lachno hat seinen Artikel über den „Konterrevolutionär“ Kapinos bewusst als Anklage gegen die dominierende Position in der Historiografie über die Stalinzeit verfasst. Die Erklärung des Stalinismus aus der Dumpfheit und Rückständigkeit der Bevölke-
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rung, die sich dem „zivilisatorischen Bemühen“ der Bolschewiki entgegenstellte, ist nicht nur in Russland verbreitet. Die „Dumpfheit“ der Bevölkerung spiegelte sich in der Tat in dem Glauben an Volksfeinde. Die Inszenierungen des Systems, die in zentralen und lokalen Schauprozessen gipfelten, in denen von den Mängeln des Systems abgelenkt und generell eine Personalisierung der Schuldfrage vorgenommen wurde, verschafften der personalen Diktatur Stalins eine gewisse Stabilität und Legitimation. Das Volk tendierte in seiner Masse dazu, die ihm präsentierten Sündenböcke als die Schuldigen zu akzeptieren, so wie es in der politischen Kultur des „Zarenmythos“ angelegt war: egal, ob es sich um Spitzenpolitiker wie die Geheimdienstchefs Jagoda und Jeschow handelte, um lokale Leitungspersonen und Fabrikdirektoren, oder eben um Leute aus der eigenen Mitte, wie hier den Kolchosnik Kapinos. Doch trug deshalb das Volk die Schuld an den Verbrechen? Neben der Ansicht, das niedrige Kulturniveau der Bevölkerung selbst sei schuld am Terror gewesen, ist bis heute die Meinung weit verbreitet, die Suche nach Fehlern sei moralisch schädlich und untergrabe die Bedeutung der Leistungen Stalins. Der Text ist auch ein Dokument über den Alltag unter Stalin. Im Vergleich mit dem Nationalsozialismus scheint der Terror unter Stalin allumfassender und unkalkulierbarer gewesen zu sein. Eine ähnlich generelle Atmosphäre des Misstrauens, die in jedem Volksgenossen zunächst einen potentiellen „Volksfeind“ erblickte und in der selbst führende Repräsentanten des Systems immer wieder unter erfundenen Anschuldigungen verhaftet und ermordet wurden, hat es in Deutschland nicht gegeben. Die Verhaftung war in Deutschland auch eher eine individuelle Abrechnung. Sie zielte nicht in jedem Fall auf den „Nachweis“ einer Verschwörung und hatte im Regelfall nicht die Isolation der Angehörigen zur Folge. Der hier beschriebene Vorfall von Anfang 1938 ist zeitlich in die Phase des „Großen Terrors“ einzuordnen, in der praktisch jeder ein potentielles Opfer darstellte und generell nicht von Einzeltätern ausgegangen wurde, sondern in den Untersuchungsverfahren immer Verschwörungen zu konstruieren waren. So skurril zunächst einmal die Kopie von Stalins Geste durch den Helden der Geschichte, Feodosij Kapinos, erscheint, so typisch ist die Reaktion. Die Meldung des Vorfalls löste zwangsläufig die sofortige Verhaftung des Beschuldigten aus und brachte ein Untersuchungsverfahren in Gang, an dessen Ende nur die Präsentation einer Verschwörungsgeschichte stehen konnte. Die Rahmenschilderung macht deutlich, dass den Interessen der Staatsmacht in der Situation Anfang des Jahres 1938 die Aufdeckung eines „Volksfeindes“ in dieser Region sehr zupass kam, gab es doch offenbar Probleme mit der Erfüllung der Ablieferungsverpflichtungen von Agrarprodukten durch die lokalen Kolchose an den Staat. Ein willkommener Nebeneffekt dieser Verhaftung war somit, dass sie die übrigen Kolchosniki einschüchterte und disziplinierte. Das Ausmaß dieser grauenhaften Atmosphäre, in der man dem anderen nicht trauen konnte, wird dadurch unterstrichen, dass auch der Täter, der lokale Kolchosparteisekretär, um sein Leben fürchten musste, wenn nicht er, sondern ein anderer den Fall zur Anzeige brachte. Ein Volksfeind zu sein oder einen Volksfeind zu decken war in den Augen des Staates das Gleiche. Die weitere Schilderung des Falles offenbart wiederum Typisches: nun begann der Terrorapparat in der Vergangenheit des Beschuldigten zu wühlen. Die zu präsentierende Vita eines Volksschädlings war ähnlich standardisiert wie früher die Heiligenviten. Dass Kapinos nicht beschuldigt wurde, der Sohn eines Kulaken zu sein, stellte sicher-
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lich einen Schönheitsfehler dar. Doch auch so wurde man in seiner Vergangenheit fündig: So wurde Kapinos Weigerung im Jahre 1934, der Anordnung nachzukommen, die am Rotz erkrankten Pferde zu erschießen, nun als Vorwand genommen, um ihn einer Verschwörergruppe zuzuordnen und ihm zu unterstellen, als Gehilfe der Volksschädlinge die Seuche verbreitet zu haben. Die These von Lachno, der von ihm geschilderte Fall sei ein Mosaikstein für das Verständnis der damaligen Zeit, ist wohlbegründet. Während Kapinos mit seinem „Zehnjahresspruch“, einem damals üblichen Strafmaß für zur Zwangsarbeit verurteilte „Konterrevolutionäre“, in dem berüchtigten Lagerkomplex von Kolyma verschwand, in dem das Regime Häftlinge zur Goldgewinnung einsetzte, begann die Leidenszeit für Kapinos Frau und Kinder. Dass die anderen Dorfbewohner mit ihnen den Kontakt abbrachen und sie isolierten, war ein typisches Schutzverhalten in der Stalinzeit. Da grundsätzlich angenommen wurde, dass es keine Einzeltäter, sondern nur Angehörige von Verschwörungsringen gab, konnte der Kontakt zu Angehörigen von Volksfeinden einen selbst in Gefahr bringen. Auch die Schilderung des Denunzianten fällt in der Beschreibung echt aus. Was bewog den Kolchosparteisekretär, seinen ehemaligen Spielkameraden nun als Konterrevolutionär zu entlarven? Sicherlich, es gab auch Fälle, in denen die eigennützigen Motive auf der Hand liegen. Das war hier aber nicht der Fall. Handelte er aus seinem Verständnis von Pflichtgefühl? War die vom Regime zu diesem Zeitpunkt entfachte allgemeine Hysterie ausschlaggebend? Oder fürchtete er um das eigene Überleben im Fall einer Nichtanzeige? Der Täter wird als „guter Mensch“ geschildert, als einer, der sich um die Leute kümmerte, der den ersten Kindergarten organisierte, der sich freiwillig an die Front meldete und dort den Heldentod starb. Das unterstreicht die auch von Kapinos selbst bestätigte tragische Verstrickung der Personen unter diesem Regime. Und schließlich die Rückkehr aus dem Lager, das beharrliche Schweigen über das Erlebte. Auch das ist typisch für die große Masse der Lagerheimkehrer, wie hätte sonst das Tabu einer öffentlichen Diskussion von der Rückkehr überlebender Häftlinge Mitte der 1950er Jahre bis 1988 Bestand haben können? Bei der Entlassung wurde allen eingeschärft, über das in den Lagern Erlebte nicht zu sprechen. Und die meisten hielten sich daran. Sie kehrten ähnlich wie Kapinos gebrochen und kraftlos zurück. Dass es in der Sowjetgesellschaft kaum Personen gab, die nach dem Durchlittenen fragten, erscheint mir in gewisser Hinsicht mindestens ebenso bedrückend wie die Verbrechen des Stalinregimes selbst. Wenn in der Historiografie über den Stalinismus bis heute die Stalinsche Selbstbeschreibung dominiert, so hat dies auch etwas mit der Art der Funde in den Archiven zu tun. Dieses vermeintlich objektive Material spricht die Sprache der Verbrecher. Und die Historiker, die unkritisch in den Archiven nach der Wahrheit suchen, reproduzieren bis auf den heutigen Tag diese Selbstinterpretation. So begrüßenswert die heutigen Ansätze sind, nach Selbstzeugnissen zu suchen, so gefährlich ist es zu glauben, diese seien objektive Quellen für das Geschehene. Demgegenüber vermag der Artikel von Lachno die für die Beschäftigung mit der Stalinzeit angemessene Betroffenheit zu vermitteln.
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Quelle Nr. 5.8 I. Lachno: Der grausame Preis. Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos (1988)2 Lange ließ mich die Lebensgeschichte meines Landsmanns Feodisij Kapinos nicht zur Ruhe kommen, aber trotzdem entschloss ich mich nicht, über ihn zu schreiben. Ein einfacher Bauer, arbeitsam und ungebildet – von seiner Sorte gibt es Millionen. Und auch die tragischen Schicksale wie das seinige lassen sich nicht zählen. Aber dann las ich in der Zeitung „Večernij Char’kov“ einmal den Artikel eines hiesigen Gelehrten und verstand, dass wir heute, angesichts der allgemeinen Reden über den historischen Prozess, das Schicksal der einfachen Leute keineswegs vergessen dürfen. Besonders traf mich diese Beurteilung, die man häufig in ähnlichen Publikationen antrifft: „Man muss sagen, dass das niedrige Kulturniveau der Bevölkerung die Entwicklung des Personenkultes besonders begünstigte...“ Heißt das etwa, dass eben das Volk aufgrund seiner völligen Kulturlosigkeit am Entfachen des Personenkultes Stalins, an den negativen Erscheinungen jener Periode schuld ist? [...] Ist auch mein Landsmann Feodosij Kapinos, der einem grausamen Schicksal nicht entging, schuld? Durch was sind sie schuldig geworden? In einer Minute der Freimütigkeit erzählte mir einst Feodosij (in unserem Ort nannten sie ihn Fedosej) sein trauriges Leben. Aber mein Wunsch, darüber zu schreiben, beunruhigte ihn, und Feodosij erhielt mein Versprechen, es nicht zu tun, solange er lebe. Heute ist die Zeit gekommen, die Pflicht gegenüber meinem Landsmann zu erfüllen. Das umso mehr, als seine Geschichte einen weiteren Mosaikstein zum Verständnis jener Zeit liefert. Unser Dörflein, zu dem nicht einmal 40 Höfe gehörten, verlor sich in der endlosen Aktjubinsker Steppe. Hier wurde 1930 der Kolchos „Weg zum Kommunismus“ organisiert, der zu den schlechtesten des Bezirks gehörte. An einem unguten Morgen (das müsste man in voraus wissen!) des Winters 1938 wanderte der einfache Kolchosnik Kapinos zum Büro des Kolchos. Dort saßen der Leitungsvorsitzende, der Sekretär der Parteiorganisation und noch einige Leute. Über dem Kopf des Vorsitzenden hing ein Foto von Stalin, das ihn mit Schirmmütze und hinter die Borte des Mantels gelegter Hand zeigte. Und dann geschah das: Feodosij stellte sich ohne jeglichen Hintergedanken mitten in das Arbeitszimmer und versuchte, indem er die Hand zwischen die Knöpfe seiner zerissenen Strickjacke steckte, Handbewegung und Pose des „Führers“ nachzuahmen. Eine Minute herrschte betretenes Schweigen, dann schlüpfte irgendjemand ängstlich schnell zum Ausgang, andere begannen, von ihren alltäglichen Sorgen zu erzählen. Es schien, als ob alles vergessen sei. Aber schon eine Stunde später sattelte der Kolchosparteisekretär sein Pferd und ritt in die 40 Kilometer entfernte Bezirksstadt. Noch in der gleichen Nacht holten sie Feodosij ab. Unser rückständiger Kolchos wurde damals mächtig bearbeitet. Im Radio, in den Zeitungen, von den Tribünen verschiedener Versammlungen und auf den Plena des Bezirksparteikomitees war immer wieder zu hören: „Der Kolchos ‚Der Weg zum Kommunismus‘ sabotiert die Getreideaufbringung“, „Der Kolchos ‚Der Weg zum Kommunismus‘ bringt den Bezirk in Verruf.“ Und da war noch der Kolchos „Stalin“, den sie auch wegen des Rückstands beschimpften, und der umsonst den Namen des „weisen Führers“ trug. Und niemanden berührte das unangenehm. Aber diese im Wesen harmlose Geste des ungebildeten Kolchosniks bewerteten sie augenscheinlich als Unterminierung der Grundfesten, als Beleidigung des Heiligtums. Möglicherweise sahen sie darin auch etwas noch Ungeheuerliches, weil sie für die Geste einen Zehnjahresspruch herbeizerrten.
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I. Lachno (Pravdakorrespondent aus Char’kov), Der grausame Preis, in: Pravda, 23.12.1988. Übersetzung aus dem Russischen von Stephan Merl.
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Nach der Verhaftung von Feodosij blieb seine Frau mit drei kleinen Kindern im Dorf zurück. Wie viele Unannehmlichkeiten erlebten sie in diesen endlos langen zehn Jahren. Manche schreckten vor den Kindern des „Volksfeindes“ zurück, das waren zum Glück aber nur einzelne. Mit Stolz denke ich an meine Landsmänner, daran, wie groß die sittliche Reinheit und Kraft des Volkes waren, weil die Leute auch in der bedrückenden Atmosphäre des Misstrauens und der Angst sich nicht fürchteten, die Waisen zu beherbergen. Einmal klopfte die kleine Tochter von Feodosij schüchtern an unsere Tür. Die Großmutter hörte auf zu kochen und schnitt ein Stück Brot ab: „Iss, liebes Kind.“ Und dabei hatte sie selbst 7 Münder zu stopfen. Wichtiger noch, dass sie die Großmutter aus Nachsicht mit den Feinden auch hinter dem Dorfgenossen herschicken konnten. Wer war Feodosij Kapinos? Ein Radaubruder und Trödler? Oder möglicherweise sogar wirklich ein Klassenfeind, dem es bis zu dieser Zeit gelungen war, sich zu verbergen? Natürlich nicht. Er war ein gewöhnlicher Bauer. Welche Gefahr konnte er für das sozialistische Vaterland darstellen? 1930 hatte er persönlich sein einziges Pferd und die Kuh mit Kalb in den allgemeinen Stall eingestellt, war freiwillig dem Kolchos beigetreten. Er war ohne Vater aufgewachsen, von Kind auf gewöhnt, sein Brot im Schweiße seines Angesichts zu verdienen, er liebte das Land. Und im Kolchos arbeitete er ohne Atempause. Aber dann, im Jahr 1938, klagten sie ihn gleichzeitig wegen kulakischen Gebarens und sogar wegen Schädlingsarbeit an. Darüber muss gesondert berichtet werden. Es ging darum, dass sie 1934 in unserem Ort und im ganzen Okrug anfingen, die Pferdeherden zusammenzutreiben, weil sie sich angeblich mit Rotz infiziert hätten. Zur Untersuchung reiste eine Veterinärbrigade an, die die Pferde auswählte, die getötet werden sollten. Gewöhnlich wurden sie von einem speziellen Trupp der Miliz erschossen, und die Männer des Dorfes mussten nur die gewaltigen Gruben ausheben. Aber einmal wollten sie unsere Bauern, darunter meinen Vater und Feodosij, dazu zwingen, die Tiere zu töten. Die Bauern weigerten sich entschieden. Damals kamen sie glücklich davon. Und erst 1938 erinnerten sie sich an all das: sie klagten Kapinos auch als Gehilfen der Schädlinge an, die die Seuche verbreitet hätten. Auch mein Vater besaß eine Stute mit Fohlen. Wie die anderen Dorfgenossen übergab er sie an den Kolchos. Und vier Jahre später wollten sie ihn zwingen, die Tiere zu erschießen. Kann man einen echten Bauern härter kränken? Das Pferd war für ihn in jener Zeit doch ein Ernährer, und für den Besitzer war es eine Sache des Anstands, es gut zu behandeln. Feodosij war gerade 30 Jahre alt, als sie ihn nach Kolyma verbrachten, um Gold zu waschen. Er kehrte als gebrochener, kraftloser Greis zurück. Seine Frau und die Kinder, die ohne Vater aufgewachsen waren, erkannten ihn nicht. Und er erkannte sie nicht. Und lange, unerträglich lange schwieg er finster, verbarg das Durchlebte in seinem Inneren. Nein, ich kann keineswegs jenen zustimmen, die behaupten, die „Suche nach Fehlern sei in moralischer Hinsicht schädlich und führe zur Herabwürdigung unserer Errungenschaften.“ Ziemt es sich etwa für den sowjetischen Bürger und unsere Gesellschaft, tausende Werktätige, die schuldlos Repressionen ausgesetzt waren, unsere Mitbürger, dem Vergessen zu überlassen? Nicht darin besteht unsere Würde, sondern darin, dass die Partei den Mut aufbringt, dem Volk die Wahrheit mitzuteilen. Die Wahrheit darüber, worüber wir berechtigt stolz sein können, und die bittere Wahrheit über die Tragödie des Volkes. Jene bittere Wahrheit haben wir alle nötig, für unsere Selbstbefreiung, zur Herstellung der Gerechtigkeit. Wenn ich an die Lebensgeschichte von Feodosij Kapinos denke, kann ich auch den Mann nicht vergessen, der an jenem unguten Tag loseilte, um, wie es sich gehörte, über die unvorsichtige Geste zu berichten. Welche Gedanken gingen dem Kolchosparteisekretär durch den Kopf, als er 40 Kilometer durch den Frost ins Bezirkszentrum ritt? Niemand kann das wissen. War es das Gefühl der Pflicht, die Verpflichtung eines jeden Kommunisten, den inneren Konterrevolutionär zu entlarven und zu beseitigen? Aber wie konnte er einen Spielgefährten aus seiner Kindheit als Feind verdächtigen, einen ehrenhaften, wenn auch etwas ungebildeten Werktätigen...?
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Ich glaube nicht, dass er zu den Verleumdern gehörte, die sich am Kummer ihrer Kollegen oder Nachbarn ergötzten. Vielleicht fürchtete der Parteisekretär um sein eigenes Leben: wenn nicht er, sondern ein anderer die Meldung machte, würde ihn selbst das Unglück ereilen. Eben darin besteht wahrscheinlich das Wesentliche. Beinahe an allen Straßenecken ertönten damals Aufrufe, Klassenfeinde zu entlarven. In der Situation allgemeiner Verdächtigungen und öffentlicher Aufrufe war nicht jeder fähig zu widerstehen. Einige hielten es für ihre patriotische Pflicht zu entlarven, auszurotten. Und man entlarvte, häufig ohne zu wissen, wer schuldig und wer unschuldig war. Jeder meiner Dorfgenossen, den ich befragen konnte, schilderte den Parteisekretär als einen guten Menschen. Er verstand es, sich um die Leute zu kümmern, organisierte den ersten Kindergarten im Bezirk. Der Kindergarten existierte bis Kriegsbeginn, und wir, obwohl schon Schüler, gingen weiter dorthin, um eine Schüssel Brei zu essen. So hatte es der Parteisekretär angeordnet. Als einer der ersten aus unserem Ort ging er an die Front und starb den Heldentod. Deshalb möchte ich auch hier nicht seinen Namen nennen – nicht die Hand erheben, um Sand in seine Spuren zu werfen... Vielleicht veranlasste mich das auch damals, Feodosij zu fragen, wie er sich an der Stelle des Parteisekretärs an jenem verhängnisvollen Morgen verhalten hätte. Kapinos schwieg lange und schaute auf den Boden. Schließlich richtete er sich auf und antwortete aufrichtig: „Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich hätte ich genau das Gleiche getan. Er hatte keine andere Wahl.“ Ich glaube, er hatte die Kränkung nicht vergessen, aber in der Tiefe seiner Seele verstand er: die Zeit war tragisch nicht nur für jene, die wie er selbst grausam und ungerechtfertigt bestraft wurden. Es war eine tragische Zeit für das ganze Volk. Nein, wir dürfen nicht, wir können nicht jene bitteren Seiten vergessen, wir haben kein Recht dazu. Damit wir niemals wieder unsere menschliche Würde verletzen.
Literatur Baberowski, Jörg, Der Rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 135-208 Conquest, Robert, The Great Terror. A Reassessment, New York 1990 Getty, John Arch; Manning, Roberta T. (Hg.), Stalinist Terror. New Perspectives, Cambridge 1993 Merl, Stephan, Bilanz der Unterwerfung – die soziale und ökonomische Reorganisation des Dorfes, in: Hildermeier, Manfred (Hg.), Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung, München 1998, S. 119-145 Ders., Das System der Zwangsarbeit und die Opferzahl im Stalinismus, in: GWU 46 (1995), S. 277-305
6. KRIEG UND FRIEDEN
ENEA SILVIO PICCOLOMINI (PIUS II.) – EIN HUMANIST ALS VATER DES EUROPAGEDANKENS?1 Von Johannes Helmrath Reden und Essays über „Europa“ versäumen es selten, Papst Pius II. (1405-1464) als Impulsgeber, ja gar als „Vater“ des Europagedankens zu rühmen. Auch die EuropaAusstellung 2003 im Deutschen Historischen Museum zu Berlin räumte dem Piccolomini-Papst einen prominenten Platz ein.2 In deutschen und französischen Quellensammlungen, die während des ersten, stark auf ein „karolingisches“ Kerneuropa gerichteten ideenpolitischen Schubs der 1950er und 60er Jahre entstanden waren3, fehlten Texte Pius’ II. ebenso wenig wie in solchen, die während des zweiten, nach 1989 einsetzenden Booms erschienen. Jedes Mal haben sich Mediävisten als Kenner von „Europas Grundlagen“ und Sinnproduzenten stark engagiert; viele lieferten Überblicke, Tiefenstudien wenige.4 Selbstverständlich kannte „das Mittelalter“ aus der Antike den Begriff „Europa“. Nach einer Konzentration in der Zeit Karls des Großen, den ein anonymer Dichter als „pater totius Europae“ pries, bleibt die Vorstellung in eher disparaten Bedeutungsnuancen nachweisbar. Am wichtigsten ist erstens die auf antiken Texten fußende geographische Vorstellung als abgrenzbarer Kontinent, zweitens eine Vorstellung, nach der „Eu—————— 1 2 3
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Essay zur Quelle Nr. 6.1, Enea Silvio Piccolomini über Europa und die Türken (1454-1461). Siehe den Katalog Idee Europa. Entwürfe zum „Ewigen Frieden“. Eine Ausstellung als historische Topographie, hg. von Marie-Louise von Plessen, Berlin 2003, S. 35, 80, 83, 90, Nr. III/16; siehe auch Schmale, Wolfgang, Geschichte Europas, München 2001, zu Enea Silvio S. 11, 49, 85f. So in Müller, Joseph (Hg.), Die Kirche und die Einigung Europas, Saarbrücken 1955, S. 136ff. (Beginn der Frankfurter Rede, übersetzt von Benita Storch), übernommen in: Schulze, Hagen; Paul, Ina Ulrike (Hg.), Europäische Geschichte. Quellen und Materialien, München 1994, 324f.; Foerster, Rolf Hellmut (Hg.), Die Idee Europa 1300-1946. Quellen zur Geschichte der politischen Einigung, München 1963, zu Enea Silvio S. 40-42. Französische Sammlungen: Rougemont, Denis de, Vingthuit siècles d’ Europe. La conscience européenne à travers les textes d’Hésiode à nos jours, Étrepilly 1990, hier S. 71-73; Hersant, Yves; Durand-Bogaert, Fabienne (Hg.), Europes. De l’Antiquité au XXe siècle. Anthologie critique et commentée, Paris 2000, hier S. 64-68. Ergiebige Überblicke: Oschema, Klaus, Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und kultureller Konnotation, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 2 (2001), S. 191-234, zu Enea Silvio S. 223-226; Schneidmüller, Bernd, Die mittelalterlichen Konstruktionen Europas, in: Duchhardt, Heinz; Kunz, Andreas (Hg.), Europäische Geschichte als historiographisches Problem (VIEG Beiheft 42), Mainz 1997, S. 5-24, zu Enea Silvio S. 13-16; Schulze, Winfried, Europa in der frühen Neuzeit – begriffsgeschichtliche Befunde, in: ebd., S. 35-65, zu Enea Silvio S. 43-46.
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ropa“ – wie später bei Novalis – weitgehend mit „christianitas“ als „christlicher Solidargemeinschaft“ (B. Schneidmüller) zusammenfällt, in der Regel begrenzt auf die Gebiete der lateinischen Kirche des Westens. Neuralgisch blieben die Zonen, wo sich Kontinents- und Konfessionsgrenzen im Osten und Südosten zur griechischen und russischen Orthodoxie hin überlagern. Diese beiden Bedeutungen, so unsere These, bleiben auch im Humanismus dominant. Die Humanisten verbreiterten zwar gegenüber dem Mittelalter die antike Textbasis durch Neufunde, auch auf dem Gebiet der Geografie (Ptolemaios, Strabon), intensivierten die Aneignung und Textpräsentation der Klassiker, betrieben aber auch – oft unterschätzt – ihre sehr konkrete funktionelle Anwendung. Anlass für unser Thema war – eine Katastrophe: Am 29. Mai 1453 fiel Konstantinopel an die Türken Sultan Mehmeds II. Der Westen reagierte mit einem kollektiven Schock, genährt aus Türkenfurcht, Schadenfreude, schlechtem Gewissen, weil man den Griechen nicht geholfen hatte, aber auch – der anachronistische Ausdruck sei hier erlaubt – mit einer krisenhaften Identitätsdebatte: Die Türken werden zum traumatischen Auslöser und zum Wetzstein „europäischer“ Identität.5 Aus dem Nichts waren die Türken keineswegs gekommen. Die Byzantiner hatten schon Jahrhunderte, der Okzident seit geraumer Zeit mit ihnen zu leben gehabt. Seit dem späten 11. Jahrhundert besiedelten Türken weite Teile Anatoliens, bereits hundert Jahre vor dem Fall Konstantinopels setzten sie bei Gallipoli an den Dardanellen nach Europa über, besetzten Teile des Balkans, errichteten in Adrianopel (Edirne) ihre neue Hauptstadt. Die desaströsen Niederlagen europäischer Ritterheere bei Nikopolis 1396 und Varna 1444 hatten den Hilfswillen des Westens weitgehend paralysiert: 1453 stand Restbyzanz allein und ging unter. Konnte „der Westen“ reagieren? Es war eine Situation eingetreten, in der die kaiserliche Universalmacht des Okzidents noch gefragt war: als Protektor der Christenheit. Es kam die Stunde des Enea Silvio Piccolomini. Ehe er in atemberaubendem Aufstieg 1458 Papst wurde, hatte der junge Adlige aus Siena im Norden, zuerst auf dem europäischen Forum des Konzils von Basel (1431-1449), dann ab 1442 am habsburgischen Kaiserhof Karriere gemacht. Jetzt, als der Kaiser handeln musste, trat Enea als sein Vertreter auf den dafür seit jeher vorgesehenen Foren, den Reichstagen, auf. Im Namen Friedrichs III. rief er die deutschen Fürsten zum Krieg gegen die Türken. Das Neue daran war, dass hier deutsche Reichsversammlungen erstmals zum Performanzraum der reaktivierten antiken Oratorik wurden. Enea wurde ein Prototyp des „humanist crusader“ (Hankins). Der von ihm kreierte Typ der ‚Türkenrede’ gehörte seither zu den Basiselementen künftiger Reichstage, mindestens bis Ende des 16. Jahrhunderts. Von den vier erhaltenen —————— 5
Anregende Problemüberblicke: Meuthen, Erich, Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: HZ 237 (1983), S. 1-35; leicht verändert in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der Cusanus-Gesellschaft 16 (1984), S. 35-60; Mertens, Dieter, Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter, in: Duchhardt, Heinz (Hg.), Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Köln 1991, S. 45-90; Hohmann, Stephan, Türkenkrieg und Friedensbund im Spiegel der politischen Lyrik. Auch ein Beitrag zur Geschichte des Europabegriffs, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 28 (1998), Heft 110, S. 128-158, zu Enea Silvio v.a. S. 130-135; Helmrath, Johannes, Pius II. und die Türken, in: Guthmüller, Bodo; Kühlmann, Wilhelm (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance, Tübingen 2000, S. 79-137, bes. S. 89-99.
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‚Türkenreden’, die er 1454/55 auf den Tagen von Regensburg, Frankfurt und Wiener Neustadt hielt, ist es vor allem die Frankfurter Rede vom 15. Oktober 1454, nach ihrem programmatischen Incipit „Constantinopolitana clades“, die man immer wieder als Beleg für seine Europaidee zitiert findet. Ihr gilt auch im Folgenden das Hauptaugenmerk6; andere Schriften des Piccolomini können nur am Rande zur Sprache kommen. Die methodische Gefahr besteht darin, Textpassagen zu einer Idee von Europa zu kombinieren, wo von Europa explizit nicht die Rede ist. Ehe man sich den Texten zuwendet, ist zu fragen: Gab es eine neue Europaidee bei Piccolomini, die diesen Namen verdient? Unter welchen politischen und intellektuellen Bedingungen entstand sie und wurde sie publik gemacht? Schließlich, nur als Anregung: Wann wurde begonnen, Texte des Humanistenpapsts europapolitisch zu rezipieren?7 Es wird sich zeigen, dass die Piccolomini-Texte Positionen vertraten, die latent und bestürzend unbesehen in der gegenwärtigen Europadebatte wieder auftauchen, namentlich wenn es um den Beitritt der Türkei zur EU geht! Die Humanisten wirkten im 15. Jahrhundert als intellektuelle Kommunikatoren, die wissenschaftliche Bildung mit sprachlicher und rhetorischer Schulung verbanden und diese, da sie oft an den Schaltstellen publizistischer Macht saßen (Kanzleien, Diplomatie), öffentlich, zum Beispiel in Sachen Kreuzzug, anwenden konnten und sollten. Piccolominis Reden, und in geringerem Maße seine historischen und geographischen Schriften, scheinen exemplarisch für eine bestimmte Art der ideologischen Bewältigung des türkischen Schocks im Westen. Der Frankfurter Rede liegt als antikes Vorbild Ciceros Rede „de imperio Cn. Pompei“ (65 v. Chr.) zugrunde. Ihr Aufbau erörtert die Gerechtigkeit (iustitia), Nützlichkeit (utilitas) und leichte Machbarkeit (facilitas) des Krieges. Enea Silvio überträgt dies auf den Türkenkrieg. Die obligate Schilderung der Grausamkeiten (‚Türkengräuel’) beim Fall der Stadt fußt auf zeitgenössischen Berichten, hat aber – wie diese selbst – auch stark topischen Charakter. Sie mobilisiert vor allem das Feindbild. Schon bald nach dem Ereignis hatte Enea seine Klage (lamentatio) wiederholt in Briefen und Reden formuliert. Nun tut er’s wieder: Konstantinopels Fall bedeute für Europa einen unersetzlichen Verlust, sowohl strategisch (die Stadt liegt ja bollwerksgleich noch auf dem europäischen Kontinent) als auch und besonders kulturell. Mit Konstantinopel, der zweiten Metropole nach Rom, wurde der Christenheit, so das drastische Bild, eines seiner beiden Augen (oculi) herausgerissen. Damit erweist der Humanist Byzanz, dem gegenüber der Westen im Mittelalter oft genug Hass und Inferioritätskomplexe aufgebaut hatte, nun als Bewahrerin der Klassiker, von Platon und Aristoteles, und damit als Lehrmeisterin des Westens hohe, aber späte Reverenz. Zu späte – jetzt wo mit der Stadt am Bosporus auch ihre antiken Handschriften, – Enea spricht einmal vom „zweiten Tod Homers“ / der secunda mors Homeri – vernichtet sind. Hier wird, zukunftsträchtig, ein Verständnis von Europa als Werte- und Bildungsgemeinschaft angedeutet! Diese wur—————— 6 7
Vgl. Quelle Nr. 6.1c, A-E. Ein frühes Beispiel – statt Europa ist hier (noch) von Deutschland die Rede: Wohlwill, Adolf, Deutschland, der Islam und die Türkei, in: Euphorion 22 (1915), S. 1-21. Ausführlich zu Enea Silvio bereits Fritzemeyer, Werner, Christenheit und Europa. Zur Geschichte des europäischen Gemeinschaftsgefühls von Dante bis Leibniz (HZ Beiheft 23), München 1931, hier S. 18-28.
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zelt vornehmlich im Erbe der Antike, der klassischen Autoren sowie im – gleichfalls antiken – Christentum und schließt hier demonstrativ Byzanz ein. Nach Trauer evoziert die Rede vor allem Angst, Angst vor einem weiteren Vormarsch der Türken. Die Christenheit sei in die Defensive geraten, sie werde, hatte Enea an anderer Stelle gesagt, gleichsam immer mehr in einen Winkel (angulus) zurückgedrängt.8 Man hat treffend von einem „Angulus-Syndrom“ (D. Mertens) gesprochen. Bedrohungsobsessionen, Festungsdenken gehörten, auch in der Renaissance, zum Zeitstil; so bezeichnete Enea die Ungarn in biblischer Metaphorik als „Mauer und Schild der Christenheit“. Inwieweit sich derartige Obsessionen bis heute im kollektiven Unterbewusstsein des Europäers eingenistet haben, bleibe offen. Aktuelle Herausforderungen „wissenschaftlich“, im vorliegenden Fall durch Aktualisierung von Antikewissen, zu bewältigen, gehörte zu den Aristien, die man von den Humanisten erwartete. Der Erfolg der Türken ließ in Gelehrtenkreisen immer wieder die Frage nach ihrer Herkunft, nach der origo Thurcorum stellen. Hier zeigten sich die Kraft und die Formbarkeit des Mythos. Traditionell, noch bei Salutati und dem frühen Enea Silvio, hatte man sie wohl aufgrund der etymologischen und (seit 1076) geographischen Affinität zu Nachkommen der Trojaner erklärt. Es gab im Westen sogar Stimmen – selbst 1453 –, die den Erfolg der Türken als verdient, als späte Rache der Trojaner an den Griechen deuteten, das heißt an den verhassten schismatischen Byzantinern. Diese Filiation der Türken über den Trojanermythos aber wird nun gekappt. Die gegenwärtig erlebten Türken können nicht von den Trojanern (Teucri) abstammen, auf die sich ja zahlreiche westliche Völker, allen voran die Römer selbst, später die Franken, Briten etc. zurückführten; die Plünderer Konstantinopels seien vielmehr Turci, die, wie andere Völker unklarer östlicher Herkunft auch, Asiaten = Barbaren sind. Für sie stand ein aus der Antike stammender Passepartout angeblicher Inferiorität bereit: das Skythentum. Dass man den Türken die adelnde Herkunft von Troja ab- und die niedere skythische zusprach, schien nur eine wissenschaftlich-philologische Korrektur zu sein; doch manifestierte sie zugleich, hochpolitisch, nicht weniger als die kulturelle Exklusion der Türken aus der alten mythologischen Gemeinschaft, aus Europa. Sie werden buchstäblich barbarisiert! Mit ‚dem Türken’ haben wir das Musterbeispiel einer Feindbildkonstruktion vor uns. Mochten auch die Gräueltaten der osmanischen Truppen ein fundamentum in re bilden, so wussten die Humanisten andererseits durchaus von der Bildung Mehmeds II. und der exquisiten Kultur an seinem Hof. Bemerkenswert bei Enea Silvio ist aber vor allem die Tatsache, dass komplementär zur philologischen Exklusion der Türken die ökumenische Inklusion der orthodoxen christlichen Griechen in Europa gehört. Die Frankfurter Rede Piccolominis spielte auch eine Schlüsselrolle für den erst später beginnenden nationalen Diskurs der deutschen Humanisten. Die Verbindung von Europa und Nation schon in diesem Text ist kein Zufall. Europa sollte ja elementar durch seine Nationen und ihren Nationalismus geprägt werden. In Eneas Rede will der Lobpreis großer Traditionen sehr bewusst protonationale Gefühle wecken: Es war ja Enea, der Italiener, der zum ersten Mal überhaupt deutschen Zuhörern zuruft: „Vos Germani / Ihr Germanen!“, der an die germanische Tapferkeit, an protorömische Au—————— 8
Europe maximam partem amisimus; in angulum nos Maumethus coartavit; Rede „Quamvis“ Regensburg 16. Mai 1454; Deutsche Reichstagsakten (RTA), Bd.19,1 Nr. 34,1 S. 268 Z. 43f.
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tochthonie, die Siege der Germanen über die Römer appelliert. Auch die großen Kaiser des „deutschen Mittelalters“, Ottones, Heinrici, Friderici etc., ruft der Humanist aus Italien als Kreuzfahrer-Heroen und Vorbilder der kommenden Türkenkrieger an. Zugleich wird der Kampf der christiana communitas gegen die Türken durch Aufzählung alttestamentarischer Helden, der Siege der Griechen über die Perser im welthistorischen Horizont eines gerechten Abwehrkampfs gegen ‚Asien’ stilisiert. Nur an wenigen Stellen ist auch von Freiheit (libertas), einem künftigen Palladium europäischen Selbstverständnisses, die Rede. Die Angstvision einer türkischen Expansion bis zum Rhein führt Enea Silvio zur Hoffnung auf eine kollektive Verteidigung, aber eben auch auf Offensive, durch ein Bündnis aller christlichen Staaten Europas.9 Ihnen sollen dann darüber hinaus auch Bundesgenossen im Orient (christliche wie muslimische) willkommen sein.10 Hier weitet sich die Perspektive deutlich: Europa und christianitas fallen – wie unten in der „Epistula“ an den Sultan – nicht mehr zusammen. Voraussetzung von allem aber ist – und insofern ist jede Türkenrede als Kehrseite der militärischen Formierung auch Selbstkritik –, Einigkeit und Frieden unter den (europäischen) Staaten selbst. Die Rede endet wie eine konventionelle Kreuzzugspredigt mit reichen geistlichen Belohnungszusagen für die Glaubenskämpfer. Gerade in dem „De Europa“ titulierten Werk von 145811, dem innovativen Versuch einer politischen Geografie des Kontinents als Teil einer – bis auf die „Asia“ (ca. 1461) – unvollendet gebliebenen „Cosmographia“12, kommt der Begriff Europa selbst nur marginal vor, ist eigentlich nur als Kollektivbegriff und Werktitel bemerkenswert. Die wohl 1461 verfasste „Epistula ad Mahumetem“ Pius’ II.13 ist ein politischtheologischer Brieftraktat. Er enthält sowohl eine Apologie des Christentums als auch eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Koran, beides weitgehend einem zeitgenössischen Traktat des Theologen Juan de Torquemada OP entnommen. Adressat ist der türkische Sultan Mehmed II. selbst, womit dessen Bildung offensichtlich anerkannt ist. Die „causa scribendi“ bleibt letztlich unklar. Zwischen dem Kongress von Mantua (1459) und dem neuen Kreuzzugsaufruf des Jahres 1463 entstanden, handelt es sich möglicherweise um ein theologisch-rhetorisches Denkexperiment Pius’ II. für die Schublade. Abgeschickt wurde der „Brief“ wohl nie, ebenso wenig zu Lebzeiten des Papsts publiziert. Nach dessen Tod jedoch fand er sofort immense Verbreitung, Zeichen eines entsprechenden Bedarfs! Wichtig und neu ist zunächst, dass der Papst signalisiert: „keine Gewalt mehr, kein Kreuzzug“. Die Stärke des Westens mache es für Mehmed ohnehin unmöglich, weiter vorzudringen. Die utopische Vision am Ende des Texts: Mehmed II. soll stattdessen sich und sein Volk zum Christentum bekehren. Dann könne er, von allen – auch von Europa – bewundert, zum Herrscher, sozusagen zum Überkaiser, über ein unwiderstehliches Einheits- und Friedensreich aus lateinischem, griechischem, hebräischem und arabischem Kulturraum aufsteigen. Europa, in der engen Bedeutung „lateinischer Wes—————— 9 10 11 12 13
Vgl. Quelle Nr. 6.1c, D. Vgl. Quelle Nr. 6.1c, E. Vgl. Quelle Nr. 6.1b. Vgl. Quelle Nr. 6.1a. Vgl. Quelle Nr. 6.1d
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ten“ figuriert in dieser Vision, die übrigens deutlich messianisch-apokalyptische Untertöne besitzt, nur als Teil eines christlichen Universal- und Friedensreichs. Sowohl die Frankfurter Rede als auch die „Epistula ad Mahometem“ machen eines überdeutlich: Pius’ II. Gedanken zu Europa haben kaum etwas mit Toleranz zu tun, wie sie einige Zeitgenossen durchaus propagierten, so Kardinal Nikolaus von Kues („De pace fidei“), ein Freund des Papstes. Besinnung auf das Gemeinsame der Religionen bei bleibend respektierter Verschiedenheit (una religio in rituum varietate) wie bei Cusanus findet sich bei Pius nicht. Einheit und Frieden werden unter den Christen selbst gefordert – damit sie sich dann geschlossen auf den Kreuzzug und die Reconquista der verlorenen Gebiete konzentrieren. Zwischen Islam und Christentum scheint Friede nur vorstellbar, so die Vision der „Epistula“, wenn ersterer sich gleichsam selbst abschafft, wenn beide Religionen koinzidieren, indem der Sultan zum Christentum konvertiert. Fazit: Europa ist für Enea Silvio / Pius II. primär Christianitas, eine christliche Verteidigungs- wie auch eine Offensivgemeinschaft. Es ist ein Europa in Waffen, gerichtet vor allem gegen den Islam, den man in Gestalt ‚des Türken’ als aggressiv zu erleben glaubte. Der Gedanke christlich-europäischer Identität qua Wertegemeinschaft im antiken Erbe unter Einschluss der orthodoxen Griechen wird bei ihm, dem Humanisten, zwar kultiviert, ist aber im engeren Bezug auf Europa weniger deutlich entwickelt. Kunst und Nimbus des Humanisten, mehr noch seine einzigartige Autorität als Papst verliehen den Worten Pius’ II. für die nachfolgenden Generationen Europas einzigartiges Gewicht. Sein Werk ist vielgestaltig und fasziniert die Gegenwart zunehmend. Wer ihn für die Europaidee reklamiert, insbesondere Schnipsel seiner Frankfurter Rede zitieren zu müssen meint, sollte aber wissen, in welch massiv martialischem Kontext allein sie verständlich ist: von Turkophobie und Kreuzzug. Europa war eben schon damals ein „Appellbegriff“.14 Quellen sind aber per se anachronistisch und jeglicher political correctness widerständig. Quelle Nr. 6.1 Enea Silvio Piccolomini über Europa und die Türken (1454-1461)15
Quelle Nr. 6.1a Enea Silvio Piccolomini, „Asia“16 Europa ist durch Spanien, Italien und den Peloponnes südlich begrenzt, wobei es den Breitengrad berührt, der durch Rhodos führt. Im Norden dehnt es sich durch Germanien und Norwegen am
—————— 14 Blum, Paul Richard, Europa – ein Appellbegriff, in: Archiv für Begriffsgeschichte 43 (2001), S. 149171. 15 Für die „Europa“ und die „Epistula ad Mahometem“ liegen moderne kritische Ausgaben vor, für die „Asia“ und Frankfurter Rede „Clades“ ist auf die alten Drucke zurückzugreifen. Für die „Epistula“ liegt eine deutsche Übersetzung vor, die hier übernommen wird. Die übrigen Übersetzungen stammen vom Verfasser. 16 Enea Silvio Piccolomini, Aus der „Asia“: Pius II., Cosmographia Pii papae in Asiae et Europae eleganti descriptione, o. D., o. O. [Paris 1509], S. 4f.
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weitesten aus. [...] Europa und Asien sind durch einen Landrücken verbunden, der sich zwischen den mäotischen Sümpfen [Asowsches Meer] und dem sarmatischen Meer [Ostsee] bis oberhalb der Quellen des Tanais [Don] hinzieht.
Quelle Nr. 6.1b Enea Silvio Piccolomini, „De Europa“17 Die Ereignisse, die unter Friedrich, dem dritten Kaiser dieses Namens, bei den Europäern und, soweit sie für Christen gehalten werden, bei den Inselbewohnern geschehen sein sollen, will ich, sofern sie der Erinnerung wert und mir bekannt geworden sind, der Nachwelt in möglichst knapper Form überliefern.
Quelle Nr. 6.1c Enea Silvio Piccolomini, „Constantinopolitana clades“18 A. Konstantinopels Untergang, ehrwürdige Väter, erlauchte Fürsten und ihr anderen nach Stand und Bildung hervorragenden Männer, der für die Türken ein großer Sieg, für die Griechen die größte Katastrophe, für die Lateiner die höchste Schmach war, ängstigt und quält einen jeden von euch, wie ich glaube, umso mehr, je edler und besser ihr seid. Denn was kommt einem guten und edlen Mann ehr zu als sich um den Glauben zu sorgen, die Religion zu fördern, den Namen des Erlösers Christus wie er kann zu stärken und zu erhöhen? Aber nachdem nun Konstantinopel verloren, eine so große Stadt in die Gewalt der Feinde geraten, so viel Christenblut vergossen ist, so viele Gläubige in die Knechtschaft geführt sind, ist der katholische Glaube schwer verwundet, unsere Religion schändlich erschüttert, der Name Christi im Übermaß geschädigt und erniedrigt. Auch viele Jahrhunderte zuvor hat die Christengemeinschaft, wenn wir die Wahrheit bekennen wollen, niemals größere Schmach erlitten als jetzt. Denn in früheren Zeiten wurden wir in Asien und Afrika, das heißt auf fremdem Gebiet, verwundet, nun aber sind wir in Europa, das heißt im Vaterland, im eigenen Haus, an unserem Sitz erschüttert und niedergemetzelt worden. Und obwohl jemand sagen mag, die Türken seien doch [schon] vor vielen Jahren von Kleinasien nach Griechenland übergesetzt, die Tataren hätten sich diesseits des Don festgesetzt, die Sarazenen nach Überschreitung der Straße von Gibraltar einen Teil Spaniens okkupiert; so haben wir doch niemals eine Stadt oder einen Ort in Europa verloren, der Konstantinopel vergleichbar wäre. [...] Und dieser so vorteilhafte, so nützliche, so notwendige Ort, ging dem Erretter Christus verloren und wurde Beute dem Verführer Mohammed, – während wir schwiegen, um nicht zu sagen: schliefen. [S. 263f.] B. Zuerst wollen wir über die Berechtigung zum Krieg nachdenken. Einen Krieg, der zum Schutz der Religion, zur Rettung des Vaterlands, zur Bewahrung der Verbündeten mit der Autorität eines Hochgestellten geführt wird, hat nie einer der Alten für ungerecht gehalten. Deswegen empfehlen sich die Kämpfe des Moses, des Josua, des Saulus, des David, der Machabäer. Hier erfüllen sich die Klagereden des Demosthenes, über die das voll besetzte Theater in Athen jubelte, in denen er die in Marathon, am Kap Artemision, in Salamis für das Vaterland Gefallenen [den Athenern] anemp-
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Enea Silvio Piccolomini, Beginn von „De Europa“: Pius II., Enee Silvii Piccolominei postea Pii PP. II De Europa, hg. von Adrianus van Heck (Studi e testi 398), Vatikanstadt 2001, S. 27, 1-3. Enea Silvio Piccolomini, Rede „Constantinopolitana clades“ in Frankfurt am 15. Okt. 1454: Pius II., Pii II orationes politicae et ecclesiasticae, hg. von Johannes Dominicus Mansi, 3 Bde., Lucca 1755-17571759, hier Bd. 1, S. 263-285 (relativ bester der alten Drucke). Eine neue Edition durch den Verfasser in Deutsche Reichstagsakten (RTA), Bd. 19,2 steht vor dem Abschluss.
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fahl; deswegen werden aus dem Kreis der Römer die Horatier, Fabier, Decier und andere fast unzählige [Helden] gepriesen, die sich für das Heil ihrer Mitbürger opferten; deswegen werden aus dem Kreis eurer Deutschen ein Karl, ein Roland, ein Rainald, die Konrade, Ottonen, Heinriche und Friedriche mit ewigem Lobpreis geehrt, die sich, um die Grenzen der Christenheit zu schützen, den größten Gefahren aussetzten. Nie kam aber euren Vorfahren ein so gerechter Kriegsgrund entgegen wie euch. Nie haben sie so grausames Unrecht, so erniedrigende Schande von den Ungläubigen empfangen, wie es zu unserer Zeit die Gemeinschaft der Christen erduldet hat. [S. 266f.] C. Nun ist kurz der Nutzen dazulegen, der aus dem Krieg erfolgt [...] Wenn ihr also, ihr Fürsten, die Früchte dieses Kriegs gegen die Türken kennen lernen wollt, so wägt den Schaden ab, der dem ganzen Christentum droht, wenn der türkische Ansturm nicht gebrochen wird. Ihr habt gehört, was die Bewohner Konstantinopels erlitten haben, das Gleiche erwarten viele Städte, wenn wir nicht helfen, solange es Zeit ist. Die Krankheit schleicht von Tag zu Tag weiter und weiter fort, jetzt geht die eine, dann eine andere Provinz verloren. [...] Die Ungarn, bisher Schild unseres Glaubens und Schutzmauer unserer Religion, wurden nach dem Tod König Albrechts zweimal im Krieg besiegt, zweimal von den Türken besetzt und haben in zwei Schlachten mehr als einhunderttausend Mann verloren. [...] Groß ist die Macht der Türken in Europa und in Asien. [...] Wenn Ungarn besiegt oder zur Bundesgenossenschaft mit den Türken gezwungen wird, dann werden weder Italien noch Deutschland sicher sein und der Rhein wird die Franzosen nicht mehr sichern. [S. 271] D. Kämpfen müsst ihr Fürsten, allemal, wenn ihr frei sein, wenn ihr das Leben eines Christen weiter führen wollt. Denkt nun nach, ob das eher mit gesunden und intakten oder mit gebrochenen und zerstreuten Bundesgenossen zu bewerkstelligen ist. [...] Denn wenn man draußen eine Schlappe erleidet, kann das korrigiert werden; Niederlagen, die man auf eigenem Gebiet erleidet, sind tödlich. Und ihr also, Teutonen, wenn ihr, was ich hoffe, weise seid, dann ahmt ihr eure Vorfahren nach, die immer Kriege außerhalb des eigenen Landes geführt haben und Grenzen der Nachbarn nicht weniger als die eigenen beschützt haben. Wenn ihr, Deutsche, in dieser Zeit die Ungarn im Stich lasst, gibt es keinen Grund, warum ihr dann von den Franzosen Hilfe fordern könntet, und diese wiederum werden keine Hilfe bei den Spaniern finden. [S. 272] E. „Aber ihr werdet nicht allein kämpfen, ihr Deutschen“, möchte ich sagen: aus Italien, aus Frankreich, aus Spanien, werden viele kommen, weder die Ungarn noch die Böhmen, sehr tapfere Völker, werden fehlen, die Serben, die Bulgaren, alle Bewohner des Balkans, alle Griechen werden die Gelegenheit ergreifen und sich erheben. Auch Nachbarn in Asien werden die Hand reichen. Glaubt nicht, ihr Fürsten, ganz Kleinasien gehorche Mehmed so, dass es nicht noch viele gäbe, die Christus dienen; viele in Kilikien, Bithynien, Kappadokien, Pontos und Syrien sind Christen, wenn auch mit dem Joch der Knechtschaft belegt. Die Hiberer, die auch Georgier genannt werden, die Trapezuntiner, die Armenier verehren Christus und werden nicht zögern, die Waffen zu ergreifen, wenn sie nur euch wagemutig sehen. [S. 279]
Quelle Nr. 6.1d Enea Silvio Piccolomini, „Epistula ad Mahometem“19 Vor allem aber ist gezeigt worden, dass Du den Ruhm und die Machtstellung, die Du Dir zu wünschen scheinst, unter den Christen, zumal bei den Europäern und den abendländischen Völkern, nicht erreichen kannst, solange Du in Deinem Irrglauben verharrst. Für den Fall aber, dass Du
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Enea Silvio Piccolomini, „Epistula ad Mahometem“: Pius II., Epistula ad Mahumetem. Einleitung, kritische Edition, Übersetzung, hg. von Reinhold F. Glei und Markus Köhler (Bochumer Altertumswissenschaftliches Colloquium 50), Trier 2001, Nr. 148 mit wichtiger Einleitung, S. 12-115.
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bereit sein solltest, Dich in die christlichen Sakramente einweihen zu lassen, haben wir Dir große Hoffnung auf Macht und Ruhm in Aussicht gestellt. Erinnere Dich also an unsere Worte und nimm vertrauenswürdigen Rat an: Empfange die Taufe Christi und Waschung des Heiligen Geistes! Nimm das allerheiligste Evangelium in Dein Herz auf und vertraue Dich ihm vollständig an! So wirst Du Deine Seele gewinnen, so wirst Du gut für das Volk der Türken sorgen, so werden sich Deine Pläne erfüllen können, so wird Dein Name in Ewigkeit gepriesen werden, so wird Dich ganz Griechenland, ganz Italien, ganz Europa bewundern, so werden Dich die lateinischen, die griechischen, die hebräischen, die arabischen und alle barbarischen Schriftwerke preisen, so wird kein Zeitalter mit Lobpreisungen auf Dich verstummen, so wirst Du Urheber des Friedens und Begründer der Ruhe genannt werden, so werden Dich die Türken den Wiederentdecker ihrer Seelen und die Christen den Retter ihres Lebens nennen. Die Syrer, Ägypter, Libyer und Araber, und welche Völker sich noch außerhalb der Hürden Christi befinden, werden, wenn sie davon hören, entweder Deinem Weg folgen oder von Deinen und den christlichen Waffen mit Leichtigkeit bezwungen werden, und wenn sie Dich nicht als Verbündeten unter unserem Gesetz haben wollen, werden sie Dich als Herrn in ihrem eigenen zu spüren bekommen. Wir werden Dich unterstützen und Dich mit Hilfe der göttlichen Gnade als rechtmäßigen Herrscher über diese Völker einsetzen. [148, S. 12]
Literatur Hankins, James, Renaissance crusaders: Humanist crusade literature in the age of Mehmed II., in: Dumbarton Oaks Papers 49 (1995), S. 111-207; wieder in: Ders., Humanism and Platonism in the italian Renaissance (Storia e letteratura 215), Rom 2003, S. 293-424 Helmrath, Johannes, Pius II. und die Türken, in: Guthmüller, Bodo; Kühlmann, Wilhelm (Hg.), Europa und die Türken in der Renaissance (Frühe Neuzeit 54), Tübingen 2000, S. 79-137 Ders., The German „Reichstage“ and the Crusade, in: Housley, Norman (Hg.), Crusading in the fifteenth century. Message and impact, Basingstoke 2004, S. 53-89, 191-203 Mertens, Dieter, „Europa, id est patria, domus propria, sedes nostra...”. Funktionen und Überlieferung lateinischer Türkenreden im 15. Jahrhundert, in: Erkens, Franz Reiner (Hg.), Europa und die osmanische Expansion im ausgehenden Mittelalter (ZHF Beiheft 20), Berlin 1997, S. 39-58 Meuthen, Erich, Der Fall von Konstantinopel und der lateinische Westen, in: HZ 237 (1983), S. 1-35 Oschema, Klaus, Der Europa-Begriff im Hoch- und Spätmittelalter. Zwischen geographischem Weltbild und kultureller Konnotation, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 26 (2001), S. 191-234
DAS SCHWEDISCHE KRIEGSMANIFEST VOM JULI 1630 UND DIE FRAGE NACH 1 DEM CHARAKTER DES DREIßIGJÄHRIGEN KRIEGES Von Heinz Schilling Das Kriegsmanifest Gustav Adolfs von Schweden, das im Juli 1630 Dutzende von Flugschriften durch Deutschland trugen, um die am 26. Juni mit der Landung des schwedischen Heeres auf der Insel Usedom begonnene Intervention im Reich zu legitimieren, fand große Beachtung, bei den Zeitgenossen nicht anders als später bei den Historikern. Denn erst dieser Kriegseintritt Schwedens ließ die konfessions- und machtpolitischen Auseinandersetzungen im Reich zu jenem Dreißigjährigen Krieg werden, der – wie noch die Europaratsausstellung 1648 – Krieg und Frieden in Europa 1998 in Münster und Osnabrück gezeigt hat – bis heute als traumatische Erfahrung und lieu de mémoire im Geschichtsbewusstsein der Deutschen fortlebt.2 Wichtiger indes als diese ereignis- und mentalitätsgeschichtlichen Zusammenhänge sind für den Analytiker des frühneuzeitlichen Europa und der dieses bestimmenden Kräfte die inhaltlichen Gründe, die das Manifest für das Eingreifen der nordischen Macht in Mitteleuropa anführt: Das Bild des lutherischen Glaubenshelden vor Augen, der als Daniel und Löwe aus dem Norden den deutschen und europäischen Protestantismus in letzter Minute vor dem römisch-spanisch-österreichischen Verderben rettete, das die zeitgenössische Propaganda von Gustav Adolf zeichnete und das noch die tonangebenden, protestantischen Geschichtsdarstellungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestimmte, sucht der Leser der Flugschrift zuerst und vor allem nach Belegen eines solchen konfessionellen Engagements – vergeblich, wie er bald feststellen muss. Das Schriftstück wird ganz und gar durch weltliche Argumente und Begründungen bestimmt – Commercien und Kauffmannschaft in den Seehäfen; die regionale Mächtebalance, die durch die Außbrief ung deß ungehewren Tituls von dem Generalat über das Balthische Meer an Wallenstein aufs schwerste gestört wurde; die Reputation Schwedens und seines Königs, die mit Füßen getreten wurde, indem Brieffe abgefangen und erbrochen; Freunde, Benachbarte und Blutsverwandte unter dem Neyd seines Namens unterdrucket; selbst Gesandte, welche den Frieden handeln sollten, über barbarische weise verschmählich verrstossen wurden. Entsprechend ist das juristische Instrumentarium zur Rechtfertigung der kriegerischen Gewaltanwendung gewählt – das Jus defensionis; die Beypflichtung aller Völker, Einrathung der Vernunfft, unnd fast antreibung der Natur selbsten, also das gerade in jenen Jahrzehnten von den führenden juristischen Köpfen Europas, allen voran spanischen und niederländischen, entwickelte Völker-, Vernunft- und Naturrecht. Religion kommt nur nebenher und eher unspezifisch ins Spiel – durch eine eher floskelhafte Nennung Gottes und in der fast stereotyp zu nen—————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 6.2, Flugschrift: Das schwedische Kriegsmanifest vom Juli 1630. Vgl. Bußmann, Klaus; Schilling, Heinz (Hg.), 1648 – Krieg und Frieden in Europa, Aufsatzband I (Politik, Religion, Recht und Gesellschaft) zur Ausstellung zum 350. Jahrestag des Westfälischen Friedens, München 1998.
Das schwedische Kriegsmanifest vom Juli 1630
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nenden Verbindung Religion, Freyheit unnd Commercien. Angesichts dieses Befundes erstaunt es nicht, dass noch jüngst Pärtel Piirimäe vom St. John’s College, Cambridge, und Konrad Repgen, ein ausgewiesene Kenner des Zeitalters, der über jeden Verdacht erhaben ist, Religion als Triebkraft der Geschichte nicht ernst zu nehmen, das schwedische Kriegsmanifest vor dem Hintergrund der zeitgenössischen bellum iustum Theorien interpretiert und dabei eindrücklich die von konfessioneller Motivation unberührten, säkularen, interessenspolitischen Motive des aufsteigenden schwedischen Machtstaates herausgearbeitet haben.3 Wenn es somit bereits bei dem Vorzeigebeispiel eines protestantischen Glaubenshelden an religiösen Argumenten für den Kriegseintritt mangelt, so haben am Ende die Interpreten – vor allem Marxisten oder bürgerliche Ökonomisten – recht, die dem Dreißigjährigen Krieg von vornherein den Charakter eines Glaubenskrieges absprechen und in der in anderem Zusammenhang ja durchaus vorhandenen religiösen Argumentation der Protagonisten nur ein Schibboleth oder die verschleiernde Ideologie für „eigentlich dahinter stehend Kräfte“ sehen? So einfach scheinen mir die Verhältnisse in Alteuropa nicht zu liegen, und schon gar nicht in den Jahrzehnten um 1600 im Falle Schwedens und Gustav Adolfs und auch nicht bezogen auf das große Mächteringen insgesamt und die anderen daran beteiligten Akteure. Zunächst erscheint es mir irreführend, die Analyse ganz auf die Motive und die explizit ausgesprochenen Legitimationsmuster zu beschränken. Vielmehr ist auch über die in juristisch argumentierenden Manifesten naturgemäß kaum greifbaren strukturgeschichtlichen Zusammenhänge nachzudenken, die in eben jenen Jahrzehnten durch eine enge Verschränkung von Religion und Politik gekennzeichnet waren, so dass sich für das ausgehende 16. und das frühe 17. Jahrhundert für Europa von einer Phase endemischer Religions- oder, präziser gesagt, Konfessionskriege sprechen lässt.4 Zum andern ist die Quellengrundlage zu erweitern und neben primär politisch und juristisch argumentierenden Verlautbarungen nach Art des vorliegenden Kriegsmanifestes die ganze Breite des zeitgenössischen Schrifttums heranzuziehen, die Publizistik ebenso wie geheime Exposés oder private und diplomatische Korrespondenz; Predigten und Postillen ebenso wie theologische Traktate, Gesänge und Gebetesammlungen. Die Erforschung der zeitgenössischen Publizistik zur Intervention und den anschließenden Kriegserfolgen Schwedens, um nur unser konkretes Beispiel etwas näher zu betrachten, durch Germanisten und Theologen belegt eine breite Palette religiöser Konnotationen, die tief in der Konfessionskultur sowohl Schwedens als auch des protestantischen Deutschlands verwurzelt waren.5 Selbst in unserem Kriegsmanifest, jeden—————— 3
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Piirimäe, Pärtel, Just war in theory and pratice: Legitimation of Swedish intervention in the 30 Years War, in: The Historical Journal 45 (2002), S. 499-523; Repgen, Konrad, Krieg und Kriegstypen, in: Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg. v. Franz Bosbach und Christoph Kampmann, Paderborn 1998, S. 3-20. Vgl. Schilling, Heinz, Die konfessionellen Glaubenskriege und die Formierung des frühmodernen Europa, in: Herrmann, Peter (Hg.), Glaubenskriege in Vergangenheit und Gegenwart, Göttingen 1996, S. 123-137. Vgl. vor allem die Arbeiten von Harms, Wolfgang, Gustaf Adolf als christlicher Alexander und Judas Maccabaeus. Zu Formen des Wertens von Zeitgeschichte in Flugschrift und illustriertem Flugblatt um 1632, in: Wirkendes Wort 4 (1985), S. 168-83; Tschopp, Silvia Serena, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des 30-jährigen Krieges: Pro- und antischwedische Propaganda in
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falls in der vorliegenden deutschsprachigen Variante, taucht an einer Schaltstelle massiv das konfessionelle Moment auf: Gleich zu Beginn, als von den gemeinen FriedensHassern die Rede ist, die fast das gantze Deutschland mit Mord vnd Brand verwüstet haben, wird auch für den flüchtigsten Leser unübersehbar am Rand der Flugschrift der konfessionelle Hintergrund dieses „Friedenshasses“ hervorgehoben: N.B. Jesuiter und deren Helfershelfern. Diese Zuweisung der Verantwortung für den Krieg im allgemeinen und die Notwendigkeit schwedischer Intervention im besonderen an den aggressiven katholischen Konfessionalismus, für den hier wie in einer Vielzahl ähnlicher Quellen die Jesuiten stehen, bleibt bis zum Ende des Kriegsmanifests stets präsent. Die konfessionellreligiösen Zusammenhänge des internationalen Mächtegeschehens wurden von den Verfassern und Bearbeitern des schwedischen Kriegsmanifestes jedoch nicht nur negativ, also gegen den katholischen Gegner gerichtet, ins Spiel gebracht, sondern auch positiv auf die eigene Glaubensstärke bezogen: In einer noch im Jahre 1630 erfolgten Neuauflage des Manifestestes wurde ein kleiner, aber bezeichnender Anhang aufgenommen, der dem Moment der Landung des schwedischen Heers auf Usedom – im Text mit Rügen verwechselt – gewidmet ist: Wie Ihr Kön. Mayt. auffm Lande zu Rügen gewesen, vnd alle Orther besichtiget, da hat er offentlich in beysein vieler Officirer vnd Hauptleute, auch anderer auss der Stadt Stralsund, so es wider referirt, seine Augen vnd gefaltete Hende nach dem Himmel gewendet, vnd also gebeten. ACH du Gerechter vnd Allerhöchster, vnd recht Onüberwindliebster GOTT, ein Herr Himmels vnd der Erden, dir ist bekannt meines Hertzens Sinn vnd Meynung, vnd das dis mein hohes Werk nicht zu meinem, sondern zu deinem und deiner bedrengten Christenheit Ehren, gereichen sol vnd muss, Darum, ist es dein Göttlicher Wille, vnd in deinem Rahte zeit, so gib mir Wint und Wetter, dass ich meine Armee, so ich auss vielen Völkern gesamblet, bald zusammen vnd zu mir bekommen müge. Wie nun hierüber den Vmbstehenden die Augen vbergangen, vnd Er es gesehen, da hat er gesprochen: Ja, Ja, das wils Ihme nicht thun, sondern betet mit mir, dann wor viel Betens, da ist viel 6 vnd mehr Hülffe.
Gustav Droysen konnte bereits Anfang des vorigen Jahrhunderts in einer minutiösen medien- und druckgeschichtlichen Analyse nachweisen, dass dieses Gebet kaum von dem König selbst gesprochen wurde, jedenfalls nicht in einer solchen emphatischen Szene. Auch konnte er zeigen, dass die bald durch Deutschland und wohl auch Schweden verteilte bildliche Umsetzung dieser angeblichen Gebetsszene7 – der König am Strand von Usedom kniend sein Gebet verrichtend – einen gewissen Realitätsbezug besaß, dieser aber mit königlicher Frömmigkeit oder Demut nichts zu tun hatte: Gustav Adolf hatte nämlich die Entfernung falsch eingeschätzt – womöglich wegen seiner extremen Kurzsichtigkeit, die ihm schließlich in Lützen das Leben kosten sollte – als er ——————
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Deutschland 1628-1635, Frankfurt am Main 1991; Kaufmann, Thomas, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur, Tübingen 1998, v.a. S. 56ff. Text nach Droysen, Gustav, Landegebet, in: Ders., Geschichte der Gegenreformation, Berlin 1893, S. 274. Abgedruckt findet sich die Abb. unter dem Titel: Johan Hammer, The landing of Gustavus II Adolphus at Peenemünde on June 25, 1630, ca. 1670, in: Bußmann; Schilling (Hg.), 1648 (wie Anm. 2), S. 188.
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am 26. Juni 1630 als einer der ersten von seinem Landungsboot aus an Land gesprungen war, worauf er gestürzt war und sich empfindlich am Knie verletzt hat. Dies alles, vor allem die Umdeutung seines Unfalles zu einer Gebetsszene, macht im Kontext modern rationaler Beurteilung zunächst einmal skeptisch sowohl gegenüber der Religiosität der Akteure als auch gegenüber der Interpretation des Dreißigjährigen Krieges als Religionskrieg durch heutige Historiker. Tiefer analysiert und in ihren weiteren historischen Kontext gesetzt, sind das schwedisches Kriegmanifest und die religiös-konfessionelle Konnotation der schwedischen Kriegspropaganda, die ja bekanntlich weit über die hier besprochenen Sachverhalte hinausreicht8, jedoch eher geeignet, eine solche Interpretation zu stärken als zu widerlegen. Schon das in der Neuausgabe der Manifestflugschrift wiedergegebene Gebet ist keineswegs fiktiv. Es ist – wie ein glücklicher Fund Droysens belegt – einer in Taschenbuchformat gedruckten Gebetesammlung entnommen, die vom zuständigen Feldkonsistorialpräsident Johannes Botvid zusammengestellt und gleich zu Beginn der Militärexpedition in Deutschland zum alltäglichen Gebrauch an die Mitglieder des schwedischen Heeres verteilt worden war.9 Der in der Neuauflage des Kriegsmanifestes als Gebet des Königs mitgeteilte Text entsprach im Wesentlichen dem Gebet des Taschengebetsbuches, das die Armee während des unmittelbar nach der glücklichen Landung auf Usedom abgehaltenen Militärgottesdienstes gesprochen hatte. Was auf den ersten Blick nur als schierer Propagandatrick und zynische Instrumentalisierung der Religion erscheint, erweist sich somit als eine Art königliche Repräsentation der religiösen und konfessionellen Identität des schwedischen Heeres und – wie in diesem Stadium, als das Heer sich noch weitgehend aus schwedischen Adeligen und Bauern zusammensetzte, noch geschlussfolgert werden darf – der schwedischen Nation. Die schwedischen Konfessions- und Staatenbildungsgeschichte kann hier nur in den Grundlinien festgehalten werden: Die ungeheuere politische, ökonomische und geistigkulturelle Modernisierung, die das Land seit Ausgang des 16. Jahrhunderts erlebte und die parallel zu den militärischen Aktionen im Ausland ihren Höhepunkt erreichte, einerseits und die zeitlich wie sachlich damit aufs engste verkoppelte lutherische Konfessionalisierung andererseits. Auch in Schweden waren innere Staatsbildung und äußere Machtstaatspolitik unabhängig von der Religions- und Kirchenfrage eine Resultante einer im Spätmittelalter verwurzelten Konstellation, die wesentlich von Kräften bestimmt war, die auch andernorts das frühmoderne Mächtespiel bestimmten – durch die Tradition, hier konkret des Unions-Gegensatzes zu Dänemark-Norwegen, vergleichbar der west- und mitteleuropäischen Traditionslinie des Habsburg-Valois/BourbonGegensatzes. Damit engstens verbundenen waren die dynastischen Interessen einer jungen und im Kreis des internationalen Hoch- und Kronadels noch wenig angesehenen Dynastie, die ungeachtet der spezifischen Bedingungen eines „Volkskönigtums“ auf Steigerung ihrer internationalen Reputation und vor allem kriegerischen Ruhm angewiesen war. Betroffen waren schließlich auch die Staatsinteressen, die auf die außenpolitische Positionierung innerhalb des noch regionalen Mächtekreises der Ostsee und des —————— 8 9
Vgl. Droysen (wie Anm. 6). Droysen (wie Anm. 6), S. 279.
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Baltikums ausgerichtet waren, zunehmend aber auch durch Wirtschafts-, insbesondere Handelsinteressen bestimmt wurden. Wie allenthalben in Europa verkoppelten sich diese säkularen Staats- und Machtstaatsinteressen mit religiösen und konfessionspolitischen Positionen. Auch für Schweden bedeutete bereits die in den 1520er Jahren gefallene Entscheidung für die Reformation einen wichtigen Impuls für die innere Staats- und Nationenbildung – institutionell und hinsichtlich des Anwachsens staatlicher Handlungsfelder, vor allem aber auch hinsichtlich der kulturellen und politischen Identität, die nachhaltig von Reformation und Luthertum geprägt wurde. Eine entscheidende Dynamisierung, auch und gerade in der Außen- und Machtpolitik, ergab sich aber erst ausgangs des 16. Jahrhunderts im Zeichen der Konfessionalisierung dieser lutherischen Reformationsidentität. Wichtiger noch als die interne Festsetzung von Dogma, Ritus etc. war dabei die Abgrenzung nach außen, und zwar sowohl gegenüber dem Calvinismus als auch gegenüber dem Katholizismus.10 Wichtig sind für den vorliegenden Zusammenhang zweierlei, dass die nächste Generation, die 1611 mit Gustav Adolf und seinem Kanzler und späteren Reichsverweser Axel Oxenstierna an die Regierung kam, bereits fest auf dem Boden sowohl des orthodox-lutherischen Konfessionalismus11 als auch der spezifisch kirchenrechtlichen Regelung zugunsten der Geistlichkeit stand, und dass dieser lutherische Konfessionalismus Rückwirkungen nicht nur auf ihre Innen-, sondern auch auf ihre Außenpolitik hatte: Die innere konfessionelle Geschlossenheit sollte nicht zuletzt der außenpolitischen Sicherheit dienen. Das richtete sich zunächst gegen den katholischen Block, dessen Bedrohung man historisch in den Aktivitäten der jesuitischen Akteure des katholischen Internationalismus zur Zeit Johanns III. und aktuell in der Konfrontation mit der katholischen Wasalinie in Polen vor Augen hatte. So kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die schwedische Außenpolitik seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert auch von dem entschiedenen Willen bestimmt war, sich gegenüber den Expansionsabsichten der katholischen Nachbarn zu behaupten, zunächst und vor allem gegenüber Polen, seit den 1620er Jahren zunehmend auch gegenüber den Habsburgern und dem Kaiser, die bekanntlich im „kaiserlichen Jahrzehnt“ des Dreißigjährigen Krieges auf der Gegenküste Fuß gefasst hatten. Auch hinsichtlich des Selbstverständnisses und der „ideologischen“ Rechtfertigung kann kein Zweifel bestehen, dass Oxenstierna nicht anders als Gustav Adolf ihre Außen- und Machtpolitik als lutherische Regenten und gleichsam im Angesicht des evangelischen Gottes betrieben.12 In der konfessions- und politikkulturellen Prägung dieser religiösen Komponente der schwedischen Politik lassen sich allerdings charakteristische Unterschiede gegenüber ähnlichen Verlautbarungen aus anderen protestantischen, zumeist aus calvinistischen Ländern feststellen. Vor allem ist bei den —————— 10 Einzelheiten müssen hier übergangen werden, vgl. dazu demnächst das Schwedenkapitel in Schilling, Heinz, Konfessionalisierung und Staatsinteresse. Internationale Beziehungen 1559-1660, Paderborn 2006. 11 Verpflichtung auf CA invariata, wenn auch keine formelle Annahme der Konkordienformel. 12 Belege in Droysen, Gustav (Hg.), Schriftstücke von Gustaf Adolf zumeist an evangelische Fürsten Deutschlands, Stockholm 1877, S. 4, 5, 16, 17f., 22, 26 u.a.; Zit. n. der deutschen Übersetzung bei Goetze, Siegmund, Die Politik des schwedischen Reichskanzlers Axel Oxenstierna gegenüber Kaiser und Reich, Kiel 1971, S. 26.
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schwedischen Außenpolitikern kaum, wenn überhaupt jene eschatologischapokalyptische Endzeitinterpretation des Mächteringens anzutreffen, die für das calvinistische Umfeld typisch ist, ebenso wenig die im katholischen Mächtekreis anzutreffende Kreuzzugspropaganda.13 Damit zusammenhängend unterschieden sich auch Konzeption und geographische Reichweite der Außenpolitik deutlich. Das alles ist an anderer Stelle detailliert zu beschreiben14, auch ist mir bewusst, dass die erst im ersten Drittel des 17. Jahrhunderts entschieden lutherisch konfessionalisierte Konfessionskultur Schwedens der vertiefenden Erforschung bedarf – durch die Auswertung der theologischen Abhandlungen, Predigttexte und Erbauungstraktate, die zu Hunderten noch weitgehend unerforscht in der königlichen Bibliothek Stockholm und der Universitätsbibliothek Uppsala stehen, aber auch der kirchlichen und staatlichen Verlautbarung zu Erziehung und moralischen Disziplinierung sowie zur demographischen Erfassung der häufig weit entlegenen Gemeinden, die gleichermaßen der lutherischen Konfessionalisierung wie der Alphabetisierung und dem lückenlosen Zugriff des Militärstaates auf seine Untertanen galten. Die vorgelegte Skizze der konfessionspolitischen Zusammenhänge dürfte aber bereits deutlich gemacht haben, dass einerseits das weitgehende Schweigen des Kriegsmanifestes über religiöse Fragen durchaus Ausdruck der lutherischen Konfessionskultur Schwedens ist, es andererseits aber verfehlt wäre, aus diesem Schweigen zu schließen, dass der Eintritt Schwedens in den Dreißigjährigen Krieg und dieser insgesamt wenig oder nichts mit der Religion zu tun hatten, die anderwärts und vor allem in der Propaganda anzutreffenden konfessionellen Argumente vorgeschoben und damit Ideologie zur Mobilisierung der kriegsunwilligen Völker gewesen wären. Auch nach der Lektüre des schwedischen Kriegsmanifestes muss man davon ausgehen, dass der Dreißigjährige Krieg nicht nur Staatenbildungs- und Staatenkrieg war, wie ihn noch jüngst Johannes Burkhardt so überzeugend beschrieben hat15, sondern auch, und zwar autochthon und unabgeleitet von diesen säkularen Ursachen, um der Konfession willen geführt wurde und damit ein Glaubenskrieg war.
—————— 13 Vgl. dazu Pohlig, Matthias, Konfessionskulturelle Deutungsmuster internationaler Konflikte um 1600 – Kreuzzug, Antichrist, Tausendjähriges Reich, in: Archiv für Reformationsgeschichte 93 (2002), S. 278-316; Schilling, Heinz, La confessionalisation et le système international, in: Bély, Lucien (Hg.), "L'Europe des traités de Westphalie. Esprit de la diplomatie et diplomatie de l'esprit", Paris 2000, S. 411-428. 14 Vgl. Anm. 10. 15 Burkhardt, Johannes, Der Dreißigjährige Krieg, Frankfurt am Main 1992.
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Quelle Nr. 6.2 Flugschrift: Das schwedische Kriegsmanifest vom Juli 163016 Vrsachen/Dahero Der Durchleuchtigste vnnd Großmächtigste Fürst vnnd Herr/Herr GUSTAVUS ADOLPHUS Der Schweden/Gothen vnnd Wenden König/.../etc. Endlich gleichfalls gezwungen worden/mit dem Kriegsvolck in Deutschland überzusetzen vnnd zu verrucken. Auß dem Lateinischen verdeutschet. Stralsund/Im Monat Julio Anno M.DC.XXX. in der Ferberischen Druckerey. Es ist ein altes Sprichwort, daß niemand länger Frieden haben könne, als seinem Nachbar beliebe oder gefalle: Solches Sprichwort, wie warhafftig es sey, hat mit ihrem Schaden in vergangenen Jaren erfahren vnd erfähret es noch täglich, die Königliche Majestät in Schweden. Denn ob sie wol keines Dinges sich embsiger bemühet vnd beflissen, durch die gantze Zeit Ihrer Königlichen Regierung, denn daß sie mit allen ... vnverfälschte Freundschafft erhalten möchte, damit der Friede ... erhalten wurden: Hat sie doch nichts mehr erhalten können, denn daß von etzlichen deß gemeinen FriedensHassern [Am Rand: N.B. Jesuiter und deren Helfershelfern] / (nach dem dieselbe fast das gantze Deutschland mit Mord vnd Brand verwüstet) ... von einem Jahr zu dem andern, also je grössere vnnd grössere Nachstellungen gemacht worden. Ihre Königliche Majestät ist zwar vorlängsten auch von vielen Ständen in Deutschland erinnert worden, ... [sie] müste die Waffen alsbalden ergreiffen, in Teutschland kommen, vnd mit gemeiner Macht das allgemeine Fewer außleschen: Mit der gewissen Erinnerung, daß es auch Ihrer Königlichen Mayst. Sachen anlangete, wenn dero Benachbarten Provintzen in dem Fewer stünden. [...] Damit sie das Königreich Schweden von aller menschlichen Gesellschafft Bündnüssen verstoßen möchten, haben sie [nicht nur die Feinde Schwedens, namentlich Polen und Dänen, unterstützt sondern darüber hinaus] Ihrer Königl. Majest. vnschuldige Vnterthanen, wenn solche wegen Kauffmanschafft in den Seehäfen deß Deutschen Landes angeländet, irer Güter mit Gewalt entsetzet, die Schiff arrestiret vnd vnbilliger weise beraubet: [Das alles und der Vorstoß der Kaiserlichen Truppen unter Wallenstein nach Norddeutschland habe] nur dahin gezielet, damit sie die Vnterthanen deß Königreichs Schweden gantz abdringten, vnnd durch diese gelegenheit Schiffe vnd Rüstung zu Wasser in Bereitschafft brächten, auff daß sie den in ihren Gemüth gefasten Gifft in das Balthische Meer selbsten außspeyen köndten: Inmassen es denn in folgendem Jahr die Außbrieffung deß vngehewren Tituls von dem Generalat über das Balthische Meer ... viel offenbarer angezeiget. […]
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Quelle: Der abgedruckte Textauszug folgt dem Abdruck bei Goetze, Axel Oxenstierna (wie Anm. 12), Anhang II, S. 349-365. Weitere Edition in: Sverker Oredsson, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg, Berlin 1994, Anhang 2, S. 286-293. Kürzungen im laufenden Text sind mit ... markiert, solche ganzer Passagen durch […]; Paraphrasen sind ebenfalls in eckige Klammer sowie kursiv gesetzt. Exemplare der insgesamt 18-seitigen deutschsprachigen Flugschrift sowie des lateinischen Originals befinden sich in der Königlichen Bibliothek Stockholm. – Ich bin mir bewusst, dass nichts als Grundlage einer Ehrung Hartmut Kaelbles ungeeigneter ist als ein Kriegsmanifest, und zwar sowohl im Hinblick auf seine liebenswürdige Persönlichkeit als auch auf seine Forschungsinteressen. Der hier vorgelegte Versuch mag dennoch zu rechtfertigen sein – weil das Manifest ein für die Frühneuzeitgeschichte charakteristisches Beispiel der von den Herausgebern gewünschten Quelleninterpretation ermöglicht und weil die Kriege und die weitgreifenden politischen, ökonomischen, technischen, geistig-kulturellen usw. Probleme, die damit zusammenhängen, das Profil Europas und seiner im Zentrum der Kaelbleschen Arbeiten stehenden Gesellschaften zweifellos nachhaltig geprägt haben.
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[Nachdem die von Wallenstein belagerte Stadt Stralsund um Hilfe nachgesucht, habe man] erwogen, daß die Bitte der betrangten Stadt in den Göttlichen vnnd Menschlichen Rechten gegründet were: Vnd darauff erwogen, wie die Statt mit dem Band der Ehr, Nachbarschafft, gemeiner Religion, Freyheit vnnd Commercien Ihrer Königl. May. Vorfahren, den Königen vnd Reiche Schweden jederzeit zugethan gewesen: Vnd endlich, mit was großer, nicht nur seiner vnd des Reichs Schweden, sondern aller Benachbarten, Gefahr es geschehen würde, wenn in diesem Port ein Nest zu einem Meerrauberischen Außlauff auß Privat Ehrgeitz eines jeglichen gemacht würde: Hat Ihre Königl. May. auff keinerley weise vnd recht sich länger auffhalten können: den Vntertrücketen, welche so inständiglich Hülff, Trost vnnd Raht begehrten, den Benachbarten vnd Freunden, vnd so wol zu ihrer selbst eygenen, als der öffentlichen vnd gemeynen Versicherung zum besten, so weit zu statten zu kommen. [... ] [Am Rande: Deß Königs in Schweden vrsachen zur Kriegsaußrüstung] Derhalben weil so viel vnd grosse Beleydigungen Ihr Königl. Mayst. würcklich angethan worden: Die Brieffe auffgefangen vnd erbrochen: Die Unterthanen, Diener, vnnd Soldaten beraubet, vnnd in die Dienstbarkeit hinweg geführet; die von Natur gemeine Commercien verbotten; dem Feinde so offtmals den Fried widerrahten, vnnd zu deß KönigReichs Schweden Verderben mächtige KriegsHülffe geschehen: Dargegen dem König in Schweden auch nicht ein friedlicher Durchzug vergönnet: Vielmehr aber die Freunde, Benachbarten vnnd Blutsverwandten vnter dem Neyd seines Namens vnterdrucket, jhrer Herrschafften beraubet, vnnd fast gar außgetilget; die Gesandten, welche den Frieden handeln sollten, über barbarische weise verschmählich verrstossen, vnd zum zweytenmal das feindselige Kriegs=Volck außgeschickt; vnd solches ohne alle gegebene Usach vnd pretest: Ob denn nicht dieses alles in gesampt, oder jedere Stück insonderheit mit einmütiger Beypflichtung aller Völcker, Einrahtung der Vernunfft, vnnd fast antreibung der Natur selbsten, der wichtigsten Würdigkeit seyn, von welchen, wo ferrn keine rechte Erstattung getroffen werden möchte, die gerechteste Rach vor / die Hand genommen werde: ... Ob denn nicht auch Einem der ungern daran kompt, sie das Jus defensionis aufftringen, damit er nur durch KriegsGebrauch aller Völcker eine Mässigkeit der vnsträfflichen Beschirmung leiste? Alldieweil dem, der soviel Wege deß Rechten versuchet, hinfürter keine rechtmessige Mittel zugelassen werden; ja das mehr ist, immerdar Feindseligkeiten vorgeworffen werden: Solte denn nicht das Recht selbsten endlich begehren, daß es in die Gewalt, die Gewalt mit Gewalt zu widertreiben, versetzet würde. [...] Derhalben weil keine andere weise mehr vorhanden, das Heyl zu erhalten, denn daß er [der König] nechst GOTT, mit den Waffen seine vnd der seinigen Sicherheit schaffe, hat er der gantzen Christenheit hiermit zu urtheilen ergeben wollen, mit was seinen Verübungen, vnnd wie vngern zu solchen extremiteten zu schreiten sey gezwungen worden. [...]
Literatur Kirkby, David, Northern Europe in the early modern period. The Baltic world 1492-1772, London 1990 Oredsson, Sverker, Geschichtsschreibung und Kult. Gustav Adolf, Schweden und der Dreißigjährige Krieg, dt. Übersetzung von Klaus R. Böhme, Berlin 1994 Piirimäe, Pärtel, Just war in theory and pratice: Legitimation of Swedish Intervention in the 30 Years War, in: The Historical Journal 45 (2002), S. 499-523 Repgen, Konrad, Krieg und Kriegstypen, in: Ders., Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hg. v. Franz Bosbach; Christoph Kampmann, Paderborn 1998, S. 3-20
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Schilling, Heinz, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 15591660, erscheint 2006, Paderborn Tschopp, Silvia Serena, Heilsgeschichtliche Deutungsmuster in der Publizistik des Dreizigjährigen Krieges: Pro- und antischwedische Propaganda in Deutschland 1628-1635, Frankfurt am Main 1991
KAISER NAPOLEON I. IM BERLINER STADTSCHLOSS1 Von Ilja Mieck Schon wenige Tage nach dem Sieg bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 zogen alle französischen Armeekorps weiter, um sich von drei Seiten der preußischen Hauptstadt zu nähern. Napoleon selbst hielt sich ab dem 24. Oktober zweieinhalb Tage in Potsdam auf, ritt am 26. Oktober nachmittags nach Spandau und Charlottenburg und vollzog, umgeben von seinen Generalen, seinen feierlichen Einzug in Berlin am späten Nachmittag des 27. Oktobers. Ob er sich östlich des Brandenburger Tores die Stadtschlüssel überreichen ließ, ist umstritten. Ein preußischer Kammerdiener namens Tamanti berichtet in seinen hier erstmals veröffentlichten Erinnerungen über die etwa vier Wochen im Herbst 1806, in denen Napoleon, der Sieger von Jena und Auerstedt, im Berliner Stadtschloss Quartier nahm. Wohl auch wegen seiner guten französischen Sprachkenntnisse war Tamanti von Friedrich Wilhelm III. Napoleon zur persönlichen Bedienung zur Verfügung gestellt worden. Den Namen „Tamanti“ erfährt man übrigens nur aus der sehr zuverlässigen Darstellung von Magnus Friedrich von Bassewitz, der – im Gegensatz zu Tamanti – auch mitteilt, dass der Kammerdiener mit einigen Lakaien und unter Leitung eines Kammerherrn und eines Hofstaatssekretärs nach Potsdam und Berlin geschickt worden war.2 Um auf die Glaubwürdigkeit der „Erinnerungen“ und die Motivation Tamantis hinzuweisen, empfiehlt es sich, eine kurze Passage aus seiner „Vorrede“ wiederzugeben: „In einer Zeit, wo so viele Schriften über Napoleon herauskommen, in denen sich oft das Wahre vom Falschen schwer unterscheiden lässt, machte sich der Verfasser der folgenden Notizen umso weniger Bedenken mit denselben hervorzutreten, da er durchgehends als Augenzeuge schreibt. Er erhielt nämlich im Oktober 1806, als der Kaiser der Franzosen in Potsdam erwartet wurde, den Befehl, sich auf dem Königlichen Schlosse daselbst einzufinden, um bei demselben als Kammerdiener zu functioniren. Dieses Amt, welches ihm vom 24. Oktober bis 24. November ununterbrochen verblieb und ihn in die nächste Umgebung Napoleons brachte, machte es ihm möglich, die folgenden Bemerkungen zu sammeln, welche er hiermit den geehrten Lesern, so wie er sie schon damals niederschrieb, als einen kleinen Beitrag zur Kenntnis jener verhängnisvollen ewig denkund merkwürdigen Zeit übergiebt.“ Dem letzten Satz ist zu entnehmen, dass die „Erin—————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 6.3, Erinnerungen des preußischen Kammerdieners Tamanti an den Aufenthalt von Kaiser Napoleon in Potsdam und Berlin im Jahre 1806. Bassewitz, Magnus Friedrich von, Die Kurmark Brandenburg im Zusammenhang mit den Schicksalen des Gesamtstaats Preußen während der Zeit vom 22. Oktober 1806 bis zum Ende des Jahres 1808, 2 Bde., Leipzig 1851/52, hier Bd. 1. Verfasst wurde das anonym erschienene Werk „Von einem ehemaligen höheren Staatsbeamten“, der von 1824 bis 1840 Oberpräsident der Provinz Brandenburg war. Der zweite Halbband des Buches sowie die beiden anderen Bände zur Kurmark Brandenburg, über die Zeit 1806 bzw. 1809/1810 haben mit dem hier behandelten Thema nichts zu tun.
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nerungen“ schon bald nach dem Napoleon-Aufenthalt niedergeschrieben wurden; auch deshalb können sie als recht zuverlässig gelten.3 Den als rücksichtslosen Ausbeuter der besiegten Länder bekannten Franzosenkaiser zeigte Tamanti in ganz anderem Licht: er erwies sich als gebildeter und kultivierter Fürst, der selbst im Kriege und in der preußischen Hauptstadt die Internationalität der europäischen Eliten respektierte. Mit einfachen aber treffenden Formulierungen skizziert der Quellentext einen Napoleon, der seinen Gesprächspartnern ganz ungewohnte Innenansichten eines militärisch und politisch schwer angeschlagenen Staates präsentiert, die anderen zeitgenössischen Beobachtern aus Berlin (unter anderem Gubitz, Rellstab, Klöden, Nostitz, Hedwig von Olfers) und aus ganz Deutschland (Varnhagen von Ense, Goethe, Henrik Steffens, de la Motte-Fouqué, Achim von Arnim, Bettina von Arnim, von Eichendorff, Johanna Schopenhauer, Brentano, Elisabeth von Staegemann sowie zahlreiche weitere) ziemlich fremd waren. Zugleich offenbarte Napoleon Innenansichten seiner Persönlichkeit, die man im Allgemeinen bei einem Siegertypen nicht vermutet. In den Aufzeichnungen kommt die europäische Perspektive in ganz bezeichnender Weise zum Tragen. Die „Erinnerungen“ Tamantis berichten kaum über die „große Politik“, vielmehr über Personen, Ereignisse und Episoden wie den Einzug Napoleons in Berlin, das Treffen Napoleons mit Feldmarschall von Möllendorf, die Konzerte im Schloss, die Szene, in der die Fürstin von Hatzfeld Napoleon um Gnade für ihren Mann anfleht, und die Aufwartung der Kurprinzessin von Hessen-Kassel bei Napoleon. Da die „Erinnerungen“ meist für sich selbst sprechen, bedarf es im Folgenden bloß einiger Erläuterungen zu Namen, Personen und Begriffen, die vom „Augenzeugen“ Tamanti wie selbstverständlich genannt werden, im Abstand von fast zwei Jahrhunderten aber eine Erklärung verlangen. Über die preußische Militärelite wusste Napoleon gut Bescheid, so auch über den Feldmarschall von Möllendorf, dem er laut Tamanti „sehr freundschaftlich die Hand reichte“ und mit dem er sich zuerst allein, „dann zusammen mit verschiedenen Prinzen“ unterhielt. Wichard Joachim Heinrich von Möllendorf (1724-1816) hatte sich in den Schlesischen Kriegen ausgezeichnet, wurde 1793 zum Feldmarschall befördert und geriet nach Auerstedt in (kurze) Gefangenschaft. Wohl nach einem weiteren SchlossBesuch von Möllendorfs bewilligte Napoleon ihm eine jährlich zu zahlende „Gratification“, für die sich von Möllendorf am 19. Dezember 1806 bedankte.4 Das Konzert in der Spiegelkammer, dem der Kaiser nebst Prinzen und Generalen beiwohnte, wurde vom Kapellmeister Friedrich Heinrich Himmel (1765-1814) geleitet. Der Komponist und Pianist Himmel hatte mit Unterstützung Friedrich Wilhelms II. zwei Jahre in Italien verbracht. 1797 ersetzte er den in Ungnade gefallenen, von 1787 bis 1794 als königlicher Kapellmeister tätigen Johann Friedrich Reichardt.5 Sein musikalisches Œuvre umfasste über achtzig Titel. Reichardt durfte zwar 1797 nach Berlin —————— 3 4 5
Der Schlussteil der „Erinnerungen“ ist allerdings ziemlich dürftig. Für die Tatsache, dass die Aufzeichnungen seit dem 13. November 1806 recht lückenhaft sind, fehlt jede Erklärung. Vgl. den Faksimile-Abdruck nach einer von Fernand Beaucour gefundenen Archivalie in Mieck, Ilja, Napoléon à Berlin, in: Etudes napoléoniennes 29 (1993), S. 553-576, bes. S. 570. Fischer-Dieskau, Dietrich, „Weil nicht alle Blütenträume reiften“. Johann Friedrich Reichardt. Hofkapellmeister dreier Preußenkönige, Stuttgart 1992.
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zurückkehren, doch blieb das Amt des Hofkapellmeisters gedrittelt und wurde von Righini, Himmel und Reichardt ausgeübt. 1806 ließ Napoleon Reichardts Landgut Giebichenstein bei Halle verwüsten; der Fahndung entzog sich der von Napoleon gesuchte „professeur de musique“ durch die Flucht nach Ostpreußen. Offenbar profitierte Himmel von seiner Abwesenheit. Da das Orchester der Königlichen Oper „mit Aushilfen“ um 1788/90 über hundert Musiker umfassen konnte, wird vor allem die Identifikation von Solisten wie Bricci und Tambolini schwer fallen. Bekannter war dagegen die 1786 geborene Maria Giuseppa Marchetti-Fantozzi, die schon 1794 (erstes Dirigat Righinis) als konkurrenzlose Primadonna gefeiert wurde. Nach der Tamanti-Auskunft muss sie etwa 1792 nach Berlin gekommen sein. Die Hatzfeld-Affäre wurde zum politisch-diplomatischen Dauerbrenner, als Napoleon kompromittierende Briefe des Fürsten entdeckte, der ihm wenig später als „ZivilGouverneur“ von Berlin in Potsdam begegnete. Später ließ ihn Napoleon verhaften. Tamanti berichtet über das theatralische Treffen der tränenüberströmten Fürstin, der Tochter des Ministers Schulenburg-Kehnert, mit dem kühl bleibenden Kaiser, der den Brief schließlich großherzig ins Kaminfeuer warf.6 Die Kurprinzessin von Hessen-Kassel, deren Aufwartung beim Kaiser von Tamanti geschildert wird, war eine Tochter des (meist) in preußischem Militärdienst stehenden Landgrafen/Kurfürsten von Hessen-Kassel7, der sein weitgehend an Napoleons Bruder Jérôme gefallenes Territorium erst 1813/15 zurückbekam. Vielleicht handelt es sich um Auguste, eine Tochter des Preußenkönigs, die 1797 den hessischen Thronfolger Wilhelm (II.) geheiratet hatte. Dass Auguste den Kaiser um Gnade für ihren verstoßenen Schwiegervater (und seinen Erben!) bitten wollte, erscheint zumindest plausibel. Da Wilhelm I. von einem Königstitel träumte („König der Katten“) und sich mit dem Prädikat „Königliche Hoheit“ schmückte, gestand Tamanti diese Anrede (einige Zeilen weiter) vielleicht auch der Tochter zu; jedenfalls war dies eine Vorwegnahme der Beschlüsse von Wien, die zu den „Souveränitäts- und Gebietsrechten“ auch den Titel „Königliche Hoheit“ zählten. In den „Erinnerungen“ ist von der „großen Politik“ kaum die Rede, obwohl der französische Kaiser alles daran setzte, Preußen und seine Hauptstadt finanziell und materiell auszubeuten. Zu der astronomisch hohen Kontribution kamen die Lasten für die Einquartierungen, für die Armeeversorgung, für die Bürokratie in Militär- und Zivilverwaltung, für die den Einwohnern auferlegten Zwangsanleihen und viele andere Kosten und Beschwernisse, ganz zu schweigen vom (organisierten) Kunstraub, dem nicht zuletzt die Quadriga auf dem Brandenburger Tor zum Opfer fiel. Niemand scheint diese Dinge angesprochen zu haben. Napoleon gab sich als umgänglicher und kultivierter Zeitgenosse. Keiner konnte glauben, dass der Frieden erst nach über siebeneinhalb blutigen Monaten geschlossen werden würde.
—————— 6 7
Weitere Details nennt von Bassewitz, der das Treffen auf den 31. Oktober datiert. Von Bassewitz (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 89-92. 1785: Wilhelm IX.; 1803: Wilhelm I., gest. 1821.
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Quelle Nr. 6.3 Erinnerungen des preußischen Kammerdieners Tamanti an den Aufenthalt von Kaiser Napoleon in Potsdam und Berlin im Jahre 18068 Am 27. Oktober gegen 4.00 Uhr nachmittags ritt der Kaiser von Charlottenburg ab und begab sich nebst seinen Generalen nach Berlin. Die Stadt war diesen Abend erleuchtet. Der Kaiser ritt wohl eine Stunde lang in derselben umher und begab sich sodann auf das königliche Schloß. Er bewohnte die Seite nach dem Lustgarten zu, und zwar die Kammern Friedrich Wilhelms II. In der Spiegelkammer in der Nähe der Wohnung des Kaisers befand sich ein diensttuender General und im Pfeilersaal verschiedene Officirs d'ordonance und Adjudanten, die zur kaiserlichen Ehrenwache gehörten. Die Garden des Kaisers zogen im Garde-du-corps-Saal auf und besetzten ihre Posten. [...] Eines Morgens ließ der Kaiser den Feldmarschall von Möllendorf zu sich rufen. Als er erschien, meldete ich dem Kaiser seine Ankunft, der ihm sehr freundschaftlich die Hand reichte, ihn in sein Zimmer aufnahm und ihm sagte: „Ich freue mich sehr, einen solchen braven Feldmarschall kennenzulernen.“ Worauf er sich mit demselben eine gute Stunde lang unterhielt. Einige Tage darauf zog er ihn auch zur Mittagstafel, bei welcher verschiedene Prinzen mit speisten, und unterhielt sich während der Tafel fast stets mit dem Feldmarschall. Gegen 8.00 Uhr abends fand sich der Kaiser nebst allen Prinzen, seinen Generalen und mit dem Feldmarschall von Möllendorf in der Spiegelkammer ein und ließ den Musicis befehlen, das Konzert anzufangen – der Marschall Duroc stellte dem Kaiser den Kapellmeister Himmel vor. Napoleon fragte ihn nach seinem Vaterlande, worauf er erwiderte, daß er ein Preuße sei und daß ihn Seine Majestät Friedrich Wilhelm II. nach Italien habe reisen lassen, um seine Talente daselbst zu vervollkommnen. Der Marschall Duroc stellte darauf einen Sänger des Königs von Bayern namens Bricci vor. Der Kaiser fragte ihn, aus welchem Lande er gebürtig sei. Bricci nannte Bologna als seine Vaterstadt. Der Kaiser sprach Italienisch mit ihm und sagte, daß die Bologneser gute Leute wären. Zuletzt wurden auch der königliche preußische Opernsänger Tambolini und die Opernsängerin Marchetti vorgestellt, welche letztere der Kaiser fragte, wie lange sie hier in königlichen Diensten wäre. Madame Marchetti antwortete: „14 Jahre.“ – „So sind Sie gewiß eine Deutsche geworden,“ erwiderte Napoleon. Hierauf begann das Konzert, worin sich die Virtuosen hören ließen und in der Folge hatte der Kaiser alle Abende in den französischen Kammern ein Vocal-Konzert, währenddessen er mit dem diensttuenden General eine Partie Schach spielte. 9 Eines Nachmittags, als der Kaiser nebst seinen Generalen nach Friedrichsfelde zur Revue geritten war, kam die Fürstin Hatzfeld auf das königliche Schloß in den Parole-Saal, vor welchem zwei französische Schildwachen standen, der eine davon rief mich hinaus und sagte zu mir, es sei eine Dame da, die einen aus der Umgebung des Kaisers sprechen wollte. Ich ging hinaus, und führte die Fürstin in den Saal ein, die mich jetzt fragte: „Wer sind Sie, mein Herr?" Ich antwortete, daß ich Kammerdiener des Königs von Preußen wäre und den Dienst beim Kaiser verrichtete. Die Fürstin fragte weiter, ob man nicht wisse, wo ihr Gemahl sei? Da ich der Fürstin Niedergeschlagenheit wahrnahm, wollte ich ihr anfangs die Wahrheit nicht sagen, sie bat indes so dringend, daß ich mich nicht enthalten konnte, ihr zu sagen ich hätte gehört, daß der Fürst verhaftet sei. – „Ist der Kaiser
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Auszüge aus: „Erinnerungen an den Kaiser Napoleon aus den Tagen seines Aufenthaltes in Potsdam und Berlin im Jahre 1806. Von einem Augenzeugen“, unveröffentlichte Quelle, Landesarchiv Berlin, Rep. 241, acc. 3932, Nr. 1. Das Schloss Friedrichsfelde ist eine von Raule 1694-1698 in Berlin-Lichtenberg angelegte Schloss- und Parkanlage im holländischen Stil, die mehrfach umgebaut wurde und 1813 bis 1815 als „Staatsgefängnis“ für den sächsischen König Friedrich August III/I diente.
Kaiser Napoleon I. im Berliner Stadtschloss
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zu Hause?“ fragte sie heftig erregt – „ich muß ihm einen Brief überreichen.“ „Der Kaiser“, sagte ich, „ist vor einer Stunden weggeritten und kommt vor Anbruch des Abends nicht zurück“, in dem trat der Fourier des Kaisers hinzu und fragte mich, wer diese Dame wäre. Als ich ihm dies beantwortet, ging der Fourier zu der Fürstin und sagte: „Madame, Sie müssen fortgehen und können hier nicht bleiben!“ – Ich sagte auf Deutsch zu der Fürstin, daß sie auf dem Schloße Bescheid genug wisse, um Gelegenheit zu finden, den Brief dem Kaiser selbst zu überreichen. – Zu gleicher Zeit kam der Marschall Duroc aus dem Pfeiler-Saal, die Fürstin sprach ihn an, worauf er sagte: „Madame! Nehmen Sie es nicht übel ich habe nicht einen Augenblick Zeit, denn ich bin zu sehr beschäftigt.“ Und so fuhr sie nach Hause zurück. – Gegen 6.00 Uhr kam Napoleon auf dem Schloße an und stieg auf der Seite des Domportals ab. Die im Garde-du-corps-Saal befindliche Wache zog wie gewöhnlich eine Chaine bis an die Treppe auf welcher der Kaiser einging. Ich sah mich jetzt nach der Fürstin Hatzfeld um, und erblickte sie im Garde-du-corps-Saal, wo selbst sich auch der der Fürstin zur Begleitung beigegebene Kammerherr der Prinzessin Ferdinand von Preußen aufhielt, und stellte sie an das Zimmer in welchem der Kaiser eintreten müßte. Kaum war derselbe eingetreten als auch schon die Fürstin niederkniete und um Gnade für ihren Mann flehte. Der Kaiser dem dies unerwartet kam, stand still und nahm den Brief der Fürstin aus der Hand, in welchem auch die Prinzessin von Preußen für sie bat. – „Wer sind Sie Madame“, fragte der Kaiser – sie antwortete: „Ich bin die Fürstin Hatzfeld und bitte um Gnade für meinen Gatten!“ Der Kaiser nahm seinen Hut ab, und sagte zu der Fürstin: „Stehen Sie auf, Madame!“ Die Fürstin war einer Ohnmacht nahe: „Nehmen Sie die Fürstin in Ihre Arme“, sagte Napoleon zu der Marschällen Duroc und Segur. – Ich begleitete den Kaiser darauf in sein Zimmer, und nachdem derselbe den Brief durchgelesen hatte, befahl er mir die Fürstin zu holen. Ich meldete dies der Fürstin. – In der größten Angst ging sie begleitet von mir bis in das Vorzimmer des Kaisers, wo der diensttuende General sie anmeldete. Sie trat herein, und nichts wissend von der Ursache der Verhaftung ihres Gemahls, bat sie den Kaiser flehentlich um Gerechtigkeit gegen ihren Gatten, da nur Verleumdung, nicht aber Schuld ihm seine Lage zugezogen haben könne. Der Kaiser reichte ihr statt aller Antwort den Brief des Fürsten. Zitternd ergreift ihn die Unglückliche. Sie liest sie erkennt ihres Mannes Handschrift die Schuld gegen den stolzen Sieger ist klar wie der Tag. Unaussprechlichen Seelenschmerz im Antlitz und Haltung unterbricht sie die schreckliche Pause bloß durch die Worte: „Ja, Sire, wir sind unglücklich.“ – „Nun Madame!“ sagte Napoleon „urteilen Sie selbst, ist das Verleumdung?“ – Tränen stürzten der Fürstin die Wangen herunter – sie war in einer bejammernswerten Lage und Mitleid malte sich auf jedes Umstehenden Gesicht. „Madame!“ – sagte der Kaiser nachdem er ihr den Brief wieder abgenommen, „dieser Brief allein enthält die Beweise gegen Ihren Gemahl. Wir wollen ihn verbrennen!“ Damit warf er ihn ins Feuer. – „Ich begnadige Sie, Madame! Holen Sie sich ihren Gemahl!“ – Der Marschall Duroc, der den Befehl zur Entlassung des Fürsten hatte, fuhr mit der Fürstin zu ihrem Gemahl, um diesem den kaiserlichen Befehl zu seiner Entlassung anzukündigen. Der Fürst und die Fürstin setzten sich sodann in ihren Wagen und fuhren nach ihrer Wohnung. Alle Sonntage ließ der Kaiser in seinem Zimmer die Messe lesen, wobei verschiedene Generale zugegen waren. – Da sich jetzt die Unpäßlichkeit der Churprinzessin von Hessen-Kassel behoben hatte, so ließ dieselbe bei dem Kaiser durch den Prinzen von Isenburg anfragen, wann sie ihre Aufwartung machen könne. – Der Marschall Duroc trug mir auf, dem Kammerherrn der Churprinzessin zu sagen, daß der Kaiser die Prinzessin erwarte. – Der Kammerherr erwiderte mir auf meinen desfallsigen Bericht: Ich möge dem Kaiser sagen, daß die Prinzessin schon ausgefahren sei – ich antwortete indess, daß, da der Wagen der Prinzessin vor der Wendeltreppe halte, und des Kaisers Reitpferd sich nicht auf demselben Schloßhofe befinde, ich mich keiner Verlegenheit aussetzen möchte, indem der Kaiser ausreiten wolle und sich bestimmt nach dem Zweck des Wagens der Prinzessin erkundigen werde. Ich ging darauf zur Churprinzessin, um hoch derselben zu sagen, daß
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der Kaiser sie erwarte, und daß mir der Kammerherr gesagt hätte, ich solle dem Kaiser sagen, Ihro königliche Hoheit wären schon ausgefahren. Ihre königliche Hoheit bemerkten aber, daß sie keinen Führer habe. Ich ging darauf zum Prinzen von Isenburg, der sich in der Spiegelkammer befand, und sagte ihm, daß es der Prinzessin an einem Führer fehle, da der Kammerherr derselben wider Vermuten nicht angezogen sei. – Der Prinz ging mit mir sogleich zur Prinzessin und führte sie nebst ihren beiden Kindern und ihrer Oberhofmeisterin zum Kaiser, welcher im Pfeiler-Saal der Prinzessin entgegenkam und sie sehr freundschaftlich empfing. Er nahm den Arm der Prinzessin, führte sie nebst ihren beiden Kindern in sein Zimmer und unterhielt sich sehr lange mit derselben. Hierauf führte der Kaiser die Prinzessin aus seinem Zimmer heraus und begleitete sie bis in den Pfeiler-Saal. „Begleiten Sie die Prinzessin!“, sagte er zu seinen Generalen, welche erstere bis in ihre Wohnung brachten. Am 13. November mittags nach 1.00 Uhr erteilte der Kaiser dem Verwaltungs-Comité von Berlin den Befehl, in Rücksicht alles dessen was zur Truppen-Verpflegung gehört Bericht abstatten zu lassen.10 Den 23. November gegen Abend mußte ich den Kaiser zu der Churprinzessin von HessenKassel führen, bei welcher er seinen Abschiedsbesuch abstattete und sich lange aufhielt. Am 24. November morgens 3.00 Uhr fuhr der Kaiser von Berlin ab, nach Küstrin, nachdem er hinterlassen, daß er in vier Tagen wieder in Berlin eintreffen würde, wozu seine Zimmer in Bereitschaft gehalten werden möchten. – Er kam aber nicht zurück, denn nach 10 Tagen bekam der Service und ein Teil seiner Dienerschaft, welcher in Berlin zurückgeblieben war, den Befehl nachzukommen. – Mit diesem Befehl endete sich auch mein Dienst, den ich vom 23. Oktober bis 5. Dezember mit der größten Anstrengung meiner Kräfte Tag und Nacht gehabt hatte, ich ging darauf zum General Clark, bat denselben um einen Paß zu meiner Sicherheit und Rückreise nach Potsdam und gelangte am 6. Dezember in den Zirkel meiner Familie an.“11
Literatur Clauswitz, Paul, Die Städteordnung von 1808 und die Stadt Berlin. Festschrift zur hundertjährigen Gedenkfeier der Einführung der Städteordnung, Berlin 1908 Köhler, Ruth; Richter, Wolfgang (Hg.), Berliner Leben 1806 bis 1847. Erinnerungen und Berichte, Berlin (Ost) 1954 Mieck, Ilja, Von der Reformzeit zur Revolution (1806-1847), in: Ribbe, Wolfgang (Hg.), Geschichte Berlins, Bd. 1: Von der Frühgeschichte bis zur Industrialisierung, 3. erweiterte und aktualisierte Aufl., München 2002, S. 405-602 Ders., Napoléon à Berlin, in: Etudes napoléoniennes 29 (1993), S. 553-576 Ders., Berlins Aufstieg zum ersten preußischen Finanzplatz bis zur Industrialisierung, in: Pohl, Hans (Hg.), Geschichte des Finanzplatzes Berlin, Frankfurt am Main 2002, S. 1-52 Ders., Napoleon in Potsdam, in: Francia 31/2 (2004), S. 121-146
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Die neue Stadtregierung, das am 30. Oktober gewählte „Comité administratif“, wurde von Napoleon am 3. November bestätigt. Sogleich nach seiner feierlichen Vereidigung nahm es seine Arbeit auf (9. November). Glaubt man Tamanti, begann die Registrierung der verlangten Lieferungen an das französische Heer erst am 13. November. Beim französischen Offizier Clarke handelt es sich um den Brigadegeneral Henri-Jacques-Guillaume Clarke (1765-1818), der am 30. Oktober zum Gouverneur der gesamten Kurmark und Vorgesetzten aller preußischen Behörden ernannt wurde, bevor am 3. November seine Zuständigkeit auf die Mittelmark beschränkt wurde. Trotz einiger Ansätze ist das damalige Pass-Wesen weitgehend unerforscht.
CLAUSEWITZ ÜBER DEN CHARAKTER DES KRIEGES1 Von Herfried Münkler Im Oktober 1801 hatte Clausewitz als Hörer des ersten Kurses der von Scharnhorst reformierten Berliner Kriegsschule seine Studien aufgenommen. Die auf drei Jahre angelegten Kurse sollten ihn neben technischen Problemen der Truppenführung auch mit Fragen der Geschichte und Philosophie in Kontakt bringen. Genau dies hatte Scharnhorst, gerade erst von hannoverschen in preußische Dienste übergewechselt, mit seinen Reformen angestrebt: Wer dem Elan und der taktischen Flexibilität der neuen, aus der Revolution hervorgegangenen französischen Armee Paroli bieten wollte, musste philosophisch geschulte und historisch gebildete Offiziere an der Spitze seiner Truppen haben. In diesem Sinn hat Scharnhorst die preußischen Reformen angestoßen, lange bevor sie nach der Niederlage Preußens bei Jena und Auerstedt im Jahre 1806 offiziell in Gang kamen. Der revolutionären Dynamik, die Scharnhorst schon früh als den tieferen Grund der französischen Siege identifiziert hatte,2 wollte er eine überlegene Bildung entgegensetzen. Diese Idee wurde einige Jahre später zum Kernprogramm der preußischen Reformen. Für den gerade 21jährigen Clausewitz wurden die Vorlesungen an der Kriegsschule, zunächst in einem Saal des Stadtschlosses gehalten, später im Prinz-Heinrich-Palais, dem nachmaligen Gebäude der Berliner Universität, zu dem intellektuellen Erlebnis seines Lebens.3 Sein Autodidaktentum wurde nunmehr in geordnete Bahnen gelenkt, und neben Scharnhorst selbst war es vor allem der Philosoph Johann Gottfried Kiesewetter, dessen Schriften und Vorlesungen sein Denken prägten. Kiesewetter war KantSchüler, und ohne dass man sagen könnte, Clausewitz sei durch ihn zum Kantianer geworden, ist der geistige Einfluss Kants auf sein Denken doch unverkennbar. Während seiner Zeit an der Kriegsschule beschäftigte sich Clausewitz aber auch mit Fragen der Geschichte, vor allem natürlich der Kriegsgeschichte, die er freilich, darin den Anregungen seines Lehrers Scharnhorst folgend, aus der Politik- und Gesellschaftsgeschichte heraus zu entwickeln suchte. Dieses Interesse an der Geschichte hat Clausewitz daran gehindert, in einen Denkschematismus zu verfallen, wie er für den Kantianismus nach Kant charakteristisch geworden ist. Er nutzte die Begriffe und Kategorien, um Ordnung in das Gestrüpp der Ereignisse und Entwicklungen zu bringen, aber er unterwarf den Gang der Dinge nie den Vorgaben der Philosophie. Obendrein las er Machiavelli und Montesquieu, setzte sich mit seinem Zeitgenossen Fichte auseinander und verschaffte
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Essay zur Quelle Nr. 6.4, Carl von Clausewitz: Vom Kriege (1832). Scharnhorst, Gerhard von, Entwicklung der allgemeinen Ursachen des Glücks der Franzosen in den Revolutionskriegen; in: Neues militairisches Journal, 8. Jg., 1797; wiederabgedruckt in: Scharnhorst, Gerhard von, Militärische Schriften, hg. von Frhr. von der Goltz, Berlin 1881, S. 195. Dazu ausführlich Paret, Peter, Clausewitz und der Staat, Bonn 1993, S. 81ff.
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sich so die geistige Selbständigkeit, die ihn zu einem der bedeutendsten Theoretiker des Krieges hat werden lassen.4 Diese doppelte intellektuelle Prägung des jungen Clausewitz, die Suche nach theoretischer Stringenz, die ihren Niederschlag unter anderem in einer scharf ausgeprägten Begrifflichkeit findet, und das Wissen um die historische Veränderlichkeit der Konstellationen und der sich damit verändernden Möglichkeiten des Handelns, zeigt sich auch in den Schlussüberlegungen des 1. Kapitels im I. Buch von Clausewitz’ Hauptwerk Vom Kriege. Für das Verständnis des gesamten Werks kommt diesem Kapitel eine Schlüsselfunktion zu, insofern Clausewitz, der das Buch infolge seines frühen Todes nicht mehr selbst zur Veröffentlichung bringen konnte, in der so genannten „Nachricht“ diesem Kapitel einen besonderen Status zugewiesen hat: „Das erste Kapitel des ersten Buches ist das einzige, was ich als vollendet betrachte; es wird wenigstens dem Ganzen den Dienst erweisen, die Richtung anzugeben, die ich überall halten wollte.“5 Die Auseinandersetzung mit Clausewitz’ Werk, insbesondere die Beantwortung der Frage, ob seine Überlegungen auch für die Kriege des 21. Jahrhunderts Gültigkeit besitzen,6 ist also nicht an irgendwelchen aus dem Zusammenhang gerissenen Zitaten, sondern vor allem an Kapitel I, 1 von Vom Kriege zu führen. Und innerhalb dieses Kapitels haben die Schlusspassagen, in denen Clausewitz das Theorem von der „wunderlichen Dreifaltigkeit“ entwickelt, eine besondere Bedeutung.7 Eine genaue und sorgfältige Lektüre dieses Kapitels zeigt nämlich, dass die Clausewitz-Kritiker John Keegan und Martin van Creveld den lautstark erhobenen Anspruch, Clausewitz sei veraltet und durch die jüngste Entwicklung widerlegt,8 auf eine ungenaue Lektüre der einschlägigen Passagen bei Clausewitz stützen. Umso wichtiger ist die sorgsame Beschäftigung mit dieser Stelle. Clausewitz verbindet hier zwei Charakteristika des Krieges miteinander, denen er gleiche Bedeutung beimisst und die sich nicht nur ergänzen, sondern die sich auch gegenseitig einschränken bzw. begrenzen: die politische Instrumentalität des Krieges und seine historische Variabilität. Der Krieg ist ein Mittel der Politik, aber er ist dies nicht immer in der gleichen Weise; der Krieg verändert beständig seine Erscheinungsformen, aber bei diesen Veränderungen sind Grundkonstanten erkennbar, die in allen Erscheinungsformen des Krieges mehr oder weniger ausgeprägt auszumachen sind – und eine dieser drei Grundkonstanten ist der Werkzeug-Charakter des Krieges für die Politik. —————— 4 5 6 7
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In der Analyse der Clausewitzschen Originalität wie Aktualität ist nach wie vor unübertroffen die große Studie von Aron, Raymond, Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt am Main 1980. von Clausewitz, Carl, Vom Kriege, hg. von Hahlweg, Werner, 19. Aufl., Bonn 1980, S. 181. Dazu Münkler, Herfried, Kriege im 21. Jahrhundert, in: Reiter, Erich (Hg.), Jahrbuch für internationale Sicherheitspolitik 2003, Hamburg 2003, S. 83-97. Zuletzt hat vor allem Herberg-Rothe auf die herausgehobene Bedeutung des Theorems von der „wunderlichen Dreifaltigkeit“ hingewiesen; Herberg-Rothe, Andreas, Das Rätsel Clausewitz, München 2001, S. 150ff. Vgl. auch Kleemeier, Ulrike, Grundfragen einer philosophischen Theorie des Krieges, Berlin 2002, insbes. S. 275ff. Keegan, John, Die Kultur des Krieges, Berlin 1995, S. 21ff.; van Creveld, Martin, Die Zukunft des Krieges, München 1998, S. 102ff., S. 147ff.; eine kritische Auseinandersetzung mit Keegan und van Creveld findet sich bei Gantzel, Klaus Jürgen, Der unerhörte Clausewitz, in: Sahm, Astrid u.a. (Hg.), Die Zukunft des Friedens. Eine Bilanz der Friedens- und Konfliktforschung, Wiesbaden 2002, S. 2550.
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Nahezu allen Clausewitz-Kritikern ist gemeinsam, dass sie das Spannungsverhältnis von Instrumentalität und Variabilität auflösen, die Instrumentalität als Clausewitz’ wesentliche Kriegsdefinition herausstreichen und die Variabilität des Kriegsgeschehens, von der Clausewitz immer wieder spricht,9 kurzerhand unter den Tisch fallen lassen. Für sie erschöpft sich die Clausewitzsche Theorie in der Charakterisierung des Krieges als „ein wahres politisches Instrument […], eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln“,10 während seine Bezeichnung als „ein wahres Chamäleon“11 keine Erwähnung findet. Ein derart verkürzter Clausewitz lässt sich dann leicht für historisch überholt erklären, zumal er auch noch eine bestimmte Epoche der Kriegführung, nämlich die des mit großen Massen geführten Krieges, zur Regel, wenn nicht zur Norm aller Kriegführung erklärt habe. Im Prinzip ist die Debatte zwischen den Anhängern (bzw. Kritikern) eines dogmatisch verstandenen Clausewitz und denen einer variableren Interpretation seines Werkes nicht neu, sondern reicht bis zu der von dem Berliner Historiker Hans Delbrück entfachten so genannten Strategiedebatte zurück, in der es zunächst um die Strategie Friedrichs des Großen ging, die sich schließlich aber auch um die Frage drehte, ob eine andere Strategie des Deutschen Reichs im Ersten Weltkrieg zur Vermeidung der Niederlage von 1918 hätte führen können.12 Delbrück hat dabei im Anschluss an Clausewitz die Niederwerfungs- und die Ermattungsstrategie als zwei prinzipiell verschiedene, je nach Gegebenheiten und Lage zu wählende Strategien einander gegenübergestellt. Von den Kritikern wurde gegen Delbrück geltend gemacht, die von ihm beschriebene Ermattungsstrategie sei bei Clausewitz gar nicht zu finden. Sucht man nach einer expliziten Gegenüberstellung, so mag dies tatsächlich der Fall sein; der Sache nach aber hat Clausewitz immer wieder über die Frage nachgedacht, ob die Gesamtstrategie eines Staates eher auf die schnelle Niederwerfung des Gegners oder seine über längere Zeit erfolgende Ermattung angelegt sein solle. Dabei ist er sich darüber im Klaren gewesen, dass die Wahl zwischen den beiden Optionen nicht ins Belieben der Regierungen gestellt, sondern häufig von äußeren Gegebenheiten abhängig ist, über die die Regierungen nicht verfügen. Clausewitz’ Analyse des napoleonischen Russland-Feldzugs dreht sich wesentlich um diese Frage.13 Dieses Problem taucht auch in der Zusammenstellung von politischer Instrumentalität und historischer Variabilität des Krieges in den oben aufgeführten Passagen des Ka—————— 9 10 11 12
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Einer der Abschnitte von I, 1 ist mit „Verschiedenartigkeit der Kriege“ überschrieben; vgl. Clausewitz (wie Anm. 5), S. 211. Clausewitz (wie Anm. 5), S. 210. Ebd., S. 212. Ausgangspunkt der Debatte war Hans Delbrücks Buch „Die Strategie des Perikles erläutert durch die Strategie Friedrichs des Großen“, Berlin 1890. Dreißig Jahre später hat Delbrück die Debatte im letzten Band seiner „Geschichte der Kriegskunst“ noch einmal aufgenommen (Delbrück, Hans, Geschichte der Kriegskunst, Berlin 2000, Bd. IV, S. 495ff. sowie 582ff.). Vgl. dazu Craig, Gordon A., Der Militärhistoriker Hans Delbrück; in: Ders., Krieg, Politik und Diplomatie, Wien 2001, S. 77111, sowie Llanque, Marcus, Das Mittel des Krieges und das Mittel der Revolution: Hans Delbrück und Karl Kautsky; in: Voigt, Rüdiger (Hg.), Krieg – Instrument der Politik? Bewaffnete Konflikte im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2002, S. 445-475. Clausewitz, Feldzug von 1812 in Russland, in: Ders., Schriften – Aufsätze – Studien – Briefe, hg. von Hahlweg, Werner, 2. Band/2. Teil, Göttingen 1990, S. 717-924.
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pitels I, 1 auf. Einerseits meint Clausewitz nämlich, man solle sich „den Krieg unter allen Umständen als kein selbständiges Ding, sondern als ein politisches Instrument“ vorstellen; andererseits aber nennt er ihn „ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert“.14 Formal ist dies ein Widerspruch, der nicht auflösbar ist: ein wahres Chamäleon ist ein selbständiges Ding, und ein politisches Instrument ist nichts, was aus eigenem Antrieb seine Natur ändert. Man kann somit gegen Clausewitz einwenden, er müsse sich entscheiden: entweder Instrument oder Chamäleon. Aber Clausewitz scheint auf der Gleichzeitigkeit beider beharren zu wollen, was sich auch darin zeigt, dass er bald darauf von der „wunderlichen Dreifaltigkeit“ spricht15 und damit einen theologischen Begriff ins Spiel bringt, der wie kein anderer für die Einheit des Unvereinbaren steht: dass nämlich Vater, Sohn und Heiliger Geist gleichzeitig eins und doch voneinander unterschieden seien. Da theologische Begriffe und Bezüge in Clausewitz’ Werk sonst fehlen, kommt der Formel von der wunderlichen Dreifaltigkeit an dieser Stelle eine besondere Bedeutung zu. Clausewitz scheint sie ganz bewusst und ganz gezielt verwendet zu haben, um ein Problem zu bezeichnen, das sich dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten entzog. Nun ist die Zusammenstellung von Instrumentalität und Verschiedenartigkeit, wie sie Clausewitz im ersten Abschnitt der hier ausgewählten Passagen vornimmt, kaum das Problem: ein Instrument kann in verschiedenen Arten vorkommen. Welche davon gewählt wird, liegt in der Entscheidung dessen, der das Instrument gebraucht. Im Falle des Krieges würde dies heißen, dass sich die Regierungen je nach ihren Zielen und Zwecken für eine bestimmte Art des Krieges entscheiden und sich damit auf ein spezifisches Eskalationsniveau festlegen. Davon hat Clausewitz einige Seiten zuvor ausführlich gehandelt.16 Hier aber spricht er von einem „wahren Chamäleon“, das seine Gesamterscheinung und seine Natur ändere, je nachdem, wie die in ihm vorherrschenden Tendenzen zusammengesetzt seien. Damit spricht Clausewitz dem Krieg eine Eigengesetzlichkeit zu, die mit der Vorstellung, die Regierungen würden das Gesetz des Handelns uneingeschränkt in der Hand haben, nicht zusammengeht. Er attestiert hier dem Krieg eine Eigensinnigkeit, die sich den Entscheidungen von Regierungen zu entziehen geeignet ist. Clausewitz dechiffriert diese Eigensinnigkeit als Ergebnis des Zusammenspiels dreier Elemente, die er im Anschluss an Kant als „blinden Naturtrieb“, „freie Seelentätigkeit“ und „bloßen Verstand“ kennzeichnet. Es sind dies die ursprüngliche Gewaltsamkeit, das Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls und schließlich die Natur eines politischen Werkzeugs. Im anschließenden Absatz variiert er diese Trias zu Leidenschaften, Mut und Talent sowie der Fähigkeit zur Zwecksetzung. Er ist sich ganz offensichtlich darüber im Klaren, dass die Leidenschaften eine Gewalt annehmen können, die den politisch gesetzten Zwecken widerspricht und dass umgekehrt bestimmte Zwecke auf das Vorhandensein großer Leidenschaft angewiesen sind, ohne die die Zwecke nicht erreicht werden können. Aber Clausewitz belässt es nicht bei der Gegenüberstellung von Leidenschaft und Verstand, sondern bringt als Drittes noch Mut und Talent ins Spiel, die offenbar hinsichtlich der Erreichbarkeit der Zwecke und der Aus—————— 14 Clausewitz (wie Anm. 5), S. 212. 15 Ebd., S. 213. 16 Ebd., S. 194f.
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wirkung der Leidenschaften eine entscheidende Rolle spielen. In welchem Maße jedes der drei Elemente zum Tragen kommt, hängt also vom Zusammenspiel mit den anderen ab – und das gilt auch und gerade für die politische Instrumentalität. Ganz offenkundig hat der Übergang vom Zeitalter der Kabinettskriege in das der Volkskriege, dessen Zeitgenosse Clausewitz war, ihn veranlasst, der Variabilität des Krieges nicht nur in der aufzählenden Benennung unterschiedlicher Kriege, sondern auch und gerade in der theoretischen Rahmung des Krieges eine zentrale Rolle zuzuschreiben. Mit Blick auf die Französische Revolution schreibt er: „Der Krieg war urplötzlich wieder eine Sache des Volkes geworden, und zwar eines Volkes von 30 Millionen, die sich alle als Staatsbürger betrachteten. […] Mit dieser Teilnahme des Volkes an dem Kriege trat statt eines Kabinetts und eines Heeres das ganze Volk mit seinem natürlichen Gewicht in die Waagschale. Nun hatten die Mittel, welche aufgewandt, die Anstrengungen, welche aufgeboten werden konnten, keine bestimmte Grenze mehr; die Energie, mit welcher der Krieg selbst geführt werden konnte, hatte kein Gegengewicht mehr, und folglich war die Gefahr für den Gegner die äußerste.“17 Clausewitz lässt offen, ob alle zukünftigen Kriege solche „um große, den Völkern nahe liegenden Interessen“ sein würden oder ob es wieder zu einer „Absonderung der Regierung von dem Volke“ kommen werde, glaubt aber davon ausgehen zu können, „daß, wenigstens jedes Mal, sooft ein großes Interesse zur Sprache kommt, die gegenseitige Feindschaft sich auf die Art erledigen wird, wie es in unseren Tagen geschehen ist“.18 Seit der Französischen Revolution, so das Ergebnis dieser Überlegungen, können die Regierungen nicht mehr so selbstverständlich über das Instrument des Krieges verfügen, wie dies zuvor der Fall war. Hatte Kant in seiner Friedensschrift, ausgehend von der Französischen Revolution und der Republikanisierung der Verfassungen, ein allmähliches Verschwinden des Krieges aus den zwischenstaatlichen Beziehungen und schließlich die Stiftung eines ewigen Friedens erwartet,19 so macht Clausewitz mit Blick auf das gewachsene Gewicht der Völker im Krieg die gegenteilige Rechnung auf: dass die Kriege härter und blutiger werden. Dass Clausewitz entsprechend den Konstellationen seiner Zeit den blinden Naturtrieb bzw. die Leidenschaften mit dem Volk, das Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls bzw. Mut und Talent mit dem Feldherrn und seinem Heer, schließlich den bloßen Verstand bzw. die politische Zwecksetzung mit der Regierung verbunden hat,20 hat zu einer Fülle von Missverständnissen und Irritationen geführt. So ist Martin van Creveld etwa zu dem Ergebnis gelangt, da in den low intensity conflicts der jüngsten Zeit die klare Unterscheidung vom Volk, Heer und Regierung nicht mehr anzutreffen sei, sei auch die Clausewitzsche Theorie obsolet.21 Offenkundig hat van Creveld Clausewitz zu sehr mit den Augen eines Historikers gelesen und ist an den Exemplifikationen hängen —————— 17 Ebd., S. 970f. 18 Ebd., S. 972f. 19 Kant, Immanuel, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf (1795); in: Ders., Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1970, Bd. 9, S. 193-251. 20 Clausewitz (wie Anm. 5), S. 213. 21 Creveld, Martin van, Die Zukunft des Krieges, München 1998, S. 64ff.; van Creveld nennt in völliger Verkennung der Clausewitzen Argumentation den Krieg von Volk, Heer und Regierung den trinitarischen Krieg und sieht diesen inzwischen durch den nichttrinitarischen Krieg abgelöst.
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geblieben; hätte er mit stärker analytischem Blick gelesen, so wäre ihm die Trias von Trieb, Talent und Verstand als die grundlegendere Gliederung aufgefallen. In die heutige Sprache übersetzt, lässt sich von Brutalität, Kreativität und Rationalität sprechen, oder noch präziser: kriegerischer Brutalität, strategischer Kreativität und politischer Rationalität. Ersteres kann auch durch den bewaffneten Anhang eines Warlord verkörpert werden, zweitens durch die Strukturen schnell lernender Organisationen, wie sie etwa Terrornetzwerke darstellen, und letzteres schließlich muss keineswegs bei der Regierung liegen, sondern kann ebenso von ökonomischen Akteuren oder so genannten Nichtregierungsorganisationen (NGOs) verkörpert werden.22 In diesem Sinne ist Clausewitz’ Theorie nach wie vor und wohl immer noch mehr als andere geeignet, als Analyseinstrument des Kriegsgeschehens zu dienen.23 Man muss sie nur genau lesen und Respekt haben vor einem Text, an dem der Autor ein ganzes Jahrzehnt gearbeitet und den er nicht mehr abschließend fertig gestellt hat. Quelle Nr. 6.4 Carl von Clausewitz: Vom Kriege (1832)24 Wir sehen also erstens: daß wir uns den Krieg unter allen Umständen als kein selbständiges Ding, sondern als ein politisches Instrument zu denken haben; und nur mit dieser Vorstellungsart ist es möglich, nicht mit der sämtlichen Kriegsgeschichte in Widerspruch zu geraten. Sie allein schließt das große Buch zu verständiger Einsicht auf. – Zweitens: zeigt uns ebendiese Ansicht, wie verschieden die Kriege nach der Natur ihrer Motive und der Verhältnisse, aus denen sie hervorgehen, sein müssen. Der erste, der großartigste, der entschiedenste Akt des Urteils nun, welchen der Staatsmann und Feldherr ausübt, ist der, daß er den Krieg, welchen er unternimmt, in dieser Beziehung richtig erkenne, ihn nicht für etwas nehme oder zu etwas machen wolle, was er der Natur der Verhältnisse nach nicht sein kann. Dies ist also die erste, umfassendste aller strategischen Fragen; […]. Der Krieg ist also nicht nur ein wahres Chamäleon, weil er in jedem konkreten Falle seine Natur etwas ändert, sondern er ist auch seinen Gesamterscheinungen nach, in Beziehung auf die in ihm herrschenden Tendenzen eine wunderliche Dreifaltigkeit, zusammengesetzt aus der ursprünglichen Gewaltsamkeit seines Elementes, dem Haß und der Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind, aus dem Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls, die ihn zu einer freien Seelentätigkeit machen, und aus der untergeordneten Natur eines politischen Werkzeuges, wodurch er dem bloßen Verstande anheimfällt. Die erste dieser drei Seiten ist mehr dem Volke, die zweite mehr dem Feldherrn und seinem Heer, die dritte mehr der Regierung zugewendet. Die Leidenschaften, welche im Kriege entbrennen sollen, müssen schon in den Völkern vorhanden sein; der Umfang, welchen das Spiel des Mutes und Talents im Reiche der Wahrscheinlichkeiten des Zufalls bekommen wird, hängt von der Eigentümlichkeit des Feldherrn und des Heeres ab, die politischen Zwecke aber gehören der Regierung allein an.
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Diese drei Tendenzen, die als ebenso viele verschiedene Gesetzgebungen erscheinen, sind tief in der Natur des Gegenstandes gegründet und zugleich von veränderlicher Größe. Eine Theorie, welche eine derselben unberücksichtigt lassen oder zwischen ihnen ein willkürliches Verhältnis feststellen wollte, würde augenblicklich mit der Wirklichkeit in solchen Widerspruch geraten, daß sie dadurch allein schon wie vernichtet betrachtet werden müßte. […]
Literatur Aron, Raymond, Clausewitz. Den Krieg denken, Frankfurt am Main 1980 Hahlweg, Werner, Clausewitz. Soldat – Politiker – Denker, Göttingen 1969 Howard, Michael, Clausewitz, Oxford 1997 Münkler, Herfried, Clausewitz’ Theorie des Krieges, Baden-Baden 2003 Paret, Peter, Clausewitz und der Staat. Der Mensch, seine Theorien und seine Zeit, Bonn 1993
GEISTIGE KRIEGSPROPAGANDA. DER AUFRUF VON WISSENSCHAFTLERN UND KÜNSTLERN 1 AN DIE KULTURWELT Von Rüdiger vom Bruch Wahrlich, international war die Gelehrtenrepublik vor dem Ersten Weltkrieg. Man kannte sich, man las einander, korrespondierte miteinander, Fremdsprachen bildeten keine Barriere. Man traf sich auf internationalen Kongressen, publizierte in den gleichen Zeitschriften, beteiligte sich an Besuchsprogrammen wie etwa dem deutschamerikanischen Professorenaustausch, bei dem der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Schirmherr den amerikanischen Präsidenten Roosevelt 1910 als Redner in Berlin begrüßte. Führende deutsche Gelehrte waren Mitglieder bedeutender ausländischer Wissenschaftsakademien, und bedeutende Ausländer waren an deutschen Akademien willkommen. Internationalismus verband im Zeitalter des Imperialismus, der zugleich nationale Konkurrenzen förderte. Man war überzeugt von der weltweiten Überlegenheit der weißen Rasse und wetteiferte um Kulturmission im Nahen und im Fernen Osten wie in Südamerika. Man sah in den Konkurrenten die gleichwertigen Herausforderer, nicht einen Feind – allenfalls mit Ausnahme der deutsch-französischen Beziehungen, auch wenn hier enge personelle Kontakte bestanden. Sogar bedeutende russische Gelehrte waren in Deutschland willkommen, auch wenn im Frühjahr 1914 eine systematisch von der deutschen Reichsleitung inszenierte Pressekampagne östliches Barbarentum als Zivilisationsbruch perhorreszierte. Grundlegend veränderte sich die Situation Anfang August 1914. Im Gefolge der Julikrise nach dem serbischen Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo eskalierten Ultimaten und Mobilmachungen. Das mit Österreich verbündete Deutsche Kaiserreich erklärte Russland den Krieg, was aufgrund der Bündniskonstellationen automatisch den Kriegszustand mit Frankreich bewirkte. Damit trat für Deutschland jener Zweifrontenkrieg ein, für den der Schlieffenplan gedacht war: Dieser sah die rasche Niederringung Frankreichs unter Verletzung der belgischen Neutralität sowie danach einen neuen Hauptschlag gegen Russland vor. Wie würde sich England verhalten, das war die entscheidende Frage. Zum Entsetzen der Deutschen erklärte auch England den Krieg, relativ leicht vorhersehbar aufgrund der Bündnisverpflichtungen und von den Briten mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Belgien begründet. Nachrichten von deutschen Kriegsgräueln in Belgien machten rasch die Runde, sie schienen die Propagandathesen vom barbarischen deutschen Militarismus zu bestätigen. Die Deutschen empfanden sich als hilflos, weil mit dem Kappen der Überseekabel Gegeninformation unterbunden und die Informationshoheit der Entente gesichert war. In dieser Situation wurden zahlreiche deutsche Gelehrte und Künstler aufgefordert, eine Protestresolution zu unterzeichnen. Die Stimmung war eindeutig. Das „Augusterlebnis“ hatte die Deutschen zusammengeschmiedet, wenn auch nicht so einheitlich, wie die —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 6.5, Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ von 1914.
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deutsche Propaganda glauben machen wollte. Von Region zu Region schwankte die Stimmung, in den Städten zeigte sich vor allem das Bürgertum kriegsbegeistert, weniger die Arbeiterschaft, und auf dem Lande gab es verhaltene Reaktionen. Gleichwohl beherrschten die „Ideen von 1914“ die öffentliche Meinung. Man befinde sich isoliert in einer Welt von Feinden, man verteidige deutsche Kultur gegen östliche Barbarei, gegen verflachte westliche Zivilisation und gegen englischen Krämergeist. Zudem erschien der Krieg als rettender Ausbruch aus kultureller Einöde, aus massengesellschaftlichem Materialismus, aus der Erstarrung idealistischer Impulse. Befreiungsschlag aus innerer Stagnation und Empörung über unerträgliche feindliche Vorwürfe, das war die Grundstimmung in intellektuell führenden bürgerlichen Schichten unter Einschluss der künstlerischen Avantgarde. Der vom Kaiser verordnete überparteiliche „Burgfrieden“ wurde überschwänglich begrüßt, an die Stelle innerer Zerrissenheit sollte ein gesamtnationaler Aufbruch treten. In diesem Kontext ist der „Aufruf der 93“ zu verorten. Er erschien am 4. Oktober 1914 als ein von 93 deutschen Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern unterzeichneter Aufruf „An die Kulturwelt“, um Vorwürfe der Entente gegen einen deutschen „Militarismus“ und gegen Gräuel der deutschen Armee insbesondere im überfallenen neutralen Belgien als „unwahr“ zurückzuweisen. Der Aufruf fügt sich in zahlreiche, vor allem von bekannten Kulturgrößen getragene Manifeste beider Seiten im „Krieg der Geister“ (Hermann Kellermann 1915) zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung vornehmlich in den neutralen Staaten ein, galt aber bereits zeitgenössisch und im Nachhinein als ein verhängnisvolles Schlüsseldokument arroganter und freilich auch naiver deutscher Überheblichkeit. Ausgangspunkt für den Aufruf war zum einen ein Artikel über „Die Wirkung der englischen Lüge“ im Berliner Tageblatt vom 9. September 1914, der den Kaufmann Erich Buchwald zur Anregung einer Gegenaktion beim Schriftsteller Hermann Sudermann bewog. Hinzu kam zum anderen eine damit verknüpfte systematische Propagandakampagne des Chefs des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt, Heinrich Löhlein, der gemeinsam mit dem Schriftsteller Ludwig Fulda, dem Berliner Archäologen und Vertreter des Auswärtiges Amtes Theodor Wiegand und dem Berliner Bürgermeister Georg Reicke aktiv wurde. Unter Mitwirkung Sudermanns verfasste Fulda den Text, den Reicke in rhetorisch einprägsamer, an Luthers 95 Thesen von 1517 angelehnter Wucht auf ein sechsfaches „es ist nicht wahr“ zuspitzte „gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten.“ Unterzeichnen sollten 40-50 weltberühmte Künstler und Gelehrte. Politiker, Industrielle und hohe Beamte sollten bewusst außen vor bleiben. Am 19. September setzte die reichsweite, zumeist telegraphische Werbung für das Manifest ein, das neben den Akteuren bereits von den Gelehrten Emil Fischer, Adolf von Harnack, Franz von Liszt, Alois Riehl und Gustav von Schmoller sowie von dem Komponisten Engelbert Humperdinck und dem Maler Max Liebermann unterzeichnet worden war. Einige von ihnen waren nach eigener späterer Aussage über den genauen Text gar nicht informiert worden. 93 Unterschriften kamen bis zur Publikation zusammen, ein geistig und politisch breit gefächertes Spektrum von Kunst und Wissenschaft. Entschiedene Pazifisten und Weltbürger wie Albert Einstein, Friedrich Wilhelm Foerster und Hermann Hesse wurden gar nicht erst gefragt. Einige Unterzeichner wie
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der Münchener Ökonom Lujo Brentano und der Physiker Max Planck distanzierten sich wenig später entschieden oder gewunden von dem Aufruf, dessen Text offenbar in vielen Fällen bei der Unterzeichnung nicht oder nicht vollständig vorlag und im Vertrauen auf die Integrität bereits bekannter Unterschriften unterstützt wurde. Ironischerweise wurzelte dieser im Ausland als Ausweis einer chauvinistisch verblendeten deutschen Kultur gebrandmarkter Aufruf vielfach in kulturliberalen intellektuellen Netzwerken. Diese reichten zurück bis zu den Protesten von 1900/01 gegen eine Knebelung künstlerischer und wissenschaftlicher Freiheit in der so genannten lex Heinze. Das mindert nicht die Verantwortung der Unterzeichner, verweist aber zum einen auf eine vorrangig defensiv konsensfähige, freilich im Ausland so nicht rezipierte Tendenz bei vielen Unterzeichnern des Aufrufs. Zum anderen deutet er auf eine bezeichnende Diskrepanz zwischen intellektueller emphatischer Naivität und politisch kühl gesteuerter Kampagne hin. Im Original und in zehn Übersetzungen gelangte der Text in mindestens 14 neutrale Staaten. Kühl-distanziert bis ablehnend wurde er etwa in Holland, der Schweiz und den USA aufgenommen. Gelassen-maßvoll blieben die Reaktionen in England, wo man allerdings wirkungsvoll-spaltend zwischen einer positiv gewerteten deutschen Kulturtradition und einem nunmehr übermächtigen deutschen Militarismus unterschied. Voller Hass reagierte Frankreich, dessen führende Akademiemitglieder das Band zu den Unterzeichnern des Aufrufs durchschnitten und auf internationale Isolation der deutschen Wissenschaftsinstitutionen drängten, welche freilich auch einer Selbstisolation Vorschub leisteten. In der Sache konnte die vermeintliche im Aufruf beschworene Wahrheit nicht überzeugen, da allein schon der völkerrechtswidrige deutsche Einfall in Belgien die neutralen Staaten als Zielgruppe des Aufrufs bedenklich stimmen musste und da sich deutsche Kriegsgräuel wie Geiselerschießungen und die Zerstörung der einzigartigen Universitätsbibliothek in Löwen, sowie zuletzt auch der Beschuss der Kathedrale von Reims nicht leugnen ließen. Spätestens die Diktatur der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) von 1917 bestätigte einen Politik, Gesellschaft und Militär umschließenden deutschen Militarismus. Vereinzelte distanzierende Stimmen vormaliger Unterzeichner des Aufrufs noch während des Krieges und eine von dem Völkerrechtler Hans Wehberg 1919 betriebene, freilich in der Stoßrichtung versandende aufklärend-korrigierende Gegenkampagne zum Aufruf vermochten dessen verheerende Wirkung nicht wirklich einzudämmen, welche maßgeblich zu einer internationalen Ächtung vor allem der deutschen Wissenschaft bis zum Ende der 1920er Jahre beigetragen hat.
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Quelle Nr. 6.5 Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ von 19142 An die Kulturwelt! Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten. Der eherne Mund der Ereignisse hat die Ausstreuung erdichteter deutscher Niederlagen widerlegt. Um so eifriger arbeitet man jetzt mit Entstellungen und Verdächtigungen. Gegen sie erheben wir laut unsere Stimme. Sie soll die Verkünderin der Wahrheit sein. Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. Dafür liegen der Welt die urkundlichen Beweise vor. Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden. Erst als eine schon lange an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann. Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen. Es ist nicht wahr, daß eines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum von unseren Soldaten angetastet worden ist, ohne daß die bitterste Notwehr es gebot. Denn wieder und immer wieder, allen Mahnungen zum Trotz, hat die Bevölkerung sie aus dem Hinterhalt beschossen, Verwundete verstümmelt, Ärzte bei der Ausübung ihres Samariterwerkes ermordet. Man kann nicht niederträchtiger fälschen, als wenn man die Verbrechen dieser Meuchelmörder verschweigt, um die gerechte Strafe, die sie erlitten haben, den Deutschen zum Verbrechen zu machen. Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen. Der größte Teil von Löwen ist erhalten geblieben. Das berühmte Rathaus steht gänzlich unversehrt. Mit Selbstaufopferung haben unsere Soldaten es vor den Flammen bewahrt. – Sollten in diesem furchtbaren Kriege Kunstwerke zerstört worden sein oder noch zerstört werden, so würde jeder Deutsche es beklagen. Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen. Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.
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vom Bruch, Rüdiger; Hofmeister, Björn (Hg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung (Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871-1918 Bd. 8), 2. Aufl., Stuttgart 2002, S. 366-369. Auch abgedruckt in: Ungern-Sternberg, Jürgen von; Ungern-Sternberg, Wolfgang von, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996. S. 144f.
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Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutze ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei. Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden. Wir können nur in alle Welt hinausrufen, daß sie falsches Zeugnis ablegen wider uns. Euch, die Ihr uns kennt, die Ihr bisher gemeinsam mit uns den höchsten Besitz der Menschheit gehütet habt, Euch rufen wir zu: Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Dafür stehen wir Euch ein mit unserem Namen und mit unserer Ehre!
Literatur Flasch, Kurt, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000 Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. Aufl., Paderborn 2004 Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996 Ungern-Sternberg, Jürgen von; Ungern-Sternberg, Wolfgang von, Der Aufruf "An die Kulturwelt!" Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996
DER KRIEG ALS OPFERGANG UND KATHARSIS. GEFALLENENBRIEFE AUS DEM ERSTEN WELTKRIEG1 Von Oliver Janz Das Bild vom Beginn des Ersten Weltkriegs war lange von der Vorstellung einer allgemeinen Kriegsbegeisterung geprägt. Dass die Völker Europas den Ausbruch des großen Krieges in einem Taumel nationalistischer Begeisterung freudig begrüßten, ist von der Forschung inzwischen als Mythos entlarvt worden.2 Die einflussreiche Vorstellung von der allgemeinen Kriegsbegeisterung war freilich keine späte Mythologisierung, sondern hatte ihren Ursprung in den Augusttagen selbst. Sie verdankte sich einer publizistischmedialen Repräsentation der Ereignisse, die eine der Reaktionen auf den Krieg überzeichnete und verallgemeinerte. Sie war ein Bestandteil der überall einsetzenden ‚geistigen Mobilmachung’ und eines sich rasch entwickelnden Konglomerats kriegsnationalistischer Mythen und Motive, die im öffentlichen Diskurs bald weitgehende Deutungshoheit erlangten und von den Intellektuellen der beteiligten Ländern in den folgenden Wochen und Monaten zu mehr oder weniger geschlossenen Kriegsideologien wie etwa den deutschen ‚Ideen von 1914’ verfestigt wurden.3 Zentral war überall die Vorstellung, der Krieg sei dem eigenen Land aufgezwungen worden, ein Motiv, das es auch oppositionellen politischen Kräften wie den sozialistischen Arbeiterparteien erleichterte, ‚Burgfrieden’ zu schließen und sich in die ‚union sacrée’ einzureihen. Dies war die Basis für eine überbordende Rhetorik der nationalen Eintracht und klassenübergreifenden Solidarität und die Projektion innerer Spannungen und gesellschaftlicher Defizite auf den äußeren Gegner. Vor allem in diesem Kontext wurde auf die vermeintlich allgemeine Kriegsbegeisterung verwiesen, auf die Reibungslosigkeit der Mobilisierung und die große Zahl der Kriegsfreiwilligen, die sich vor allem in Deutschland und England zu den Waffen meldeten, galt all das doch als Unterpfand der neu gewonnenen nationalen Einheit. Die propagandistische Verteufelung des Feindes ging meist einher mit einer ideologischen Aufladung des Krieges, seiner Überhöhung zum Kreuzzug gegen den preußisch-deutschen Militarismus oder die politische Kultur und Zivilisation des Westens im Namen von Volksgemeinschaft und deutscher Ordnung. Dies war oft durch—————— 1 2
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Essay zur Quelle Nr. 6.6, Auszüge aus Briefen italienischer Gefallener des Ersten Weltkriegs. Vgl. Becker, Jean-Jacques, 1914: Comment les Français sont entrés dans la guerre, Paris 1977; Ziemann, Benjamin, Front und Heimat: Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997; Verhey, Jeffrey, The spirit of 1914: Militarism, myth and mobilization, Cambridge 2000; Kruse, Wolfgang, Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn, in: Ders. (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der große Krieg 1914-1918, Frankfurt am Main 1997, S. 159-166. Vgl. Raithel, Thomas, Das „Wunder“ der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkriegs, Bonn 1996; Müller, Sven Oliver, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002; Stromberg, Roland N., Redemption by war. The intellectuals and 1914, Lawrence 1982; Verhey, Jeffrey, Krieg und nationale Identität, in: Kruse (wie Anm. 2), S. 167-176.
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drungen von einer Semantik der sozialen, politischen und spirituellen Erneuerung, die nicht selten religiöse Züge annahm. Die Briefe der Soldaten aus dem Feld, die bald in großer Zahl in der Tagespresse, in Zeitschriften und Anthologien publiziert wurden, spielten in allen beteiligten Ländern für die propagandistische Mobilisierung und die Diffusion idealisierter und ideologisch überhöhter Bilder vom Krieg von Anfang an eine wichtige Rolle.4 Dies gilt vor allem für die Feldpostbriefe junger Männer aus den bürgerlichen Mittelschichten, aus denen sich die im Krieg rasch wachsende Zahl der Reserveoffiziere in den unteren Diensträngen rekrutierte. Bei diesen Frontsoldaten aus den Bildungsschichten, die sich oft von der Schulbank oder aus den Hörsälen freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatten, lässt sich zumindest in der Anfangsphase fast überall eine erhebliche Bereitschaft zum Krieg und seiner mythologischen Überhöhung erkennen. Sie stammten nicht nur aus den Trägerschichten eines über Jahrzehnte hinweg in Elternhaus und Schule, in Vereinen und patriotischen Feiern kultivierten Nationalismus, der zuletzt immer radikalere Züge angenommen hatte. Diese Generation war auch stark geprägt vom Zeitgeist der Vorkriegsjahre mit ihren in ganz Europa grassierenden antipositivistischen und antimaterialistischen, irrationalistischen und lebensphilosophischen Strömungen, ihrer Suche nach Lebensreform und religiöser und spiritueller Erneuerung, die nun mit einem Schlag auf den Krieg als die große Gelegenheit zur Katharsis und Reinigung projiziert wurden. So wurde der Krieg in ihren Briefen vielfach als willkommener Ausbruch aus den Zwängen einer in bürgerlichen Konventionen erstarrten Welt, einer zunehmend bürokratisierten und durchrationalisierten Leistungsgesellschaft dargestellt, oft aber auch einfach als Abenteuer und Gelegenheit zur Mannwerdung, zumal die Autoren oft noch die Schulbank gedrückt und im bürgerlichen Leben noch nicht Fuß gefasst hatten. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich solche Briefe, wenn sie aus der Feder von Gefallenen stammten, weil ihr Bekenntnis zu Krieg und Nation als Vermächtnis der Toten präsentiert werden konnte und sie sich besonders gut dazu eigneten, die idealistische Kriegsbegeisterung der jungen Bürgersöhne, die zunehmend als ‚Generation von 1914’ idealisiert wurden, auf Dauer zu stellen. Bekräftigt wurde durch solche Briefe, die als volkspädagogische Testamente instrumentalisiert wurden und die Erinnerung an den Krieg nachhaltig prägten, vor allem die Ideologie des patriotischen Opfertodes, ein konstitutives Element des Nationalismus, der im Krieg wegen seiner zivilreligiösen Potentiale zentralen Stellenwert erlangte. Sie erlangte hier besondere Legitimationskraft, sprachen die Toten doch mit der unhintergehbaren Autorität der Betroffenen, die ihrem Tod selbst die Deutung einschrieben. In Italien sind schon während des Krieges Tausende von Gedenkschriften für einzelne Gefallene aus den Mittel- und Oberschichten erschienen.5 Diese Publikationen wurden meist von den Angehörigen oder Freunden und Kameraden der Gefallenen he—————— 4 5
Vgl. z.B. Ulrich, Bernd, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 1997; Reimann, Aribert, Der Große Krieg der Sprachen. Untersuchungen zur historischen Semantik in Deutschland und England zur Zeit des Ersten Weltkriegs, Essen 2000. Vgl. Janz, Oliver, Zwischen privater Trauer und öffentlichem Gedenken. Der bürgerliche Gefallenenkult in Italien während des Ersten Weltkriegs, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 554573; Dolci, Fabrizio; Janz, Oliver (Hg.), Non omnis moriar. Gli opuscoli di necrologio per i caduti italiani nella grande guerra. Bibliografia analitica, Rom 2003.
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rausgegeben oder Vereinen und Institutionen, denen sie angehört hatten. Sie enthielten neben vielen anderen Materialien wie Nachrufen und Reden, Kondolenzbriefen und Ordensurkunden fast immer auch Feldpostbriefe oder Kriegstagebücher der Gefallenen, manchmal nur in kurzen Auszügen, oft aber auch in vollständiger Form. So dokumentieren diese Schriften nicht nur auf einzigartige Weise die Verarbeitung des Kriegstodes durch die Hinterbliebenen und ihr Umfeld, sondern auch den vielleicht größten nationalen Bestand an gedruckten Feldpostbriefen, der für den Ersten Weltkrieg vorliegt. Der Kontext der Trauerschriften, in dem diese Zeugnisse bürgerlicher Kriegsteilnehmer publiziert wurden, war sehr spezifisch, denn in keinem anderen Land finden wir solche Gedenkpublikation in ähnlichem Ausmaß. Doch inhaltlich ähneln die italienischen Gefallenenbriefe, die in Quelle Nr. 6.6 in kurzen Auszügen präsentiert werden, in vielem ihren Pendants in anderen europäischen Ländern, etwa den Kriegsbriefen gefallener Studenten, wie sie in deutschen Anthologien publiziert wurden, allen voran den Dokumenten, die wir in der bekannten Briefsammlung von Witkop finden.6 Die Briefe der Gefallenen sind durchzogen von einer religiös aufgeladenen Sprache der Opferbereitschaft und der Pflichterfüllung. Sie verbindet sich mit wechselnden Idealen, wie Nation und Familie, Freiheit und Gerechtigkeit, Kultur und Zivilisation, die in den Rang letzter innerweltliche Werte erhoben werden und den Krieg zum Kreuzzug überhöhen. Entscheidend ist jedoch meist nicht, wofür das Opfer gebracht wird, sondern die sittliche Qualität der Selbstüberwindung des Einzelnen im Namen eines Glaubens. Sie verbürgt Transzendenz und rückt den Kriegstod in die Nähe des christlichen Märtyrertods. Der Krieg ist Opfergang. Die formale Matrix des freiwilligen Opfers ist in vielen Briefen auch die Brücke, die eine Verbindung zwischen zivilreligiösen und christlichen Deutungen von Krieg und Tod erlaubt. Auch im engeren Sinne kirchlich geprägte Autoren, die eine Minderheit darstellen, betonen meist die besondere Qualität des Kriegstods als Opfer und trösten sich und ihre Angehörigen mit der dadurch erlangten Gewissheit des ewigen Lebens. Die Gefallenen stilisieren sich selbst zu Märtyrern und Mustern patriotischer Pflichterfüllung. Dies prädestiniert die öffentliche Verwendung dieser Briefe, die von den Hinterbliebenen als Tröstungen aus dem Jenseits eingesetzt werden. Die Briefe enthalten jedoch oft auch einen Appell an die Angehörigen. Dem patriotischen Opfertod soll eine patriotische Trauer entsprechen. Das Tröstungsangebot, das die Gefallenen machen, indem sie ihren Tod als Opfer überhöhen, muss von den Trauernden angenommen werden, wenn sie sich der Toten und ihrer sozialen Vorbildrolle würdig erweisen wollen. So werden die Schriften durch die Briefe der Gefallenen zu einer besonders effektiven Form weitgehend selbst organisierter Kriegspropaganda, mit der die Ideologie des patriotischen Opfertodes von den Betroffenen selbst in den bürgerlichen Mittelschichten weiter verbreitet und bekräftigt wird. —————— 6
Vgl. Witkop, Philipp (Hg.), Kriegsbriefe deutscher Studenten, Gotha 1916 (zahlreiche weitere erweiterte Ausgaben zwischen 1918 und 1930); Hettling, Manfred; Jeismann, Michael, Der Weltkrieg als Epos. Philip Witkops "Kriegsbriefe gefallener Studenten", in: Hirschfeld, Gerhard (Hg.), "Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch". Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, Essen 1993, S. 175198. Einen bibliografischen Überblick über die deutschen Kriegsbriefsammlungen gibt Ulrich (wie Anm. 4), S. 315-320.
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Weit verbreitet ist in den Briefen daneben wie in ihren deutschen Pendants die Semantik der Erneuerung und Katharsis. Die Bereitschaft zum Opfertod steht für die Abkehr vom Individualismus und Materialismus der Vorkriegszeit, für das Bekenntnis zu einer anderen gesellschaftlichen Ordnung und politischen Kultur. Oft wird der Hauptfeind daher nicht im äußeren Gegner gesucht, sondern im Inneren, in der inneren Schwäche und Zerrissenheit der spät geeinten Nation, die in den erbitterten Auseinandersetzungen über den Kriegseintritt noch einmal besonders deutlich zutrage getreten waren. Meist geht es in den Briefen jedoch primär um die eigene innere Reinigung und Erneuerung. Dabei spielte nicht nur die Nähe zum Tod eine Rolle, die oft als existentielle Steigerung des Lebens erfahren wurde, wobei der Schützengraben oft als Gegenwelt zur Monotonie und Oberflächlichkeit des bürgerlichen Alltags mit seinen Zwängen und Konventionen stilisiert wurde. Der Krieg wurde von den jungen Männern aus dem Bürgertum, die nun meist im Schnellverfahren in die Offiziersränge einrückten, auch fast immer als Befreiung von familiärer Kontrolle und innere Reifung erlebt. Der Eintritt in die klar gegliederte Männergesellschaft an der Front, die Übernahme von Kommandofunktionen und die damit verbundene Verantwortung und soziale Anerkennung erscheint in den Briefen oft als Erlösung von drückenden Sinnkrisen. So erweist sich die Rhetorik der Pflichterfüllung in vielen Fällen jenseits aller ideologischen Deutungen und Sinnstiftungen des Krieges oft als Chiffre der Mannwerdung und einer durchweg positiv erlebten neuen Rollenzuweisung. Eine Rolle spielt auch, dass die jungen Männer aus dem städtischen Bürgertum an der Front nun zum ersten Mal in nähere Berührung mit den Unterschichten kamen, die das Gros der Infanteriesoldaten stellten. Das Leben mit ihnen wird häufig als Erweiterung des Horizonts und als Bereicherung erlebt. In ihren Soldaten entdecken die jungen Offiziere nun das einfache Volk und seine Tugenden, die oft romantisch verklärt werden. Die ganz unideologische Solidarität zwischen den Soldaten, die auf der Ebene der untersten militärischen Kampfeinheit im Schützengraben meist herrschte, wird überdies wie in Deutschland auch häufig als egalitäre Gegenwelt zur bürgerlichen Gesellschaft mit ihren ausgeprägten sozialen Unterschieden und symbolischen Distinktionen erlebt und oft als Kern und Vorstufe einer neuen klassenübergreifenden nationalen Ordnung überhöht. In diesem Laboratorium des neuen Italien weisen sich die jungen Offiziere selbst jedoch in aller Regel eine herausgehobene Rolle zu. Sie wollen nicht nur befehlen, sondern ihre Soldaten, die oft ländliche Analphabeten waren, auch zu Nationalbewusstsein und Opferbereitschaft erziehen. Diese in den Briefen und Kriegserinnerungen der Offiziere mythisch überhöhte Gemeinschaft des Schützengrabens ist in der Nachkriegszeit im Umkreis der Veteranenbewegung und des frühen Faschismus dann zur Blaupause einer militärisch formierten Gesellschaft unter dem Kommando der neuen Aristokratie der Frontkämpfer geworden.
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Quelle Nr. 6.6 Auszüge aus Briefen italienischer Gefallener des Ersten Weltkriegs7 „Wenn ihr an euren geliebten Sohn denkt und weint, so tröste euch der Gedanke, dass ich tapfer und heiter für die Ehre und Größe unseres lieben Vaterlandes in den Tod gegangen bin. Ich sterbe beseelt von der edlen und großherzigen Gesinnung, die ihr in mir wachgerufen habt, und ich erwar8 te und fordere von euch ebenso viel Seelenstärke, wenn ihr die schmerzhafte Nachricht erhaltet.“ „Ich habe in meinen Leben immer versucht, mit aller Kraft den Weg der Tugend und Pflicht zu verfolgen. Ich hatte immer die edelsten und reinsten Ideale der Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe. Jetzt bereite ich mich auf die harte Probe vor mit der Heiterkeit der Tapferen und der Ruhe derjenigen, die an ein besseres Leben glauben, eine Welt, in der immer das Gute siegt, wo wir endlich alles menschliche Elend hinter uns lassen und auf die höchsten Gipfel steigen können, wo alles Licht und Liebe ist und wir endlich jenes Glück finden, das wir hier unten vergeblich suchen. [...] Ich gebe mein junges Leben gerne und hoffe, dass mein Blutopfer auf dem Altar des geliebten Vaterlandes zusammen mit dem tausender anderer Märtyrer zu siegreichen Beendigung des heiligen Krieges und zur nationalen Erlösung beiträgt.“9 „Wenn Gott beschlossen hat, daß ich auf dem Schlachtfeld fallen soll, so füge ich mich in seinen Willen. Ich fürchte den Tod nicht, denn er bringt mich dem, wofür ich geschaffen bin, näher. Wenn ich während meines Lebens kein Heiliger war, so habe ich mir doch nicht viel vorzuwerfen. Ich hoffe daher, daß Gott mich für das Opfer meines Lebens mit ewigem Lohn bedenken wird. Weint also nicht um mich.“10 „Besser der Mittag kommt nicht, wenn er schlechter ist als der Morgen. Segnet den Krieg, meine Lieben. Ohne ihn wäre ich vielleicht krank an Geist und Körper geworden. Er hat mich zerstört, aber auch gereinigt, wie das Feuer, und mein Ende, das nun naht, mit Licht umkrönt.“11 „Zwanzig Tage Schützengraben […], zwanzig Tage im Schlamm [...], ständige Opfer und große Ehre! Denn wenn wir zurückkommen, fühlen wir Stolz. In unseren verdreckten Kleidern sehen wir nicht das Gegenteil von Sauberkeit und Hygiene, denn es ist eben dieser Schmutz, der unsere Seelen reinigt und uns die Nutzlosigkeit all der dummen Dinge lehrt, ohne die ein moderner Mensch nicht auskommt! [...] Ich trauere den Tagen im Schützengraben nach, wo wir uns alle wie Brüder gefühlt haben. [...] In jenem Schlamm, der uns äußerlich alle gleich machte, stellte sich auch innerlich ein Gleichklang der Herzen und Seelen her. Der Schlamm ließ alle Unterschiede des Ranges und des Alters verschwinden. Wir waren alle ein einziger von Liebe zu Vaterland und Familie erfüllter Körper.“12 „Die lange Zeit an der Front hat mich völlig verändert und mich restlos von all den konventionellen Fesseln der dummen Etikette befreit, die unsere verdorbene Gesellschaft zusammenhält. Ich bin nicht mehr der elegante kleine Student, der gepudert auf Bälle geht. [...] Ich bin Soldat und meine Liebe gilt dem Vaterland. In seinem Namen habe ich den Tod tausendmal herausgefordert, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich kann den Anblick zerfetzter menschlicher Körper, die in Verwesung übergegangen und voller Würmer sind, mit einem Lächeln auf den Lippen ertragen und
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Übersetzung aus dem Italienischen durch Oliver Janz. Amilcare Bardi, capitano di fanteria, eroicamente caduto sul campo dell’onore a soli 23 anni il 12 giugno 1916, Turin 1916, S. 12. In memoria di Antonio Belloni, tenente di fanteria, Padua 1917, S. 7. n memoria del sottotenente Pietro Grazioli, Mailand 1918, S. 7f. In memoria del conte dott. Annibale Calini, ferito mortalmente il 10 settembre 1916 sull’Alpe Cosmagnon, Bergamo 1917, S. 7. In memoriam Giuseppe Berri, Florenz 1916, S. 13ff.
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Oliver Janz
bin bereit, morgen das gleiche Schicksal zu erleiden, wenn es der Verteidigung des Vaterlandes dient. [...] Wer dem Vaterland dienen kann und es aus persönlichen, egoistischen und materiellen Interessen heraus nicht tut, nur wegen der Angst, jenen Körper zu lassen, der sich schon nach wenigen Stunden in eine stinkende Leiche verwandelt, ist ein elender Feigling. Für diese Leute habe ich nur unversöhnlichen Hass.“13 „Ich bin inzwischen wie ein Morphiumsüchtiger. So wie dieser nicht ohne seine Droge leben kann, die ihn dem Grab immer näher bringt, so könnte ich nicht von heute auf morgen das liebe Getöse hier verlassen, diesen ständigen Donner der Geschütze, das Knattern und Rollen der Maschinengewehre. [...] Was könnte schöner sein als sechzig Männer unter deinem Befehl zu haben, sechzig Männer, die dich lieben, die dich bewundern, sechzig Männer, die du durch Wort und Vorbild überzeugt und denen du beigebracht hast, den Tod zu verachten. [...] Als ich ihnen jene kurzen Befehle gab, die dem Angriff vorangehen [...], wurden sie erst blass und schwankten, aber dann sahen sie, wie ich in aller Ruhe mit einer Zigarette im Mundwinkel den Revolver lud. Und dabei hatten sie erst wenige Tage zuvor gesehen, wie ich mich beim Abschied den Armen meiner weinenden Mutter entwunden habe.“14 „In diesen Momenten, in denen man zwischen Leben und Tod schwebt, im Donner der Geschütze, wird man zum Mann. Hier wird man gut. Seele und Herz reinigen sich von allen bösen Gedanken. Hier werden schmerzliche Erinnerungen wach, kommen Reue und gute Vorsätze. Glaube mir, nie zuvor ist mir die Welt so schön, mein Leben so nützlich erschienen.“15 „Das Leben ist Opfer, der Krieg ist Leben, also Opfer. Doch der Krieg bringt Tod und Tod ist Befreiung. Der Krieg ist daher Opfer und Befreiung zugleich. Wenn Du heil aus dem Krieg zurückkehrst, hast Du nicht genug gelitten, um der Glückseligkeit würdig zu sein.“16
Literatur Janz, Oliver, Zwischen privater Trauer und öffentlichem Gedenken. Der bürgerliche Gefallenenkult in Italien während des Ersten Weltkriegs, in: Geschichte und Gesellschaft 28 (2002), S. 554-573 Kruse, Wolfgang, Kriegsbegeisterung? Zur Massenstimmung bei Kriegsbeginn, in: Ders. (Hg.), Eine Welt von Feinden. Der große Krieg 1914-1918, Frankfurt am Main 1997, S. 159-166 Omodeo, Adolfo, Momenti della vita di guerra. Dai diari e dalle lettere dei caduti 1915-1918, Turin 1968 Ulrich, Bernd, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 19141933, Essen 1997 Verhey, Jeffrey, The spirit of 1914: Militarism, myth and mobilization, Cambridge 2000 (deutsch: Der „Geist von 1914“ und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000)
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Stato di servizio, bozzetti di guerra e lettere del tenente Amar sig. Cesare, deceduto alla fronte l’8 ottobre 1918, Alessandria 1919, S. 25. In memoria del sottotenente Leopoldo Aguiari, Ferrara 1917, S. 15ff. In memoria del sottotenente Agostinucci Domenico, Città di Castello 1916, S. 20. In memoria del tenente Pietro Bartoletti, Cesena 1919, S. 13f.
SÜDSLAWEN UND HABSBURGERMONARCHIE UM 1900. ZUR EUROPÄIZITÄT DES „JUGOSLAWISMUS“1 Von Günter Schödl Die derzeitige Debatte zu einer künftigen Südosterweiterung der EU bezieht sich vorrangig auf die Türkei, auf ihre EU-Kompatibilität, nur gelegentlich auch auf Rumänien und Bulgarien als nächste Beitrittskandidaten, viel zu wenig auf die südslawischalbanische Region. Diese wird seit der Auflösung Tito-Jugoslawiens aus westeuropäischer Sicht fast nur in den Kategorien von Kriegsfolgenmanagement und Konfliktprävention wahrgenommen. Dies stellt eine unbegründete Reduzierung dar – ein Ausblenden der überfälligen Frage nach der besonderen, südslawisch-westbalkanischen Variante des Europäischen, der Europäizität des Südostens: Nach der Langzeitwirkung bestimmter geschichtlich gewachsener Strukturzusammenhänge und der künftigen Integrierbarkeit charakteristischer Entwicklungsdispositionen, somit Sachverhalten, die sich eben nicht aus der Krise und den Konflikten von 1989/91 und den Folgejahren ableiten lassen. Eines der in diesem Sinne konstitutiven Phänomene, die ‚moderne’ Nations- und Staatsbildung, soll im Folgenden am Beispiel der „Resolution von Rijeka“ erörtert werden, die am 3. Oktober 1905 als Grundsatzerklärung kroatischer Nationalpolitik, vorbereitet durch A. Trumbićs Entwurf vom 11./13. September 1905, von kroatischen Parlamentariern beschlossen wurde. Sie verband die Betonung kroatischer Individualität, der Existenz einer kroatischen Nation, mit jugoslawistischer Öffnung, mit der Anerkennung anderer südslawischer Nationen und Bejahung ihrer wenn nicht staatlichen, so doch wenigstens kulturellen Zusammengehörigkeit. Dies fand verhaltenen Ausdruck in dem Anspruch, „daß jede Nation das Recht hat, frei und unabhängig über ihr Wesen und über ihr Schicksal zu entscheiden.“2 Die eigentliche, nationalpolitische Zielsetzung, nämlich die kroatische nationale Integration und Selbstbestimmung innerhalb der Habsburgermonarchie und eine kroatisch-serbische Solidarisierung, wird überhaupt nur indirekt angesprochen. Konkreter ist die entsprechende Passage einer ergänzenden kroatisch-serbischen Resolution vom 14. November 1905, die im dalmatinischen Landtag abgefasst wurde: „Die Klubs der kroatischen Partei und der serbischen nationalen Partei beharren auf dem Grundsatz, daß Kroaten und Serben eine Nation sind […].“3 In der auf Rijeka folgenden Resolution von Zadar vom 17. Oktober 1905 hatten serbische Abgeordnete des dalmatinischen Landtags bereits ihre „kroatischen Brüder“ apostrophiert und vor allem auf die Gleichberechtigung „des serbischen und kroatischen Volkes“4 abgehoben. —————— 1 2 3 4
Essay zur Quelle Nr. 6.7, Die Resolution von Rijeka (Fiume) vom 3. Oktober 1905. Zit. n. Südland, L.v. (Pseudonym zu Pilar, Ivo), Die südslawische Frage und der Weltkrieg, 2. Aufl., Zagreb 1944, S. 673. Zitiert nach Südland (wie Anm. 2), S. 678. Ebd.
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Diese kroatisch-serbische Annäherung war Voraussetzung dafür, dass das klassische Anliegen der kroatischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts, die Überwindung der staatlichen Teilung der kroatischen Nation, nunmehr zum gemeinsamen kroatisch-serbischen Ziel erklärt werden konnte: Durch die „Reїnkorporierung“ des österreichischen Kronlandes Dalmatien in die zu Ungarn gehörende „Banovina“ KroatienSlawonien sollte dem „Volke Kroatiens, Slawoniens und Dalmatiens“ letztlich „eine unabhängige politische, kulturelle, finanzielle und allgemeine wirtschaftliche Existenz und Entwicklung gesichert werden.“5 Das übergeordnete nationalpolitische Ziel einer qualitativen Aufwertung eines solchen geeinten Kroatien neben Österreich und Ungarn als den bisherigen Teilkörpern der Habsburgermonarchie wurde nur indirekt formuliert, und zwar durch Solidarisierung mit der gleichzeitig gegen Wien opponierenden ungarischen Opposition: „Die kroatischen Abgeordneten sind der Ansicht, daß die heutigen Zustände im öffentlichen Leben Ungarns ihren Ursprung in dem Kampfe haben, der daraufhin zielt, daß das Königreich Ungarn allmählich seine vollkommene staatliche Unabhängigkeit erreiche. Die kroatischen Abgeordneten erachten dieses Bestreben für völlig gerechtfertigt […].“6 Diese Kombination von kroatisch-serbischer und südslawisch-magyarischer Koalitionsbildung gegen ‚Wien’ und die Weiterexistenz der Habsburgermonarchie in ihrer dualistischen Gestalt von 1867 war der nationalpolitische Kern der Resolution von Rijeka, damit jener „resolutionistischen“ Politik, die fortan im österreichischen Kronland Dalmatien wie in der ungarischen Banovina ihren parlamentarischen Durchbruch erleben sollte. Alle weiteren Forderungen stellen lediglich eine Folge der übergeordneten nationalpolitischen Programmatik dar: So diejenigen nach Beendigung der „unerträglichen parlamentarischen und verwaltungspolitischen Zustände“, nach einer qualitativen Ausdehnung des Wahlrechts, nach einer unabhängigen Justiz, Versammlungs- und Pressefreiheit usw. Trotz ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zu einem pragmatischen Arrangement mit den Serben und trotz ihres Bekenntnisses zur südslawischen kulturellen Gemeinsamkeit beharren die kroatischen Resolutionisten doch auf der gesamtkroatischen und der Ablehnung einer „jugoslawischen“ nationalen Identität. Die inhaltliche Genesis der Resolution von Rijeka lässt Rücksichtnahmen auf kroatische Kritiker, auf den umworbenen ungarischen Partner und sogar auf ‚Wien’ bzw. österreichische Landesverwaltung erkennen. So war die programmatische Unterordnung des Zieles einer „exklusiven“ kroatischen Nationalpolitik bzw. Nationalstaatsbildung unter dasjenige einer kroatischserbischen Zusammenarbeit und damit einer gesamtslawischen bzw. „jugoslawischen“ Neuorientierung konstitutiv für die resolutionistische Politik, jedoch vermied man aus Rücksicht auf antiserbische Vorbehalte im katholischem Klerus und in der Bauernschaft eine ausdrückliche Nennung der kroatisch-serbischen Koalitionsbildung. Die Initiatoren wollten kein Risiko eingehen: Die künftige Massenbasis durfte nicht an die „Reine Rechtspartei“ des J. Frank verloren gehen, dessen proösterreichische und antiserbische Variante eines extremen kroatischen Nationalismus ebenso wie die – nach 1918 dann dominierende – kroatisch-nationalistische und sozialreformerische Bauernpartei St. Radićs als Rivalen galten. Und wenn im Programm der am 26./27. April 1905 in Split —————— 5 6
Zitiert nach Südland (wie Anm. 2), S. 675. Zitiert nach Südland (wie Anm. 2), S. 673.
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gegründeten „Kroatischen Partei“ der resolutionistische Grundsatz der einen, kroatischserbischen Nation enthalten war, so scheute man sich doch, dies rückhaltlos kundzutun. So begnügte man sich, wie später in der Resolution, die konsequente Forderung nach voller politischer Einheitsbildung nur vage anzudeuten. Die neue dalmatinische Führungsgruppe der kroatischen Politik um Čingrija, Supilo und Trumbić tolerierte sogar die diskret hinter den Kulissen unternommene Einflussnahme des Statthalters N. Nardelli, der wiederum im Auftrag des österreichischen Ministeriums des Innern agierte. 7 Nachdem „einflußreiche Abgeordnete, die ich […] sondierte, versicherten […], daß sie nicht die Absicht hätten, die Frage der Fiumaner Resolution ins Plenum des Landtags zu bringen […]“8, machte er die Parlamentarier mit der ‚Schmerzgrenze’ der österreichischen Regierung bekannt: Politisch korrekt sei es – so lautete die vereinbarte Sprachregelung –, die Vereinigung der Kroaten beider Reichshälften zu fordern; dagegen beschaffte sich der Statthalter den „Allerhöchsten Auftrag“, den Landtag sofort zu schließen, wenn diese Grenze überschritten und ein „die Frage der Vereinigung Dalmatiens mit der Stefanskrone [somit Ungarn; GS] betreffender Antrag“ im Landtag bis in die zweite Lesung gelangen würde.9 Im Einzelnen schwankte die zeitgenössische Einschätzung des „neuen Kurses“: Während Statthalter und Čingrija als ‚Vater’ der Resolution sich hinter den Kulissen weitgehend auf die abwertende Einschätzung einigten, es sei nicht klar, ob das resolutionistische „Vabanquespiel […] gut oder schlecht“, mehr als eine bloße Demonstration sei10, und der Statthalter noch im Frühjahr 1906 die resolutionistische Bewegung für „vollständig begraben“ hielt, sah er sich bereits im Juni dazu veranlasst, der österreichischen Regierung eine dramatisch veränderte Einschätzung mitzuteilen: Die kroatischserbische Strömung habe, unterstützt von der ungarischen Regierung, eine Dynamik entwickelt, die die Prophezeiung seiner Amtsvorgänger bestätige, „dass eine Zeit kommen werde, in welcher es nahezu unmöglich sein wird, hier zu regieren.“11 Die Politik der Resolutionisten wies wenig Bezüge zu den Interessen des kroatischen Handelsbürgertums in den größeren dalmatinischen Städten auf, ebenso wenig zu den eklatanten Unterschieden der Lebensbedingungen in Dalmatien und Kroatien. Auf der oberen und unteren Ebene kroatischer Nationalpolitik waren weder das existenzielle Interesse der schmalen südslawischen Unternehmerschicht an einer Kombination von gesamthabsburgischem Zollgebiet und zollpolitischer Bevorzugung noch grundlegende Probleme präsent, ebenso wenig gesellschaftliche Phänomene wie der Status der dalmatinischen Kolonen (Pachtbauern), die periodischen lokalen Hungersnöte, die völlig unzureichende medizinische Versorgung12 oder die eklatanten Ausbildungsdefizite. —————— 7
Österreichisches Staatsarchiv, Abt. Allgemeines Verwaltungsarchiv (=AVA Wien), MI, 22 Dl, Z. 2875 v. 06.05.1905: Bericht des Statthalters an den Minister des Innern, Z. 5 geheim v. 01.05.1905. 8 AVA Wien, MI, 22 Dl, Z. 7544 v. 10.11.1905: Bericht des Statthalters an den Minister des Innern, Nro. 17 geheim v. 06.11.1905. 9 AVA Wien (wie Anm. 7). 10 AVA Wien, MI, 22 Dl, Z. 5690 v. 28.06.1906: Bericht des Statthalters an den Minister des Innern, Nro. 16 geheim v. 23.06.1906. 11 AVA Wien (wie Anm. 10). 12 AVA Wien (wie Anm. 10). So war im Jahre der Resolution von Rijeka 1905 ein Zehntel der dalmatinischen Bevölkerung an Malaria erkrankt, ohne dass die notwendigen und geplanten Gegenmaßnahmen ergriffen wurden.
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In Dalmatien ergab sich geradezu eine Aufspaltung des Politisierungsprozesses. Jener „jugoslawische“ Solidarisierungsimpuls, dem kroatische und serbische Angehörige ‚junger’ Elitegruppen und Klientelverbände folgten, war zumindest teilweise interessenpolitisch bedingt. Obwohl diese Art der Motivierung auch bei der bäuerlichen Bevölkerungsmehrheit maßgeblich für den Abbau kroatisch-serbischer Distanz gewesen ist, wies sie einen anderen sozialen Inhalt auf und bildete sich auf einer ganz anderen gesellschaftlichen Entwicklungsstufe. Es kam zu einer regelrecht bipolaren Prägung des – äußerlich scheinbar uniform jugoslawistisch ausgerichteten – Politisierungsprozesses: Die bäuerliche Bevölkerung identifizierte sich mit der südslawischen Solidarisierung und dem Emanzipationsstreben primär als komplementäre Begleiterscheinung kollektiver Unzufriedenheit, vor allem mit dem Kolonat als bäuerlicher Existenzform. Bei der Formierung einer resolutionistisch-jugoslawistischen Resonanzbasis in KroatienSlawonien kam es deshalb nicht zu einer homogenen Motivationslage. Auch hier wirkte sich – neben kulturell-konfessionellen und administrativ-politischen Impulsen – soziale Uneinheitlichkeit als Hindernis für schichtenübergreifende und inhaltlich homogene Hinwendung zum Jugoslawismus aus. Während auf einer oberen, bürgerlichen Ebene des Politisierungsprozesses die konkurrierenden Programmangebote, kroatischnationalistischer und kroatisch-jugoslawistischer Art, nicht mehr mobilisierend wirkten, waren sie auf einer unteren, vor allem bäuerlichen Ebene in der sozialen Kommunikation noch kaum zur Geltung gekommen. Bevor die resolutionistisch-jugoslawische Variante des Nationalismus eine breite Politisierungsdynamik entfalten konnte, war sie bereits eine ‚säkularisierte’, weitgehend abhängige Funktion struktureller und mentaler Entwicklungsunterschiede geworden. Dieses Defizit an sozialer Relevanz und eigenständigem Praxisbezug, an gestaltender und disziplinierender Wechselbeziehung zu soziostrukturell ’logischen’ Phänomenen von Wandel und Wahrnehmung ist an der inhaltlichen Genesis und der Wirkungsgeschichte der Resolution von Rijeka als Grundprogramm der resolutionistischjugoslawistischen Bewegung ablesbar. Es gehört in die Traditionslinie jenes selbstreferenziell-inhaltsleeren, zur zerstörerischen Verselbständigung disponierten doktrinären Nationalismus, der in der multipel-kleinteiligen Entfaltung südslawischer Nationalismen des 19. Jahrhunderts nicht anders zu Tage tritt als am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert. Ob ein früher Entwurf kroatisch-jugoslawistischer ’Selbsterfindung’ wie Fr. Račkis „Jugoslovjenstvo“ um 1860 oder eine späte Erscheinungsform wie der antimodernistische Funktionswandel des titoistischen Jugoslawismus zur Debatte steht, die Belege für eine charakteristische, gewissermaßen umgekehrt proportionale Ausprägung von defizitärem Wirklichkeitsbezug und dysfunktionaler Vielfalt lassen sich als ’genetische’ Grammatik des Nationalen lesen – nicht nur des Nationalen im südslawischen Europa, und nicht nur in demjenigen der Vergangenheit. Die in vielem widersprüchlich-uneinheitliche kroatische, serbische, südslawische Realität am Vorabend des Ersten Weltkriegs und deren konfliktträchtige Folgen erscheinen vielen als Ausdruck eines krisenhaft-hybriden Variantenreichtums und einer grundlos-intensiven Fehlentwicklung: Aus westlicher Perspektive ein ‚überflüssiger’ entwicklungsgeschichtlicher Zweifel am eigenen, historisch erfolgreichen westeuropäischen Entwicklungsmodell. Die südslawische Geschichte repräsentiert demnach eine unerklärt variantenreiche Ambivalenz von Rationalität und Aggressivität, von Massen-
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mobilisierung und –politisierung, Aufbau und Zerstörung. Ihre Gesellschaften sind unzugänglich für die objektivierende Unterscheidung von ‚eigener’ Entwicklung, von Entwicklungsrückstand und Fehlentwicklung. Dennoch kommt ihnen durch ihre historische wie gegenwärtige Existenz eine meist unterschätzte Relevanz für das Erweiterungs- und Integrationskalkül EU-Europas zu. Ob vertraut oder fremd, ob Konformität oder Abweichung, ob Imitation oder Selbsterfindung, die Verbreiterung der ‚genetischen’ Basis von Selbstvergewisserung und osteuropäischer Entwicklungsstrategie EUEuropas erfordert ihre Berücksichtigung. Die Resolution von Rijeka vermittelt einen historischen Eindruck vom Selbstverständnis, wie sich im Südosten des Kontinents Gesellschaften in den Kategorien der europäischen Moderne, insbesondere von Entwicklung und Nation, definierten und entfalteten – geprägt von Impulsen und Defiziten, von Erwartung und Frustration, und auch von der Selbstverständlichkeit, als ein Stück Europa wahrgenommen zu werden. Europäizität oder Europa hat im Südosten viele Anfänge: Einer davon lässt sich auf 1905 datieren, auch wenn das ‚europäische’ Gedächtnis der EU dieses Wissen nicht zu erkennen gibt. Quelle Nr. 6.7 Die Resolution von Rijeka (Fiume) vom 3. Oktober 190513 Angesichts der politischen Lage, in welche die Monarchie zufolge der ungarischen Krise geraten ist, sind die kroatischen Abgeordneten zusammengetreten, um Stellung zu dieser neuen Lage zu nehmen und die Richtungslinien für die politische Tätigkeit des kroatischen Volkes zu bestimmen, in Fragen, die unbestritten und allen gemeinsam sind, ohne hierbei den prinzipiellen Standpunkt, an dem sie in ihrer parlamentarischen Tätigkeit, sei es nun als Klubmitglieder, sei es als Individuen, festhalten, zu präjudizieren. Die kroatischen Abgeordneten sind der Ansicht, daß die heutigen Zustände im öffentlichen Leben Ungarns ihren Ursprung in dem Kampfe haben, der darauf hinzielt, daß das Königreich Ungarn allmählich seine vollkommene staatliche Unabhängigkeit erreiche. Die kroatischen Abgeordneten erachten dieses Bestreben für völlig gerechtfertigt, schon aus dem Grunde, als jedes Volk das Recht besitzt, frei und unabhängig über sein Wesen und sein Schicksal zu entscheiden. Die kroatischen Abgeordneten sind überzeugt, daß die beiden Nationen, die kroatische und die ungarische, nicht nur mit Rücksicht auf ihre historischen Beziehungen, sondern mehr noch mit Rücksicht auf ihre unmittelbare Nachbarschaft und ihre tatsächlichen Lebensbedürfnisse auf gegenseitigen Beistand angewiesen sind, und daß sie deshalb jeden Anlaß oder jeden Grund gegenseitiger Reibungen vermeiden sollen. Von diesen Voraussetzungen ausgehend, erachten es die kroatischen Abgeordneten für ihre Pflicht, Seite an Seite mit der ungarischen Nation für die Erreichung aller konstitutionellen Rechte und Freiheiten zu kämpfen, in der Überzeugung, daß diese Rechte und Freiheiten sowohl der ungarischen als auch der kroatischen Nation zu gute kommen werden; auf diese Weise wird die Grundlage zu einer dauernden Verständigung beider Nationen gelegt werden.
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Südland, L. v. (Pseudonym zu Pilar, Ivo), Die südslawische Frage und der Weltkrieg, 2. Aufl., Zagreb 1944, S. 673-675.
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Die Erreichung dieses Zieles, das den beiderseitigen Vorteilen dienen soll, ist bedingt in erster Reihe durch die möglichst baldige Reїnkorporierung Dalmatiens den Königreichen Kroatien, Slawonien, denen es bereits virtuell und rechtlich angehört. Damit an die Verwirklichung der Reїnkorporierung Dalmatiens herangetreten werden könne, ist es vorerst notwendig, daß den gegenwärtig bestehenden, unerträglichen parlamentarischen und verwaltungspolitischen Zuständen in Kroatien und Slawonien so bald als möglich ein Ende bereitet und daß solche Zustände geschaffen werden, welche den Bedürfnissen eines zivilisierten Landes, sowie den Freiheits- und den Verfassungsansprüchen, welche durch liberale Verfassungseinrichtungen verbürgt erscheinen, entsprechen würden, und zwar: Ein Wahlgesetz, welches die Wahl solcher Volksvertreter ermöglichen und sicherstellen würde, welche den ungehinderten freien Willen der Nation zum wahren Ausdruck bringen; vollkommene Preßfreiheit unter Abschaffung des objektiven Verfahrens und Einführung von Geschworenengerichten für politische und Preßvergehen; Versammlungs- und Vereinsfreiheit, mit dem Rechte freier Meinungsäußerung; Verwirklichung der richterlichen Unabhängigkeit, mit ausreichenden Bürgschaften, daß kein Richter abgesetzt oder für seine Amtshandlungen als Richter verantwortlich gemacht werden kann; besondere Einrichtung eines Verwaltungsgerichtshofes zum Schutze der Interessen und politischen Rechte der Bürger gegen die Willkür der Behörden; Bildung eines besonderen Gerichtshofes für Beurteilung strafrechtlicher Verantwortlichkeit aller Staatsbeamten wegen Gesetzesverletzungen. Die kroatischen Abgeordneten sind der Überzeugung, daß eine dauernde Verständigung der kroatischen und der ungarischen Nation durch genaue und strenge Beobachtung der Rechte der kroatischen Nation, wie sie im bestehenden kroatisch-ungarischen Ausgleich enthalten sind, am raschesten erreicht werden könne, ferner durch die Abänderung der Verhältnisse, welche sich auf jene Angelegenheiten beziehen, welche Kroatien und Ungarn ebenso wie der westlichen Hälfte der Monarchie gemeinsam sind, und zwar solcher Art, daß der kroatischen Nation eine unabhängige politische, kulturelle, finanzielle und allgemein wirtschaftliche Existenz und Entwicklung gesichert werde. Als eine natürliche Folge der Ereignisse wird jeder vom Volke Kroatiens, Slawoniens und Dalmatiens gemachte Fortschritt einen günstigen Einfluß auf die Lage derjenigen unserer Rassenangehörigen ausüben, die in anderen Ländern leben, besonders am exponiertesten Punkte, nämlich im Schwesterlande Istrien. Um die hier angeführten Grundsätze, Ziele und Forderungen durchzuführen, und sie ihrer Verwirklichung näher zu bringen, wird ein Ausschuß von fünf Abgeordneten gewählt, dem noch die weitere Aufgabe zukommt, an der Förderung und der Entscheidung aller jener Fragen mitzuwirken, welche unseren Ländern gemeinsam sind oder der allgemeinen nationalen Wohlfahrt dienen. Gegeben in der Versammlung der kroatischen Volksvertreter in Rijeka (Fiume) am 3. Oktober 1905.
Literatur Rumpler, Helmut, Österreichische Geschichte. 1804 – 1914: Eine Chance für Mitteleuropa, Wien 1997 Steindorff, Ludwig, Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg 2001 Behschnitt, Wolf D., Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830 – 1914, München 1980 Suppan, Arnold, Die Kroaten, in: Wandruszka, Adam; Urbanitsch, Peter (Hg.), Die Habsburgermonarchie von 1848 – 1918, Bd. III/1, Wien 1980, S. 626-733
VON „LAUSANNE“ NACH „DAYTON“. EIN PARADIGMENWECHSEL BEI DER LÖSUNG ETHNONATIONALER KONFLIKTE1 Von Holm Sundhausen Die Bestimmungen und Zielsetzungen der griechisch-türkischen Konvention von 1923 und des Dayton-Abkommens für Bosnien-Herzegowina von 1995 unterscheiden sich diametral hinsichtlich der Lösung ethnonational konnotierter Konflikte. Während die Lausanner Vereinbarung die im griechisch-türkischen Krieg von 1921/22 realisierten ethnischen Säuberungen nachträglich sanktionierte und erstmals in der modernen europäischen Geschichte mittels eines obligatorischen ‚Bevölkerungsaustauschs’ weiter vorantrieb (wenn auch nicht vollendete), zielte das Dayton-Abkommen auf die Rückkehr der während des Krieges in Bosnien-Herzegowina (1992-95) geflohenen oder vertriebenen Personen in ihre früheren Heimatorte. Im ersten Fall ging es um die ethnonationale Homogenisierung der jeweiligen Bevölkerung in der Türkei respektive Griechenland, im zweiten Fall um deren Rückgängigmachung bzw. um die Wiederherstellung von Multiethnizität im post-jugoslawischen Staat Bosnien-Herzegowina. Beide Verträge waren das Ergebnis von Friedensverhandlungen und kamen unter Mitwirkung der internationalen Gemeinschaft – des Völkerbunds bzw. der Vereinten Nationen, der Europäischen Union unter anderem – zustande. Jahrzehntelang galt das „Lausanner Modell“ als ultima ratio zur Lösung ethnischer oder ethnonationaler Konflikte zwischen Nachbarstaaten, auf das sich sehr unterschiedliche politische Akteure – Hitler ebenso wie Churchill – berufen haben. Erst mit dem „Dayton-Abkommen“ – 72 Jahre nach „Lausanne“ – vollzog die internationale Gemeinschaft eine grundsätzliche Kehrtwende. In weiten Teilen Mittel-, Ostmittel- und Südosteuropas hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts ein ethnisch definiertes Verständnis von Nation (Nation als Abstammungsgemeinschaft nach deutschem ‚Muster’) durchgesetzt. Die jungen „Nationalstaaten“ verstanden sich als Staaten der jeweiligen Titularnation, obwohl auf ihren Territorien mehr oder minder zahlreiche sowie mehr oder minder große Bevölkerungsgruppen lebten, die sich nicht der Titularnation zuschrieben oder von dieser – wenn schon nicht formaljuristisch, so doch faktisch – ausgeschlossen wurden. Um die ethnische Homogenität des „Nationalstaats“ und die von seinen Akteuren anvisierten ‚gerechten’ territorialen Ansprüche der Nation zu realisieren, kamen vielfältige Mittel zum Einsatz: von der Assimilierung ‚fremder’ Bevölkerungsgruppen über deren Vertreibung und Umsiedlung bis zum Völkermord. Zu ethnischen Säuberungen größeren Stils innerhalb Europas kam es erstmals während der Balkankriege von 1912/13. Die (vorerst) letzten ethnischen Säuberungen in Europa fanden wiederum im Balkanraum statt: während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien im Verlauf der 1990er Jahre. Dazwischen lagen die Jahrzehnte ethnischer ‚Flurbereinigungen’ in Mittel- und Osteuropa, die während und nach dem Zweiten Weltkrieg ihren quantitativen Höhepunkt mit Millionen von Opfern erreichten. —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 6.8a, Die Lausanner-Vereinbarung von 1923 und zur Quelle Nr. 6.8b, Das Dayton-Abkommen von 1995.
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Die militärische Offensive Griechenlands in Kleinasien, die Ende August 1922 mit einer verheerenden Niederlage gegen die türkischen Truppen Mustafa Kemals („Atatürks“) endete (Griechenlands „kleinasiatische Katastrophe“), schloss ein Jahrzehnt von Kriegen im Südosten Europas ab. Den Auftakt hatte der Krieg der Balkanstaaten gegen das Osmanische Reich von 1912 gebildet (1. Balkankrieg). Dem 1. Balkankrieg war mit veränderten Frontstellungen und Allianzen der 2. Balkankrieg im Jahr 1913 gefolgt. Schon ein Jahr nach dem Bukarester Friedensvertrag, mit dem die Balkankriege beendet worden waren, brach der 1. Weltkrieg aus, der mit dem griechisch-türkischen Krieg in Anatolien ein regional begrenztes Nachspiel hatte. Am Genfer See wurden seit Ende 1922 neue Friedensverhandlungen geführt, da „Atatürk“ den Pariser Vorortvertrag von Sèvres mit dem Osmanischen Reich vom 10. August 1920 ebenso wenig anerkannte wie den Sultan und dessen Regierung. Der Lausanner Friedensvertrag der Alliierten und Assoziierten Mächte mit der neuen Türkischen Republik vom 24. Juli 1923 ersetzte den Friedensvertrag von Sèvres. Ihm vorausgegangen war die griechisch-türkische Konvention vom 30. Januar 1923, die Bestandteil des neuen Friedensvertrags wurde (Artikel 142). Der in der Lausanner Konvention vereinbarte ‚Bevölkerungsaustausch’ betraf nicht nur Personen, die nach Vertragsschluss zwangsumgesiedelt wurden, sondern bezog auch jene Personen (in der Regel Griechen) mit ein, die bereits zu Hunderttausenden vor den türkischen Truppen aus Furcht vor Rache auf die Ägäischen Inseln oder das griechische Festland geflohen waren. Die Brandschatzung der griechischen und armenischen Stadtviertel von Smyrna (Izmir) durch „Atatürks“ Truppen, bei der schätzungsweise 30.000 Menschen den Tod fanden, bestätigte die schlimmsten Befürchtungen. Bis heute ist umstritten, wer den ‚Bevölkerungsaustausch’ in Lausanne vorgeschlagen hat. Vor allem von griechischer Seite wird behauptet, dass der griechische Verhandlungsführer Venizelos dem Plan nur schweren Herzens zugestimmt habe. Gegen diese Version sind plausible Zweifel vorgetragen worden: Eine Rückkehr der Flüchtlinge erschien angesichts des militärischen Übergewichts der Türken und der mangelnden Bereitschaft der Entente, zugunsten Griechenlands zu intervenieren, unrealisierbar. Ein Vertrag bot demgegenüber die Möglichkeit, nicht nur die Eigentumsfragen der Flüchtlinge zu klären, sondern auch durch Zwangsumsiedlung der in Griechenland, vor allem in dem seit 1913 griechischen Teil Makedoniens, lebenden Muslime Platz für die Ansiedlung der Flüchtlinge zu schaffen und damit die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung Griechenlands zugunsten des griechischen Elements zu verändern. Umsiedlungen als Mittel der Politik waren seit den Balkankriegen von 1912/13 kein Novum mehr, wenngleich die vorangegangenen Umsiedlungsverträge noch einen formal fakultativen Charakter gehabt hatten. Mit „Lausanne“ wurde erstmals in der Geschichte des Völkerrechts ein obligatorischer ‚Bevölkerungsaustausch’ unter den Auspizien des neu gegründeten Völkerbunds vereinbart. Die Betroffenen („emigrants“) wurden nicht nach ihrer Sprache oder ihrem nationalen Selbstverständnis, das in vielen Fällen noch unklar gewesen sein dürfte, sondern nach der Religionszugehörigkeit bestimmt, so wie dies bei den Steuer- und Volkszählungen im Osmanischen Reich der Fall gewesen war. Rund 1,3 Millionen „Griechen“, von denen einige die griechische Sprache nicht beherrschten, sowie annähernd 400.000 Muslime (mit unterschiedlichen Sprachen und unterschiedlicher ethnischer Zuordnung) verloren ihre angestammte Heimat und ihre bisherige Staatsbürgerschaft. Auf Drängen Griechenlands wurden die Griechen in Istanbul, am Sitz des „Ökumenischen Patriarchen“, von der Deportation ausgenommen. Im
Von „Lausanne“ nach „Dayton“
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Gegenzug erhielten die Muslime im griechischen Teil Thrakiens das Bleiberecht zugesichert. Die vertragschließenden Parteien verpflichteten sich obendrein, die verbliebenen Minderheiten zu schützen. Die Regelung der Eigentumsfragen von Flüchtlingen und Zwangsumgesiedelten wurde einer „Gemischten Kommission“ übertragen (Artikel 10-17 der Konvention). Mit dem „Dayton-Abkommen“ von Ende 1995 wurde der dreieinhalbjährige Krieg im 1992 unabhängig gewordenen und international anerkannten Staat BosnienHerzegowina beendet. Dem serbisch-muslimisch-kroatischen Krieg in Bosnien vorausgegangen waren der Zerfall des zweiten jugoslawischen Staats 1991, der unmittelbar anschließende Zehn-Tage-Krieg in Slowenien sowie der serbisch-kroatische Krieg in Kroatien, der mit Unterbrechungen von 1991 bis 1995 währte. Der Krieg in Bosnien war, wie zuvor schon in Kroatien, begleitet von massiven ethnischen Säuberungen, die sich zunächst fast ausschließlich gegen die bosnischen Muslime (bzw. „Bosniaken“) richteten und von serbischen Akteuren ausgeführt wurden. Im weiteren Verlauf des Krieges wurden auch bosnische Kroaten und bosnische Serben Opfer ethnischer Säuberungen seitens ihrer jeweiligen Kriegsgegner. Zwischen 2,3 und 2,5 Millionen Menschen von den ursprünglich 4,4 Millionen Einwohnern Bosnien-Herzegowinas verloren ihre Heimat durch Flucht, Vertreibung oder Massenmord. Die unter amerikanischem Druck erfolgte Verständigung zwischen Kroaten und Bosniaken, die Erfolge der kroatischen Offensive gegen die „Serbische Republik Krajina“ in Kroatien und die nach langem Zögern aufgenommenen Luftangriffe der NATO zwangen die anfangs militärisch überlegenen Serben, die zeitweilig fast 70 Prozent des bosnisch-herzegowinischen Territoriums kontrolliert hatten, zum Einlenken. Am 1. November 1995 trafen der Präsident Bosnien-Herzegowinas, Alija Izetbegović, der Präsident Kroatiens, Franjo Tudjman, und Serbiens Präsident, Slobodan Milošević, auf dem Luftwaffenstützpunkt Wright Patterson in Dayton/Ohio zusammen, um aufgrund bereits vorliegender Pläne und unter starkem Druck des amerikanischen Unterhändlers Richard Holbrooke ein endgültiges Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina zu vereinbaren. Am 21. November waren die Verhandlungen abgeschlossen; offiziell unterzeichnet wurde das Dayton-Abkommen am 14. Dezember 1995 in Paris. Entgegen den serbischen und kroatischen Teilungsplänen (die jeweils ethnisch homogenisierte Gebiete vorsahen) blieb Bosnien-Herzegowina als konföderativer Staat unter internationaler Aufsicht bestehen, zusammengesetzt aus zwei „Entitäten“: der „bosniakisch-kroatischen Föderation“ mit 51 Prozent des staatlichen Territoriums und der „Serbischen Republik“ mit 49 Prozent. Im Anhang 7 des Rahmenabkommens verpflichteten sich die vertragschließenden Parteien, die durchgeführten ethnischen Säuberungen soweit wie möglich rückgängig zu machen bzw. den Flüchtlingen und Vertriebenen die Rückkehr in ihre Heimatgemeinden zu ermöglichen und die früheren Eigentumsrechte wiederherzustellen bzw. dort, wo dies aus dringlichen Gründen nicht möglich ist, entsprechend zu entschädigen. Ähnlich wie in der Lausanner Konvention wurde auch im Dayton-Abkommen die Bildung einer Gemischten Kommission zur Regelung der Eigentumsfragen vorgesehen (Artikel VII – Artikel XIV). Die „Logik“ von Lausanne gründete auf der Annahme, dass die ethnisch bzw. religiös heterogene Siedlungsstruktur in Teilen Anatoliens und die daran geknüpften nationalen Irredentismen ursächlich für den griechisch-türkischen Krieg gewesen seien. Durch „Entmischung“ der Gemengelagen sollte auch die Kriegsursache beseitigt wer-
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den. In der Tat wurde die griechische „Megali idea“ (die „Große Idee“), das heißt die Vision von einem „Griechenland der zwei Kontinente und fünf Meere“ bzw. die Idee von der Wiederherstellung des Byzantinischen Imperiums, in Lausanne endgültig zu Grabe getragen. Und in der Tat entspannte sich das griechisch-türkische Verhältnis im Verlauf der 1930er Jahre. Den ‚Preis’ hatten die traumatisierten Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelten zu zahlen. Dass seit Ende der 1950er Jahre die Spannungen zwischen beiden Nachbarstaaten wieder dramatisch zunahmen, war – wenn auch nicht allein, so doch zu wesentlichen Teilen – der Zypernfrage geschuldet. Zypern war aber nicht Gegenstand der Lausanner Konvention gewesen, da es zu diesem Zeitpunkt noch unter britischer Herrschaft gestanden hatte. Zypern ist daher kein Argument gegen Lausanne. Doch warum wurde die Lausanner „Logik“, die bis über das Ende des 2. Weltkrieges hinaus von vielen politischen Akteuren geteilt worden war, im Dayton-Abkommen aufgegeben? Das Friedensabkommen für Bosnien-Herzegowina beinhaltete zwar keine Wiederherstellung des status quo ante, sondern führte mit der Konstituierung zweier „Entitäten“ ein grundlegend neues Gliederungselement ein, aber es sah gleichwohl die Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen vor. Warum? Es waren vor allem die Berichte über die ethnischen Säuberungen und die dazu weltweit verbreiteten Bilder, die in großen Teilen der Öffentlichkeit Europas, der USA und anderer Staaten die Entschlossenheit stärkten, die durch ethnische Säuberungen geschaffenen Fakten nicht länger hinzunehmen – zumindest in Europa nicht. Ungeachtet der Tatsache, dass die Kriege in Ex-Jugoslawien von vielen Beobachtern als Ausdruck „atavistischer“ Feindschaft zwischen den Völkern gedeutet wurden, setzte sich die „humanitäre Logik“ durch, dass ‚Entmischungen’ nicht als Mittel zur Lösung ethnonational konnotierter Konflikte hingenommen werden können – zumal damit weitere ethnische Säuberungen regelrecht ermutigt werden. Dayton hält zwei Lehren bereit: 1) Ohne wirksame und glaubwürdige Druckmittel und die Bereitschaft, sie einzusetzen, wäre der Vertrag nicht zustande gekommen. In Lausanne standen derartige Druckmittel nicht zur Verfügung. 2) Die Rückkehr von Flüchtlingen und „displaced persons“ nach einer Phase extremer Gewalteskalation ist ein langfristiger Prozess mit offenem Ausgang, der von vielen Faktoren abhängig ist. Dazu gehören Sicherheit für das Leben der Rückkehrer, Regelung der Eigentumsverhältnisse, Aufarbeitung der Vergangenheit und Zukunftsperspektiven für die Bevölkerung vor Ort. Bis Ende Mai 2004 sind insgesamt knapp eine Million Flüchtlinge und Vertriebene – weniger als die Hälfte aller Betroffenen – in ihre früheren Wohnorte in Bosnien-Herzegowina zurückgekehrt, darunter 442.000 Personen in Gemeinden, in denen sie nicht die – derzeitige – nationale Mehrheit repräsentieren („minority returns“). Ist der nicht-militärische Teil Daytons, zu dem auch Annex 7 gehört, damit eher eine Erfolgsgeschichte oder eine Geschichte des Scheiterns? Und falls Dayton als Misserfolg wahrgenommen wird, steht dann eine Rückkehr der Lausanner „Logik“ in die internationale Politik zu befürchten? Oder verliert der Ethnonationalismus in einem zusammenwachsenden Europa seine bisherige Bedeutung und macht damit sowohl Lausanne wie Dayton überflüssig?
Von „Lausanne“ nach „Dayton“
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Quelle Nr. 6.8 Auszüge aus der Lausanner-Vereinbarung von 1923 und dem Dayton-Abkommen von 1995
Quelle Nr. 6.8a Die Lausanner-Vereinbarung von 1923: Convention Concerning the Exchange of Greek and Turkish Populations. Signed at Lausanne, January 30, 19232 The Government of the Grand National Assembly of Turkey and the Greek Government have agreed upon the following provisions: Article 1 As from the 1st May, 1923, there shall take place a compulsory exchange of Turkish nationals of the Greek Orthodox religion established in Turkish territory, and of Greek nationals of the Moslem religion established in Greek territory. These persons shall not return to live in Turkey or Greece respectively without the authorisation of the Turkish Government or of the Greek Government respectively. Article 2 The following persons shall not be included in the exchange provided for in Article 1: (a) The Greek inhabitants of Constantinople. (b) The Moslem inhabitants of Western Thrace. All Greeks who were already established before the 30th October, 1918, within the areas under the Prefecture of the City of Constantinople, as defined by the law of 1912, shall be considered as Greek inhabitants of Constantinople. All Moslems established in the region to the east of the frontier line laid down in 1913 by the Treaty of Bucharest shall be considered as Moslem inhabitants of Western Thrace. […] Article 8 Emigrants shall be free to take away with them or to arrange for the transport of their movable property of every kind. […] Similarly, the members of each community (including the personnel of mosques, tekkes [Versammlungshäuser der Derwisch-Orden], meddresses [islamische Hochschulen], churches, convents, schools, hospitals, societies, associations and juridical persons, or other foundations of nature whatever) which is to leave the territory of one of the Contracting States under the present Convention, shall have the right to take away freely or to arrange for the transport of the movable property belonging to their communities. […] Article 9 Immovable property, whether rural or urban, belonging to emigrants, or to the communities mentioned in Article 8, and the movable property left by the these emigrants or communities, shall be liquidated in accordance with the following provisions by the Mixed Commission provided for in Article 11. […]
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League of Nations Treaty Series (=Recueil des traités et des engagements internationaux enregistrés par le Secrétariat de la Societé des Nations / Treaty series and international engagements registered with the Secretariat of the League of Nations), Bd. 32, Genf 1925, S. 75-87.
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Quelle Nr. 6.8b Das Dayton-Abkommen von 1995: The General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina, Paris, December 14, 19953 Annex 7: Agreement on Refugees and Displaced Persons Article I: Rights of Refugees and Displaced Persons 1. All refugees and displaced persons have the right freely to return to their homes of origin. They shall have the right to have restored to them property of which they were deprived in the course of hostilities since 1991 and to be compensated for any property that cannot be restored to them. The early return of refugees and displaced persons is an important objective of the settlement of the conflict in Bosnia and Herzegovina. The Parties confirm that they will accept the return of such persons who have left their territory, including those who have been accorded temporary protection by third countries. 2. The Parties shall ensure that refugees and displaced persons are permitted to return in safety, without risk of harassment, intimidation, persecution, or discrimination, particularly on account of their ethnic origin, religious belief, or political opinion. 3. The Parties shall take all necessary steps to prevent activities within their territories which would hinder or impede the safe and voluntary return of refugees and displaced persons. […]
Literatur Bose, Sumantra, Bosnia after Dayton. Nationalist partition and international intervention, London 2002 Ladas, Stephen P., The exchange of minorities: Bulgaria, Greece and Turkey, New York 1932 Lemberg, Hans, Bevölkerungsverschiebungen als Mittel, die Homogenität von Nationalstaaten herzustellen – Ideologie und Wirklichkeit im 20. Jh., in: Ders. (Hg), Grenzen in Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Aktuelle Forschungsprobleme, Marburg 2000 Naimark, Norman M., Flammender Hass – Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München 2004 Sundhausen, Holm, Unerwünschte Staatsbürger. Grundzüge des Staatsangehörigkeitsrechts in den Balkanländern und Rumänien, in: Conrad, Christoph; Kocka, Jürgen (Hg.), Staatsbürgerschaft in Europa. Historische Erfahrungen und aktuelle Debatten, Hamburg 2001, S. 193-215
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Dayton Peace Agreement. General framework agreement, Annex 7. Agreement on refugees and displaced persons, available in the Internet at the Office of the High Representative (OHR), in: (09.11.2004).
7. ORGANISATION UND INSTITUTIONALISIERUNG EUROPAS
DER MITTELEUROPÄISCHE WIRTSCHAFTSVEREIN. EINE SCHWEIZER INITIATIVE IM 1 FRÜHEN 20. JAHRHUNDERT Von Hubert Kiesewetter Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags ist der Bericht des französischen Generalkonsuls an seinen Außenminister über eine Diskussion in Zürich im Jahr 1904, die im Anschluss an einen Vortrag des Breslauer Wirtschaftsprofessors Julius Wolf über den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein2 stattfand. Ich werde zeigen, dass bereits ein Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg Gedanken eines Mitteleuropa-Konzepts angesprochen wurden, dessen expansionistische Ziele auch zum Krieg mit Frankreich geführt haben. Ihre ursprüngliche Absicht war aber eher darauf gerichtet, eine Art europäischer Zollunion gegen den Protektionismus Russlands und der USA sowie gegen die Kolonialgroßmacht England zu verwirklichen. Die politische und ökonomische Brisanz des Dokuments beruht auch auf den beteiligten Personen, die deshalb kurz biographisch vorgestellt werden, weil bis auf den französischen Außenminister allgemein wenig über sie bekannt ist. Julius Wolf wurde am 20. April 1862 im südmährischen Brünn (heute Tschechien) geboren, war nach seinem Abitur zwei Jahre in der Anglo-Österreichischen Bank in Wien tätig und studierte dann Nationalökonomie in Wien, München und Tübingen. 1885 habilitierte er sich an der Universität Zürich und wurde dort 1889 ordentlicher Professor für Nationalökonomie, bevor er 1897 einen Ruf an die Universität Breslau erhielt. Am 21. Januar 1904 wurde unter seiner Leitung in Berlin der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein gegründet. Am 1. April 1913 erhielt Wolf den nationalökonomischen Lehrstuhl an der TH Berlin, wo er 1922 emeritiert wurde. Er starb am 1. Mai 1937 in Berlin. Der Unternehmer und Politiker Eduard Sulzer-Ziegler aus Winterthur (29. September 1854-31. Januar 1913) war nach dem Studium der Rechtswissenschaft und Nationalökonomie seit 1887 in der von seinem Vater 1836 mitbegründeten Maschinenfabrik Gebrüder Sulzer tätig (ab 1910 Seniorchef). 1898 begann er mit einer eigens dafür gegründeten Baugesellschaft den Bau des Simplontunnels, der allerdings wegen verschiedener Schwierigkeiten erst 1906 für den Zugverkehr fertig gestellt wurde. Von 1880 bis —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 7.1, Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein. Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich über eine Diskussion in der Schweiz 1904. Vgl. dazu ausführlich: Wolf, Julius (Hg.), Materialien betreffend den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein (Veröffentlichungen des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins 1), 2. Ausgabe, Berlin 1904, zuerst 1903 veröffentlicht.
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1902 gehörte er dem Winterthurer Stadtparlament an und war von 1892 bis 1902 auch Mitglied des Zürcher Kantonsrats. Im Jahr 1900 wurde er zum Nationalrat gewählt, dem er bis zu seinem Tod angehörte. Sein autoritärer und paternalistischer Unternehmerstil richtete sich gegen eine organisierte Arbeiterschaft und führte 1905 zur Gründung des Arbeitgeberverbandes Schweizer Maschinenindustrieller. Théophile Delcassé (1852-1923) war zuerst Redakteur der von Léon Gambetta 1871 gegründeten Pariser Tageszeitung La République française und wurde 1894/95 französischer Kolonialminister und Befürworter eines europäischen Imperialismus. 1898 wurde er zum Außenminister im Quai D’Orsay ernannt und in dieser Funktion schloss er am 8. April 1904 das Kolonialabkommen mit Großbritannien. Während der Ersten Marokkokrise 1905, als Kaiser Wilhelm II. mit dem Sultan von Tanger über das Mitspracherecht des Deutschen Reiches konferierte, wurde Delcassé gestürzt. Von 1911 bis 1913 war er Marineminister im Kabinett von Joseph Caillaux und Raymond Poincaré, dann Botschafter in St. Petersburg und 1914/15 wieder Außenminister. Nachdem er wegen Auseinandersetzungen mit seinen Kabinettskollegen am 16. November 1919 sich endgültig von der Politik verabschiedete, starb er am 22. Februar 1923 in Nizza. Der Generalkonsul Emile Jacquemin wohnte von 1896 bis 1906 in der Englischviertelstraße 24 in Zürich-Hottingen. Wegen seines diplomatischen Status´ sind wahrscheinlich keine Angaben zu seiner Person in die Einwohnerkontrolle der Stadt Zürich gelangt. Ein Schreiben der französischen Botschaft in Bern vom 5. März 1906 an den schweizerischen Bundesrat Ludwig Forrer teilt lapidar mit, dass Jacquemin abberufen und durch den neuen Generalkonsul Thiboust ersetzt wurde. Das Erstaunen, ja beinahe eine diplomatische Empörung, im Bericht von Jacquemin über den Vortrag von Julius Wolf beim Kaufmännischen Verein ist wohl damit zu erklären, dass er nicht wusste, dass Wolf nicht nur viele Jahre in Zürich verbracht hatte, sondern mit seinen Publikationen und Aktivitäten Einfluss auf die schweizerische Wirtschafts- und Finanzpolitik ausgeübt hat.3 In seinem Vortrag vor dem Kaufmännischen Verein Zürich am 11. März 1904 ging Julius Wolf zuerst auf den Schutz wirtschaftlicher Interessen ein, die ein Verbindungsglied der mitteleuropäischen Staaten darstellen könnten. Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein wolle keine europäische Zollunion – dies sei aus politischen und ökonomischen Gründen ein vollkommen unerfüllbares Vorhaben –, sondern Deutschland, Österreich und Ungarn sollten folgende Ziele gemeinsam anstreben: 1. Die öffentliche Meinung soll mit gemeinsam zu verwirklichenden wirtschaftlichen Vorhaben vertraut gemacht werden. 2. Jede Art von Propaganda einer Zollunion der europäischen oder mitteleuropäischen Staaten müsse vermieden werden. —————— 3
Vgl. z.B. Wolf, Julius, Die gegenwärtige Wirtschaftskrisis. Antrittsrede gehalten an der Universität Zürich im Sommersemester 1888, Tübingen 1888; Ders., Zur Reform des Schweizerischen Notenbankwesens. Eine eidgenössische Giro-Stelle als Lösung, Zürich 1888, Ders., Internationale Sozialpolitik. Ein Vortrag, gehalten zu Anfang Januar 1889 in der Zürcher statistischvolkswirthschaftlichen Gesellschaft, Zürich 1889; Ders., Börsenreform in der Schweiz. Gutachten, erstattet an das Justiz- und Polizeidepartment der Schweiz. Eidgenossenschaft, Zürich 1895; Ders., Die Wohnungsfrage als Gegenstand der Sozialpolitik. Vortrag, gehalten im Rathaus zu Zürich am 5. Dezember 1895, Jena 1896.
Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein
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3. Jedem Staat wird vollständige Freiheit in seiner Wirtschaftspolitik gewährt. Die mitteleuropäischen Staaten könnten gemeinsame Regelungen vereinbaren auf den Gebieten der Handelsstatistiken, der Kontrolle des Ex- und Imports sowie bei Kapitaltransfers. Die Gesetzgebung bezüglich der Wechselgeschäfte, der Scheckzahlungen, des Güterversands etc. könnte vereinfacht und vereinheitlicht werden, wodurch die Sicherheit erhöht und die Kosten gesenkt würden. Dauerhafte Schiedsgerichte bzw. internationale Gerichtshöfe für die Lösung internationaler Schwierigkeiten, zum Beispiel bei der Wirtschaftspolitik – und besonders der Zollgesetzgebung – könnten internationale Vereinbarungen vorantreiben. Wenn Personen aus der Politik, der Industrie und der Landwirtschaft diesen Ideen zustimmten, dann könnten sich Deutschland, Österreich, Ungarn, die Schweiz, Italien, Belgien und Frankreich zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die protektionistische oder prohibitionistische Zölle bekämpfen und reduzieren könnte. Es sei nämlich klar, dass wirtschaftspolitisch verbündete Staaten eher in der Lage wären, mit anderen Staaten bessere Bedingungen auszuhandeln als ein isolierter Staat. Die Schweiz, so Julius Wolf, müsse an einer solchen Vereinigung auch deshalb interessiert sein, weil sie als kleines, aber hoch industrialisiertes Land auf den Export angewiesen sei. Er gibt dazu ein Beispiel: Wenn die USA auf Industrieprodukte 50 Prozent Einfuhrzoll legt, dann wäre die Schweiz mit ihren 15 Prozent Einfuhrzoll benachteiligt. Sein Vorschlag ist deshalb, den Zollsatz auf die Hälfte der Differenz zwischen amerikanischen und schweizerischen Zöllen festzulegen, d.h. 50 - 15 : 2 = 17,5 Prozent. Wenn dieses Verfahren durchgeführt werden könnte, dann würden auch andere Staaten beeinflusst werden können, ihre Zölle zu ermäßigen. Bei seinen Ausführungen vor Schweizer Geschäftsleuten wollte er jedes Gefühlsargument vermeiden und vor allem an ihr Interesse appellieren, den Gewinn, der aus der Mitgliedschaft beim Wirtschaftsverein erwächst, zu berechnen. Es sei an der Zeit, dass sich die Unternehmerschaft in der Schweiz von den Gefühlen der Sympathie und Antipathie, die so oft blind machten, befreie und sich als große Patrioten erwiese. Denn: „Der Wettbewerb wird jeden Tag härter, brutaler und unnachgiebiger.“ Die Erklärung von Eduard Sulzer-Ziegler beginnt mit dem Geständnis, dass er sich über die Zukunft der schweizerischen Industrie lange den Kopf zerbrochen habe und sich schwerste Sorgen mache.4 „Die breite Öffentlichkeit hat bei uns nicht die geringste Vorstellung von der aktuellen wirtschaftlichen Entwicklung in den USA.“ Deshalb teile er vollkommen die Ansichten von Julius Wolf über die Gründung eines Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins, die vernünftig und ausführbar seien, und freue sich, dass solche Gedanken „aus diesem großartigen Land, Deutschland, stammen“. Die großartige wirtschaftliche Arbeitsteilung in Deutschland und den USA bedeuteten eine große Gefahr für die Schweiz, die darin bestünde, sich erbärmlich zu verzetteln. „Unter dem Vorwand, die nationale Arbeit zu schützen, herrschen überall die höchsten Zölle.“ Andererseits sei er überrascht, dass in schweizerischen Handels- und Industriekreisen diese Ideen mit einer „gewissen Kühlheit“ betrachtet würden. Es fehle an dem nötigen Ver—————— 4
Eine gekürzte Wiedergabe von Sulzers Ausführungen, wie sie in der Neuen Zürcher Zeitung vom 17. März 1904 abgedruckt waren, findet sich unter dem Titel „Eine Schweizer Stimme über den Plan eines mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins“ in: Materialien betreffend den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein (wie Anm. 2), 1. Ausgabe, S. 36-39, 2. Ausgabe, S. 55-58.
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trauen, dass eine so kleine Macht wie die Schweiz sich mit den großen Staaten messen könne. Sulzer-Ziegler plädierte dafür, einen solchen Versuch zu wagen, und wenn die Befürchtungen einträfen, sei es keineswegs zu spät, sich wieder aus dem Wirtschaftsverein zurückzuziehen. Man müsse sich bewusst sein, dass die Situation in der Schweiz ernst sei und deshalb sei es wichtig, wenn eine Gruppe von Persönlichkeiten diese Angelegenheit gemeinsam vorantreibe. Nach Sulzer-Ziegler war der psychologische Zeitpunkt gekommen, um zu handeln, denn der Schweizer Zolltarif sei ein Wettbewerbszoll, der dazu diene, andere Staaten zu Zollermäßigungen zu veranlassen. Wenn dieses Ziel nicht erreicht würde, das heißt, die Schweizer Exporte aufgrund von Zollbarrieren reduziert werden müssten, dann sei dies für die gesamte Schweizer Wirtschaft fatal. Der Beitritt zum Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein sei schon deshalb gerechtfertigt, wenn man bedenke, dass ein Unternehmen ein Betrieb mit einer spezialisierten Produktion ist, der seine Produkte auf fremden Absatzmärkten verkaufen müsse. Und weil die ausländischen Erfolge eine Gefahr für die Schweiz darstellen, solle man sich den Wolfschen Vorschlägen anschließen, denn diese seien ein Schutz vor dem Kollaps. In diesem Zusammenhang äußerte Sulzer die Aufforderung an den deutschen Kaiser. Die wirtschaftliche Entwicklung eines so kleinen Landes wie der Schweiz könne nur dann vorangetrieben werden, wenn die Exporte aufrechterhalten werden könnten. Die Probleme in der schweizerischen Industrie seien offensichtlich, denn die Druckindustrie sei bereits fast vollkommen, die Färberei teilweise verschwunden. Sulzers Fazit: „Wenn wir für unsere Industrie nicht dauerhafte Absatzmärkte finden können, wird sie Stück für Stück zusammenbrechen, wie es schon teilweise geschehen ist.“ Julius Wolf hatte bereits 1901 in seiner Schrift Das Deutsche Reich und der Weltmarkt darauf hingewiesen, dass „unter den vielen Kämpfen, die das innere Leben Deutschlands bewegen, [...] heute ganz besonders heiß jener um eine Position des Zolltarifs“5 ausgefochten werde. Und besonders das Verhältnis der europäischen Staaten zu den USA betrachtete er mit Sorge, denn „die amerikanische industrielle Konkurrenz ist erst in den Anfängen“.6 Man könne diese Konkurrenz nicht mehr als unbedeutend, als quantité négligeable, ansehen, wie dies oft noch getan werde, denn die USA würden sich nicht nur europäischen Importen verschließen, sondern auf Drittmärkten mit europäischen Industrieprodukten in Wettbewerb treten. „Europa sei auf dem Wege, zwischen zwei Mühlsteine, die da Ostasien und Nordamerika heißen, zu geraten“.7 Um diese Gefahren zu reduzieren, schlug Wolf schon 1901 einen „Zusammenschluß wirtschaftspolitischer Art“8 europäischer Staaten vor, damit einerseits der industriellen Konkurrenz der USA entgegengewirkt, anderseits die Abhängigkeit einiger mitteleuropäischer Staaten von Nahrungsmittelimporten verringert werden könne. Gleichzeitig formulierte er einen Einwand, der bis auf den heutigen Tag aktuell ist: „Daß die Staaten Europas sich über die Sätze des Tarifs einigen, der gegen Nordamerika zur Anwendung zu bringen wäre, daß sie überhaupt sämtlich die hier empfohlene —————— 5 6 7 8
Wolf, Julius, Das Deutsche Reich und der Weltmarkt, Jena 1901, S. 3. Ebd., S. 31. Ebd., S. 36. Dort heißt es weiter, Europa werde sich mancher „Quelle des Reichtums für seine Völker entrissen sehen“. Ebd., S. 45.
Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein
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Kampfstellung gegen Amerika nehmen, ist in hohem Grade unwahrscheinlich.“9 Der erste Schritt zu einer wirtschaftspolitischen Annäherung hieße deshalb nicht Vereinigte Staaten von Europa, sondern Vereinigte Staaten von Mitteleuropa, wobei an eine Zollunion10 nicht zu denken sei. „Mitteleuropa hat gemeinsame wirtschaftliche Interessen und hat sie heute mehr als je.“11 Deutschlands Aufgabe sei es nicht, eine Weltwirtschaftspolitik zu betreiben, sondern mit anderen europäischen Staaten darauf hinzuarbeiten, dass auf wirtschaftspolitischen Feldern ein gemeinsames Vorgehen möglich wird. Nach der Gründung des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins (MWV) 1904 in Deutschland wurden auch in Ungarn, Österreich und Belgien solche Vereine gegründet, während die Planungen in der Schweiz und in Holland sich nicht realisieren ließen. Der MWV geriet immer stärker in den politischen Strudel eines expansionistisch ausgerichteten deutschen Mitteleuropakonzepts,12 was Julius Wolf gerade vermeiden wollte, der die wirtschaftliche Integration Europas zu stärken versuchte. Obwohl auf Schutzzoll eingestellte Politiker, Interessenverbände und Unternehmen zu den Mitgliedern des MWVs zählten – der Höchststand der Mitgliederzahl wurde 1907 mit circa 700 Mitgliedern erreicht13 –, fand der MWV nach dem Ersten Weltkrieg keine Fortsetzung. Und dass die Schweiz dem MWV nicht beitrat, begründete Wolf 1924 damit: Vor 1914 „gelang es bemerkenswerter Weise weder die Schweiz hereinzuziehen, die mit Deutschland allein im Bunde sich in Frankreich mißliebig zu machen fürchtete, noch – aus gleichen Gründen – Holland, noch natürlich Frankreich selbst“.14 Er bestätigte damit indirekt die —————— 9 10
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Ebd., S. 47. Dabei sei „an ein Zusammengehen Englands mit den Staaten des europäischen Kontinents nicht zu denken. Wenigstens heute und morgen nicht!“ (S. 48). Ein solcher Plan sei eine „baare Utopie“. „Dagegen ist es allerdings wohl richtig, daß, wenn Staatengebiete wie Deutschland, Oesterreich-Ungarn, die Schweiz, späterhin vielleicht die Niederlande im Nordwesten und die Balkanstaaten im Südosten, abermals in einem späteren Zeitpunkt Italien, Frankreich, Belgien sich wirtschaftlich einander nähern wollen unter vorbehaltloser und uneingeschränkter Wahrung des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts jedes einzelnen Landes in diesem Zusammenschluß, in dieser Verständigung über gemeinsame wirtschaftliche Interessen und Ziele jeder von den Staaten eine Stärkung seiner Position erfahren und Gewinnender sein muß.“ (S. 48f., Hervorhebung im Original). Ebd., S. 49. Stellvertretend für viele derartige Veröffentlichungen, die weit verbreitet wurden: Naumann, Friedrich, Mitteleuropa, Berlin 1915; Petermann, Erich, Julius Wolf. Zum 20. April 1932, in: Kardorff, Siegfried von; Schäffer, Hans; Briefs, Götz; Kroner, Hans (Hg.), Der internationale Kapitalismus und die Krise. Festschrift für Julius Wolf zum 20. April 1932, Stuttgart 1932, S. XIX, schrieb, dass Wolfs Mitteleuropa sich „fundamental von dem Mitteleuropa Naumanns“ unterschied. „Das Mitteleuropa Naumanns ist, ohne geradezu imperialistisch zu sein, reichlich antiwestlich“ (Hervorhebung im Original). Vgl. Fujise, Hiroshi, Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein in Deutschland 1904-1918. Ein Versuch der wirtschaftlichen Integration von Europa, in: Schulz, Günther (Hg.), Von der Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Henning zum 65. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 152. Wolf, Julius, Selbstdarstellung, in: Meiner, Felix (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 224. Dort heißt es: „Meine Absicht war, durch diese Konföderation etwa auch einem mitteleuropäischen Zollverein, zunächst zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn, die Wege zu bahnen, obschon ich öffentlich diesen Plan fürs erste verleugnen mußte,
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Bedenken, die der französische Generalkonsul Jacquemin 20 Jahre früher in seinem Bericht geäußert hatte. Quelle Nr. 7.1 Mitteleuropäischer Wirtschaftsverein. Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich über eine Diskussion in der Schweiz 190415 Der französische Generalkonsul in Zürich an Herrn Delcassé, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten. Zürich, den 18. März 1904 Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein und die Handelskammer Zürich. Die bereits ziemlich alte Idee eines Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins ist kürzlich vor dem Kaufmännischen Verein Zürich in einer Weise wiederaufgenommen worden, die Beachtung verdient. Herr Wolf, Professor in Breslau, hat sich für diese Sache eingesetzt, wobei er sich natürlich jeder politischen Stellungnahme enthielt. Es war schon ein ziemlich einzigartiger Anblick: daß einem deutschen Professor vor einer schweizerischen Handelskammer (die ihn selbst eingeladen hatte) bei einem solchen Thema so große Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Noch erstaunlicher erscheint allerdings die ausdrückliche Zustimmung von Herrn Sulzer, einem sehr bedeutenden Industriellen und Nationalrat von Winterthur, zu der vorgetragenen Idee und sein direkter Appell an den deutschen Kaiser: „Es wäre äußerst wünschenswert, daß die Ideen von Professor Wolf einen qualifizierten Fürsprecher fänden, zum Beispiel in der Person von Kaiser Wilhelm II.“ Diese Ausdrucksweise entspricht ganz zweifellos der Einstellung einer bestimmten Zahl von Großunternehmern, die von den Gefahren, wie sie die derzeitige Situation für die Zukunft der Schweizer Industrie darstellt, in Schrecken versetzt werden und bereit sind, alles zu unternehmen, um zu überleben. Beiliegend finden Sie: Eine Zusammenfassung des Vortrags von Herrn Wolf; Eine fast vollständige Übersetzung der Ausführungen von Herrn Sulzer, die es nach meiner Meinung verdienen, aufmerksam studiert zu werden. Ich lege ebenfalls einen Auszug des „Moniteur de la Fédération belge“ bei, der im „Schweizer Handelsblatt“ vom 16. Februar abgedruckt war und der dieselben Ideen vertritt, wobei es um das Projekt einer Zollunion zwischen Holland und Belgien geht. Gezeichnet: Jacquemin
Literatur Fujise, Hiroshi, Der Mitteleuropäische Wirtschaftsverein in Deutschland 1904-1918. Ein Versuch der wirtschaftlichen Integration von Europa, in: Schulz, Günther (Hg.), Von der
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um ihm nicht gleich zu Beginn Steine in den Weg gewälzt zu sehen.“ (S. 223, Hervorhebung im Original). Dieser Bericht des französischen Generalkonsuls in Zürich an den Außenminister in Paris ist einer Akte in den Archives Nationales (F12/7309) entnommen, in der neben den angegebenen Beilagen viele Konsulatsberichte sowie Stellungnahmen des Außenministers enthalten sind; Übersetzung aus dem Französischen von Hubert Kiesewetter und Dagmar Niemann.
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Landwirtschaft zur Industrie. Wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Wandel im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Friedrich-Wilhelm Henning zum 65. Geburtstag, Paderborn 1996, S. 149-161 Wolf, Julius (Hg.), Materialien betreffend den Mitteleuropäischen Wirtschaftsverein (Veröffentlichungen des Mitteleuropäischen Wirtschaftsvereins 1), Berlin 1904, zuerst 1903 veröffentlicht Ders., Selbstdarstellung, in: Meiner, Felix (Hg.), Die Volkswirtschaftslehre der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1924, S. 209-247
WEIMARER INTELLEKTUELLE UND DAS PROJEKT DEUTSCH-FRANZÖSISCHER GESELLSCHAFTSVERFLECHTUNG1 Von Hans Manfred Bock Im Jahre 1928 lancierte die Redaktion der „Deutsch-Französischen Rundschau“ eine Enquête, in der bekannte und einschlägig ausgewiesene Wissenschaftler und Schriftsteller dazu befragt wurden, wie sich aus ihrer Sicht die deutsch-französischen Beziehungen praktisch verbessern ließen. Die Initiative ging von den Berliner Gründern der DeutschFranzösischen Gesellschaft (DFG) aus, die Ende 1927 ins Leben gerufen wurde. Diese begann sich in den Jahren 1928 bis 1930 in mehreren deutschen Großstädten zu etablieren, wobei alle Mitglieder der Gesellschaft die Deutsch-Französische Rundschau als Publikationsorgan bezogen.2 Auf die Fragen antworteten rund zwei Dutzend namhafte Intellektuelle, ihre Stellungnahmen wurden in der Deutsch-Französischen Rundschau abgedruckt. Neun dieser Einlassungen kamen von französischen, dreizehn Texte von deutschen Autoren. Auf der französischen Seite befanden sich neben Wissenschaftlern und Publizisten auch zwei führende Politiker (Edouard Herriot und Paul Painlevé); die deutschen Teilnehmer waren ausschließlich Wissenschaftler und Schriftsteller, die, obgleich jeweils durch sehr unterschiedliche Wertvorstellungen und Milieuzugehörigkeiten geprägt, gleichwohl alle Anhänger der Republik waren.3 Dem praxisnahen Duktus der Fragen folgend fielen die Antworten durchaus konkret und konstruktiv aus. Davon geben die folgenden Auszüge aus den Texten von einem Wissenschaftler und zwei Schriftstellern aus Deutschland einen Eindruck, die in je eigener Weise und ihrem Erfahrungsbereich entsprechend praktische Vorschläge zur deutsch-französischen Verständigung von der gesellschaftlichen Basis her formulierten. Die Mitglieder der DFG und Abonnenten ihrer Monatsschrift gehörten ganz überwiegend dem Bildungsbürgertum an. Wie die Auswertung der publizierten Mitgliederlisten zeigt, waren Lehr- und Verwaltungsberufe überrepräsentiert (Lehrer 8,8 Prozent, Hochschullehrer 4,7 Prozent, Öffentliche Verwaltung 7,4 Prozent, Promovierte ohne
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Essay zur Quelle Nr. 7.2, Enquête der Deutsch-Französischen Gesellschaft von 1928 über die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen. Vgl. Belitz, Ina, Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt am Main 1997. Die deutschen Autoren waren: August Gallinger, Paul Hartig, Georg Kartzke, Robert Kauffmann, August Müller, Gustav Radbruch, Leo Spitzer, Karl Stählin, Ernst Toller, Berthold Widmann, Arnold Zweig, Stefan Zweig und Klara Fassbinder. Die französischen Beiträger waren: Edouard Herriot, Paul Painlevé, Maurice Boucher, Paul Dubray, Wladimir Comte d’Ormesson, L. Rivaud, Christian Sénéchal, René Lauret und Léon Blin. Text und Kontext der französischen Antworten mussten aus Platzgründen leider entfallen.
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Berufsangabe 8,7 Prozent).4 Die DFG war mit ihren rund 2.700 Mitgliedern eine kleine, aber keineswegs unbedeutende Vereinigung. Als „zwischenstaatliche Gesellschaft“ versuchte sie, den „Geist von Locarno“, also die mit dem Locarno-Vertrag vom Oktober 1925 diplomatisch eröffnete Perspektive der Annäherung zwischen Frankreich und Deutschland, in die lebensweltlichen Zusammenhänge der Weimarer Republik hineinzutragen.5 Überdies stand die Vereinigung, die ihre stärksten Stützpunkte in Berlin, Frankfurt am Main und Stuttgart hatte, im fortgesetzten Kontakt mit der „Ligue d’études germaniques“ (LEG) in Frankreich.6 Diese hatte soziologisch ein etwas anderes Profil und organisierte, mehr noch als die DFG, die Gymnasial- und Hochschullehrer (vor allem der Fachrichtung Deutsch). Mit zwölf Ortsgruppen stellte die LEG während der späten 20er und frühen 30er Jahre in Frankreich, was das Ziel einer Vermittlung von Kontakten zu und Kenntnissen von Deutschland anbelangt, die stärkste organisierte Kraft dar. Angesichts der verheerenden materiellen und mentalen Folgen des Ersten Weltkrieges in beiden Nationen war die transnationale Kommunikation, so wie sie den Mitgliedern der DFG wie der LEG vorschwebte, ein anfälliges, fragiles Vorhaben von geringer unmittelbarer Wirkungsmächtigkeit. Zu seiner Marginalität trug nicht zuletzt bei, dass die aus den genannten Gründen ohnehin schwachen gesellschaftlichen Kräfte einer Verständigung mit Frankreich in der Weimarer Republik auch überdies intern fraktioniert waren. Die Deutsch-Französische Gesellschaft war zwar die größte, jedoch nicht die einzige Verständigungsorganisation. Zum Zeitpunkt der Gründung der DFG bestanden bereits zwei andere Vereinigungen, die sich zum Ziel gesetzt hatten, die im Krieg errichtete Mauer der mentalen Abgrenzung zwischen den beiden Nationen durch neue grenzübergreifende gesellschaftliche Kommunikation abzutragen. Gemeinsam war diesen beiden Organisationen mit der DFG, dass sie erstens eng mit bestimmten gesellschaftlichen Milieus verbunden waren, zweitens auch organisatorische Ansprechpartner in Frankreich hatten und dass sie drittens – über das bilaterale Verständigungsziel hinaus – als Protagonisten je eigener Entwürfe einer übernationalen Integration Europas in Erscheinung traten. Während die DFG bildungsbürgerlich geprägt war, war die 1922 gegründete „Deutsche Liga für Menschenrechte“ im sozialdemokratischen Milieu verankert und das 1926 ins Leben gerufene „Deutsch-Französische Studienkomitee“, auch „Mayrisch-Komitee“ genannt, seinerseits ein Produkt der wirtschaftsbürgerlichen Eliten in Deutschland und Frankreich.7 Für die Repräsentanten dieser Organisationen hatte die —————— 4 5 6 7
Siehe dazu Bock, Hans Manfred, Die Deutsch-Französische Gesellschaft 1926 bis 1934. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte, 17/3 (1990), S. 57-101, hier S. 80ff. Zur diplomatiegeschichtlichen Entwicklung siehe Knipping, Franz, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928-1931, München 1987. Siehe dazu Bock, Hans Manfred: Les associations de germanistes français. L’exemple de la Ligue d’Etudes Germaniques, in: Espagne, Michel; Werner, Michael (Hg.): Histoire des études germaniques en France (1900-1970), Paris 1994, S. 267-285. Vgl. dazu Bock, Hans Manfred, Heimatlose Republikaner in der Weimarer Republik. Die Deutsche Liga für Menschenrechte (vormals Bund Neues Vaterland) in den deutsch-französischen Beziehungen, in: Lendemains. Etudes comparées sur la France. Vergleichende Frankreichforschung 23/1 (1998), S. 68-102, und Müller, Guido, Deutsch-französische Gesellschaftsbeziehungen nach dem
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(Wieder-)Aufnahme des Kontakts zwischen Deutschen und Franzosen in möglichst vielen lebensweltlichen Bereichen der Gesellschaft, in Wirtschaft, Kultur und Verwaltung, die oberste Priorität. Dieser klare Vorrang der deutsch-französischen Versöhnung beruhte nicht zuletzt auf der zentralen Rolle, die der deutsch-französische Konflikt für eine europäische Friedensordnung spielte. In der Regel verband sich mit dem bilateralen Nahziel auch eine Konzeption der übernationalen europäischen Neuordnung. In der Deutschen Liga für Menschenrechte (DLfM) galt die „Republikanisierung und Vereinheitlichung Europas“ als das erstrebenswerte Fernziel, das in der Form der „Vereinigten Staaten von Europa“ im Rahmen des Völkerbundes Gestalt annehmen sollte.8 In der Deutsch-Französischen Gesellschaft hingegen gab es eine ausgeprägte personelle und ideelle Affinität zur Paneuropa-Bewegung sowie zum „Europäischen Zollverein“. Hinzu kam eine entschiedene Ablehnung des in der DLfM vorherrschenden Pazifismus.9 Das Deutsch-Französische Studienkomitee erfüllte im Wesentlichen die Funktion einer länderübergreifenden Vermittlungs- und Schlichtungsstelle für die kartellpolitisch aktiven Großindustriellen des Montan-, Chemie- und Nahrungsmittelbereichs.10 Im Gegensatz zur DFG, deren Vertreter im Übrigen vor allem der DVP und dem Zentrum nahe standen, unterhielt es eine – obschon nicht ganz offizielle – Verbindung zum neokonservativen, von Anton Prinz Rohan ins Leben gerufenen „Europäischen Kulturbund“.11 Die weit reichenden Unterschiede zwischen den verschiedenen, an der deutschfranzösischen Verständigung interessierten Organisationen sind unübersehbar. Dennoch kann hier von einem Feld organisierter gesellschaftlicher Verständigungsinitiativen gesprochen werden, zumal, wenn man den Blick auf die Wort führenden Intellektuellen sowie auf die von ihnen formulierten Vorstellungen von transnationaler Kommunikation und interkulturellem Lernen lenkt. Von unterschiedlichen Seiten gleichzeitig wurde hier erstmals in der Geschichte der bilateralen Beziehungen das Projekt einer deutschfranzösischen Gesellschaftsverflechtung artikuliert. Unter dem Eindruck der politischdiplomatisch unlösbar erscheinenden Probleme der Versailler Nachkriegsordnung, und insbesondere auch während der Locarno-Ära von 1925 bis 1930 zeitweilig von der Hoffnung auf eine konstruktive Annäherung beider Nationen angeregt, entdeckten einige Intellektuelle in Ergänzung zu den Verhandlungen auf der diplomatischen Ebene die Gesellschaft beider Seiten als sinnvolle Vermittlungsinstanz. Die in den jeweiligen Gesellschaften verankerten Beziehungen zwischen Deutschen und Franzosen sollten als —————— Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, Habilitationsschrift Aachen 1997. 8 Vertreten z.B. von Harry Graf Kessler, Otto Lehmann-Rußbüldt, Robert Kuczynski und Kurt Grossmann. 9 Als namhafte Repräsentanten der DFG können gelten Otto Grautoff, Edgar Stern-Rubarth und Gottfried Salomon. 10 Dazu umfassend Müller (wie Anm. 7). Prominente Intellektuelle der Weimarer Republik, die in das Mayrisch-Komitee kooptiert wurden, waren v.a. Ernst Robert Curtius und Arnold Bersträsser. 11 Dazu und zu dessen einflussreicher Kulturzeitschrift „Europäische Revue“ siehe Bock, Hans Manfred, Das „Junge Europa“, das „Andere Europa“ und das „Europa der Weißen Rasse“. Diskurstypen in der Europäischen Revue 1925-1939, in: Grunewald, Michel (Hg.): Le discours européen dans les revues allemandes (1933-1939). Der Europadiskurs in den deutschen Zeitschriften (1933-1939), Bern 1999, S. 311-351.
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Fundament für die Vorbereitung und Festigung künftiger politischer Problemlösungen dienen, die deutsch-französische Gesellschaftsverflechtung wurde so Programm. Zu bemerken ist in diesem Zusammenhang, dass die so entwickelten Ideen zur Förderung der deutsch-französischen Gesellschaftskontakte den Maßnahmen der staatlichen auswärtigen Kulturpolitik, die in der Weimarer Republik noch in den Anfängen steckte, grundsätzlich immer vorausgingen.12 Dies gilt für den Bereich des Schüler-, Studenten-, Lehrer- bzw. Professoren-Austausches13 genauso wie für die Begegnung von anderen Berufsgruppen sowie Wirtschafts- und Kulturvertretern. Beachtenswert ist es auch, dass fast alle der Vorschläge, die in der „Enquête“ der DFG von 1928 gemacht wurden, nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland wieder aufgegriffen und – allerdings mit unterschiedlichem Erfolg – in die Praxis umgesetzt werden sollten.14 Die deutsch-französische Verständigung galt bereits den EnquêteTeilnehmern von 1928 nicht als Selbstzweck, sondern als erster Schritt zur Vereinigung Europas. Das Projekt Gesellschaftsverflechtung, in dem friedenssichernde, wirtschaftliche und kulturelle Motive zusammenkamen, war durchdrungen von dem Willen zur Integration Europas auf allen diesen Ebenen. Um noch einmal Arnold Zweig zu Worte kommen zu lassen: „Wir wollen nicht, daß dies Festland, auf dem seit Jahrhunderten alle Entscheidungen über die ganze Erde gefallen sind, zu einem kläglichen, absterbenden, von Streitsucht zerrissenen Vasallen anderer Kontinente werde […]. Macht die Grenzen gleichgültig den Politikern, so wie sie den wahren Geistigen gleichgültig sind. Und in fünfzig Jahren wird das geeinte Europa eine ebensolche Selbstverständlichkeit sein und ebenso auf wirtschaftlicher und geistiger Basis zustande gekommen sein, wie das geeinigte Deutschland uns Vierzigjährigen eine Selbstverständlichkeit war“.15 Quelle Nr. 7.2 Enquête der Deutsch-Französischen Gesellschaft von 1928 über die Verbesserung der deutsch-französischen Beziehungen16 Der Vorstand der Deutsch-Französischen Gesellschaft ist aus den Kreisen seiner Mitglieder gebeten worden, unter seinen Mitgliedern, Mitarbeitern und Freunden über folgende Probleme eine Umfrage zu veranstalten: 1. Soll den Germanisten Frankreichs, Dozenten wie Studierenden, der Besuch einer Universität in Deutschland und umgekehrt den Romanisten Deutschlands das Universitätsstudium in Frank-
—————— 12 Dazu noch immer der beste Gesamtüberblick: Laitenberger, Volkhard, Akademischer Austausch und auswärtige Kulturpolitik, Göttingen 1976. Vgl. auch die einschlägigen Beiträge in Bock, Hans Manfred; Meyer-Kalkus, Reinhart; Trebitsch, Michel (Hg.), Entre Locarno et Vichy. Les relations culturelles franco-allemandes dans les années 1930, 2 Bde, Paris 1993. 13 Zu den praktischen Umsetzungsversuchen in diesem Bereich siehe Tiemann, Dieter, Deutschfranzösische Jugendbeziehungen der Zwischenkriegszeit, Bonn 1989, bes. S. 166-338. 14 Durch zahlreiche Beispiele belegt in Bock, Hans Manfred (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998, und Ders. (Hg.), Deutsch-französische Begegnung und europäischer Bürgersinn. Studien zum Deutsch-Französischen Jugendwerk 1963-2003, Opladen 2003. 15 Zweig, Arnold, Zur deutsch-französischen Verständigung, in: Deutsch-Französische Rundschau 1928, S. 1001. 16 Deutsch-Französische Rundschau 1 (1928), Heft 3, S. 265-266.
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reich systematisch ermöglicht werden, und wie wäre die Durchführung dieser Gedanken gegebenenfalls praktisch vorzubereiten und zu verwirklichen? 2. In welchem Umfange käme ein solcher Austausch auch für Historiker, Juristen, Nationalökonomen und Techniker in Betracht? 3. Wäre es erwünscht, wenn deutsche Gymnasialpädagogen in größerer Anzahl alljährlich mit französischen ausgetauscht und den entsprechenden Unterrichtsanstalten des anderen Landes eine Zeitlang zugeteilt würden? 4. Ist es zu empfehlen und durchzuführen, dass Zeitungen, Zeitschriften und Verlagsanstalten in Deutschland französische, in Frankreich deutsche Mitarbeiter als Volontäre einstellen? 5. In welcher Weise wäre ein systematischer Austausch von Arbeitnehmern in Finanz-, Handels- und Industriebetrieben am besten zu organisieren? [...]
Deutsch-französischer Austausch Antworten auf unsere Umfrage [...]17 Leo Spitzer, Dr. phil, Professor und Direktor des Romanischen Seminars der Universität Marburg.18 Ad 1 [...] Seit Jahren bemühe ich mich, für die besten meiner Seminarmitglieder (etwa zehn jährlich) ein Reisestipendium für etwa zwei bis drei Monate zu erhalten, das die jungen Leute in Stand setzte, noch vor ihren Prüfungen Frankreich mit eigenen Augen zu sehen. Ich lege dabei den höchsten Wert auf dies Sehen Frankreichs vor dem Eintritt der Romanisten in den Lehrberuf, weil sie noch frisch, empfindungsfähig, noch nicht durch das Pädagogische vom Sachinteresse an der Kultur Frankreichs abgezogen sind, auch die Möglichkeit haben, das von ihren Universitätsprofessoren Gehörte am Lebenden und Seienden zu überprüfen. [...] Meine Bemühungen um solche Reisestipendien scheiterten an den politischen Bedenken der Regierung, die von einem Massenauftreten deutscher Studenten etwa auf Pariser Boden üble Konsequenzen für die deutsch-französischen Beziehungen befürchtet. [...] So wäre denn das Gebot des Augenblicks, auf unsere Regierung (oder Regierungen) dahin einzuwirken, daß sie mit der französischen ein Stipendienverfahren verabredet, nach dem etwa alljährlich 150 deutsche Romanisten nach Frankreich, 150 französische Germanisten nach Deutschland entsandt resp. mit kleinen Stipendien in der oben geschilderten Weise beteilt würden. [...] Ernst Toller, Berlin.19 Der Austausch deutscher und französischer Intellektueller, Arbeiter und Studenten ist schon darum wünschenswert, weil trotz aktueller „Verständigungspolitik“ vom Wesen jenseits der Grenze wenig gewußt wird, sein Gesicht morgen schon wieder vom Trommelfeuer der Presse entstellt und zerfetzt sein kann. Staatlich organisierter Austausch genügt nicht. Ich erinnere mich daran, daß wir an unserem Gymnasium einen französischen Lehrer hatten, der wurde mißtrauisch kontrolliert und von den deutschen Lehrern als heimlicher Spion uns Schülern ziemlich deutlich denunziert. Aus
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Die hier folgenden Antworten sind abgedruckt in: Deutsch-Französische Rundschau 1 (1928), Heft 6, S. 516-536. Weitere Antworten wurden in Heft 7, S. 605-608 publiziert. Die Antwortschreiben von Christian Sénéchal und Stefan Zweig sind vollständig wiedergegeben in: Bock, Hans Manfred, Projekt deutsch-französische Verständigung, Opladen 1998, S. 269ff. Leo Spitzer (1887-1960) wurde 1930 an die Universität Köln berufen und gründete dort ein DeutschFranzösisches Institut mit zivilgesellschaftlicher Zielsetzung. Der expressionistische Dichter und zeitweilige Sprecher der Arbeiter- und Soldatenräte in Bayern Ernst Toller (1893-1939) hatte u.a. in Grenoble studiert.
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der freien Initiative der Gemeinschaften, Bünde, Gruppen, Organisationen müßte der Austausch begonnen und systematisch durchgeführt werden. Ausgezeichnet war der Gedanke der Internationalen Abeiterhilfe, deutsche Arbeiterkinder zu französischen Arbeiterfamilien zu schicken. Dieses Werk sollte weiter ausgebaut werden und alle Kreise des schaffenden Volkes umfassen. Arnold Zweig, Berlin.20 [...] 5. In welcher Weise ein systematischer Austausch von Arbeitnehmern in Finanz-, Handelsund Industriebetrieb am besten zu organisieren wäre? Solange die Industrien der beiden Nachbarländer und ihre Finanz- und Handelsunternehmungen in einem Zustande gegenseitigen Wettbewerbs verharren, wird man aus Gründen der Geschäftsgeheimnisse und der Bewahrung seiner eigenen Geschäftsmethoden von vornherein auf den Widerstand derjenigen Institute stoßen, die solche Anstellungen vorzunehmen hätten. Es muß daher vor allem auf eine Verbindung und Verständigung der Wirtschaftskörper beider Länder hingearbeitet werden, aus der Erkenntnis heraus, daß wirtschaftliche Konkurrenz unter so kleinen Gebilden, wie moderne Großstaaten sie wirtschaftspolitisch gesehen darstellen, nur schädigend und sogar vernichtend wirken kann. Die ungeheuren Wirtschaftsorganismen, die von den vier Hauptgruppen der Erde – englisches Imperium, Amerika, Rußland, China – dargestellt werden, verlangen, wenn man nicht die kurzsichtigste Politik treiben will, früher oder später den europäischen Zusammenschluß, d.h. die Beseitigung der Zollgrenzen von der französischen Küste bis zur Ostgrenze Polens. Innerhalb eines solchen Gebildes würde der Austausch von Angestellten sich schon daraus bezahlt machen, daß intime Sprachkenntnisse und Vertrautheit mit den jeweiligen Arbeitsmethoden der Stammländer in die neue Stellung mit eingebracht werden könnten. Heute noch Utopie, ist dieser Austausch ebenso unvermeidlich, wie heute die Anstellung eines bayerischen Volontärs in einer hamburgischen Schiffswerft oder die eines provencalischen Tippfräuleins in einer bretonischen Käsefabrik. [...]
Literatur Belitz, Ina, Befreundung mit dem Fremden. Die Deutsch-Französische Gesellschaft in den deutsch-französischen Kultur- und Gesellschaftsbeziehungen der Locarno-Ära, Frankfurt am Main 1997 Bock, Hans Manfred, Die Deutsch-Französische Gesellschaft 1926 bis 1934. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte der deutsch-französischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit, in: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 17/3 (1990), S. 57-101 Ders. (Hg.), Projekt deutsch-französische Verständigung. Die Rolle der Zivilgesellschaft am Beispiel des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg, Opladen 1998 Knipping, Franz, Deutschland, Frankreich und das Ende der Locarno-Ära 1928-1931, München 1987 Müller, Guido, Deutsch-französische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, Habilitationsschrift Aachen 1997
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Arnold Zweig (1887-1968) hatte kurz zuvor mit seinem Antikriegs-Roman „Der Streit um den Sergeanten Grischa“ einen großen schriftstellerischen Erfolg erzielt.
LEHREN AUS DEM KRIEG. NEUE DIMENSIONEN IN DEN DEUTSCH-FRANZÖSISCHEN BEZIEHUNGEN NACH 19451 Von Rainer Hudemann Mythen haben eine lange Lebensdauer. Vor allem, wenn sie ihren Ursprung in politischen Urteilen einer Epoche haben, und wenn Zeitzeugenwertungen später als Quellen verwendet werden und kaum oder gar nicht geprüft als Belege für historische Interpretationen dienen. So ergeht es immer noch gelegentlich auch der Struktur der deutschfranzösischen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg, obgleich die Forschung seit über zwei Jahrzehnten weit vorangeschritten ist.2 In der Erinnerung vereinfachen sich nachträglich viele Konstellationen. Schablonen treten an die Stelle von Erfahrungen, die in der Zeit selbst durchaus weit differenzierter sein konnten und auch so artikuliert wurden. Oder es werden persönliche partielle Erfahrungshorizonte, die als solche nicht falsch erinnert werden, so verallgemeinert, als könnte man als einzelner Zeitzeuge die ganze Komplexität einer aufgewühlten Rekonstruktionsperiode erfassen. Was sich in der eigenen Erinnerung später als vorherrschende Merkmale festsetzt, kann so vereinfacht sein, dass der Charakter einer Epoche, und damit ihr Stellenwert für langfristige Entwicklungen, zu verschwinden beginnt. Im Falle unseres Gegenstandes waren selbst manche Wissenschaftler, welche später die Geschichte dieser Jahre zu schreiben begannen, gegen solche Reaktionen nicht immer völlig gefeit. Zumal wenn über die relativ früh vorgelegten amerikanischen Akteneditionen, die in ihrer Gesamtheit die Differenziertheit der französischen Politik durchaus klar wiedergeben, einzelne politische Urteile Washingtons als scheinbare historische Belege für die Pariser Politik vor Ort in die Forschung Eingang fanden. Noch schwieriger werden die Dinge, wenn herausragende Staatsmänner die eigenen Leistungen überschätzen oder in ihrer Wirkungsmacht von ihrer Umgebung – aus politischen oder anderen verständlichen Gründen – überschätzt werden. Langfristige Prozesse, welche ihre bemerkenswerten Leistungen erst möglich machten, verschwinden dann aus dem Blick. Bisweilen werden damit sogar gerade diese Leistungen gleich mit unterschätzt. Das gilt etwa für Adenauer und de Gaulle im Freundschaftsvertrag von 1963, dessen frühe politische Grundlagen de Gaulle selbst schon Anfang Oktober 1945 bei seiner ersten Deutschlandreise nach Kriegsende in der französischen Besatzungszone sowohl mehrfach öffentlich als auch intern als Regierungsdirektiven für seine Besatzungsbeamten zu formulieren begann3 – und nicht erst 1963. In der von Krieg, Besat—————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 7.3, Direktiven der Provisorischen Regierung der Republik Frankreich für das Handeln in Deutschland, 20. Juli 1945. Zum Stand der wissenschaftlichen Debatte vgl. Hüser, Dietmar, Struktur- und Kulturgeschichte französischer Außenpolitik im Jahre 1945. Für eine methodenbewusste Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Historische Mitteilungen 16 (2003), S. 155-170. Zu Kontext, weiteren Belegen und direkter Wirkung vgl. Hudemann, Rainer, De Gaulle und der Wiederaufbau in der französischen Besatzungszone nach 1945, in: Loth, Wilfried; Picht, Robert (Hg.), De Gaulle, Deutschland und Europa, Opladen 1991, S. 153-167.
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zung und Kollaboration traumatisierten französischen Öffentlichkeit war in diesen Jahren allerdings noch kaum Raum für solche zukunftsweisenden Deutschland-Konzepte. Dietmar Hüser spricht in der bislang differenziertesten Analyse der vielschichtigen Komponenten dieser Politik daher auch von einer „doppelten“, einer öffentlich proklamierten und einer tatsächlich verfolgten Deutschlandpolitik.4 Zur Verwirrung in der Wissenschaft trugen die komplexen Strukturen der Nachkriegssituation lange Zeit weiter bei. Jahrzehntelang nahm man an, es habe im Durcheinander der französischen Nachkriegspolitik überhaupt keine zentralen Anweisungen für diese Politik gegeben. Unterstützt wurde die Annahme durch Zeitzeugen, welche auf untergeordneten Positionen solche Geheimdirektiven – sie gingen an die Verwaltungsspitzen der Zone und die wichtigsten französischen Botschafter in der Welt – natürlich nicht selbst zu Gesicht bekamen und daraus auf deren Nichtexistenz oder zumindest Irrelevanz schlossen. Tatsächlich wurden in Paris allein von Juli 1945 bis März 1946 etwa 60 solcher Direktiven für alle Bereiche der Politik beschlossen; viele von ihnen wurden, in veränderter Form und als Befehle der Militärregierung, auch an die unteren Verwaltungsebenen weitergegeben. Differenzierte Ansätze in der Praxis der französischen Politik waren schon lange bekannt und beachtet worden. Ihre Relevanz blieb umstritten. Theodor Eschenburg, selbst als stellvertretender Innenminister in Württemberg-Hohenzollern nach dem Krieg ständig auf Kollisionskurs mit der Besatzungsmacht, hielt beispielsweise die überaus aktive und differenzierte Kulturpolitik auch als Wissenschaftler später nur für eine Ablenkung von einer Politik der „Ausbeutungskolonie“. Vielen – darunter anfangs auch mir selbst – erschienen konstruktive besatzungspolitische Maßnahmen als Initiativen mittlerer und unterer Ebenen vor Ort im Gegensatz zur harten Pariser Politik. Dann kamen allmählich, in verstreuten Archivbeständen, die Direktiven zum Vorschein, und es zeigte sich, dass vieles, was in der Praxis vor Ort passierte, tatsächlich Rahmenrichtlinien aus Paris entsprach. Ein Beispiel ist die Wiedereröffnung der Tübinger Universität als erster Universität im Nachkriegsdeutschland. Der örtliche Universitätsoffizier René Cheval blieb bis an sein Lebensende überzeugt, sie allein ins Werk gesetzt zu haben, und proklamierte das auf wissenschaftlichen Kolloquien auch vehement und erfolgreich: Dass davon nicht nur schon in dieser Direktive die Rede war, sondern es erneut auch de Gaulle persönlich in Freiburg Anfang Oktober 1945 angeordnet hatte, wusste er nicht oder hatte es vergessen. Seit nunmehr gut 15 Jahren lässt sich das Bild von einer reinen französischen Ausbeutungs- und Revanchepolitik nur dann noch halten, wenn man einen großen Teil nicht nur der Texte und Konzepte, sondern vor allem der praktischen Umsetzung dieser Politik aus der Interpretation ausblendet. Methodisch zulässig ist das nicht. Das heißt natürlich nicht, dass zentrale Direktiven in der unübersichtlichen und von vielfältigen Einflussfaktoren geprägten Situation in Deutschland immer direkt umge—————— 4
Hüser, Dietmar, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive – Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996; vgl. auch Maelstaf, Geneviève, Que faire de l´Allemagne? Les responsables français, le statut international de l'Allemagne et le problème de l'unité allemande (1945-1955), Paris 1999.
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setzt wurden. Es bedeutet auch nicht, dass starke Persönlichkeiten vor Ort, wie der missionarische Leiter der Erziehungsabteilung der Militärregierung, Raymond Schmittlein, die praktische Politik nicht wesentlich mit hätten gestalten und manche Pariser Vorstellungen umprägen können. Aber es heißt, dass sehr vieles von dem, was sich rückblickend als konstruktive Maßnahmen erweist oder auch ungewollt konstruktive Folgen hatte, auf höchster Ebene gestützt wurde, und das bis Januar 1946 unter direkter Verantwortung und Einwirkung von de Gaulle als Regierungschef und Vorsitzendem des zuständigen interministeriellen Ausschusses. Wie schwierig die Definition einer neuen Politik war, welche inneren Widersprüche und Unsicherheiten sie kennzeichneten, wie weitgehend sich aber trotzdem bereits Neuansätze abzeichneten, zeigt schon die erste, am 20. Juli 1945 unter Vorsitz von de Gaulle persönlich verabschiedete Direktive, die in der vorliegenden Quelle auszugsweise wiedergegeben wird.5 Die politische Gesamtlage war noch unklar. Große Teile ihrer Zone waren den Franzosen soeben erst von Amerikanern und Briten übergeben worden, und sie waren in ihrem inkohärenten Zuschnitt administrativ kaum in den Griff zu bekommen. Die Potsdamer Konferenz war – ohne Frankreichs Beteiligung – gerade erst angelaufen, der Alliierte Kontrollrat hatte sich noch nicht konstituiert, der neue Oberbefehlshaber General Pierre Koenig war noch nicht im Baden-Badener Hauptquartier eingetroffen. Unklarheit kennzeichnete denn auch viele der Formulierungen, aus denen sich unterschiedliche praktische Maßnahmen ableiten ließen und in der Folge auch abgeleitet wurden. Sicherheit stand im Vordergrund der Argumentation. Doch eine Neuauflage der gescheiterten Sicherheitspolitik vom Typus Versailles schied aus. Schon jetzt, und das sollte sich langfristig für die Entwicklung der deutsch-französischen Beziehungen im europäischen Rahmen als entscheidend erweisen, wurde Sicherheit unmittelbar nach Kriegsende amtlich neu und differenziert definiert. „Wir müssen auf die Zerstörung sowohl des preußischen wie des Hitlerschen Werkes zielen“ – das war der politische Ursprung für weit gefächerte, bald als „Demokratisierung“ proklamierte Programme, mit denen man die vermuteten gesellschaftlichen Grundlagen für Diktatur und Militarismus in der deutschen Gesellschaft beseitigen wollte. „Entpreußung“ trat zur „Entnazifizierung“. Kulturpolitik war damit kein Palliativ, sondern wurde ein integraler Teil der Demokratisierungs- und damit der französischen Sicherheitspolitik. Hohe Finanzmittel flossen dafür in den nächsten Jahren. Die im August 1945 in der Pfalz einsetzenden, bis April 1946 die ganze Zone erfassenden Sozialversicherungsreformen, in denen vor allem die Wiederherstellung der Selbstverwaltung und der Ausgleich zwischen den Lebensbedingungen von Arbeitern und Angestellten im Mittelpunkt stand, gehörten in den gleichen Kontext.6 Die Besatzungsmacht realisierte hier manches, was 1949 zunächst —————— 5 6
Vgl. Quelle Nr. 7.3, Direktiven der Provisorischen Regierung der Republik Frankreich für das Handeln in Deutschland, 20. Juli 1945. Zum Zusammenhang solcher ökonomisch zentraler Teilbereiche mit den administrativen Strukturen und Zwängen und mit der Gesamtpolitik gegenüber Deutschland und den anderen Alliierten vgl. Hudemann, Rainer, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988.
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wieder rückgängig gemacht wurde, zwischen 1956 (Rentnerkrankenversicherung) und 1970 (Lohnfortzahlung im Krankheitsfall) dann zu Säulen des bundesdeutschen Sozialsystems wurde und mit dem Finanzausgleich in der Krankenversicherung seit 1994 bis heute neue Tagesaktualität gewann. Wie war Sicherheit zu organisieren? Altbekannte Vorstellungen von einem eigenständigen Rheinland tauchten wieder auf, schon sie wurden aber nicht mehr klar formuliert: „Contrôle“ konnte vieles abdecken, „occupation“ militärisch oder in einem weiteren Sinn gemeint sein, auch „Abtrennung“ wurde nicht genauer definiert. Im April 1946, als interne französische Planungen für eine deutsche Bundesverfassung schon liefen, beschloss man, Rheinland-Pfalz zu gründen, kurzfristig als Kompromiss zwischen diffusen Abtrennungsideen mancherlei Art und deutscher bundesstaatlicher Struktur, langfristig faktisch als eine unter vielen konstruktiven Beiträgen zum deutschen Wiederaufbau. Bald erwiesen sich die unklaren Rheinland-Formulierungen international als Spielmaterial in Verhandlungen mit den anderen Alliierten. Denn zentral war eine andere Forderung, und das bereits in diesem frühen Text: die internationale Garantie der Kontrolle des deutschen Rüstungspotentials an der Ruhr („Westfalen“) und des Zugriffs auf seine Ressourcen. Daraus entwickelte sich bald ein Kern der französischen Forderungen, mit dem man 1949 in der Durchsetzung des Ruhrstatuts auch Erfolg hatte. 1952 wurde es mit der Montan-Union in neue, europäische Formen überführt, wie Jean Monnet sie in der Exilregierung in Algier bereits 1943 skizziert hatte: Das Spannungsverhältnis von Kooperation und Kontrolle, wie es die französische Deutschland- und Europapolitik weit über die 50er Jahre hinaus kennzeichnen sollte, war seit Kriegsende angelegt. Der zweite Kernpunkt, der den gesamten Text durchzog, war eine Dezentralisierung Deutschlands. Wie sie bewerkstelligt werden und wie weit sie gehen sollte, wurde wiederum unklar und mit verschiedensten Ideen formuliert. Aber das Leitmotiv ist deutlich. Mit der allgemeinen Deutschlandpolitik waren solche Felder eng vernetzt. Schon diese erste Direktive zeigt, dass und weshalb Paris weder politisch noch materiell ein Interesse daran hatte, sich von den anderen Alliierten abzukoppeln. Die viel zitierte französische „Obstruktionspolitik“ im Alliierten Kontrollrat wurde dann tatsächlich ein differenziertes Gebilde, in dem es im Kern um die Erhaltung der deutschen Wirtschaftseinheit bei Verhinderung einer neuen politischen Zentralgewalt in Deutschland unter deutscher Leitung und ohne alliierte Kontrolle ging: „Zentralverwaltungen“ ja, „deutsche Zentralverwaltungen“ nein – das wurde im Kontrollrat rasch die französische Devise. Hier wurde sie bereits als Ablehnung einer „zentralen deutschen Autorität in Deutschland“ formuliert. In der Sozialversicherung und anderen ökonomisch besonders gewichtigen Bereichen hielt man sich in der eigenen Zone denn auch enger an die gemeinsamen Kontrollratsplanungen als die Briten und die Amerikaner, während man beispielsweise zonenübergreifende Gewerkschaften als politische Organisationen einstufte und ablehnte. In solchen Texten steckte noch viel von der alten Sprache der Zwischenkriegszeit, und teilweise waren es auch die gleichen Beamten, die sie formulierten. Die Sprache verleitete auch Teile der Forschung lange dazu, die gerade in ihr angelegten Nuancierungen zu übersehen, welche direkt oder indirekt auf grundlegend neue Konzepte verwiesen. Denn Begriffe wie „Annexion“ oder „État rhénan“ aus dem alten Sprach-
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gebrauch fehlten, de Gaulle hatte beides klar abgelehnt; weder von „Staatenbund“ noch von „Autonomie“ (statt einem vagen „Autonomismus“) war mehr die Rede: gerade hier hätte man derartige klarere Begriffe erwartet, wie sie in der öffentlichen, auch parlamentarischen Debatte 1945 selbstverständlich waren. Nicht einmal die Annexion der Saar forderte man, sondern wählte dafür unklare Formeln, die auf den dann 1947 erfolgten Wirtschaftsanschluss hindeuteten; in einer speziellen Saar-Direktive im August 1945 nahm man den Begriff „Assimilation“ zu Hilfe. Den Umbruch im französischen Denken charakterisierte diese erste Direktive auch in ihrer Sprache. Man erfasst die französische Politik erst recht nicht, wenn man nicht das Gesamtgeflecht von Konzepten und praktizierter Politik zueinander in Beziehung setzt: neue Wege im Verhältnis zwischen Frankreich und Deutschland, in der innerfranzösischen Résistance wie der Exilregierung längst angedacht, wurden bereits 1945 Teil der Regierungspolitik. Seit 1946 entfalteten sie allmählich eine Dynamik, welche – gerade auch in ihren Wechselwirkungen mit den mittelfristigen Konflikten und Gegensätzen der Besatzungsjahre – langfristig Grundlagen für eine dauerhafte, allerdings auch weiterhin oft von Konflikten geprägte Kooperation im europäischen Rahmen legte. Deutschfranzösische Kooperation war nicht mehr allein ein Konzept von Idealisten, die im Schrecken der Kriege neue Ideen entwickelt hatten. Man brauchte auch nicht die Amerikaner, um sich zu kooperativen Konzepten zwingen zu lassen. Kooperation wurde nach dem Zweiten Weltkrieg sicherheitspolitisch und materiell zur Existenzfrage für Frankreich als Großmacht. Viele politische und ökonomische Entscheidungsträger hatten das schon 1945 klar erkannt und handelten bereits danach, auch wenn sie der Öffentlichkeit oft ein anderes Bild gaben. Damit konnte die Annäherung zwischen den beiden Ländern als Werk charismatischer Staatsmänner in den späteren Jahren auf Konzepten, Realisierungen und administrativen sowie menschlichen Vernetzungsstrukturen aufbauen, die seit Kriegsende gewachsen waren. Quelle Nr. 7.3 Direktiven der Provisorischen Regierung der Republik Frankreich für das Handeln in Deutschland, 20. Juli 19457 [Grundsätze. Umfang: ca. 2 Schreibmaschinenseiten]
—————— 7
Gouvernement provisoire de la République Française. Présidence du Gouvernement. Secrétariat Général du Comité Interministériel des Affaires Allemandes et Autrichiennes. 19 Juillet 1945. Document Nr. 1: Directives pour notre action en Allemagne, unter Vorsitz von de Gaulle im interministeriellen Ausschuss beschlossen am 20.7.1945; Übersetzung aus dem Französischen von Rainer Hudemann. Der Text umfasst sechseinhalb Schreibmaschinenseiten einzeilig und eine ebenso lange Anlage "Vermerk über das deutsche Problem" mit programmatischen Begründungen. Er findet sich in verschiedenen Archivbeständen, u.a. dem Präsidialbestand in den Archives Nationales F60/3034/2. Ich habe die vollständigen Fassungen seinerzeit publiziert in: Ménudier, Henri (Hg.), L'Allemagne occupée 1945-1949, Paris 1989, S. 169-182, (Taschenbuchausgabe Brüssel 1990). Übersetzungen solcher Kerntexte, wie die Vorgaben für das vorliegende Buch sie erfordern, sind schwierig, da sie Gefahr laufen, sowohl Interpretationen vorwegzunehmen als auch politisch relevante Unklarheiten der Texte vorschnell aufzulösen. Grundsätzlich sollte für eine Interpretation das Original herangezogen werden; einige Formulierungen werden daher französisch beigefügt.
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[…] I. Politik der Viermächtekontrolle 1. Die Erhaltung der Einheit der alliierten Front ist eine Notwendigkeit. Die deutsche Hoffnung auf ein Wiedererstarken und eine Revanche klammert sich vor allem an den Gedanken, dass die Koalition bald zerbrechen wird. Den deutschen Spekulationen, die sich auf ein Zerwürfnis unter den Alliierten gründen, muss schnell ein Ende bereitet werden. 2. Die Politik der Vier-Mächte-Kontrolle muss aus folgenden Gründen versucht werden: a) Wir haben kein Interesse daran, unseren Alliierten den Eindruck zu geben, dass wir uns der gemeinsamen Politik als Erste entziehen wollen. b) Die Gesamtheit des deutschen Territoriums bildet ein gemeinsames Pfand [gage]. Insoweit es von den vier Besatzungsmächten genutzt werden kann, haben wir ein Interesse daran, dass keine von ihnen zu ihrem alleinigen Nutzen einen Teil der gemeinsamen Aktiva entzieht. (Die Saarfrage bleibt allerdings vorbehalten.) c) Die uns zugeteilte Zone kann ihre Existenz nicht aus eigenen Mitteln sichern. Wenn wir verhindern wollen, dass diese Zone dem französischen Steuerzahler zur Last fällt ohne politische Gegenleistungen, die erst in Zukunft ins Auge gefasst werden können, dann darf sie nicht von den Lebensmittellieferungen und Absatzmöglichkeiten abgeschnitten werden, welche die anderen deutschen Regionen ihr bisher geboten haben. 3. Die gemeinsame Kontrolle darf nicht in die Wiederherstellung einer zentralen deutschen Autorität in Deutschland [autorité centrale allemande en Allemagne] abgleiten. Der Fehler von 1919 darf nicht wiederholt werden: keine Erwägung wirtschaftlicher Interessen und keine Erleichterung der Kontrolle dürfen Priorität erhalten gegenüber dem übergeordneten Interesse einer politischen Dezentralisierung Deutschlands. 4. Es wäre ein Fehler, im Hinblick auf diese Dezentralisierung jede Macht in ihrer Zone einfach unabhängig vorgehen zu lassen. Natürlich kann Frankreich Vorteile aus einer Unterstützung dezentralisierender Tendenzen in seiner eigenen Zone ziehen. Doch kann es an den Vorgängen in den anderen Zonen nicht desinteressiert sein. [... Es folgt ca. 1 Schreibmaschinenseite zu den territorialen und politischen Strukturen der drei anderen Besatzungszonen.] II. Zonenpolitik [...] Noch immer stellen die Territorien, die uns zugeteilt sind, keinerlei politische, administrative und ökonomische Einheit dar. Zu ihr gehören Gebiete, die wir nicht auf Dauer besetzen [occuper] wollen. Dagegen gehören bestimmte Regionen nicht dazu, die wir gefordert haben und deren endgültige Besetzung [occupation définitive] durch Frankreich für unsere Sicherheit essentiell ist. [... Folgt weitere Betonung der Unklarheit der Situation.] Daher ist derzeit, bis zu einer Revision und dem Erhalt einer kohärenteren und kompakteren Zone, folgendes erforderlich: A Administrative und wirtschaftliche Ebene: 1. Bestrafung der für den Krieg Verantwortlichen. 2. Ausmerzung [Extirper] des Nationalsozialismus, mindestens im Hinblick auf GestapoBeamte, SS und Parteifunktionäre, die sich versteckt oder mit falschen Papieren getarnt haben. 3. Aufbau einer ehrlichen, gerechten, schnellen und effizienten Verwaltung, welche durch die Kontrolle nicht gelähmt wird, in allen Bereichen (einschließlich des Justizwesens). [... Folgt vorläufige Verwaltungsgliederung der Zone.] 4. Wiederaufbau eines Pressekerns; Orientierung [orienter] dieser Presse; nach Möglichkeit Aufbau einer großen Zeitung nach dem Vorbild der „Frankfurter Zeitung“, die aufgrund ihrer Hal-
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tung über die Grenzen unserer Zone hinaus wirken und ein Mittel des französischen Einflusses in Deutschland werden kann; Wiederaufbau eines Rundfunksenders. 5. Rasche Wiedereröffnung der Grundschulen und Gymnasien und ihre Ausrüstung mit neuen oder vor 1933 verfassten Schulbüchern. Sorgfältige Auswahl der Volksschullehrer. Versuch der Einflussnahme auf die Universitäten Freiburg und Tübingen (leider recht unbedeutend und zu stark konfessionell geprägt). 6. Sicherung der materiellen Existenzmöglichkeiten unserer Zone. B Allgemeinere Politik: 1. Um zu verhindern, dass die Rheinprovinzen erneut als Ausgangspunkt für einen Angriffskrieg dienen können, müssen sie endgültig vom Rest Deutschlands getrennt [détachées] werden in militärischer, politischer, administrativer und wirtschaftlicher Hinsicht. Auf dem linken Rheinufer müssen wir die preußische Verwaltung zerstören und das allmähliche Wiederentstehen der französischen Institutionen begünstigen, von denen noch Spuren existieren und die von der Bevölkerung positiv aufgenommen werden könnten. 2. An der Saar hat Frankreich besondere Wirtschaftsinteressen [des intérêts spéciaux d’ordre économique]. Die Saar muss daher von Anfang an Gegenstand besonderer Bemühungen sein, um sie später dem französischen System anzugliedern [efforts particuliers pour être rattachée, ultérieurement, au système français]. Insbesondere müssen die preußischen Führungskräfte im Bergbau rasch ausgeschaltet werden. Um zu einem Erfolg zu führen, darf diese Dezentralisierungspolitik nicht als eine Politik des Auslandes erscheinen. [...] Sie muss das Werk der Deutschen selbst sein, die Besatzungsmacht hat im Wesentlichen die Voraussetzungen für sie zu schaffen, ihre Entfaltung zu unterstützen und ihre Entwicklung zu schützen. Mit diesem Ziel muss man die früheren demokratischen, aus der Zentrumspartei kommenden, gewerkschaftlichen, sozialdemokratischen Kräfte wiederzuerwecken, zu finden und zu nutzen versuchen, um aus ihnen Bürgermeister, Landräte, Kreisvorsitzende, Gymnasialdirektoren, Schulrektoren zu gewinnen und auf die Probe zu stellen. Die Berufsverbände und die in diesen Regionen mächtigen katholischen Kräfte sollten genutzt werden. Vor allem sollten die Geister in ihrer Entwicklung in einem Sinn gefördert werden, welcher die Abtrennung [détachement] begünstigt; die Deutschen sollten überzeugt werden, dass ihr ehrliches Bemühen um politische und administrative Dezentralisierung die Härten der Besatzung nur vermindern kann. Ein „geleiteter Autonomismus“ [autonomisme dirigé] könnte den Deutschen als ein Fluchtort im Unglück erscheinen, als ein Mittel, sich dem Zugriff Preußens und der Militärkaste zu entziehen, wenn ihnen das zum Nutzen gereicht. (Weimar hat nicht überlebt, weil es die erwarteten Vorteile nicht erbracht hat.) Eine zentrale Bedingung für den Erfolg der französischen Besatzungspolitik ist die einwandfreie Haltung unserer Truppen in Disziplin und Gerechtigkeitssinn gegenüber einer Bevölkerung, welche Kraft nicht ohne strikteste Ordnung kennt. Dieser Erfolg hängt ebenso von dem Geschick unserer Offiziere und Beamten in der ihnen anvertrauten Aufgabe der Leitung wie der vorsichtigen und durchdachten Beobachtung ab.
Literatur Hudemann, Rainer, Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik, Mainz 1988 Hüser, Dietmar, Frankreichs „doppelte Deutschlandpolitik“. Dynamik aus der Defensive – Planen, Entscheiden, Umsetzen in gesellschaftlichen und wirtschaftlichen, innen- und außenpolitischen Krisenzeiten 1944-1950, Berlin 1996
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Ders., Struktur- und Kulturgeschichte französischer Außenpolitik im Jahre 1945. Für eine methodenbewusste Geschichte der internationalen Beziehungen, in: Historische Mitteilungen 16 (2003), S. 155-170. Ménudier, Henri (Hg.), L'Allemagne occupée 1945-1949, Paris 1989 Maelstaf, Geneviève, Les responsables français, le statut international de l'Allemagne et le problème de l'unité allemande (1945-1955), Paris 1999
DEUTSCHLAND UND EUROPA AUS AMERIKANISCHER SICHT. EIN GEHEIMES GRUNDSATZPAPIER DES US-STATE DEPARTMENT AUS DEM JAHR 19491 Von Ludolf Herbst In einer Zeit vermehrter deutsch-amerikanischer Irritationen einerseits und fortschreitender europäischer Integration andererseits ist es von besonderem Interesse, sich die Konstellation in Erinnerung zu rufen, die die Entwicklung gemeinsamer europäischer Institutionen ermöglichte, und dabei die Rolle zu beleuchten, die die USA hierbei spielten. Ein streng geheimes Grundsatzpapier des amerikanischen State Department vom März 19492 ist hierzu sehr gut geeignet, weil es die Grundlinien der amerikanischen Politik gegenüber Europa klar herausarbeitet und zeigt, wie eng der Zusammenhang zwischen der Lösung des „deutschen Problems“ und der europäischen Integration in Washington gesehen wurde. Dabei spielte die Einsicht eine entscheidende Rolle, dass die Wirtschaft der westeuropäischen Länder so eng mit der westdeutschen Wirtschaft verbunden war, dass es nicht möglich sein würde, Europa wirtschaftlich wiederaufzubauen, ohne gleichzeitig die westdeutsche Wirtschaft in ihren alten Funktionen als Produzent von Investitionsgütern und als Abnehmer von Rohstoffen, Nahrungsmitteln und Konsumgütern wiederherzustellen. Sollte verhindert werden, dass die 1949 gegründete Bundesrepublik Deutschland aus ihrer wirtschaftlichen Schlüsselposition politisches Kapital zog und erneut die Hegemonie anstrebte, mussten neue Wege gegangen werden. Gemeinsame europäische Institutionen von hinreichender Bindungsfähigkeit, die nationalstaatliche Alleingänge würden verhindern können, erschienen als adäquate Lösung. Dabei entsprang die Überlegung, mit der wirtschaftlichen Integration zu beginnen, nicht nur dem sprichwörtlichen amerikanischen Pragmatismus, sondern auch der historischen Erfahrung. Darauf, dass die ökonomische Prosperität Europas und Deutschlands auf das Engste verbunden waren, hatte John Maynard Keynes bereits 1919 hingewiesen.3 Die Fakten waren in der Zwischenkriegszeit mit Händen zu greifen. So kamen 1928 51,5 Prozent der Importe des Deutschen Reiches aus den europäischen Ländern und gingen 75,4 Prozent seiner Exporte nach dort. Besonders eng war die wirtschaftliche Verflechtung des Reichs mit seinen hochentwickelten Nachbarländern. So entfielen 1928 allein auf die Benelux-Staaten, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Italien, Österreich, die Schweiz und die Tschechoslowakei 33,6 Prozent der Importe und 51,3 Prozent der deutschen Exporte. Diese Länder waren zugleich in besonderer Weise auf den deutschen Markt angewiesen. Das Reich war für sie der wichtigste oder der zweitwichtigste —————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 7.4, The economic interdependence of Germany and Western Europe. Means for achieving closer economic association (1949). Vgl. Quelle Nr. 7.4, Auszüge aus einem undatierten Grundsatzpapier des State Department, Washington [März 1949], Top Secret. Keynes, John Maynard, The economic consequences of the peace, London 1919, S. 14.
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Handelspartner. So setzten die Benelux-Staaten 18,5 Prozent, Dänemark 20,7 Prozent, Frankreich 10,8 Prozent, Großbritannien 5,7 Prozent, Italien 12,5 Prozent, Österreich 18,4 Prozent, die Schweiz 17,8 Prozent und die Tschechoslowakei 22 Prozent ihres Gesamtexports auf dem deutschen Markt ab. In diesen Außenhandelsziffern kam nicht nur die wechselseitige Marktabhängigkeit zum Ausdruck, sondern auch eine enge industriewirtschaftliche Verflechtung. Vor-, Zwischen- und Teilprodukte industrieller Endfertigungen kamen oft aus dem Nachbarland.4 Angesichts solcher Abhängigkeiten wundert es nicht, dass in der Zwischenkriegszeit auf verschiedenen Ebenen darüber nachgedacht wurde, die bestehenden Handelshemmnisse zu beseitigen und die politischen Gegensätze zwischen den europäischen Staaten zu verringern. Auch war man sich dessen bewusst, dass es dabei in besonderer Weise auf Frankreich und Deutschland ankam. Doch wie die Verhandlungen zwischen Briand und Stresemann zeigten, gingen die französische und deutsche Regierung in der Zwischenkriegszeit von entgegengesetzten Prioritäten aus: Die französische Regierung wünschte zunächst die politische Einigung im Rahmen des Völkerbundes und des Versailler Systems voranzutreiben, um Frankreichs sicherheitspolitische Probleme zu lösen, während die deutsche Regierung die ökonomischen Fragen in den Vordergrund stellte, um aus der ökonomischen Stärke des Reichs politisches Kapital zu schlagen. Absprachen für eine engere Zusammenarbeit, die von Industriellen aus unterschiedlichen europäischen Ländern getroffen und auch implementiert wurden, waren angesichts der nationalstaatlichen Gegensätze in Europa ebenso wenig in der Lage, die europäische Einigung zu befördern, wie die programmatischen Schriften engagierter „Europäer“ wie Coudenhove-Kalergi. Durch den Zweiten Weltkrieg entstand eine grundsätzlich andere, für die europäische Integration sehr viel günstigere Ausgangssituation. Die europäischen Nationalstaaten waren geschwächt und auf dem Kontinent standen ihnen militärisch, wirtschaftlich und politisch weit überlegene Weltmächte gegenüber. In größerem Umfang als die UdSSR verfügten die USA über dominante Kräfte. Sie waren die einzige Atommacht, repräsentierten allein etwa 50 Prozent der Weltindustrieproduktion und waren die bei weitem größte Finanzmacht der Erde. Sie konnten vom Potential her eine Rolle als Föderator spielen und sie waren entschlossen dies zu tun, wobei der Wille, die sowjetischen Machtambitionen in Europa einzudämmen, eine akzelerierende Wirkung ausübte. Wichtiger aber war der entschlossene Wille, aus der Geschichte zu lernen, den Ausbruch einer zweiten Weltwirtschaftskrise zu vermeiden und Deutschland daran zu hindern, den europäischen Frieden ein drittes Mal zu stören. Für die Lösung beider Probleme erschien eine wirtschaftliche Integration Westeuropas, des zweitwichtigsten Industriegebiets der Erde, als wichtigste Prämisse. Viel war auf diesem Weg bereits geschehen, als im State Department im März 1949 das Schriftstück entstand, dessen wichtigste Passagen im Anschluss an meinen Beitrag abgedruckt sind.5 Der Text verweist explizit auf das European Recovery Program —————— 4
5
Statistisches Handbuch von Deutschland 1928-1944, hg. vom Länderrat des Amerikanischen Besatzungsgebiets, München 1949, S. 410f.; Gaedicke, Herbert; Eynern, Gert von, Die produktionswirtschaftliche Integration Europas. Eine Untersuchung über die Außenhandelsverflechtung der europäischen Länder, Berlin 1933, S. 145, 154ff. Vgl. Quelle Nr. 7.4.
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(ERP), auch Marshallplan genannt, und die Organization of European Economic Cooperation (OEEC), die zur Durchführung des Marshallplans errichtet worden war. Da es hierbei um eine zeitlich befristete Hilfe ging, war die Zukunft der OEEC unsicher. Zudem gehörten dieser Organisation alle Empfängerländer von Marshallplanhilfe an und in ihrem organisatorischen Rahmen hatten sich nur kooperative Formen der Zusammenarbeit entwickeln können. Die Bundesrepublik Deutschland, deren Gründung unmittelbar bevorstand, zu kontrollieren, würde die OEEC daher voraussichtlich nicht in der Lage sein. Hierzu bedurfte es einer fester integrierten kleineren Gemeinschaft. Mit sicherem Gespür für das ökonomisch Notwendige und das politisch Erreichbare nennt das Schriftstück die Staaten des westeuropäischen Montankernes, die BeneluxStaaten, Frankreich und Italien, sowie einige der mit diesem Bereich industriewirtschaftlich und außenhandelsmäßig besonders eng verflochtenen Nachbarländer, Österreich und „as many as possible of the Scandinavian countries“. Offenbar herrschte im State Department Unsicherheit darüber, ob diese Gruppierung in der Lage sein werde, „to counterbalance Germany“. Nicht zuletzt aus diesem Grunde dachte man über eine „special relationship“ zwischen dem enggeknüpften („closely knit“) westeuropäischen Block und dem British Commonwealth nach. Die Ebenen möglicher wirtschaftlicher Integration werden nur vorsichtig angedeutet. Vieles davon hatte bereits im OEEC-Vertrag vom 16. April 19486 gestanden und erhielt nun durch den vagen Terminus „closer economic association“ allenfalls eine neue Qualität. Neu war der Vorschlag, eine Zollunion zu vereinbaren und eine zentrale Behörde („central authority“) zu errichten, an die die Teilnehmerländer „very considerable powers“ abzugeben hätten. Vor dem Hintergrund der amerikanischen Liberalisierungspolitik erscheint der Vorschlag, eine westeuropäische Zollunion zu errichten, ebenso überraschend wie der milde Umgang mit dem Konflikt zwischen Staatsdirigismus und Verstaatlichung einerseits sowie Marktwirtschaft und Privatwirtschaft andererseits. Diese Zugeständnisse an die europäischen Realitäten werden allerdings mit der Zumutung versehen, die europäischen Staaten sollten – nach dem Vorbild der USA – Teile ihrer Souveränitätsrechte auf eine zentrale Behörde übertragen. Offenbar drücken diese Vorschläge echte Besorgnisse darüber aus, dass die Gründung eines westdeutschen Staates eine Entwicklung einleiten könne, die die Verhältnisse in Europa außer Kontrolle geraten lasse. George F. Kennan hatte sie im Februar und März 1949 in zwei Denkschriften eindringlich formuliert.7 Deutschland, so meinte Kennan in einer weit gefassten historischen Rückschau, sei in dem Moment ein Problem für Europa und die Welt geworden, als es angefangen habe, in nationalen Kategorien zu denken und einen Nationalstaat zu gründen. In diese Bahn dürfe man Deutschland auf gar keinen Fall zurückkehren lassen: „There is no solution of the German problem in terms of Germany; there is only a solution in terms of Europe.“8 Eine solche europäische Lösung war für Kennan an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden. Er traute den europäischen Staaten die Kraft, Deutschland zu kontrollieren, nur dann zu, wenn es —————— 6 7 8
Europa. Dokumente zur Frage der europäischen Einigung, hg. vom Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, München 1962, Bd. I, S. 214ff. Denkschriften vom 7. Februar und 8. März 1949, Foreign Relations of the United States (FRUS) 1949, III, S. 90ff und 96ff. Denkschrift vom 8. März 1949, FRUS 1949, III, S. 96.
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ihnen gelänge, eine festgefügte Gemeinschaft zu bilden. Die Regierung der USA müsse dies unterstützen, wobei sie darauf zu achten habe, dass die Initiative von den Europäern selbst ausgehe. Washington solle aber eine Bedingung stellen: Der westdeutsche Staat müsse in die europäische Gemeinschaft als gleichberechtigter Partner aufgenommen werden. Sicherheit könne nicht durch einen Minus-Status der Deutschen, sondern nur durch die Struktur der Gemeinschaft erreicht werden. Sie müsse so beschaffen sein, dass jedes Land – insbesondere aber Westdeutschland – wirksam daran gehindert werde, aus ihr auszubrechen. Um jedes Risiko auszuschalten, sollten die amerikanischen Truppen solange in Deutschland bleiben, bis dauerhafte Sicherheitsgarantien geschaffen seien. Diese, von Kennan in seiner Eigenschaft als Direktor der politischen Planungsabteilung des State Department, entworfene politische Linie setzte große Hoffnungen auf die französische Regierung und sie fand in Robert Schuman einen Partner, der die Dimension des Problems begriff. Die Gemeinsamkeit des Standpunktes kam Anfang November 1949 anlässlich der Außenministerkonferenz in Paris zum Ausdruck. „Das Ziel der Westmächte“, so formulierte der amerikanische Außenminister Dean Acheson, „muß die Herstellung gänzlich neuer Beziehungen zu Deutschland sein. Deutschland muß einem geeinten Westeuropa als Bestandteil eingegliedert werden.“ Und Robert Schuman sekundierte mit der Bemerkung, „die Integration“ sei „der einzige Weg, Deutschland von der Sowjetunion und von einer Politik militärischer und wirtschaftlicher Expansion“ abzuhalten.9 Der Schuman-Plan, mit dem die französische Regierung am 9. Mai 1950 vorschlug, den Weg der wirtschaftlichen Integration mit einer Zollunion und einem gemeinsamen Markt in einem Teilbereich, nämlich in der Montanwirtschaft, zu beginnen, konnte von Anfang an der Unterstützung der USA sicher sein. Die amerikanische Regierung hatte Frankreich in der zweiten Hälfte des Jahres 1949 immer wieder dazu gedrängt, in der Frage der wirtschaftlichen Integration die Initiative zu ergreifen. Dean Acheson sekundierte dem französischen Vorstoß denn auch in einer Rede, die er am Abend des 9. Mai 1950 hielt. Darin sagte er der französischen Regierung seine Unterstützung zu und appellierte zugleich an die Bundesregierung, ihren Teil der „Verantwortung“ zu akzeptieren und „all das auf sich zu nehmen“, was ihr „als Risiko erscheinen mag.“10 Adenauer war hierzu bereit und hatte Robert Schuman bereits am Vortag des 9. Mai 1950 seiner prinzipiellen Zustimmung versichert. Wenn die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Montanunion, heute im Rückblick als der Beginn der institutionellen Integration Europas betrachtet und sie als unmittelbarer Vorläufer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft angesehen wird, so sollte man sich daran erinnern, dass die Dinge zunächst ganz anders geplant waren. Der mit dem Schuman-Plan begonnene Weg der sektoralen wirtschaftlichen Integration sollte in Einzelschritten fortgesetzt werden. So schlug die französische Regierung dem Europarat im Juli und August 1950 die Errichtung einer Europäischen Transportbehörde und eines Europäischen Agrarmarktes vor. Der Ausbruch des Korea-Krieges verhinder—————— 9
Lademacher, Horst; Mühlhausen, Walter [Hg.], Sicherheit, Kontrolle, Souveränität. Das Petersberger Abkommen vom 22. November 1949. Eine Dokumentation, Kassel 1985, S. 374f. 10 Europa Dokumente, I (wie Anm. 6), S. 679.
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te, dass dieser Weg gegangen wurde. Er verschaffte nun einem Problem Priorität, das Washington, wie auch im Text betont wird, gern zuletzt und nicht zuerst gelöst hätte, nämlich der Wiederbewaffnung Deutschlands und seiner Integration in die westliche Verteidigungsgemeinschaft. Dass man 1958 gleichwohl den Weg in die umfassende Wirtschaftsgemeinschaft fand, ist bereits das Ergebnis einer insgesamt eingespielten Partnerschaft zwischen Paris und Bonn. Beide Regierungen hatten begriffen, dass sie ihre nationalpolitischen Ziele am besten in einer supranationalen Gemeinschaft verwirklichen konnten. Die Rechnung der amerikanischen Politik war aufgegangen. Quelle Nr. 7.4 The economic interdependence of Germany and Western Europe. Means for achieving closer economic association (1949)11 […] A segregated Germany, which developed in a manner unrelated to Western Europe would constitute a danger to Western Europe and our objectives. Economically, the interrelationship of Germany and the rest of Western Europe is so close and Germany’s economic potential so great that if it were again to pursue a policy of seeking only its own economic well-being and the greatest degree of autarchy, it might well dominate Western Europe. Further, the maintenance of a recovered Western European economy would be much more difficult and perhaps even impossible. Politically, a segregated Germany would be under irresistible temptation to seek, through its central geographic position and potential strength, to achieve dominance in Europe, playing off the East against the West. […] Since a Germany separate from Western Europe and with freedom of action presents the dangers described above, the most fruitful longrun approach seems to be to try so to integrate the economic and strategic interests of Germany with those of its Western neighbors as to diminish the incentives and opportunities for separate disruptive action. The economic interdependences of these countries, both as suppliers and purchasers of goods lays a basis for such a close economic association. Further, such a close association would bring advantages both to Germany and to the other Western nations quite aside from promoting a solution of the German problem. […] If Germany is to fit into a Western European community, such a community must exist, and must be adequate to handle the German problem. The development of collective action and a joint approach to regional and world problems has been an important aspect of American policy in recent years. This has been praticularly true in relation to Europe, where we have fostered various institutions and arrangements based on the concept of the necessity for mutual aid and a common approach to common problems. The two most important steps in this direction have been ERP, including the formation of the OEEC, and the North Atlantic Treaty. […] It is doubtful whether the OEEC is an adequate framework within which to achieve really close integration. It is not yet clear whether it will survive in any significant form after American ERP aid ends. To date it has been principally a forum for negotiation between members and while, as recovery proceeds, OEEC may develop effective power of its own in the economic field, that development cannot be assumed. Furthermore, the membership is probably broader than would be necessary to deal with die German problem. […] The most practicable approach toward establishing a community into which Germany will fit seems to be along the line of fostering the development of close economic interrelationship. Not
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Auszüge aus einem undatierten Grundsatzpapier des State Department, Washington [März 1949], Top Secret, FRUS, 1949, III, S. 131-135. Der Titel der Quelle wurde sinngemäß hinzugefügt.
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only has the idea of closer economic association developed further than other forms, but the economic interdependences of Germany and Western Europe is more widely recognized. It seems politically unfeasible and unrealistic to start along the line of including Germany in the framework of the Brussels or North Atlantic Pacts, whose principal significance is military – unfeasible because of the strong and justified Western European fears of German rearmament, unrealistic in view of our declared policy of preventing German rearmament. What is the minimum area which it is essential to include in a community which would achieve the economic and political ends sought? This cannot be approached purely in economic terms. Adequate counterbalances to German potential power are necessary, politically as well as economically. Aside from necessary security controls, Germany must be treated as a coordinate responsible member of such a grouping. France, Benelux, Italy, Austria and as many as possible of the Scandinavian countries seem the very minimum to counterbalance Germany. Iceland, Greece, Turkey, Portugal and Ireland are of considerably lesser importance in an economic sense. Switzerland cannot be expected to abandon neutrality; Spain is now politically unacceptable, as are the satelites. The U.K. presents the most difficult problem. […] The U.K. might well be needed to counterbalance Germany in any community. The U.K., however, has wider affiliations with the rest of the world than do the continental countries. […] It might be necessary to work out a special relationship between the British Commonwealth and a closely-knit European community. The U.S. role in this matter should not be one of passive encouragement. So long as we are occupying Germany, and particularly in view of our insistence on a controlling voice in German foreign economic matters, we have a direct responsibility for action in Europe. Furthermore, any movement toward strengthening Europe and resolving the German problem would further the objectives of the North Atlantic Pact. Such a movement will need all the impetus that can be given it […]. […] Among the specific techniques which would have to be explored as means for achieving closer economic association are currency arrangements […], customs union (total or limited), coordination or integration of trade negotiations with other countries, abolition or relaxation of barriers to movement of people, coordinated investment policy, et cetera. The examination of these techniques will necessarily require consideration of the degree to which it would be necessary for members of the group to adopt coordinated or a single policy on prices and wages, social services, taxation, banking and credit, subsidies, rationing, allocations, foreign exchange and trade controls, exchange rates, cartel policy, et cetera. These matters would inevitably bring to the fore divergencies in economic, social and political philosophy, e.g., private ownership vs. nationalization, the controlled economy vs. the economy regulated by the price mechanism and private initiative. It is probable that any realistic analysis of these problems would lead to the conclusion that the delegation of very considerable powers to a central authority would be necessary. […]
Literatur Hogan, Michael J., The Marshall Plan. America, Britain, and the reconstruction of Western Europe, 1974-1952, Cambridge 1987, reprinted 1989 Maier, Charles S.; Bischof, Günter (Hg.), The Marshall Plan and Germany. West German development within the framework of the European Recovery Program, New York 1991 Milward, Alan S., The reconstruction of Western Europe 1945-51, 2. Aufl., London 1987
LÉON BLUM UND DAS EUROPA DER DRITTEN KRAFT1 Von Wilfried Loth Wie kommen wir zu Europa? Auch jenseits der Frage, wie die Europäische Union in Zukunft aussehen soll, interessiert uns, wie sie entstanden ist und warum sie sich so entwickelt hat, wie wir es erlebt haben. Diplomatie- und Wirtschaftshistoriker haben die Antwort auf diese Frage in den Akten der Regierungen gesucht und herausgefunden, was dort zu finden war: unterschiedliche nationale Interessen, unterschiedliche wirtschaftliche Interessen, unterschiedliche Konzeptionen treffen aufeinander und führen zu schwierigen, mehr oder weniger haltbaren Kompromissen. Tatsächlich lassen sich so einzelne Ereignisse und konkrete Regelungen erklären, etwa die Entstehung des Pariser Vertrages über die Schaffung einer Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die Entstehung des Vertrages von Maastricht oder auch die Verabschiedung des Vertrags über eine Verfassung für Europa. Die Dynamik des europäischen Integrationsprozesses kann aus den Regierungsakten allein freilich nicht ermittelt werden. Regierungen agieren nicht im luftleeren Raum, sie reagieren auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Entwicklungen, und ihr Erfolg bemisst sich daran, wieweit sie diesen Entwicklungen entsprechen. Wer den Gang der europäischen Integration verstehen will, muss auch nach den Tiefenkräften Ausschau halten, die auf sie einwirken. Eine dieser forces profondes wird in dem Leitartikel deutlich, den Léon Blum, der langjährige Führer der französischen Sozialisten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, am 6. Januar 1948 in der Parteizeitung Le Populaire veröffentlicht hat. Blum, ein Intellektueller mit politischer Mission, der den Idealen des Humanismus und der Aufklärung verpflichtet war, schrieb dort fast jeden Tag; der beständige Kommentar zu den laufenden Ereignissen war seine Methode, die Partei zu führen und über die Parteianhänger hinaus politisch zu wirken. Kurz zuvor, im November 1947, hatte er ein viertes Mal für das Amt des Ministerpräsidenten kandidiert, dabei aber, anders als 1936, 1938 und im Dezember 1946, nicht die erforderliche parlamentarische Mehrheit erhalten. Entgegen der Absprache zwischen den Fraktionen hatten ihm zehn Stimmen gefehlt: Einige Christdemokraten schreckten vor dem Kurswechsel in der Deutschlandpolitik zurück, den er seit Monaten inständig gefordert hatte. Die Vision einer „internationalen Dritten Kraft“ hatte Léon Blum bei der Vorstellung seines Regierungsprogramms in der Nationalversammlung am 20. November 1947 zum ersten Mal präsentiert: „In Europa und überall auf der Welt gibt es Staaten, Gruppen und Individuen, die verstanden haben, dass beim gegenwärtigen Stand der wirtschaftlichen Entwicklung keines der großen Probleme mehr im Rahmen der Grenzen zufrieden stellend gelöst werden kann, dass ohne eine lebendige Solidarität mit den anderen kein Volk mehr in Wohlstand leben, ja überhaupt überleben kann, und dass man —————— 1
Essay zur Quelle Nr. 7.5, Léon Blum: Die internationale Dritte Kraft (1948).
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sich gruppieren, föderieren, einigen muss oder untergehen wird. Sie lehnen es ab, sich von vornherein in eines der Lager einschließen zu lassen, die sich die Welt zu teilen scheinen, weil sie die Notwendigkeit einer universellen Solidarität empfinden, weil sie die Gefahr für den Frieden ermessen, die ein Fortdauern der Teilung und der Gegensätze enthält, und weil sie begreifen, was das Wort Krieg heute bedeutet.“ Am 17. Dezember 1947 hatte sich der Nationalrat der sozialistischen Partei das Programm der Dritten Kraft offiziell zu Eigen gemacht, und seither wurde es auch von Guy Mollet als Generalsekretär der Partei propagiert. Blums Vision einer „internationalen Dritten Kraft“ war sichtlich eine Reaktion auf den Ausbruch des Kalten Krieges, genauer gesagt: auf die sowjetische Absage an den Marshall-Plan im Juli 1947 und die daraus resultierende Verfestigung der Ost-WestTeilung Europas. Sie hob sich von der Truman-Doktrin ab, mit der der amerikanische Präsident im März 1947 den Anspruch der USA auf Führung der „freien Völker“ begründet hatte, und sie kontrastierte mit der Rede von Andrej Shdanow auf der Gründungskonferenz des Kominform im Oktober 1947, in der die Sowjetunion als Führerin eines „antiimperialistischen und demokratischen Lagers“ präsentiert worden war, das sich der Expansion des amerikanischen Imperialismus entgegenstellte. Das Streben nach Etablierung einer „Dritten Kraft“ beruhte auf der Weigerung, die Teilung der Welt in einen östlichen und einen westlichen Block als unabänderlich hinzunehmen. Getrieben von der Furcht vor einem neuen Krieg, der diesmal das Risiko der atomaren Selbstzerstörung in sich tragen würde, drängten ihre Verfechter darauf, zwischen den Blöcken zu vermitteln. Das Konzept der „Dritten Kraft“ war insofern ebenso realpolitisch gedacht wie die Truman-Doktrin und die Shdanow-Thesen, als seine Verfechter ebenfalls eine Großmacht als führende Kraft einer internationalen Bewegung ansahen. Anders als bei den beiden Basisdoktrinen des Kalten Krieges war diese Großmacht aber nicht schon vorhanden, sie musste erst noch geschaffen werden: die Großmacht Europa. In realpolitische Kategorien umgesetzt hieß das, dass die europäischen Nationalstaaten, die dazu in der Lage waren (und das bedeutete im Wesentlichen: die sechzehn Staaten, die sich für eine Beteiligung am Marshall-Plan entscheiden konnten), ihre Kräfte bündelten und einen gemeinsamen Willen artikulierten. In erster Linie mussten sich darauf die beiden verbliebenen Großmächte des westlichen Europa verständigen, Großbritannien und Frankreich. Um ihr Bündnis herum sollten sie die weiteren europäischen Nationen scharen, einschließlich jenes Teils von Deutschland, für den die westlichen Besatzungsmächte Verantwortung trugen. Ein wesentliches Element des „Dritte-Kraft“-Konzepts war also die Gewinnung von Macht: Einfluss auf den Gang der internationalen Politik sollten die europäischen Nationen dadurch gewinnen, dass sie sich zusammenschlossen und ihre Ressourcen gemeinsam organisierten. Diese Macht sollten sie dazu nutzen, auf den offenkundig gewordenen machtpolitischen Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion mäßigend einzuwirken, und sie sollte ihnen helfen, ihre Eigenständigkeit zu wahren und ihre spezifische Lebensweise zu verteidigen. Die europäische Einigung, so wie sie den Verfechtern des „Dritte-Kraft“-Konzepts vorschwebte, lief damit auf die Schaffung eines neuen Machtzentrums in der Weltpolitik hinaus, das die Europäer in die Lage versetzte, ihre Zivilisation in der Ära der neuen Weltmächte zu behaupten.
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Die europäische Zivilisation behaupten hieß auch: sie gegenüber den USA zu behaupten, die mit den Unterstützungszusagen der Truman-Doktrin als Schutzmacht der „freien Völker“ auftraten. Diese Funktion eines geeinten Europas war insofern besonders wichtig, als sich die Länder, die hier zur Einigung aufgerufen wurden, ja gerade entschlossen hatten, am Marshall-Plan teilzunehmen, das hieß: für ihren Wiederaufbau amerikanische Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Unabhängigkeit trotz der Beteiligung am Marshall-Plan zu sichern, und in einem weiteren Sinne: trotz der Zugehörigkeit zur westlichen Wertegemeinschaft, das war ein weiteres wesentliches Motiv für den Zusammenschluss, das umso dringender empfunden wurde, je kritischer die amerikanische Macht gesehen wurde. Wenn Léon Blum hier von einem dritten gesellschaftlichen Ordnungsmodell spricht, neben dem sowjetischen und dem amerikanischen, bedeutet das nicht Äquidistanz in der Auseinandersetzung zwischen freiheitlicher Ordnung und Unterdrückung. Es besagt im Kern zunächst nur, dass sich die Ordnungsmodelle, zwischen denen man wählen musste, nicht auf zwei reduzieren ließen, wie das die beiden Basisdoktrinen des Kalten Krieges übereinstimmend, wenn auch mit gegensätzlicher Bewertung behaupteten. Auch wenn man sich für die Freiheit und gegen die Unterdrückung entschied – und diese Grundsatzentscheidung war für Blum so selbstverständlich, dass er sie gar nicht mehr diskutierte –, blieben immer noch unterschiedliche Gesellschaftsmodelle unter demokratischen Vorzeichen. Mehr noch: Die Entscheidung für die Freiheit schloss auch die Freiheit ein, das amerikanische Modell nicht sklavisch zu übernehmen; sie gebot geradezu, sich auch um die Unabhängigkeit von der amerikanischen Schutzmacht zu bemühen. Wer sich im Europa des Winters 1947/48 umschaut, wird rasch feststellen, dass Blums Wahrnehmung zutraf: Die Weigerung, sich vorbehaltlos einem westlichen Block anzuschließen, war weit verbreitet, das Bedürfnis, Europa eigenständig zu organisieren, war groß. Wenn von europäischer Einigung die Rede war, dann meist im Zusammenhang mit der Vorstellung, ein einiges Europa könne, müsse, werde als „Dritte Kraft“ operieren. In Frankreich zählten etwa Claude Bourdet, Ernest Labrousse, Emmanuel Mounier, Jean-Marie Domenach, Simone de Beauvoir, Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty zu den Unterzeichnern eines Manifests, in dem Ende Dezember 1947 zur Schaffung eines Europas der Dritten Kraft aufgerufen wurde; ein Teil der Christdemokraten äußerte sich in gleicher Weise wie die Sozialisten. In Großbritannien hatte George D. H. Cole das Konzept vorgedacht, in Deutschland Richard Löwenthal (der unter dem Pseudonym Paul Sering publizierte). Überall argumentierten Sozialdemokraten und Christdemokraten in diesem Sinne, die „Union europäischer Föderalisten“ formierte sich unter diesen Vorzeichen. Nicht alle Verfechter der „Dritten Kraft“ teilten Blums Überzeugung, dass in den USA eine „unmenschliche Härte“ des Kapitalismus zu verzeichnen war und das europäische Gegenmodell darum auf den „demokratischen Sozialismus“ hinauslaufe. Liberale und gemäßigt konservative Autoren nannten, wesentlich bescheidener, die Sicherung der Unabhängigkeit, die Schaffung von Wohlstand und die Nutzung der verbliebenen Chancen für eine Stärkung der Vereinten Nationen als die wichtigsten Motive für einen Zusammenschluss des westlichen Europa. Für alle aber galt der Zusammenhang von eigenständiger Organisation Europas und Vermittlungsmission der Europäer im Kalten Krieg, den Blum in den Mittelpunkt seiner Analyse gestellt hatte. Diese doppelte Moti-
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vation trieb die Bewegung für eine Einigung Europas voran; ohne sie wäre ihr der Durchbruch auf die Ebene von Regierungsverhandlungen im Sommer 1948 nicht gelungen. Die Sorge um die Unabhängigkeit der Europäer und die Überwindung der Spaltung Europas blieben auch weiterhin wesentliche Antriebskräfte der Europapolitik. Auch ein Konrad Adenauer sorgte sich um die Unabhängigkeit von den USA; für ihn hieß das: Rückversicherung für den Fall, dass sich die USA doch wieder aus den europäischen Angelegenheiten zurückziehen würden oder sie zumindest nachrangig behandelten. Charles de Gaulle trug die beiden Komponenten eines unabhängigen EuropaVerständnisses so plakativ vor, dass sie vielfach als Antiamerikanismus missverstanden wurden. Die Multilateralisierung der Entspannungspolitik beförderte auch den Ausbau der politischen Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft; und die Gefahr eines zweiten Kalten Krieges waren für François Mitterrand wie für Helmut Kohl ein wichtiges Motiv, sie weiter zu verstärken. Freilich wurde die Sorge um die Eigenständigkeit der Europäer oft durch andere Motive konterkariert. Gerade einmal sieben Wochen nach Blums Artikel im Populaire lösten die Nachrichten von der Durchsetzung der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei eine breite Welle der Furcht vor einem sowjetischen Vormarsch nach Westeuropa aus. Viele Europäer riefen jetzt nach einem militärischen Schutz der USA. Oft waren es die gleichen, die zuvor ein Europa der „Dritten Kraft“ gefordert hatten; sie sahen entweder nicht oder nahmen es notgedrungen in Kauf, dass sie damit eine Militarisierung der Eindämmungspolitik in Gang setzten, die den Abbau des Kalten Krieges erschwerte. Das Ziel eines unabhängigen Europas, das die gefährliche Spannung zwischen den Weltmächten überwand, ging nicht verloren, aber es konnte sich gegenüber anderen Impulsen und Interessen oft nur schwer behaupten. Zudem gelang es nicht, das zu verwirklichen, was Léon Blum in durchaus realistischer Einschätzung der Machtverhältnisse als „festen Kern“ der „Dritten Kraft“ gefordert hatte: die Achse Paris – London, um die sich die übrigen europäischen Staaten scharen sollten. Die Rede Clement Attlees, auf die Blum hier seine Hoffnungen setzte, erwies sich als trügerisch. Über zwei Jahre bemühten sich die französischen Sozialisten und wechselnde französische Regierungen, die britische Labour-Regierung für eine Beteiligung an der europäischen Konstruktion zu gewinnen. Erst dann wagte Robert Schuman mit der Montanunion einen Anfang ohne britische Beteiligung. Das Europa, das so zustande kam, war weniger kraftvoll, als es Blum und den anderen Verfechtern der „Dritten Kraft“ vorgeschwebt hatte. Die Idee der Unabhängigkeit auch gegenüber den amerikanischen Verbündeten und der Verteidigung einer spezifischen europäischen Lebensform blieb aber – und bleibt – ein zentrales Motiv für seine Stärkung.
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Quelle Nr. 7.5 Léon Blum: Die internationale Dritte Kraft (1948)2 Die Pariser Presse [...] hat der Rede unseres Freundes Attlee, des britischen Premierministers, nicht sehr viel Platz eingeräumt. Sie hat ihr aber große Wichtigkeit beigemessen. Sie hat ihre hohe Bedeutung verstanden oder zumindest geahnt. Tatsächlich stellt Attlees Rede eine Hinwendung der Labour-Regierung zur Idee und zum System der internationalen Dritten Kraft. Attllee definiert sie mit ganz ähnlichen Begriffen, wie es unsere Partei getan hat und wie sie sich sowohl in der Rede Guy Mollets in der Nationalversammlung wiederfinden als auch in meiner Regierungserklärung und in den jüngsten Beschlüssen des Parteivorstands. Zwischen den Vereinigten Staaten, den „Meistern der individuellen Freiheit und der Menschenrechte“, bei denen aber die kapitalistische Wirtschaft in all ihrer unmenschlichen Härte uneingeschränkt fortdauert, und der Sowjetunion, die zwar das kapitalistische Privateigentum abgeschafft, aber auch alle privaten, bürgerlichen und sozialen Freiheiten aufgehoben hat, gibt es Platz für jene Nationen, die persönliche Freiheit und kollektive Wirtschaft zugleich anstreben, sowohl Demokratie als auch soziale Gerechtigkeit. Das heißt, dass zwischen dem amerikanischen Kapitalismus – der, wie alle Kapitalismen mit aufsteigender Tendenz „expansionistisch“ ist – und dem totalitären, imperialistischen Kommunismus der Sowjets Platz für die Sozialdemokratie besteht, für den Sozialismus. Es ist weder übertrieben noch überheblich zu behaupten, dass der demokratische Sozialismus gegenwärtig die Haupttendenz des alten Europa darstellt, insbesondere des westlichen Europa. Diese Tendenz wird der Vielfalt der Länder, der politischen Verhältnisse und den sozialen Kategorien entsprechend mehr oder weniger klar empfunden, mehr oder weniger offen oder logisch ausgedrückt. Dennoch bildet es das, was man als den geometrischen Ort der europäischen Ideologien bezeichnen kann. Die internationale Dritte Kraft ist also wirklich eine Kraft. Und damit sie als solche handeln kann, genügt es, dass sie sich ihrer selbst, ihrer Natur und ihrer aktuellen Mission bewusst wird. Diese Mission ist ihr mit der Evidenz des Notwendigen vorgezeichnet. Sie besteht darin, nicht als Barriere oder Puffer, sondern als Instrument der Annäherung, des wechselseitigen Verständnisses und der Vermittlung zwischen den beiden gegensätzlichen Blöcken zu dienen, deren Antagonismus schon jetzt die friedliche Ordnung der Welt stört und auf Dauer den Frieden bedroht. Die Rolle, die so auf sie zugekommen ist, ist ganz einfach diejenige, welche die internationale Gemeinschaft, das heißt UNO spielen müsste, wenn diese nicht durch die ihr angeborenen Mängel selbst unter den Folgen dieses Antagonismus leiden würde, bis hin zu ihrer Ohnmacht und ihrer Lähmung. Auf diese Weise würde der demokratische Sozialismus, wie es einer langen Tradition entspricht, wieder einmal zum Herold und Interpreten des Friedens werden. Durch welchen Appell, unter welchem Einfluss kann die internationale Dritte Kraft ihrer Selbst, ihrer Natur und ihrer Berufung bewusst werden? Was mich betrifft, so wünsche ich, dass es durch den Appell und unter dem Einfluss des internationalen Sozialismus selbst geschehen möge. Welche Staaten können den festen Kern bilden, um den sich die in Europa und in der Welt mehr oder weniger zerstreuten Elemente der Dritten Kraft zusammenfinden könnten? Zweifellos sind dies Großbritannien und Frankreich. Die großartige Rede unseres Freundes Attlee lässt hoffen, dass die britische Regierung bereit ist, diese Rolle zu übernehmen. Wir warten auf die Antwort der französischen Regierung.
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Wieder abgedruckt in: L’œuvre de Léon BLUM, Bd. 7: 1947-1950, Paris 1963, S. 150-151; Übersetzung aus dem Französischen durch Wilfried Loth.
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Literatur Blum, Léon, Socialiste européen. Textes de Gérard Bossuat u.a., Brüssel 1995 Loth, Wilfried, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, Göttingen 1996 Ders., Ost-West-Konflikt und deutsche Frage. Historische Ortsbestimmungen, München 1989 Ders., Sozialismus und Internationalismus. Die französischen Sozialisten und die Nachkriegsordnung Europas 1940-1950, Stuttgart 1977
DER SCHUMAN-PLAN, FRANKREICH UND EUROPA1 Von Clemens A. Wurm Am Nachmittag des 9. Mai 1950, einem Dienstag, verlas der französische Außenminister Robert Schuman um 18 Uhr vor eiligst in den Uhrensaal des Quai d’Orsay eingeladenen Pressevertretern die nach ihm benannte Erklärung, die das Gesicht Europas verändern sollte. Konzeptioneller Urheber der Erklärung war Jean Monnet, damals Vorsitzender des Commissariat général au Plan. Schuman hatte den Vorschlag übernommen, und er hat ihn gegen starke Widerstände in Frankreich politisch durchgesetzt. Der Plan war geheim und unter Zeitdruck von Monnet und seinem Stab erarbeitet worden. Nur wenige Personen wurden in die Überlegungen eingeweiht. In den Archiven sind insgesamt neun Fassungen des Textes überliefert, die zwischen dem 16. April und dem 6. Mai entstanden sind. Die am 20. Juli 1950 über den Schuman-Plan aufgenommenen, von Monnet geleiteten und zügig durchgeführten Verhandlungen mündeten im Vertrag über die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion), der bereits am 21. April 1951 in Paris unterzeichnet werden konnte. Die EGKS umfasste neben Frankreich die Bundesrepublik Deutschland, Italien, die Niederlande, Belgien und Luxemburg. Die Erklärung Schumans gilt weithin als Gründungsakt der Europäischen Gemeinschaft. In der Europäischen Union wird der 9. Mai als „Europatag“ gefeiert. Der Schuman-Plan ist längst zum Mythos geworden, der seine eigene Wirkung entfaltet. Wie eine umfangreiche Forschung gezeigt hat, haben Monnet und Schuman mit dem Plan mehrere Ziele gleichzeitig verfolgt, und die Hierarchie der Ziele scheint für beide nicht identisch gewesen zu sein. Als Hauptziele sind in der Erklärung Schumans und in dem die Reflexionen Monnets zusammenfassenden Memorandum Monnets vom 3. Mai 19502 genannt: Friede, Sicherheit, europäische Einigung, Modernisierung der französischen Wirtschaft und Verbesserung der Produktionsbedingungen der Industrie, insbesondere der Stahlindustrie, durch die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und durch die Herstellung gleicher Produktionsbedingungen zwischen Deutschland und Frankreich. Der Schuman-Plan verknüpfte das schwierige Deutschland-Problem mit der nicht weniger komplizierten Frage einer neuen Organisation (West-)Europas, die den Erwartungen verantwortlicher Kreise in den betroffenen Ländern entsprach. Die vorgeschlagene Lösung bestand in einer Transformation der in der Vergangenheit konfliktreichen, antagonistischen deutsch-französischen Beziehungen über eine Fusion wirtschaftlicher Interessen auf europäischer Ebene als erstem Schritt zu einer „fédération européenne“. Der Zusammenschluss sollte in einem begrenzten, aber symbolischen Bereich (Kohle und Stahl) im Rahmen einer supranationalen Institution erfolgen. Die deutschen —————— 1 2
Essay zur Quelle Nr. 7.6, Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950. Veröffentlicht in Le Monde, 9. Mai 1970. Erneut abgedruckt in: Möller, Horst; Hildebrand, Klaus (Hg.), Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich. Dokumente 1949-1963, Bd. 2: Wirtschaft. Bearbeitet von Andreas Wilkens, München 1997, S. 577-580.
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Ressourcen sollten für den europäischen Wiederaufbau genutzt werden, Frankreich und Deutschland den Kern eines geeinten Europas bilden. Die Wahl der Sektoren – Kohle und Stahl – war alles andere als zufällig. Für sie waren neben kurzfristigen Ursachen und sehr konkreten französischen Interessen auch weiter in die Geschichte zurückreichende Faktoren verantwortlich. Die kommerziellen und wirtschaftlichen Strukturen, die sich in Westeuropa seit der Industrialisierung herausgebildet hatten, drängten auf eine um die Beneluxländer erweiterte deutschfranzösische Annäherung, besonders auf dem Gebiet der Schwerindustrie. Konstanten der Geografie, der Austausch von Kohle und Erz und finanzielle Verflechtungen hatten bereits vor dem Ersten Weltkrieg beiderseits des Rheins einen komplementären Wirtschaftsraum entstehen lassen, der über scharfe Brüche, Zäsuren und Konflikte hinweg ein Fundament für Kooperation und Integration bildete. Die Internationalen Stahlkartelle der Zwischenkriegszeit waren Ausdruck der Interdependenzen und wechselseitigen Abhängigkeiten, die sich im schwerindustriellen Bereich herausgebildet hatten. Kohle und Stahl spielen heute in Europa keine größere politische oder wirtschaftliche Rolle mehr. Das war Mitte des letzten Jahrhunderts anders. Für die nationale Rüstungsindustrie, das Kriegspotential und das wirtschaftliche Wachstum waren Kohle und Stahl zentral. Beide Sektoren besaßen hohen Symbolwert. Die Höhe der Stahlproduktion galt vielfach als Gradmesser für die Macht einer Nation. Im Herbst 1949 war Schuman vom amerikanischen Außenminister aufgefordert worden, in der Deutschlandpolitik die Führungsrolle des Westens zu übernehmen und einen konkreten Plan vorzulegen. Die Erklärung vom 9. Mai 1950 ging unmittelbar dem Treffen der Außenminister Frankreichs, Großbritanniens und der USA vom 11.-12. Mai 1950 in London voraus, auf dem die Internationale Ruhrbehörde und die Höhe der westdeutschen, durch den Industrieniveauplan der Alliierten begrenzten, Stahlproduktion beraten werden sollten. Zug um Zug drohten die Westdeutschland nach dem Kriege auferlegten Kontrollen und Hemmnisse abgebaut zu werden und Deutschland auf direktem Wege seine Souveränität zurückzugewinnen, ohne dass Frankreich daraus Kapital für seine künftige politische und wirtschaftliche Sicherheit schlagen konnte. Anliegen des Schuman-Plans war es, die französische Außenpolitik aus der Sackgasse herauszuführen, in der sie sich mit ihrer Politik der Schwächung Deutschlands befand. Schließlich: Kohle war zu jener Zeit ein knappes Gut. Lieferungen aus England, das neben Deutschland traditionell den französischen Markt mit Kohle versorgt hatte, waren nach dem Kriege nicht mehr, amerikanische Lieferungen noch nicht verfügbar. Es galt, die Lieferung deutscher Ruhrkohle zu günstigen Preisen und identischen Bedingungen sicherzustellen, um Wettbewerbsnachteile zu vermeiden und die Modernisierung der französischen Stahlindustrie zu gewährleisten, die entsprechend dem Modernisierungsund Entwicklungsplan der französischen Regierung („Monnet-Plan“) prioritär ausgebaut werden sollte. Insoweit ist die Behauptung von Alan Milward und Frances Lynch zutreffend: „The Schuman Plan was invented to safeguard the Monnet Plan.“3 —————— 3
Milward, Alan S., The Reconstruction of Western Europe 1945-51, London 1984, S. 395; Lynch, Frances M. B., France and the international economy. From Vichy to the Treaty of Rome, London 1997. So auch, wenngleich mit anderer Akzentsetzung, Kipping, Matthias, Zwischen Kartellen und Konkurrenz. Der Schuman-Plan und die Ursprünge der europäischen Einigung 1944-1952, Berlin 1996.
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In Frankreich war der Schuman-Plan umstritten. Innerhalb der französischen Administration stieß er auf starke Gegnerschaft. Strittig waren die Privilegierung Deutschlands (eines ehemaligen Gegners) auf Kosten Großbritanniens (eines engen Verbündeten), die Supranationalität wie auch die ganze Methode Monnets. Monnet und Schuman gingen mit der Präferenz für Deutschland ein hohes politisches Risiko ein. Auch die französische Öffentlichkeit hatte große Vorbehalte gegenüber einer Partnerschaft mit Deutschland. Die Kritiker, traditionellen Vorstellungen französischer und innereuropäischer Sicherheit durch Dominanz und Balance verhaftet, fürchteten, dass in einem deutsch-französischen Duo Deutschland Frankreich über kurz oder lang an die Wand drücken würde. Sie hielten die Beteiligung Großbritanniens für erforderlich, um das überlegene deutsche Potential auszugleichen. Entsprechende Befürchtungen kommen in einem Gespräch zwischen Staatspräsident Vincent Auriol und Monnet zum Ausdruck, als dieser Auriol seine Vorstellungen darlegte: „Je [Vincent Auriol, CAW] dis à Monnet que son plan est intéressant, mais qu‘il devrait être inclus dans une organisation politique de l’Europe et non pas dans une têteà-tête avec l‘Allemagne qui l’emportera avant peu sur la France. Il faut organiser politiquement l’Europe [...] il faut absolument maintenir l’internationalisation de la Ruhr, sinon, si la Ruhr va à l’Allemagne, alors dans cette Autorité charbon-acier, c’est l’Allemagne qui l’emportera. Monnet est d’accord, mais estime qu’il faut commencer par des affaires concrètes, et notamment les questions économiques. C’est là où nous divergeons.“4 Frankreich hatte bis 1949 wiederholt Versuche unternommen, Westeuropa als kohärente Einheit in Zusammenarbeit mit Großbritannien zu organisieren. Die Bestrebungen waren in London aber auf Ablehnung gestoßen. Die britische Regierung forderte die Einbeziehung Deutschlands, war vornehmlich am Commonwealth und am Bündnis mit den USA interessiert, aber nicht bereit, sein Schicksal mit dem Kontinentaleuropas bis zum „point of no return“ zu verknüpfen und sich eng an das als schwach und unzuverlässig eingeschätzte Frankreich zu binden. Die vertragliche Abtretung von Souveränität lehnte die britische Regierung ab. Gemeinsame europäische Institutionen sollten sich nach britischer Auffassung allmählich Schritt für Schritt aus innereuropäischer Kooperation ergeben, nicht, wie Monnet und Schuman es umgekehrt vorschwebte, an den Anfang gestellt werden. Hier offenbarten sich tiefe Unterschiede in der politischen Kultur, dem Selbstverständnis und den historischen Erfahrungen beider Länder. Seit 1948 war das französische Außenministerium auf der Suche nach einer neuen Deutschlandpolitik, die den von den USA und Großbritannien betriebenen westdeutschen Wiederaufstieg mit dem französischen Sicherheitsbedürfnis in Einklang zu bringen suchte. Von verschiedener Seite wurden Vorschläge zur Organisierung Europas und zur Zusammenfassung der Schwerindustrie unterbreitet. Auch in Deutschland wurden Pläne diskutiert, Kohle und Stahl unter ein supranationales Gesetz zu stellen. Insoweit lag die Präferenz für Deutschland in der Logik der Dinge und der Schuman-Plan gleichsam in der Luft. An die Stelle einer auf Dominanz und auf Ausgrenzung Deutschlands beruhenden, Frankreich in Westeuropa zunehmend isolierenden Politik trat mit der Er—————— 4
Auriol, Vincent, Journal du septennat 1947-1954. Tome IV: Année 1950, Paris 2003, S. 200 (Gespräch vom 3. Mai 1950).
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klärung vom 9. Mai eine Politik, die Deutschland Gleichberechtigung anbot. Der Schuman-Plan verband dieses Angebot mit der gleichzeitigen Anerkennung einer gegenseitigen, freilich auch dauerhaften Einschränkung der Souveränität in einem begrenzten, aber zentralen Bereich (Kohle und Stahl) im Rahmen integrierter europäischer Strukturen. Monnet hat in den Gesprächen mit der britischen Regierung das Prinzip der Supranationalität kompromisslos verteidigt, während Schuman zu Zugeständnissen an London bereit schien. Aus der Sicht Monnets durften Entscheidungen, die für erstrebenswert oder erforderlich gehalten wurden, nicht am Veto eines oder mehrerer Partner scheitern. Die Kontrolle über Kohle und Stahl sollte deutscher Verfügungsgewalt entzogen werden, um Frankreichs Sicherheit zu gewährleisten und den Frieden zu sichern. Über Regelungen mit bindendem Charakter sollte die Versorgung mit deutscher Kohle politisch abgesichert werden. An die Stelle bloßer Kooperation, die – das zeigte die Zwischenkriegszeit – leicht und schnell aufgekündigt werden konnte, sollte die Integration im Rahmen starker Institutionen treten. Dass Nationalstaaten freiwillig einen Teil ihrer Souveränität an die Hohe Behörde der EGKS abtraten, war ein Novum in der europäischen Geschichte. Die Erklärung vom 9. Mai spricht zweimal davon, dass die Beschlüsse der Hohen Behörde für die teilnehmenden Länder „bindend“ sein werden. Der Begriff supranational selbst kommt im Text nicht vor. An zwei Stellen ist von den „gleichen Bedingungen“ die Rede, zu denen die Lieferung von Kohle und Stahl erfolgen soll. Auch das unterstreicht, wie wichtig diese beiden Punkte für Monnet und Schuman waren. Monnet musste in den Verhandlungen mit den Partnerländern, auf Verlangen insbesondere der Beneluxländer, zahlreiche Abstriche an seinem Plan hinnehmen. Die EGKS ist nicht identisch mit dem Schuman-Plan. Die Kompetenzen der Hohen Behörde wurden abgeschwächt. Die Beneluxländer hatten mit Nachdruck, wie bereits die Briten in den Konsultationsgesprächen mit der französischen Regierung nach dem 9. Mai, die Frage nach der „democratic accountability“ der Hohen Behörde aufgeworfen. Die EGKS hat nur wenige Jahre effektiv und zufrieden stellend funktioniert. Als Modell für die Organisation Europas hat sich die sektorale Integration nicht durchgesetzt. An ihre Stelle ist bald die gesamtwirtschaftliche Integration getreten. Sicher war der Schuman-Plan nicht „die Geburtsstunde Europas“, wie es eine mythische und überhöhte Sicht des 9. Mai und der Gründungsväter Monnet und Schuman will.5 Erinnert sei nur an den Marshall-Plan, die OEEC oder den Europarat. Die neuere Forschung hat überdies gezeigt, wie viel die europäische Einigung nach 1945 der Zwischenkriegszeit als Ideenlaboratorium verdankt. Der Schuman-Plan selbst nimmt auf den Briand-Plan Bezug. Die Vorstellung, dass Frankreich und Deutschland den Eckstein der europäischen Versöhnung bilden müssten, war in den zwanziger Jahren weit verbreitet. Die Entzauberung des Schuman-Plans lässt sich freilich zu weit treiben, hat doch der von ihm ausgehende Mythos durchaus „un fondement dans le réel“6. Die EGKS ist Grundlage und Keimzelle der heutigen EU. Mit ihr wurde deren institutionelles Gerüst ge—————— 5 6
Vgl. den Titel der Schrift der Fondation Jean Monnet pour l’Europe/Centre de Recherches Européennes, Ce jour-là, l’Europe est née … (9 Mai 1950), Lausanne 1980. Loth, Wilfried, Plan Schuman et construction européenne: conclusion, in: Wilkens, Andreas (Hg.), Le plan Schuman dans l’histoire. Intérêts nationaux et projet européen, Brüssel 2004, S. 421-429, hier 429.
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schaffen. Die Supranationalität hat überlebt. Im Anschluss an die Formulierung von René Girault lässt sich der Schuman-Plan als „accoucheur“7 des sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Antwort auf die blutigen Erfahrungen der europäischen Geschichte herausbildenden „neuen Europa“ des Friedens und der Prosperität begreifen. Warum habe ich den Schuman-Plan für die Festschrift zu Ehren von Hartmut Kaelble ausgewählt, obwohl es sich um einen bekannten Text handelt? Vier Gründe will ich nennen. Die Erklärung fasziniert durch ihre Sprache, die bei einer Übersetzung viel von ihrer Eleganz verliert. Gleich der Eingangssatz – „La paix mondiale ne saurait être sauvegardée sans des efforts créateurs à la mesure des dangers qui la menacent“ – ist ein Stück gelungener Prosa und nimmt den Leser gefangen. Überhaupt verstand es Monnet, Begriffe zu prägen, Formulierungen in Umlauf zu bringen und Worte in Handeln umzusetzen. Bis heute ist die Rhetorik der europäischen Integration stark von Monnet geprägt. Der Schuman-Plan beeindruckt durch Voluntarismus, Gestaltungswillen und politischen Mut. Über „eine konkrete und entschlossene“, auf einen „begrenzten aber entscheidenden Punkt“ abzielende Aktion sollte, so Monnet in seinem Memorandum vom 3. Mai 1950, „der Lauf der Ereignisse“ geändert werden. Diese Aktion würde einen „fundamentalen Wandel“ bewirken, der „Schritt für Schritt die einzelnen Bestandteile des Problems selbst“ ändern würde. Sicher, Frankreich befand sich Anfang Mai 1950 außenpolitisch in der Defensive. Der Schuman-Plan war aber nicht nur ein Befreiungsschlag, der die französische Diplomatie aus der Sackgasse geführt hat. Er skizzierte eine neue Architektur für Europa, ließ überkommene Probleme in einem anderen Licht erscheinen und änderte die Richtung der Entwicklungen. Der Schuman-Plan verband visionäre Elemente mit nationalen Interessen. Letzteres war für die Durchsetzbarkeit des Vorschlags entscheidend. Mit der Erklärung der französischen Regierung vom 9. Mai wurde – im Unterschied zu zahlreichen Europaplänen vorher – ein handhabbarer Plan vorgelegt. Die europäische Integration wurde, als Prozess, in Teilschritte aufgelöst. Aus dem Reich der Ideen wurde „Europa“ in machbare, umsetzbare Politik überführt. Der Schuman-Plan wurde überdies in einem günstigen Augenblick präsentiert. Spätere Kritiker Monnets und seiner Methode haben – aus heutiger Sicht – die Neigung Monnets bedauert, Europa von der Wirtschaft und Währung her zu denken und die kulturelle Dimension zu vernachlässigen. Angeblich hat Monnet dies später selbst bedauert. Den in diesem Zusammenhang immer wieder zitierten Satz „Et si c’était à refaire, je commencerais par la culture“ hat Monnet jedoch nie gesprochen, und, soviel wir wissen, hat er dergleichen auch nicht gedacht – ganz abgesehen davon, dass „Kultur“ um 1950 in der Regel etwas anderes meinte als heute, und der Weg der Einigung über die Kultur aufgrund nationaler Widerstände damals kaum Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Das Schicksal diesbezüglicher Ambitionen eines Teils der Europäischen Bewegung mit ihrem „militanten“ Verständnis von Kultur und die Vor- und Frühgeschichte —————— 7
Girault, René, Interrogations, réflexions d’un historien sur Jean Monnet, l’Europe et les chemins de la paix, in: Bossuat, Gérard; Wilkens, Andreas (Hg.), Jean Monnet, l’Europe et les chemins de la paix, Paris 1999, S. 13-19, hier S. 15. Girault bezeichnet Jean Monnet als „accoucheur“.
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des Europarates zeigen dies. Allerdings hat Monnet bedauert, nicht mehr am Europa der Bildung und Erziehung gearbeitet zu haben. Schließlich: Der Schuman-Plan markiert den „mühsamen Durchbruch zur deutschfranzösischen Verständigung“.8 Vermutlich liegt hierin sein wichtigstes Verdienst. Quelle Nr. 7.6 Regierungserklärung Robert Schumans vom 9. Mai 19509 Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerläßlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen. Frankreich, das sich seit mehr als zwanzig Jahren zum Vorkämpfer eines Vereinten Europas macht, hat immer als wesentliches Ziel gehabt, dem Frieden zu dienen. Europa ist nicht zustande gekommen, wir haben den Krieg gehabt. Europa läßt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen. Die Vereinigung der europäischen Nationen erfordert, daß der Jahrhunderte alte Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland ausgelöscht wird. Das begonnene Werk muß in erster Linie Deutschland und Frankreich erfassen. Zu diesem Zwecke schlägt die französische Regierung vor, in einem begrenzten, doch entscheidenden Punkt sofort zur Tat zu schreiten. Die französische Regierung schlägt vor, die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion einer gemeinsamen Hohen Behörde zu unterstellen, in einer Organisation, die den anderen europäischen Ländern zum Beitritt offensteht. Die Zusammenlegung der Kohle- und Stahlproduktion wird sofort die Schaffung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung sichern – die erste Etappe der europäischen Föderation – und die Bestimmung jener Gebiete ändern, die lange Zeit der Herstellung von Waffen gewidmet waren, deren sicherste Opfer sie gewesen sind. Die Solidarität der Produktion, die so geschaffen wird, wird bekunden, daß jeder Krieg zwischen Frankreich und Deutschland nicht nur undenkbar, sondern materiell unmöglich ist. Die Schaffung dieser mächtigen Produktionsgemeinschaft, die allen Ländern offensteht, die daran teilnehmen wollen, mit dem Zweck, allen Ländern, die sie umfaßt, die notwendigen Grundstoffe für ihre industrielle Produktion zu gleichen Bedingungen zu liefern, wird die realen Fundamente zu ihrer wirtschaftlichen Vereinigung legen. Diese Produktion wird der gesamten Welt ohne Unterschied und Ausnahme zur Verfügung gestellt werden, um zur Hebung des Lebensstandards und zur Förderung der Werke des Friedens beizutragen. Europa wird dann mit vermehrten Mitteln die Verwirklichung einer seiner wesentlichsten Aufgaben verfolgen können: die Entwicklung des afrikanischen Erdteils. So wird einfach und rasch die Zusammenfassung der Interessen verwirklicht, die für die Schaffung einer Wirtschaftsgemeinschaft unerläßlich ist und das Ferment einer weiteren und tieferen Gemeinschaft der Länder einschließt, die lange Zeit durch blutige Fehden getrennt waren.
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Lappenküper, Ulrich, Der Schuman-Plan. Mühsamer Durchbruch zur deutsch-französischen Verständigung, in: VfZG 42 (1994), S. 403-445. Quelle: Minister für Auswärtige Angelegenheiten Robert Schuman, Regierungserklärung, 9. Mai 1950, in: Fontaine, Pascal, Eine neue Ordnung für Europa. Vierzig Jahre Schuman-Plan (1950-1990), Luxemburg 1990, S. 46-48. Hervorhebungen im Original.
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Durch die Zusammenlegung der Grundindustrien und die Errichtung einer neuen Hohen Behörde, deren Entscheidungen für Frankreich, Deutschland und die anderen teilnehmenden Länder bindend sein werden, wird dieser Vorschlag den ersten Grundstein einer europäischen Föderation bilden, die zur Bewahrung des Friedens unerläßlich ist. Um die Verwirklichung der so umrissenen Ziele zu betreiben, ist die französische Regierung bereit, Verhandlungen auf den folgenden Grundlagen aufzunehmen: Die der gemeinsamen Hohen Behörde übertragene Aufgabe wird sein, in kürzester Frist sicherzustellen: die Modernisierung der Produktion und die Verbesserung der Qualität, die Lieferung von Stahl und Kohle auf dem französischen und deutschen Markt sowie auf dem aller beteiligten Länder zu den gleichen Bedingungen, die Entwicklung der gemeinsamen Ausfuhr nach den anderen Ländern, den Ausgleich im Fortschritt der Lebensbedingungen der Arbeiterschaft dieser Industrien. Um diese Ziele zu erreichen, müssen in Anbetracht der sehr verschiedenen Produktionsbedingungen, in denen sich die beteiligten Länder tatsächlich befinden, vorübergehend gewisse Vorkehrungen getroffen werden, und zwar: die Anwendung eines Produktions- und Investitionsplanes, die Einrichtung von Preisausgleichsmechanismen und die Bildung eines Konvertierbarkeits-Fonds, der die Rationalisierung der Produktion erleichtert. Die Ein- und Ausfuhr von Kohle und Stahl zwischen den Teilnehmerländern wird sofort von aller Zollpflicht befreit und darf nicht nach verschiedenen Frachttarifen behandelt werden. Nach und nach werden sich so die Bedingungen herausbilden, die dann von selbst die rationellste Verteilung der Produktion auf dem höchsten Leistungsniveau gewährleisten. Im Gegensatz zu einem internationalen Kartell, das nach einer Aufteilung und Ausbeutung der nationalen Märkte durch einschränkende Praktiken und die Aufrechterhaltung hoher Profite strebt, wird die geplante Organisation die Verschmelzung der Märkte und die Ausdehnung der Produktion gewährleisten. Die Grundsätze und die wesentlichen Vertragspunkte, die hiermit umrissen sind, sollen Gegenstand eines Vertrages werden, der von den Staaten unterzeichnet und durch die Parlamente ratifiziert wird. Die Verhandlungen, die zur Ausarbeitung der Ausführungsbestimmungen unerläßlich sind, werden mit Hilfe eines Schiedsrichters geführt werden, der durch ein gemeinsames Abkommen ernannt wird. Dieser Schiedsrichter wird darüber zu wachen haben, daß die Abkommen den Grundsätzen entsprechen, und hat im Falle eines unausgleichbaren Gegensatzes die endgültige Lösung zu bestimmen, die dann angenommen werden wird. Die gemeinsame Hohe Behörde, die mit der Funktion der ganzen Verwaltung betraut ist, wird sich aus unabhängigen Persönlichkeiten zusammensetzen, die auf paritätischer Grundlage von den Regierungen ernannt werden. Durch ein gemeinsames Abkommen wird von den Regierungen ein Präsident gewählt, dessen Entscheidungen in Frankreich, in Deutschland und den anderen Teilnehmerländern bindend sind. Geeignete Vorkehrungen werden Einspruchsmöglichkeiten gegen die Entscheidungen der Hohen Behörde gewährleisten. Ein Vertreter der Vereinten Nationen bei dieser Behörde wird damit beauftragt, zweimal jährlich einen öffentlichen Bericht an die Organisation der Vereinten Nationen zu erstatten, der über die Tätigkeit des neuen Organismus, besonders was die Wahrung seiner friedlichen Ziele betrifft, Rechenschaft gibt. Die Einrichtung einer Hohen Behörde präjudiziert in keiner Weise die Frage des Eigentums an den Betrieben. In Erfüllung ihrer Aufgabe wird die gemeinsame Hohe Behörde die Vollmachten berücksichtigen, die der Internationalen Ruhrbehörde übertragen sind, ebenso wie die Verpflichtungen jeder Art, die Deutschland auferlegt sind, solange diese bestehen.
Der Schuman-Plan, Frankreich und Europa
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Literatur Bossuat, Gérard; Wilkens, Andreas (Hg.), Jean Monnet, l’Europe et les chemins de la paix, Paris 1999 Poidevin, Raymond, Robert Schuman, homme d’État 1886-1963, Paris 1986 Roussel, Éric, Jean Monnet 1888-1979, Paris 1996 Schwabe, Klaus (Hg.), Die Anfänge des Schuman-Plans 1950/51, Baden-Baden 1988 Wilkens, Andreas (Hg.), Le plan Schuman dans l’histoire. Intérêts nationaux et projet européen, Brüssel 2004
DER ANDERE BLICK. EUROPAVORSTELLUNGEN DER OSTDEUTSCHEN BÜRGERBEWEGUNG1 Von Konrad H. Jarausch Für die meisten Mitglieder der Bürgerbewegung der DDR lag Europa in doppelter Ferne: Zwar gab es auch im Ostblock mit dem Warschauer Pakt und COMECON gemeinsame Institutionen, aber diese waren auf die sowjetische Hegemonialmacht konzentriert und ideologisch auf den sozialistischen Internationalismus ausgerichtet. Dagegen betraf der westeuropäische Integrationsprozess nur die Bundesrepublik und war durch das Tabu der Wiedervereinigung blockiert, auch wenn die DDR indirekt durch den gesamtdeutschen Handel zu dem gemeinsamen Markt Zugang hatte.2 In den ersten Programmaussagen des Herbsts 1989 vom Neuen Forum und den anderen im demokratischen Aufbruch sich öffentlich formierenden Gruppen, die eine innere Reform der DDR forderten, fehlt daher jeder Hinweis auf die EG, und nur allgemeine Anspielungen behandeln das Aufbegehren gegen den Kommunismus als ostmitteleuropäischen Gesamtprozess.3 Ein konzentriertes ostdeutsches Nachdenken über das sich verändernde Europa konnte erst nach den grundlegenden Veränderungen des Herbst 1989 einsetzen, die neue externe und interne Rahmenbedingungen schufen. Zunächst musste durch die Reaktion der Sowjetunion auf die Vorgänge in Polen und Ungarn deutlich werden, dass Gorbatschow wirklich die Breschnew-Doktrin aufgegeben und den Satelliten ein Selbstbestimmungsrecht eingeräumt hatte. Dann musste der Demokratisierungsprozess in den ostmitteleuropäischen Nachbarstaaten so weit fortgeschritten sein, dass nicht nur eine Aufweichung des Kommunismus, sondern sogar sein Sturz möglich zu sein schien.4 Ebenso musste in der DDR eine Öffentlichkeit mit Meinungsfreiheit entstanden sein, in der neue politische Gruppen alternative Ideen vorlegen und propagieren konnten. Schließlich musste durch die Öffnung der Mauer und die Veränderung der Parolen der Leipziger Montags-Demonstrationen zu „Wir sind ein Volk“ sowie das Zehn-PunkteProgramm von Helmut Kohl die Frage der Wiedervereinigung auf die Tagesordnung gesetzt werden.5 Die Bürgerbewegung reagierte euphorisch auf das Ende des Wettrüstens und der Repression, lehnte aber mehrheitlich die aus der Bevölkerung kommenden Wünsche nach Einheit mit der Bundesrepublik ab. —————— 1 2 3 4 5
Essay zur Quelle Nr. 7.7, Programm des ersten Landesvertretertreffens von „Demokratie Jetzt“, 19.21. Januar 1990: „Für ein gemeinsames Europa – außenpolitische Orientierung“. Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997. Müller-Enbergs, Helmut (Hg.), Was will die Bürgerbewegung?, Augsburg 1992, S.14-30; Timmer, Karsten, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, S. 332-349. Korte, Karl-Rudolf u.a., Geschichte der deutschen Einheit, 4 Bde., Stuttgart 1998; Plato, Alexander von, Die Vereinigung Deutschlands – ein weltpolitisches Machtspiel, Berlin 2002. Jarausch, Konrad H., Die unverhoffte Einheit 1989-1990, Frankfurt am Main 1995; Maier, Charles S., Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt am Main 1999.
Der andere Blick
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Das im Januar 1990 von Wolfgang Ullmann, Konrad Weiss und Ulrike Poppe von „Demokratie Jetzt (DJ)“ formulierte Europakonzept spiegelt sowohl die vorausgegangenen Diskussionen ostdeutscher Oppositionsgruppen als auch die in Bewegung geratene internationale Situation.6 Ein erster, aus der Erinnerung an die Weltkriege begründeter Punkt betont die „besondere Friedensverantwortung der Deutschen“ als außenpolitische Maxime. Diese Leitvorstellung ist ein Produkt eines ganzen Jahrzehnts von Diskussionen innerhalb der ostdeutschen Friedensbewegung, die sich mit dem Symbol „Schwerter zu Pflugscharen“ im Umkreis der evangelischen Kirche gebildet hatte, um beide Blöcke vor der Gefahr eines Nuklearkriegs zu warnen. Diese Herausforderung durch ihr eigenes, gegen den Westen gewendetes Propagandathema hatte die SED besonders irritiert, so dass sie auf pazifistische Kritik der Militarisierung der ostdeutschen Gesellschaft mit ziemlicher Intoleranz reagierte. Die Dissidenten leiteten daraus Forderungen nach gegenseitigen „Sicherheitsgarantien“ auf dem Wege zu einem „europäischen Sicherheitssystem“ sowie nach einer allgemeinen „Abrüstung in Ost und West“ ab.7 Ein zweites programmatisches Element ist die außenpolitische Absicherung des ostmitteleuropäischen Reformprozesses, die den Zusammenhang zwischen der eigenen Demokratisierung und der Stabilisierung von Reformen im gesamten Europa verdeutlicht. Die weitgehende Entmachtung der „kommunistischen Despotie“ eines aufgezwungenen Stalinismus wird in seinem Kern als „ein Befreiungs- und Emanzipationsprozess“ verstanden, der ohne internationale Unterstützung gefährdet bleibt. „Die Demokratisierung der Gesellschaften im Innern verlangt nach einer außenpolitischen Entsprechung“, die eine Wiederholung sowjetischer Gewaltandrohung oder -anwendung im Ostblock wie in den Jahren 1953, 1956, 1968 und 1981 verhindern soll.8 Obwohl das westeuropäische Vorbild von Menschenrechten und parlamentarischer Demokratie nicht ausdrücklich erwähnt wird, ist das Ziel „eines freien, demokratischen und sozial gerechten Europas“ doch auch daraus abgeleitet. Der Mechanismus der erhofften Absicherung, nämlich „der KSZE-Prozess“, deutet ebenso auf die zentrale Bedeutung der im Korb III enthaltenen Grundrechte hin. Eine dritte Dimension betrifft die historisch belastete Frage der deutschen Vereinigung, die sich durch die Verminderung des Blockgegensatzes mit neuer Dringlichkeit stellte. Die Mehrheit der Bürgerbewegung war eher skeptisch, weil sie den inneren Reformprozess fortsetzen wollte und sich vor der westlichen Übermacht und der Wiedereinführung des Kapitalismus sorgte. Dennoch gerieten die Oppositionsgruppen nach dem Mauerfall durch den Umschwung der Stimmung in der Bevölkerung und auch durch den Wunsch der ostmitteleuropäischen Nachbarn nach einer „Rückkehr nach Europa“ unter Zugzwang. Ein Versuch des Auswegs aus diesem Dilemma war der Dreistu—————— 6 7 8
Fischbeck, Hans-Jürgen; Mehlhorn, Ludwig; Ullmann, Wolfgang; Weiss, Konrad, Aufruf zur Einmischung, in: Die Tageszeitung (taz), 12. 9. 1989; vgl. Poppe, Ulrike, Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“, in: Knabe, Hubertus (Hg)., Aufbruch in eine andere DDR, Reinbek 1989, S. 160-162. Zitate in diesem und den nächsten Absätzen aus dem Programmdokument von „Demokratie Jetzt“ (wie Anm. 6). Vgl. Timmer, Karsten, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000, S. 175ff. Bispinck, Henrik; Danyel, Jürgen; Hertle, Hans-Hermann; Wentker, Hermann (Hg.), Aufstände im Ostblock. Zur Krisengeschichte des realen Sozialismus, Berlin 2004.
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Konrad H. Jarausch
fenplan von „Demokratie Jetzt“ vom 14. Dezember, der ein ausgefeiltes Szenario zur schrittweisen Herstellung staatlicher Einheit anbot: Die erste Stufe forderte die „Durchführung grundlegender politischer und gesellschaftlicher Reformen in der DDR“, die zweite Stufe schlug einen „Nationalvertrag“ zwischen DDR und BRD vor, erst die dritte Stufe sollte einen „Bund deutscher Länder“ schaffen.9 Der Europaplan von DJ konstatiert daher lapidar „Die Lösung unserer nationalen Frage ist mit der Überwindung der Teilung Europas verbunden“. Der westeuropäische Integrationsprozess10 taucht daher in diesem Schlüsseldokument der ostdeutschen Bürgerbewegung nur ganz am Rande auf. Zwar wird die Sorge vor einer „neuen Destabilisierung in Europa“ durch das „wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Ost und West“ angesprochen und vor einem „Scheitern der Reformpolitik in Osteuropa“ gewarnt. Aber aus dem Appell an „die Idee eines gemeinsamen Europas der Völker“ folgen keine konkreten Forderungen auf finanzielle Unterstützung der wirtschaftlichen Reformen von Seiten der Brüsseler Kommission. Der Europaplan formuliert nur die etwas vage Hoffnung, dass zusammen mit der Bundesrepublik darauf hingewirkt werden müsse, „daß für alle europäischen Länder ein gleichberechtigter Zugang zur EG ermöglicht wird“. Da die Europäische Gemeinschaft also weit hinter den Fragen des Friedens, der Menschenrechte und der nationalen Einheit rangiert, scheint sie für den Sturz des kommunistischen Jochs und die „Lösung der globalen Menschheitsprobleme“ kaum relevant zu sein. Die Resonanz solcher Europavorstellungen blieb auch in den Programmen der anderen Gruppierungen durchaus begrenzt. Zwar fordert das Leipziger Programm des „Demokratischen Aufbruchs“ vom 16./17. Dezember 1989 „eine deutsche staatliche Einheit in einer europäischen Friedensordnung“. Aber die Hinweise auf das „europäische Haus“, eine „unverbrüchliche Friedensordnung“ und das „politische und wirtschaftliche Gefälle“ zwischen Ost und West sind ziemlich unscharf. Ähnlich verhält es sich mit dem Hallenser Programm des Neuen Forums vom 9./11. Februar 1990, das ebenso die „nationale Frage und europäische Friedensordnung“ anspricht. Auch hier wird die Wiedervereinigung zwar als Motor für „die europäische Einigung“ im Kontext von Entmilitarisierung erwähnt, aber dieser Vorschlag wird nicht weiter ausgeführt. Bei den Grünen, dem Unabhängigen Frauenverband oder der Vereinigten Linken fehlt jeder Hinweis auf Europa. Nur im Wahlprogramm von Bündnis 90 taucht die „europäische Friedensordnung“ noch einmal im Kontext von Entmilitarisierung und Garantie der Oder-Neiße-Grenze auf. Diese Aussagen suggerieren, dass Europa in den Konzepten der Bürgerbewegung nur eine geringe Priorität besaß.11 Der ostdeutsche Blick auf Europa war daher ein anderer als in den ostmitteleuropäischen Nachbarländern oder der Bundesrepublik. Einerseits diskutierten seit dem programmatischen Aufsatz von Milan Kundera über Mitteleuropa im Jahre 1983 tschechische, polnische und ungarische Intellektuelle über die Notwendigkeit der Wiederan—————— 9
Zimmerling, Zeno und Sabine (Hg.), Neue Chronik DDR, 3. Folge: 24. November-22. Dezember 1989, Berlin 1990, S. 85-87; vgl. auch Gransow, Volker und Jarausch, Konrad H. (Hg.), Die deutsche Vereinigung. Dokumente zu Bürgerbewegung, Annäherung und Beitritt, Köln 1991, S. 110f. 10 Loth, Wilfried, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration 1939-1957, 3. Aufl., Göttingen 1996. 11 Müller-Enbergs (wie Anm. 3), S. 82f, 128f., 162f.
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knüpfung von Beziehungen zum Westen und revidierten deswegen auch ihre Haltung zur Frage der deutschen Einheit.12 Andererseits konnten seit den frühen Nachkriegsjahren westdeutsche Meinungsführer selbst den westlichen Integrationsprozess mitgestalten, in dem der Ostblock eher als Chiffre einer Bedrohung fungierte, weshalb sich das Abendland zusammenschließen müsse.13 Dagegen blockierte in Ostdeutschland das Tabu der Wiedervereinigung lange das Europathema, so dass es erst mit dem demokratischen Aufbruch wieder am Horizont auftauchte. Weil Europa mehr als Synonym für Frieden und Demokratie, denn als praktischer Rahmen für Einheit und Zusammenarbeit galt, blieben Integrationshoffnungen im ostdeutschen Bewusstsein eher blass. Quelle Nr. 7.7 Programm des ersten Landesvertretertreffens von „Demokratie Jetzt“, 19.-21. Januar 1990: „Für ein gemeinsames Europa – außenpolitische Orientierung“14 Eine neue Außenpolitik der DDR muß der Versuchung widerstehen, sich einseitig auf die deutsche Frage zu konzentrieren. Sie wird eine eigene Rolle in und für Europa und Deutschland nur spielen können, wenn sie die wirtschafts- und sicherheitspolitischen Interessen ihrer Nachbarn im Osten angemessen berücksichtigt. Aus der europäischen Mittellage und der Last unserer Geschichte ergibt sich eine besondere Friedensverantwortung der Deutschen, die das außenpolitische Handeln bestimmen muß. Die Lösung unserer nationalen Frage ist mit der Überwindung der Teilung Europas eng verbunden. Der Widerstand der osteuropäischen Völker gegen den ihnen aufgezwungenen Stalinismus hat die kommunistischen Despotien weitgehend entmachtet. Dieser Widerstand hat die Völker große Opfer gekostet. Deshalb ist der Wandel in unseren Ländern in seinem Kern ein Befreiungs- und Emanzipationsprozeß. Die Demokratisierung der Gesellschaften im Innern verlangt nach einer außenpolitischen Entsprechung. Die Neuordnung der Beziehungen zwischen den Staaten muß die Neugestaltung der Beziehungen zwischen den Völkern und Gesellschaften zum Ziel haben. Der KSZE-Prozeß ist das wirksamste Instrument zur Förderung von Stabilität und Kooperation in Europa. Der Prozeß der Demokratisierung in Osteuropa hat die Konfrontation politisch und militärisch weitgehend aufgehoben. Das wirtschaftliche Ungleichgewicht zwischen Ost und West kann aber zu einer neuen Destabilisierung führen. Ein Scheitern der Reformpolitik in Osteuropa würde also nicht nur die Völker Osteuropas in eine aussichtslose Lage bringen, mit allen Unberechenbarkeiten, sondern auch die wirtschaftliche, soziale und demokratische Entwicklung in Ost- und Westeuropa hemmen. Die Idee eines gemeinsamen Europas der Völker wäre für lange Zeit verloren, die ökologischen Probleme und der Nord-Süd-Konflikt würden verstärkt auf Europa und die ganze Welt zurückwirken. Eine neue Außenpolitik der DDR muß sich dem Ziel eines freien, demokratischen und sozial gerechten Europa verpflichtet wissen, welches seine intellektuellen, politischen und ökologischen Potenzen in den Dienst der Lösung der globalen Menschheitsprobleme stellt.
—————— 12 Thum, Gregor, „Europa“ im Ostblock. Weiße Flecken in der Geschichte der europäischen Integration, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), S. 379-395. 13 Jarausch, Konrad H., Zeitgeschichte zwischen Nation und Europa. Eine transnationale Herausforderung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 39/2004, S. 3-10. 14 Punkt 5 des Programms von „Demokratie Jetzt“, zitiert aus Müller-Enbergs, Helmut (Hg.), Was will die Bürgerbewegung?, Augsburg 1992, S. 60-61.
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Konrad H. Jarausch
Nach Jahrzehnten der Abgrenzung und der machtpolitischen Instrumentalisierung durch die Interessen einer Partei muß eine neue Außenpolitik nunmehr internationale Kooperation und Verständigung auf allen Ebenen und in allen Bereichen fördern. Im Einzelnen heißt das: Die demokratischen Reformen in Osteuropa und die Wahrung der Souveränität dieser Staaten müssen im Interesse des Selbstbestimmungsrechtes der Völker und in unserem internationalen Interesse außenpolitisch abgesichert werden. Die destabilisierenden Wirkungen der Entwicklung in Osteuropa sind durch politische Sicherheitsgarantien dieser Staaten untereinander und gegenüber der Sowjetunion so lange zu kompensieren, bis ein System der kollektiven Sicherheit in Europa geschaffen ist. Die Abrüstung in Ost und West und die weitgehende Entmilitarisierung der beiden deutschen Staaten müssen energisch vorangetrieben werden. Es ist auf die baldige Auflösung der beiden Blöcke hinzuwirken mit dem Ziel, diese in ein europäisches Sicherheitssystem zu überführen. Gegenüber der EG muß gemeinsam mit der Bundesrepublik darauf hingewirkt werden, daß für alle europäischen Länder ein gleichberechtigter Zugang zur EG ermöglicht wird. Alle gesellschaftlichen Initiativen zur Verständigung und Begegnung der Menschen müssen tatkräftig gefördert werden. Hierin findet das Selbstverständnis unserer Bürgerbewegung seinen besonderen politischen Ausdruck.
Literatur Jarausch, Konrad H., Die unverhoffte Einheit 1989-1990, Frankfurt am Main 1995 Korte, Karl-Rudolf u.a., Geschichte der deutschen Einheit, 4 Bde., Stuttgart 1998 Maier, Charles S., Das Verschwinden der DDR und der Untergang des Kommunismus, Frankfurt am Main 1999 Neubert, Ehrhart, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Berlin 1997 Timmer, Karsten, Vom Aufbruch zum Umbruch. Die Bürgerbewegung in der DDR 1989, Göttingen 2000
BOLOGNA UND KEIN ENDE. DIE ITERATIVE KONSTITUTION EINES EUROPÄISCHEN HOCHSCHULRAUMS1 Von Jürgen Schriewer „An der Basis der modernen sozialen Ordnung steht nicht der Henker, sondern der Professor“, heißt es in einer Schlüsselpassage von Ernest Gellners Buch über Nationalismus und Moderne. In plastischen Formulierungen arbeitet Gellner darin den engen Zusammenhang von Nationalismus, kultureller Homogenisierung und dem Aufbau nationaler Bildungssysteme in der Geschichte des modernen Europa heraus, um dann fortzufahren: „Nicht die Guillotine, sondern das (passend benannte) Doctorat d'État – oder das deutsche Staatsexamen – bildet das wichtigste Werkzeug und Symbol moderner staatlicher Macht. Das Erziehungsmonopol ist heute weitaus wichtiger und zentraler als das Monopol auf die legitime Gewalt.“2 Heißt das aber, dass die Ersetzung des französischen Doctorat d'Etat durch einen am angelsächsischen PhD ausgerichteten Doktorgrad schon seit den 1980er Jahren oder die derzeit laufende Substitution deutscher Staatsexamina durch gestufte BA- und MAAbschlüsse die Auflösung nationalstaatlicher Machtmonopole anzeigen? Indizieren, anders formuliert, die mit der „Gemeinsamen Erklärung der Europäischen Bildungsminister“ vom Juni 1999 proklamierten Absichten, einen „europäischen Hochschulraum“ zu verwirklichen3, zugleich auch weitergehende transnationale Strukturbildungen auf europäischer Ebene? Historische Analogieschlüsse dieser Tragweite mögen derzeit eher spekulativer Natur sein. Sicher ist gleichwohl, dass der mit der Erklärung von Bologna vereinbarte Harmonisierungsprozess einen tiefgreifenden Einschnitt in der neueren Universitätsgeschichte Europas, und zumal in der deutschen Universitätstradition darstellt. Dies umso mehr, als der so genannte „Bologna-Prozess“ nicht nur den universitären Binnenraum betrifft. Aufgrund der vielfältigen Verzahnungen zwischen Hochschulstudium und gesellschaftlicher Differenzierung, universitärer Bildung und kollektiven Identitäten sowie zwischen akademischen Innovationspotentialen und der Fortentwicklung technologiebasierter Volkswirtschaften wird dieser Prozess weitreichende Konsequenzen für die einbezogenen europäischen Gesellschaften insgesamt haben. Entgegen dem äußeren Anschein stellt die Deklaration von Bologna keinen Alleingang europäischer Bildungsminister dar. Sie ist vielmehr Glied in einer noch unabgeschlossenen Kette von Manifesten, Programmen und Vereinbarungen auf europäischer Ebene. Sie muss daher als eine, wenngleich maßgebliche und insofern namensprägende Etappe in einem übergreifenden Prozess gesehen werden, der in zum Teil spannungsrei—————— 1 2 3
Essay zur Quelle Nr. 7.8, Die Bologna Deklaration der Europäischen Bildungsminister vom Juni 1999. Gellner, Ernest, Nationalismus und Moderne, Hamburg 1995, S. 56f. Vgl. Quelle Nr. 7.8 bzw. Der Europäische Hochschulraum, in: (05.12.04).
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Jürgen Schriewer
cher Weise mit dem europäischen Einigungsprozess selbst zusammenhängt. Seine wesentlichen Momente sind durch folgende Daten markiert: 1988 – Die Europäische Rektorenkonferenz verabschiedet, ebenfalls in Bologna, ihre Magna Charta Universitatum, ein Dokument, das sozusagen zwischen den Zeiten steht.4 Zum einen bekräftigt die Charta, noch ganz der Tradition verhaftet, die seit dem 19. Jahrhundert hochgehaltenen Grundsätze europäischer Universitäten: ihre Autonomie, die Freiheit von Lehre und Forschung sowie die Verbindung beider im Rahmen der modernen Forschungsuniversität. Zum anderen aber, und das macht die Charta zum Referenzpunkt auch der folgenden Vereinbarungen, fordert sie explizit die verstärkte Mobilität von Studierenden und Lehrenden sowie, als notwendige Voraussetzung dafür, flankierende Anerkennungs- und Äquivalenzregeln. 1992 – Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaften unterzeichnen den Vertrag von Maastricht über die Gründung der Europäischen Union.5 Seine Regelungen tragen unverkennbar den Charakter nicht ganz widerspruchsfreier Kompromisse, lösen aber gerade damit eine vorwärts weisende Dynamik aus. Auf der einen Seite nämlich erweitert der Maastrichter Vertrag die Rahmenzuständigkeit der Union über die Berufsausbildung hinaus auch auf das allgemeine Bildungswesen, schließt jedoch zugleich in den Artikeln 126 und 127 „jegliche Harmonisierung der [entsprechenden] Gesetze und Regelungen der Mitgliedstaaten“ explizit aus. Auf der anderen Seite haben eben diese Artikel, indem sie erneut die Mobilität von Studierenden und Lehrenden einfordern, nicht nur die Erfolgsgeschichte der mit erheblichen Ressourcen ausgestatteten europäischen Mobilitätsprogramme Socrates und Leonardo da Vinci begründet. Diese Programme haben dann auch verstärkt den Bedarf an wechselseitiger Anerkennung von Studienleistungen nach sich gezogen und insofern die Definition des als Übersetzungshilfe konzipierten European Credit Transfer System (ECTS) maßgeblich befördert.6 1997 – Die Mitgliedstaaten des Europarats und der europäischen Region der Unesco regeln mit der sogenannten Lisbon Recognition Convention die wechselseitige Anerkennung von Hochschulqualifikationen.7 Dieses Abkommen entspricht noch ganz der mit dem Maastrichter Vertrag bekräftigten Linie der Harmonisierungs-Vermeidung und des Subsidiaritätsprinzips. Sein Regelungsbereich konzentriert sich ausschließlich auf die rechtsförmige Präzisierung von diskriminierungsfreien und objektivierenden Verfahren der wechselseitigen Einschätzung und Anerkennung von Hochschulqualifikationen zwischen den Vertragsstaaten. Zukunftsweisend ist dieses Abkommen aber darin, dass es zur Förderung der Transparenz erstmals das Instrument des Diploma Supplement, des kommentierenden Zeugnis-Zusatzes, in ein internationales Abkommen einführt. —————— 4 5 6 7
Magna Charta Universitatum, in: (05.12.04). The Maastricht Treaty, in: (05.12.04). Europäisches System zur Anrechnung, Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen (ECTS) – Kernpunkte, in: (05.12.04). Convention on the recognition of qualifications concerning higher education in the European region, in: (05.12.04).
Bologna und kein Ende
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1998 – Aus Anlass der 800-Jahr-Feiern der Pariser Sorbonne verabschieden die Bildungs- bzw. Hochschulminister Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens und Italiens die Gemeinsame Erklärung über die Harmonisierung der Architektur des Europäischen Hochschulsystems.8 Diese im Alleingang von vier Staaten verantwortete Erklärung bedeutet einen Durchbruch in mehrfacher Hinsicht. Sie versteht sich politisch als Protest gegen die Unbeweglichkeit der Europäischen Institutionen. Erstmals bricht sie zudem mit den bisherigen Reserven der europäischen Verträge, indem sie sich explizit für eine „zunehmende Harmonisierung der grundlegenden Struktur unserer Studienabschnitte und –abschlüsse“ ausspricht. Schließlich erwächst sie vor dem Hintergrund spezifischer Problemkonstellationen auf einzelstaatlicher Ebene, propagiert aber deren Lösung durch bewusste Europäisierung. „Moderniser la trame en se servant de l'Europe“ – Modernisierung der Strukturen im Rekurs auf Europa – ist erklärtermaßen die vom einladenden französischen Erziehungs- und Forschungsminister Claude Allègre verfolgte Methode.9 In diesem Sinne präsentiert ein von Allègre hochkarätig zusammengesetztes Expertenkomitee die Blaupause für „Ein europäisches Hochschulmodell“.10 Es verspricht, die unterschiedlichen Probleme zugleich und gleichermaßen zu lösen: zum einen den Großteil der Universitätsstudenten nach drei Jahren mit einem berufsqualifizierenden Abschluss ins Berufsleben zu entlassen, zum anderen die in Jahrhunderten verfestigte Spaltung des französischen Hochschulsystems in einen international nicht mehr wettbewerbsfähigen Elitesektor und die Universitäten für die große Masse im Rahmen eines für beide Sektoren gültigen Studiensystems sukzessive zu überwinden. Als „modèle bac+3, bac+5, bac+8“ oder „Licence-Master-Doctorat“- bzw. „Bachelor-Master-Promotions“-Modell beherrscht dieser Grundgedanke seither die Deklarationen und Diskussionen. Sowohl aufgrund ihrer allgemeinen Zielsetzungen und neuen Leitvisionen wie auch mit den propagierten Maßnahmen stellt die SorbonneErklärung von 1998 insofern die unmittelbare Vorstufe für die Folgeetappe dar: 1999 – Die im Juni 1999 in Bologna verabschiedete Gemeinsame Erklärung der Europäischen Bildungsminister selbst. In unverkennbarer Erinnerung an die Funktionen, die im 19. Jahrhundert die Universitäten – in gewiss variablen Formen – für die Nationsbildung der europäischen Staaten wahrgenommen haben, steckt diese Deklaration übergreifende Zielsetzungen ab, die die 29 Unterzeichnerstaaten auf die „Gesamtentwicklung des Kontinents“ verpflichten. Dazu zählen zunächst allgemeine gesellschafts- und kulturpolitische Ziele wie die Konsolidierung einer „europäischen Bürgerschaft“, die Stärkung von Frieden und Demokratie sowie die Vermittlung eines generalisierten Bewusstseins der Zugehörigkeit zu einer „Wertegemeinschaft“ und einem „gemeinsamen Sozial- und Kulturraum“. Gleichberechtigt daneben treten dann aber auch sehr handfeste Ziele im Dienste der kollektiven Selbstbehauptung des Kontinents in einer globalisierten Umwelt: die Förderung der „arbeitsmarktbezogenen Qualifizierung“ seiner Bürger, die Verwirklichung eines „Europas des Wissens“ als Basis für die —————— 8
Joint declaration on harmonisation of the architecture of the European higher education system, in: (05.12.04). 9 Allègre, Claude, Toute vérité est bonne à dire. Entretiens avec Laurent Joffrin, Paris 2000, S. 263ff. Analog die nachträglichen Rechtfertigungen des italienischen Erziehungsministers Berlinguer, Luigi, La scuola nuova, Rom 2001, S. 136. 10 Attali, Jacques (Hg.), Pour un modèle européen d'enseignement supérieur, Paris 1998.
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Jürgen Schriewer
Bewältigung der Herausforderungen des neuen Millenniums, die Stärkung der „internationalen Wettbewerbsfähigkeit“ des europäischen Hochschulsystems und die Sicherung seiner (den eigenen Kultur- und Wissenschaftstraditionen adäquaten) „weltweiten Anziehungskraft“. Im Dienste solcher Zielsetzungen stehen schließlich die institutionellen Regelungen, die seither die Hochschulreformdebatten und –planungen nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten europäischen Ländern bestimmen: die Einführung eines koordinierten Systems vergleichbarer und transparenter Abschlüsse, unter anderem aufgrund der Anfügung erläuternder Diploma Supplements; die Durchsetzung eines gestuften Studiensystems, dessen erster Zyklus mindestens drei Jahre umfassen und mit einer „arbeitsmarktrelevanten“ Qualifizierung abgeschlossen werden soll; die Einführung eines dem European Credit Transfer System (ECTS) analogen Leistungspunktesystems; die intensive Förderung der Mobilität von Studierenden und Lehrenden; die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Qualitätssicherung; die Förderung der „europäischen Dimension“ auch in inhaltlicher Hinsicht (im Bereich der Hochschul-Curricula etwa oder der Forschungskooperationen). 2001ff. – In Konsequenz der 1998 und 1999 in Gang gesetzten Umstrukturierungen finden seither im zweijährigen Turnus Folgekonferenzen statt. Nach den Ministertreffen in Prag im Jahre 2001 und Berlin im September 2003 ist die nächste Konferenz für das Frühjahr 2005 in Bergen geplant. Die Abschlusskommuniqués dieser Konferenzen halten nicht nur die sukzessive Erweiterung des Kreises der Vertragspartner von 29 über 33 auf derzeit 40 Staaten fest.11 Sie reflektieren vielmehr auch, ungeachtet aller diplomatischen Rhetorik, eine gleitende Umgewichtung bzw. Ausweitung der mit dem BolognaProzess verfolgten Zielsetzungen: Neben die europaweite Mobilität – von Studierenden, Lehrenden und Verwaltungspersonal – tritt, wie schon in der Deklaration von 1999 vorgezeichnet, immer stärker die Betonung der globalen Attraktivität des Europäischen Hochschulsystems und seiner Anziehungskraft gerade auch für überseeische Studierende. Die Beschwörung von Vielfalt und Diversität der europäischen Hochschulsysteme (wie es bis zum Lissabonner Anerkennungs-Abkommen heißt) wird überlagert durch die Sorge um die Sicherung der Qualität des einen europäischen Hochschulsystems (so die bevorzugte Sprachregelung seit Bologna 1999). Zugleich rückt die gemeinschaftlich abgestimmte Qualitätssicherung an die Spitze aller vereinbarten Maßnahmen und zieht – ausgezeichnet als „Herzstück“ bei der Verwirklichung des Europäischen Hochschulsystems – die entsprechende Aufwertung des 1998 ins Leben gerufenen transnationalen European Network of Quality Assurance (ENQA) nach sich.12 Darüber hinaus wird die Förderung des Europäischen Hochschulraums um eine gleichberechtigte zweite Säule, —————— 11 Towards the European higher education area. Communiqué of the meeting of European ministers in charge of higher education in Prague on May 19th 2001, in: (05.12.04). Realising the European higher education area. Communiqué of the conference of ministers responsible for higher education in Berlin on 19 September 2003, in: (05.12.04). 12 European Network for Quality Assurance in Higher Education, in: (05.12.04).
Bologna und kein Ende
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die Stärkung des Europäischen Forschungsraums, ergänzt. Schließlich werden, damit einhergehend, die in den früheren europäischen Vereinbarungen im Vordergrund stehenden sozial- und kulturpolitischen Zielsetzungen gebündelt und überhöht in der Vision einer im Medium von Technologie und Wissenschaft wettbewerbsfähigen Wissensgesellschaft und wissensbasierten Wirtschaft. 2000 – Mit solchen Umgewichtungen können sich die Abschlusskommuniqués von Prag und Berlin auf ein weiteres, in der Zwischenzeit verabschiedetes Schlüsseldokument beziehen. Dabei handelt es sich nicht um ein Abkommen der (über die EU hinaus) erweiterten Runde europäischer Bildungs- oder Hochschulminister. Gemeint ist vielmehr die von den Staats- und Regierungschefs der Union auf ihrem Gipfeltreffen in Lissabon im März 2000 beschlossene sogenannte Lissabon-Strategie, mithin ein Dokument von ungleich stärkerer politischer Bindungskraft. Es bettet die Bildungs- und Forschungspolitik zusammen mit Sozial-, Beschäftigungs- und Wirtschaftspolitik in den umfassenderen Kontext der neuen Herausforderungen ein, die mit der Globalisierung wirtschaftlicher Zusammenhänge und der sprunghaften Vermehrung wissenschaftlichtechnologischen Wissens zugleich und gleichermaßen verbunden sind. Angesichts des „quantum shift“, so heißt es dort, „resulting from globalisation and the challenges of a new knowledge-driven economy […] the Union has today set itself a new strategic goal for the next decade: to become the most competitive and dynamic knowledge-based economy in the world“.13 Diese – eher summarisch und ohne Anspruch auf Vollständigkeit skizzierte – Sequenz von Manifesten, Vereinbarungen, Verträgen und EU-Ratsbeschlüssen ist gerade in ihrer sequentiellen Struktur ein unentbehrlicher Schlüssel für das Verständnis des unter dem Titel „Bologna“ laufenden Prozesses. Ganz ähnlich nämlich wie in anderen Feldern der EU-Politik, der Einführung des Euro etwa oder der seither verfolgten Erweiterungspolitik, setzen die iterativ wieder aufgenommenen, bekräftigten und erweiterten politischen Bekenntnisse, Strategien und Absichtserklärungen Meinungsbildungsprozesse in Gang, die ihre eigene Dynamik und Wirkungsmächtigkeit entfalten. Sie werden ab einer bestimmten Schwelle politisch unumkehrbar und binden die verantwortlichen Entscheidungsträger zunehmend alternativlos ein. Eine distanzierte Analyse des Bologna-Prozesses kommt insofern nicht umhin, diese dem Prozess als Prozess innewohnende Eigendynamik gebührend zu unterstreichen. Dem widerspricht auf der anderen Seite nicht die Einsicht, dass die Umsetzung der im Namen von „Bologna“ verfolgten Harmonisierungs- und Koordinierungsstrategien in den beteiligten Vertragsstaaten selbst weder nahtlos noch gleichförmig verläuft. Denn nicht weniger folgenreich als die Eigendynamik politischer Willensbildungssequenzen sind die variierenden Deutungen, Adaptionen und Transformationen, denen die auf transnationaler Ebene beschlossenen Ziele und Instrumente im Kontext jedes einzelnen Vertragslandes ausgesetzt waren und sind. Wie nicht zuletzt die Vier-MinisterDeklaration vom Frühjahr 1998 zeigt, werden die offiziellen europäischen Zielsetzungen von Anfang an durch spezifische Problemkonstellationen auf einzelstaatlicher Ebene, durch entsprechend eingefärbte Problemwahrnehmungen und mit ihnen zusammen—————— 13 Presidency Conclusions. Lisbon European Council. 23 and 24 March 2000, S. 1-2, in: