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German Pages [391] Year 2022
Welten der Philosophie 20 Sarah Eichner
Ethos des Unverfügbaren Zur Gestalt der Erde im Yijing (Buch der Wandlungen)
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495999455
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B
WELTEN DER PHILOSOPHIE
A
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Welten der Philosophie 20 Wissenschaftlicher Beirat: Claudia Bickmann †, Rolf Elberfeld, Geert Hendrich, Heinz Kimmerle †, Kai Kresse, Ram Adhar Mall, Hans-Georg Moeller, Ryôsuke Ohashi, Heiner Roetz, Ulrich Rudolph, Hans Rainer Sepp, Georg Stenger, Franz Martin Wimmer, Günter Wohlfart und Ichirô Yamaguchi
https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Sarah Eichner
Ethos des Unverfügbaren Zur Gestalt der Erde im Yijing (Buch der Wandlungen)
Verlag Karl Alber Baden-Baden https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Sarah Eichner Ethos of the Non-Manipulable The Figure of the Earth in the Yijing (Book of Changes) The present book aims at developing a differential understanding of the figure of the earth (Kūn) in the Yijing (Book of Changes) in critical contrast to the traditional interpretation of this sign. Its approach to Kūn follows a transversal reading, i. e. a comparative use of phenomenological, ontological and deconstructive approaches. The attempt to show the subversive potential of Kūn in the Yijing should not only to be understood as a basis for a new approach to the ›changes‹ but is also intended to contribute to the design of an ethos of the non-manipulable and a phenomenology of the earth based on it.
The Author: Sarah Eichner studied Philosophy and Philosophy of Religion in Freiburg and Heidelberg. Her main research areas are the thinking of the Yijing, phenomenology, ethics and aesthetics of nature, environmental philosophy as well as deconstructive, feminist and alternative ontological conceptions.
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Sarah Eichner Ethos des Unverfügbaren Zur Gestalt der Erde im Yijing (Buch der Wandlungen) Das vorliegende Buch zielt auf die Entfaltung eines differenzialistischen Verständnisses der Gestalt der Erde (Kūn) im Yijing (Buch der Wandlungen) in kritischer Abgrenzung zu der Auslegung dieses Zeichens in den traditionellen Überlieferungen. Die Annäherung an Kūn erfolgt durch eine transversale Lesart, d. h. eines komparativen Gebrauchs von phänomenologischen, ontologischen und dekonstruktiven Denkansätzen. Der Versuch, das subversive Potential von Kūn im Yijing zur Geltung zu bringen, versteht sich nicht nur als Basis für einen Neuzugang zu den ›Wandlungen‹, sondern soll zugleich zu dem Entwurf eines Ethos des Unverfügbaren und einer darauf basierenden Phänomenologie der Erde beitragen.
Zur Autorin: Sarah Eichner hat Philosophie und Religionsphilosophie in Freiburg und Heidelberg studiert und beschäftigt sich mit dem Denken des Yijing, der Phänomenologie, Naturethik, Naturästhetik, Umweltphilosophie sowie dekonstruktivistischen, feministischen und alternativen ontologischen Denkansätzen.
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Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) im Rahmen der Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder – EXC 212 »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne«.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2022 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-99944-8 eISBN 978-3-495-99945-5
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Bleibt mir der Erde treu, meine Brüder! Also sprach Zarathustra
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Teil I – Chora und Physis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Chora als das Raumgebende . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Chora: Der Chasmus im Timaios . . . . . . . . . . 1.2 Die Grundkonstellation im Timaios . . . . . . . . . 1.3 Chora und ihr Bezug zur mythologischen Gestalt der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Chora als Denkfigur radikaler Differenz . . . . . . 1.5 Die Matrix als anfänglich Verdrängtes . . . . . . . 2. Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung . . . . . . . 2.1 Das Edle der Physis: Die Unscheinbarkeit . . . . . . 2.2 Erde und Natur im Licht der Physis . . . . . . . . . 2.3 Die Lichtmacht des Seins: Finks Kritik an Heideggers Physis-Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Die Auf-gabe des Denkens: Das unaufhebbare SichVerbergen der Physis . . . . . . . . . . . . . . . .
49 49 49 55
Teil II – Kūn: Das Sich-Fügen der Erde. Eine kritische Relektüre der Überlieferungen des Yijing . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung in das Yijing . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zur Geschichte des Yijing: Divination, Macht und Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Der Aufbau des Yijing . . . . . . . . . . . . . . . 2. Kūn in dem Spruchwerk des Yijing: Die archaische Macht der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kūn in den Überlieferungen des Yijing: Die Gefügigkeit der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 76 84 88 90 98 103 107
117 117 117 126 134 140
9 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Inhaltsverzeichnis
4.
5. 6. 7.
Die Überlieferung des Urteils: Fügsamkeit als Konstituens der Herrschaftsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Herrschaft des Himmels . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gefügigkeit der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Der Sinn von Himmel und Erde: Herrschaft und Position . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wenyan-Überlieferung: Zeugungsmacht und territoriale Beherrschung . . . . . . . . . . . . . . . . Die Große Überlieferung: Topographien der Macht . . . Spruch, Zeichen und System: Zur Hermeneutik der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Zeichen als Ort der Gründung von Macht . . . 7.2 Der Mythos als Legitimationsgrund von Macht . . .
Teil III – Kūn und die Gottheit der Erde: Mythologische Schichten und religiöser Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Jade-Bild der Gottheit der Erde . . . . . . . . . . . 2. Hou Tu: Zum Status und Geschlecht der Gottheit der Erde 3. Die Ausradierung weiblicher Figuren aus der klassischen Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Hou Tu und ihre mythischen Figurationen . . . . . . . 5. Nü Wa und die Erschaffung des Menschen . . . . . . . 6. Erde und die Kontrolle über das Wasser . . . . . . . . . 7. Wasser als Grundmetapher des frühen chinesischen Denkens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Das Schriftzeichen Kūn: 巛 . . . . . . . . . . . . . . . Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Kūn . 1. Kūn in den Zeichen des Yijing . . . . . . . . . . . . . 2. Die Gestalt von Kūn: Uneingeschränkte Offenheit . . . 3. Ontologische Konsistenz und ontische Konsistenz: Methodologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . 4. Die Grunddynamik von Kūn in den Zeichen des Yijing 4.1 Kūn im Zeichen der Wiederkehr . . . . . . . . . 4.2 Kūn im Zeichen des Zerfalls . . . . . . . . . . . 4.3 Kūn im Zeichen der Ernährung . . . . . . . . . . 4.4 Kūn in den Zeichen der Minderung und Mehrung 10 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
142 148 157 161 170 175 193 193 199
203 204 209 216 222 230 233 236 239
. 245 . 246 . 250 . . . . . .
256 260 260 266 270 274
Inhaltsverzeichnis
5. 6.
4.5 Kūn in den Zeichen der Verfinsterung des Lichts und des Vorstoßens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das dao als Mutter der Welt . . . . . . . . . . . . . . . Frucht und Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Ethos des Unverfügbaren . . . . . . . . . . . . . 1. Kūn, Chora und Physis . . . . . . . . . . . . . 2. Kūn als Gottheit und Kraft . . . . . . . . . . . 2.1 Kūn und die Erziehung des Menschen . . . . . . 2.2 Kūn als Zeichen eines horizontalen Weltzuganges 3. Phänomenologie der Erde . . . . . . . . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
. . . . . .
276 282 288
. . . . . .
293 293 322 322 329 345
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
365
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
377
Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung
Es wirkt vielleicht enigmatisch, wenn eine philosophische Arbeit ausgehend von einer Zeichnung aus Strichen entwickelt wird. Dieses Strichmuster 1 stammt jedoch aus einem der ältesten und zugleich einflussreichsten Werke der antiken chinesischen Literatur, 2 dem Yijing: Buch der Wandlungen. 3 Oftmals wird es auch schlicht Yi (›Wandlungen‹) genannt, womit zugleich auf eine seiner maßgeblichen Bedeutungsschichten hingewiesen wird: Vor allem dem philosophischen Verständnis nach soll sich das Wort yi 易in dem Titel 易經 (Yijing) nämlich nicht nur auf das Werk als solches beziehen, sondern auch auf die Wandlungen selbst, d. h. das Wandlungsgeschehen der Wirklichkeit, das in den 64 Strichmustern des Yijing manifest sein soll. 4 Dass Wandlung die Grundidee des Yijing bildet, und die Siehe Abbildung 1. Das Yijing ist ursprünglich ein Orakelbuch aus der frühen Antike Chinas. Die Antike kann als der Zeitraum der Herrschaft der Zhou (1045–256 v. Chr.) und der ersten vier Jahrhunderte der Kaiserzeit betrachtet werden, welche die Dynastien Qin (221– 206 v. Chr.), Westliche Han (206 v. Chr. – 8 n. Chr.), Xin (9–23 n. Chr.) und Östliche Han (25–220 n. Chr.) umfasst. Die überlieferte Fassung des Yijing umfasst zwei Teile: Das Spruchwerk, das sich aus 64 Zeichen und den ihnen zugeordneten 450 Sprüchen zusammensetzt, und das Textkorpus einer anonym allegorischen und kommentierenden Auslegung. Die Niederschrift der Sprüche, deren Alter und Herkunft selbst schwer zu bestimmen ist, und ihre Zuordnung zu den Strich-Zeichen erfolgte vermutlich zwischen dem Ende des 9. und dem Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. und ist eng verbunden mit der Legitimation der Herrschaft der Zhou. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 253. 3 Die vorliegende Arbeit orientiert sich maßgeblich an der Übersetzung des Yijing von Dennis Schilling, die 2009 im Verlag der Weltreligionen erschienen ist: Yijing: Das Buch der Wandlungen, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Frankfurt a. M. und Leipzig 2009. Für die chinesischen Ausdrücke wurde in der vorliegenden Arbeit die Pinyin-Umschrift gewählt. Die anderen Umschriften, die teilweise in älteren Studien erscheinen, wurden im Original stehen gelassen. 4 Den formalen Ausgangspunkt für das Verständnis des Yijing als ›Buch der Wandlungen‹ bildet die Annahme, dass sich in einem Zeichen eine oder mehrere Linien 1 2
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Einleitung
frühen Überlieferungen des Yijing, insbesondere die sogenannte Große Überlieferung 5, als ein philosophischer Traktat über die Wandlung verstanden wird, prägte vor allen Dingen die Interpretation des Yijing in der Han-Zeit (ab dem 2. Jh. v. Chr.) und wurde von dort aus sinnbestimmend für die gesamte Sicht auf das Yijing in der darauffolgenden Zeit. 6 Das Yijing besteht also nicht nur aus geschriebenen Worten, sondern primär aus 64 spezifisch angeordneten Strichmustern. 7 Die 64 Strichmuster des Yijing können in sich selbst und in ihren vielfachen Bezügen zueinander als ein dynamisch verbundenes Kompositionsgefüge verstanden werden, worin sich ein spezifischer Bedeutungszusammenhang aufspannt. Im Yijing werden die Strichmuster unter anderem als xiang (›Bilder‹) 8 bezeichnet. 9 Für die Auffassung wandeln bzw. in ihr Gegenteil umschlagen können, d. h. eine durchgezogene Linie (harte Linie) sich zu einer geteilten (weichen) Linie und umgekehrt ›wandeln‹ kann. Vor dem Hintergrund einer Befragung des Orakels des Yijing ergeben sich daher stets zwei Zeichen: ein Grundzeichen, von dem die Wandlung ausgeht und ein Zielzeichen, in das die Wandlung übergeht (und das als Resultat eines Wandlungsprozesses verstanden werden kann). Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 341 f. 5 Die Große Überlieferung (Dazhuan), auch »Überlieferung der angehängten Sprüche« (Xicizhuan) genannt, ist eine Sammlung verschiedener Betrachtungen über den Aufbau, die Herkunft und Wirkung des Orakels des Yijing und zählt zu den bedeutendsten Texten der antiken philosophischen Literatur Chinas. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 270. 6 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung S. 341. Die Große Überlieferung stellt eine genaue Entsprechung zwischen den Phänomenen des ›Reiches von Himmel und Erde‹ (tian di) und den Zeichen und Linien (den Wandlungen) im Yijing her. Diese Sicht suggeriert eine Form von Kontinuität der Wandlungen, so dass zwischen den Zeichen und der kosmischen Wirklichkeit eine intrinsische Verbindung besteht. 7 Siehe Abbildung 2. In der westlichen Sinologie werden die Strichmuster als Hexagramme bezeichnet. Ein Hexagramm setzt sich aus zwei Trigrammen zusammen: Im Chinesischen werden sowohl Hexagramme als auch Trigramme als gua (»Orakelzeichen«) definiert. 8 Die Verwendung des Schriftzeichens xiang im Sinne von ›Bild‹ kommt das erste Mal in Texten vor, die auf die westliche Zhou-Zeit (spätes 9. Jhr. v. Chr.) zurückgehen. Anzunehmen ist, dass die Vorstellung der Zeichen als Bilder in den Auslegungstraditionen ab dem 4. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 319. 9 Ältere Bezeichnungen für die Zeichen sind ti (»Körper«) oder gua (»Zeichen«). Der Begriff ti steht ursprünglich im Zusammenhang des in der Divination verbreiteten Opferkultes und bezeichnet dort das Tier oder ein Körperteil des Tieres, das mit einer Gottheit, der Opfer erbracht werden, in enger Verbindung steht. Der Begriff ti und
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Einleitung
der Strichmuster als Bilder ist ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses zwischen dem Zeichen und seiner Wirkung maßgeblich. Ein xiang (›Bild‹) ist vor dem Hintergrund älterer Vorstellungen nämlich keineswegs als eine bloß optische Repräsentation von etwas zu verstehen, vielmehr muss es als etwas verstanden werden, von dem eine Wirkung ausgeht. Bereits zur Entstehungszeit des Yijing wurden die Zeichen als Embleme von Mächten und Gottheiten angesehen, denen Wirkungskräfte auf die Geschehnisse der Welt zugeschrieben wurden. 10 Die ältere Vorstellung von der Wirkung der Zeichen beruht dabei auf einer Art emblematischen Funktion, die eine Abbildung des Wirkens der jeweiligen Gottheit oder Macht in dem Zeichen durch den Namen meint. 11 Diese frühe Vorstellung der Zeichen als Embleme von Gottheiten werden von den Auslegungstraditionen in den Ausdruck xiang (›Bild‹) mit aufgenommen. 12 Dabei bezeichnet xiang nicht nur die emblematische Wirkung der Zeichen, sondern die Bildlichkeit der Zeichen selbst. 13 Der grundlegende Gedanke ist hierbei, dass der Name des Zeichens dem Zeichen nicht nur gegeben wird, sondern sich auch in seinem Linienbild manifestiert. 14 Sofern die Wirkung des Zeigua lässt auf eine Vorstellung der Korrelation zwischen dem Opfertier und der Gottheit auf Basis eines Wirkungsverhältnisses schließen. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 319. 10 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 319. Ihren Ursprung haben die Zeichen des Yijing vermutlich im Orakelwesen: Dem frühen Verständnis nach sind sie als Embleme von Natur- und Ahnengottheiten und die Sprüche als deren Botschaften zu verstehen. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 253. 11 Die emblematische Funktion fast Dennis Schilling folgendermaßen zusammen: Der Name des Zeichens gibt die Wirkung des Zeichens bekannt. Er bezeichnet ein Wirken, das dem Verhalten von Tieren nachgezeichnet ist. Hinter der Wirkung des Zeichens steht die Gottheit, der Eigenschaften nach diesem Verhaltensmuster zugesprochen werden, wodurch sich ihre Identität bestimmen lässt. Die Funktion der Zeichen als Embleme beruht auf der Namensgebung der Zeichen nach den Verhaltenseigenschaften. Die emblematische Funktion der Zeichen ist eine Abbildung des Wirkens der Gottheit in dem Zeichen durch den Namen. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 322. 12 Nach den Ausführungen der Großen Überlieferung sind die Zeichen Ausdruck der Tier- und Dingwelt und ihren Mustern. Der Sinn dahinter ist, dass die Zeichen damit wiederum auf die Welt der Dinge einwirken können, d. h., dass die Gleichartigkeit der Zeichen zu den Mustern der Welt es ermöglicht, mit den Kräften der Welt zu kommunizieren. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 325 f. 13 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 324. 14 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 324.
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Einleitung
chens sich sowohl im Namen als auch im Bild des Zeichens zeigt, muss zwischen dem Namen und dem Bild des Zeichens eine Relation bestehen. 15 Diese Relation beruht einerseits auf der unmittelbaren Bildlichkeit des Zeichens und andererseits auf der dem Zeichen zugesprochenen Symbolik. 16 Die Wirkkraft der Zeichen des Yijing drückt sich diesem Verständnis folgend also nicht nur in ihren Namen, sondern auch in ihrer unmittelbaren Bildlichkeit, ihrer Gestalthaftigkeit aus. In diesem Sinne der Manifestation der Wirkkraft des Zeichens in seiner unmittelbaren Bildlichkeit geht auch von derjenigen Gestalt eine besondere Wirkkraft aus, der diese Arbeit gewidmet ist: ䷁. Im Yijing trägt diese Gestalt den Namen Kūn. Das Zeichen Kūn gehört insgesamt zu den ältesten Schichten des Yijing, dessen sprachlicher Korpus archaisch und nur schwer zu fassen ist: Den sinologischen Forschungen nach zu urteilen, ist die etymologische Bedeutung des Namens des Zeichens unklar; auch ist die eigentliche Bedeutung des Zeichenbildes nicht bekannt. 17 Zumeist wird Kūn jedoch als Erde verstanden oder als etwas, das in einem engen Bezug zu der Erde bzw. der Erdgottheit steht. 18 In den Überlieferungen des Yijing wird Kūn in Relation zu der Wirkkraft der Erde gesetzt, während diese Wirkkraft allerdings nicht mehr als eine Art eigenständige Macht (der Erde) verstanden wird, wie dies offenbar in dem Verständnis des Spruchwerks des Yijing noch der Fall war, sondern zu einem Sich-Fügen der Erde (um-)gedeutet wird. 19 Die folgenden Überlegungen im Kontext meiner Auseinandersetzung mit dem Yijing zielen auf die Entfaltung eines möglichen Verständnisses von Kūn in Abgrenzung zu der Auslegung der Wirkkraft dieses Zeichens – im Sinne des Sich-Fügens der Erde – in den Überlieferungen des Yijing. Es soll dabei der Frage nachgegangen Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 324. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 325. 17 Die überlieferte Fassung des Yijing schreibt als Name des Zeichens tu shen 坤. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 445. Das Piktogramm besteht aus tu, ›Erde, Boden, Lehm, Schlamm‹ und shen: Shen wird unter anderem als ›ausdehnen‹ oder ›strecken‹ begriffen. Siehe hierzu das Zeichen in Bernhard Karlgren: Grammata Serica Recensa, in: The Museum of Far Eastern Antiquities, Stockholm, Bulletin No. 29, Stockholm 1957. 18 Siehe hierzu Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 445 f. 19 Diese Deutung hält sich durch die verschiedenen Texte der Überlieferungen – obschon unter je anderen Blickwinkeln – durch und soll im zweiten Kapitel der Arbeit einer kritischen Analyse unterzogen werden. 15 16
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Einleitung
werden, wie die Wirkkraft von Kūn verstanden werden könnte, was das Potential dieser Wirkkraft ausmacht und wie diese sich in der unmittelbaren Gestalt von Kūn manifestiert. Die Annäherung an ein mögliches Verständnis von Kūn – jenseits ihrer Deutung in den Überlieferungen des Yijing – soll mitunter entlang eines transversalen Verständnisses, d. h. eines komparativen Gebrauchs von phänomenologischen, ontologischen und dekonstruktiven Ansätzen erfolgen, wodurch verschiedene Aspekte auf eine philosophisch plausible Weise nutzbar gemacht werden können. 20 Der Versuch, die Wirkkraft – und das darin liegende subversive Potential von Kūn – in Abgrenzung zu problematischen Deutungsmustern ihres traditionellen Verständnisses in den Überlieferungen des Yijing zur Geltung zu bringen, versteht sich nicht nur als eine mögliche Basis für die Entwicklung einer anderen Sichtweise auf das Yijing, sondern soll zugleich zu dem Entwurf einer Phänomenologie der Erde beitragen, welche ausgehend von den Zeichengestalten des Yijing einen neuen Zugang zu der Mannigfaltigkeit des Lebendigen 21 – der Erde als Ort der Manifestation dieser Mannigfaltigkeit – schaffen soll. Daher ist die Gestalt von Kūn grundlegend: Sie bildet sozusagen das Eingangstor, wodurch die gesamten ›Wandlungen‹ betreten und ihr »Gewebe« 22 sichtbar gemacht werden soll. Vorausblickend lässt sich saEine der komparativen Thesen dieser Arbeit wird es sein zu zeigen, wie verschiedene Deutungen zweier aus der europäischen Tradition des Denkens stammender (und Kūn strukturell ähnlicher) Figuren dazu dienen können, das Potential von Kūn zur Entfaltung zu bringen. Hieraus ergibt sich das Problem eines transversalen Verständnisses, das Ebenen eines komparativen Gebrauches beinhalten muss. Komparativer Gebrauch bedeutet jedoch nicht Komparatismus, sondern den Versuch, verschiedene Aspekte auf eine philosophisch plausible Weise für einen bestimmten Zweck nutzbar zu machen. 21 Der Begriff Lebendiges bezieht sich hier zunächst auf alle von der Erde hervorgebrachten Dinge und Wesen, die in ihrem Sein und Wachstum auf die Erde zurückgezogen bleiben. Es bezeichnet zugleich etwas vom Menschen selbst nicht Geschaffenes, und insofern Unverfügbares. Die Mannigfaltigkeit des Lebendigen kann, wie wir noch genauer sehen werden, als Manifestation der Wirkkraft von Kūn verstanden werden, die sich in der Erde und ihren permanent sich wandelnden, phänomenalen Gestalten zeigt. 22 Als ›Gewebe der Wandlungen‹ werden in der Großen Überlieferung die Ränge eines Zeichens bezeichnet, welche für jedes Zeichen ein individuelles Muster seiner Kräfte und Ordnung angeben, nach denen es eine Wandlung bewirken kann. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 344. Die Sichtbarmachung des Gewebes, von der hier gesprochen wird, bezieht sich einerseits auf die Herausstellung der hierarchischen Ordnung, welche durch das Rangprinzip den Zeichen und 20
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Einleitung
gen, dass in der Musterung (guan) 23 der Gestalt von Kūn dasjenige in Augenschein treten soll, was in seiner uneingeschränkten Offenheit (als Zeichen unerschöpflicher Wirkkraft) für uns wesensmäßig unverfügbar bleibt und gerade dadurch die Mannigfaltigkeit des Lebendigen überhaupt erst möglich macht. In den Überlieferungen des Yijing werden die Zeichen des Yijing analogisch in Relation zu verschiedenen Naturkräften und kosmologischen Prinzipien 24 gesetzt, die in dem Aufbau, d. h. der Formation der jeweiligen Gestalten, den spezifischen Ausdruck ihrer Wirkkraft finden sollen. 25 Dieser Methode folgend wird Kūn – ䷁ – analogisch ihrer Wirksamkeit unterschoben wird. Das Ziel dieser Herausstellung würde andererseits eine Veränderung dieses Gewebes durch die Entfaltung der Wirkkraft von Kūn nach sich ziehen, was zugleich auch zu einem anderen Verständnis des Begriffes der Wandlungen ausgehend von Kūn und der Manifestation ihrer Wirkkraft in der Mannigfaltigkeit des Lebendigen (dem Ganzen der Erde) führt. 23 Guan 觀 heißt ›betrachten‹, wörtlich ›in Augenschein nehmen‹. In der Großen Überlieferung wird gesagt, dass die Berufenen fähig waren, die inneren Kräfte und Bewegungen des Reiches von Himmel und Erde wahrzunehmen und sie ihrer Gestalt und ihrem Aussehen nach zu erschließen, um auf diese Weise die Eigenschaften der Wesen zur Bildhaftigkeit zu bringen. Die ›Berufenen‹ (sheng ren) haben sich als Ahnherren der Geschlechter in einer früheren Zeit Verdienste um die Führung des Reiches von Himmel und Erde erworben. Hinter ihnen stehen die Herrschergestalten der mythologischen Erzählungen. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar S. 761. »Denn die Wandlungen sind das, womit die Berufenen die Tiefe ausloten und die Keime prüften. Dadurch, dass sie keimhaft sind, konnten sie die Absichten des Reiches durchdringen. Dadurch, dass sie keimhaft sind, konnten sie Aufgaben des Reiches vollenden.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 218. Das heißt, dass die Bilder das Korrelat dessen sind, was die Berufenen in den Kräften der Welt erkannt und dementsprechend gemustert haben. Die Musterung ist nicht ein Zeichen im Sinne eines Abstandes von dem Wirklichen, sondern die Wirksamkeit des Realen in einer intermediären Sphäre. Unter einem Bild ist damit nicht eine bloß optische Repräsentation von etwas zu verstehen: Das Yijing versteht sich nicht als ein Repräsentationsmodell, es bildet den Kosmos nicht einfach nur ab, sondern schafft und strukturiert ihn auch. Etwas zu mustern bedeutet insofern nicht nur es als ein Bild oder ein Symbol zu präsentieren, sondern auch ihm eine aktive Form zu geben. 24 Eine systematische Darstellung der Zuordnung der Zeichen zu den Naturkräften und kosmologischen Prinzipien erfolgt im Kapitel II. 25 Das Bild eines Zeichens umfasst symbolische Bedeutungen, die den Linien und Zeichen zugeschrieben werden; Sinnzusammenhänge, die sich aus der Konfiguration der einzelnen Linien ergeben und Assoziationen, die der unmittelbaren Bildlichkeit der Linienstruktur entnommen werden. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 260. Für die Auslegung des Yijing sind, wie wir später noch genauer sehen werden, zwei Reihen von Symbolen besonders wichtig: Das sind die Naturkräfte und ihre spezifischen Eigenschaften und ihre Stellung in einer Art Zeugungsfolge. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 262.
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Einleitung
mit der Wirkkraft der Erde identifiziert und Qián – ䷀ –, der Wirkkraft des Himmels, komplementärlogisch entgegengestellt. 26 In ihrer Interaktion miteinander können die Zeichen Kūn und Qián als die gestalterisch und produktiv wirksamen Kräfte der Wandlungen (d. h. des Kosmos) betrachtet werden. Sie nehmen insofern eine Sonderstellung in der Konfiguration des Ganzen (der verschiedenen aufeinander bezogenen Zeichengestalten des Yijing) ein. Als Zeugungskraft des Himmels und Fruchtbarkeit der Erde werden sie unter anderem mit den Geschlechtsorganen gleichgesetzt und ihre Bewegungen analog zu den verschiedenen Bewegungen des Phallus und der Vagina – des Sich-Aufrichtens und des Sich-Weitens – beschrieben. 27 In der Liniengestalt von Kūn – ䷁ – soll sich demzufolge die Wirkkraft der Erde zeigen, auf deren umfangreich aufnehmender Kraft gestützt, alle Lebewesen geboren werden, während in der Liniengestalt von Qián – ䷀ – die Wirkkraft des Himmels sichtbar werden soll, durch dessen Zeugungskraft die Geburt aller Wesen angestoßen wird. Dabei deutet die formale Gestalt dieser beiden Zeichen für sich betrachtet auf ein Verhältnis zwischen Kūn und Qián, das in seiner wechselseitigen Bedingung eine Art symmetrische Beziehung anzeigt: Zwar sind beide Zeichen ihrem Aufbau nach unterschieden, doch sind sie in ihrer Unterschiedenheit gleich kraftvoll und bilden eine Art komplementäre Entsprechung zueinander. 28 In den Überlieferungen des Yijing wird dieses Verhältnis jedoch eindeutig asymmetrisch ausgelegt, sofern Kūn (in ihrer Deutung als das Sich-Fügen der Erde) Qián (als dem Walten des Himmels) nicht nur bei-, sondern gleichzeitig auch untergeordnet wird. Kūn und Qián sind in den Überlieferungen nicht gleichgestellt, sondern erscheinen in einer hierarchischen Rangordnung, wonach Qián als das Walten des Himmels über Kūn als dem Sich-Fügen der Erde steht. Mit der Bestimmung von Kūn als Wirkkraft der Erde im Sinne des Sich-Fügens wird in den Überlieferungen des Yijing zugleich ein klassisch-hierarchisches Unterordnungsverhältnis des Weiblichen unter das Männliche konstruLediglich die Zeichen Kūn und Qián wurden in Kapitälchen gesetzt, um ihre Sonderstellung hervorzuheben. 27 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 344. 28 Das Zeichen von Kūn bildet hiernach die symmetrische Gegengegengestalt zu dem Zeichen von Qián. Dies ergibt sich aus dem Aufbau der Zeichen und ihres wechselseitigen Bezuges: Werden alle Linien von Kūn geschlossen, ergibt sich daraus Qián und umgekehrt. 26
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Einleitung
iert. Der Entsprechungslogik der Überlieferungen folgend, stehen Qián und Kūn also nicht nur in einem analogischen Entsprechungsverhältnis zur Wirkkraft des Himmels und der Erde, sondern zugleich auch zum Männlichen und Weiblichen und sind durch die Zuordnung klassischer geschlechtsbasierter Eigenschaften in ein festes Schema fixiert. Dabei gilt es zu bedenken, dass die Eigenschaften und Verhältnisbestimmungen mit denen Qián und Kūn im Yijing (ausgehend von den Überlieferungen) klassischerweise in Verbindung gebracht werden, vor allen Dingen aus Relationen stammen, die insbesondere in der Han-Dynastie weit verbreitet waren. Dazu gehören die ungleich konstruierten Paare von yin yang (Lichtes und Schattiges), tian di (Himmel und Erde) und nan nü (Mann und Frau). 29 Obschon in diesen Paaren eine komplementärlogische Bestimmungsform vorausgesetzt wird, ist vor allen Dingen in dem dafür exemplarischen Denken von yin und yang 30 von Beginn der schriftlichen ÜberliefeVgl. hierzu die Untersuchung von Lisa Raphals: Sharing the Light, Representations of Women and Virtue in Early China, Albany/New York 1998. Siehe hierzu auch Eric S. Nelson, Liu Yang: »Customary Chinese models of understanding gender have been questioned to the extent that dominant Chinese traditions appear to hierarchically privilege the male (nan) over the female (nu), yang over yin, and active masculine heaven (tian) over passive feminine earth (di). Masculine and feminine phases are not dualistically separated into invariable opposites, as the expressions tiandi, yinyang, or nannu indicate; yet they are not seen as equal in the normative hierarchical accounts of Confucianism and in the prioritizing of the feminine and maternal in the Daodejing. According to critics, the gendered and familial logic of masculine- and feminine-oriented expressions serves to reproduce a patriarchal and patrilineal sociocultural order that encourages the role-defined recognition and subordination of women and the elements of nature identified as feminine.« Eric S. Nelson and Liu Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, in: The Bloomsbury Research Handbook of Chinese Philosophy and Gender, New York 2016, S. 267–288, hier S. 268. 30 Im Yijing finden sich die Begriffe yin (Schattiges) und yang (Lichtes) lediglich in den Überlieferungen und auch dort nur an wenigen Stellen. Eingang in das Werk fand das yin-yang-Denken im Ausgang von der Interpretation des Yijing in der Han-Zeit und gewann ausgehend von diesem Kontext eine Art Deutungsmacht. Die yin-yang Schule bezeichnet zur Zeit der Han-Dynastie eine Denkströmung, deren Spekulationen auf der Annahme einer Analogie zwischen der natürlichen und menschlichen Welt basieren. Yin und yang bezeichnen hiernach das weibliche Prinzip der Dunkelheit, Kälte, Feuchtigkeit, Ruhe usw. und das männliche Prinzip des Lichtes, der Wärme, der Trockenheit, der Bewegung usw., deren Wechselwirkung die natürlichen Phänomene des Universums hervorbringen soll. Vgl. Fung Yu-lan: A History of Chinese Philosophy, Vol. I The Period of the Philosophers, übers. v. Derk Bodde, Princeton 1952, S. 159. Der hanzeitliche Synkretismus ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Dinge zwischen Himmel und Erde nicht nur dem Verhältnis von yin und yang, sondern auch den sogenannten fünf Wandlungsphasen entsprechend in Beziehung ge29
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Einleitung
rung an eine in diesem Verhältnis zum Ausdruck kommende vertikale Sicht der Dinge unverkennbar, d. h. in Bezug auf das Verhältnis zwischen dem Männlichen (yang, Lichtes) und dem Weiblichen (yin, Schattiges) auch eine Über- und Unterordnung von Mann und Frau, die vor allem im gesellschaftspolitischen Bereich der Legitimation hierarchischer Verhältnisse diente. 31 Kūn (vor dem Hintergrund ihrer Identifikation mit der Erde) korrespondiert in den Texten der Überlieferungen wechselnd mit dem Weichen (rou), passiv Empfänglichen und Zersetzenden der schattigen Kraft (yin-weiblich) und Qián (vor dem Hintergrund seiner Identifikation mit dem Himmel) mit dem Harten (gang), aktiv Erzeugenden der hellen Kraft (yang-männlich). Qián entspricht analogisch nicht nur der Himmel, sondern zugleich auch der Vater und der Kopf, sowie Kūn nicht nur mit der Erde, sondern auch mit der Mutter und dem Bauch assoziiert wird, auch das Leidvolle und Armselige werden unter Merkmalen genannt, die Kūn charakterisieren sollen. 32 Qián (das Wirken des Himmels) wird als kräftiges Tätigsein beschrieben und Kūn (im Sinne des Sich-Fügens der Erde) als folgsame Gehorsamkeit. Am deutlichsten zeigt sich die Konstruktion dieser asymmetrischen Differenz zwischen Himmel und Erde vielleicht in der topographischen Zuordnung der Großen Überlieferung, wo setzt werden, also einem analogen oder korrelierenden Denken nahekommt, wie es auch einer magischen Weltsicht entspricht. Insbesondere die kosmische und die gesellschaftliche Ordnung müssen darin miteinander korrespondieren. Mit der Fixierung von festen Plätzen – Himmel oben und Erde unten – ergibt sich ein soziomorphes Weltbild, d. h. ein Weltbild, das der festen politisch-sozialen Ordnung genau entspricht, genauso wie umgekehrt die soziale durch die kosmische Ordnung sanktioniert wird. Bei dem yin-yang-Modell dürfte es sich von Anfang an um ein asymmetrisches Modell gehandelt haben. Mit der Inkorporierung der Yin-Yang Symbolik über die Überlieferungen in das Yijing ist jedenfalls eine klare Hierarchie zwischen beiden Prinzipien gegeben. Vgl. Karl-Heinz Pohl: Weiblich – männlich, Yin und Yang: Kulturelle und philosophische Hintergründe in China, in: Zeitschrift für Qigong Yangsheng, 2016, S. 23–39. 31 Vgl. Gudula Linck: Leib und Körper, Mensch, Welt und Leben in der chinesischen Philosophie, Freiburg / München 2011, S. 64. Siehe hierzu Robin Wang: »I was investigating what appears to be a puzzling contradiction: on the one hand, yinyang seems to be an intriguing and valuable conceptual resource in ancient Chinese thought for a balanced account of gender equality; on the other hand, no one can deny the fact that the inhumane treatment of women throughout Chinese history has often been rationalized in the name of yinyang.« Robin Wang: Yinyang. The Way of Heaven and Earth in Chinese Thought and Culture, New York 2012, S. 11. 32 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, S. 238 f.
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Einleitung
gesagt wird, dass der Himmel würdig und die Erde niedrig ist und daraus folgend das Walten (Qián) und das Sich-Fügen (Kūn) abgeleitet werden. 33 Auf Grundlage dieser einer sinnhaften Ordnung der Natur unterstellten asymmetrischen Differenz zwischen Himmel (oben, hoch, yang, männlich) und Erde (unten, niedrig, yin, weiblich) wird in den Überlieferungen des Yijing eine Gesellschaftshierarchie abgeleitet und gerechtfertigt. Die asymmetrische Bestimmung von Himmel und Erde in den Überlieferungen des Yijing bringt dabei das scheinbar unvereinbare Verständnis von Gender in dem chinesischen Denken zum Vorschein: interaktive Gegenseitigkeit einerseits und geheime Hierarchie andererseits. 34 Das vorherrschende Bild einer sich dem Himmel fügenden Erde ist für das traditionelle Verständnis des Yijing grundlegend. Dieses Verständnis hat sich jedoch erst durch die Überlieferungen des Yijing, d. h. mittels und ausgehend von dem umfangreichen Kommentarwerk 35 durchgesetzt und von dort Eingang in den politisch-philosophischen Diskurs gefunden. Wie im Rahmen dieser Arbeit deutlich werden soll, darf das Yijing jedoch nicht als ein einheitlich bestimmbares und in sich geschlossenes, d. h. homogenes Werk betrachtet werden, vielmehr besteht es aus der Komposition verschiedener Textschichten, die in sich einen jeweils anderen Zeit- und Verstehenshorizont widerspiegeln. Das Yijing umfasst grob gesprochen zwei Teile: 1. Das Spruchwerk, welches die ältere Schicht des Werkes bildet und das aus den 64 sechslinigen Zeichenmustern und den diesen Zeichenmustern zugeordneten 450 Sprüchen besteht und 2. die Überlieferungen, ein Textkorpus kommentierender Auslegungen des Spruchwerks, welcher die jüngere Schicht des Werkes bildet. Dabei »Der Himmel ist würdig, die Erde niedrig. [So] waren das Walten und das SichFügen gesetzt.« Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, S. 209. 34 Vgl. Eric S. Nelson and Liu Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 268. Die Autoren untersuchen wie das Verhältnis von Gender und Natur in Bezug auf das Yijing verstanden wurde und versuchen das Potential und die Grenzen des Yijing hinsichtlich der Genderfrage und seiner Vernetzung mit Ökologie, Umweltbewusstsein und Ökofeminismus herauszustellen. 35 An sich handelt es sich bei den Texten nicht um Kommentare, auch wenn sie kommentieren. Die Überlieferungen des Yijing geben sich als Wissenstraditionen aus, welche die Bedeutung des Spruchwerks und seiner Zeichen in ihre Zeit tragen. Sie sind so gesehen nicht von dem Spruchwerk zu trennen, sondern bilden seine Versprachlichung für die jeweils vorherrschende Zeit. Von ihrer Wirkungsgeschichte hergesehen, wird so das Denken des Yì, allerdings in der Form, in dem es in den Überlieferungen erscheint, in den politisch-philosophischen Diskurs mit aufgenommen. 33
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Einleitung
entwickeln die insgesamt sieben Überlieferungen des Yijing unterschiedliche Interpretationen des Spruchwerks und der Zeichenmuster auf Grundlage von Ideen und Konzepten, die aus ihrem jeweiligen historischen Kontext stammen. Aus Sicht der Überlieferungen sollen die Ideen und Vorstellungen der beiden Schichten weitestgehend ineinander übergehen und eine Einheit bilden: Erst die historisch-kritische Forschung hat damit begonnen, die verschiedenen Textschichten voneinander differenziert zu betrachten und ihren jeweiligen Gedankenwelten zuzuordnen. 36 Grundlegend für die Herausarbeitung eines anderen Verständnisses von Kūn ist daher die genaue Differenzierung dieser verschiedenen Textschichten des Yijing. Dabei lässt sich in den Überlieferungen des Yijing ein spezifischer Herrschaftsdiskurs ausmachen, der im Kern immer mehr durch ein geschlechtsmäßig hierarchisierendes und in Gegensätzen stratifizierendes Denken geleitet wird. Von den Parametern dieses Herrschaftsdiskurses hängt, wie es scheint, erst die untergeordnete Position ab, die Kūn in der Wirkungsgeschichte des Yijing und aufgrund verschiedener ideologischer Ausprägungen der interpretatorischen Leitfäden im Laufe der Zeit erhalten hat. In dem Anordnungsschema der Zeichen der überlieferten Fassung des Yijing folgt das Zeichen Kūn (2. Zeichen) auf das Zeichen Qián (1. Zeichen), ist diesem also sequenziell nachgeordnet, was zugleich die grundlegend hierarchische Struktur anzeigt, die für die traditionelle Auslegung des Beziehungsverhältnisses von Kūn und Qián und deren Liniengestalt ausgehend von Überlieferungen sinnbestimmend geAls ersten unabdingbaren Schritt für die Rekonstruktion der Urfassung des Spruchwerkes setzt der Altphilologe Gao Heng die Trennung der beiden Textschichten voraus. Gao Heng unterstreicht, dass die Überlieferungen spätere Ideen und Konzepte beinhalten und die formale Gestaltung der Zeichen, insbesondere der darin zum Ausdruck kommende Dualismus, sowie einzelne Aussagen des alten Spruchwerks, für politische und naturphilosophische Vorstellungen Ende der Zhou- und Beginn der Han-Zeit fruchtbar gemacht worden ist. Insofern aber das Yijing erst mit der Umarbeitung des sprachlichen Materials zu den Orakelsprüchen entsteht, die den 64 Zeichen und ihren Linien zugeordnet sind, erweist sich die Rekonstruktion eines »Urtextes des Yijing«, wie Gao Heng sie vorsieht, als eine Chimäre. Eine Rekonstruktion des Spruchwerkes des Yijing kann sich, wie Dennis Schilling gezeigt hat, nicht außerhalb der Komposition des Werkes anhand der 64 Zeichen bewegen. Hier spielen insbesondere die mythologischen Erzählungen, welche in der Zusammenstellung neue Bedeutung und Funktion hinsichtlich der Herrschaftsbegründung erhalten haben, eine maßgebliche Rolle. Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, Die Zeichen des Yì jīng und ihre politische Deutung, in: Oriens Extremus, Vol. 50, 2011, S. 47–74, S. 50 und 57.
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Einleitung
worden ist. Während sich in den älteren Schichten des Yijing noch ein gewisses Verständnis für die primordial-generative Wirkkraft, die Kūn offenbar einmal zugedacht wurde, auffinden lässt, dominiert in den späteren Überlieferungstexten des Yijing die Auffassung von Kūn als der dem Walten des Himmels untergeordneten, passivgefügigen und niedrigen Erde. 37 Durch diese Transformation von Kūn im Sinne des Generativen zum Rezeptiven hat zugleich eine ›Maskulinisierung‹ des Yijing stattgefunden. 38 Obwohl sich die (geschlechts-)hierarchische, auf der Unterscheidung des Harten (gang) und Weichen (rou), Lichten (yang) und Schattigen (yin), des Himmels (tian) und der Erde (di) basierenden Auslegung der Überlieferungen als konstitutiv für die Interpretation des Yijing durchgesetzt hat, findet sich dafür in den älteren Schichten des Yijing – entgegen den Überlieferungen – keine direkte Grundlage. Zu unterscheiden gilt es daher zwischen der Interpretation von Kūn auf Basis der Überlieferungen des Yijing und einem möglichen Verständnis von Kūn, welches sich teilweise ausgehend von Motiven älterer Schichten des Yijing gewinnen lässt. 39 Es kann deutlich gemacht werden, dass durch das duale (geschlechts-)hierarchische Interpretationsschema, welches die Überlieferungen auf Kūn und Qián übertragen haben, das Potential von Kūn deutlich abgewertet und für die Einrichtung eines gesellschaftspolitischen Diskurses genutzt wird. Welche Verbindung Kūn indes zur Erde hat und inwiefern die Abwertung dieses Potentials im Kontext der »It was only in these subsequent interpretations that qian was identified with yang, masculine power, nobility, height, and ease and kun associated with yin, feminine passivity, ignobility, lowliness, and labor […] A sense of the innate primordial generative nature of kun was lost.« Eric S. Nelson and Liu Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 268 f. 38 »While Confucianizing interpretations transformed the Yijing from a work of divination into one that inspires ethical reflection and natural philosophical inquiry, they masculinized the text by transforming the generative into the receptive.« Eric S. Nelson and Liu Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 268. 39 Das Spruchwerk bildet nicht nur das direkte sprachliche Zeugnis von Kūn, sondern enthält zugleich Bedeutungsschichten, welche sich von den Interpretationsmustern der Überlieferungen des Yijing abheben und ihnen sprachlich auch vorausgehen. So zählt das Spruchwerk des Yijing im Gegensatz zu den Überlieferungen zu der vorklassischen Literatur. Die Grammatik und Semantik der Sprache des Spruchwerkes unterscheidet sich von dem antiken und klassischen Chinesisch, in welcher die Literatur ab dem 6. Jahrhundert vor Chr. verfasst wurde, zu der nicht nur die philosophischen Werke, sondern auch die Texte der Überlieferungen des Yijing zählen. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 295. 37
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Einleitung
Überlieferungen in der Identifikation von Kūn mit der Erde begründet liegt, muss differenziert voneinander betrachtet werden. Im Grunde entzieht sich, wie bereits gesagt wurde, der Ursprung des Zeichens von Kūn und seine eigentliche Bedeutung, insbesondere der sinologischen Forschung nach zu urteilen, einem klaren Verständnis. Obwohl Kūn im Yijing zumeist als Erde verstanden wird, oder als etwas, das in engem Bezug zur Erde steht, ist die Etymologie des Wortes unklar. 40 Die überlieferte Fassung des Yijing schreibt den Namen des Zeichens als eine Zusammensetzung der beiden Grapheme tu (土, Erde) und shen (申, strecken): 坤. Darüber hinaus war in der Antike aber noch ein anderes Schriftzeichen als Name von Kūn bekannt: 巛. 41 Hinzu kommt, dass die verschiedenen Bedeutungen des Namens für die Erde (z. B. tu in tu shen oder di in tian di) unterschiedliche Konnotationen enthalten bzw. auf unterschiedliche antike Konzepte und Vorstellungen zurückgehen. Dass Kūn eine Verbindung zu der Erde hat, scheint naheliegend, jedoch stellt sich die Frage, wie die Erde (vor dem Hintergrund der Wirkkraft von Kūn) zu verstehen ist. Hinsichtlich der Interpretation der Überlieferungen von Kūn als Wirkkraft der Erde ist meines Erachtens weniger die unterstellte Verbindung zwischen Kūn und der Erde als solche problematisch, als vielmehr die Auslegung der Wirkkraft von Kūn als das SichFügen der Erde, d. h. die Vorstellung von einer Erde, die sich der Macht des Himmels (und auch des Menschen) fügt bzw. dieser subordiniert ist. 42 In der Auslegung des Zeichens von Kūn wird sich zeigen, dass das Verständnis des Wirkpotentials von Kūn weit über die in den Überlieferungen des Yijing vorgenommene Bestimmung einer dem Himmel hierarchisch untergeordneten Erde hinausgetrieben werden kann. Im Grunde genommen widerspricht die herauszustellende Dynamik von Kūn – gemäß ihrer bisher nicht sichtbar gewordenen Bedeutungsschichten – den (geschlechts-)hierarchisch in statischen GeVgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 445. Das Schriftzeichen ähnelt der Schreibung chuan 川, »Fluß«. Auch die Steinstehlen aus Xiping (171 n. Chr.) schreiben 巛. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 445. 42 Wie dies in dem auf das Yijing applizierten hanzeitlichen Begriffsmodell von tian di der Fall ist, aber nicht notwendigerweise in dem Namen des Zeichens von Kūn tu shen im Spruchwerk des Yijing angezeigt ist – ganz abgesehen von möglichen Deutungsansätzen, das sich ausgehend von einer Auslegung des in ihrer Gestalt sich anzeigenden Wirkpotentials ergibt. 40 41
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Einleitung
gensätzen fixierenden Interpretationsschemata der Überlieferungen des Yijing überhaupt. Es eignet Kūn, wie im Folgenden herausgestellt werden soll, ein dekonstruktives Potential, dessen Entfaltung im Sinne einer Gegenhermeneutik, der Hermeneutik von Kūn, zu einer Infragestellung des systematischen Verständnisrahmens beitragen kann, den das Yijing zu einer gewissen Zeit angenommen hat. Die Herausstellung dieses dekonstruktiven Potentials von Kūn soll es – in Abgrenzung zu dem Herrschaftsdiskurs der Überlieferungen des Yijing – möglich machen, die Grundlagen für ein einen neuen Zugang zu dem Zeichen von Kūn zu schaffen, um von dort ausgehend das Ganze, d. h. den in den Gestalten des Yijing abgebildeten Kosmos – die ›Wandlungen‹ – vor dem Hintergrund seines fundamentalen Bezuges zur Erde sichtbar werden zu lassen. Diese Herangehensweise erfordert zugleich eine Kenntlichmachung der Konstruktion des Weiblichen im Yijing, die mit dem in den Überlieferungen vorausgesetzten Verständnis der Erde zusammenhängt. In dem Versuch, die vollumfängliche Wirkkraft von Kūn zur Geltung zu bringen, soll Kūn aus ihrer Identifikation mit der Erde so wie die Überlieferungen sie verstehen, d. h. im Sinne des Sich-Fügenden herausgelöst und damit zugleich die Rolle und Funktion des Weiblichen transformiert und aufgewertet werden. 43 Die HerausDerrida hat im Kontext der Dekonstruktion von einer opération féminine gesprochen: Indem das Weibliche die Brüche des Textes markiert, ohne auf eine Stelle festlegbar zu sein, allegorisiert es das Öffnungsereignis des Textes. Obwohl Derrida das Weibliche zu dem Vorbild einer nichtmetaphysischen Philosophie bzw. eines nicht metaphysischen Schreibens erhebt, geht es im letztlich nicht um das Weibliche selbst, sondern um eine Überwindung der Opposition von männlich und weiblich überhaupt. Vgl. Lena Lindhoff: Einführung in die feministische Literaturtheorie, Stuttgart 2003, S. 94. Derridas Ansatz wird uns im Kontext der Auseinandersetzung mit Chora im platonischen Dialog Timaios noch weiter beschäftigen. Inwiefern einige Schichten von Kūn unter der Voraussetzung einer dekonstruktiven Überwindung der Opposition von männlich und weiblich gelesen werden können, ist fragwürdig. Kūn und damit einige ihrer im Kontext der Überlieferungen als ›männlich‹ oder ›paternalistisch‹ zu chiffrierenden Deutungsmuster soll durch eine Dekonstruktion der Machthermeneutik der Überlieferungen einen neuen und anderen Deutungsraum gewinnen. Dieser Deutungsraum beinhaltet philosophische und auch mythologische Aspekte, indes letztere die Verbindung zwischen dem Männlichen und Weiblichen auf eine andere Weise auffassen, die vielleicht ein gewisses Korrektiv an die Hand geben, diese Verbindung anders zu denken. Zwar geht es auch in der Deutung des Verhältnisses von Qián und Kūn um eine Verschiebung des Denkens der Komplementarität von männlich und weiblich, jedoch soll die Kategorie des Weiblichen in Bezug auf Kūn nicht gänzlich aufgehoben, sondern eben erweitert und transformiert werden.
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lösung von Kūn aus ihrer Identifikation mit der Erde gilt es jedoch nur insoweit zu vollziehen, als die Erde (und mit ihr das Weibliche) aufgrund der (geschlechts-)hierarchischen Fixierung der Überlieferungen mit einigen grundlegend negativen Eigenschaften besetzt wurde, die letztlich einen destruktiven Charakter hinsichtlich des Bezuges des Menschen zur Erde nach sich ziehen. Es ist damit also keineswegs gesagt, dass Kūn und Erde, respektive das Weibliche sich vollkommen voneinander ablösen lassen, sondern nur, dass das Verständnis der Erde als das Sich-Fügende innerhalb des vorausgesetzten Denkschemas von Himmel und Erde in den Überlieferungen des Yijing dem Potential, welches aus der Gestalt von Kūn gewonnen werden kann, nicht gerecht wird. Die Herausstellung der Wirkkraft von Kūn – und ihrer von der Überlieferung verdeckten und auch anderweitig nicht ausgeschöpften Sinnschichten – soll in letzter Konsequenz zu der Entwicklung eines Ethos des Unverfügbaren beitragen, das – im Rahmen einer durch die Gestalten des Yijing zu entwickelnden Phänomenologie der Erde – die Basis für einen neuen Zugang zu der Erde und damit auch andere Formen des Umganges mit ihr in das Blickfeld rücken soll. Ausschlaggebend für eine Revision von Kūn ist zunächst eine genaue Analyse und Rekonstruktion ihrer Bestimmung in den verschiedenen Textschichten der Überlieferungen des Yijing. Es gilt zu zeigen, wie das Yijing unter Berücksichtigung der Interpretationschemata der Überlieferungen eine machtvolle und aus kosmologischer Fundierung bestehende Rechtfertigung der patriarchalen politischen und sozialen Hierarchien des imperialen Chinas abgibt. Eine Kritik dieses herrschaftsorientierten und (geschlechts-)hierarchisch fixierenden Zuganges der Überlieferungen zum Yijing kann durch eine graphosemantische Analyse der mit Kūn verbundenen Zeichendynamik erfolgen, von der ausgehend andere Möglichkeiten des Verständnisses des Ganzen aufgewiesen werden. Denn erst auf der Ebene der systematischen Sinnaneignung der Zeichen durch die Überlieferungen des Yijing wird eine hierarchische Struktur entworfen, die dem Himmel den Status eines dominanten Bedeutungsträgers verleiht, der gewissermaßen die ganze symbolische Ordnung und Bewegung des Yijing durchwaltet. Der übergeordnete Status des Himmels wird dabei durch dasjenige gerechtfertigt, was hier als Hermeneutik der Macht bezeichnet werden soll. Hermeneutik der Macht bedeutet, dass sich durch die Überlieferungen des Yijing hindurch eine spezifische Form der Aneignung des Sinnes der Zeichen und auch des Spruch27 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Einleitung
werkes vollzogen hat, die als Legitimationsgrund politischer Macht und gesellschaftlicher Ordnung herangezogen wurde und dessen Niederschlag die Tradition begründet. Methodisch hängt diese Hermeneutik und Logik der Macht im Kern mit der Bestimmung von Kūn und dem durch sie wirksam gemachten Prinzip der Fügsamkeit zusammen. Das Prinzip der Fügsamkeit bzw. des Sich-Fügens dient primär der Einrichtung einer Herrschaftsordnung, in dessen Zentrum der Himmel als dem Symbol der Macht par excellence steht. Dabei spielt der Mythos im Yijing als Legitimationsfaktor und Fundierungsgrundlage von Macht und Herrschaft eine herausragende Rolle. 44 In dem Spruchwerk des Yijing lassen sich verschiedene Sinnfäden wiederaufgreifen, die mythologisch und religiös mit der Gottheit der Erde verbunden sind, mit der Kūn unter anderem in einem Zusammenhang gestanden haben könnte. 45 Dabei stellt sich Das Spruchwerk des Yijing geht in großem Ausmaß auf mythologisches Erzählgut zurück wie dies unter anderem Dennis Schilling in seiner Forschung nachgewiesen hat. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 305–308. Die Mythen stellen hiernach eine der wichtigsten Sinnstrukturen der Sprüche des Yijing dar. Dabei ist die Niederschrift und Zuordnung des Spruchwerkes zu den Strich-Zeichen des Yijing eng mit der Legitimierung der Zhou verbunden, welche sich selbst als die Könige (wang) und Söhne des Himmels (tian zi), die über die »zehntausend Länder« herrschten, verstanden. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 254. Als Zugang für die Rekonstruktion der eigentlichen Funktion und Bedeutung des Spruchwerks bietet sich nach Dennis Schilling zunächst das mythologische Material in den Sprüchen an. Allerdings ist der Weg der Rekonstruktion der mythologischen Erzählungen angesichts der fragmentarischen Überlieferung der chinesischen Mythologie problematisch: Die Neuordnung der Mythen ausgehend von der ZhouDynastie und dem Beginn der Han-Zeit erschweren den Zugriff auf ältere mythologische Schichten, wie sie den Sprüchen des Yijing zugrundeliegen. Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 57 f. 45 »Meist wird jedoch kun einfach als Erde verstanden oder als etwas, das in engem Bezug zur Erde oder zur Erdgottheit steht: ein Ritualgefäß oder ein Erdhügel.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 445. Der Altsinologe Eduard Erkes bringt Kūn mit dem Zeremonialgefäß cong in Verbindung, welches in Trauerzeremonien dazu verwendet wurde die Vereinigung der Toten mit der Erdmutter zu vollziehen. Vgl. hierzu Eduard Erkes: Some Remarks on Karlgren’s ›Fecundity Symbols in Ancient China‹, in: BMFEA, 3, 1931, S. 63–68. Conrady assoziiert in seinen Studien zum Yijing mit der großen Spalte des Zeichenbilds von Kūn eine »Opfergrube für die Erdgottheit.« August Conrady: Yih-king-Studien, hrsg. v. Eduard Erkes, in: AM, 7, 1932, S. 410–468, hier S. 417. Die Verbindung zwischen Kūn und dem cong ist umso eingehender, sofern, wie es aus einigen Abbildungen hervorgeht, die Lineatur von Kūn als Ornamentstruktur des cong selbst verwendet wurde. Vgl. Berthold Laufer: Jade. A Study in Chinese Archaeology and Religion, Chicago 1912. Ein Exempel des Zeremonialgefäß cong befindet sich im Metropolitan Museum of Art. Vgl. hierzu 44
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Einleitung
heraus, dass die Überlieferung der klassischen chinesischen Mythologie durch verschiedene Faktoren der Ausschreibung und Umschreibung überschichtet ist. 46 Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Frage nach dem ursprünglichen Geschlecht der Gottheit der Erde (Hou Tu). 47 Nicht nur sind zentrale Funktionen, die einst von weiblichen Gottheiten ausgeführt wurden, auf männliche Gottheiten übertragen, sondern auch ursprünglich weibliche Gottheiten maskulinisiert und aus den mythologischen Erzählungen ausgestrichen worden. 48 Obwohl damit die männlichen Gottheiten in der Überlieferung der klassischen Mythologie eindeutig dominieren, lässt sich zeigen, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Mythen der Weltentstehung und dem Wirken weiblicher Gottheiten gibt. 49 Insbesondere der mit der Gottheit der Erde (Hou Tu) offenbar ursprüngMaxwell Hearn: The Arts of Ancient China: The Metropolitan Museum of Art Bulletin, v. 32, no. 2 (1973–1974). Im dritten Kapitel sollen die Bezüge zur Gottheit der Erde, die im Kontext altsinologischer Forschungen herausgestellt und diskutiert wurden, mit Blick auf die Erweiterung des Sinnspektrums von Kūn im Kontext von Mythos, Ritus und religiösen Vorstellungen rekonstruiert und hinsichtlich ihrer Relevanz befragt werden. Auch sollen dabei neuere archäologische Forschungen in Augenschein genommen werden. 46 Vor allen Dingen die kontrovers aufgefassten Untersuchungen der chinesischen Mythologie des Sinologen Wolfgang Münkes sollen hier herangezogen werden. Münkes Forschung zur chinesischen Mythologie ist nicht nur im Hinblick auf die Rekonstruktion der ursprünglichen Gestalt der Erdgottheit Hou Tu und den mit ihr verbundenen mythologischen Motiven und Erzählungen zentral, sondern auch hinsichtlich der Entwicklungsgeschichte der Ausradierung weiblicher Gottheiten aus der klassischen Überlieferung der chinesischen Mythologie und deren Umformung in historisierte männliche Gründerfiguren. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, Stuttgart 1976 und Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblich auf spätere Entwicklungen, Frankfurt a. M. und Berlin 1998. 47 Der Versuch einer Rekonstruktion der Gottheit der Erde Hou Tu in der Mythologie und der Funktion der Erdgottheit im rituellen Kontext erfolgt in Kapitel III. 48 Vgl. Anne Birell: Gendered Power. A Discourse on Female-Gendered Myth in the Classic of Mountains and Seas, in: Sino-Platonic Papers, No. 120, 2002, S. 1–47, hier S. 25–27. In ihrem Artikel Gendered Power analysiert Anne Birell eine ganze Reihe weiblich-mythologischer Figuren ausgehend von dem ›Klassiker der Berge und Meere‹ und demonstriert, dass es ein Monopol entscheidender Funktionen gab, die ursprünglich von weiblichen Figuren ausgeführt wurden, darunter: »female control of cosmology, ancestral foundation, fertility, sacrifice, and female self-rule.« Anne Birell: Gendered Power, S. 20. 49 Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 9 f. Dies besagt, dass es überwiegend weibliche Gottheiten gewesen sind, die mit der Entstehung der Welt und des Menschen in Verbindung gestanden haben. Birell weist darauf hin, dass das Geschlecht einiger Götter aber oftmals durch deren Titel verdeckt und zudem ambivalenter Natur ist:
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lich verknüpfte Schöpfungs- und Gestaltungsmythos spielt dabei eine zentrale Rolle. Ausgehend von der Wiederaufnahme verschiedener mythologischer Vorstellungen hinsichtlich des Wirkens der Gottheit der Erde (Hou Tu) lässt sich ein erweitertes Sinnspektrum für ein mögliches Verständnis von Kūn vor dem Hintergrund ihrer Verbindung zur Erde gewinnen. Durch eine mythologische Amplifikation kann der kosmologisch-systematische Gebrauch der Erde, insbesondere durch die geltend gemachte Oppositionslogik mit dem Himmel, wie sie in den Überlieferungen des Yijing erscheint, als reduktionistisch und ideologisch aufgedeckt werden. Teil der Revision von Kūn wird es daher sein, die mythologischen Vorstellungen, die mit der Erdgottheit in Verbindung gestanden haben könnten, zu rekonstruieren und zu zeigen, dass die Motive, die sich in dem Spruchwerk zu Kūn und in ihrer Zeichenstruktur finden, es erlauben, eine Parallele zwischen der Wirkkraft von Kūn und dem Wirken der Gottheit der Erde (Hou Tu) im Mythos herzustellen, wodurch sich das Bedeutungsspektrum von Kūn erweitert und Grundzüge und Elemente ihrer eigenen Dynamik rückwirkend durch die Sprache des Mythos sichtbar werden. Durch die Wiederaufdeckung und konzeptionelle Erweiterung des Sinnspektrums von Kūn können Elemente eines prä- und postpatriarchalen Verständnisses 50 des Yijing (wieder-) gewonnen werden. 51 Dabei spielt die uneingeschränkte Form der Offenheit, die sich in der Gestalt von Kūn andeutet und im Rahmen dieser Arbeit als Deutungsmöglichkeit systematisch entwickelt werden soll, eine wesentliche Rolle. Die grundlegende Bedeutung der uneingeschränkten Offenheit von Kūn gilt es – in Abgrenzung zu dem Sich-Fügen – zu entfalten und im Sinne einer Gegenhermeneutik in Relation zu einem möglichen neuen Verständnis der Bewegungsdynamik des Yijing im Ganzen zu setzen. 52 Durch ein neues Verständnis von Kūn Sie nennt als das promineste Beispiel die Gottheit der Erde Hou Tu. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 3 und 24. 50 Vgl. Nelson and Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 270. 51 Dies besagt, dass Elemente von Kūn, die sich aus dem Spruchwerk und älteren mythologischen und religiösen Vorstellungen gewinnen lassen, sich (de-)konstruktiv im Rahmen einer philosophischen Begründung des Status von Kūn zu einer neuen Sichtweise verbinden. 52 Elemente eines anderen Verständnisses können teilweise auch, zumindest hinsichtlich einiger Aspekte, aus der Umschreibung des dao (im Daodejing) gewonnen werden: Folgt man dieser Spur, gewinnt das dao einen Bezug zu Kūn. Eine mögliche andere Sichtweise des dao – vor dem Hintergrund seiner Figuration als ›Mutter der
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Einleitung
verändern sich zugleich die Voraussetzungen des systematischen Ganzen, welches die Überlieferungen des Yijing ausgehend von ihren Interpretationsschemata konstruiert haben: Im Grunde genommen wird der Hermeneutik der Macht dadurch eine wesentliche Bestimmungsgrundlage entzogen. Dies bedeutet freilich nicht, dass das Ganze sich dadurch von selbst (in einem quasi autopoietischen Akt) verändert, sondern, dass die Neuinterpretation von Kūn zum Ausgangspunkt einer allmählichen hermeneutischen Transformation führen kann, welche es erlaubt, einen Zugang zu dem Yijing ausgehend von einer anderen Art von Logik zu schaffen, die eng mit einem anderen Verständnis der Erde und einem neuen Zugang zu ihr verbunden ist. Durch die Darlegung der uneingeschränkten Offenheit als grundlegendes Merkmal von Kūn wird der spezifische Systemcharakter, welche die Überlieferungen mittels einer Logik der Macht begründet haben, in Frage gestellt. Sie trägt in diesem Sinne zu einer Dekonstruktion der Macht bei, nicht jedoch dadurch, dass die Machtposition von Qián in den Überlieferungen des Yijing durch eine Herrschaft von Kūn ersetzt wird, sondern vielmehr durch einen dekonstruktiven Abbauprozess, der, wie ich zu zeigen hoffe, aus dem Potential von Kūn selbst gewonnen werden kann. Kūn führt nämlich nicht nur eine Öffnung in die Konstruktion eines systematischen Ganzen ein, wodurch der bisherige Bedeutungsrahmen des Yijing ausgehend von dem Verständnis der Überlieferungen gewissermaßen aufgebrochen wird, sondern ist ihrer Gestalt nach zu urteilen selbst diese Öffnung. Die Entdeckung dieser Öffnung ist zentral für die Entwicklung des Ethos des Unverfügbaren 53, das mit der Wirkkraft von Kūn zusammenhängt und im komparativen Wechselbezug zu zwei anderen Figuren aus der abendländischen Philosophie verständlich gemacht werden soll.
Welt‹ und weiblicher Ur-Öffnung, aus welcher alles Seiende entsteht – würde sich als eine Art dekonstruktives Gegenbild zu der dominanten konfuzianisch geprägten Auslegungslinie der Überlieferungen des Yijing verstehen, wonach Qián (als männlich konnotierte Kraft) vorrangig das Anführende ist. 53 Der Begriff des Ethos des Unverfügbaren bezieht sich zunächst auf die noch näher herauszustellende Wirksamkeit von Kūn im Sinne der uneingeschränkten Offenheit. In der Wirksamkeit von Kūn kommt eine spezifische Haltung zum Ausdruck, die dem Wirken von Kūn sozusagen innewohnt, und die umgekehrt dann den Ausgangspunkt für die Neubestimmung einer neu einzunehmenden Haltung des Menschen gegenüber dem, was für ihn unverfügbar ist, welches jedoch sein Dasein gewährt, ausmachen soll.
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Eine Annäherung an das Verständnis der Gestalt von Kūn und den Versuch, die in dieser Gestalt sich zeigende Wirkkraft und das damit verbundene Ethos des Unverfügbaren geltend zu machen, lässt sich ausgehend von einem phänomenologischen Verständnis 54 mit Bezug auf zwei ihr in einigen Aspekten strukturell verwandten Figuren gewinnen: Die Figur des Raumgebenden im Ausgang von der platonischen Chora (χώρα) und die Figur der Physis (φύσις) als unsichtbarer Fügung (ἁρμονία ἀφανής) im Ausgang von Heideggers Heraklit-Rezeption. In Bezug auf Chora gilt es dabei zunächst, einen Blick auf die systematischen Rahmenbedingungen zu werfen: Denn Chora erscheint zunächst auf eine ähnlich symptomatische Weise in dem Aufbau der Kosmologie des platonischen Dialoges Timaios wie Kūn als das Sich-Fügende der Erde in den Überlieferungen des Yijing. Sie ist eingebunden, oder besser noch eingefügt in ein System, dessen uneingestandene Möglichkeitsbedingung sie letztlich bildet, das aber durch sie selbst, d. h. in der Verwirklichung ihres verdeckten, dekonstruktiven Potentials transformiert werden kann. Die Freisetzung dieses Potentials ist mit der Aufdeckung der spezifischen Grundkonstellation und deren schematischen Bedingungen verbunden. So unterscheidet Platon im Timaios neben dem intelligiblen Sein (τò ὄν) und dem Werdenden (το γιγνόμενον) noch eine dritte Art (τρίτον γένος), die für die Entstehung des Kosmos nicht nur als notwendig postuliert werden muss, sondern diesem auch vorangeht – wodurch letztlich die duale Metaphysik von Sensiblem und Intelligiblem in Frage gestellt werden kann. Platon beschreibt Chora im Timaios als Aufnehmerin und Stätte, gleichsam Amme allen Werdens. Die Mutter des gewordenen Sichtbaren und sinnlich Wahrnehmbaren soll sie sein, d. h. dasjenige, worin sich alles Entstehende im Werden zeigt und worin es wieder zurückgeht. Gemäß Platon muss Chora jedoch, um alle Formen in sich aufnehmen zu können, selbst von jeglicher Form frei sein. 55 Nur vermöge ihrer vollkommenen Form- und BePhänomenologie versteht sich hier zunächst als eine hermeneutische Methode oder ein hermeneutisches Mittel der Annäherung an das Verständnis der Wirkkraft von Kūn, die sich in ihrer Gestalt zeigt. 55 Vgl. Platon: Werke in acht Bänden, Siebter Band: Timaios, hrsg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 2005, 50d. Der Gedanke Platons, dass Chora selbst, um alles in sich aufnehmen zu können, von jeglicher Form frei sein muss, verweist auf die radikale Andersartigkeit der Chora und lässt sich, wie es später noch deutlicher werden soll, phänomenologisch im Hinblick auf die Verbergungsstruktur der ›Matrix‹ weiterdenken. 54
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stimmungslosigkeit, ihrer rein empfänglichen Natur ist Chora Platon zufolge nicht nur fähig, die Abbilder des intelligiblen Seins in sich aufnehmen, sondern insbesondere allem, was entsteht, einen ›Sitz‹ oder einen ›Raum‹ zu geben. Dabei gleichen unverkennbar einige der weiblichen Konnotationen, die Chora im Timaios von Platon zugeschrieben werden – Empfänglichkeit, Aufnahmefähigkeit, Weichheit, Formbarkeit, Gestaltlosigkeit – Bedeutungszuschreibungen, die Kūn im Sinne des Sich-Fügenden der Erde in den Überlieferungen des Yijing erhält und die dort die Grundlage für die Hermeneutik der Macht bilden, d. h. der systematischen Rechtfertigung des Herrschaftssystems dienen. 56 Das Motiv der Chora wurde in der abendländischen Philosophiegeschichte erst seit dem 20. Jahrhundert aufgegriffen. 57 Mit der Einführung dieses Terminus scheint Platons Denken, wie die Wirkungsgeschichte gezeigt hat, weit über sich hinausgegangen zu sein. Methodisch dient Chora dazu, die Kluft zwischen dem Bereich des Intelligiblen, Ewigen und Unwandelbaren und dem des Sinnlichen, Hier gilt es, sich zu fragen, inwiefern die weiblichen Eigenschaften, welche Chora zugeschrieben wurden, ein dekonstruktives Potential besitzen, die den vorausgesetzten Verstehenshorizont des platonischen Dialoges überschreiten. Dass Chora ein dekonstruktives Potential besitzt, lässt sich insbesondere in dem phänomenologischen Verständnis ihres Wirkpotentials als das Raumgebende zeigen. Das Raumgebende als solches ist jedoch, wenn man diese Figur mythologisch zurückverfolgt, nicht losgelöst von der Chiffre einer weiblichen Ursprungsfigur. Im Rückbezug zu mythologischen Figurationen von Chora als Raumgebenden kann ein umfassenderes Verständnis der weiblichen Eigenschaften, die mit dem Wirkpotential von Chora zusammenhängen, herausgestellt werden. Dies bedeutet zugleich, dass von der Tradition zugeschriebene Eigenschaften im Kontext einer Wiederherstellung eines umfassenderen Verständnisses ihres Ursprunges, ganz andere Bedeutung gewinnen und ihr ursprünglicher Gebrauch im Kontext einer Macht-Konstruktion unterlaufen wird. Anders gesagt, nur weil bestimmte als weiblich konnotierte Eigenschaften zu der Konstruktion und Rechtfertigung eines Machtschemas beitragen, bedeutet dies nicht, dass in der Dekonstruktion dieses Schemas darum gänzlich auf das Weibliche als Möglichkeit, eine Gegenhermeneutik zu begründen, verzichtet werden muss. Dies gilt sowohl in Bezug Chora als auch in Bezug auf Kūn. 57 J. Gordon Whitehead nimmt in seiner Rezeption des Timaios für die Entwicklung seiner Kosmologie dieses Motiv auf. Siehe hierzu auch die Anmerkung von Rolf Elberfeld, der sich in seinem Aufsatz Ort – Derrida und Nishitani auf denselben Ausgangspunkt der chora bezieht, allerdings mit der Intention, die Philosophie des Ortes bei Nishitani ausgehend von Derridas dekonstruktivem Ansatz zu entwickeln. Vgl. Rolf Elberfeld: Ort – Derrida und Nishitani, in: Komparative Philosophie, Begegnungen zwischen östlichen und westlichen Denkwegen, München 1998, S. 106–118, hier S. 109, An. 12. 56
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des Werdens und der Veränderung, zu schließen. Jedoch bildet dieses dritte Geschlecht (τρίτον γένος), wie dies insbesondere Jacques Derrida zur Geltung gebracht hat, zugleich ein radikales Außerhalb (des Systems). Weder dem Bereich des Sinnlichen noch dem des Intelligiblen angehörend, ist Chora letztlich eine leere Stelle, eine klaffende Öffnung, ein Abgrund, was dem ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes Chaos 58 entspricht. 59 Nach Derrida fordert Chora die »Logik des Nicht-Widerspruchs der Philosophen« 60 heraus und unterliegt letztlich einer ganz anderen Logik jenseits der kategorialen Oppositionen. 61 Nicht nur Derrida, sondern vor allem auch Martin Heidegger hat mit seiner Deutung der Chora eine Verbindung in Richtung ostasiatisches Denkens hergestellt. 62 In seiner Vorlesung Logik: Heraklits Lehre vom Logos von 1944 schreibt Heidegger: »In dem Zeitwort χωρίζειν liegt ἠ χώρα, ὀ χῶρος; wir übersetzen: die Umgebung, umgebende Umgegend, die einen Aufenthalt einräumt und gewährt. Die Nennworte χώρα, χῶρος gehen auf χάω (wovon χάος), gähnen, klaffen, sich auftun, sich öffnen; ἠ χώρα als die umgebende Umgegend ist dann ›die Gegend‹. Wir verstehen darunter den offenen Bereich und die Weite, worin etwas seinen Aufenthalt nimmt, von woher es herkommt, entkommt und entgegnet.« 63 Klaus Chaos (griechisch χάος), der leere unermessliche Raum, auch die rohe, verworrene Masse, ist auf das Verb χαίνω, gähnen, klaffen, sich auseinandertun, platzen und bersten zurückzuführen. 59 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, hrsg. v. Peter Engelmann, übersetzt v. Hans-Dieter Gondel, Wien 2005. 60 Jacques Derrida: Chōra, S. 125. 61 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 126. 62 Vgl. Rolf Elberfeld: Ort- Derrida und Nishitani; Siehe hierzu auch Günter Wohlfart: Das Weise. Bemerkungen zur anfänglichen Bedeutung des Begriffs der Philosophie im Anschluss an Heraklit-Fragment B 108, in: Philosophisches Jahrbuch, 98:1, 1991, 25 ff. 63 Martin Heidegger GA/55: Heraklit, Frankfurt 1994, S. 335. Selbst wenn sich die Verbindung zwischen χώρα und χάος etymologisch nicht eindeutig nachweisen lässt, kann man sagen, dass gewisse Aspekte ihres Bedeutungsspektrums – vor allen Dingen ihre Verbindung zur (sich jäh öffnenden) Erde, wie später noch gezeigt werden soll – es erlauben, diesen Rückbezug plausibel zu machen. Derrida selbst betont den Charakter des Abgründigwerdens des Systems, das von χώρα als einem radikalen Außerhalb bzw. einer ins jenseits der klassischen Oppositionen führenden Nicht-Gestalt platonischen Denkens erzeugt wird, warnt jedoch davor sie einer anderen anthropomorphen oder vormetaphysischen Instanz anzunähern: »Und dennoch wird […] nicht der Diskurs über chōra zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen, weder dem einen noch dem anderen angehörend […] einen augenscheinlich leeren Raum eröffnet haben […]? Hat er nicht einer klaffenden Öffnung, einem Abgrund oder einem 58
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Held weist darauf hin, dass es das Raumgebende der Welt sei, das im buddhistisch-ostasiatischen Denken im Begriff der Leere zu verorten ist, und das in den westlichen Denktraditionen nur ansatzweise zur Sprache gekommen ist, nämlich im Timaios: »Platon führt im ›Timaios‹ als ursprünglichste, aber kaum fassbare Vorbedingung der schönen Ordnung des Erscheinens, also des ›kosmos‹, die ›chora‹ ein. ›Chora‹ bedeutet eigentlich ›Platz‹. Das Wort gehört mit ›choreo‹ zusammen; was dieses Verb meint, kann man etwa so umschreiben: ›durch Zurückweichen Platz geben und zum aufnehmenden Raum werden.‹ […] Als Geschehen des zurückweichenden Raumgebens ist die chora sachlich nichts anderes als jene Leere, welche die Welt selbst ist.« 64 Nach Edward Casey weist Chora auf eine Art vorphänomenale Matrix hin, der eine präformierende Kraft zukommt, die vor Chasmus den Namen gegeben? Kann nicht erst von diesem, ›in‹ ihm gelegenen Chasmus aus die Spaltung zwischen Sinnlichem und Intelligiblen Statt finden und Platz nehmen? Halten wir uns davon ab, diesen Chasmus namens chōra voreilig diesem Chaos anzunähern, das gleichfalls das Klaffen des Abgrunds eröffnet. Vermeiden wir es, die anthropomorphe Form und das Pathos des Schreckens da hineinzuwerfen.« Jacques Derrida: Chōra, S. 33 f. 64 Klaus Held: Welt, Leere, Natur. Eine phänomenologische Annäherung an die religiöse Tradition Japans, in: Akihiro Takeichi: Das Bild von Mensch und Natur im 21. Jahrhundert. Zur neuen Philosophie der Politik, Gesellschaft, Technologie und Natur, Kyoto 1995, S. 67–89, hier S. 117 f. Die Welt ist leer, weil sie keine Substanz hat; es gibt kein Substrat, kein Wesen wodurch die Welt getragen wird. Ausgehend von dieser ur-buddhistischen Konzeption der Leere ist eine Verbindung zu Chora im Sinne eines Ermöglichungsgrundes des Erscheinenden problematisch. Mit der Entstehung des Mahâyâna-Buddhismus verändert sich die Auffassung der Leere hin zu einer Philosophie der Leerheit. Die Äußerung des Buddha »alles ist leer« erhält insbesondere in den Prajñâpâramitasutras die Form »alles ist Leerheit«. Dieser Bedeutungssprung ist erheblich, sofern die adjektivische Ausdrucksweise »leer« (shûnya) jedes Objekt isoliert für sich kennzeichnet, während das Substantiv »Leerheit« (shûnyatâ) eine Leerheit als zwischen den Objekten stehende Identität impliziert. Anders gesagt: Leerheit wird als Absolutes definiert, allerdings darf dieses Absolute nicht positiv-metaphysisch verstanden werden, vielmehr hat es einen negativ-subtraktiven Charakter. Trotzdem erschöpft es sich nicht in der offenen Relationalität der Dinge, sondern stellt etwas dar, was sich der Relationalität entzieht. Ein Darüberhinausgehendes, das nicht metaphysisch aufzufassen ist, kann nur als Entzugsgeschehen konzipiert werden. Die Parallelen, die zwischen dem Buddhismus und der postmodernen Philosophie hergestellt worden sind, kreisen um den Gedanken eines Negativen, das sich als solches in keine phänomenale Struktur einbeziehen lässt und keine positive Bestimmung erlaubt. Die Abgelöstheit dieses Sich-Entziehenden wird derart betont, dass seine Verbindung zum Ganzen des Erscheinenden nur jene der Unterbrechung oder der Zäsur sein kann. Diese Hyperbetonung des Negativ-Absoluten wird jedoch der Problematik des Raumgebenden nicht gerecht. Das Raumgebende geht
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jedem Eingriff oder Tätigkeit eines Schöpfers waltet. 65 Casey betont, dass die Matrix ein ›Ort‹ der Herkunft und des Wachstums ist: »In its literal sense of ›uterus‹ or ›womb‹, the matrix is the generatrix of created things: their mater or material precondition.« 66 Alles erscheint durch Chora, sie selbst erscheint jedoch als solche nicht, sondern ermöglicht gerade durch ihre wesensmäßige Unscheinbarkeit das Erscheinende. 67 Besonders hervorzuheben ist hier der Charakter des Unscheinbaren, des Selbst-nicht-in-Erscheinung-Tretens und Zurückweichens, der die Wirkkraft dieser Figur bestimmt: Nur indem sie selbst, so könnte es zusammenfassend gesagt werden, ohne eigene Form und Bestimmung, das aber heißt ohne eigene Substanz (leer) bleibt, kann sie der Vielheit aller Dinge stattgeben. Genau in diesem Geschehen des zurückweichenden Raumgebens öffnet sich, ereignet sich Welt. In Bezug auf den Gedanken des Ethos des Unverfügbaren ist hinsichtlich der Figur von Chora vor allen Dingen der phänomenologische Charakter des Zurückweichenden (Raumgebens) und damit verbunden des Öffnens und Ereignens der Welt von Relevanz. Auch die Unscheinbarkeit als Möglichkeitsbedingung des Erscheinens wird in Bezug auf Chora hervorgehoben. Die Grundlage für diesen Gedankengang findet sich in Heideggers Deutung der Physis, wie sie unter anderem in seiner Heraklit-Vorlesung 68 erscheint. Heidegger lenkt weder in einem bloßen Entsubstanzialisierungs- noch auch in einem Entzugsgeschehen auf. 65 Edward Casey setzt sich in seinem Buch The Fate of Place ausgehend von einer Analyse einiger Schöpfungsmythen mit dem Problem der creatio ex nihilo auseinander und formuliert die These, dass Schöpfung immer Schöpfung aus etwas Vorgegeben ist. Diese phänomenologische Position spricht sich gegen die Idee eines anfänglichen Nichts aus. Das Vorgebebene der Schöpfung hängt nicht nur mit der Frage des Ortes zusammen, sondern in erster Linie mit jener der Materie, jedoch nicht im Sinne des physisch Ausgedehnten, des Soliden und Undurchdringlichen, sondern im Sinne der vorphänomenalen oder elementaren Matrix, die als präformierende Vorbedingung des Erscheinenden fungiert. Vgl. Edward Casey: The Fate of Place, A Philosophical History, Berkley and Los Angeles, California, 1998. 66 Edward Casey: The Fate of Place, A Philosophical History, S. 24. 67 Günter Figal widmet Chora ein ganzes Kapitel in seinem Buch Unscheinbarkeit. Vgl. Günter Figal: Unscheinbarkeit. Der Raum der Phänomenologie, Tübingen 2015, § 3: χώρα. »Es könnte eine Figur geben, von der man annehmen darf, dass sie die Figur des Unscheinbaren ist. Ob sie es ist oder nicht, würde sich zeigen, wenn es gelingt, mit ihr als Paradigma – als etwas an dem entlang sich etwas zeigen lässt – die Züge des Unscheinbaren zu erkennen.« Günter Figal: Unscheinbarkeit, S. 38. 68 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, Heraklit.
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dort den Blick auf die Physis, die als das reine Aufgehen dem Erscheinenden als dessen Erscheinungsbedingung vorangeht. Die Physis lässt nach Heidegger das Seiende im Ganzen aufgehen, weil sie aber das Seiende im Ganzen aufgehen und in seine Gestalt kommen lässt, erscheint sie selbst dabei nicht, bzw. bleibt dem ontischen Modus des Erscheinens nach stets verborgen. Dabei liegt die Unscheinbarkeit in der ureigenen Struktur der Physis selbst begriffen. Alles Erscheinende geht nach Heidegger zwar in der Physis auf, sie selbst gründet jedoch wesensmäßig in einem Sich-Verbergen. Mit dem Moment des Sich-Verbergens hängt zusammen, dass Heidegger die Physis in Rückbezug auf Heraklit als unscheinbare Fügung 69 denkt. Der für das Entbergen – oder ins Offene-Bringen – konstitutive Verbergungscharakter der Physis erscheint zugleich in Heideggers Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes, wo eine phänomenologische Annäherung an die Erde – welche mit dem Sich-Verschließend-Aufgehenden korrespondiert – den wesentlichen Teil seiner auf eine Ontologie der Kunst abzielenden Argumentation bildet. Sie geht aber zugleich weit über den Rahmen einer Kunsthermeneutik hinaus. In Heideggers Aufsatz können wichtige Einsichten über die Seinsphänomenalität festgestellt werden, etwas, das Heidegger auf eine prägnante Weise erst in seinen letzten Schriften entwickelt hat. In dem Begriff der Wahrheit (a-letheia) verdichtet sich das Denken der Physis und Erde: »Weil das Sichverbergen, die Verborgenheit, die Lethe zur A-létheia gehört, nicht als eine bloße Zugabe, nicht so wie der Schatten zum Licht, sondern als das Herz der Alétheia.« 70 Trotz der differenten systematischen Rahmenbedingungen zeichnen sich in Chora – als dem zurückweichenden Raumgeben – und Physis – als der unscheinbaren Fügung – gewisse Züge von etwas ab, was in Kūn letztlich eine konkret anschauliche Gestalt annimmt und worin zugleich auch das Ethos des Unverfügbaren deutlicher wird. Strukturell betrachtet handelt es sich dabei um eine Figur 71, welche die Vielheit des Lebendigen 72 durch ihr eigenes ZurückSiehe hierzu Heraklit, Fragment 54: harmoníê aphanês phanerês kreittôn. Vgl. Herman Diels und Walther Kranz: Die Fragmente de Vorsokratiker, 3 Bände. Griechisch und Deutsch von Herman Diels, hrsg. v. von Walther Kranz, Weidmannsche Hildesheim 2004. 70 Martin Heidegger: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in: Martin Heidegger: Zur Sache des Denkens, S. 61–80, hier S. 78. 71 Streng genommen müsste man von einer Nicht-Figur sprechen. 72 Der Begriff ›Lebendiges‹ wurde vor dem Hintergrund des chinesischen Terminus 69
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genommensein ermöglicht: Ermöglichung von Seiendem hängt hiernach konstitutiv mit Selbstzurücknahme zusammen, worin sich zugleich eine wesentliche Dimension des Ethos zeigt – hier verstanden als die besondere Wirkungsweise dieser Figuren. Chora vermag allem Seienden einen Raum zu geben, dadurch, dass sie als sie selbst zurückweicht oder, wie Platon sagt, als dasjenige, was alle Formen aufnimmt, von jeglicher Form notwendigerweise selbst frei sein muss. Physis lässt das Seiende im Ganzen aufgehen 73, jedoch nur vermöge ihrer eigenen Unscheinbarkeit 74, ihres konstitutiven Sich-Verbergens – worin zugleich das edle ›Vermögen‹ der Physis liegt. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch die uneingeschränkte Offenheit von Kūn verstehen: Denn nur dadurch, dass Kūn uneingeschränkt offen ist – was sich in ihrer Gestalt (sechs geöffnete Linien) anzeigt –, d. h. auf der Ebene der Erscheinung selbst nicht erscheint, kann sie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen, phänomenologisch betrachtet, zur Erscheinung bringen und gilt zugleich als Verortungsstätte dieser Mannigfaltigkeit, ohne dabei irgendwelche Bestimmungsrichtungen in der Dynamik des Lebendigen zu fixieren. Um dem Anspruch dieser Arbeit einzuholen, nämlich die Bedeutung der uneingeschränkten Offenheit 75 von Kūn auf eine philosophisch plausible Weise zu rechtfertigen, soll mittels der Einführung eines Modells der formal-differenzialitischen Unterscheidung von ontologischer Konsistenz und ontischer Konsistenz der Gedanke der uneingeschränkten Offenheit von Kūn entlang der Analyse der Dynamik von Kūn methodisch sicher herausgestellt und ihre bisher nicht sichtbar gewordene Vorrangstelle gegenüber Qián im Kontext der Überlieferungen explizit gemacht werden. 76 Dieses Modell zeigt, warum Kūn als ontologisch konsistent betrachtet werden muss, ontisch hingegen als inkonsistent. Vor dem Hintergrund dieses Modells wu gewählt: Er ist insofern irreführend als er eine Entgegensetzung zwischen lebenden und nicht-lebenden Dingen impliziert, die durch den Begriff nicht impliziert ist. Vgl. Sarah Allan: The Way of Water and Sprouts of Virtue, Albany 1997, S. 96. 73 Aufgehen besagt hier eine Bewegung, ein Wachsen, bedeutet aber keine ontologische Wirkkraft, wie dies bei Kūn der Fall, ist. 74 Eben weil wir nicht das Aufgehen selbst sehen, sondern nur das Seiende. Es scheint eine Überschneidung zwischen dem Aufgehen und dem Seienden im Ganzen zu geben, während sich das Sich-Verbergen dadurch erklärt, dass der ontologische Bereich leer ist. 75 Zu einer systematischen Entwicklung der uneingeschränkten Offenheit, siehe Kapitel IV. 76 Siehe vor allen Dingen Kapitel 4: Die Dynamik von Kūn.
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wäre ›uneingeschränkte Offenheit‹ nicht nur nicht dasselbe wie ›Sich-Fügen‹, sondern genau das Gegenteil davon, d. h. dasjenige, was sich ›wesensmäßig‹ (d. h. ausgehend seiner ontischen In-konsistenz) niemals in ein Unterordnungsverhältnis forcieren lässt. Vielmehr bildet die uneingeschränkte Offenheit, die in der Liniengestalt von Kūn zum Vorschein kommt, die Möglichkeitsbedingung ihrer unendlichen Generativität und zeichnet zugleich den Status ihrer Unverfügbarkeit aus. Nur indem Kūn uneingeschränkt offen ist, d. h. selbst nicht erscheint (keine Konsistenz auf ontischer Ebene hat), kann sie die Mannigfaltigkeit aller Lebensformen zur Erscheinung bringen. Hierin liegt zugleich der Schlüssel für das Verständnis der ontologischen Konsistenz: Ontologische Konsistenz bedeutet zugleich ein generatives Vermögen, das den Übergang von dem Ontologischen zum Ontischen im Sinne eines Konsistent-Werdens der Wandlungen markiert. 77 Die das gesamte Spektrum von Werden und Vergehen, Konsistent- und Inkonsistentwerden umfassende Dynamik von Kūn soll auf einer graphosemantischen Ebene, d. h. der Analyse der Interaktion des Zeichens von Kūn mit den ihr immanent verbundenen Zeichen, analogisch aufgezeigt werden. Das dabei applizierte differenzialistische Modell soll den Zweck erfüllen, die Vorrangstelle von Kūn begrifflich herauszustellen sowie ihre ontologisch-ontische Generativität als transgressives Produktivitätsmerkmal der Entstehung der soliden oder koagulierten (Welt-)Formen sichtbar werden zu lassen, sofern die eigentlich fundamentale StelDie reine durchgängige offene Struktur von Kūn besagt vor dem Hintergrund des Modells, dass Kūn an sich unsichtbar, d. h. ontisch betrachtet inkonsistent ist. Im Vergleich zu der Gestalt von Qián besitzt Kūn keinerlei Härte, Dichte oder Solidität und korreliert deswegen mit dem Grad Null des Erscheinens (sofern Erscheinen ontisch bestimmt ist, d. h. als Erscheinen eines Erscheinenden). Die uneingeschränkte Offenheit von Kūn kann als reine (noch nicht konkret bestimmte) Wandlung betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund wurde im 4. Kapitel der Terminus des ›Flusses‹ eingeführt, um die uneingeschränkte Offenheit von Kūn im Sinne der reinen (noch nicht konkret bestimmten) Wandlung und Kehrseite ihrer ontischen Inkonsistenz begrifflich zu definieren. Die uneingeschränkte Offenheit von Kūn ist dasjenige, was das generative Vermögen von Kūn auszeichnet: Wäre Kūn nicht uneingeschränkt offen, könnte sie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen nicht hervorbringen. Das generative Vermögen von Kūn ermöglicht zugleich den Übergang von dem Ontologischen zu dem Ontischen im Sinne des Konsistent-Werdens der Wandlungen. Der Terminus des ›Flusses‹ fungiert in diesem Sinne auch als Markierung des Zusammenhanges zwischen dem Ontologischen und dem Ontischen durch das generative Vermögen von Kūn, was insbesondere für das Verständnis der Verbindung zwischen Kūn und Erde und einem neuen Zugang zur Erde von Relevanz sein wird.
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lung von Kūn ausgehend von der Hermeneutik der Überlieferungen ›negiert‹ bliebe. Daher ist eine Gegenhermeneutik notwendig, welche Kūn als eine differenzialistische Instanz zeigt. Die Dynamik von Kūn verweist insgesamt auf ein prozessuales Verständnis von Wirklichkeit, anders als dasjenige, was durch die Rahmenbedingungen des Denkens für das Auftreten von Chora und Physis gesetzt ist. Angesichts dieses – vermittelt durch die Dynamik von Kūn in den Wandlungen (dem Yijing) zum Vorschein kommenden Verständnis von Wirklichkeit – ist es nicht mehr länger möglich, zwischen dem Erscheinenden und seiner Erscheinungsbedingung irgendeine Form von Bruch oder Trennung einzuführen. 78 Die Dynamik von Kūn öffnet den Blick hin zur Offenheit – dem kontinuierlichen Fließen der Gestalten (d. h. dem Konsistent- und Inkonsistentwerden). Letztlich bricht die Offenheit von Kūn mit einer eigentlichen Strategie des Ursprungs, im Sinne der Gründung einer Wahrheit und Macht, wie sie in den Überlieferungen des Yijing zu finden ist und weist doch auf eine ereignishafte Stätte der Wandlung und Veränderung, die aber von keiner Besetzungsform mehr abhängig zu machen ist, sondern in ihrer Dynamik der endgültigen Verfestigung von konsistenten Einheiten – politisch, metaphysisch, metadiskursiv usw. – widersteht. In diesem Sinne wird durch die Freisetzung des vollen Potentials von Kūn der Vorgang der Essentialisierung, der sich ausgehend von dem (geschlechts-)hierarchisch fixierenden Schema der Überlieferungen vollzogen hat, verflüssigt und der Grundcharakter der Wandlungen, der vielmehr fließende Identitäten statt starrer Essenzen betont, wieder herausgesellt. 79 Die unaufhörliche Bewegung der Generativität und Regenerativität von WieFrançois Jullien hat die Notwendigkeit eines »Ortswechsel des Denkens« in seinen Werken deutlich gemacht: Ausgehend von einem Ort, der anders ist, ein Anderswo, wird es möglich eine Distanz zu den eigenen, kulturell bedingten Formen des Denkens zu schaffen, allerdings mit dem Ziel einen erneuten Zugriff auf die eigene Denktradition zu gewinnen und sie auf ihre eigenen impliziten Voraussetzungen, ihre Vorentscheidungen hin zu hinterfragen. Vgl. François Jullien: Der Umweg über China, Ein Ortswechsel des Denkens, übers. v. Mira Köller, Berlin 2002, S. 96 f. Jullien versteht seinen Umweg über China als eine Methode: Die Methode, das Denken den Ort wechseln zu lassen, um andere Arten von Intelligibilität zu berücksichtigen, um durch einen Umkehreffekt die Ausgangsbedingungen der europäischen Vernunft zu hinterfragen.« François Jullien: Umweg über China, S. 84. 79 Dementsprechend erlauben die sich verändernden Rollen, Muster und Identitäten des Yijing Gender auf eine vielfältige Weise zu erfahren und neu zu erleben, ohne dass eine grundlegende Struktur dahinter fixiert werden kann, was es bedeutet, männlich 78
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der-, Um- und Rückkehr, der Fruchtbarkeit und des fruchtbaren Austausches, der ausgehend von Kūn sichtbar wird und konstitutiv für den Gestaltungsprozess des Yijing ist, zeigt ein anderes Verständnis von Gleichgewicht und Fügung als die Reproduktion einer statisch hierarchischen binären Gegensatzbildung. Die Möglichkeitsbedingung, die Vielheit alles Lebendigen zur Erscheinung – ins Dasein – zu bringen, liegt in der uneingeschränkten Offenheit von Kūn begründet. Dies bedeutet jedoch auch, dass uneingeschränkte Offenheit weder rein passiv-phänomenologisch (wie Chora im Sinne einer Erscheinungsmatrix) noch rein dekonstruktiv im Sinne eines radikalen Außerstandortes (wie Chora im Sinne einer radikalen Differänz) und auch nicht als Entzogenheit (wie im Falle von Physis), sondern die reine Offenheit (im Falle von Kūn) zugleich als ein Vermögen der Generativität zu verstehen ist, welches den fließenden Übergang vom ›Ontologischen‹ zum ›Ontischen‹ – in letzter Konsequenz die intrinsische Verbindung von Kūn und Erde – kennzeichnet. Denn Chora bleibt nicht nur unter platonischen Parametern betrachtet von dem Seienden gänzlich ›unberührt‹, sondern insbesondere auch, wenn man sie wie Derrida im Sinne einer Chiffre postmodernen Denkens 80 dekonstruktivistisch als Figur radikaler Differenz auffasst. Ähnliches gilt auch in Bezug auf die Physis, wenn Heidegger sie als eine Entzogenheitsbewegung (im Sinne der Differenz des Seins in Bezug auf das Seiende) denkt. 81 Kūn unterscheidet sich von Chora und Physis hinsichtlich des Herstellens einer Gesamtdynamik des Lebendigen, d. h. des Überganges von demjenigen, was das Erscheinen gewährt (der ›ontologischen Instanz‹) und dem Erscheinenden (dem ›ontischen Geschehen‹) selbst. Als Wirkkraft der Erde verstanden ist Kūn von dem Lebendigen, den Wesenheiten nicht oder weiblich zu sein. Vgl. Eric S. Nelson and Liu Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 270. 80 Derridas Versuch – als Chiffre postmodernen Denken –, ein ›Diesseits‹ der Geschlossenheit der historisch-metaphysischen Epoche zu denken (die nach Heideggers Diagnose von Platon inauguriert wurde), ist nichts Anderes als die radikalste Negativitätsform, die in der Geschichte der westlichen Philosophie zum Ausdruck gekommen ist. Mit diesen Negativitätsformen des Denkens befinden wir uns gewissermaßen inmitten der Sackgasse westlichen Denkens. 81 Zwar sind das Sein und das Seiende bei Heidegger nicht getrennt voneinander, doch entzieht sich das Sein. Gleichsam ist etwas von der ›Präsenz‹ des Seins in der Entzogenheitsbewegung, die Heidegger insbesondere in seinem Denken der Physis herausstellt, spürbar. Eine genauere Differenzierung zwischen Kūn, Chora und Physis erfolgt in dem Ausblick der Arbeit: Ethos des Unverfügbaren.
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Einleitung
zu trennen: Aus ihrer Wirkkraft (Generativität) geht die Vielheit des Lebendigen und die Wesenheiten in ihrer Fülle und Komplexität hervor, dessen Ganzes sozusagen die Erde bildet, gleichzeitig kann sie dadurch jedoch nicht erschöpft werden, sondern bleibt in ihrer unendlichen Generativität (welche ihre Wirkkraft im Sinne der uneingeschränkten Offenheit kennzeichnet) unverfügbar. Um solch einem generativen Vermögen – welches die Verbindung zwischen Kūn und den Lebewesen bzw. der Erde markiert – auf der Ebene der Reflexion gerecht zu werden, muss nicht nur eine differenzial-theoretische, sondern auch eine operativ relevante hermeneutische Herangehensweise aufgebaut werden, wodurch es deutlich wird, dass andere Modalitäten des Umganges mit Seiendem in den Vordergrund treten können und müssen. 82 Rückblickend lässt sich hieraus eine andere Perspektive mit Bezug auf das Verständnis des Menschen von der Erde und seines Umganges mit ihr ausmachen – sofern ›Erde‹, wenn man sich von der reduktionistischen Modalität ihrer Rezeption im vergegenständlichenden, modernen und episteDiese hermeneutische Entfaltungsmöglichkeit wurde auch in dem Versuch, Figuren wie Chora und Physis – ähnlich wie Kūn – an mythologische Vorstellungen anzubinden, geltend zu machen. So lässt sich Chora ausgehend von verschiedenen Aspekten, die mit ihrer weiblichen Generativität und Hervorbringungskraft verbunden sind (eine Dimension, die bei Platon verzerrt und verdrängt erscheint und von Derrida als Destruktion des dekonstruktiven Potentials von Chora gewertet wird), in einen Zusammenhang mit mythologischen und frühreligiösen Vorstellungen der Erde bringen. Das Moment einer sich öffnenden und wieder verschließenden Erde bildet dabei ein wichtiges Motiv, das strukturell mit der chthonischen Wirkmacht zusammenhängt. Gottheiten wie Demeter und ihre römische Entsprechung Ceres umfassen stets beide Sphären des chthonischen Bereiches: das Hervorbringen eines neuen Wachsens der Natur (Sich-Öffnen) und das Bergen dessen, was gestorben war (Sich-Schließen). In der Polarität des Sich-Öffnens und Sich-Schließens, des Gebärens alles Lebendigen und des Bergens der Toten, entsprechen sich diese chthonischen Gottheiten. Diese Rückbindung von Chora an mythologische Gestalten der Erde ermöglicht zugleich ihr weiblich generatives Potential (gegen den Platonismus und gegen eine dekonstruktive Entsubstanzialisierung) aufzuwerten. Einen ähnlichen Zusammenhang ließe sich mit Bezug auf Physis aufspannen, die Heidegger mit der Göttin Artemis verbindet (»Artemis ist die Göttin der φύσις«). In Artemis konvergiert nach Heidegger die Gegenwendigkeit des Seins – des Finsteren und Erstarrten mit dem Leben und dem Wachstum – die Entsprechung zwischen Leben und Tod. Allerdings darf Artemis als Göttin der Physis nicht – wie Heidegger meint – als eine ›Lichtbringerin‹ (Schwester Apollons, des Gottes des ›hellen Sehens‹) verstanden werden, sondern als Erbin des vorolympischen Demeterkultes und der ›dämonischen‹ Götter (δαιμονες). Vgl. Borislav Mirkulić: Sein, Physis, Aletheia. Zur Vermittlung und Unmittelbarkeit im »ursprünglichen« Seinsdenken Martin Heideggers, Würzburg 1987, S. 412.
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Einleitung
misch-zentrierten Denken distanziert, nicht nur als Figur einer materiellen Ganzheit oder phänomenal bestimmbares Seiendes fungiert, sondern als eine ›Kraft‹ oder ›Gottheit‹ erfahrbar wird. Solche Termini, die auf den ersten Blick im Rahmen einer philosophischen Arbeit völlig illegitim erscheinen, fungieren als mögliche Öffnung des hermeneutischen Horizontes jenseits der selbstverständlich hingenommenen epistemischen Begrifflichkeit, die letztlich das Resultat einer absolutistischen Anwendung des westlich-modernen Intelligibilitätsmodus ist und keineswegs ein Zeichen echter philosophischer Redlichkeit – insbesondere in Anbetracht anderer, nicht-westlichen Kulturen und Weltbezugsmodi. Dieser Themenkomplex wird aber schon im Kontext des Yijing oder genauer in dem Spruchwerk deutlich, das – trotz der Konsolidierung eines systematischen Machtdiskurses – tiefe Bedeutungsschichten des ursprünglichen Verständnisses von Kūn bewahrt – Schichten, die mit der Bedeutung von Kūn im Kontext des Orakelwesens, d. h. im Hinblick auf eine Öffnung hin zum Archaisch-Anderen zusammenhängen. Damit diese Öffnung überhaupt spürbar wird, bedarf es aber einer Änderung des Blicks, bzw. einer differenzialen Einübung ins Unvordenkliche. Es wurde bereits gesagt, dass sich die Zeichen des Yijing auch auf Embleme von Gottheiten und Mächten zurückführen lassen. 83 Das Ahnenopfer sowie überhaupt Opferrituale spielen mit Blick auf die Funktion des Orakels eine ausgezeichnete Rolle im Spruchwerk des Yijing. So verbirgt sich auch hinter Kūn – wenn man die inhärente Logik der Orakelsprüche des Yijing in Betracht zieht – keine abstrakte Gedankenfigur, sondern letztlich das Wirken einer Kraft oder Gottheit, die mit der archaischen Macht der Erde und dem mit ihr verbundenen Kult in enger Verbindung steht. 84 Das Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 374. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 307. Mit Himmel und Erde stehen verschiedene Göttergestalten in Verbindung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Kūn nicht nur mit der Erde oder der Erdgottheit in einem Zusammenhang gebracht werden kann, sondern auch mit dem Zeremonialgefäß cong, welches in Trauerzeremonien dazu verwendet wurde, die Vereinigung der Toten mit der Erdmutter zu vollziehen. Der Zusammenhang zwischen der Erde und mythologischen Vorstellungen der im Sinne der Erdgottheit und der religiösen Verehrung Erdgottheit in Erdkulten wird im 3. Kapitel dieser Arbeit aufgegriffen. Nach dem Orakelspruch des Yijing sind an die ›Macht‹ des Erdreichs Hauptopfer zu erbringen: »Das Hauptopfer an den [Ahn] des Erdreichs ist der Weihung der Urstute dienlich.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. In dem Orakelspruch zu Kūn wird die ›Stute‹ genannt. Vielen Zeichen des Yijing liegen Tiervorstellungen zugrunde, die in einem
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Einleitung
Machtvolle dieser mit der Erde verbundenen Kraft kommt in verschiedenen Motiven des Spruchwerks noch zur Geltung. Anders als in den Überlieferungen des Yijing, welche die Wirkkraft von Kūn als passive Empfänglichkeit im Sinne des Sich-Fügens der Erde auslegen, verstehen die Sprüche Kūn so, dass ihr eine Macht der Entscheidung zukommt. Kūn trägt in ihrer allumfassenden Kraft alle Wesen und gewährt das Lebendige, jedoch steht sie dem Wirken der Wesen nicht ohne weiteres zur Verfügung. Vielmehr ist es notwendig, dass die Wesen in ihrem Wirken sich um die Zuneigung und Unterstützung von Kūn bemühen. Dies bedeutet zugleich, dass die Wesen einen Zugang zu Kūn haben, jedoch nicht imstande dazu sind, diese Kraft zu beherrschen. Kūn zeigt sich mit Blick auf die Perspektive der Wesen in dem Spruchwerk des Yijing vielmehr als eine Instanz, die richtet, prüft und auswählt. Die Tonalitäten des uneingeschränkt-Offenen werden auf ontischer Ebene notgedrungen im Modus einer dynamischen Abstufung von subjektivierten Kraftquanten durchdekliniert, die u. a. zum rituellen Umgang bzw. zu einer strukturierten (und sakralisierten) Auseinandersetzung zwingen. Es ist naheliegend, dass es sich in dem hier angesprochenen Verhältnis zwischen den Wesen und Kūn, um eine Art archaische Haltung des Menschen gegenüber der Erde handelt, deren ursprüngliche Macht er anerkennt und die er nicht kontrollieren kann, zu der er aber gleichzeitig auch einen bestimmten Zugang besitzt. Dieser archaische Bezug des Menschen zur Erde könnte für eine maßgebliche Dimension des Ethos des Unverfügbaren fruchtbar gemacht werden, nämlich bei der Frage nach einer dem Ethos von Kūn entsprechenden Haltung des modernen Menschen gegenüber der Erde. Dabei geht es im Rahmen einer Rehabilitierung des Ethos von Kūn weniger um die Rückengen Bezug zu den Gottheiten stehen. Ältere Bezeichnungen für die Zeichen des Yijing sind daher auch, wie bereits gesagt wurde, ti, ›Körperteil‹. Im Kontext des Opfers bezeichnet ti das Tier oder den Teil des Tieres, der mit der Gottheit, der geopfert wird, in enger Verbindung steht. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 319. Darauf basiert das Verständnis der Zeichen: Mit den ti (den Tieren und Teilen des Tieres) sind bestimmte Wirkkräfte verbunden, sie besitzen wie die Zeichen des Yijing eine bestimmte Eignung (de). Verschiedene Ursprungsvorstellungen weisen auf die enge Verbindung zwischen den Zeichen und den Naturwesen. Dem Mythos zufolge sind sie aus den Körperzeichnungen magischer Tiere hervorgegangen. Dies macht deutlich, dass die Zeichen im Yijing nicht als einfache Symbole verstanden wurden, sondern als Bilder magisch ausgestatteter Wesen, die wesentlich für die Wirkkraft des Orakels sind. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 285.
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Einleitung
kehr zu irgendeiner rituellen Opferhaltung als vielmehr zunächst um die Anerkennung, dass das Lebendige – dem Verständnis des Spruchwerkes folgend – aus einem ursprünglichen Gewähren (Wirkkraft der lebendigen Erde) und nicht aus einem immer schon verfügbaren Gegenüber (verobjektivierbaren Ressourcen) hervorgeht. Obschon Kūn nämlich das Lebendige gewährt, steht der Mensch seinerseits vor einer grundlegenden Entscheidung: Nämlich vor der Frage nach der Abkehr von einer Haltung der Beherrschung, Verobjektivierung und zerstörerischen Manipulation der Erde zu einer nicht-beherrschenden, bewahrenden Haltung gegenüber der umfassenden ›Kraft‹ der Erde. Das Ethos des Unverfügbaren zielt in diesem Sinne auf die Schaffung einer Grundlage für eine neue Wertschätzung der Erde, welcher maßgeblich durch einen anderen Zugang zu ihr – und eine tiefe Transformation unseres Weltverhältnisses – bestimmt ist. In ihrer uneingeschränkten Offenheit als Möglichkeitsbedingung der Mannigfaltigkeit des Lebendigen ist Kūn nicht verfügbar. Kūn als uneingeschränkt Offenes erscheint nicht als solches, weil sie nur so die Gesamtheit aller in ihrer Vielfalt unterschiedenen Erscheinungsformen gewähren kann. Als generative Wirkkraft der Erde ist Kūn zwar nicht als getrennt von dem Lebendigen zu betrachten, doch erschöpft sich ihre Kraft nicht in der Konfiguration (oder Delimitation der Gestalten) des Lebendigen und steht daher auch nicht in der Verfügbarkeit des Menschen. Über Kūn als das uneingeschränkte Offene kann der Mensch keinerlei Macht ausüben, sie bildet das für ihn schlechthin Unverfügbare. Für uns zugänglich und in diesem Sinne auch verfügbar, ist jedoch die Erde, die als die sichtbare Gestalt dieser Wirkkraft von Kūn – oder Konfiguration dieser Wirkkraft im Zusammenhang des Lebendigen – betrachtet werden kann. Dies bedeutet zugleich, dass die Wirkkraft von Kūn in der Fülle und Mannigfaltigkeit dessen, was wir die Erde nennen, indirekt zugänglich wird. Die sichtbare und erfahrbare Mannigfaltigkeit der Erde ist sozusagen der unmittelbare Ausdruck für die nicht erschöpfbare Wirkkraft von Kūn. Kūn und Erde sind in diesem Sinne nicht getrennt voneinander, sondern bilden eine Einheit, die von zwei Seiten aus betrachtet werden kann: Der Seite der Wirkkraft (in ihrer ontologischen Form als uneingeschränkte Offenheit und Vermögen der Generativität) und die der je unterschiedlichen Ausgestaltung dieser Wirkkraft in der konkreten Vielheit – dem Netzwerk des Lebendigen. 85 85
Diese »Verdopplung« bezieht sich hier lediglich auf zwei verschiedene Ebenen der
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Einleitung
Mit Blick auf die Wirkkraft von Kūn wird das Ethos von Kūn sichtbar. Dieses besagt, dass die Mannigfaltigkeit des Lebendigen nur gegeben sein kann dadurch, dass Kūn uneingeschränkt offen ist und für uns darin unverfügbar bleibt. Erkennen wir das Ethos von Kūn, d. h. die Tatsache, dass sie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen durch ihre uneingeschränkte Offenheit hindurch gewähren kann, erscheint die Erde und auch die Modalitäten unseres Zugangs zu ihr auf eine andere Weise. Die Möglichkeiten unserer Erfahrung der Erde vertiefen sich durch Kūn, womit sich zugleich eine andere Einstellung herauskristallisieren kann. Einerseits geht es in der Entwicklung des Ethos des Unverfügbaren um ein offenes Sich-Einlassen auf die Phänomenalität des Lebendigen 86, dessen Erscheinungsort die Erde ist, andererseits aber auch um einen dabei zu vollziehenden Einstellungswechsel, d. h. eine neu zu gewinnende (ethische) Haltung des Menschen gegenüber der Erde, die durch eine Einübung in die Wirkkraft der Erde, d. h. Kūn, zu kultivieren ist. Diese Haltung kann als das Korrelat der Wertschätzung für dasjenige angesehen werden, was die uns umgebende Mannigfaltigkeit des Lebendigen (uns selbst miteingeschlossen) durch ihre eigene uneingeschränkte Offenheit hindurch gewährt und daher notwendigerweise für uns unverfügbar bleiben muss. Sie bildet sozusagen die Kehrseite des Ethos, das durch Kūn sich zeigt, auf der Seite des Menschen, d. h. ein Antwortverhalten des Menschen gegenüber der unendlich generativen Wirkkraft der Erde. Was den Aufbau der Arbeit betrifft, so soll im ersten Kapitel die Figur der Chora im platonischen Dialog Timaios untersucht werden. Dabei soll nicht nur Chora phänomenologisch als das Raumgebende thematisiert, sondern auch das Potential von Chora ausgehend von einer dekonstruktiven-feministisch orientierten Kritik zur Entfaltung gebracht werden und ihre mythologische Vorgeschichte vor Reflexion oder, mit Husserl gesprochen, auf die methodische Unterscheidung zwischen natürlicher und phänomenologischer Einstellung. Vor diesem Hintergrund wäre »gestalten« eine Form von Raumgeben, d. h., dass es keine phänomenale Räumlichkeit gibt, die Möglichkeitsbedingung für Phänomene ist, sondern aufgrund der Generativität ist Raum immer schon durch eine Artikulation/Besetzung/Aufteilung be-stimmt. 86 Vgl. hierzu Rolf Elberfeld: Phänomenologie des Lebens als Selbst-Transformation, in: Leben als Phänomen, Die Freiburger Phänomenologie im Ost-West-Dialog, hrsg. v. R. Sepp und Ichiro Yamaguchi, Perspektiven, Neue Folge 13, 2006, S. 276– 284.
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Einleitung
ihrem Hintergrund als weiblicher Generatrix in Betracht gezogen werden. Darüber hinaus gilt es, die Figur der Physis als unscheinbarer Fügung bei Heidegger im Kontext seiner Heraklit-Vorlesung und der Bezug der Physis zur Erde im Zusammenhang mit dem Kunstwerkaufsatz aufzugreifen. Insbesondere das Verbergungs- und Verschlossenheitsmoment der Physis und Erde gilt es als konstitutiv für die Entbergung von Seiendem herauszustellen. Das zweite Kapitel sucht eine kritische Rekonstruktion der Überlieferungen des Yijing ins Werk zu setzen. Es gilt, die traditionelle Bestimmung von Kūn als das Sich-Fügende der Erde in den verschiedenen Schichten der Überlieferungen nachzuweisen und den problematischen Kontext ihrer Einbettung in eine Hermeneutik der Macht kenntlich zu machen. Das dritte Kapitel sucht verschiedene Komponenten der Erde in einen mythologischen und religiösen Kontext zu stellen, um Grundlagen der Erweiterung des Wirkspektrums von Kūn auf einer vor-philosophischen Ebene herauszuarbeiten und einen umfänglichen Kontext für ein mögliches Verständnis von Kūn im Sinne einer Gottheit und Kraft – wie es im Spruchwerk erscheint – zu schaffen. Das vierte und letzte Kapitel stellt die Wirkkraft von Kūn im Sinne der uneingeschränkten Offenheit und ihre Dynamik unter der Applikation eines formal-differenzialitischen Modells heraus, dessen Entwicklung der methodischen Kenntlichmachung der bisher nicht beachteten Vorrangstellung von Kūn dient. In einem letzten Schritt soll das Ethos des Unverfügbaren als terminus ad quem dieser Arbeit eröffnet werden. Die Grundzüge eines Verständnisses des Ethos des Unverfügbaren ergeben sich – unter Berücksichtigung ihrer je eigenen Reichweite und Begrenztheit – aus einem konfigurativen Netzwerk von Kūn, Chora und Physis. 87Vor dem Hintergrund einer wiederherzustellenden Rückbindung von Kūn an die Erde soll dieses Verständnis hin zu einem phänomenologischen Denken der Erde führen, welches die Bildsprache der Zeichen des Yijing, worin das Wirken der Erde zum Ausdruck kommt, zu seinem Ausgangspunkt nimmt. Das auf Eine der komparativen Thesen dieser Arbeit ist, dass verschiedene Deutungen von Chora und Physis dem hier entwickelten Verständnis von Kūn nahekommen bzw. dazu dienen, dieses, vor allen Dingen mit Blick auf das herauszustellende Ethos des Unverfügbaren, zur Entfaltung zu bringen. Hieraus ergibt sich das Problem eines transversalen Verständnisses, das Ebenen eines komparativen Gebrauches beinhalten muss. Komparativer Gebrauch bedeutet jedoch nicht, das sei nochmals betont, Komparatismus, sondern der Versuch verschiedene Aspekte auf eine philosophisch plausible Weise für einen bestimmten Zweck nützlich zu machen.
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Einleitung
der Basis des Ethos des Unverfügbaren zum Vorschein kommende phänomenologische Denken der Erde stellt eine unmittelbare Konsequenz der Dekonstruktion der Macht in den Überlieferungen des Yijing und der Herausstellung der Reichweite des Wirkspektrums von Kūn – in ihrer Wechselwirkung mit Chora und Physis – dar. Es kann daher im Rahmen dieser Arbeit nur angedeutet, nicht jedoch vollumfänglich entwickelt werden: Als zukommendes Denken 88 bildet es den Ausgangspunkt für eine künftige Arbeit.
Das Ziel dieser Arbeit ist nicht der Aufbau eines Denkens im Ausgang des Ethos des Unverfügbaren darzulegen, sondern sie beschäftigt sich mit der Machthermeneutik, das heißt dem Grund, weswegen das Unverfügbare bisher verborgen geblieben und nicht manifest geworden ist. Die Bedingungen eines zukommenden Denkens im Ausgang des Ethos des Unverfügbaren müssen durch eine Dekonstruktion der Hermeneutik der Macht und der Herausstellung der eigentlichen Reichweite, des Potentials von Kūn, zunächst gewonnen werden.
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Teil I – Chora und Physis
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Chora als das Raumgebende
1.1 Chora: Der Chasmus im Timaios »Von allen Formen [muss] frei sein, was alle Formen in sich aufnehmen soll.« 1 »Wie davon sprechen? Wie nicht davon sprechen?« 2
Innerhalb der Enzyklopädie des Timaios, die den Grund der Erschaffung und die Struktur und Dynamik der Gesamtordnung des Kosmos zum Gegenstand hat, entwirft Platon eine Figur des Raumes, Chora (χώρα), die methodisch dazu dienen soll, die Kluft zwischen dem Bereich des Intelligiblen, Ewigen und Unwandelbaren und dem des Sinnlichen, des Werdens und der Veränderung, zu schließen. Bar jeder Bestimmung und erkennbar nur durch ein traumartiges Bewusstsein, liegt Chora zwischen dem Bereich des Seins und dem des Werdens. Sie gibt dergestalt das kosmologische ›Substrat‹ und den Raum ab, auf bzw. in dem das ewig Seiende seine Markierung hinterlässt und sich selbst aktualisieren kann auf dem Weg der Erschaffung der sinnlichen Welt. 3 Auf diese Weise betrachtet scheint Chora als eine Vermittlungsinstanz (oder ›Platzhalter‹) in der Verfassung des metaphysischen Systems und seines oppositionellen Gefüges zu fungieren.
Platon: Werke in acht Bänden, Siebter Band: Timaios, hrsg. v. Gunther Eigler, Darmstadt 2005, 50d. 2 Jacques Derrida: Wie nicht sprechen. Verneinungen, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 2006, S. 71. 3 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra: Figuring the Errant Feminine in Plato’s Timaeus, in: Hypatia, Vol. 21, No. 4, S. 124–146, hier S. 124. 1
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Teil I – Chora und Physis
Das Motiv der Chora kann als Versuch betrachtet werden, hinter den voraussetzungslosen Anfang der Metaphysik zurückzugehen. Mit der Einführung dieses Terminus ist Platons Denken, wie insbesondere Jacques Derrida gezeigt hat, über sich selbst hinausgegangen, denn dieses von Platon als drittes Geschlecht (τρίτον γένος) Bezeichnete bildet zugleich ein radikales Außerhalb. Weder dem Bereich des Sinnlichen noch dem des Intelligiblen angehörend, ist Chora letztlich eine leere Stelle, eine klaffende Öffnung, ein Abgrund, was dem ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes Chaos (χάος) entspricht. Derrida stellt die Frage, ob nicht erst von diesem Chasmus aus die Spaltung zwischen Sinnlichem und Intelligiblem überhaupt stattfinden und Platz nehmen kann. 4 Diese Inversion ist wichtig, denn das, was Chora auszeichnet, ist gemäß Platon ihr rein empfänglicher Charakter: um alle Formen in sich aufnehmen zu können, muss sie selbst von jeglicher Form (einschließlich Sinnlichem und Intelligiblem) frei sein. Wie aber lässt sich davon sprechen und wie nicht? Derridas Kritik zielt auf die nicht weiter hinterfragten Voraussetzungen der bisherigen Rezeption und Interpretation des Timaios ab, wenn er sagt, dass die Metaphern, Bilder und Vergleiche mittels derer Chora beschrieben wird, auf der Unterscheidung zwischen dem Sinnlichen und dem Intelligiblen basiert, ein Schema, in das sich Chora aber gerade nicht mehr einfügen lässt. 5 Ausgehend von dieser von Derrida in Bezug auf die radikale Andersartigkeit von Chora zurecht aufgeworfenen Kritik lässt sich die Frage nach dem Status einer bildhaften und symbolischen Ausdrucksform nicht nur innerhalb der platonischen Philosophie und spezifisch im Timaios, sondern auch innerhalb der Tradition des westlichen Denkens stellen. 6 Denn gerade auch die Dekonstruktion zielt Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 33. Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 15 f. Derrida betont die Schwierigkeiten, denen Platon ausgesetzt ist, indem er Chora in sein kosmologisches Schema einzufügen sucht, während sie sich gerade als dasjenige herausstellt, was größte Mühe hat, sich zu fügen und vielleicht sogar unverfügbar bleibt. Dieses aufgezwungene Moment des SichFügens, das sich bei näherer Betrachtung gerade als das Nicht- oder Un(ver)fügbare herausstellt, wird insbesondere in der durch die Überlieferungen inaugurierten Betrachtung der Konzeption von Kūn im Yijing von Bedeutung sein und bildet phänomenologisch betrachtet eine Parallele hinsichtlich des Versuches einer funktionellen und ideologischen Positionierung des Weiblichen in der Kosmologie des Yijing und derjenigen Platons im Timaios. 6 In der Auseinandersetzung mit dem Denken des Yijing lässt sich zeigen, dass Bildlichkeit einen vollkommen anderen Status gewinnt. Die Grundlage für den bildliche 4 5
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Chora als das Raumgebende
auf eine klare Entbildlichung des Denkens, sofern der Operator der Differänz nur an eine leere Stelle gebunden werden kann, deren radikale Negativität (oder Nicht-Eigenschaft) niemals Spiegel der vormetaphysischen, sondern vielmehr (blinden) Chiffre der nachmetaphysischen Erfahrung – des Anders-Denkens – sein kann. Ausschlaggebend ist, dass die Bilder im platonischen Dialog Timaios nicht als bloße Metaphern betrachtet werden dürfen, vielmehr scheint in ihnen eine symbolische Enigmatik (im Sinne Paul Ricoeurs) auf, die uns, wie Ricoeur sagt, zu denken gibt und der man allein durch dekonstruktive Vorgänge nicht gerecht werden kann, sofern das Symbol eine Herausforderung für das philosophische Denken darstellt und nicht etwas, was durch eine stufenweise Entwicklung (bzw. Entbildlichung) der begrifflichen Prägnanz dieses Denkens überholt wird. 7 Folgt man den symbolischen Schichten, d. h. der tieferen, laZugänge zulassenden Charakter dieses Denkens findet sich in den 64 Bildern des Yijing als Modell eines dynamischen (in den Strichbildern und deren kompositionellen Aufbau konzentrierten) Wirklichkeitsverständnisses. Es zeigt sich ein neuer Horizont des Zuganges zu dem, was sich vielleicht durch das philosophische oder diskursive Sprechen oder durch Sprache überhaupt nicht hinreichend ausschöpfen bzw. zum Ausdruck bringen lässt. Nach diesem Verständnis manifestieren sich in den Bildern (als adäquate Ausdrucksform des bewegten Kosmos) die ›Wandlungen‹ : Sie sind nicht als abstrakte Zeichen zu verstehen, vielmehr eignet ihnen eine lebendige Bewegungskraft, deren vielgestaltige Möglichkeiten im Hinblick auf die zu erschließende Sinnhaftigkeit eine Offenheit und Multiperspektivität eröffnet, die einen transformativen Charakter hat. 7 Symbole sind nach Ricoeur auf einer mythischen Ebene zu situieren, sofern sie dem Menschen, der Sprache und der Philosophie vorgängig sind: »Zuerst gibt es Symbole; ich treffe sie an, ich finde sie vor; sie sind so etwas wie die angeborenen Ideen in der antiken Philosophie.« Paul Ricoeur: Symbolik des Bösen, Phänomenologie der Schuld II, Freiburg / München 1971, S. 27. »Die philosophische Bedeutung der Symbolik liegt darin, daß sich durch sie die Mehrdeutigkeit des Seins mittels der Vieldeutigkeit unserer Zeichen aussagt.« Paul Ricoeur: Der Konflikt der Interpretation I: Hermeneutik und Strukturalismus, München 1973, S. 94. Ausgehend von der Mehrdeutigkeit des Symbols, stellt sich die Frage nach der Erschließung von dessen verborgenem Sinn. Symbol und Interpretation bedingen sich wechselseitig, sofern das Symbol eine Interpretation geradezu erfordert: »Und dies verlangen die Symbole selbst. Eine Interpretation, die ihren philosophischen Sinn herauslöste, wäre keine ihnen aufgesetzte; sie wird gefördert durch die semantische Struktur, durch die latente Spekulation der Mythen, schließlich durch die Zugehörigkeit eines jedes Symbols zu einer signifikanten Totalität.« Paul Ricoeur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt 1969, S. 53. Ricoeur grenzt das Symbol von der Metapher ab: »But there is more in the symbol than in the metaphor. Metaphor is just the linguistic procedure – that bizarre form of predication – within which the symbolic power is deposited. The symbol remains a two-dimensional phenomenon to the extent that the semantic face re-
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Teil I – Chora und Physis
tenten Bedeutung dieser Bilder im Timaios, eröffnet sich ein Zusammenhang, in dem die bisher nicht zu genüge wahrgenommene Textur des Weiblichen zum Vorschein kommt, was wiederum Aufschluss gibt über einige mit Chora verbundene Komponenten, die ausgehend von der platonischen Kosmologie nur latent wirksam sind. So bringt Chora, mehr oder weniger unvermittelt in der Mitte des Dialoges auftretend, eine schwankende, räumlich konnotierte Ursprungsvorstellung hervor, die mit einer zweifellos mütterlichen und weiblichen Symbolik ausgestattet ist. 8 Dies gilt insbesondere hinsichtlich der Assoziation des Raumes mit dem weiblichen Körper und dessen Eigenschaften. Die konzeptionelle Rückbindung einer Raumkonstruktion an den weiblichen Körper bildet eine Konstante innerhalb der kulturübergreifenden weiblichen Semantisierung des Raumes. 9 Letztere ist höchst problematisch, wenn man bedenkt, dass fers back to the non-semantic one. The symbol is bound in a way that the metaphor is not. Symbols have roots. Symbols plunge us into the shadowy experience of power. Metaphors are just the linguistic surface of symbols, and they owe their power to relate the semantic surface to the presemantic surface in the depths of human experience to the two-dimensional structure of the symbol.« Paul Ricoeur: Interpretation theory: Discourse and the surplus of meaning, Fort Worth (Texas) 1976, S. 33. Die Metapher beinhaltet einen Symbolsinn, der jedoch nur Aspekt des Zur-Sprache-Kommens des Symbols auf dessen wörtlicher Ebene ist, wodurch das Spektrum der Ausdrucksfähigkeit der Symbole erweitert wird. Der Mythos nimmt jedoch einen weitaus größeren Raum als Ausdruckserscheinung des Symbols ein: »Ich halte den Mythos für eine Art Symbol, ein in Erzählform entwickeltes Symbol.« Paul Ricoeur: Symbolik des Bösen, S. 11. Vgl. hierzu auch Ursula I. Meyer: Das Symbol gibt zu denken, Eine Untersuchung zur Symbolinterpretation bei Paul Ricoeur, Aachen 1990. 8 Vgl. hierzu Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 124. 9 Der sozialen Gliederung des Raumes nach geschlechtsspezifischen Kriterien entsprechen verräumlichte Weiblichkeitsbilder bzw. eine weibliche Semantisierung des Raumes in Philosophie, Wissenschaft und Kunstproduktion. Betrachtet man die vielfältigen Codierungen des weiblichen Körpers, so fällt als eine Konstante seiner Figuration als Hohlraum und Behältnis auf, was sowohl für Chora im Timaios als auch für Kūn im Yijing eine signifikante Rolle spielt. Vgl. hierzu Silvia Machein: Topologien der Geschlechter, die Revision traditioneller Raumordnungen im Postfranquismus am Beispiel von Esther Tusquets, Carme Riera und Clara Janés, URN: urn:nbn:de: bsz:16-opus-114109, S. 34. Erich Neumann betrachtet dieses Körperbild in seiner Studie zu den Erscheinungsformen des Weiblichen in Märchen, Mythos und Religion aus anthropologisch-tiefenpsychologischer Sicht. Ausgehend von der Archetypenlehre C. G. Jungs deutet er das Gefäß als ›Kernsymbol des Weiblichen‹ : »Die symbolische Grundgleichung Weib = Körper = Gefäß entspricht vielleicht der elementarsten Grunderfahrung der Menschheit vom Weiblichen, in der das Weibliche sich selber erlebt, in der es aber auch vom Männlichen erlebt wird.« Erich Neumann: Die große Mutter, Die weiblichen Gestaltungen des Unbewussten, Düsseldorf 1997, S. 51.
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Chora als das Raumgebende
der Raum auch als sozialer Ordnungsfaktor fungiert, vor dessen Hintergrund eine territoriale Teilung der Geschlechter vorgenommen wird, die deren Aktionsradius hierarchisch und oppositionell organisiert und kulturell codiert. 10 Eine Vision des Weiblichen, die eingebunden ist in eine streng unbegreifbare Mutterrolle, scheint für eine kritische Auffassung des Weiblichen in der Geschichte der westlichen Philosophie ein nur geringes Potential zu bieten. 11 Die genealogische Bedeutung dieses Mythos der Weltentstehung im Timaios und die dazugehörige geschlechtlich-sexuelle Topographie sollte nicht unterschätzt werden. Seine Struktur beinhaltet die Reduktion des Weiblichen auf die Funktion einer kaum fassbaren, wechselnden, irrenden Ursache, die gleichzeitig als Verschluss eines metaphysischen Systems fungiert. 12 Doch bietet Chora, wie es zu zeigen gilt, zugleich ein Potential, die mit der Idee der Ausarbeitung des Konzepts des Raumgebenden und einer weiblich-schöpferischen Matrix zusammenhängt, und zwar ausgehend von ihrem dynamischen Vermögen, Quelle oder Ursprung der Bewegung, der Zeit und dem Bereich des Werdens zu sein. Für Platon (wie auch für Aristoteles) kommt der bewegte, sich wandelnde Kosmos einem Lebewesen gleich. Grundlegend ist, dass der Ursprung der Bewegung dieses Organismus in der platonischen Kosmologie einen irreduziblen weiblichen Zug trägt. 13 Dieser Aufteilung entspricht die Zuordnung des Männlichen zum Öffentlichen, zur Politik, Macht, der Produktion und Expansion und des Weiblichen zum Privaten, Häuslichen, der Reproduktion, dem Statisch-Bewahrenden etc. Durch diese Zuschreibung wird nicht nur die Trennung der gesellschaftlichen Räume nach den Geschlechtern vollzogen, sondern auch die Ausgrenzung der Frau aus dem politischen Leben legitimiert. 11 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 124. Julia Kristeva hat sich auf Chora in ihrer linguistischen, psychoanalytischen Untersuchung des Semiotischen bezogen, um den mütterlichen Körper zu beschreiben. Auch Luce Irigaray, Judith Butler und Elizabeth Grosz haben den Timaios hinsichtlich seiner Produktion und Designierung des Weiblichen und des Mütterlichen analysiert. Emanuela Bianchi zeigt in ihrem wegweisenden Aufsatz, dass Chora nicht nur als eine gewalttätige Abstraktion und Enteignung weiblicher Körperlichkeit betrachtet werden muss, sondern durch eine kritische Wiederannäherung als ein produktives Terrain entdeckt werden kann, das ein feministisches Neu-Denken von Räumlichkeit, Körperlichkeit, Figuralität, Temporalität und Leben ermöglicht. Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 126. 12 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 125. Nach Bianchi bestehen die Struktur, die Philosopheme und Mythologeme des Timaios in der weit verbreiteten aristotelischen Kosmologie, Physik und Biologie fort. 13 Indem der Ursprung der Bewegung des Universums in der platonischen Kosmolo10
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Teil I – Chora und Physis
In Chora zeichnet sich eine dezidiert weibliche Ursprungsfigur ab, deren Verfassung auf ein ganz bestimmtes Muster, eine Struktur hinweist, die sich phänomenologisch radikalisieren lässt: Das Moment ihrer wesentlichen Unscheinbarkeit 14 und damit verbunden ihres zurückweichenden Charakters bildet die Möglichkeitsbedingung ihres Vermögens, nämlich der sichtbaren Welt, dem bewegten Kosmos statt zu geben, bzw. diesen zur Erscheinung zu bringen. Die Grundzüge dieses paradigmatischen Potentials der Chora gilt es vor dem Hintergrund einer Wiederentdeckung ihrer weiblichen Konnotationen herauszustellen und zu zeigen, inwiefern sie eine Öffnung bildet hinsichtlich einer die Horizontverschiebung des Denkens indizierenden (Nicht-)Figur. Eine (Nicht-)Figur deshalb, weil sie von Heidegger bis Derrida als ein sich unhintergehbar Entziehendes gedacht wurde und zu der Öffnung einer negativen Phänomenologie im Sinne einer Phänomenologie des sich Nicht-Zeigenden beigetragen hat. Die Sprungfeder für eine Horizontverschiebung des Denkens besteht grundsätzlich darin, das dekonstruktive Potential der Chora ausgehend von den Symptomen eines Endes des tradierten Modus der Metaphysik (Unterordnung des Mythos unter den Logos, des Hyletischen unter das Noetische, der Materie unter den Geist, des Leiblichen unter das Seelische, der affectio unter die ratio usw.) als mögliche Öffnung hin zu einer Dimension zu denken, in der bestimmte, bisher geleugnete Elemente zum ersten Mal aufgewertet werden können. Diese Aufwertung kann im Ganzen jedoch erst durch eine Horizontverschiebung stattfinden. Dies ist genau die Stelle, an der die Auseinandersetzung mit dem Yijing und der Dynamik von Kūn ansetzen wird. Unumgänglich ist dabei jedoch die kritische Neubewertung des Ortes und Bedeutungsspektrums des Weiblichen im Rahmen des diesem Modell zugrundeliegenden kosmologischen Entwurfs und dessen mythologischer Schicht. Eine Herausforderung, der es sich ebenso im Timaios und dessen Grundkonstellation zu stellen gilt. gie einen irreduzibel weiblichen Charakter trägt, bildet er, wie Bianchi betont, ein Korrektiv für das später dominierende, tief maskuline aristotelische Modell des ersten Bewegers. Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 125. 14 Günter Figal widmet Chora ein ganzes Kapitel in seinem neuen Buch Unscheinbarkeit: »Es könnte eine Figur geben, von der man annehmen darf, dass sie die Figur des Unscheinbaren ist. Ob sie es ist oder nicht, würde sich zeigen, wenn es gelingt, mit ihr als Paradigma – als etwas an dem entlang sich etwas zeigen lässt – die Züge des Unscheinbaren zu erkennen.« Günter Figal: Unscheinbarkeit, S. 38.
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Chora als das Raumgebende
1.2 Die Grundkonstellation im Timaios Die Grundkonstellation des Timaios, im Rahmen derer Chora eingeführt wird, ist die Frage nach der Genesis des Kosmos. Der physikos Timaios muss den Übergang von dem ewigen, unwandelbaren Bereich der Ideen zu dem sich wandelnden Bereich des Werdens erklären. Zwischen diesen beiden Bereichen klafft offensichtlich ein nur schwer überwindbarer Abgrund. In Frage steht damit also nichts Geringeres als dasjenige, was im Anschluss an Aristoteles Kritik an Platons Ideenleere bezeichnenderweise χωρισμός genannt wurde, d. h. die Trennung zwischen der rein geistigen und der sinnlich wahrnehmbaren Welt. Schon hier kündigt sich die immanente Wichtigkeit von Chora an, deren weiblich aufnehmende Natur von Platon als eine Art Vermittlung dieser beiden Bereiche konstruiert wurde und in dieser Form sogar als ein Versuch der Überwindung der Metaphysik im Sinne einer Zwei-Welten-Lehre verstanden werden könnte. 15 Sofern nämlich das sinnlich Wahrnehmbare nicht dem Ewigen, Unwandelbaren angehört, sondern Gegenstand der Veränderung und des Werdens ist, muss es selbst ins Sein gelangt sein und für dieses InsSein-Gelangen muss es einen Ursprung geben. Damit ist für Platon die methodische Schwierigkeit verbunden, dass eine Ursprungsdarstellung nur durch Meinung und Glaube und nicht durch Wahrheit und Vernunft behandelt werden kann. Das Geschehen der Entstehung des Kosmos hat im Grunde genommen immer schon stattgefunden und kann daher nur nachträglich imaginiert werden, wodurch jede Kosmogonie notwendigerweise zu einer bloß wahrscheinlichen oder bildhaften Rede (εἰκὼς λόγος bzw. εἰκὼς μύθος) 16 Damir Barbarics prinzipientheoretische (an die sogenannte Tübinger Schule sich anschließende) Studie zur Chora beginnt mit dem Hinweis auf einen ›anderen Anfang‹. Seine These lautet, dass Platons ›anderer Anfang‹ im Timaios als ein bislang wenig beachteter, ja sogar verkannter Versuch der ›Überwindung‹ der Metaphysik im Sinne einer ›Zwei-Welten-Lehre‹ verstanden werden könnte. Hiernach würde Platon nicht nur als Begründer, sondern auch als erster möglicher Überwinder der ›Metaphysik‹ erscheinen. Er wendet sich damit explizit gegen Heideggers Grundsatzkritik der Metaphysik, indem ein im Anfang der Metaphysik liegendes und von Heidegger nicht gesehenes Potential der Vergessenheit entrissen und einer ausführlichen Untersuchung unterzogen werden soll. Vgl. Damir Barbaric: Chora. Über das zweite Prinzips Platons, Tübingen 2015. 16 Die Verschränkung dieser beiden Begriffe – eikos logos und eikos mythos – könnte als ein Hinweis darauf gelesen werden ›Geschichte‹ kosmologisch zu lesen und sogar umgekehrt Kosmologie geschichtlich zu verstehen. Möglichweise ist es die Rolle des 15
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wird, d. h. sich einer strengen, gesetzlichen Beweisführung entzieht. 17 Das mythisch Gesagte ähnelt, wie Derrida kritisch bemerkt, einem Diskurs ohne gesetzlichen Vater: Als Waise oder Bastard unterscheidet er sich vom philosophischen Logos (λόγος), der für Platon stets einen Vater haben muss, welcher für ihn verantwortlich ist und für seine Rechtschaffenheit bürgt. 18 Platon selbst spricht von dem in Frage stehenden Gegenstand der Rede (nämlich Chora) als von etwas, das nur durch ein ›Bastard-Denken‹ zugänglich ist, was darauf hinweist, dass der Diskurs über keine Legitimität im gewohnten Sinne verfügt. 19 Das Auftreten von Chora kann daher in mehrfachem Sinne als eine Unterbrechung des bisherigen Diskurses betrachtet werden: Nicht nur markiert Chora eine Grenze des Sagbaren im Sinne des durch die Mittel des reinen Logos Nachvollziehbaren und der Wahrnehmung Zugänglichen, sondern erfordert gleichzeitig eine notwenige Überschreitung der im ersten Teil grundgelegten schematischen Bedingungen, d. h. der zweifachen Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen. Dies impliziert auch die Ersetzung des bisherigen Bildes vom Ursprung des Kosmos unter den Vorzeichen eines Schöpfers (ποιητής) und Vaters (πατήρ). Denn nach Platon soll der Gott des Guten, der danach strebte, Ordnung aus dem Chaos zu schaffen, alles Sichtbare in einem Stadium von disharmonischer und undisziplinierter Bewegung gefunden und die höchste und beste Vernunftsfähigkeit in die Seele und die Seele in einen Körper eingepflanzt haben, um einen Kosmos zu schaffen, der als ein lebendiges Wesen mit einer Seele und Intelligenz beschrieben werden kann. 20 Gemäß Platon kam die Erzeugung des Kosmos durch eine Mythos, die Konvertierbarkeit von Kosmos und Geschichte zu ermöglichen. Vgl. Alfred Schmid: Augustus und die Macht der Sterne, Köln, Weimar und Wien 2015, S. 130. 17 Vgl. Günter Figal: Unscheinbarkeit, S. 39. 18 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 66. Vorwegnehmend soll hier auf die indirekte Verschmelzung des Logos mit der Figur des Vaters und des Mythos mit der Figur der Mutter (Chora) hingewiesen werden. 19 Vgl. Platon: Timaios, 52b. Vgl. hierzu auch John Sallis: Chorology, On Beginning in Plato’s Timaeus, Bloomington and Indianpolis, 1999, S. 120: »In Athenian usage a bastard (νόθος) was the child of a citizen father and an alien mother. As is the Chorology: this bastard discourse is fathered by citizen Timaios and is to be borne by the maternal χώρα in all its alien elusiveness, its alterity, its strangeness.« 20 »Indem nämlich der Gott wollte, dass alles gut und nach Möglichkeit nichts schlecht sei, so nahm er also alles, was sichtbar war und keine Ruhe hielt, sondern in
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Mischung von νοῦς und ἀνάγκη zustande. Dies nicht nur im Sinne ihres einheitlichen Zusammenwirkens, sondern durchaus im Sinne ihres feindlichen Gegenüberstehens. 21 Nur indem der νοῦς die ἀνάγκη überredend bezwang, konnte das Ganze des Kosmos (τὸ πᾶν) im Anfang (κατ᾽ἀρχάς) erzeugt werden. Das zentrale Motiv für die Erschaffung des Kosmos ist im Grunde genommen die ποίησις, welche von dem Schauen auf ein intelligibles Paradigma abhängt, das nach Platon nur durch die noetische Vision, das heißt durch den νοῦς zugänglich ist: Das durch den νοῦς beaufsichtigte und erzeugte und durch den göttlichen Handwerker (δεμιουργός) hergestellte, angefertigte Produkt – der Kosmos –, stellt hiernach das Bild des durch die noetische Vision Geschauten (εἶδον), des Paradigmas dar. Im Gegensatz zu der auf der Wirkmacht des νοῦς basierten herstellenden Tätigkeit – der kosmischen ποίησις, welche Gegenstand des bisherigen Diskurses war –, muss nun ein Diskurs entworfen werden, der das betrachtet, was durch die ἀνάγκη entstanden ist. 22 Um die Genesis vollständig zu erklären, muss, so Platon, zurückgegangen werden zu einem anderen Anfang (ἕτερα ἀρχή). 23 Diese Operation erweist sich als äußerst schwierig, sofern sich der andere Anfang von dem vorgehenden (d. h. der Rede über den das Chaos bezwingende und ordnende Schöpfergott) radikal unterscheidet. Es müssen nach Platon nun auch jene Wechselfälle der Notwendigkeit betrachtet werden, die er die umherirrende Form der Ursache (τὸ τῆς πλανωμένης εἶδος αἰτίας) nennt: πλανάω bedeutet ›in die Irre führen‹, ›vom rechten Weg abführen‹, ›schwanken‹ und ›irren‹ oder auch (passiv, medial) ›umherwandern‹, ›herumstreifen‹, ›herumirren‹. Der erste Hinweis darauf, dass dieser andere Anfang, diese notwendige oder irrende Ursache, unter weiblichen bzw. mütterlichen Vorzeichen gelesen werden soll, ergibt sich durch die Tatsache, dass sie dasselbe Irrende oder ungehöriger und ordnungsloser Bewegung war, und führte es aus der Unordnung zur Ordnung, da ihm dieser Zustand in jeder Beziehung besser schien als jener.« Platon: Timaios, 30a-30b. 21 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 93. 22 ἀνάγκη bezeichnet hier aber nicht die Notwendigkeit eines Gesetzes, wodurch etwas als zusammenhängend beschrieben werden kann, sondern vielmehr eine Operation außerhalb des Gesetzes. Die Notwendigkeit gleicht eher einem Gesetzlosen, welcher sich der noetischen Vision entzieht, die durch die gesetzliche ποίησις bestimmt ist. Vgl. John Sallis: Chorology, S. 92. 23 »So müssen wir also wieder zurückgehen und, indem wir eben für dieses einen anderen angemessenen Anfang (ἑτέραν ἀρχήν) nehmen, so wie wir es beim Vorherigen taten, jetzt bei diesem wieder von Anfang an beginnen.« Platon: Timaios, 48b.
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Umherschweifende ist, das der Gebärmutter (μήτρα) am Ende des Dialogs zugeschrieben wird. 24 Platons Rückkehr zu einem anderen Anfang hängt methodisch mit dem unvordenklichen Zustand der Elemente zusammen. Es gilt die Natur des Feuers, Wassers, der Luft und der Erde vor dem Entstehen des Himmels (οὐρανός) zu betrachten. Denn gemäß Platon hat sich alles Sichtbare, bevor es in eine kosmische Ordnung eingefügt wurde, in einem Geschehen befunden, das vor sich ging, bevor der Himmel entstand, d. h. bevor das All unter der Einwirkung des Demiurgen geordnet wurde. 25 Sofern der Gott die Zeit gemeinsam mit dem οὐρανός erschuf, was einen Rückgang auf einen Bereich vor- und sogar außerhalb der Zeit impliziert und dieser zugleich nicht der Ewigkeit zugesprochen werden kann, dürfte Platons Rückkehr zu der vorausgehenden Erzeugung der ›Grundbestandteile des Kosmos‹ 26 als präkosmisch betrachtet werden. 27 Mit der Frage nach der Erzeugung der Grundbestandteile des Kosmos kündigt sich zugleich ein Übergang von der Sphäre des Logos zur Natur (φύσις) an, wodurch eine Grenze zur schöpferischen Macht des Logos gesetzt wird, die mit dem Stofflichen zusammenhängt: Hervorbringung ist stets Hervorbringung aus etwas (Vor-)Gegebenem. Was mittels einer »Aus eben denselben Gründen aber wird andererseits bei den Frauen das, was man Gebärmutter und Uterus nennt und was ein auf Kinderzeugung begieriges Lebewesen in ihnen ist, wenn es entgegen seiner Reife lange Zeit ohne Frucht bleibt, unwillig und nimmt es übel, irrt allenthalben im Körper umher (πλαvωμένων πáντη κατà το σώμα).« Platon: Timaios, 91c. Vgl. auch Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 127: Bianchi weist darauf hin, dass diese Passage den locus classicus aller Studien der geschichtlichen weiblichen Krankheit der Hysterie bildet. Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 127. 25 Es ist die präkosmische ataxia, die erst der Demiurg in die taxis bringen wird, das ›aproportionale und unmessbare‹ vorkosmische Geschehen, in das der Demiurg zuerst durch dessen mathematische Formung und dann durch die Zusammenfügung der bereits mathematisch geformten Elemente zu einem geordneten All eingreifen wird. Vgl. Filip Karfik: Die Beseelung des Kosmos, Untersuchungen zur Kosmologie, Seelenlehre und Theologie in Platons Phaidon und Timaios, München und Leipzig, 2004, S. 153–157. 26 Die Bezeichnung ›Element‹ für die Natur des Feuers und der anderen ist irreführend: Diese sind nicht als ›Elemente‹ im Sinne dessen zu verstehen, was den Logos konstituiert: ›στοιχεῖον‹ bedeutet ursprünglich Buchstabe und gemeint sind damit die Einheiten oder Elemente des Diskurses. Die Sphäre des Logos kann aber nicht ohne weiteres in die der Physis ausgeweitet werden: Der Logos wird seine Schwierigkeiten haben, die Natur des Feuers, Wassers, der Erde und der Luft als ursprüngliche ›Bestandteile‹ der Physis zu fassen. Vgl. John Sallis: Chorology, S. 94. 27 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 95. 24
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Techne (τέχνη) angefertigt wurde, setzt etwas voraus, was von Natur aus ist. Mit dieser Grenzmarkierung steht auch die Haltbarkeit der zweifachen Unterscheidung in Frage. Denn es gilt nun über die zwei bereits zu Beginn des Diskurses eingeführten zwei Gattungen, des Seins und des Werdens, eine dritte Gattung, ein drittes Geschlecht (τρίτον γένος) 28 aufzuweisen, das nach Platon nicht nur schwierig, sondern auch gefährlich und dunkel ist. Dieses dritte Geschlecht entzieht sich einer eindeutigen Fassbarkeit bzw. untersteht, mit Derrida gesprochen, offensichtlich einer anderen Logik als jener (der binären Anordnung) des Logos. 29 Diese Schwierigkeit in der Darstellung veranlasst Timaios dazu, den Gott als Beistand anzurufen, um auf eine sicherere Weise durch schwierige Gewässer (διασώξειν) geleitet zu werden, das heißt, die Tiefen des Abgrunds mittels einer Erzählung zu überqueren, die fremdartig, ungewohnt und deplaziert (ἄτοπος) ist. 30 Auf die Frage nun, welches die Wirkmacht (δύναμις) dieser dritten Art sei, gibt Timaios zur Antwort, dass sie vor allen Dingen eines sei, nämlich allen Werdens Behältnis (ὑποδοχή) wie eine Amme. 31 Irreduzibel scheint die Frage nach dem Entstehen des Kosmos, die Frage nach dem (anderen) Anfang mit Figuren des Weiblichen und der geschlechtlichen Differenz verwoben zu sein. 32 Das Bedeutungsspektrum von ὑποδοχή umfasst nämlich nicht nur die Bedeutung des Etwas-in-sich-enthaltenden-Gefäßes oder Behältnisses, sondern auch die des Empfangens oder genauer: des gastfreundlichen Empfangens und zwar in die Sphäre des Häuslichen (οἶκος). ὑποδέχομαι besagt seinerseits ›schwanger werden‹, den männlichen Samen »Der neue Anfang nun über das All sei mehr als der vorige auseinandergelegt. Denn früher unterschieden wir zwei Gattungen, jetzt aber müssen wir noch eine von diesen verschiedene dritte aufweisen.« Platon: Timaios, 48e. 29 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 12. 30 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 98. 31 »Welche Kraft nun, wollen wir annehmen, hat sie ihrer Natur gemäß? Vor allem eine derartige: dass sie allen Werdens bergender Hort sei wie eine Amme.« Platon: Timaios, 49a. Es ist gerade die Andersheit der dritten Art, die Schwierigkeiten bereitet: denn streng genommen kann nur der ersten Art, dem Intelligiblen, das Sein zugesprochen werden, von dem die zweite Art, das Werdende, ein Abbild ist und die dritte Art dessen Behältnis. Sofern Platon das Dritte als eine Art bezeichnet, und eine Art ein intelligibles εἶδος bezeichnet, das Dritte nach Platon aber nur auf eine höchst undurchsichtige Weise am Intelligiblen Teil hat, muss diese Art als eine Art jenseits der Art (im üblichen Sinne) betrachtet werden. Vgl. John Sallis: Chorology, S. 98 f. 32 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra. 28
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empfangen haben. 33 Besondere Aufmerksamkeit verdient hier der ›Gefäßcharakter‹, der von Platon mit dem Weiblichen verbunden wird. Nach Erich Neumanns tiefenpsychologisch orientierter Analyse steht im Mittelpunkt des weiblichen Elementarcharakters, indem die Frau enthaltend und schützend, nährend und ursprünglich auch gebärend ist, das Gefäß, das sowohl Attribut als auch Symbol des Weiblichen ist. 34 Im Weiblichen verbindet sich der Gefäßcharakter, ursprünglich der Höhle, dann des Hauses, und das Innen-Sein, das Im-Haus-geborgen, geschützt- und gewärmt-Sein mit dem ursprünglichen Geborgensein im Mutterleib. 35 Dieser Zusammenhang verweist auf ein Verhältnis der Immanenz zwischen dem Aufnehmenden (Mutter) und dem Aufgenommenen (Kind). Gleichzeitig kann ὑποδέχομαι aber auch das Beherbergen von etwas Fremdem, Fremdartigem bedeuten. 36 Obschon es nämlich mütterliche Eigenschaften sind, mit denen Platon das dritte Geschlecht umschreibt, spricht er dezidiert von einer Amme des Werdens, was auch im Sinne einer Leih- oder Ersatzmutter zu verstehen ist, die das neugeborene Seiende nicht selbst besitzt, sondern es lediglich austrägt, es hält, trägt und stützt. Dieser Vergleich der dritten Art mit einer ›Amme‹ oder ›Leihmutter‹ ist, wie Derrida bemerkt, ein deutliches Zeichen von Enteignung: Ihre Funktion sichert ihr kein Eigentum im Sinne einer Erzeugerin zu. Sie fungiert lediglich funktionell als die Austrägerin eines Anderen, Fremden, ihr selbst eigentlich nicht Zugehörigen. 37 Dem entspricht, dass das Weibliche von Platon auf die Form eines rein passiven Behältnisses eingegrenzt wird. Der dem Sinnlichen näherstehenden Amme des Werdens wohnen die Formen nur bei, aber sie selbst ist nicht gebärend (was dem weiblichen Elementarcharakter im Sinne Neumanns entspräche), sondern bildet, wie im Folgenden noch näher gezeigt werden soll, einen passiven, neutralen und auch statischen ›Nährboden‹, der durch das männlich-aktive Prinzip (nach dem geistigen Urbild als Modell) geformt, imprägniert und dadurch in Bewegung gesetzt wird. 38 Chora wird in diesem Sinne Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 130. Vgl. Erich Neumann: Die große Mutter, S. 123. 35 Vgl. Erich Neumann: Die große Mutter, S. 138. 36 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 100. 37 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 25. 38 Die ursprüngliche Gefäßsymbolik des Weiblichen, wie Erich Neumann sie herausgestellt hat und wie sie für matrilinear organisierte Gesellschaften von Bedeutung gewesen sein dürfte, erscheint im Timaios gewissermaßen ab- und umgewertet. Im 33 34
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als ein (sich) selbst enteignetes Aufnahmebehältnis für das Werden im Rahmen des kosmologischen Entwurfs funktionalisiert. 39 Diese Funktionalisierung hängt mit der Problematik der ›Grundbestandteile des Kosmos‹, der präkosmischen Spuren und deren Entstehen zusammen. Sie befinden sich nämlich, wie Platon bemerkt, in einem dauerhaften Zyklus des Werdens, das heißt des beständigen Ineinander- Übergehens des einen Bestandteils in den anderen Bestandteil: Ein jedes erscheint so aber immer nur flüchtig, so dass sie nicht einzeln als ›dieses‹ und ›das‹ (τόδε/τοῦτο) differenziert und gefasst werden können. Man kann von ihnen deshalb nur sagen, dass sie das Jeweils-so-Beschaffene sind. 40 Sie verfügen über keinerlei Stabilität im Sein, keine Selbstgleichheit. Die einzige Konstanz, die sich in ihnen ausmachen lässt, ist ihre zirkuläre Bewegung. Dies ist auch der Grund dafür, warum Timaios sich zu Beginn davon distanziert hatte, den Anfang zu benennen, ihm einen feststehenden Namen zu Rahmen der antiken Vorstellung von Reproduktionsvorgängen ist die Frau an sich ›zeugungsunfähig‹, ›denn sie gebiert ja selber gar nichts‹, ein Mangelwesen, »verschnitten an aller Zeugungskraft, welche allein der besitzt, der seine Mannheit behält.« Luce Irigaray: Speculum, Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt am Main 1980, S. 224 f. Schües deutet Platons allegorische Erzählung des Höhlengleichnisses als Usurpation des weiblichen Gebärvorgangs als Metapher für den männlichen Erkenntnisprozess: Das Weibliche erscheint in Gestalt des immobilen dunklen Hohlraums und der Materie (Gebärmutter) sowie der Schwelle (Hymen), während der Mann sich in diesen Räumen bewegt und ihre Grenzen überschreitet, damit auch symbolisch das Dunkle, Ungeformte überwindet. In der Licht- und Schattenmetaphorik zeigt sich die Privilegierung der visuellen gegenüber anderen Sinneswahrnehmungen und der rationalen, Distanz voraussetzenden Erkenntnis als Entbindung im Sinne einer Befreiung von Körperlichkeit, Ursprung und Gebundenheit in der abendländischen Tradition. Vgl. Christina Schües: Die Frau, der Ort, die Schwelle – Zu Platons Höhlengleichnis, in: Geschlechter – Räume – Konstruktionen von »gender« in Geschichte, Literatur und Alltag, hrsg. v. M. Hubrath, Köln/Weimar/Wien, Böhlau 2001, S. 53–68. Vgl. hierzu auch Silvia Machein: Topologien der Geschlechter, S. 37. 39 Dies bedeutet zugleich eine Glättung ihrer abgründigen Dimension: denn das große Weibliche wurde nicht nur als schöpferische Matrix, als Geberin (des Lebens), sondern auch als Nehmerin betrachtet. Das von ihr Geborene bleibt in einer gewissen Abhängigkeit zu ihr, was sich in seiner Hinfälligkeit als Sterbliches und Zu- ihr-wieder-Zurückkehrendes spiegelt. Die Überwindung dieses Abgründigen am weiblichgebärend Mütterlichen scheint in Chora (wie Platon sie konzipiert) einfach und ohne Gewalt durch bloße Überredung von statten zu gehen. Der Machtbereich des Mütterlichen ist eingeschränkt und gelenkt durch die dominierende väterliche Ordnungsmacht. 40 »Da nun so jegliches von diesen nimmer als dasselbe erscheint, von welchem von ihnen möchte dann wohl jemand, ohne vor sich zu erröten, mit Zuversicht behaupten, dass es als irgend etwas gerade dieses und nichts andere sei?« Platon: Timaios, 49d.
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geben. 41 Feuer, Wasser, Luft und Erde in ihrem Zustand vor der Erschaffung des Himmels können von dem Logos nicht erfasst werden, in ihrem Bewegungsfluss entweichen sie einer festen Bestimmung. Weil der Logos keinen Zugriff auf sie hat, benötigt er eine dritte Art außerhalb der zweifachen Unterscheidung, ein Gefäß, das selbst form- und bestimmungslos wie eine Amme fähig ist, diese Flüchtlinge des Logos zu beherbergen, ihrem Geschehen eine Stätte zu bereiten, in der sich ihr Wandlungsvorgang vollziehen kann. Das Gefäß des Werdens unterscheidet sich, wie Platon betont, von den ihr zur Erscheinung gelangenden und wieder verschwindenden Elementen, sofern sie selbst weder Werden noch Vergehen annimmt, sondern dieses nur ermöglicht. Als das ›Worin‹ und ›Woraus‹ ihres phänomenalen Werdens und Vergehens verdient sie es daher als einziges, ›dieses‹ oder ›das‹ genannt werden. 42 Diese Heraushebung der dritten Art aus einer Synthese mit dem Sinnlichen kann als eine Auf- und als eine Abwertung verstanden werden: Einerseits steigert sich ihr Seins-Wert, indem sie dem Intelligiblen und dessen Auffassungsschema angenähert wird, andererseits wird sie dadurch wiederum entbunden und neutralisiert, indem ihr dasjenige entzogen wird, für das sie ersatzweise als Austrägerin, nicht-selbstbewegter Bewegungsraum und plastisches Material fungieren soll. Timaios führt nun das Bild des Goldes ein, das in verschiedene Formen und Figuren modelliert und remodelliert werden kann. Wie aus dem zugrundliegenden Gold alle möglichen (flüchtigen) Figuren geformt werden, so entstehen und vergehen Feuer, Wasser, Luft und Erde in der ὑποδοχή. Ihrer Natur nach allempfangend, soll von ihr stets in derselben Weise gesprochen werden, tritt sie doch niemals aus ihrer eigenen Kraft (δύναμις) heraus. 43 Denn obwohl sie die Abbilder des intelligiblen Seins in sich selbst aufnimmt, nimmt sie selbst nie eine ihrer Gestalten (μορφή) an: diese entstehen und vergehen in ihr als etwas, was von ihr selbst zu unterscheiden ist. Ihrer Natur nach »Über den Ursprung von allem oder die Ursprünge oder wie man sonst damit hält, soll jetzt nicht gesprochen werden, […] weil es schwierig ist unsere Meinung bei der gegenwärtigen Weise der Behandlung deutlich darzulegen.« Platon: Timaios, 48c. 42 »Dasjenige aber, worin jeweils entstehend jedes von ihnen erscheint und woraus es wieder entschwindet, allein jenes müssen wir dagegen bezeichnen, indem wir uns der Bezeichnung ›dieses‹ und ›das‹ dabei bedienen.« Platon: Timaios, 49e. 43 »Dieselbe Rede gilt nun auch von der Natur, die alle Körper in sich aufnimmt; denn diese ist als stets dieselbe zu bezeichnen, denn sie tritt aus ihrem eigenen Wesen durchaus nicht heraus.« Platon: Timaios, 50b. 41
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Chora als das Raumgebende
fungiert sie damit wie eine Matrix (ἐκμαγεῖον), die durch die in sie eintretenden Dinge geformt und bewegt wird, wodurch sie stets anders erscheint (φαίνεται). 44 Die Matrix ist ein weiteres Bild, das ähnlich wie das Gold aus dem Kontext der Techne schöpft, nämlich dem Einprägen eines Abdruckes in eine Prägemasse (wie ein Stempel, der seinen Abdruck in einem weichen Material hinterlässt). 45 Es scheint so, als ob durch das immerwährende Seiende die Wesenheiten in die Matrix eingeprägt, eingedrückt würden. 46 Die die Etymologie des Wortes ›Matrix‹ und seine Verbindung zu dem Wort ›Mutter‹ und ›Materie‹, ›Schoß‹, ›Uterus‹ und ›Schwangerschaft‹ zeigt eine direkte Relation mit dem mütterlichen Körper und seiner hervorbringenden Rolle als Ursprung des Seins und Werdens: Die Matrix bedeutet ursprünglich dasjenige, aus dem und von dem aus alles entsteht, der anfängliche Ort bzw. Raum der Genese und des Entstehens von etwas. 47 Dieser mütterliche Ursprung der Matrix erscheint in Platons Bild des immerwährenden Seienden, das seine Prägung in der Matrix (im Sinne eines Abdruckträgers) hinterlässt, woraus verschiedene Gestalten hervorgehen: gleichzeitig ist die Mutter und die Frau, insbesondere in ihrer erzeugenden Eigenschaft, jedoch abwesend, bzw. steht vollkommenen im Abseits. 48 Ein Zusammenhang, der sich wei»Nimmt sie doch stets alles auf und hat nie und in schlechterdings keiner Weise eine irgendeinem der Eintretenden ähnliche Gestalt (μορφή). Denn ihrer Natur nach liegt sie für alles als Matrix (ἐκμαγεῖον) bereit, bewegt und geformt durch die in sie eintretenden Dinge, durch die sie bald so, bald anders erscheint (φαίνεται).« Platon: Timaios, 50e. 45 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 107. 46 »Das Ein- und Austretende aber sind Nachbildungen der ständig seienden Dinge, nach diesen auf eine schwer auszusprechende, wundersame Weise geprägt, der wir ein andermal nachforschen werden.« Platon: Timaios, 50c. 47 Vgl. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix: Philosophy, Biomedicine and Culture, New York Chichester, West Sussex, 2012, S. 11. 48 Diese Verbindung zum Ursprung und zur Entstehung ist etymologisch verkörpert in dem ältesten Gebrauch des Wortes Matrix im Sinne eines ›schwangeren Tieres‹. Dieser Gebrauch wurde später ersetzt durch verschiedene andere, zum Teil vollkommen davon abweichende Bedeutungen. Die Multiplikation der verschiedenen Bedeutungen hat die ursprüngliche Beziehung der Matrix zum Mütterlichen subordiniert und verdunkelt. Irina Aristarkhova versucht in ihrem Buch Hospitality of the Matrix diese Verbindung wiederherzustellen. Sie verweist unter anderem auf die feministische Kritik einer Verschmelzung von ›Raum‹ und ›Mutter‹, sofern diese eine Reduktion der Mutter auf das Räumliche impliziert, ohne anzuerkennen, dass sie mehr ist als nur ein bloßes Opfergefäß für das Kind. Darüber hinaus diente diese Definition der Mutter, wie bereits gesagt wurde, zur Rechtfertigung der Leugnung ihrer legalen und politischen Rechte und ihrer Einrahmung als ›Mangelwesen‹ in der phallogozentri44
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ter verdeutlicht in dem klassisch familiären Schema, das Timaios als Bild des Zusammenwirkens der drei Arten, des intelligiblen Seins, des Werdens und der Matrix einführt. So folgt unmittelbar auf die Beschreibung der dritten Art mittels Bilder der τέχνη wie Modellieren, Stempeln, Formen und Einprägen ein abrupter Übergang von der Ordnung der ποίησις zur Ordnung der Zeugung und Geburt (der φύσις), die das vorgehende Bild eines Schöpfervaters ersetzt. 49 Das ›Woraus‹ des Werdens, das zuvor als etwas beschrieben wurde, das eine Imprägnierung auf der Matrix hinterlässt – nämlich das intelligible Sein –, wird nun mit dem Vater verbunden, das ›Worin‹ des Werdens – die Matrix, das Empfangende – mit der Mutter und die entspringende Natur – das Werdende selbst – mit dem Sprössling oder Erzeugten. Der Vater, das Woher des intelligiblen Seins, wirkt auf die Mutter, das Aufnehmende ein, woraus das Werden im Modus des Entstehens und Vergehens in der Mutter hervorgeht. Die dreifache Ordnung der Fortpflanzung und Geburt (Vater, Mutter und Sprössling) steht der zweifachen Ordnung des Paradigmas und seines Abbildes entgegen. 50 Das familiäre Schema hat eine Analogie mit der bereits genannten Stelle am Ende des Dialogs, in der Platon die umherirrende Ursache mit der Gebärmutter in Verbindung bringt. Er spricht dort von unsichtbaren und ungestalteten Lebewesen, die in die Gebärmutter wie in ein Ackerland ausgesät, großgezogen und ans Licht gebracht werden. 51 Dementsprechend ist schen und patriarchalen Kultur. Luce Irigaray spricht in diesem Zusammenhang auch von einer matriziden (auf dem Muttermord basierenden) Fundierung des philosophischen Konzepts des Raumes und sogar der europäischen Kultur im Ganzen. Vgl. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 12. 49 »Im Augenblick aber müssen wir uns dreierlei Arten denken: das, was wird, das, worin es wird, und das, woher nachgebildet das Werdende geboren wird. Und so ist es auch angemessen, das Aufnehmende der Mutter, das Woher dem Vater und die zwischen ihnen liegende Natur dem Sprössling zu vergleichen.« Platon: Timaios, 50d. 50 Es wird deutlich, dass die Annäherung an die ›dritte Art‹ bzw. Platons Versuch, sie durch verschiedene Bilder hindurch sichtbar werden zu lassen, zu einer Dekonstruktion der bisher vorausgesetzten zweifachen Unterscheidung führt, je näher der Diskurs zu ihrer strukturellen Verfasstheit, ihrer Eigenart durchdringt (und in dem Moment, in dem Timaios ihr den Namen Chora geben wird, am deutlichsten in Erscheinung tritt). Es lässt sich kaum leugnen, dass die Einführung der dreifachen Ordnung eine gewisse Mutation des logoshaften Immerwährenden impliziert, sofern dieses nicht mehr länger abgelöst bleibt von jeglichem Kontakt mit einem Anderen. Vgl. John Sallis: Chorology, S. 109. 51 Wird die Frau nicht von dem Mann befruchtet (man könnte sagen, die Matrix oder Chora nicht von dem intelligiblen Sein imprägniert), irrt sie, so Platon, herum »so-
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Chora als das Raumgebende
es die Aufgabe der Matrix, die Abbilder des intelligiblen Seins zu empfangen und nach außen sichtbar werden zu lassen, um so einer Mutter gleich die Vollendung der Lebewesen (im Sinne des Werdens) zu vollziehen. Die Matrix fungiert in diesem Sinne als eine passivmütterliche Austrägerin der intelligiblen ›Keime‹ (λόγοι σπερματικοί): Sie gibt den Boden ab, auf den und durch den das Intelligible seine Markierung hinterlässt und sich bei der Erschaffung der sinnlichen Welt aktualisieren kann. Um diese Aufgabe zu vollziehen, darf sie selbst aber keine eigene Bestimmung oder Form haben, sondern muss in ihrem Eigensein vollkommen zurücktreten, um dem Anderen einen neutralen Raum oder eine Spiegelfläche der Erscheinung zu bieten. Für das ›Worin‹ des Werdens (die Mutter und Aufnehmerin) als dasjenige, was alle Formen (die Abbildungen der immer seienden Dinge) in ihrer gesamten Ausdehnung in sich aufnehmen, sie empfangen soll, ziemt es sich (so Platon), von allen Formen selbst vollkommenen frei zu sein. Timaios insistiert auf ihrer radikalen Indifferenz. Ein unsichtbares, gestaltloses, allaufnehmendes Gebilde sei sie. 52 Es zeigt sich an dieser Stelle zum einen die radikale Andersartigkeit der dritten Art, die ihre Wirkmacht auszeichnet. Um alles auflange, bis die Begierde und der Trieb der beiden Geschlechter sie [Mann und Frau] zusammenbringen, gleichsam von den Bäumen die Frucht pflücken, in die Gebärmutter wie in Ackerland auf Grund ihrer Winzigkeit unsichtbare und ungestaltete Lebewesen aussäen und sie wieder gliedern, im Innern großziehen und hiernach ans Licht bringen und so die Vollendung der Lebewesen vollziehen.« Platon: Timaios, 91d. Sowohl die Griechen als auch die Römer haben den Acker und die Gebärmutter, den Zeugungsakt und die Ackerarbeit assimiliert, wobei die Frau mit der pflügbaren Erde und der Pflug mit dem Phallus identifiziert wurde. Nach Mircea Eliade ging der Vorstellung der Fruchtbarkeit der Felder und der menschlichen Ehe als Urmodell die Hierogamie zwischen Himmel und Erde voraus. Das göttliche Paar Himmel und Erde, welches Hesiod besungen hat, ist eines der Leitmotive der Mythologie. Die Ehe zwischen Himmel und Erde hat die Bedeutung kosmischer Fruchtbarkeit, wie in dem Gesang der Peleiden von Dodona: »Die Erde ist unsere Mutter, der Himmel unser Vater. Der Himmel befruchtet die Erde durch Regen, die Erde erzeugt Korn und Kraut.« Zitiert nach Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, Elemente der Religionsgeschichte, übers. v. M. Rassem und I. Köck, Frankfurt am Main und Leipzig 1986, S. 277. Vgl. auch Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 294 f. 52 »Es ziemt sich also auch dem, was oft die Abbildungen aller Dinge, und zwar der immer Seienden, über seine ganze Ausdehnung hin gut aufnehmen soll, selbst seiner Natur nach aller Formen bar zu sein. Demnach wollen wir die Mutter und Aufnehmerin des gewordenen Sichtbaren und ganz und gar sinnlich Wahrnehmbaren weder Erde, Luft, noch Feuer, noch Wasser nennen, noch mit dem Namen all dessen, was aus diesem, noch mit dem dessen, woraus diese entstanden, sondern […] ein unsichtbares, gestaltloses, allaufnehmendes Gebilde, das aber auf eine irgendwie höchst unerklär-
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nehmen zu können, muss sie selbst von allen Formen frei sein, was phänomenologisch betrachtet auf die Verbergungsstruktur der Erscheinungsmatrix hinweist. Gleichzeitig wird ihre Instrumentalisierung, ihr Eingebundensein in ein familiäres Schema der Entstehung offenbar, in dem sie letztlich eine untergeordnete Rolle einnimmt. Die Eigenart der Mutter und Aufnehmerin allen Werdens scheint in ihrer Differenz zu liegen. Als Jenseits des Intelligiblen und des Sinnlichen bleibt sie verschieden von all jenen Gestalten und Bestimmungen – im Sinne der verschiedenen Bilder –, die durch sie empfangen oder in sie eingedrückt werden. Denn nur vermöge ihrer vollkommenen Form- und Bestimmungslosigkeit ist sie fähig, die Abbilder des intelligiblen Seins in sich aufzunehmen und nimmt sie selbst am intelligiblen Sein auch teil. Sie kann durch die Paradigmen oder intelligiblen, εἴδη genannten Arten imprägniert werden, aber sie ist nicht selbst bestimmt durch diese und kann sie nicht als Bestimmungen ihrer selbst haben. 53 Da sie formlos ist, hat sie auch keine konkrete visuelle Erscheinung und bleibt unsichtbar. 54 Trotz ihrer irreduziblen Unsichtbarkeit, ihrer Nicht-Gestalt, erscheint sie jedoch (und zwar, wie Platon selbst betont, stets auf eine andere Weise), nämlich, wenn sie die Spuren des Feuers, Wassers, der Erde oder der Luft in sich aufnimmt. Die Struktur ihres Erscheinens ist damit gewissermaßen paradox: Indem sie selbst nicht erscheint (jeglicher festen Gestalt entzogen bleibend), erscheint sie durch das Mannigfaltige des von ihr Aufgenommenen. Im Gegensatz zur Nicht-Rezeptivität der ersten Art, dem intelligiblen Sein, das als ein sich ewig selbstgleiches Eidos (εἶδος) weder irgendein anderes in sich empfängt noch in ein anderes übergeht und damit jeder intrinsischen Verbindung zu einem anderen entbehrt, ist es die Natur der Matrix, Mutter vermöge ihrer radikalen Form- und Bestimmungslosigkeit, unterschiedslos empfänglich und rezeptiv zu sein. 55 Und nur kraft dessen ist sie, immer seiend und Vergehen nicht annehmend, fähig, allem Entstehenden einen Platz, einen Ort, einen liche Weise am Denkbaren teilnimmt und äußerst schwierig zu fassen ist, nennen.« Platon: Timaios, 51a. 53 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 111. 54 Obwohl ihre Unsichtbarkeit dasjenige ist, was sie ›auf eine höchst unerklärliche Weise‹ am Intelligiblen teilhaben lässt, unterscheidet sich ihre Unsichtbarkeit von jener eines intelligiblen εἶδος, sofern diese letztlich die Umkehrung einer anderen Sichtbarkeit ist. Vgl. John Sallis: Chorology, S. 111. 55 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 113.
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Raum zu geben. 56 Die vermittelnde Funktion des Dritten, Aufnehmenden, der Matrix, Amme, Mutter tritt an der Stelle besonders deutlich hervor, wenn Timaios den Namen Chora zum ersten Mal einführt und sagt, dass alles Seiende sich notwendigerweise an einem Ort (ἐν τόπῳ) befinden und irgendeinen Raum (τινα χώρα) einnehmen muss. 57 Der Kosmos (das Werdende als Abbild des Paradigmas) bedarf der Chora, welche dem Erscheinenden einen Erscheinungsraum bietet. Dies besagt auch, dass Werdendes als solches notwendigerweise Räumlichkeitsbestimmung als Verortung impliziert, um überhaupt einen ontischen Status zu erhalten. Der Raum gewährt dem Werden einen Halt im Sein und schafft, alleine dadurch, dass dieses in ihm stattfindet, eine Ordnungsinstanz. Raum bildet in diesem Sinne auch die Möglichkeitsbedingung der Wahrnehmbarkeit (und von da aus der weiteren Erkenntnisstufen) von etwas. Gleichzeitig entzieht sich Chora jedoch: Weder dianoetisch noch aisthetisch erfassbar, wird sie zugänglich nur wie in einem Traum, wo eine eindeutige Unterscheidung (zwischen dem wahrhaft Seienden und dessen Abbild) nicht mehr möglich ist und den (von der Chora Rechenschaft ablegenden) Denkenden zu einem bastardhaften Diskurs zwingt. Es zeigt sich hier ein gewisses Oszillieren zwischen der Einsicht in die Notwendigkeit von Chora für die Überbrückung der Kluft zwischen dem Intelligiblen und dem Sinnlichen und dem Versuch, diese Notwendigkeit bis zu einem gewissen Grad wieder abzuwerten. Diese Ambivalenz zeugt von der Sprengkraft, die durch die Einführung dieses anderen Anfangs entstanden ist. Chora eignet zweifellos ein Potential zur De(kon)struktion der metaphysischen Spaltung verschiedener Seinsbereiche. Platons Chora stammt in diesem Sinne aus einer gefährlichen und subversiven Einsicht, deren Heraufkommen vielleicht auf den rezeptiven Untergrund des reinen Denkens und der Erkenntnis hindeutet. So ist die Leber nach Platon die Nachbildung der Chora im menschlichen Körper, die wie ein Spiegel die vom νοῦς kommende Kraft von den Gedanken aufnimmt und Abbilder erblicken lässt. Die Leber ist aber zugleich auch das Organ der Seher»Eine dritte Art sei ferner die des Raumes, immer seiend, Vergehen nicht annehmend, allem, was ein Entstehen besitzt, einen Platz gewährend, selbst aber ohne Sinneswahrnehmung durch ein gewisses Bastard-Denken erfassbar, kaum zuverlässig.« Platon: Timaios, 52a-b. 57 »Darauf hinblickend träumen wir und behaupten, alles Seiende müsse sich notwendig an einem Ort befinden und einen Raum einnehmen, dasjenige aber, das weder auf Erden noch irgendwo am Himmel sei, das sei nicht.« Platon: Timaios, 52b. 56
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kraft (μαντική), die Stätte der Weissagung, welche nach Platon als eine Gabe der Götter an den menschlichen Unverstand (ἀφροσύνη) zu verstehen ist. 58 Die radikale Andersartigkeit von Chora bringt die Schwierigkeit einer adäquaten Übersetzung mit sich. Weder kann Chora vor dem Hintergrund der Raumauffassung im kartesianischen Sinne, noch auch als bloß leerer Raum (κενό) im Sinne des griechischen Atomismus oder des τόπος innerhalb der aristotelischen Physik bestimmt werden. 59 Vor dem Hintergrund ihrer Funktion im Timaios und auch ihrer strukturellen Verfassung im weiteren Sinne wäre es nicht falsch zu sagen, dass Chora eine Unterbrechung aller klassischen Bedeutungsschemata markiert, wodurch sie im Grunde genommen unübersetzbar bleiben sollte. Nichtsdestotrotz scheint sie gewisse semantische Affinitäten mit ihrem Gebrauch in anderen Texten und innerhalb der griechischen Sprache aufzuweisen. 60 Dazu zählen ihre Bedeutung als Ort, Land, ein zu kultivierendes Ackerland, ein Terrain oder eine Gegend. So dient Chora oft als Abgrenzung des Landes zur Stadt (πόλις), aber auch zur Bezeichnung des gesamten Landes als Territorium im Sinne einer politischen Einheit. 61 Das Wort Chora (χώρα) – eigentlich der Raum, der etwas umfasst, den etwas einnimmt – ist mit choreo (χορέω), ›Raum geben‹, ›Platz machen‹, ›weichen‹, ›zurückweichen‹ verbunden. Wie in dem homerischen Hymnus an Demeter: »Von unten her wich die Erde, tat sie sich auseinander (γαῖα δß4p28ß ἔνερθε χώρησεν).« 62 Choreo hieße dann ›durch Zurückweichen Raum geben‹. Es bedeutet aber auch ›etwas in sich fassen, enthalten oder aufnehmen‹ (χώρησις meint das Aufnehmen einer Sache in einen Raum) und darüber hinaus ›sich fortbewegen‹, ›Fortgang haben‹, ›in ständiger Bewegung sein‹ : wie im
»Es ist ein um die Leber angesiedelter Seelenteil, der ihn während der Nacht einen maßvollen Zeitvertreib haben lässt, dadurch, dass sie im Schlaf die Sehergabe anwendet, da sie ja an Vernunft und Einsicht nicht teilhatte«. Platon: Timaios, 71b. »Dass nämlich ein Gott dem menschlichen Unverstand die Seherkraft verlieh«. Platon: Timaios, 71e. Vgl. auch John Sallis: Chorology, S. 123 f. Der Zusammenhang zwischen der Weissagung und der weiblichen urstofflichen Öffnung als Matrix des Erscheinenden, wird weiter unten, in Verbindung mit Kūn, wiederaufgenommen werden. 59 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 115. 60 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 115 f. 61 Vgl. John Sallis: Chorology, S. 116. 62 Homer: Hymne an Demeter, Übersetzung der Autorin. Vgl. hierzu John Sallis: Chorology, S. 118. 58
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heraklitischen Ausdruck »alles fließt (πάντα χωρεῖ)« 63. Chora ist damit phänomenologisch betrachtet weniger als der Raum selbst aufzufassen, sondern vielmehr als dasjenige, was dem Seienden durch ihre zurückweichende Bewegung einen Raum gibt. In diesem Sinne bildet sie die Voraussetzung der phänomenalen Welt, alles gelangt durch sie ins Sein und verschwindet auch wieder durch sie, sie selbst jedoch nimmt kein Werden und kein Vergehen an. Unsichtbar und formlos empfängt sie alle Dinge und gibt ihnen eine Stätte, gewährt ihnen einen Aufenthaltsort und bildet damit die präkosmische Bedingung für die schöne Ordnung des Erscheinenden: Kosmos (κόσμος).
1.3 Chora und ihr Bezug zur mythologischen Gestalt der Erde Im Gegensatz zu dem Behältnis (ὑποδοχή), das in Form einer Einstülpung, einer Höhle oder Öffnung zur Inskription und Penetration einlädt, bezeichnet Chora ein nach Außen sich Öffnendes, ein Raumgebendes, das zugleich eine Differenzierung und Teilung impliziert. Chora gibt Ausdehnung, räumliche/örtliche Differenzierung oder anders gesagt, Dimensionalität im Allgemeinen. 64 Die vorkosmische Genesis, die unter der Einwirkung des intelligiblen Seins auf die Chora stattfindet, ist nach Timaios zwar unharmonisch und ungeordnet, nichtsdestotrotz formiert sich daraus eine gewisse Protoordnung, die mit der Bildung von Gegenden oder Richtungen zusammenhängt. So treiben die Erscheinungen in Chora herum und befinden sich in einem ständigen Ortswechsel. Chora wandelt sich, indem sie die Gestalten von Feuer, Wasser, Erde und Luft aufnimmt. Die untereinander unähnlichen und sich im Ungleichgewicht befindenden Gestalten füllen dabei Chora mit Kräften, weswegen sie auch selbst nicht im Gleichgewicht ist. 65 Es entsteht eine Wechselwirkung, die bedingt, dass das sich in Chora Bewegende auseinandertritt, indem jedes in eine andere Richtung getragen wird. Die aufnehmende Chora bewegt sich dabei wie eine Wurfschwinge: Die Elemente werden geschüttelt, Zitiert nach Platon: Kratylos, 402a. Vgl. hierzu John Sallis: Chorology, S. 118. Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 131. 65 »Da sie aber weder von ähnlichen noch von im Gleichgewicht stehenden Kräften erfüllt werde, befinde sie sich in keinem ihrer Teile im Gleichgewicht, sondern indem sie auf jeder Seite ungleichmäßig auf- und abschwanke, werde sie selbst durch jene Kräfte erschüttert und erschüttere, durch jene in Bewegung gesetzt, umgekehrt jene.« Platon: Timaios, 52e. 63 64
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geworfelt und gesiebt. Daraus bilden sich die unterschiedlichen präkosmischen Gegenden. 66 Obwohl die Bewegung, mit der Chora den Kosmos ausstattet, nicht jene einer periodischen Erzeugung ist, schafft sie die Grenzen, wodurch die verschiedenen Regionen des Raumes etabliert werden. Letztlich bewirkt sie durch ihre eigene Bewegung eine Art der Selbstdifferenzierung und verräumlicht sich selbst durch die Wirkkräfte ihrer eigenen Bestandteile hindurch. 67 Wie ein Instrument übernimmt sie die Arbeit, durch die eine ProtoOrdnung der Welt geschaffen wird und bereitet die Wandlung und Bewegung, welche die Möglichkeitsbedingung des Lebens des Kosmos ist. 68 Sofern die Bewegung des Kosmos nicht nur das Zeichen des Lebens, der Wandlung und der Veränderung ist, sondern auch dasjenige, wodurch die Zeit messbar wird, verwundert es umso mehr, dass diese Dimension der Chora bisher kaum hervorgehoben wurde. 69 Zentral für eine Erweiterung des Bedeutungsspektrums von Chora scheint hier das Bild vom ›Dreschen, Worfeln und Sieben des Korns‹, das Timaios einführt, um die Aktivität von Chora (als Wurfschwinge, welche die Elemente schüttelt) zu beschreiben. 70 Ursprüng»Sie aber, in Bewegung gesetzt, zerstreuen sich, voneinander geschieden, dahin und dorthin, wie bei dem, was von den Worfelschwingen und den anderen Geräten zur Reinigung des Getreides geschüttelt und geworfelt wird, das Feste und Schwere an eine Stelle, das Lockere und Leichte aber an einen anderen Platz getragen wird und sich dort setzt. Ebenso seien damals die vier Arten von der Aufnehmenden geschüttelt worden, die selbst bewegt worden sei und wie ein Rüttelgerät für Erschütterung gesorgt habe, und hätten selbst das Unähnlichste am weitesten voneinander getrennt und das Ähnlichste am meisten in eins zusammengedrängt. Darum hätten auch die Verschiedenen verschiedene Stellen eingenommen, bevor aus ihnen das Weltganze geordnet hervorgegangen sei.« Platon, Timaios, 52e-53a. 67 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 135. 68 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 135. 69 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 135. 70 Die Worfel hat die Form eines Korbes und diente dazu die gedroschenen Körner aufzunehmen und in die Luft zu werfen, wodurch die Körner von Spreu und Spelzen gesäubert wurden. Der Korb ist ein weiteres Symbol des Weiblichen, das mit dem Empfangen, der Fruchtbarkeit und der Geburt in Verbindung steht. »While Plato uses figures of human work and technology, it is the distinctively feminine labors of nursing and grain sorting, and the distinctively feminine artifact of the woven basket, that give shape and name, or perhaps more strictly give motion qua ›life‹ to the strictly unknowable ›wandering cause‹ of the receptacle and chōra, and thus to the cosmos itself.« Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 135. Das Auslesen und die Sortierung des Korns bringt Derrida mit der politischen Strategie der Heiraten in Verbindung, worin sich für ihn eine Beziehung abgründiger und analogischer Reflexivität bekundet: »Nun, von den ersten Seiten des Timaios an, in einem rein politischen Diskurs, 66
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lich stammt es wohl aus einem agrarkulturellen Kontext und hängt mit der Getreidegewinnung (der Selektion des Korns) zusammen. Dieses Bild fügt sich ein in die Bedeutung von Chora im Sinne eines (zu kultivierenden) Ackerlandes, Bodens und steht zugleich in Verbindung mit verschiedenen Aspekten der Auffassung der Erde in der griechischen und römischen Antike, wodurch sich ein umfassenderer Zusammenhang zwischen Chora und mythologischen bzw. frühreligiösen Vorstellungen der Erde ergibt. Das Moment einer sich öffnenden und wieder verschließenden Erde bildet dabei ein wichtiges Motiv, das strukturell mit der chthonischen Wirkmacht und dessen Bewegungsmodus zusammenhängt. 71 Gottheiten wie Demeter und ihre römische Entsprechung Ceres umfassen stets beide Sphären des chthonischen Bereiches: das Hervorbringen eines neuen Wachsens der Natur (Sich-Öffnen) und das Bergen dessen, was gestorben war (Sich-Schließen). In der Polarität des Sich-Öffnens und Sich-Schließens, des Gebärens alles Lebendigen und des Bergens der Toten, entsprechen sich diese chthonischen Gottheiten. Wie zum Wesen der Ceres gehört es auch zu dem der Demeter, dass sie alles Leben hervorbringt und, wenn seine Zeit vorüber ist, es wieder zu sich nimmt. 72 Sie sind Göttinnen des Wachstums und des Saatfeldes, »das den Samen aufnimmt und in seinem Schoße sich entwickeln lässt.« 73 In dieser Form dürften sie nicht nur als ein Abbild des mundus, im Sinne eines Gründungsortes und einer Opferstätte sowie Verbindungstelle zwischen Ober- und Unterwelt, sondern auch als Abbild der Erde selbst verstanden werden. 74 In ihnen verkörpert sich die archaische werden Vorrichtungen beschrieben, die dafür bestimmt sind, eine derartige Sortierung der Heiraten insgeheim vorzunehmen, so dass daraus die Kinder mit dem bestmöglichen Naturell geboren werden. Und das geht nicht ohne Auslosung (kleros).« Jacques Derrida: Chōra, S. 37. 71 Wie in der bereits genannten homerischen Hymne an Demeter ersichtlich: »Sieh, da erhebt’ und erklafft die Erd’ in der nusischen Ebene.« Homerus: Homers Hymne an Demeter, aus dem Griech. übers. von Hermann Ludwig Nadermann, Münster 1818. Das μύσιον πεδίον galt in Eleusis als Ort und Stätte des Kore-Raubes und bedeutet so viel wie ›das sich schließende Gefilde‹. Es ist die Erde, die sich hinter dem Räuber schließt. Ein Korrelat bildet die Vorstellung von Dionysos als einen ›gähnenden‹ Gott der Tiefe. 72 Vgl. Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands, Frankfurt a. M. 1987, S. 33. 73 Franz Altheim: Terra Mater, Untersuchungen zur altitalischen Religionsgeschichte, Gießen 1931, S. 119. 74 Nach Plutarch bildete der mundus der Ceres die Grube, die Romulus bei der Gründung der Stadt Rom aushob. Der mundus cereris ist der Mittelpunkt der durch Romulus gezogenen sulcus primigenius, der in der antiken Siedlungskultur mit dem
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Teil I – Chora und Physis
Vorstellung der Mutter Erde (γαῖα/γῆ, tellus) als All-Gebärerin und All-Erzeugerin. 75 Es ist naheliegend, dass die Erde in ihrem primordialen Aspekt als Mutter eine der ältesten Gottheiten in der römischen und griechischen Religion bildete und einen ausgedehnten Kult besaß. 76 Pflug im Kreis gezogenen allerersten Furche, der als symbolischem Zentrum (der Welt und Stadt sowie Vereinigungsstelle) Opfer erbracht wurden. Die der Ceres nahestehende römische Gottheit Panda kann medial als die ›Sich-Öffnende‹ übersetzt werden. Als eine sich öffnende Gottheit ist sie Abbild des mundus, dessen Offenstehen an bestimmten Tagen geschah. Die Öffnung des mundus bedeutet eine Verbindung zwischen der Unter- und der Oberwelt, d. h. ein Offenbarwerden dessen, was sonst verborgen war. Die Panda Cela ist nicht nur Abbild des mundus, sondern wie dieser ein Abbild der Erde überhaupt. Dies verweist auf die doppelte Bewegung der Erde als Allgebärerin (sich-öffnend) und Bergerin alles Abgestorbenen (sich-schließend). Vgl. Franz Altheim: Terra Mater, Untersuchungen zur altitalischen Religionsgeschichte, Gießen 1931, S. 114 f. 75 »Die Erde (Gaia) gebar zuerst, ihr gleich, den gestirnten Himmel (Uranos), der sie überall umhüllen sollte, damit er den seligen Göttern ein sicherer Sitz sei auf immer.« Hesiod, Theogonie V., S. 126 ff., zitiert nach Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 275. Nach Mircea Eliade genoss Gaia, Ge einen rechtausgedehnten Kult, wurde aber im Laufe der Zeit durch andere Erdgottheiten abgelöst. Auf die antike Verehrung der Erde verweist das Schutzflehen von Aischylos ›Ma Ga, Ma Ga‹ (die einfachste Form des Namens ›Mutter Erde‹). Vgl. J. Donald Hughes, Richard Frank: GAIA: Environmental Problems in Chthonic Perspective, in: Environmental Review: ER, Vol. 6, 1982, S. 92–106, hier S. 93. Homer erwähnt diese dem prähellenischen Substrat zugehörige chthonische Gottheit kaum, aber eine homerische Hymne ist ihr gewidmet: »Die Erde will ich besingen, die Mutter von allem, die fest gegründete, die älteste, die auf dem Erdboden alles nährt, was da ist […] Dir gehört es zu, das Leben zu geben und wieder zu nehmen den sterblichen Menschen.« Auch Aischylos verherrlicht die Erde, »die alle Wesen hervorbringt, deren Leibesfrucht ernährt (aufwachsen lässt) und wieder nimmt.« Aischylos: Choephoren V., S. 127 f., zitiert nach Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 275. Es gibt eine beträchtliche Anzahl von Glaubensvorstellungen, Mythen und Ritualen, die auf die Erde, auf deren Gottheiten, auf die »Große Mutter« Bezug nehmen. Nach Eliade wurde die Erde als der Urgrund, sogar als der Kosmos betrachtet, es kommt ihr eine religiöse Mehrwertigkeit zu. Sie wurde verehrt, weil sie sichtbar »war«, weil sie Früchte gab und empfing. Vgl. Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 276. 76 Vgl. Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands, S. 33. Es ist eine allgemein verbreitete, aus der Antike stammende Ansicht, dass Ge, die Erdgöttin, außerdem die erste Inhaberin des Orakels gewesen ist, auf sie folgte Themis. Die Eumeniden des Aischylos fangen mit einer Rede der Prophetin an. Sie ruft die πρότομαντις an, von der Themis das Orakel übernahm. Der ὀμφαλός – (›Nabel‹) eigentlich ein Kultstein im Apollon-Tempel in Delphi – war vermutlich ursprünglich ein Opferstein der Göttin Gaia und markiert die Stelle, an der sich die von Zeus im äußersten Westen und im äußersten Osten entsandten Adler in der Mitte der Welt getroffen haben. Pausanias zufolge war er die Weltachse, die mythische Verbindung zwischen Himmel, Erde und
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Chora als das Raumgebende
Nach Mircea Eliade ist die Erde dem früh-religiösen Bewusstsein gegenüber stets unmittelbar gegeben: Dabei bildet ihre Ausdehnung, Festigkeit und die Vielgestaltigkeit der Vegetationsformen, die sie trägt, eine kosmische und lebendige Einheit. 77 Eliade zufolge entspricht es der religiösen Gestalt der Erde, ›kosmisches Gefäß‹ verschiedener Mächte zu sein, die von ihr beherbergt werden. Strukturell betrachtet ist sie als Grund all dessen zu sehen, was sich manifestiert. 78 Eliade betont, dass die Erde in der mythischen Anschauung stets den ›ganzen Ort‹, d. h. die Umgebung des Menschen bedeutet, so dass sich etymologisch viele Ausdrücke für die Erde eigentlich aus Raumeindrücken wie ›Stelle‹, ›weit‹, ›Gegend‹, oder aus primären sensoriellen Eindrücken wie ›fest‹, ›was bleibt‹, ›schwarz‹ usw. bilden. 79 Erdgottheiten sind demnach ursprünglich als Gottheiten des Ortes zu betrachten. Nach Eliade bildet die erste Theophanie 80 der Erde ihre Mutterschaft, d. h. ihre unversiegliche Kraft, Unterwelt. Obwohl Apollon im Allgemeinen als der Herr des Orakels gilt, weisen in Delphi frühe mykenische Funde eher auf die Verehrung einer weiblichen Gottheit hin. Noch Pindar nennt Gaia, die Erdmutter, als eigentliche Inhaberin der delphischen Orakelgrotte. Erst im späten 6. Jhr. v. Chr. verbindet der homerische Hymnus die Gründung des Heiligtums mit Apollon. Vgl. Wiebke Friese: Orakelheiligtümer in der antiken Welt, Darmstadt 2013, S. 36. Die alten Götter gehören Otto zufolge der Erde an, sofern sie alle Anteil am Leben wie am Tod haben. Sie können daher als Erdund Totengottheiten bezeichnet werden: »Das uralte göttliche Erdrecht protestiert gegen den olympischen Geist.« Vgl. Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands, S. 24. 77 Vgl. Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 278. 78 Vgl. Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 278 f. 79 Vgl. Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 282. 80 Man könnte sagen, dass eine Form der sogenannten ›Hierophanie‹ die ›Theophanie‹ ist, nämlich das Erscheinen eines Gottes oder des Göttlichen. Theophanie und Hierophanie sind jedoch letztlich als Synonyme zu betrachten, sofern das Göttliche numinos ist und das Numinose heilig. Das Wort ›Hierophanie‹ bedeutet – im wörtlichen Sinne – ›Erscheinung des Heiligen‹ und bildet einen Schlüsselbegriff in Eliades Denken. Die Hierophanie meint eigentlich den Einbruch einer stärkeren, breiteren und tieferen Wirklichkeit (die er mit dem Heiligen identifiziert) in die Alltagsrealität (oder die profane Sphäre). Religiöse Werte (Eliade zufolge die einzigen Werte, die eine Menschengruppe zusammenhalten können) entstehen als Resultat dieses Einbruches, denn, wie er in Kosmos und Geschichte feststellt, »[innerweltliche] Gegenstände oder Handlungen gewinnen einen Wert und werden damit wirklich, weil sie auf die eine oder andere Weise einer Wirklichkeit teilhaftig sind, die über die Grenzen [der innerweltlichen Sphäre] hinausgreift«. Mircea Eliade, Kosmos und Geschichte, Frankfurt a. M. 1994, S. 16. Religion hätte in diesem Sinne zweierlei Bedeutung: 1. Bewusstsein des ontologischen Einbruchs, d. h. der »Koinzidenz des Heiligen (oder der göttlichen Wirklichkeit) mit dem Profanen (oder der innerweltlichen Sphäre)«. 2. Herausbildung von Formen, die als permanente Erinnerung (d. h. Rückbindung) an das Heilige
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Teil I – Chora und Physis
Früchte zu tragen. Noch bevor die Erde im Zuge der Entwicklung der Ackerkulte zu einer Fruchtbarkeitsgöttin und Göttin der Vegetation und Ernte wurde, war sie, durch eine unmittelbare Anschauung hindurch, selbst tellus mater. 81 Noch in der Volksreligion existiert die weit verbreitete Vorstellung einer tellurischen Abstammung des Menschen: Die Erde ist Mutter, sofern sie das Leben gibt und aus ihrer Substanz alle möglichen Gestalten geboren werden und entstehen. Nicht zufällig ist das Wort ›Materie‹ entlehnt aus dem lateinischen Wort materia 82, einer Ableitung vom lat. Wort mater. Im Ursprung des Begriffs ›Materie‹ zeigt sich die Auffassung von der Mutter Erde, die Leben gibt, dem ›Mutterstoff‹, aus dem alles Seiende geformt und geworden ist. 83 Nach Eliade entspricht diese Stufe der Auffassung einer mythisch-religiösen Weltanschauung, wonach die Materie die Bestimmung einer Mutter hat, welche ohne Unterlass gebiert. Wie Eliade betont, bilden Leben und Tod vor diesem Hintergrund nur zwei Momente der Gesamtbewegung der Erdmutter, wonach das Leben ein Loslösen aus dem Inneren der Erde und der Tod streng genommen ein Zurückkehren ›zu sich‹, was, so könnte man sagen, zugleich ein magisches Band der Sympathie zwischen der Erde und ihren Geschöpfen, den Pflanzen, Tieren und Menschen begründet. 84 Der Erde kam in der Antike nicht nur ein Fruchtbarkeits- und Regenerationskult zu, sondern vor allen Dingen auch ein Toten- und zu dessen Integration in der Sphäre des Profanen beitragen. Vgl. Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige, S. 56. 81 Vgl. Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 282. 82 Eigentlich ›Stamm und Schösslinge von Fruchtbäumen und Weinreben, Bauholz, Nutzholz, (Grund-)Stoff, Aufgabe, Anlage, Ursache‹. Materie bezeichnet dann den Stoff, aus dem etwas gefertigt ist, oder die stoffliche Seite eines Naturkörpers und Möglichkeit des Seins, das seine Bestimmung erst durch die Form erhält. Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet u. d. Leitung v. Wolfgang Pfeifer, München 2005, S. 847–848. 83 Diese Auffassung steht im Gegensatz zu der modernen Auffassung der Materie im Sinne des Materialismus, der Rückführung alles Seienden auf tote Materie, auf bloßen Stoff. 84 Vgl. Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 291. Nach Mircea Eliade ist das häufige Verlangen, in der Heimaterde begraben zu werden, nur die profane Form eines mystischen Autochthonismus. Die Griechen der klassischen Periode behielten Traditionen der Nähe zur Erde. Sie verstanden sich selbst als »erdgeboren«, »autochthon«, vor allem diejenigen, die ihre Herkunft auf die Mykener zurückführten. Vgl. J. Donald Hughes, Richard Frank: GAIA, Environmental Problems in Chthonic Perspective, S. 94.
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Chora als das Raumgebende
Opferkult. 85 Die Erde (χθών, χθόνος) ist nämlich nicht nur der bergende Schoß, der feste Boden oder der fruchtbare Acker, sondern auch ein Schlund, ein Spalt (χασίς), eine gähnende oder klaffende Öffnung, ein weit aufgesperrter Mund (χάσμα): »dann tue sich die Erde auf, um zu verschlingen« 86. Das, was sich auftut, was auseinander berstet (cf. χαίνω), ist uranfänglich betrachtet die Kluft, die Finsternis, der unermessliche Raum (χάος), aus dem das Weltall geschaffen wurde. 87 In dem Bedeutungsaspekt der Erde, die sich plötzlich von unten her öffnet – und damit den Charakter eines Abgrunds gewinnt –, zeigt sich vielleicht das an Chora Vergessene am ehesten: Konzeptionell scheint sie rückgebunden an die großen Mutter- oder Erdgottheiten der griechischen Antike, aber zugleich auch an das Chaos, den Abgrund, der sich in der dunklen, verschlingenden Macht der Erde – als Unterwelt – manifestiert. Zurecht betont Eugen Fink, dass Chora im Sinne einer dunklen, nächtlichen Raummaterie und Verkörperung des χάος als eine Figuration der großen Mutter und Erde selbst zu verstehen ist. 88 In ihr zeichnen sich rückblickend betrachtet Komponenten ab, die mit der antiken Vorstellung der Erde als großer Mutter in Verbindung standen. Wie die Erde das Leben gibt, es nährt und wieder nimmt, entstehen und vergehen in Chora (der Matrix, Amme und Mutter allen Werdens) die sich wandelnden Spurenelemente, aus denen sich der Kosmos als Welt der Erscheinungen konstituiert. Das Raumgebenden der Chora kann auf das Moment des ursprünglichen Sich-Öffnens der Erde zurückgeführt werden: sie weicht zurück und öffnet dadurch einen Raum, in dem etwas »Der alte Glaube ist erdgebunden und dem Element verhaftet, ganz wie das alte Dasein selbst. Erde, Zeugung, Blut und Tod sind die großen Realitäten, von denen er beherrscht wird.« Walter F. Otto: Die Götter Griechenlands, S. 21. 86 Wilhelm Pape: Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, Zweiter Band, Braunschweig 1914, S. 1324. Etymologisch zeigt sich, dass die Erde wesensmäßig mit einem Sich-Öffnen und (negativ konnotiert) dem Aufklaffenden, Verschlingenden in Verbindung steht, was die Nähe der Erde zur Vorstellung des χάος verständlich werden lässt. χάος, der leere unermessliche Raum, auch die rohe, verworrene Masse, ist auf das Verb χαίνω, gähnen, klaffen, sich auseinandertun, platzen und bersten zurückzuführen. χασίς ist der Spalt, die Scheidung, χάσμα die gähnende, klaffende Öffnung, der Erdschlund oder Erdspalt, auch der Schlund des Mundes. 87 »Zuallererst war da nur Chaos der aufklaffende Abgrund: aus ihm erwuchs Gaia die breitbrüstige Erde als ewiger fester Grund.« Hesiod: Theogonie, übers. und erläutert v. Raoul Schrott, München 2014, S. 13. 88 Vgl. Eugen Fink: Zur ontologischen Frühgeschichte von Raum, Zeit, Bewegung, Dordrecht 1957, S. 188. 85
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erscheinen, sich manifestieren kann. In Rückbezug zur Erde würde Chora nicht nur als eine vorgegebene, statische Matrix für die Erscheinungen (die im Timaios die Funktion eines passiven Containers einnimmt) fungieren, sondern in ihrer allumfassenden Bewegung des Sich-Öffnens und Sich-Schließens das Seiende auch eigenständig hervorbringen. Chora (vor dem Hintergrund ihrer Rückbindung zur Erde) betont dasjenige, was in Platons Timaios verborgen ist, nämlich ihre ursprünglich schöpferische Dimension, die einen eindeutig weiblich-archetypischen Status hat.
1.4 Chora als Denkfigur radikaler Differenz Vor dem Hintergrund dessen, das Chora weder dem Sinnlichen noch dem Intelligiblen angehört und damit kein Zugrundeliegendes, sondern ein radikal Anderes, jeder essentiellen Bestimmung sich entziehendes Außerhalb bildet, müsste man mit Derrida jegliche Identifikation der Chora mit dem Mütterlichen oder Weiblichen zurückweisen. Derrida behauptet, dass die Philosophie über dasjenige, was ihrer ›Mutter‹, ihrer ›Amme‹ und ihrem ›Behältnis‹ ähnlich ist, d. h. über Chora philosophisch überhaupt nicht sprechen kann, weswegen sie auch nur vom Vater und vom Sohn spricht, als würde dieser jenen ganz alleine erzeugen. 89 Dies deutet unter anderem auf Derridas Haltung hin, gemäß derer die gesamte Dekonstruktion des Phallogozentrismus 90 im Grunde genommen nichts anderes als die Dekonstruktion dessen ist, was man Philosophie nennt. 91 Aus dieser Perspektive »Von diesem, dem ihre Annäherung gilt, vermag die Philosophie direkt […] nicht zu sprechen. Was ihrer ›Mutter‹, ihrer ›Amme‹, ihrem ›Behältnis‹ oder ihrem ›Abdruckträger‹ ähnlich ist, davon kann die Philosophie philosophisch nicht sprechen. Also spricht sie nur vom Vater und vom Sohn, als würde der Vater diesen ganz alleine erzeugen.« Jacques Derrida: Chōra, S. 70. 90 Der Phallozentrismus setzt den männlichen Phallus als ein Symbol und Quelle der Macht ins Zentrum kulturellen Handelns. Nach Lacan ist für die Frau in dieser phallischen Ordnung, innerhalb derer sie als ein Mangelwesen wahrgenommen wird, kein Platz. Der Begriff Phallogozentrismus verknüpft terminologisch den Logo- und den Phallozentrismus. Phallogozentrismus verweist auf die analoge Struktur von Phallozentrismus und Logozentrismus, die Privilegierung des Phallus als Ursprung und Zentrum aller Signifikanten. Derrida verbindet in diesem Begriff sein Konzept des Logozentrismus mit Lacans Theorie des Phallus. 91 Vgl. Jacques Derrida: Ein Film von Kirby Dick und Amy Ziering Kofman, USA 2002. 89
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Chora als das Raumgebende
betrachtet wird die Geschichte des europäischen Denkens, dessen metaphysische Struktur Derrida als einen hierarchischen Dualismus offengelegt hat, zu einem Zeugnis der Komplizenschaft von logos und phallus. Diese Komplizenschaft zeigt sich in Platons Timaios und dessen Darstellung von Chora als einem weiblich-passiven Aufnahmebehältnis für das Werden, das durch das männlich-aktive Prinzip, dem Demiurgen (nach einem geistigen Paradigma) geformt, informiert und in Bewegung gesetzt wird – wo jede eigene schöpferische oder hervorbringende Tätigkeit des Weiblichen verneint und das Weibliche dem Männlichen untergeordnet bleibt. Der Phallogozentrismus kann in dieser Hinsicht als Vorgang der schemenhaften Reproduktion einer binär-hierarchischen Geschlechterordnung definiert werden, wobei die Dekonstruktion den Charakter einer Rationalismus- und sogar Patriarchatskritik gewinnt, insofern sie versucht, die Polaritäten und Dichotomien der binären Logik aufzuheben und zu enthierarchisieren. 92 Es verwundert daher kaum, wenn Derrida jegliche Identifikation der Chora mit einem weiblichen Prinzip zurückzuweist. Er insistiert darauf, dass sie nicht auf die anthropomorphische Form einer Frau, Mutter oder Amme reduziert werden dürfe und daher sich auch nicht durch das Schema des Empfangens und Gebens begreifen lasse. 93 Weder könne sie als erzeugend angesehen werden, noch bilde sie ein Paar mit dem Vater als einem urbildlichen Modell. Als dritte Gattung gehöre sie vielmehr überhaupt keinem Oppositionspaar mehr an und befinde sich jenseits all dieser Polaritäten, einschließlich jener zwischen Mythos und Logos, Passivität und Aktivität, männlich und weiblich etc. 94 In diesem Sinne verkörpert Chora für Derrida einen irreduziblen Zwischenraum, der eine dissymmetrische Beziehung wahrt zu allem, was ihr zur Seite gestellt werden könnte. 95 Alle Beschreibungen und Übersetzungen von Chora bleiben für Derrida unweigerlich in einem Interpretationsnetz gefangen, das durch sie
Es ist eine logische Konsequenz, dass zwei gegenüberstehende Begriffe innerhalb einer Dichotomie nicht gleichwertig sind, sondern eine Hierarchie und Subordination des einen und den anderen Begriff konstituieren. Eine Methode der Überwindung dieser Hierarchie wäre die ›Supplementarität‹, d. h. die Aufwertung des untergeordneten Begriffs zu Zweck der Neutralisierung der hierarchischen Struktur. 93 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 23, 67. 94 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 67. 95 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 67 f. 92
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selbst, obschon sie allen diesen Bestimmungen stattgibt, radikal außer Kraft gesetzt wird. 96 Von all den Interpretationen und hermeneutischen Typen, welche Chora informieren und ihren schematischen Abdruck in ihr hinterlassen, bleibt sie – unzugänglich, unempfindsam, amorph und stets jungfräulich – vollkommen unberührt. 97 Derrida besteht darauf, Chora neutral und unberührt von jeglicher sexuellen Differenz zu halten: Sie gehört gar nicht mehr dem Geschlecht der Frauen an. 98 Mit Chora bringt Derrida letztlich einen (vor-metaphysischen) (Außer-)Stand-Ort der kosmischen Einschreibung ins Spiel, nämlich das nach ihm »exakte Gegenstück zu dem, was seit ihrem Erscheinen mit dem Ursprung der Welt Gaia für jedes Geschöpf darstellt: eine stabile und für alle Zeiten sichere Grundlage, die der klaffenden und bodenlosen Öffnung des Chaos entgegensteht.« 99 Dieser unbestimmbare und unsichere Außer-Stand-Ort fungiert als Chiffre von Derridas Versuch, trotz der konstitutiven und durch sprachlichen Gebrauch nicht zu überwindenden Struktur der Metaphysik doch ein ›Diesseits‹ der Geschlossenheit der historisch-metaphysischen Epoche zu denken – eine Epoche, die nach Heideggers Diagnose von Platon inauguriert wurde. Das ›Diesseits‹ der derrideanischen Differenz ist nichts Anderes als die radikalste Negativitätsform 100, die in der Geschichte der westlichen Philosophie zum Ausdruck gekommen ist, und in der die dominanten Strukturen des metaphysischen Denksystems metapolitisch mit der systematischen Ausprägung des Logos und mit der historisch-gesellschaftlichen Formation einer männlichen Herrschaft (Phallozentrismus) identifiziert werden. So radikal ist die derrideanische Interpretation Platons, dass in der Konstitution von Chora als Differenz ihre im Grunde genommene aufzuwertende mütterliche und damit auch ihre schöpferische Dimension negiert wird. Die Dekonstruktion des Weiblichen lässt sich konsequenzlogisch aus einer vorherigen Stufe ableiten: der Kri-
Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 17 f. Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 21. 98 Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 67. 99 Jacques Derrida: Chōra, S. 34. 100 Ein paradoxes ›Diesseits‹, das sich eigentlich ›Jenseits‹ sowohl der dialektischen Logik (Hegel, Adorno) als auch der fundamentalontologischen Differenz (Heidegger) befindet und keine theoretische (d. h. letztlich realontologisch umschreibbare) SelbstBehauptung beansprucht. 96 97
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Chora als das Raumgebende
tik eines väterlichen anthropotheologischen Schemas 101, das die Teleologie des gesamten Textes als einer kosmologischen Darstellung der Entstehung der Welt und des Menschen bestimmt. 102 Zwar deckt die dekonstruktive Annäherung die radikale Andersheit von Chora auf (wodurch diese herausgelöst werden kann aus ihrer schematischen Bindung und Logik der Subordination), gleichzeitig wird sie jedoch noch weiter und radikaler eines jeglichen Sinnes entleert. Dies gilt insbesondere hinsichtlich ihres weiblichen Potentials, das es aber gerade entgegen dessen Instrumentalisierung und Verdrängung herauszustellen gilt. Chora folgt einer anderen Logik als jener des Vaters, der sein Gesetz vom Logos erhält, allerdings ist diese andere Logik keine oppositive gegenüber der bisherig tradierten, d. h. männlich orientierten. Der Philosoph, so Derrida, kann per definitionem keine Mutter sein. Die Aufgabe der Dekonstruktion als einer spezifischen Ausprägung des Denkens, die nicht mehr Philosophie ist, bestünde damit darin, wie Derrida selbst zu verstehen gegeben hat, eine dem Vater nicht mehr dualistisch entgegenstehende ›denkende Mutter‹ ins Leben zu erwecken. 103 In diesem Sinne wäre vielleicht jene andere Logik, die Derrida mit Blick auf Chora im Sinne der différance ins Spiel bringt, gerade auch in ihrer mythischen Silhouette, als eine weiblich oder mütterlich zu chiffrierende Logik aufzufassen. Derrida scheint es jedenfalls daran gelegen zu haben, eine irgendwie geartete Es besteht ein Anthropomorphismus zwischen dem Handwerker, dem Philosophen, dem Vater und dem Sohn, von denen ein jeder einen Bezug zu einem eigentlichen Philosophen, einem eigentlichen Vater und einem eigentlichen Handwerker hat. Sie alle besitzen eine menschliche Form, während gesagt wird, dass die Matrix und Chora sich nicht in eine solche Konzeption fügen lassen. Die Sprache, die Platon in Bezug auf χώρα verwendet, evoziert das Mütterliche oder die Matrix, aber sobald er diese Sprache benutzt, entleert er sie von der Mutter zugunsten einer Metapher der Zahl oder eines Schemas. Nach Irigaray ist in der platonischen Kosmologie, aufgrund ihrer Konzeption von Chora, eine Ökonomie der Metapher am Werk, welche das Mütterliche von der räumlichen Konstruktion fernhält, die sie metaphorisch artikuliert. Platons Timaios stellt in diesem Sinne einen Entstehungsmythos dar, der entsprechende mütterliche Bezüge nutzt, um den Raum und den Prozess des Werdens zu konstruieren, während er systematisch den Ort der eigentlichen Frau negiert, indem er diese Referenzen als metaphorisch und nicht materiell betrachtet. Vgl. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 22. 102 Die gesamte Dekonstruktion des Phallogozentrismus ist deswegen eine Dekonstruktion der Philosophie, weil nach Derrida die Philosophie wesentlich an eine männliche/väterliche Figur gebunden ist. 103 Vgl. Jacques Derrida: Ein Film von Kirby Dick und Amy Ziering Kofman, USA, 2002. 101
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analogische Entsprechung zwischen der Dekonstruktion und dem Weiblichen zu affirmieren. 104 Derridas Leistung, eine Figur am Beginn der abendländischen Philosophie aufgespürt zu haben, die unter der Veränderung des gewohnten Blickwinkels einen Einblick in die Kontingenz des binären Denkens bzw. der Entwicklung des abendländischen Denkens gewährt, ist nicht zu unterschätzen. 105 Zweifellos hat Derrida sehr viel dazu beigetragen, das Potential von Chora – als Chiffre des Uneinholbaren und Entzogenen –, sichtbar werden zu lassen. Die Problematik einer rein dekonstruktiven Annäherung an Chora scheint in ihrer Forderung nach einer radikalen ›Entleerung‹ zu liegen, die aber der phänomenologischen Relevanz des Raumgebenden nicht gerecht wird. In dem Wort Raumgebendes wird ein ›Geben‹ impliziert, dessen Gehalt nicht in einer bloßen Entzugsgeschehen aufgeht. Für Derrida kann die Philosophie das Gebende bzw. Raum-Gewährende als solches philosophisch überhaupt nicht sagen. Die Philosophie kann auf etwas hinweisen, was diesseits allen Ursprungs ist, allerdings nur im Modus einer radikalen Nichtidentität, angesichts derer das Vor-Ursprüngliche nicht nur in Bezug auf die entstehenden Dinge, sondern auch in Bezug auf sich selbst anders ist. Nach diesem radikalen Differenzdenken kann die Gabe nur als Entzug konzipiert werden, allerdings zeigt sich dieser Entzug notwendigerweise in der Sprache, indem das Sich-Entziehende nicht einzuholen ist, d. h. prinzipiell unverortbar bleibt und sich nur indirekt in einer Zeichenkonstellation zu verstehen gibt. Derrida kritisiert im Hinblick auf Platon, dass der Diskurs über Chora zwar eine mise en abîme des ganzen im Timaios ausführlich Derridas Versuch, die Frau über ein Netzwerk von Metaphern mit der Dekonstruktion intrinsisch zu verbinden, ist auffällig. Auch wenn dieser Versuch als Gestus Gefahr laufen könnte, die Frau wieder zu vereinnahmen und zu fetischieren und sie an einen Ort zu verweisen, so ist die Dekonstruktion als eine Feminisierung der Praxis der Philosophie mehr als nur ein weiteres Beispiel für die maskuline Verwendung der Frau als Mittel zur Selbstbestätigung. Nach Spivak kann sie dies jedoch nur, wenn sie die Frau als Figur nimmt, die auf eine doppelte Weise verschoben werden muss. Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak: Verschiebung und der Diskurs der Frau, in: Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, hrsg. v. Barbara Vinken, Frankfurt a. M. 1992, S. 183–218. 105 Vgl. Christian Hoffstadt: Denkräume und Denkbewegungen, Untersuchungen zum metaphorischen Gebrauch der Sprache der Räumlichkeit, Karlsruhe: Universitätsverlag. http://digbib.ubka.uni-karlsruhe.de/volltexte/documents/876781 (11. 12. 2016), S. 149. 104
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entwickelten metaphysisch-kosmologischen Lehrgebäudes darstellt, sich aber dasjenige, was sich durch den differenziellen Aspekt der Chora öffnet, durch die Zurückführung der Chora auf Metaphern des Weiblichen zugleich wieder schließt, sofern diese wiederum eine Logik der Binarität einführen. Der feministisch orientierten Relektüre des Timaios zufolge gilt es, gegen Derrida insbesondere die ontische Körperlichkeit des Mütterlichen und Weiblichen wieder in das Denken der Chora einzuführen, um seine Wiederaneignung für die feministische Philosophie zu ermöglichen. 106 Die weibliche Generativität oder Hervorbringungskraft der Matrix/Chora ist wesentlich an die reproduktive, mütterliche Funktion gebunden und jeder Versuch, den Wert von Chora für die feministische Philosophie festzustellen, muss daher die irreduzible mütterliche Rolle in Platons Schöpfungsgeschichte ernst nehmen und auf die richtige Weise erfassen. 107 In diesem Sinne handelt es sich bei dem Raumgebenden der Chora nicht um ein bloß anthropomorphes Schema, sondern um eine ursprüngliche Form des Gebens, nämlich dem Geben des Seins als solchem. 108 Nicht nur gibt aber Chora Sein, sondern auch den Raum für das Sein. Dabei geht es vielleicht weniger darum zu sagen, was Chora letztlich ist, sondern den Fokus darauf zu lenken, was sie ermöglicht und hervorbringt. 109 Chora ist nicht nur hervorbringend als Raum, sondern vor dem Hintergrund ihrer wiederherzustellenden Beziehung zum Mütterlichen die Hervorbringung des Raumes selbst: Chora schafft, erzeugt und eröffnet den Raum. 110 Die Rückbindung von Chora zur mythologischen Gestalt der Erde ist von Bedeutung, sofern dieser die (unter anderem im Timaios vollzogene) Dissoziation der Aspekte des Hervorbringenden und des Nährenden, Beherbergenden der Chora wiederherstellt. Beide Aspekte kommen in dem Bedeutungsspektrum der Matrix zusammen, die begrifflich und historisch nicht nur als nutrix (als weibliche Ernährerin und Amme), sondern (ebenso wie die Erde) auch als generatrix betrachtet wurde. 111 Die Verbindung dieser beiden Begriffe weist darauf hin, dass es keinen verfügbaren Raum in der Matrix gibt, der darauf wartet, die väterliche Erzeugung zu unterstützen; Raum ist vielmehr dasjenige, 106 107 108 109 110 111
Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 126. Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 137. Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 132. Vgl. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 10 f. Vgl. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 3. Vgl. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 3 f.
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was die Matrix-Chora ermöglicht, was hergestellt wird durch den Akt des Beherbergens und des gastfreundlichen Aufnehmens des Mütterlichen. 112 Die Matrix ist kein bloßer Container, aus dem alles stammt wie aus einem Behältnis, sie selbst besitzt eine schöpferisch-hervorbringende Dimension. Hervorbringung geschieht in diesem Sinne nicht ex nihilo, sondern durch die hütende und nährende Empfangskraft der Matrix: Dies besagt, dass der Raum der Generativität und der Raum des Hütens oder Beherbergens letztlich ein und derselbe sind. Raum und Materie werden simultan geschaffen und der Entwurf, der bisher als durch das göttliche oder männliche Prinzip hervorgegangener betrachtet wurde, kann nicht von dem Prozess der nährenden Hervorbringung getrennt werden. 113 Eine Mutter zu werden, impliziert die Verwirklichung der Potentialität, den Raum und die Materie zu schaffen. Sie bringt nicht nur das Kind hervor, sondern auch den Raum der Hervorbringung selbst. Das Mütterliche muss daher in Relation zum Raum und zur Materie und nicht als Raum und Materie betrachtet werden. 114 In der Hervorhebung der weiblichen Konnotation von Chora wird dasjenige sichtbar, was man vielleicht die Operation des Weiblichen in der westlichen Philosophie nennen könnte. 115 Es zeigt sich, dass Chora als eine (weibliche) Öffnung gelesen werden kann, die ein Abgründigwerden (eine mise en abîme) 116 des Systems erzeugt, in das sie funktional eingebunden wurde. Vor dem Hintergrund einer feministischen Radikalisierung der Dekonstruktion besagt Chora dann eine unaufhörliche Bewegung des gleichzeitigen Empfangens und Gebens, die unter der Voraussetzung jeglicher Besitz und Eigenschaftslosigkeit sowie Subjekt- und Substanzhaftigkeit, eine irreduzibel weibliche Markierung trägt und auf diese Weise die ursprüngIrina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 27. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 28. 114 Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 28. 115 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 125. 116 Der Ausdruck mise en abîme wird von Derrida eingeführt, um den Rekursivitätscharakter der Einschreibung von Sinnlichem und Intelligiblem in der Chora zu zeigen. Chora bildet in diesem Sinne eine Art Meta-Ebene, in der sich die Erzählung von den zwei Bereichen wiederholt, allerdings weiß man ganz deutlich, dass die Dekonstruktion als Methode keine Wiederholung im Sinne einer Iteration akzeptiert. Mise en abîme ist insofern mehr als eine Erzählung im Modus der Rekursivität. Sie ist zugleich der Zusammenbruch, die Verabgründigung der platonischen Ordnung des Seienden, die letztlich von der Affirmation eines metaphysischen Prius, der Ideen, abhängt. Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 35. 112 113
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lichste Vorbedingung der Ordnung des Erscheinenden bildet. 117 Für eine Herausstellung der weiblichen Textur von Chora, gerade auch in ihrer stofflich-mütterlichen Funktion, und der Wiedereinholung ihrer fundamentalen Rolle hinsichtlich der im Timaios dargestellten Geschichte der Weltentstehung, ist, wie schon mehrfach betont wurde, insbesondere der Rückbezug ihrer mythologischen Schichten von Bedeutung. 118 Dies wird auch deutlich, wenn man der Linie von der archaischen Mythologie der babylonischen und altisraelitischen Kultur zum dekonstruktiven Potential der Chora im Timaios folgt. Davon ausgehend stellt sich die Frage, ob die Idee der Schöpfung, in der die geistige Tätigkeit eines Schöpfers immer wieder betont wird, nicht vielmehr mit einer vorgeistigen bzw. urstofflichen Öffnung – statt eines rein geistigen, schöpferischen Setzungsaktes oder Prinzips – zusammenhängt. Der Mythos und seine eigene symbolische Sprache liefert uns ausreichende Elemente, um die Weltentstehung ausgehend von dem zu denken, was bisher als der Hauptgegensatz zur schöpferisch-männlichen Hervorbringungskraft (in der Figur des sich Entziehenden, des Dunklen, des Chaos, des Weiblichen usw.) betrachtet wurde. Die mythologische Vorstellungswelt kann keine Tat ohne Stoff konzipieren. Dies wirft die Frage nach dem philosophischen Status des Stofflichen auf, eine wirkungsgeschichtlich relevante Frage, die im Laufe der Geschichte der Philosophie verschiedene Ausprägungen gewonnen hat. Aus dieser Perspektive gibt es keine philosophische Überwindung des Mythos, sondern vielmehr eine permanente Bearbeitung und nolens volens eine ständige Rückkehr zum Mythos. Eine komplexe Herangehensweise wird notwendig, die darin besteht, dem (Ur-) Stofflichen 119, d. h. dem, was bisher in der Philoso-
Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 125. Wenn die geschichtliche Operation der metaphysisch-epistemischen Rationalisierung nicht nur mit einem philosophischen Einschnitt gegen Erzählungen ohne Wahrheitsgehalt (Mythen), sondern in erster Linie mit dem Aufzwingen eines männlichorientierten Weltverständnisses verbunden ist, wird eine Revision des Wertes des Mythos ausgehend von dem ideologischen Gehalt einer Entscheidungsfrage, angesichts derer sogenannte »objektive Urteile« über Erkenntnisstufen, Wahrheit und Falschheit, Illusion und Wirklichkeit in Frage gestellt werden müssen. 119 Das Ur-Stoffliche hat an dieser Stelle sowohl thematische als auch methodologische Relevanz: Es handelt sich gleichzeitig um den Mythos, der zu einer Wiedereröffnung der richtigen Problematik wieder aufgenommen werden muss, und um die Materie, von der der Mythos Zeugnis auf eine Weise ablegt, die sich der Philosophie vollkommen entzieht. 117 118
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Teil I – Chora und Physis
phie unberücksichtigt geblieben oder abgelehnt worden ist, philosophisch gerecht zu werden.
1.5 Die Matrix als anfänglich Verdrängtes In der Gestalt von Chora liegt, wie wir gesehen haben, ein ganzer Korpus von verdrängten Elementen, die Edward Casey in seinem Buch The Fate of Place ausgehend von archaischen mythologischen Vorstellungen behandelt. Im ersten Kapitel, Mastering the Matrix, setzt sich Casey mit dem Problem der creatio ex nihilo auseinander. Seine These lautet, dass Schöpfung immer Schöpfung aus etwas Vorgegebenem (creatio ex datis) ist. Diese phänomenologische Position wird durch die Analyse einiger Schöpfungsmythen unterstützt, die gegen die Idee eines anfänglichen Nichts sprechen. Das Vorgebebene der Schöpfung hängt nicht nur mit der Frage des Ortes zusammen, sondern in erster Linie mit jener der Materie, jedoch nicht im Sinne des physisch Ausgedehnten, des Soliden und Undurchdringlichen, sondern im Sinne der vorphänomenalen oder elementaren Matrix, die als präformierende Vorbedingung des Erscheinenden fungiert. Dieser Matrix kommt nicht nur ein passiver Behälterstatus zu, sondern eine präformierende Kraft, die vor dem Eingriff bzw. der Tätigkeit eines Schöpfers waltet. Die Matrix ist ein »Ort«, in dem etwas erzeugt, hervorgebracht oder entwickelt wird: ein Ort der Herkunft und des Wachstums.: »In its literal sense of ›uterus‹ or ›womb‹, the matrix is the generatrix of created things: their mater or material precondition.« 120 Angesichts der Matrix, besteht die Tätigkeit des Schöpfers nicht im Schaffen sui generis, sondern in der Formung und Gestaltung eines bereits Vor-Gegebenen bzw. dessen, was in der Matrix bereits präformiert ist. Schöpfung wird damit zu einem Akt der Beherrschung und Bewältigung von Materie. Casey bezieht den jüdischen Schöpfungsmythos (Genesis) in dieses Schöpfungsmodell ein und interpretiert das Schaffen Gottes im Sinne des hebräischen Wortes bará als »(ein)meißeln, (ein)schnitzen« in einen vorgegebenen Stoff (ὕλη). 121 Trotz der Tatsache, dass die kanonische Rezeption des Alten Testaments die Schöpfung als creatio ex nihilo ausgelegt hat, ist für Casey die Beherrschung der Matrix in 120 121
Edward Casey: The Fate of Place, A Philosophical History, S. 24. Vgl. Edward Casey: The Fate of Place, S. 24.
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Chora als das Raumgebende
diesem Schöpfungsbericht ersichtlich, und zwar ausgehend von dem hebräischen Wort tehom (Tiefe), das die Wassermassen als Urflut (oder wie Casey sagt primordiale ozeanische Kraft) vor der Schöpfung bezeichnet: »Finsternis war über der Tiefe« (Gen 1–2), bevor Gott die Welt schuf. Diese Urflut identifiziert Casey mit dem akkadischen Eigennamen Tiâmat, der Figur, die am Anfang des babylonischen Schöpfungsmythos Enuma Elish steht und eine weibliche Gottheit bezeichnet. Mircea Eliade führt Tiamat in seinem Buch über Schöpfungsmythen auf die babylonischen Nomina tâmtu, tiâmtu, »Meer«, zurück. 122 Damit wird der flüssige Charakter der elementaren Matrix verdeutlicht, der für Casey zentral ist. 123 Nach Casey stellt das Enuma Elish ein deutliches Beispiel des Eindringens eines männlichen Schöpfers in den Schoß der Matrix, bzw. der Zerstörung der organischen Schöpfungsquelle dar: »Marduk proves himself master of matrix by brutally crushing Tiamat in battle. He ›shot the arrow that split the belly, that pierced the gut and cut the womb‹. Marduk’s arrow, symbol of his phallic manhood, invades the womb-matrix: death penetrates to the seat of life.« 124 Diese Zerstörung markiert die Möglichkeitsbedingung einer Kosmogenese und Topogenese. Im Zentrum des Schöpfungsmythos steht der gewaltsame Sieg und die anschließende Beherrschung des Strukturlosen und Abgründigen, der Matrix (in der Gestalt Tiâmats) durch den Architekten der Schöpfung (in der Gestalt Marduks). Casey betont, dass die nicht-organische Arbeit des Bauens und der Konstruktion nur durch die Zerstörung einer organischen Matrix als Quelle der Zeugung anheben kann. Diese Zerstörung ist aber keine vollkommene Ausrottung der Matrix, da der große Architekt aus einer Urmaterie (der körperlichen Tiefe Tiâmats) schaffen muss als Bedingung seiner Schöpfungsakte. Materie ist ewig und unerschöpflich und kann nicht besiegt werden. Aus der Perspektive des Schöpfers erscheint die Matrix als chaotisch und ungeordnet und muss daher beherrscht werden. Casey unterscheidet jedoch zwischen Flüssigem und Chaotischem. Tiamat ist flüssig, nicht chaotisch: »order and especially the order of place, is nascent in the matrix.« 125 Die Ordnung des Ortes wird in der
Vgl. Mircea Eliade: Die Schöpfungsmythen, übers. v. Dr. Elisabeth Klein, Zürich 1994, S. 123. 123 Vgl. Edward Casey: The Fate of Place, S. 25. 124 Edward Casey: The Fate of Place, S. 27. 125 Edward Casey: The Fate of Place S. 31. 122
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Teil I – Chora und Physis
Matrix geboren, bevor der Schöpfer die Ordnung der partikulären Orte schafft. In jedem Stadium der Schöpfung ist der vorkosmische Ort der Matrix vorausgesetzt. In diesem Sinne sollte vielleicht besser von einer »Ortung« oder »Ortwerdung« die Rede sein, um den dynamischen Charakter des Matrixgeschehens zum Ausdruck zu bringen. Die platonische Matrix ist im Gegensatz zu der Matrix des Enuma Elish und der Genesis nicht flüssig (aus Wasser bestehend), besteht also aus keinem elementaren Stoff (φύσις), sondern ist, wie Casey sagt, ein Spiegel des Physischen. 126 Für Casey ist dies das Resultat einer Abstraktion, die erst mit dem platonischen Denken auftritt. Die Differenz zwischen dem Enuma Elish und dem Timaios besteht für Casey in dem Übergang von einer Kosmogonie zu einer Kosmologie, vom Mythos zum Logos. Weil Platon die Matrix von allen sinnlichen Eigenschaften entleert, diese in sie aber dennoch eingeschrieben sind (als präkosmische Spuren/Gepräge), bedarf der Demiurg keiner gewalttätigen Operation, um eine Ordnung zu schaffen. Der Nous überredet die Ananke lediglich im Prozess der Entstehung des Kosmos, d. h., dass die Ordnung für Platon gewissermaßen bereits vor dem Entstehungsprozess des Kosmos vorhanden ist. 127 Warum ist für die Entstehung des Kosmos im Enuma Elish Gewalt (im Sinne der Zerstörung der Lebendigkeit der Matrix) nötig und im Timaios nicht? Der Schlüssel dieser Frage liegt in Platons Unterscheidung zwischen der Matrix als Ur-Raum (primordial space) und den materiellen Körpern (den sensibilia, welche die Matrix in sich aufnimmt). Durch diese Unterscheidung erscheint die Chora nicht mehr (wie Tiâmat im Enuma Elish) als abgründig und bedrohlich, sondern vielmehr als empfänglich und raumgebend. In diesem Sinne sieht Casey in der platonischen Matrix eine Kohärenz, eine Proto-Ordnung, die ein Mittleres bildet zwischen dem »Nous« des Schöpfers und dem »Abgrund« der archaischen Matrix. Die Bewegung des Timaios wäre jene von inhärent heterogenen und diffusen Regionen zu einem homogenisierten und spezifizierten Raum. Platons Timaios bildet ein ähnliches, jedoch nicht dasselbe Beispiel wie das Enuma Elish. Der Demiurg ist mit Marduk vergleichbar als Architekt, der etwas gestaltet und gliedert, ausgehend von einem ursprünglich Gegebenen. Casey sieht im Timaios eine formalisierte Version dessen, was er im Enuma Elish gefunden hat: »the necessity 126 127
Vgl. Edward Casey: The Fate of Place, S. 32. Vgl. Edward Casey: The Fate of Place, S. 38.
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Chora als das Raumgebende
of preexisting spaces (that is places, regions) for the occurrence of creation.« 128 In beiden Texten ist Casey zufolge eine stufenweise Spezifikationsbewegung von der diffusen Unbestimmtheit eines präkosmischen Raumes und dessen Regionen (regions) zur differenzierten Prägnanz des Ortes zu sehen. Dass die Matrix, in der Gestalt (der weiblichen Gottheit) Tiamats, aus der Perspektive des Demiurgs oder des Schöpfers als völlig chaotisch und unzusammenhängend erscheint, ist die Perspektive, die in unserer Tradition die Oberhand gewonnen hat. Tehom und Tiamat sind aber das, was die Verörtlichung der Schöpfung ermöglicht und die Anfänglichkeit des Schöpfers als eines männlichen Architekten radikal in Frage stellt. Ausgehend von dieser In-Frage-Stellung öffnet sich automatisch ein neuer Denkhorizont, und die Frage diesbezüglich drängt sich auf, ob die Matrix nicht vielleicht in sich selbst eine Kohärenz hat und eine Protoordnung darstellt. Wenn dem so wäre, würde die aufgezwungene Gewalt des Architekten nicht der Entstehung, sondern einer spezifischen Ausprägung einer Welt dienen. Man könnte sagen, dass die Logik dieser spezifischen Welt nicht nur die einmalige Verdrängung, sondern vielmehr das aktive und andauernde Vergessen der Matrix verlangt. Mit Blick auf den Timaios wurde darauf hingewiesen, dass die Ordnung der Zeugung und Geburt (φύσις) durch die Ordnung der Hervorbringung im Sinne einer architektonischen Herstellung eines Ganzen (ποίησις) ersetzt wurde. Dieses ›Ganze‹ ist das Resultat dessen, was hinsichtlich der Stellung von Kūn im Yijing als Hermeneutik der Macht bezeichnet wurde, ausgehend von welcher die konstituierte Ordnung als Weltordnung, d. h. als Gesamtheit des Seienden konzipiert wird, ohne dass irgendeine asymmetrische Instanz überhaupt spürbar wird, weder auf der Ebene der ontischen Dynamik noch auf der Ebene der ontologischen Möglichkeitsbedingung dieses Ganzen. Das mythologische Beispiel des Epos Enuma Elish ist in diesem Sinne exemplarisch, um zu verstehen, bis zu welchem Punkt die Herrschaftslogik über Parameter wie Rationalität und Irrationalität, Konsistenz und Inkonsistenz, Sinn und Nicht-Sinn entscheidet, und wie diese Entscheidung als ein ›natürliches Geschehen‹ hingenommen wird. Während Tiamat als chaotischer Uranfang und daher notwendig zu imprägnierende prima materia aufgefasst wird, erscheint Marduk als Schöpfer, Nomothetes, kosmischer Architekt, d. h. Vernunft- oder Lichtprinzip (λογιστική 128
Edward Casey: The Fate of Place, S. 32.
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Teil I – Chora und Physis
ἀρχή, φῶς) gegen die Gefahr der reinen Notwendigkeit (ἀνάγκη) oder der Dunkelheit (σκότος).
2.
Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
Die Dynamik eines primordialen Sich-Öffnens und Zurückweichens, die wir in der Figur der Chora gesehen haben, lässt sich phänomenologisch weiter radikalisieren. Dabei darf eine ontologische Konzeption im abendländischen Denken nicht übersehen werden, die sehr viel zur radikalen Selbstkritik (d. h. zur Destruktion) der Metaphysik und zur Aufstellung von neuen Parametern der Ontologie jenseits der üblich tradierten Sedimentierungen dieses Begriffs beigetragen hat: Martin Heideggers Konzeption der Physis. 129 Betrachtet man Heideggers phänomenologische Deutung des Seins im Sinne von Physis, so findet man gleichzeitig eine In-FrageStellung der metaphysisch bedingten Vorstellung vom ›Grund‹ und deren Aufbewahrung in einem maßgeblichen Bestimmungsfaktor, der mit der ontologischen Differenz, d. h. der Lehre des Seienden unter dem Gesichtspunkt des Seins, zusammenhängt. 130 Heidegger denunziert auf seine eigene Weise die metaphysische Vernähung des Denkens und legt die leere Stelle des Seienden frei, eine epochal unsichtbare Stelle oder Quelle des Seienden, die im Sinne einer Ereignisstätte 131 (d. h. einer Stätte der Wahrheit des Seins mitten in der geschichtlichen Seinsvergessenheit) gedeutet wird. Am Anfang seiner Heraklit-Vorlesung von 1943 erwähnt Heidegger die Gefahr der Tendenz zum unbedingten Erkennen der Gesamtheit des Seienden 132, Heidegger versucht mit der Physis eine Anfänglichkeit zu denken, die nicht mit einer Ursprungsfigur koinzidiert. ›Anfänglich‹ ist für Heidegger ein Denken, dass nichts be-gründet, auch nicht im Sinne einer indirekten Instanz, sondern vielmehr ›sein lässt‹ und sich innerhalb der ontologischen Dynamik einer ontischen Situation bewegt. 130 Die metaphysische Bestimmung des Seinsgrundes hängt von der Überzeugung ab, dass das Sein in der Form eines Seienden (z. B. Gott oder letzter Grund), d. h. nicht als Differenz, sondern als Reproduktion oder Projektion desselben, d. h. der zu erläuternden ontischen Struktur, aufgefasst werden kann. Lehre des Seienden unter dem Gesichtspunkt des Seins bedeutet, dass der ontologische Blick nicht mehr strukturell identitär ist, sondern die Möglichkeitsbedingung, in der von der Metaphysik übersehenen, resp. nicht spürbaren Differenz sieht. 131 Vgl. Alain Badiou: Das Sein und das Ereignis, Zürich 2005. 132 Dieses systematische Erkennen könnte als der Übergang vom Kosmos zur Ge129
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Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
dem zwingenden Willen zur Erkenntnis, d. h. zur metaphysischen Einstellung zum Kosmos im hegelschen Sinne, und zwar als Gegenbeispiel zur Dunkelheit des heraklitischen Denkens 133: »Das Universum, griechisch gesagt ὁ κόσμος, ist im Wesen seines Seins vielmehr das Sichverbergende und deshalb das wesenhaft ›Dunkle‹ […] Wenn das Denken aber das Sichverbergende denken, dieses also wesen lassen muß als das, was es ist, dann kann Erkenntnis dieses wesentlichen Denkens niemals ein ›Wille‹ sein, der das Universum zwingt, seine Verschlossenheit preiszugeben.« 134 Das wesentliche Denken als dem Dunklen gemäßen Denken ist nach Heidegger notwendiger Weise selbst dunkel. Dunkelheit heißt für Heidegger so viel wie »eine wesensnotwendige Weise des Sichverbergens. Der Denker Heraklit ist der Dunkle, weil sein Denken dem Zudenkenden das Wesen wahrt, das ihm gehört, […] weil er das Sein als Sich-Verbergen denkt und gemäß diesem Gedachten das Wort sagen muss.« 135 Für Heidegger wird das Dunkle vom Wort des anfänglichen Denkens weder überwunden noch aufgehoben, sondern gehütet 136, und das Grundwort im Sagen des anfänglichen Denkens ist nichts Anderes als Physis 137. schichte, sofern die hegelsche Dialektik die rätselhafte und dem Denker zum Erstaunen bewegende Offenheit des Kosmos in eine Systematik der Geschichte (als SichSetzen des Geistes in seiner Unendlichkeit) transformiert und damit jegliche wesenshafte Dunkelheit vollkommen vertilgt. Kein Wunder, dass Heidegger das Verb kosmeîn mit ›zieren‹ übersetzt, nicht aber als ›schmücken‹ sondern vielmehr als ›entstehen lassen‹ im Sinne einer lichtenden Fügung (und damit sehr eng verbunden mit dem Glanz der Ur-Flamme: pyr, und dem Aufgehen der physis) deutet. Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 163. 133 Die Sprache der Dialektik ist nach Heidegger dasjenige Wort (Logos), worin sich das Erscheinen des Absoluten vollzieht: Die Absolutheit des Absoluten besteht nach Heidegger darin, erscheinen zu wollen. Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 40. »Abgründig verschieden von all dem ist aber, was den anfänglichen Denkern als das Zudenkende aufgeht. Es ist weder ein Will zum Erscheinen, noch ist es überhaupt ein ›Wille‹.« Martin Heidegger: GA/55, S. 41; »Das Wort des anfänglichen Denkens ist ein wesenhaft anderes als die Sprache der Dialektik.« Martin Heidegger: GA/55, S. 45. 134 Martin Heidegger: GA/55, S. 31 f. 135 Martin Heidegger: GA/55, S. 32. 136 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 85. Nach Heidegger ist das Hüten des Dunklen in der Weise des Denkens geschieden von jeglicher Mystik: Das anfängliche Denken denkt dasjenige, zu dessen Wesen das Sichverbergen gehört, so dass das Dunkle ein Thema des Denkens bleibt. Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 32. 137 Es geht Heidegger gar nicht um eine historisch-philologische adäquate Untersuchung der anfänglich-griechischen Physis. Er beabsichtigt keine einfache Wiederholung eines Anfangs, sondern es geht ihm um die Aneignung eines fernen Anfangs, die sich diesem nicht anverwandelt, sondern ihn auf sein Ungedachtes hin »verwan-
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Teil I – Chora und Physis
Im Folgenden soll deutlich werden, dass Physis für Heidegger mindestens zwei grundlegende Züge hat: 1. Sie erschöpft sich nicht in der Bestimmung der ta onta, sondern sie deutet auf das, was die Gesamtheit einer ontischen Situation in ihrer ontologischen Dynamik (d. h. jenseits der im Ganzen verorteten Seienden) ausmacht. In diesem Sinne muss man zwischen den immer schon verorteten Elementen einer Weltsituation und der sich-öffnenden Instanz unterscheiden, welche die Situation als solche ermöglicht. Das erste ist die Ebene des Erscheinenden, das zweite beinhaltet das Erscheinen des Erscheinenden in seiner unbegreifbaren Komplexität. 2. Sie deutet nicht nur auf das lichtende Aufgehen des Seienden hin, sondern auch auf das (unscheinbare) Anfängliche des Erscheinungsgeschehens, dessen ›Wesung‹ nur mit einer Nicht-Figur eines unhintergehbar Sich-Entziehenden wiedergegeben werden kann. 138 Über den ersten Aspekt ist Heidegger sich vollkommen bewusst, und seine Darlegung der ontologischen Dynamik ist vielfach und nuanciert. Was den zweiten Aspekt anbelangt, ist das Moment des Sich-Verschließens offenbar symptomatisch depotenziert gegenüber der Macht des Logos. Heidegger thematisiert zwar das Sich-Verschließen in der ontologischen Dynamik, kann jedoch – vermöge des Versagens der Sprache hier – keine konsistente philosophische Bestimmung dafür finden, so dass er, wie dies unter anderem Fink herausstellt, letztlich noch einmal in eine indirekte Lichtmetaphorik eintritt.
2.1 Das Edle der Physis: Die Unscheinbarkeit Heidegger übersetzt das griechische Verb phyein mit ›aufgehen‹, to phyon ist deshalb ›das Aufgehende‹ im Sinne des Herkommens aus dem Verschlossenen und Verhüllten. 139 Die Grundbedeutung des delt«. Vgl. Martin Heidegger: GA 55, 370, vgl. Christian Martin: Heideggers PhysisDenken, in: Phil. Jahrbuch, 116 – Jahrgang / I, 2009, S. 92. 138 Mit anderen Worten: die ontologische Dimension ist nicht nur eine reine Differenz im Seienden, sondern sie stellt eine Dynamik des Gesamtlebendigen dar, die ihren eigentlichen Sinn sogar unabhängig von der konstituierten Ordnung in allen möglichen Variationen des ontisch-ontologischen Vorrangs erhält. 139 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 85. Physis wird schlechthin mit Natur, vom Lateinischen nasci, ›geboren werden‹, ›entstehen‹, ›wachsen‹, übersetzt. Dies entspricht zugleich der Grundbedeutung vom griechischen φύειν, ›wachsen‹, und φύον, ›das Wachsende‹. Vgl. Martin Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik, S. 38.
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Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
phyein lässt sich für Heidegger »im Aufgehen des in die Erde versenkten Samenkorns, im Sprossen der Triebe, im Aufgehen der Blüte« 140 nachvollziehen. Dabei ist Physis als reines Aufgehen nicht gleichzusetzen mit den Naturvorgängen, sondern »im Lichte der φύσις werden […] die von uns sogenannten Naturvorgänge in der Weise ihres ›Aufgehens‹ erst sichtbar.« 141 Heidegger denkt die Physis als ein zu erfahrendes Geschehnis, das erst das Offene, in welches das Wachsen hineingeht, als es selbst zur Erscheinung bringt. 142 Physis lässt das Seienden im Ganzen aufgehen. 143 Obschon Physis jedoch das Seiende im Ganzen aufgehen lässt, erscheint sie selbst dabei nicht. Die sich entfaltende Eröffnung oder Entbergung des Seienden im Ganzen, die wir an uns selbst und in der Welt erfahren können, bleibt als sie selbst entzogen. 144 In der Physis geht zwar jegliches Erscheinende auf, jedoch gründet dieses Aufgehen seinerseits in einem Sichverbergen oder Sichverschließen, wodurch Seiendes erst ins Licht des Erscheinens gelangen Martin Heidegger: GA/55, S. 87. Gleichzeitig bringt Heidegger das to phyon, das Aufgehende in Zusammenhang mit Licht (φῶς), das er mit ›Lichtung‹ übersetzt und zugleich als Übersetzung der Un-verborgenheit (ἀ-λήθεια) versteht. 141 Martin Heidegger: GA/55, S. 87. Dies darf nach Heidegger aber nicht so verstanden werden, dass das Erscheinende aufgefangen ist im Umgreifenden der Physis, sondern es erscheint nur, es ›ist‹ nur insofern es aufgeht. Vgl. Martin Heidegger: GA 55, S. 102. 142 Vgl. Peter Trawny: Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, hrsg. v. KarlHeinz Lembeck, Ernst Wolfgang Orth und Han Rainer Sepp, Freiburg/München 1997, S. 132. Vgl. Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, S. 11: »Die φύσις als Aufgehen kann überall, z. B. […] am Wachstum der Pflanzen, am Hervorgehen von Tier und Mensch aus dem Schoß, erfahren werden. Aber φύσις, das aufgehende Walten, ist nicht gleichbedeutend mit diesen Vorgängen, die wir heute noch zur ›Natur‹ rechnen. Dieses Aufgehen und In-sich-aus-sich-Hinaustreten darf nicht als ein Vorgang genommen werden, den wir unter anderem am Seienden beobachten. Die φύσις ist das Sein selbst, kraft dessen das Seiende erst beobachtbar wird und bleibt.« 143 Und damit auch ihr Ungedachtes: die aletheia. Physis als reines Aufgehen ist ein Entbergungsgeschehen. Dies führt uns zu dem Verständnis dessen, was Heidegger unter dem ›ersten Anfang‹ versteht und zugleich in sein eigenes Denken. So fragt der Begriff der Physis hinter das Selbstverständliche des ›Lichtes‹ gewissermaßen zurück. Dies besagt, dass die Physis als Lichtung des Aufgehens übersehen wird, was in ihrem unscheinbaren Wesen begründet liegt. Die Lichtung selbst tritt zugunsten dessen zurück, was in ihr erscheint. Vgl. Martin Heidegger: GA/55, 142. Vgl. auch Tom Geboers: Rückkehr zur Erde, Grundriss einer ›Ökologie der Geschichte‹ im Ausgang von Schelling, Nietzsche und Heidegger, Würzburg 2012, S. 249. 144 Vgl. Peter Trawny: Martin Heideggers Phänomenologie der Welt, S. 133. 140
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kann. Diese Zwiefachheit der Physis sieht Heidegger in dem Spruch Heraklits – φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ 145 – ausgesprochen. Heidegger übersetzt den Spruch Heraklits als »das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt’s die Gunst« 146 und deutet dies als »ursprüngliches Gönnen und Gewähren« 147. In dem Spruch Heraklits kommt für Heidegger die ursprüngliche Gegenwendigkeit im ›Seyn‹ zum Ausdruck 148: Aufgehen, die Unverborgenheit, und Untergehen, Verborgenheit, sind einander zugeneigt. Das einigende Band dieses Gegenwendigseins von Aufgehen und Untergehen ist die Gunst (φιλία). Philia bedeutet nach Heidegger ›sich gegenseitig die Gunst schenken‹. In der Gunst gewähren sich Aufgehen und Untergehen wechselseitig ihr Wesen. Sie ist der gegenwendige Wesensbezug von Aufgehen und Untergehen. 149 Die wechselseitige Zuneigung von Auf- und Untergehen zeigt sich in dem jahreszeitlichen Wechsel: »Was im Frühjahr sproßt und blüht, reift der Frucht entgegen und schwindet dann weg.« 150 Aufgehen und Untergehen lösen sich jedoch, wie Heidegger betont, nicht bloß wechselseitig ab, sondern das Aufgehen soll als Aufgehen selbst, d. h. wesensmäßig ein Untergehen sein. 151 Untergehen bezeichnet, griechisch gedacht, für Heidegger keineswegs ›Nichtmehrsein‹, sondern vielmehr das Eingehen in die Verbergung. 152 Das Aufgehen bleibt stets zurückgeborgen im Sichverbergen und west nur als solches als ein Aufgehen: »Die φύσις ist das Spiel des Aufgehens im Sichverbergen, das birgt, indem es das aufgehend Offene, das Freie, Die Vorsokratiker I, Griechisch/Deutsch, Auswahl der Fragmente, Übersetzung und Erläuterung von Jaap Mansfeld, Stuttgart 1999, S. 252. 146 Martin Heidegger: GA/55, S. 125. 147 »Das ursprüngliche Gönnen ist das Gewähren dessen, was dem anderen gebührt, weil es zu seinem Wesen gehört, insofern es sein Wesen trägt.« Martin Heidegger: GA/55, S. 128. 148 Vgl. Geboers: Rückkehr zur Erde, S. 249. 149 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 131. »Eines gönnt sich dem Anderen und vergönnt so dem anderen die Freiheit seines eigenen Wesens, die in nichts anderem beruht, als in diesem das Verbergen und Entbergen durchwaltenden Gönnen, worin frei anhebt das Wesen und Walten von Unverborgenheit. Dieses freie Anheben ist der Anfang selbst: der Anfang ›des‹ Seyns als das Seyn.« 150 Martin Heidegger: GA/55, S. 117. 151 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 118. 152 Martin Heidegger: GA/55, S. 112. »Das Untergehen im Sinne des Eingehens in die Verbergung ist vielmehr ›ein‹ Sein, ja vielleicht sogar das Sein […] Das ›Untergehen‹ ist ein Verborgenwerden und eine Verbergung […] ›Untergehen‹ und ›Untergang‹ im Sinne des Untergangs der Sonne; das Untergehen der Sonne ist ja doch nicht ihre ›Vernichtung‹ und keineswegs ihr Nichtsein.« Martin Heidegger: GA/55, S. 50. 145
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freigibt.« 153 Das ›Bergen‹ versteht Heidegger als ein Schutz gewährendes Verwahren: Umgekehrt wird im Aufgehen das Verwahrte, Geborgene wieder freigegeben. 154 Das Sichverbergen ist in diesem Sinne nicht bloß eine Verschließung, sondern eine Art Reserve, die das Erscheinende stützt, verwahrt und geborgen hält. 155 Die Physis bestimmt Heidegger als das Geschehen der Fügung von Aufgehen und Sichverbergen: »Die φυσις selbst […] ist die Fügung, in der sich das Aufgehen dem Sichverbergen und dieses dem Aufgehen sich fügt.« 156 Heidegger verweist auf das griechische Wort Harmonia (ἁρμονία), deren Wesentlichstes nicht der harmonische Zusammenklang sein soll, sondern »die Fuge, dasjenige, wobei eines in ein anderes sich einpaßt, wo beides in die Fuge sich fügt, so dass Fügung ist.« 157 Als dasjenige, was das Erscheinen gewährt, dabei aber in allem Erscheinen und Erscheinenden zurücktritt, ist Physis die unscheinbare Fügung (ἁρμονία ἀφανής). Denn die Physis kommt in dem Erscheinenden nicht vor, ist nicht selbst wiederum Erscheinendes. 158 Im Unscheinbaren, darin, dass sich die Physis nicht in den Vorschein der Dinge drängt, sondern zurückverborgen bleibt, liegt nach Heidegger der edle Charakter der Physis begründet: »Die ἁρμονία ἀφανής ist edel. Das Edle […] besteht darin, dass es nicht in den vordrängenden Vorschein des offenkundig Gemachten herausfällt. Die φυσις ist das unscheinbare Scheinen.« 159 Unscheinbar (ἀφανής) ist die Physis durch ihre Offenheit als reines Erscheinen und genau darin – in ihrer Offenheit als reines Erscheinen – liegt es, dass sie »vermögender« 160 ist. Martin Heidegger: GA/55, S. 137. Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 143. 155 Vgl. Michel Haar: The Song of Earth. Heidegger and Grounds of the History of Being, Bloomington and Indianapolis 1993, S. 48. 156 Martin Heidegger: GA/55, S. 141. 157 Martin Heidegger: GA/55, S. 141. Das Aufgehen und das Sichverbergen fügen sich gegenwendig einander zu, ohne Hader und Mißgunst, aber auch ohne eine letzte (dialektisch gedachte) Versöhnung oder Aufhebung in ein Drittes. 158 »Die φυσις ist die Unscheinbare. Das Aufgehen als das, was überhaupt das gelichtete Offene für ein Erscheinen gewährt, tritt selbst in allem Erscheinen und in jedem Erscheinenden zurück und ist nicht ein Erscheinendes unter anderen.« Martin Heidegger, GA 55, S. 142. 159 Martin Heidegger: GA/55, S. 144. 160 »Die ἁρμονία der φυσις, die Fügung, als welche die φυσις west, ist nicht etwa deshalb αφανης, d. h. ›nicht in den gegenständlichen Vor-schein kommend‹, weil zu ihr das κρύπτεσθαι gehört in den mißdeuteten Sinn des Sichversteckens, sondern weil die φυσις als das reine Aufgehen offener ist als jedes geradehin Offenkundige; 153 154
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Teil I – Chora und Physis
Das Zusammenbringen der wider- und gegenspannenden Bewegung 161 von Aufgehen und Sichverbergen in die Einheit ihres Wesens denkt Heidegger im Sinne Heraklits als ›sammeln‹ (συμφέρειν) und setzt es in Bezug zum griechischen Logos (λόγος, λέγειν), der nun nicht mehr länger als ›Sprache‹ aufzufassen ist, sondern als ›Sammlung‹ 162: »Sammeln heißt die schon von sich aus wesende Einheit zum Vorschein bringen.« 163 Der Logos spricht damit denjenigen Wesenszug der Physis an, der im Zusammenbringen der Fuge besteht. Die Dynamik dieses Zusammenbringens erblickt Heidegger unter anderem im Zusammenspiel von Bogen und Leier. 164 Im Wesen des Bogens liegt es, dass seine beiden Enden zwar auseinandergespannt sind, aber in diesem Auseinanderstreben gleichzeitig auch zueinander zurückgespannt sind. 165 »Die φύσις ist dieses ›Weg‹ und Auseinander von Sichöffnen und Sichverschließen und das ›Zurück‹ beider in das Zueinander.« 166 In dieser Spannung des Sichöffnens und Sichverschließens der Physis entsteht nach Heidegger das gelichtete Auseinander einer Weite. Nach Heidegger wird die Physis nur dann anfänglich gedacht, wenn sie als Fügung, Harmonia gedacht wird. Die Harmonia fügt nicht nur, sondern facht auch die Entbergung und Verbergung in das Ein-fache ihres Wesens. 167 Heidegger bringt Physis mit der Entfachung des Lichten, der Flamme und dem Feuer (τὸ πῦρ) zusammen. 168 Das Wesen des Feuers besteht für Heidegger nicht in einem bloßen »Leuchten des Lichten« 169, sondern sammelt sich, wie Heidegger es in Rückbezug auf das Heraklit Fragment 64 denkt, in dem Blitz: »Das Seiende im Ganzen aber steuert der Blitz.« 170 Das Feuer ist das deshalb bleibt sie und west sie als das Unscheinbare. Denn als die unscheinbare ist die Fügung κρειττων — ›vermögender‹, sie vermag ›mehr‹.« Martin Heidegger: GA/55, S. 143. 161 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 144 f. 162 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 144 f. 163 Martin Heidegger: GA/55, S. 148. 164 Bogen und Leier sind die Zeichen der Artemis, der Göttin des Heraklits und (nach Heidegger) der Physis: In ihr figuriert sich zugleich das Gegenwendigsein von Tod und Leben. 165 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 152. 166 Martin Heidegger: GA/55, S. 158. 167 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 161. 168 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 161. 169 Martin Heidegger: GA/55, S. 162. 170 Martin Heidegger: GA/55, S. 163.
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Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
›blitzartig‹ Einschlagende und darin Aufhellende und Scheidende: »Im Licht des so gedachten Feuers, im Aufgehen der so verstandenen φυσις, erscheint erst das Erscheinende in den gefügten Grenzen seines Gebildes.« 171 In der lichtenden Fügung erscheint das Seiende im Ganzen: »Etwas in den Glanz seines gefügten Erscheinens eröffnen, ›aufmachen‹ und also erstehen lassen, heißt griechisch κοσμέω.« 172 Kosmos meint nach Heidegger demnach die »ursprüngliche Zier« 173, in der das Seiende erglänzt. 174 Als lichtende Fügung – physis, harmonia – ist die ›ursprüngliche Zier‹ das Feuer selbst, der Blitz. 175 Der Kosmos ist die ermöglichend-scheinbare Fügung (Zier) des Seienden, die jedes Aufgehende (Gezierde) in das aufgeschlossene Offene hineinweist. Es gilt daher zwischen der unscheinbaren Fügung – ἁρμονία ἀφανής –, d. h. der ursprünglichen Zier (dem Kosmos) und dem in den Vorschein gebrachten Gefüge – ἁρμονία φανερή –, d. h. dem verfestigten Gezierde zu unterscheiden. 176 In dem bloßen Blick auf das unmittelbar erscheinende Gezierde kann der Mensch sich der ursprünglichen Zier nicht gewahr werden. Weil das erscheinende Gefüge des Seienden bloß das Vordergründige ist, das die reine Fügung überdeckt, 177 gilt es den Blick für die nicht gemachte unscheinbare Fügung, die Physis oder mit anderen Worten gesprochen das Sein selbst zu öffnen, das für Heidegger »vor allem Seienden und vor jedem Ursprung von Seiendem aus Seiendem west.« 178 So kommt Heidegger zuletzt zu der Bestimmung der Physis als lichtender Fügung, in deren Offenem erst das Erscheinende in die gefügte Weite seines Aussehen auseinandergeht. 179 Die Physis gibt derart nicht nur das Maß des Kosmos vor, sondern ist selbst dieses Maß des Kosmos, dadurch, dass sie als Aufgehen überhaupt Maß und Weite gibt. 180 Logos Martin Heidegger: GA/55, S. 163. Martin Heidegger: GA/55, S. 163. 173 Martin Heidegger: GA/55, S. 164. 174 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 164. 175 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 164. 176 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 165. 177 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 165. 178 Martin Heidegger: GA/55, S. 166. 179 »Die anfängliche Zier, die φυσις als lichtende Fügung, entzündet, d. h. lichtet die Weiten, in deren Offenem erst Erscheinendes in die gefügte Weite seines Aussehens […] auseinandergeht.« Martin Heidegger: GA/55, S. 166. 180 »Die anfängliche Zier […] ist das Maß-gebende; das Maß, das der Kosmos gibt, ist er selbst als φύσις. Sie gewährt als Aufgehen überhaupt ›ein Maß‹, eine Weite.« Martin Heidegger: GA/55, S. 171. 171 172
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Teil I – Chora und Physis
und Physis meinen hiernach im Grunde genommen dasselbe: Nicht jedoch in dem Sinne, dass der Logos die Physis von außen erscheinen lässt, sondern der sich inhärent strukturierenden Dynamik der Physis selbst entspricht: »Die […] φύσις [ist] das sich zu sich selbst auseinanderbringende Zusammenbringen.« 181 Logos versteht Heidegger als weiteres Grundwort des Heraklit: Es ist die »entbergende ›Sammlung‹ im Sinne des ursprünglich sich fügenden Einen der unscheinbaren Fügung.« 182 Logos, Harmonia, Physis und Kosmos koinzidieren miteinander. Der vor dem Hintergrund der Physis verstandene Logos unterscheidet sich demnach von dem eigentlichen Logos der Griechen, welcher auch derjenige Heraklits ist, von dem das von Heidegger und Fink gehaltene Heraklit-Seminar aus dem Jahr 1966/67 seinen Ausgang nimmt. Das Seminar sieht es vor, in den Bereich »des großen und geschichtsmächtigen Denkers Heraklit« 183 vorzudringen und unterscheidet sich von der Heraklit-Vorlesung Heideggers, sofern es zunächst darum geht, der Sache (des Denkens) so nachzugehen, wie sie vor dem geistigen Blick Heraklits gestanden haben mag. 184 Und der Logos wird von Heraklit offenbar so gedacht, dass er alles bestimmt (›Alles steuert der Blitz‹ 185): Dies bedeutet zugleich, dass das ZumVorschein-Bringen, das der Blitz am Seienden vollbringt, ein steuerndes Eingreifen in die Bewegtheit der Dinge ist, das gemäß dem Logos geschieht. 186 Der Logos verhält sich zu allem Seienden also wie der Martin Heidegger: GA/55, S. 178. Martin Heidegger: GA/55, S. 178. 183 Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, Seminar Wintersemester 1966/1967, Frankfurt a. M. 1970, S. 9, 19. 184 Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 9. »Wir suchen erst noch die Sache des Denkens des Denkers Heraklit und sind dabei ein wenig dem Manne ähnlich, der vergessen hat, wohin der Weg führt […] Gleichwohl machen wir das Experiment, den Text des alten Denkers lesend, in die geistige Bewegung zu kommen, die uns selbst zu der Sache befreit, die als Sache des Denkens benannt zu werden verdient.« Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 10. Der späte Heidegger verabschiedet sich von der These, dass in der vorsokratischen Philosophie ein anfängliches Seinsdenkens am Werk sei. Dies gilt insbesondere in Bezug auf Physis und Aletheia: Beide bleiben bereits im Anfang wesentlich das Ungedachte. Vgl. Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 111. 185 Heraklit, Fragment 64. In der Dielschen Übersetzung: »Das Weltall aber steuert der Blitz, d. h. er lenkt es. Unter Blitz versteht er nämlich das ewige Feuer. Er sagt auch, dieses Feuer sei vernunftbegabt und Ursache der ganzen Weltregierung.« Herman Diels und Walther Kranz: Die Fragmente de Vorsokratiker, S. 90. 186 Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 19. 181 182
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Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
Blitz: Der hervorbringenden Bewegung des Blitzes entspricht die hervorbringende Bewegung des Logos, welcher alles einrichtet, steuert und bestimmt. 187 Der Blitz ist der plötzliche Aufbruch des Lichtes in das Dunkel: In seiner Perpetuierung ist der Blitz das Symbol der Bewegung des Hervorbingens, d. h., dass ›Bestimmen‹ und ›Hervorbringen‹ als Synonyme verstanden werden können. 188 Das Steuern betrifft hier die Gesamtheit des Seienden. 189 Dies bedeutet, dass die Bewegung des Seienden eine vom Logos gesteuerte Bewegung ist, 190 die mitunter gewaltsam vollbracht wird. 191 Es handelt sich bei der Steuerung des Blitzes, wie in dem Heraklit Fragment benannt wird, also nicht um eine immanente Selbstregelung alles Seienden (τὰ πάντα), vielmehr muss zwischen dem Blitz als dem Einen (ἔν) und dem Vielen unterschieden werden. 192 Dabei ist es jedoch fraglich, ob das Steuernde überhaupt als etwas aufzufassen ist, was sich außerhalb von allem Seienden befindet. 193 Nach Heidegger gibt es in jedem Fall eine Art vorplatonische Schicht des Logos: Der Logos soll wie die Physis bei Heraklit sein, d. h., dass es für Heidegger bei Heraklit eine ›Logik der Physis‹ gibt. Eben dieser Logik suchte Heidegger in der Figuration der Physis (im Ausgang von Heraklit) nachzugehen. Die Physis Heideggers (die er in Heraklits Physis-Denken auffasst) betrifft eine vorepistemische Schicht des Logos, die eine Kohäsion ist, d. h. das Zusammenhängende des Seienden, und eben keine aus dem Menschen stammende Bestimmung. Logos entspricht der sich inhärent (und dabei gegenwendig) strukturierenden Dynamik der Physis selbst. Diese gegenwendige Dynamik der Physis (deren inhärent sich Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 20. »Blitz, Feuer, Sonne […] logos« sind verschiedene denkerische Blickbahnen auf den einen und selben Grund. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 21. 189 Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 22. 190 Für Platon ist das Steuer das Gleichnis, welche die Macht der Vernunft in der Welt darlegt. Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 23. 191 Wie ein Schiff ohne Steuerrad und Steuermann ziellos von dem Wind hin hertrieben wird und erst durch das Steuern gewaltsam in die gewünschte Richtung gebracht wird. Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 23. Den Zusammenhang zwischen dem Steuern und der Gewalt stellt Heidegger in dem Heraklit Seminar in Frage: So soll das Steuern des Zeus ein ›müheloses Walten‹ sein. Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 24. 192 Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 28. Das Verhältnis alles Seienden (τὰ πάντα) zu dem Blitzschlag wäre dann dasjenige eines Betroffen- und Unterworfenseins, zu einer offen gelassenen Macht, die treibt und lenkt. Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 59. 193 Vgl. Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 29. 187 188
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strukturierendes dem Logos entspricht) – das Gegenstreben von Entund Verbergung – kommt auch in der Wortbildung a-letheia (ἀλήθεια) zum Ausdruck, wobei durch das a-privativum ein prozessualer Sinn angedeutet wird. Den Wesensgrund der Physis als Bewegung der Entbergung in die Unverborgenheit verortet Heidegger in der Wahrheit (ἀλήθεια) 194: »Wenn aber die ἀλήθεια, der Wesensgrund der φύσις ist, dann verstehen wir jetzt erst den Namen ἀλήθεια – Un-verborgenheit, Ent-Bergung.« 195 Die aletheia ist für Heidegger das im griechischen Denken Ungedachte und Ungesagte, aus dem jedoch das anfängliche Denken spricht. Die Physis kann nach Heidegger jedoch nur dann anfänglich gedacht werden, wenn das Sichverbergen als das, worin die Unverborgenheit wurzelt und zum Wesen des Seins selbst gehörend, mitgedacht und gesagt wird. 196 »Der Denker, der die φύσις denkt, muß darauf achten, daß ihr Wesen als das gedacht und gesagt wird, als welches es sich in dem Spruch φύσις κρύπτεσθαι φιλεῖ ausspricht.« 197 Nach Heidegger gehört die lethe (Verborgenheit) zur aletheia (Unverborgenheit), nicht jedoch wie der Schatten dem Licht angehört, sondern als das »Herz der aletheia.« 198
2.2 Erde und Natur im Licht der Physis Zwar weist Heidegger wiederholt die Annahme zurück, dass mit der anfänglichen Physis die Natur im Sinne eines Gebietsbegriffes – im Gegensatz zu Kultur oder Geschichte – gemeint ist, auch soll die Be»Die ἀλήθεια, die Entbergung in die Unverborgenheit, ist das Wesen der φυσις, des Aufgehens.« Martin Heidegger: GA/55, S. 175. 195 Martin Heidegger: GA/55, S. 175. Wo Physis und Aletheia gemeinsam genannt werden, erscheint aletheia resultativ als Unverborgenheit, während Physis das Geschehnis der diese Unverborgenheit eröffnenden, verbergenden Entbergung bezeichnet. 196 »Wenn nun aber die φύσις zugleich die Gewähr ihres Wesens im Sichverschließen hat, wenn die Unverborgenheit in einem Sichverbergen gründet, wenn dieses zum Wesen des Seins selbst gehört, dann kann die φύσις auch gar nie anfänglich gedacht werden, solange wir das Sichverbergen nicht mitdenken und mitbedenken.« Martin Heidegger: GA/55, S. 177. Die Physis zeigt sich indem sie sich verbirgt und entspricht damit der Wahrheit (aletheia): »Sein ist das sich verbergende Entbergen – φύσις im anfänglichen Sinne.« Martin Heidegger: GA/9, S. 301 197 Heidegger: GA/55, S. 177. 198 Martin Heidegger: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, S. 88. 194
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stimmung der Physis nicht am Modell natürlicher Prozesse abgelesen werden, dennoch setzt er an vielen Stellen die Physis mit dem Aufund Untergehen der Gestirne, dem Auf- und Ab der Jahreszeiten und dem Wachsen und Verblühen von Gewächsen in Verbindung. 199 Das Wachstum der Pflanzen stellt für Heidegger auf ontischer Ebene dasjenige dar, was ontologisch ein Modell der Physis sein sollte: »Die φύσις als Aufgehen kann überall, z. B. […] am Wachstum der Pflanzen […] erfahren werden.« 200 Die Pflanze geht aus dem Grund der Erde ins Offene hervor und entbirgt sich dergestalt. Dies kann sie aber nur, insofern sie wurzelnd in die Erde zurückgegründet bleibt. Das Hervorkommen der Pflanze ist insofern nur aus der Verborgenheit heraus möglich und auf Grundlage einer anhaltenden Verbergung, die dem Entborgenen einen Stand verleiht. 201 Das Verhältnis von Entbergung und Verbergung besteht ontologisch betrachtet dagegen nicht darin, dass ein Entborgenes teilweise verborgen bleibt, sondern darin, dass sich die Entbergung selbst verbirgt, d. h. dass das Woher und Warum ihres Entbergungsgeschickes an das Dasein abgründig bleibt. 202 Als ›Seinsbereich‹ 203 genommen bildet die Natur deswegen eine Entsprechung zur anfänglichen Physis, als Physis, in ihrem sich-verbergenden Entbergen von Seiendem, für Heidegger grundsätzlich nicht machbar ist, d. h. nicht in der Verfügung des Menschen steht. 204 Die Natur selbst kann nicht hergestellt oder gemacht werden und weist als dieses niemals Machbare von sich aus in die Unverfügbarkeit der Entbergung des Seins. 205 Vgl. hierzu Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 91. »Aber φύσις, das aufgehende Walten, ist nicht gleichbedeutend mit diesen Vorgängen, die wir heute noch zur ›Natur‹ rechnen. Dieses Aufgehen und In-sich-aussich-Hinaustreten darf nicht als ein Vorgang genommen werden, den wir unter anderem am Seienden beobachten. Die φύσις ist das Sein selbst, kraft dessen das Seiende erst beobachtbar wird und bleibt.« Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953, S. 11. 201 In der Besinnung bezeichnet Heidegger die Physis als das »sich-verbergende Standnehmen (Wurzeln)«. Martin Heidegger: GA/66: S. 366. 202 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 102. 203 Streng genommen gibt es für Heidegger keinen Seinsbereich. Gäbe es einen Bereich, wäre das Sein verortbar (und daher nicht mehr denkbar im Sinne einer ontologischen Differenz). 204 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 102. 205 Offenbar denkt Heidegger an eine ›Gegenwehr der Natur‹ gegen den Angriff der Technik: »Vielleicht liegt gerade in dem, was die Natur, wenn die menschliche Vergegenständlichung sie trifft, von sich kundgibt, eine geheimnisvolle Gegenwehr gegen den Angriff der Technik. Deren Entdeckungen haben die Kräfte der Natur entfesselt, 199 200
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Es gilt nicht nur die Natur, sondern auch die Erde, wie Heidegger sie in Der Ursprung des Kunstwerkes 206 entfaltet, auf ihr Verhältnis zur Physis hin zu befragen. Genauso wie Heidegger bei der Physis das Moment ihres Sichverbergens und damit ihrer Unscheinbarkeit als wesentlich für die Gewähr des Erscheinenden herausstellt, so betont er in Bezug auf die Erde ihr Sichverschließen – ihr Entzogensein – als wesentlich für das Aufstellen des Werkes in das Offene der Welt. Mit Blick auf das wesentliche Moment des Sichverschließens und Sichverbergens scheinen Physis und Erde in einem inneren Zusammenhang zu stehen: Die Erde enthüllt sich in dem Kunstwerk als die »verborgene Ursprünglichkeit der Herkunft [des Seins].« 207 Sie ist das »wesenhaft Sichverschließende« 208 und erscheint nur, »wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und d. h. ständig sich verschlossen hält.« 209 In ihrer Verschlossenheit bleibt die Erde dem Zugriff des Menschen – auch der ultimativen technischen Verschließung der pla-
die sich bereits in einem die Erde umgreifenden Vorgang der Vernichtung entladen.« Martin Heidegger: GA/77, S. 17. 206 Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, Frankfurt a. M. 2003. 207 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 35. Die Eröffnung des Zuganges zur Erde darf als entscheidende Funktion der »Kunst« gesehen werden: »Indem das Werk eine Welt aufstellt, stellt es die Erde her. Das Herstellen ist hier im strengen Sinne des Wortes zu denken. Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt. Das Werk läßt die Erde eine Erde sein.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 32. Der griechische Tempel, ein Werk der Baukunst, ist ein Beispiel Heideggers für das Geschehen der Wahrheit des Seins: »Das Tempelwerk eröffnet dastehend eine Welt und stellt diese zugleich zurück auf die Erde, die dergestalt selbst erst als der heimatliche Grund herauskommt.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, S. 28. Heidegger erkennt ein Kunstwerk im griechischen Tempel, weil die Dinge dort ein Gesicht haben und die Menschen eine Aussicht auf sich selbst, aber insbesondere, weil der Gott aus dem Ort nicht geflohen ist. Die Zusammenfügung von Dingen, Menschen und Göttern wird im Kunstwerk besonders spürbar, aber die ontologische Öffnung zum Wahrheitsgeschehen, bzw. zu dem, was sich entzieht, um Seiendes als solches zu gewähren, begrenzt sich nicht auf die Kunst als téchne. Kunst hat für Heidegger eine Vorrangstelle nur insofern die Weise des Sich-Zeigens im Kunstwerk der ontischen Verschließung der epochalen Seinsvergessenheit wesensmäßig widersteht. 208 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 33. 209 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 33.
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netarischen Moderne in der Machenschaft 210 – entzogen und bewahrt auf mysteriöse Weise eine unberührte Dimension. 211 Das Offene, das für Heidegger inmitten des Seienden geschieht, setzt die Fügung von Welt und Erde voraus, genauer genommen: einer asymmetrischen Zusammenfügung von einer Welt und der Erde. 212 Diese asymmetrische Zusammenfügung besteht darin, dass die Erde als tiefster, und niemals völlig zu erreichender Wesenszug des Wahrheitsgeschehens fungiert. In dem Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes stehen sich Erde und Welt jedoch zugleich als streitbare (d. h. als zusammenhängende und spannungsgeladene) Gegensätze gegenüber: »Welt und Erde sind je in sich ihrem Wesen nach streitig und streitbar. Nur als diese treten sie in den Streit der Lichtung und Verbergung.« 213 Während der Erde das »Sichverschließen« eignet, kommt umgekehrt der Welt das »Offene« 214 zu: »Aber die Welt ist nicht einfach das Offene, was der Lichtung, die Erde nicht einfach das Verschlossene, was der Verbergung entspricht.« 215 Die Erde ist letztlich, wie Heidegger selbst sagt, nicht nur das Verschlossene, sondern das, »was als Sichverschließendes aufgeht.« 216 Die Erde trägt in sich selbst schon die Möglichkeit der Aufschließung von Welt in sich: »Das Sichverschließen der Erde […] ist kein einförmiges, starres Verhangenbleiben, sondern es entfaltet sich in eine unerschöpfliche Fülle einfacher Wesen und Gestalten.« 217
»Die Erde lässt so jedes Eindringen in sie an ihr selbst zerschellen.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 33. 211 Die Erde zeigt sich als »das alles Tragende, als das in sein Gesetz Geborgene und ständig Sichverschließende. […] Die Erde trachtet tragend-aufragend sich verschlossen zu halten und alles ihrem Gesetz anzuvertrauen.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 51. Wenn Heidegger das ›Gesetz‹ der Erde anspricht, dann beruft er sich dabei auf eine ursprüngliche Macht, der sich der Mensch zu ergeben hat und die als solche vorausgesetzt wird. Die Erde stellt sich als die sich dem Handeln und Machen entziehende Ordnung heraus, in die das sich zeigende Ding gefügt ist. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, Zur Textgeschichte Martin Heideggers (1910–1976), Frankfurt a. M. 1990, S. 707. 212 »Zum Offenen gehört eine Welt und die Erde« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 53, Hervorhebung durch die Verfasserin. 213 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 54. 214 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 40. 215 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42. 216 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42. Siehe auch Martin Heidegger: Ursprung des Kunstwerks, S. 32: »Sie ist das Hervorkommend-Bergende.« 217 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 34. 210
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Vor diesem Hintergrund der Beschreibung der Erde als Sichverschließend-Aufgehende könnte man eine Entsprechung zwischen Erde und Physis annehmen. 218 Gleichzeitig scheint die Physis aber nach Heidegger zuallererst den Grund, worauf der Mensch sein Wohnen gründet, d. h. die Erde, zu lichten, so dass Erde und Welt in ihrem Wechselbezug 219 gewissermaßen selbst zu dem von dem Aufgehen der Physis eröffneten Bereich gehören: 220 »Herauskommen und Aufgehen selbst im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die φύσις. Sie lichtet zugleich jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet. Wir nennen es die Erde. […] Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt. Im Aufgehenden west die Erde als das Bergende.« 221 Hiernach ist die Erde nicht einfach mit der Physis als Aufgehen(-lassen) in eins zu setzen, sondern wäre ein Bereich des vom Aufgang Eröffneten. 222 Das menschliche Werk eröffnet ein Offenes und damit eine Welt. 223 Dieser Welt steht zugleich ein Nicht-Hergestelltes, in welcher das Werk gegründet bleibt, gegenüber: die Erde. 224 Das Werk als Ergebnis des Herstellens hat ein selbst Nicht-Hergestelltes zum Ausgang und kann in das Offene der Welt nur aufgestellt werden, indem es auf einen selbst nicht hergestellten Grund gestellt bleibt. 225 Dieser Grund kommt zwar zur Abhebung, bleibt aber dennoch ein in sich Verschlossenes und Nicht-Herstellbares. 226 Genauso wie die Pflanze in einem dunklen Grund wurzelt, muss auch die von dem Dasein aufgerichtete Welt in einem Nicht-Herstellbaren und durch das Herstel-
Dieter Thomä identifiziert Heideggers Physis mit der Erde. Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 713. 219 »Die Welt gründet sich auf die Erde, und Erde durchragt die Welt.« Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 35. 220 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 103. Man könnte auch sagen, dass die Zwiefachheit der Physis im Kunstwerkaufsatz noch in Welt und Erde auseinandergelegt ist (bzw. ihre Gegenwendigkeit sich darin zeigt) und gleichzeitig in der Erde sich dieselbe Zwiefachheit, die in der Physis waltet, ankündigt. 221 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 28. 222 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 103. 223 »Das Werk rückt und hält die Erde selbst in das Offene einer Welt.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 32. 224 »Wohin das Werk sich zurückstellt und was es in diesem Sich-Zurückstellen hervorkommen lässt, nannten wir die Erde.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 32. 225 Siehe hierzu auch: Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 103. 226 Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 31. 218
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len als unherstellbar entborgenen gründen. 227 Während die geleistete Welt ins Offene hergestellt ist, gründet sie auf der nie hergestellten und herstellbaren Vorgabe des dem Dasein als vorgängig Aufgegangenen im Ganzen: der Erde. Die Erde entspräche so gesehen der Natur, welcher als ergänzender Gegenpol von Welt erfahren wird. 228 Erde (als Sich-Verschließendes) und Welt (als Sich-Öffnendes) erscheinen in Heideggers Kunstwerkaufsatz als ineinander verweisende Bereiche des von der Physis in die Unverborgenheit gebrachten Offenen des Seienden im Ganzen für das Dasein. 229 Das sich-verbergende Entbergen der Physis eröffnet demnach ein Offenes, innerhalb dessen das Wiederspiel zwischen Sich-Öffnendem und Sich-Verschließendem, zwischen Welt und Erde waltet. 230 Dabei gründet der Streit von Erde und Welt in dem Wesen der Physis als reiner Entbergung. 231 Welt und Erde gehören in ihrem Streit zusammen in einen einigenden Grund. 232 Während in dem Kunstwerkaufsatz das Sich-Verschließen überwiegend noch der Erde zukommt und das Sich-Öffnende der Welt, wird diese Spaltung in dem vollumfänglichen Begriff der Physis aufgehoben: Die Physis ist das Sich-verschließen und in gleichem Maße das Hervorgehen und Aufgehen bzw. Sich-Öffnen. 233
2.3 Die Lichtmacht des Seins: Finks Kritik an Heideggers Physis-Denken Auf Heraklits Denken der Physis zurückgreifend, entwickelt Eugen Fink eine Kosmologie, die er der Metaphysik und Ontologie als Korrektiv entgegenstellt. Dabei sieht Fink in Heideggers Begriff der Erde
Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 103. Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 103. 229 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 104. 230 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 104. 231 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 104. 232 Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 716. 233 Die Physis beinhaltet demnach schon die volle Struktur dessen, was zuvor noch als Welt und Erde auseinandergelegt war. Nach Thomä macht Heidegger Logos und Physis deckungsgleich und erreicht, dass die Erde nicht mehr als die vorgefügte Ursprünglichkeit vorausgesetzt wird. Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 716. 227 228
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den »kosmischen Weltbegriff« 234 aufscheinen, innerhalb dessen Wahrheit als die Lichtung nicht mehr vom Menschen, sondern von der verschlossenen Erde oder der dunklen Physis her gedacht wird: »Wahrheit ist […] der Aufgang aller Dinge aus dem verschließenden Grunde der Erde, dem alles, was ist, aufruht.« 235 Die Erde, meint Fink, sei dasselbe wie Physis in der vorsokratischen Philosophie: nämlich dasjenige, was die Dinge aufgehen und wachsen lässt und gleichzeitig sich verschließt. 236 »Die Erde stellt Dinge und Menschen ins Offene und geht zugleich in sich zurück, verschließt sich und hebt ihre Verschlossenheit selbst wieder ins Offene. Sie ist Darbringen und Entzug in eins. Wie ein Baum aufsteigt aus dem dunklen Schoß des Erdreichs, in Licht und Wind seine Krone breitet und zugleich wurzelnd zurücksteigt in die dunkle Tiefe, so ist die Erde – ursprünglicher noch als ihre Gewächse – das Aufgehen und Verschließen in einem. Nur weil die Erde öffnendverschließend west, kann das menschliche Dasein, selbst ein Gewächs der Erde, eine Welt haben, d. h. verstehend hinausstehen in das eröffnete Offene.« 237
Fink denkt das Sein als kosmologische Differenz, die er als widerwendig streitende Doppeleinheit der Weltmomente von ›Licht‹ und ›Dunkel‹ versteht. Er wirft Heidegger vor, ›Wahrheit‹ als ›Lichtung des Seins‹ und damit einseitig aus dem Licht heraus zu denken, hinter das nicht mehr weiter zurückgefragt werden kann, das jedoch selbst nur eines der beiden ›Weltmomente‹ verkörpert. 238 Fink sieht in der heideggerschen Bestimmung des Seins des Seienden aus der umgreifenden ›Lichtmacht des Anwesens‹ die äußerste Spitze der platonischen Lichtmetaphysik verwirklicht. 239 Obwohl Heidegger den sein eigenes Denken eröffnenden Horizont des dunklen Abwesens – das Sichverbergen der Physis – erkennt, wendet er sich schlussendlich doch mehr der ›Lichtmacht des Seins‹, der Helle oder Unverborgenheit (wie Fink meint) zu und vergisst das Moment des Verborgenen
Eugen Fink: Welt und Endlichkeit, hrsg. v. Franz-A. Schwarz, Würzburg 1990, S. 178. 235 Eugen Fink: Welt und Endlichkeit, S. 178. 236 Eugen Fink: Welt und Endlichkeit, S. 178. 237 Eugen Fink: Welt und Endlichkeit, S. 178. 238 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, Vom Wesen der ontologischen Erfahrung, hrsg. v. Egon Schütz und Franz-Anton Schwarz, Freiburg / München 1977, S. 254. 239 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 254. 234
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und Dunklen im ursprünglichen Walten. 240 Das Weltganze kommt für Fink im Gegensatz zu Heidegger, der das Sein des Seienden vor allem aus der Unverborgenheit denkt, die alle Dinge im Anwesen versammelt, erst in dem Hinaustreten aus dem Licht in das Dunkel und dem Erkennen der unsichtbaren Harmonie im Sinne Heraklits in den Blick. 241 Fink fordert vor dem Offenen – als Feld des Aufgangs aller Dinge – auf das entzogene Dunkel, die Verborgenheit, die allem zugrunde liegt, zurückzugehen 242: »Jedes Licht brennt in der Nacht, bricht aus der Nacht und lichtet diese. So ist das Dunkel die Voraussetzung für jedes Licht.« 243 Heidegger durchbricht daher nach Fink zwar die Seinsvergessenheit der Metaphysik, indem er das Sein als Unverborgenheit und in der Verborgenheit gründend denkt, sofern er aber das Sein nur mit der Zeit zusammen denkt und nicht auch mit dem Raum und der Bewegung, vernachlässigt er die dunkle Verborgenheit, die lethe und versteht das Sein einseitig als Lichtung, als aletheia. 244 Die äußerste Wandlung des Denkens besteht für Fink darin, aus der lichten, eröffneten Welt hinaus in die Erde, woraus das Licht kommt, zu denken. 245 Dabei assoziiert er den Himmel als ›Lichtmacht des Seins‹ 246, die das Seiende ein Stück losreißt vom Urgrund und es entbergend ins Offene und ungeschützt Ausgesetzte stellt: »Was immer aufgeht, herauskommt aus dem nächtigen Schoß der Erde, muss aufragen in die Helle des Himmels, – muss in ihm das Gepräge eines Aussehens erhalten. Wenn die Erde verschließend-verbergend waltet, so der Himmel entbergend-aussetzend.« 247 Der Himmel als ursprüngliche Macht des Offenen und des Öffnens, dessen Symbol Helios ist, stellt den kosmologischen Gegenbegriff zur Erde dar. 248 Vgl. Katharina Schenk-Mair: Die Kosmologie Eugen Finks, Einführung in das Denken Eugen Finks und Explikation des kosmischen Weltbegriffs an den menschlichen Lebensvollzügen des Wachens und Schlafens, Würzburg 1997, S. 46. 241 Vgl. Katharina Schenk-Mair: Die Kosmologie Eugen Finks, S. 46. 242 Vgl. Eugen Fink: Grundfragen der antiken Philosophie, hrsg. v. Franz-A. Schwarz, Würzburg 1985, S. 179. 243 Eugen Fink: Grundfragen der antiken Philosophie, S. 180. 244 Über Heidegger hinausgehend betont er, dass das metaphysische Denken nicht nur seinsvergessen, d. h. zeitvergessen, sondern auch raum- und bewegungsvergessen ist. Vgl. Katharina Schenk-Mair: Die Kosmologie Eugen Finks, S. 12. 245 Der Mensch erfährt sich selbst dabei als jenes Zwischen von Himmel und Erde. 246 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 288. 247 Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 288. 248 Fink fasst das Weltganze als Streit zwischen Himmel und Erde auf, der allererst 240
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In ihrer aller Faktizität oder Dinglichkeit vorausgehenden Ursprünglichkeit waltet die Erde dagegen als die Seinsmacht der Verschlossenheit. 249 Die Erde trägt alle Dinge. Sie ist das, was allen Orten von Dingen erst im Ganzen den Ort gibt. 250 Sie kann nicht als solche, als Ding oder Gegenstand, gezeigt oder zur Vorstellung gebracht werden und doch west sie in allem und ist alles in ihr geborgen und verschlossen. 251 Fink fordert den Menschen dazu auf, sich andenkend zu der in der Weltvergessenheit mitvergessenen Erde zu verhalten, die uns und alle Dinge umfängt und trägt. 252 Er weist darauf hin, dass obgleich die Erde kein ›mystischer‹, d. h. der Strenge der Philosophie entrückter Begriff ist, gründet doch die ›Weisheit der antiken Mysterien‹ 253 im verborgenen Wissen um die umgebende und nehmende Erde: »Aus der Erde ziehen wir die Nahrung, aus ihr kommt alles Leben und in sie betten wir die Toten. […] Die Erde ist zugleich der Schoß und das Grab alles Lebendigen, – in ihr ist Leben und Tod ineinander verknüpft.« 254 Die Erde zeigt sich wesensmäßig als das Bewahrende, Hütende und Bergende, das alle ausgesetzten Dinge stets zurückbehält in ihrem reinen Umfangen und sie nie wirklich aus sich entlässt. 255 Die Erde können wir mit Fink daher in ihrer spezifischen Seinsweise nur dann erfassen, wenn »wir das Worausher aller Dinge, ihre Herkunft und Abkunft und auch das Wohinein ihres Untergangs […] denken.« 256 Raum und Zeit der Dinge eröffnet. »Der Welt-Streit von Himmel und Erde ist der UrSprung. Der Ur-Sprung lässt alles, was ist, entspringen.« Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 214 f. 249 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 279. 250 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 280. 251 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 280. 252 Dieses Andenken darf dabei keineswegs als Metaphysik einer übersinnlichen Welt verstanden werden: Die Erde ist gar hiesiger als alle hiesigen Dinge. Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 281. 253 Fink bezieht sich hier auf den Kult von Demeter und Kore in den Eleusinischen Mysterien. 254 Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 282. 255 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 284. 256 Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 284. »Wo immer der Mensch der Erde nachdenkt, erfährt er auch ihr hütendes Wesen, gewinnt er eine letzte Vertrautheit des Daseins, auch in seinen furchtbaren und schrecklichen Zügen, wird er heimisch im Ganzen und begreift, dass diese windige und gefährliche Welt gleichwohl eine ewige Heimat hat.« Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 285. Was in den alten Erdreligionen Mysterienweisheit war, ist in der Endzeit der Metaphysik als eine Grundstimmung der Philosophie und Dichtung zu Wort gekommen.
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Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
2.4 Die Auf-gabe des Denkens: Das unaufhebbare Sich-Verbergen der Physis Das Verbergungsmoment der Physis hat in Heideggers Physis-Denken offenbar zunehmend an Gewicht gewonnen. 257 So wandelt sich die Physis von dem bloß faktisch Verborgenen, welches Logos und Werk der Verborgenheit entreißen können, hin zu einem unaufhebbaren Sich-Verbergen. 258 Gegenüber einem »Handeln κατὰ φύσιν« 259, welches die Physis in die Entborgenheit zwingen sollte, 260 stellt sich Heidegger zunehmend die Aufgabe, einen Zugang zur Physis zu gewinnen, der nicht mehr auf Handeln und Wollen basiert. 261 So gewinnt die Physis immer mehr den Charakter eines unaufhebbaren Sich-Verbergens, das den Vollzügen des Handelns und der Macht des Logos entzogen bleibt: 262 »Daher gilt es nicht, das κρύπτεσθαι zu überwinden und ihr zu entreißen, sondern das weit Schwerere ist aufgegeben, das κρύπτεσθαι, als der φύσις angehörend, ihr in aller Wesensreinheit zu lassen.« 263 Es stellt sich die Frage, wie Heidegger dieser schwierigen Aufgabe gerecht zu werden denkt, ohne die Physis dabei aufzugeben. Zwar begegnet er ihr zeitweise mit Resignation, so dass ihre Verbergung als »Verweigerung, die aus dem Sein selbst kommt« 264 erscheint, ist aber die Unaufhebbarkeit ihrer Verbergung erstmal angenommen, zeigt sie sich gerade als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung des in seinen Grund zurück geborgenen Aufgehens von Seiendem. 265
Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 104. Nach Dieter Thomä gehört die Verborgenheit für Heidegger schon früher zur Physis als Entbergung. Verbergung wurde von Heidegger aber zunächst weniger als Sich-Verbergen denn als Verborgenheit gedacht. Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 714 f. Später erst wandelt sich die Verborgenheit zum dezidierten Sich-Verbergen und erscheint zugleich die Entbergung nicht mehr nur als Leistung des Logos, sondern als Moment der Physis selbst und der Logos als ereignetes Moment ihrer Entbergung. Vgl. hierzu Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 104. 259 Martin Heidegger: GA 29/30, S. 42. Zitiert nach Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 104. 260 Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 733. 261 Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 733. 262 Vgl. Dieter Thomä: Die Zeit des Selbst und die Zeit danach, S. 713. 263 Martin Heidegger: GA/9, S. 301. 264 Martin Heidegger: GA/66, S. 364. 265 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 106. 257 258
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Teil I – Chora und Physis
Heidegger denkt die Verbergung als konstitutiv für die Entbergung von Seiendem überhaupt. 266 Da reine Entbergung als eine ›abgründige Gründung‹ von Seiendem gedacht werden muss, gehört zu ihr ein Grund, der in seinem spezifischen Grundsein notwendigerweise verborgen bleibt. 267 Reine Entbergung bedeutet jedoch nicht Ungeborgenheit, d. h. ein vollkommenes Ausgesetztsein des Entborgenen, das seinem Grund entrissen sich selbst zu tragen hätte, sondern zugleich Bergung des Ausgesetzten. 268 Weil Entbergung in die Unverborgenheit zugleich Verbergung sein muss, ist sie ein Bergen in den (Ab-)Grund und kein bloßes Aussetzen: 269 »Waltet in diesem Sichverbergen der Lichtung der Anwesenheit sogar noch ein Bergen und Verwahren, aus dem erst Unverborgenheit gewährt werden und so Anwesendes in seiner Anwesenheit erscheinen kann? Wenn es so stünde, dann wäre die Lichtung nicht bloße Lichtung von Anwesenheit, sondern […] Lichtung des sich verbergenden Bergens.« 270 Ontisch betrachtet findet dieser Zusammenhang seine Anschauung in dem Baum, der ins Offene nur aus einem Grund heraus emporwachsen kann, welcher zugleich verschlossen bleibt und dergestalt standgebend birgt. Die Verbergung ist deswegen konstitutiv für die Bergung des Entborgenen. Es ist paradox, dass die Abgründigkeit und Verschlossenheit des Grundes Bedingung der Möglichkeit der Bergung des Unverborgenen ist. 271 Heidegger sucht zuletzt, einen Zugang zur Physis zu gewinnen, welcher dem Verbergungscharakter nicht weiter durch immer komplexere Wendungen der Gedanken nachzugehen sucht. 272 Nur das Vgl. Martin Heidegger: GA/10, S. 95. Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 107. 268 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 108. 269 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 108. 270 Martin Heidegger: GA/75, S. 78. 271 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 108. Die Gefahr besteht hier offenbar darin, dass diese Abgründigkeit als eine Haltlosigkeit, der Ab-Grund als Ungrund erfahren wird. Im Ausgang von der Metaphysik zeigt sich der Ab-Grund des Seins als sinnlos, wodurch die neuzeitliche Subjektivität sich als Maßstab technischen Verfügens über das Seiende setzt. Heidegger versucht jedoch auch das Sich-Zeigen des Seins als Gestell – die Herstellbarkeit des Seienden in den Bestand des technischen Verfügens – aus dem Wesen der Physis zu denken. Nach Heidegger verbirgt sich in der Physis selbst ein gewisser Thesis-Charakter, so dass auch die durch Technik bestimmte Gegenwart im anfänglichen Geschick des Seins (Physis-Thesis) beruht. Vgl. Martin Heidegger: GA/79, S. 66. 272 Insbesondere das späte Denken Heideggers distanziert sich von dem Versuch den Verbergungscharakter der Physis weiter nachzugehen und sie dadurch gewisserma266 267
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Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
dichterische Sprechen kann für Heidegger dem offenen Geheimnis der Physis noch gerecht werden. 273 Physis zeigt sich in dem Rückbezug Heideggers an die Dichtung Hölderlins als der Glanz, der die Dinge erscheinen lässt und ihnen aufliegt, ohne als solcher erfahren zu sein. 274 Der Glanz wird zu Heideggers letzter Bestimmung des Wesens der Physis: »Glänzen. Das Aufgehende (φύσις).« 275 Der Glanz ist dabei keine Beleuchtung der Dinge, sondern ein Geschehen des Seins und zugleich der Schönheit. In dem Glanz des Schönen wird das Zeigen der Natur in ihrer Einfalt offenbar: »Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen« 276. Physis und Schönheit sind für Heidegger damit eigentlich identisch miteinander: 277 »Schönheit ist darnach nicht eine Eigenschaft, die zum Seienden als eine Ausstattung hinzukommt. Schönheit ist eine höchste Weise des Seins, d. h. das reinesich-Aufgehen und Scheinen. Die Ältesten und griechischen Denker sagten φύσις.« 278 In Bezug auf das Ethos des Unverfügbaren und das zu entwickelnde Verständnis von Kūn sind vor allen Dingen folgende Überlegungen Heideggers bezüglich der Physis von Relevanz: 1. Dies betrifft die Unterscheidung zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen des Erscheinenden, d. h. den in einer Weltsituation immer schon verorteten Seienden (ta onta) und derjenigen Instanz, welche diese ontische Situation in ihrer ontologisch-bestimmte Dynamik als solche ermöglicht. Die Physis lässt das Seiende im Ganzen aufgehen. ßen in die Entborgenheit zu zwingen. Vielmehr zeigt sich eine immer größere Verhaltenheit und Zurückhaltung, welche der Physis ihr Geheimnis nicht mehr zu entreißen sucht. Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 112. 273 Der Glanz verlangt in seiner offen liegenden Verborgenheit nach dem dichterischen Sagen. 274 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 112. 275 Martin Heidegger: GA/75, S. 379. 276 Das späte Gedicht Hölderlins – Das Glänzen der Natur ist höheres Erscheinen – wird für Heidegger zu einem »Vermächtnis, worin der Wesensblick des Dichters den ›ganzen Sinn‹ alles Erscheinenden ins einfältige Wort birgt.« Martin Heidegger: GA/ 75, S. 208. 277 Vgl. Carl Friedrich Kreß: Heideggers Umweltethos. Die Philosophie als Ontologie der Kontingenz und die Natur als das Nichts sowie ein möglicher Beitrag des Denkens in Japan, Inauguraldissertation, S. 129. 278 Martin Heidegger: GA/10, S. 85. Die ursprünglich verstandene Wahrheit ist so auch mit der Schönheit identisch: »Wahrheit und Schönheit sind in ihrem Wesen auf das Selbe, das Sein, bezogen; sie gehören in dem Einen, Entscheidenden zusammen: das Sein offenbar zu halten und offenbar zu machen.« Martin Heidegger: GA 6.1, S. 201.
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Teil I – Chora und Physis
Sie bringt das Offene, in welches das Wachsen hineingeht, als es selbst zu Erscheinung. 2. Es bleibt dasjenige, was das Erscheinende ermöglicht, in seiner Anfänglichkeit selbst entzogen bzw. erscheint all solches nicht. Obwohl Physis das Seiende im Ganzen aufgehen lässt, erscheint sie selbst dabei nicht. 3. Dies hängt mit der Dynamik der ontologischen Instanz zusammen: In der Physis geht zwar jegliches Erscheinende auf, jedoch gründet dieses Aufgehen seinerseits in einem Sichverbergen. Das Aufgehen bleibt stets zurückgeborgen im Sichverbergen und west nur als solches im Modus eines Auf-gehens. 4. Der Unscheinbarkeit und dem Wurzeln im Sichverbergen dessen, was das Seiende im Ganzen ermöglicht, wohnt das Ethos und Vermögen dieser anfänglichen Instanz inne. Als dasjenige, was das Erscheinen gewährt, dabei aber in allem Erscheinen und Erscheinenden zurücktritt, ist Physis die unscheinbare Fügung (ἁρμονία ἀφανής). Physis (die unscheinbare Fügung) ist edel, sofern sie sich nicht in den Vordergrund der erscheinenden Dinge drängt. Physis ist nicht selbst ein Seiendes, sondern ein unscheinbares Scheinen. Unscheinbar (ἀφανής) ist die Fügung (Physis) vermöge ihrer Offenheit als reines Erscheinen und genau darin liegt, dass sie mehr vermag, d. h. »vermögender« ist als das geradehin Offenkundige. 5. Ausschlaggebend ist, dass die ontologische Dimension nicht nur eine Differenz in Bezug auf das Seiende, sondern eine Dynamik des Gesamtseienden darstellt. Physis ist die Bewegung des Entbergens und Sichverbergens. In Physis zeigt sich die Gegenwendigkeit des Seins, nämlich, dass das Entbergen (die Unverborgenheit) dem Sich-Verbergen (der Verborgenheit) zugeneigt ist und darin sich ihr Wesensmäßiges offenbart. In der (Fuge) Physis herrscht »Harmonie«, d. h., dass die eine Bewegung sich in die andere einpaßt, beide Bewegungen sich in die Fuge fügen, so dass Fügung ist (geschieht, stattfindet). Heidegger bringt die Physis mit den aufgehenden und sich verschließenden Weiten (den Metra von metron) in Verbindung: Physis ist das Maß-gebende, d. h., dass der Kosmos das Maß gibt, das er selbst ist als Physis. Physis gewährt als Aufgehen das Maß und die Weite. Physis ist das, was das Erscheinende in den gefügten Glanz seines Erscheinens eröffnet, sie macht auf, sie lässt entstehen (kosmeîn). Grundlegend ist, dass die anfängliche Physis in ihrem sich-verbergenden Entbergen von Seiendem für Heidegger grundsätzlich nicht in der Verfügung des Menschen steht. Diese grundsätzliche Unverfügbarkeit hatte Heidegger bereits im Kontext der Ursprünglichkeit der Erde im Ursprung des Kunstwerkes gedacht. Die Erde ent110 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
zieht sich in ihrer vorgefügten Ursprünglichkeit der Erschließung und Erschließbarkeit durch den Menschen. Sie erscheint nur dort, »wo sie als die wesenhaft Unerschließbare gewahrt und bewahrt wird, die vor jeder Erschließung zurückweicht und d. h. ständig sich verschlossen hält. 279 In dem Kunstwerkaufsatz wird zudem das Verhältnis zwischen Physis, Erde und Natur offenbar. Heidegger sagt, dass das Kunstwerk »in das dem Menschen nicht Verfügbare, in das Sichverbergende [zu] zeigen« 280 hat. Genauso wie die Pflanze in einem dunklen Grund wurzelt, gründet die von dem Dasein aufgerichtete Welt in der Erde als dem Nicht-Herstellbaren und durch das Herstellen als unherstellbar Entborgenen. Erde und Natur bilden eine Entsprechung zur Physis, insofern Physis, in ihrem sich-verbergenden Entbergen von Seiendem sich jeglicher Modalität von Herstellbarkeit. Die Natur weist als dieses niemals Machbare von sich aus auf die Unverfügbarkeit der Entbergung des Seins. 281 Die Natur in ihrer Unverstelltheit kommt für Heidegger aber nur in den Blick, in dem die Natur als Physis – d. h. in ihrem Ereignischarakter – erfahren wird. 282 »Die Natürlichkeit der Natur erwächst nie unmittelbar der Natur selbst, sie ist vielmehr eigens in dem erblickt, was vormals die griechischen Denker die ›Physis‹ nannten: das Auf- und Zurückgehen alles Wesenden in sein An- und Abwesen.« 283 Naturauffassung und Naturdarstellung sind für Heidegger dann unverstellt, wenn in diesen der Ereignischarakter der Natur erscheint. Die ästhetische Betrachtung der Natur kann den Menschen in die Besinnung darüber rufen, dass er sich mit der rücksichtslosen Vernutzung der Natur über die Kontingenz seiner eigenen weltanschaulichen Bedürfnisse gewaltsam hinwegtäuscht und sich damit letztlich selbst um sein Wesen betrügt. 284
Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 33. Zitiert nach Carl Friedrich Kreß: Heideggers Umweltethos, Die Philosophie als Ontologie der Kontingenz und die Natur als Nichts sowie ein möglicher Beitrag des Denkens in Japan, Zürich 2013, S. 121. 281 Vgl. Christian Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 102. 282 Die Kunst ist also Ermöglichungsbedingung dafür, dass »die unverstellte Natur [im Sinne eines nichttechnischen Zugriffs] spricht und durch sie hindurch der nie endende Anspruch an den Menschen«. Carl Friedrich Kreß: Heideggers Umweltethos, S. 110. In dieser Rolle lässt sich die Kunst als »das zeigende Erscheinenlassen« des Wahren bestimmen. Vgl. Martin Heidegger: GA 4, S. 162. 283 Martin Heidegger: GA/13, S. 145. 284 Vgl. Carl Friedrich Kreß: Heideggers Umweltethos, S. 119. 279 280
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Teil I – Chora und Physis
Nach Heidegger wirft Physis Licht auf die Erde, darauf, dass Mensch und Werk genauso wie jegliches Seiende auf die Erde zurückbezogen bleiben. Wird die Erde vor dem Hintergrund der Physis erfahren, erscheint sie unter den Vorzeichen des Ereignisses und der sich entbergenden Wahrheit (aletheia), d. h., dass der Mensch einen anderen Zugang zu der Erde gewinnen kann, der jenseits technischer Verfügbarmachung und auch anderen Bestimmungs-instanzen liegt. Physis erinnert den Menschen an seine Zugehörigkeit zu der Erde und zu dem Ereignis, das durch die Erde spricht. 285 Wirklich erscheinen kann die Erde nur dort, wo ihre wesensmäßige Unerschließbarkeit gewahrt wird: Dies ist die elementare Einsicht, die durch Physis gewonnen werden kann, dass das Erscheinen an das Sichverbergen als Erscheinungs-bedingung konstitutiv zurückverwiesen bleibt und Physis nur durch ihre eigene Unscheinbarkeit, durch ihr Zurückweichen, das Erscheinen gewähren kann. Sie kann ihr ›Werk‹ – das Seiende im Ganzen aufgehen zu lassen – nur vollbringen durch ihre eigene Unscheinbarkeit, die konstitutiv ist und sich der menschlichen Verfügbarkeit entzieht. In dem Edlen der Physis – ihrer Unscheinbarkeit – als Möglichkeitsbedingung für das Erscheinen der Dinge, des Kosmos, liegt ein Korrektiv für den Umgang des Menschen mit der Erde und Natur. Es stellt sich die Frage, was der Bezug zwischen Physis und Erde, zwischen Physis als Erscheinungsbedingung und dem Seienden selbst ist. Obschon Physis als Struktur der Wirklichkeit und Erde im Sinne der Natur nicht identisch miteinander sind, 286 erhellen sie sich wechselseitig: Es geht gewissermaßen darum, die Erde tiefer zu erfahren, und dies geschieht nach Heidegger durch das Nachvollziehen der Bewegung der Physis, durch das Gewahrwerden ihres Ereignischarakters. 287 Physis ermöglicht einen anderen Zugang zur Erde und Natur, jenseits des naturwissenschaftlichen Verständnisses der Natur 288 und »Wahrheit ist […] der Aufgang aller Dinge aus dem verschließenden Grunde der Erde, dem alles, was ist, aufruht.« Vgl. Eugen Fink: Welt und Endlichkeit, S. 178. 286 Das Aufgehen der Physis darf nicht in Bezug auf ein einzelnes Seiendes gedacht werden, sondern muss als Struktur der Wirklichkeit begriffen werden, die sich nur im Konkreten vollzieht. 287 »Das Natürliche der Natur ist jenes Auf- und Untergehen der Sonne, des Mondes, der Sterne, das die Wohnenden unmittelbar anspricht, indem es ihnen das Geheimnisvolle der Welt zuspricht.« Martin Heidegger: GA/13, S. 145. 288 Die Naturwissenschaft fasst die Natur als an sich Bedeutungsloses auf, wobei die Objektivierung der Wissenschaft auch einen Sinnstiftungsprozess bedeutet. Die Schwierigkeit besteht in aller erster Linie in dem wissenschaftlich orientierten Um285
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Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
der Beherrschung und technischen Verfügbarmachung der Erde. Umgekehrt zeigt sich durch die Erde, dass alle Dinge organisch mit ihr verbunden sind, d. h. sie nicht getrennt werden können von der Erde als allumfassendem Boden. 289 Wesensmäßig betrachtet zeigt sich die Erde als das Bewahrende, Hütende und Bergende, das alle ausgesetzten Dinge stets zurückbehält in ihrem reinen Umfangen und sie nie wirklich aus sich entlässt. 290 Die Erde können wir, wie Fink dies in Rückbezug auf die Physis schreibt, nur dann wirklich erfassen, wenn »wir das Worausher aller Dinge, ihre Herkunft und Abkunft und auch das Wohinein ihres Untergangs […] denken.« 291 Dieser Zusammenhang ist in mehrfacher Hinsicht entscheidend im Hinblick auf Kūn und ihrem Bezug zur Erde: Bereits in der Einleitung wurde darauf hingewiesen, dass Kūn nicht identisch ist mit der Erde, sondern im Yijing als die Wirkkraft der Erde betrachtet wird. 292 Dabei zeigt sich die Wirkkraft der Erde ganz konkret in der Gestalt von Kūn. Insbesondere im vierten Kapitel wird es darum gehen, die Gestalt von Kūn – und die darin zur Anschauung kommende Wirkkraft – vor dem Hintergrund der Dynamik der Zeichen, die mit Kūn verbunden sind, verständlich zu machen. Gerade der Anschauungscharakter der Zeichen ist hilfreich im Hinblick auf das Verständ-
gang mit der Natur, der Entleerung von allen Sinnesqualitäten: Objektivierung und Mechanisierung bedeuten eine Abschaffung des Ereignischarakters (der Physis) in der Natur. Der naturwissenschaftlich verstandenen Natur stellt Heidegger den Begriff der Physis als die im Aufgehen bewegte und bedeutungsvolle Natur entgegen. Nach Heidegger schließen sich Ereignisdenken und Technik jedoch nicht zwangsläufig aus, doch gilt es das Richtige der Wissenschaft nicht mit dem Wahren des Ereignisdenkens zu verwechseln. Die Wissenschaft ist eine perspektivische Darstellung der Wirklichkeit, jedoch vermag sie ihre eigene Perspektivität (und damit Relativität) nicht eigens in den Blick zu bringen. Vgl. Carl Friedrich Kreß: Heideggers Umweltethos, S. 115. 289 Heidegger hat diesem Zusammenhalt versucht durch den Begriff der Bergung Rechnung zu tragen: Im Kunstwerkaufsatz wird das Bergen als Moment dessen genannt, wohin die Erde ist: »Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende und zwar als ein solches zurückbirgt. Im Aufgehen west die Erde als das Bergende.« Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 28. 290 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 284. 291 Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 284. »Wo immer der Mensch der Erde nachdenkt, erfährt er auch ihr hütendes Wesen, gewinnt er eine letzte Vertrautheit des Daseins, auch in seinen furchtbaren und schrecklichen Zügen, wird er heimisch im Ganzen und begreift, dass diese windige und gefährliche Welt gleichwohl eine ewige Heimat hat.« Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 285. 292 Heidegger betrachtet die Physis als eine abstrakte Struktur der Wirklichkeit, die sich im Konkreten lediglich vollzieht.
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Teil I – Chora und Physis
nis der Bewegung, die von Kūn und durch Kūn vollzogen wird. Die Bewegung des Entbergens und Sichverbergens, die Heidegger mit Blick auf die Bestimmung der Physis in abstrakten Wendungen beschreibt, genauso wie die Einsicht, dass es eine wechselseitige Bedingung beider gegenläufiger Bewegungen und eine Fügung dieser in der Physis gibt, kann durch die Dynamik von Kūn, d. h. durch die Zeichen, die mit Kūn immanent verbunden sind, unmittelbar anschaulich gemacht werden. Dass diese Bewegung nur durch dasjenige möglich wird, was Heidegger mit Bezug auf Physis die Unscheinbarkeit nannte, wird auf einer anderen Ebene in der Liniengestalt von Kūn sichtbar, nämlich in ihrer uneingeschränkten Offenheit, vermöge derer Kūn die Mannigfaltigkeit des Lebendigen gewährt. Den Zeichen oder Gestalten selbst kommt dabei im Yijing ein Ereignispotential zu, insofern, was bereits angesprochen wurde, unter den Gestalten keine bloß abstrakten Symbole verstanden werden, sondern eine spezifische Wirkkraft von ihnen ausgeht, die es in Bezug auf Kūn nicht erlaubt, in den Kategorien der Entzogenheit einer anfänglichen (ontologischen) Instanz von dem Lebendigen im Sinne der konkreten und komplexen Wirklichkeit des Seienden zu sprechen. Zwar kommt Kūn im Yijing eine Vorrangstelle zu, die sich durch ein formal-differenzialistisches Modell aufzeigen lässt, jedoch ist sie als Wirkkraft der Erde nicht getrennt von der Erde, wo sich die Vielheit des Lebendigen manifestiert. Im Gegenteil: Als Wirkkraft der Erde bedeutet Kūn ein generatives Vermögen, das einen Übergang von dem ›Ontologischen‹ zum ›Ontischen‹ erlaubt. Die Lebendigkeit erhält alles Seiende – alle Wesen der Erde – von Kūn, d. h. vermöge ihrer ganz spezifischen Wirkkraft. Durch die Wirkkraft von Kūn kann die Erde in ihrer eigentlichen Tiefe und alles verbindenden Lebendigkeit erfahren werden und eröffnet sich vielleicht ein Weg der Konstitution eines neuen Ethos des Menschen im Umgang mit der Erde. Obwohl auch die Dynamik der Zeichen als Resultat eines Abstraktionsprozesses verstanden werden kann, konkretisiert sich etwas durch sie. Dieses »Etwas« ist das, was vielleicht irgendwann wahrgenommen wird und zunächst nur in Form von Gestalten zugänglich ist. Durch diese analogische Konkretisierung kann man etwas Klarheit in Bezug auf einen unumgänglichen Mangel bei Heidegger gewinnen: Er kann die »onta« nicht anders betrachten bzw. erleben als durch die bisherigen Bestimmungen der abendländischen Kategorien, d. h. das, was er tatsächlich aufdeckt, ist eine Differenz in der Imma114 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Heidegger: Physis als unscheinbare Fügung
nenz der Kontinuität von metaphysischen und technisch-wissenschaftlichen Bestimmungen des Seienden. Das ist u. a. der Grund, warum seine Sprache destruktiv bis zum Punkt des Selbstentzugs des Seins bleibt: Er verfügt über kein anderes Erfahrungsregister als jenes seiner eigenen kulturellen Tradition – wo analogische Konkretisierung keine Wirkkraft hat. Das Yijing zeigt, dass man von der komplexen Vielheit des Seienden etwas restituieren kann, wodurch die ontologische Differenz nicht mehr quasi dazu verurteilt wird, in einem restriktiven Entzogenheitsfeld zu verbleiben – sofern es eine Kontinuität zwischen Kūn und Erde gibt, etwas, das für das ›westliche Denken‹ vielleicht ein rätselhaftes Paradoxon bleibt. Im Folgenden gilt es die problematische Bestimmung von Kūn als Sich-Fügen der Erde in den Überlieferungen des Yijing herauszustellen. Der Versuch in Abgrenzung zu ihrer Bestimmung in den Überlieferungen des Yijing die eigentliche Wirkkraft von Kūn – auf Grundlage der Analyse der Zeichen – sichtbar und verständlich zu machen, soll es erlauben, einen neuen und anderen Zugang zur Erde zu schaffen und zugleich die Grundlage für den Vergleich und die Differenzierung zwischen Kūn, Chora und Physis im Kontext des Ethos des Unverfügbaren zu legen.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde. Eine kritische Relektüre der Überlieferungen des Yijing
1.
Einführung in das Yijing
1.1 Zur Geschichte des Yijing: Divination, Macht und Schrift Das Yijing oder ›Buch der Wandlungen‹ ist eines der ältesten und wirkmächtigsten literarischen Zeugnisse der chinesischen Antike und kann als Grundlagenwerk des chinesischen Denkens betrachtet werden. 1 Dabei liegen die Ursprünge des Yijing in seiner Funktion als Orakelbuch und damit in dem Orakelwesen oder in der Divinationspraxis, dessen Vorkommen in China bis in das Neolithikum zurückreicht und im Laufe der Entwicklung verschiedene Verfahrens- und Bedeutungsformen angenommen hat. Zu einer der herausragenden Methoden der Divination oder Befragung des Orakels gehörte der Gebrauch von Knochen und Schildkrötenpanzern, die vor allem während der Shang Dynastie verbreitet war und in der durch Anwendung von Hitze Sprünge und Risse in den Knochen bzw. dem Schildblatt erzeugt wurden, deren Lineatur anschließend verschiedener Deutungen unterzogen wurde. Die Orakelknocheninschriften der späteren Shang Dynastie bilden den bisher frühsten Schriftkörper Ostasiens und wurden in einer Schrift verfasst, die das Erbe aller sich anschließenden Formen der Schrift in China ausmacht. 2 Die Knochen und Als Antike kann der Zeitraum der Herrschaft der Zhou (1045–256 v. Chr.) und die ersten vier Jahrhunderte der Kaiserzeit mit den Dynastien Qin (221–206 v. Chr.), Westliche Han (206 v. Chr. – 8 n. Chr.), Xin (9–23 n. Chr.) und Östliche Han (25–220 n. Chr.) betrachtet werden. Die Epoche der Herrschaft der Zhou-Dynastie wird unterteilt in Westliche Zhou (1045–771 v. Chr.) und Östliche Zhou (770–256 v. Chr.). In diese Zeit fallen auch die Epochen ›Frühling und Herbst‹ (770–476 v. Chr.) und die ›Epoche der Streitenden Reiche‹ (475–221 v. Chr.) Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 253. 2 Vgl. David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, in: Representations, No. 56, Special Issue: The New Erudition, 1996, S. 68–95, hier S. 68. 1
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
Panzer wurden dabei nicht nur mit Graphemen, der schriftlichen Aufzeichnung des Orakels versehen, sondern die Grapheme wurden auch ausgraviert, um sie tiefer und sichtbarer zu gestalten, darüber hinaus wurden die eingeritzten Grapheme mit Farbpigmenten versehen. 3 Diese Praktik weist darauf hin, dass die Gravuren der schriftlichen Aufzeichnungen nicht nur eine ästhetische Funktion, sondern auch eine magische Funktion besaßen, indem eine Gleichgestimmtheit zwischen dem Sprung und den eingeritzten Divinationsaufzeichnungen hergestellt wurde, um das gewünschte Ereignis zu fixieren oder besser noch zu induzieren. 4 Diese Demonstration und Darbietung der Fähigkeit, die Zukunft zu beeinflussen, die der Vorstellung nach dem König zukam und von den königlichen Wahrsagern festgehalten wurde, geben einen ersten Hinweis darauf, dass Divination, Religion, politische Macht und Schrift bereits zu dieser Zeit eng miteinander verbunden waren. 5 Es gibt eine beachtliche Evidenz darüber, dass das Knochenorakel aus dem Ahnenkult hervorging, wo das Spalten von Knochen im Rahmen von reichhaltigen Opferritualen dazu diente, mit den Verstorbenen zu kommunizieren. Glücksverheißende Divinationen legitimierten die Herrschaft des Königs und bereiteten eine Form der Bestätigung für die von ihm getroffenen politischen Entscheidungen. 6 Der oberste Urahn der Shang war Shang Di, die mächtigste in einer langen Reihe von Ahnen- und Naturgottheiten. 7 Di bezeichnet dabei vielleicht mehr einen generischen oder korporativen Terminus und kann auf die Stammbedeutung ›Vater‹ im Sinne eines ›Urvaters‹ oder eines königlichen Patriarchen, zurückgeführt werden. 8 Shang Di wurde später von den die Shang unterwerfenden Zhou, in deren Herrschaftsperiode der Aufstieg des Yijing als eines prestigeträchtigen Werkes fällt, mit deren eigener und oberster Gottheit tian, Himmel, gleichgesetzt. 9 Diese Gleichsetzung ist fragwürdig, sofern die Vgl. David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, S. 70. Vgl. David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, S. 70. 5 Vgl. David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, S. 70. 6 Vgl. David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, S. 72. 7 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 273. 8 Vgl. Sanping Chen: Son of Heaven and Son of God: Interactions among Ancient Asiatic Cultures regarding Sacral Kingship and Theophoric Names, in: Journal of the Royal Asiatic Society, Vol. 12, No. 3, 2002, S. 289–325, hier S. 290. 9 Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns: Myth and Totemism in Early China, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies, University of London, Vol. 44, No. 2, 1981, S. 290–326, hier S. 323. 3 4
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Einführung in das Yijing
Zhou hochwahrscheinlich nicht nur den Verehrungskult des Himmels erst einführten, sondern sich selbst auch als direkte ›Söhne des Himmels‹ verstanden, was sie durch das sogenannte ›Mandat des Himmel‹ rechtfertigten, ein durch die Zhou entwickeltes Konzept, das der Legitimation ihrer Eroberung und Unterwerfung der offenbar höher entwickelten Shang Zivilisation diente. 10 Die Rolle des Shang Königs bestand mehr darin, eine Art Vermittlungsstelle zwischen ihm, den Ahnen und Shang Di zu bilden. 11 Es bestand damit keine direkte Verbindung zwischen dem König und Shang Di. Zwar führten die Könige der Shang ihre Herkunft auf ihre Ahnenväter zurück, jedoch verstanden sie sich selbst nicht unbedingt als Söhne der Gottheit Shang Di. 12 Diese Differenz einer eher pluralistisch geprägten Verehrung verschiedener Ahnengeister, generisch zusammengefasst in einem höchsten Ahnengeist und der direkten Identifikation eines Geschlechts mit einer zentralen Gottheit des Himmels, zeigt auch auf der Ebene der Mythologie, wo sich eine parallele Entwicklung ausmachen lässt: So bildete der Mythos der zehn Sonnen, zu denen die führenden Gruppen der Shang eine totemartige Beziehung unterhielten, integraler Bestandteil ihrer Herrschaft. 13 Dieser Mythos ging verloren, als die Zhou, die an nur an eine Sonne glaubten, die Shang unterwarfen. In der Zhou Dynastie war die Tradition, dass es nur eine Sonne gibt, weit verbreitet: »Heaven does not have two suns; the people do not have two kings.« 14 Der Affirmation einer einzigen Gottheit des Himmels an oberster Stelle entspricht der mythologische Glaube an nur eine einzige Sonne. Obschon die Gottesvorstellungen in der Shang und Zhou Herrschaft weitestgehend voneinander divergierten, hatte das Königtum selbst in beiden Fällen einen wohl stark sakralen Charakter. Auch der König der Shang war der eine und einzige ›Gewährsmann‹, der im Namen seines Volkes mit den Geistern der Ahnen intervenierte, zwischen ihnen vermittelte, indem er ihnen Opfer erbrachte, damit sie keine Krankheiten, Katastrophen oder Ernteverluste verursachten. 15 Die Divination bildete demnach einen wesentlichen Teil der Ahnenverehrung und der damit verbundenen Opferrituale, indem sie als das Medium der Kommuni10 11 12 13 14 15
Vgl. Sanping Chen: Son of Heaven and Son of God, S. 291. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 307. Vgl. Sanping Chen: Son of Heaven and Son of God, S. 291. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 293. Zitiert nach Allan: Sons of Suns, S. 293. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 307.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
kation mit den Ahnen fungierte und die durch sie ermittelten Zeichen als Sprache der Götter und Ahnengeister angesehen und interpretiert wurden. Die Divination hing in diesem Sinne mit einer besonderen Form der ›Schriftkundigkeit‹ zusammen, die das Herstellen und Lesen der Orakelknochen beinhaltete und dem gewöhnlichen Lesen und Schreiben von Schriftzeichen nicht nur vorausging, sondern vermutlich auch einen viel höheren Stellenwert als dieses besaß. 16 Schriftkundigkeit war für die Orakelkundigen des Neolithikums und für die Könige der Shang im Wesentlichen die Fähigkeit, Zeichen zu lesen. 17 Wahre Schriftkundigkeit beinhaltete im Falle der Shang die Macht des Königs, dasjenige auszusprechen, was er in den Knochensprüngen sah: ›the king read the cracks and said …‹ (wang zhan yue). 18 Die Divination als der besonderen Fähigkeit, Zeichen zu lesen und daraus Prognosen abzuleiten, bzw. die Wirklichkeit zu bestimmen oder zu induzieren, kann in diesem Zusammenhang als Vollzug eines hoch aufgeladenen politischen Aktes verstanden werden, der nur den darin Fachkundigen, den in das Orakelwesen ›Eingeweihten‹, zukam und durch sie kontrolliert wurde: Im Falle der Shang agierte, wie gesagt, der König selbst als der oberste Wahrsager und hatte damit zugleich die Macht, über das Reich zu bestimmen. Verschiedene Untersuchungen zeigen, dass die Divination der späteren Shang Dynastie eine entscheidende Quelle der Macht für das Königshaus der Shang bildete, sie diente der Legitimation und Platzierung des Königs und seiner Wahrsager in einer Position von unangreifbarer Autorität derer, welche die Kontrolle über das ›Unbekannte‹ hatten. 19 Dieser Zusammenhang zwischen Macht und Divination ist vor allen Dingen in den hoch entwickelten Verfahren der Divination ausfindig zu machen, wo die Divination mit bürokratischen Institutionen als Legitimation der Autorität der Staatsmacht assoziiert war, wie dies Untersuchungen der Vgl. David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, S. 72. 17 Die Orakelkundigen bedurften nicht nur die Sprünge in den Knochen zu lesen, sondern auch den Klang, den der Sprung erzeugte, genauso wie die Anzeichen der Welt, die sie umgab – Gewitter, Winde, Ernteschäden und anderes. Vgl. David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, S. 73. 18 David N. Keightley: Art, Ancestors, and the Origins of Writing in China, S. 73. 19 Vgl. Rowan Flad: Divination and Power: A Multiregional View of the Development of Oracle Bone Divination in Early China, in: Current Anthropology, Vol. 49, No. 3, June 2008, S. 403–437, hier S. 406. 16
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Divination von dem frühen Neolithikum, über die Shang und Zhou Periode deutlich machen. 20 Divination bildet damit einen wesentlichen Bestandteil der Beförderung und Aufrechterhaltung des ideologischen Systems, der Ideen, Strategien und praktischen Symbole einer Gesellschaft. 21 Wo die Beherrschung prophetischen Wissens kodifiziert und institutionalisiert ist, kontrollieren rituelle Spezialisten einen Wissenskörper und einen sozialen Status, der von Eliten als eine Quelle von Autorität und Legitimation monopolisiert wird. 22 Bestimmte Formen von Divination können insofern nicht unabhängig von sozialen Normen und Strukturen betrachtet werden, sondern sind in stark hierarchischen Gesellschaften an soziale Herrscher oder Eliten gebunden. 23 In seinem Buch Authority and Writing zeigt Mark Lewis, wie im frühen China verschiedene Formen der Schrift zur Ausübung von Macht, Kontrolle und Gehorsam eingesetzt wurden. Der Grund, warum den geschriebenen Zeichen eine derart große Macht zukam, kann nach Lewis auf die für China charakteristische starke Intersektion zwischen dem politischen, intellektuellen und religiösen Bereich zurückgeführt werden. 24 Insbesondere seine Herkunft aus dem religiösen, kultischen Kontext spielt für die machtvolle Funktion der Schrift eine fundierende Rolle. Der Ursprung der chinesischen Schrift liegt, wie wir gesehen haben, in der Divinationspraxis und seiner Macht bzw. Herrschaft begründenden und auch formierenden Funktion. Die auf Knochen- oder Schildkrötenpanzern und Bronze-Gefäße eingravierten Zeichen, die der Kommunikation mit den Geistern dienten, erzeugte die Macht der Könige und Adligen in den Shang und Zhou Staaten, die ihre Vorherrschaft aus ihrem privilegierten Zugang zu den Göttern und Geistern ableiteten. 25 Darüber hinaus wurden die graphischen Formen durch ihren Gebrauch in der Divination und sakrifiziellen Kommunikation mit den Geistern mit einer numinosen Kraft aufgeladen, die sogar ihren Gebrauch in nichtreligiösen Praktiken affizierte. 26 Diese Entstehung des Schreibens in dem archaischen Staat innerhalb der Verknüpfung von religiösen Praktik 20 21 22 23 24 25 26
Vgl. Rowan Flad: Divination and Power, S. 403. Vgl. Rowan Flad: Divination and Power, S. 403. Vgl. Rowan Flad: Divination and Power, S. 403. Vgl. Rowan Flad: Divination and Power, S. 403. Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 1. Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 14. Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 14.
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und politischer Autorität beeinflusste die Formen, die es annahm und die Rolle, die es spielte in der Formation des späteren territorialen Staates. 27 Bereits in seinen frühsten und archaischsten Formen hatte die Schrift aufgrund ihrer Rolle in dem religiösen Kultus insbesondere der Divination, eine fundamentale politische Macht. Es war durch die Einschreibung der religiösen Aktivitäten der Herrscher, durch die die graphischen Zeichen ihre definitive Tragweite erlangten und es war ihre duale Funktion als Verbindung zu den Geistern und Emblemen königlicher Macht, die sie zuallererst zu dem Zentrum der chinesischen Zivilisation machten. 28 Der Komplex von Divination, Macht und Schrift lässt sich insbesondere auch für das Yijing ausmachen und zeigt sich auf verschiedenen Ebenen seiner Entwicklung von einem Orakelwerk hin zu einem komplexen Repräsentationssystem von Wissen. Denn das Yijing stellt mit seinen 64 Zeichen und deren Anordnungen, Korrespondenzen und Wechselwirkungen eine weitaus systematischere Form des Orakels und vor allem der Repräsentation von ursprünglich aus einem Divinationskontext gewonnenem Wissen dar, als die Inschriften und Aufzeichnungen der Ergebnisse des Knochen- und auch Schildkrötenorakels der Shang es vermuten lassen. 29 Das Yijing kann dabei aber nicht als eine bloße Rationalisierung früherer Divinationsformen angesehen werden, sondern eröffnet zugleich einen ganz neuen Horizont. Seine Entwicklungsgeschichte beinhaltet den fast nahtlosen Übergang seiner Verwendung innerhalb der Divination Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 15. Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 15. 29 Es wurden Überlegungen angestellt, die Zeichen des Yijing auf eine Rationalisierung des Knochenorakels der Shang zurückzuführen. Obwohl die für das Yijing maßgebliche Methode der Befragung des Orakels mittels der Schafgarbenstängel eine andere Form des Verfahrens voraussetzt und das Knochen- oder Schildkrötenorakel dadurch überwiegend ersetzt wurde, lässt sich in beiden Formen des Orakelnehmens eine Ähnlichkeit feststellen hinsichtlich der Herauskristialisierung eines Zeichensystems, das eine Struktur binärer Oppositionen aufweist. Vgl. David N. Keightley: Shang Divination and Metaphysics, in: Philosophy East and West, Vol. 38, No. 4, 1988, S. 367–397. Im Grunde genommen ist das Yijing von dem Schafgarbenorakel selbst zu trennen, auch wenn es in den Texten darunter aufgeführt wird. Das Schafgarbenorakel dient als Methode des Yijing. Dass es sich bei dem Yi-Orakel um eine ganz andere Form von Orakel handelt, dass Bezug auf überliefertes Erzählwissen nimmt, geht aus Funden von Texten zum Schafgarbenorakel hervor. Dabei sind Knochenorakel und Schafgarbenorakel wiederum nur einige unter einer Vielzahl verschiedener Formen von Orakeln. Sie wurden jedoch als diejenigen angeführt, mit der der Herrscher Entscheidungen vor anderen Entscheidungsträgern rechtfertigen kann. 27 28
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als Mittel der Kommunikation mit den Göttern und Ahnen und einem politischen Werkzeug der königlichen Macht zu einer auf seinen Mustern und Sprüchen aufbauenden systematischen Darstellung von metaphysischen, kosmologischen und ethisch-politischen Spekulationen. Letztere Darstellung findet sich in den Überlieferungen des Yijing und wurde von dort aus zu einem Ausgangspunkt verschiedener philosophischer Schulen und Denkrichtungen. Die Überlieferungen des Yijing, insbesondere die frühen Texte, geben dabei Aufschluss darüber, wie die Zeichen und deren Anordnung als eine Abbildung einer idealen, vergangenen Machtstruktur bzw. Herrschaftsordnung zu verstehen ist. Das Yijing bereitete hiernach eine machtvolle, auf dem Erbe der Divination basierende und kosmologisch-fundierte Rechtfertigung der patriarchalen politischen und sozialen Hierarchien des imperialen Chinas. 30 Die Tatsache, dass das Yijing nicht als ein einheitliches Werk zu verstehen ist, sondern sich aus verschiedenen Texten unterschiedlicher Epochen zusammensetzt, ermöglicht es jedoch, einige Differenzierungen vorzunehmen. Zu unterschieden gilt es grundsätzlich zwischen zwei Schichten: 1. Der älteren Schicht, dem eigentlichen Manual für die Divination, das aus 64 Orakelzeichen und einer Sammlung von diesen Zeichen zugeordneten Sprüchen besteht. 2. Der jüngeren Schicht, d. h. den ca. 300 bis 500 Jahre später entstandenen Texten der Überlieferungen, welche die Zeichen und Sprüche vor ihrem eigenen, zeitgenössischen Hintergrund auslegen und damit den Boden für die Interpretation und das Verständnis des Yijing als eines philosophischen, kosmologischen und ethisch-politischen Grundlagenwerkes bereiteten. Aus Sicht der Tradition bilden beide Schichten eine Einheit, aus historisch-kritischer Sicht gehören sie unterschiedlichen Denkhorizonten an. In der chinesischen Forschung wurden erst im 20. Jh. erste Versuche unternommen, die Aussagen beider Textschichten voneinander zu differenzieren, so dass die Grundlagen für ein kritisches Verständnis des Yijing erst sehr spät geschaffen worden sind. Das Spruchwerk, dessen Alter und genaue Herkunft nicht genau festgelegt werden kann, ist im Vergleich zu dem philosophischen Rahmen der Überlieferungen durch mythologisches Erzählgut angeVgl. Richard J. Smith: Women and Divination in Traditional China. Some Reflections, in: Konferenzschrift: Engendering China: Women, Culture, and the State, Harvard University and Wellseley College, February 7–9, 1992, S. 2.
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reichert und basiert teilweise auf einer älteren, mündlich tradierten Dichtung. 31 Seine Niederschrift erfolgte vermutlich unter dem Einfluss der Zhou, die sich unter Rückgriff auf das vergangene Erbe als die herrschenden Könige (wang) und Söhne des Himmels (tian zi) zu legitimieren suchten. 32 Das Spruchwerk geht davon aus, dass die Zeichen auf Embleme von Geschlechtern oder Gottheiten zurückzuführen sind. 33 Mit den hinter den Emblemen stehenden Gottheiten ist ein Opfer- und Fruchtbarkeitskult verbunden. Die Embleme geben in ihrer Vielfalt und Vollständigkeit das Gefüge des Reiches wieder, das von den Zhou beherrscht wurde. 34 Die Herrschaft des Himmelsgeschlechtes der Zhou wird dabei in einen Entstehungsmythos der Welt eingebettet und legitimiert. 35 Die Zusammenfügung der Zeichen und Sprüche, die möglicherweise in eine viel frühere Entstehungszeit zurückreichen, zu einem unter der Zahl von 64 Zeichen angeordneten Spruchwerk, dass die Zhou verherrlichte, ist erst gegen Ende der Westlichen und Anfang der Östlichen Zhou-Zeit, im 9. und 8. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen, wo die Texte eine solche Legitimationsfunktion besaßen und der Glorifizierung eines Herrscherhauses dienten. 36 Die Entstehung des Yijing könnte daher mit der Verwendung von Schrift für die Konstruktion von politischer Autorität und der Fundierung der Herrschaftsidee und des Herrschaftsanspruches eines bestimmten Herrscher-Geschlechts, in diesem Fall der Zhou, in Zusammenhang gestanden haben. 37 Erst im Rahmen seiner philosophischen Rezeption seit dem Beginn des 4. Jahrhunderts v. Chr. erlangte das Yijing schließlich einen über seine Verwendung als Orakel am Königshof der Zhou hinausgehenden Status und wurde zu einer Quelle für kosmologisches und ethisch-politisches Denken. 38 Seine Zeichen und Sprüche wurden als eine Abbildung des Zusammenwirkens von Himmel und Erde betrachtet. 39 Gleichzeitig gewann das Yijing den Status eines ›LeitVgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 254. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 254. 33 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 374. 34 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 374. 35 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 374. 36 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 374. 37 Auch das Buch der Lieder (Shijing) und das Buch der Urkunden (Shujing) beschreiben die Geschichte und Herrschaft der Zhou in ähnlicher Weise. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 375. 38 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 254. 39 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 255. 31 32
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fadens‹ (jing) 40 des Handelns und der Strukturierung von Wissen, der die Macht hatte, genaue Auskunft über die in den Zeichen des Yijing zum Ausdruck kommenden innersten Strukturen des Reiches zu geben. 41 Die philosophische Kooptierung des Yijing in den scholastischen Diskurs hat Jahrhunderte gedauert und porträtiert die Debatte zwischen der Natur, dem Gebrauch der Divination und einer Redefinierung ihres Prozesses. 42 Durch seinen Anspruch, ein schematisches Modell des gesamtem Universums und aller möglichen Bedingungen zu liefern, erlangte das Yijing intellektuelle Autorität. 43 Trotz der Beschlagnahmung und Verbrennung vieler Bücher durch den selbst ernannten ersten chinesischen Kaiser in der nur kurz andauernden Qin-Ära blieben die Auslegungen des Yijing erhalten, wobei unterschiedliche Fassungen des Buches daraus hervorgingen. 44 Dabei betrachteten sich die Han-Dynasten als die rechtmäßigen Nachfolger der Zhou und richteten nach ihrer Machtkonsolidierung Institutionen zur Bewahrung und Auslegung der verschiedenen Fassungen des Yijing und seiner exegetischen Traditionen ein. 45 Diese Institutionen, an denen das kanonische Schrifttum gelehrt wurde, dienten in aller erster Linie der Herausstellung der kulturellen Suprematie des Kaisers sowie der Heranbildung einer im Wissen des Altertums gebildeten Gelehrtenschicht für den Herrschaftsdienst. 46 Aus diesem Zusammenhang wird der außerordentliche kulturelle Stellenwert Das Wort jing, ursprünglich ›Kettfaden‹ beim Weben, bedeutet auch ›Regel‹ und weist auf die Regelhaftigkeit von Prozessen: Das Auf- und Untergehen der Sonne bildet eine Regel der Bewegungen des Himmels und ist daher ›Leitfaden‹ für das Handeln der Menschen. Jing, das üblicherweise mit ›Buch‹ übersetzt wird, ist die Bezeichnung für das kanonische Schrifttum und wird in der Han-Zeit dem konfuzianischen Kanon, den sogenannten fünf Klassikern, zugeordnet. Hervorgehoben werden im Ausgang der Zhou Dynastie meist fünf oder sechs ›Leitfäden‹ : neben dem Yijing sind es das Buch der Lieder (Shijing), das Buch der Urkunden (Shujing), das Buch der Riten (Lijing), das Buch der Musik (Yuejing) sowie die Frühling- und Herbstannalen (Chunqiu). Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 829. 41 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 255. 42 Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing in Early China, SUNY Series in Chinese Philosophy and Culture, hrsg. v. David L. Hall und Roger T. Ames, New York 1999, S. 241. 43 Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing in Early China, S. 285. 44 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 255. 45 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 255. 46 Diese Institutionen waren der Ursprung des spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Prüfungssystems Chinas, das Anwärter für den Staatsdienst hinsichtlich ihres 40
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und die politisch-soziale Wirkmächtigkeit des Yijing offenbar: Es bildete nicht nur die Grundlage des Staatskultes und der Institutionen des chinesischen Kaisertums, sondern diente auch der Entwicklung und Ausbildung verschiedener Konzepte in Philosophie, Religion, Wissenschaft, Kunst, Ästhetik und Literatur. 47
1.2 Der Aufbau des Yijing Systematisch betrachtet besteht das Yijing aus einer spezifischen Anordnung von insgesamt 64 verschiedenen Zeichen (gua) 48, welche unterschiedliche Namen tragen und denen verschiedene Sprüche zugeordnet sind. Jedes Zeichen ist aus einer Kombination von sechs – entweder durchgezogenen oder geteilten Linien – aufgebaut. Dabei stehen die Linien in einer festgelegten Reihenfolge, ihre jeweilige Position wird ›Rang‹ (wei) genannt. Das Zeichen wird von unten nach oben gelesen: beginnend mit dem untersten Rang, der untersten Linie, endend mit dem obersten Rang, der obersten Linie. Die Summe aller möglichen Kombinationen von durchgezogenen und geteilten Strichen ergibt die Zahl 64. Jedem Zeichen und jeder einzelnen Linie sind Sprüche (ci) zugeordnet. Der Spruch eines Zeichens wird ›Urteil‹ (tuan) genannt, die Sprüche der einzelnen Linien und die Linie selbst heißen ›Kreuzung‹ oder ›Wirkung‹ (yao). Alle Zeichen bestehen aus einer Kombinatorik von durchgezogenen und gebrochenen Linien – bis auf die ersten beiden Zeichen Qián und Kūn: Diese bestehen durchgängig aus jeweils sechs durchgezogenen Linien – ䷀ – (Qián) und sechs gebrochenen Linien – ䷁ – (Kūn) und werden daher auch als reine Zeichen bezeichnet. Kūn und Qián besitzen außerdem im Vergleich zu den anderen 62 Zeichen einen weiteren achten Spruch. Demnach besitzen 62 der Zeichen insgesamt sieben Sprüche: einen Urteilsspruch und 6 Liniensprüche, während Qián und Kūn jeweils einen Urteilsspruch, 6 Liniensprüche und einen weiteren Spruch besitzen. Daraus ergibt sich für das Spruchwerk eine Gesamtsumme von 450 Sprüchen: 64 Zeichensprüche (Urteile), 384 Liniensprüche
Wissens über die kanonischen Schriften prüfte. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 256. 47 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 257. 48 Durch die Rezeption des Yijing im Westen prägte sich der Name ›Hexagramm‹ für die Zeichen.
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(Kreuzungen) und zwei Sprüche der Verwendung. 49 Die im Folgenden genannten erklärenden Ausdrücke (wie z. B. Bild, hart und weich oder Platz etc.) erscheinen erst in den Überlieferungen des Yijing. Die ältere Schicht des Yijing, d. h. die Sprüche und Zeichen, beinhalten in sich selbst keine Erklärungsebene. Die Sinnstruktur eines Zeichens wird in den Überlieferungen des Yijing als ›Bild‹ (xiang) bezeichnet. Der Sinngehalt eines Zeichens kann als eine Komposition von symbolischen Bedeutungen, die den Zeichen und Linien zugeschrieben werden, spezifischen Zusammenhängen, die sich aus der Konfiguration der Linien ergeben und Assoziationen, die der Bildlichkeit der Linienstruktur entnommen ist, verstanden werden. 50 Für die symbolische Dimension eines Zeichens spielen die sogenannten Teilzeichen, in die jedes einzelne Zeichen unterteilt ist, eine maßgebliche Rolle. Jedes ganze Zeichen besteht aus je einem unteren und einem oberen Teilzeichen. Die Teilzeichen ergeben sich aus der Kombinatorik der kleinsten Einheiten, d. h. der durchgezogenen und geteilten Linien, wonach es demnach acht Teilzeichen gibt 51: Qián (☰) und Kūn (☷), Zhen (☳) und Xun (☴), Kan (☵) und Li (☲), Gen (☶) und Dui (☱). Die Teilzeichen werden als Naturkräfte verstanden, die mit spezifischen Eigenschaften ausgestattet sind und aus deren Funktion und Stellung eine familiäre Zeugungsfolge abgleitet wird. 52 Qián (☰) entspricht der Naturkraft des Himmels, seine Eigenschaft ist das kräftige Wirken, seine Stellung in der Zeugungsfolge ist die des Vaters. Kūn (☷) entspricht die Naturkraft der Erde, ihre Eigenschaft ist das Gehorchen und das Fruchtbringende, in der Zeugungsfolge kommt ihr die Stellung der Mutter zu. Zhen (☳) ist die Naturkraft des Donners, seine Eigenschaft ist die des Bewegens oder Erschütterns, in der Zeugungsfolge nimmt er den Platz des ältesten Sohnes ein. Xun (☴) wird als die Naturkraft des Windes betrachtet, dessen Eigenschaft das Eindringen ist, der Zeugungsfolge nach entspricht der Wind der ältesten Tochter. Kan (☵) bildet die Naturkraft des Wassers, seine Eigenschaft ist die Gefahr, das AbgrünVgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 260. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 260. 51 Die dreifache Verteilung von zwei Möglichkeiten bildet ein Teilzeichen. Zusammen gibt es acht Möglichkeiten dieser Verteilung (23 = 8). Die zweifache Verteilung von acht Möglichkeiten bildet ein Zeichen. Zusammen gibt es 64 Möglichkeiten dieser Verteilung, mithin 64 Zeichen (82 = 64). 52 Siehe hierzu die schematische Darstellung von Dennis Schilling: Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 262. 49 50
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dige, es kommt ihm die Stellung des mittleren Sohnes zu. Li (☲) bringt die Naturkraft des Feuers zum Ausdruck, seine Eigenschaften sind die Helle und das Haftende, in der Zeugungsfolge ist dies die mittlere Tochter. Gen (☶) entspricht der Naturkraft des Berges, seine Eigenschaft ist das Anhalten oder Stillhalten, ihm kommt die Stellung des jüngsten Sohnes zu. Dui (☱) verkörpert die Naturkraft des Sees, sie ist das Heitere, in der Zeugungsfolge wird dieser Platz von der jüngsten Tochter besetzt. Qián und Kūn entsprechen Himmel und Erde, d. h. Vater und Mutter: Donner, Wind, Wasser, Feuer, See und Berge werden als Söhne und Töchter von Himmel und Erde betrachtet. Formal gesehen lassen sich die sechs Teilzeichen (Donner, Wind, Wasser, Feuer, See und Berg) aus den beiden Grundteilzeichen (Himmel und Erde) herausbilden. Aus der Erde (☷) werden Donner (☳), Wasser (☵) und Berg (☶) gebildet und aus dem Himmel (☰) Wind (☴), Feuer (☲) und See (☱). Die Teilzeichen werden so verstanden, dass sie auf eine komplementäre Weise aufeinander einwirken, d. h. sich wechselseitig bedingen und ergänzen: Der Himmel (☰) lenkt und waltet, während die Erde (☷) fügsam und empfangend ist; der Donner (☳) setzt in Bewegung und erschüttert, während der Wind (☴) eindringend ist, d. h. Einfluss ausübt 53 und zerstreut; das Wasser (☵) nährt, ist aber auch abgründig, tief und gefahrvoll in seiner Bewegung, während das Feuer (☲) wärmt, leuchtet, aufsteigt, Helle erzeugt, und auch anhaftet; der Berg (☶) ist das, was zum Erstarren, zum Anhalten und Stillhalten, zur Ruhe bringt, während der See das Lösende und Heitere (☱) verkörpert. Für den Sinngehalt des Zeichens ist in den Überlieferungen neben der Symbolik der Teilzeichen auch die Deutung des Linienbildes, die Konfiguration seiner Linien ausschlaggebend. Dabei besitzen die zwei Arten von Linien spezifische Eigenschaften: Die durchgezogene Linie entspricht dem Harten (gang), die geteilte Linie dem Weichen (rou). Das Harte hat sein Vorbild in dem männlichen Penis und das Weiche in der weiblichen Vagina. 54 Aus dieser Zuordnung versteht sich die Zeugungsfolge in der Symbolik der Teilzeichen: Das Zeichen
Die Eigenschaft des Eindringens wird dem Holzgewächs zugeschrieben, dessen Wurzeln in die Erde dringen und dessen Schösslinge im Frühjahr mühelos den harten Boden durchbrechen. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 263. 54 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 267. 53
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Qián (☰) besteht aus drei durchgezogenen Linien, d. h. es verfügt über ausschließlich über harte, männliche Eigenschaften. Das Zeichen Kūn (☷) hingegen besteht aus drei geteilten Linien und hat durchgängige weiche, weibliche Eigenschaften. Das Harte entspricht dem Männlichen, dem Vater und das Weiche dem Weiblichen, der Mutter. Das Teilzeichen Donner (☳) verfügt über eine harte Linie an unterster Stelle, dem ältesten Sohn. Umgekehrt besteht das Teilzeichen Wind (☴) aus einer weichen Linie an unterster Stelle, der ältesten Tochter. Die Teilzeichen zeigen ihr jeweiliges Geschlecht durch die ihre Differenz markierende, gegenwendige Linie an: Das Wasser (☵) besteht aus zwei weichen Linien oben und unten, die Mitte bildet eine harte Linie und zeigt so das Geschlecht und die Stellungsfolge des mittleren Sohnes an. Das Feuer (☲) besteht aus zwei harten Linien oben und unten, die Mitte bildet eine weiche Linie, weswegen das Zeichen ein weibliches Geschlecht besitzt und in der Zeugungsfolge der mittleren Tochter entspricht usw. Durch dieses Zuordnungssystem wird ersichtlich, dass bereits die kleinsten Einheiten, d. h. die Linien, einen geschlechtsspezifischen Charakter haben, der die Symbolik der Teilzeichen bestimmt und der ausschlaggebend für das Verständnis des Linienbildes ist. Dabei spielt die Besetzung der verschiedenen Ränge und ihre Besetzung mit dem Geschlecht des Striches eine zentrale Rolle. 55 Es gibt Ränge, deren Besetzung recht (zheng) ist, nämlich wenn die ungeraden Ränge (erster, dritter und fünfter Rang) mit einem durchgezogenen, harten Strich besetzt ist. Sind die ungeraden Ränge hingegen mit einer geteilten, weichen Linie besetzt, wird das als nicht recht (bu zheng) bezeichnet. Die weichen, geteilten Linien müssen sich auf geraden Rängen (zweiter, vierter und oberster Rang) befinden, um recht zu sein. Dies ist insbesondere im Falle des zweiten und des fünften Ranges von Bedeutung: Denn der fünfte Rang entspricht dem Rang des Herrschers und des Herren (zhu) und ist mit einer harten Linie zu besetzen. Der zweite Rang entspricht in Korrespondenz dazu dem Rang des Ministers, da dieser dem Herrscher untergeordnet ist, muss er durch eine weiche Linie besetzt sein. 56 Aus dem Gefüge (der Folge) von weichen und harten Linien und ihrer Position ergibt sich eine Dynamik von Entsprechungen. Die Linien stützen einander oder verdrängen einander. Je nachdem, auf welche Position sie drängen, oder 55 56
Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 268. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 268.
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welche Position sie stützen, wird das als positiv oder negativ gedeutet. Die Position des Ministers in etwa, die durch eine weiche Linie besetzt wird, stützt die Position des Herrschers, die durch eine harte Linie besetzt ist. Drängt eine weiche Linie auf die Position einer harten Linie, wird das als unheilvoll betrachtet. Dieses Verständnis des Linienbildes im Sinne von festgefügten, als recht und nicht recht bezeichneten Rängen bringt ein hierarchisches Gefälle der Zeichen hervor, dass im Kern geschlechtsspezifisch bestimmt ist. Es bildet die methodische Grundlage für die Interpretation der Zeichen als einer idealen Herrschaftsordnung, die in den verschiedenen Überlieferungen des Yijing auf unterschiedliche Weise ausdifferenziert wird. Die Überlieferungen (zhuan) des Yijing bilden in ihrer heutigen Fassung zehn verschiedene Texte, die sogenannten ›zehn Flügel‹, die sich als eine Erläuterung des Spruchwerkes verstehen und mittels unterschiedlicher Methoden ein Verständnis desselben beanspruchen. 57 Sie lassen sich in drei Schichten einteilen. Die erste Schicht beinhaltet die beiden ältesten Überlieferungen (Ende des 4. Jh.-Angang 3 Jh. v. Chr.), die Überlieferung des Urteils (Tuanzhuan) und die Überlieferung des Bildes (Xiangzhuan). Beide Überlieferungen unternehmen den Versuch, eine Herrschaftsordnung aus den Zeichen abzuleiten, wobei sich die Überlieferung des Urteils inhaltlich auf die Erläuterung des Urteilsspruches bezieht und methodisch auf die Eigenschaften der Teilzeichen und auf das Linienbild rekurriert. Die Überlieferung des Bildes ist eine Erläuterung des Zeichens und eine Auslegung der Liniensprüche, methodisch bezieht sie sich auf die Natursymbolik der Zeichen und auf das Linienbild. Die zweite Schicht (Mitte 3. Jh.-Ende 3 Jh. v. Chr.) umfasst die Wenyan-Überlieferung (Wenyanzhuan) und das erste Buch der Überlieferung der angehängten Sprüche (Xicizhuan). Die Wenyan-Überlieferung bezieht sich ausschließlich auf die beiden ersten Zeichen Qián und Kūn und deren Überlieferung des Urteils, die anhand der Sage um König Wen erläutert werden. Sie bringt den Gedanken der Tugend Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 65. Im Grunde genommen geben diese Texte sich als Wissenstraditionen aus, die die Bedeutung des Spruchwerks und seiner Zeichen in ihre Zeit tragen. Sie sind daher nicht von dem Spruchwerk zu trennen, sondern bilden seine Versprachlichung für die jetzige Zeit. Ihre Bedeutung geht daher über eine bloße Erläuterung oder Kommentierung hinaus. Von ihrer Wirkungsgeschichte aus betrachtet, wird das Denken des Yijing, in der Form, in der es in den Überlieferungen erscheint, in den politisch-philosophischen Diskurs mit aufgenommen.
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als Eignung für den Herrscher auf. 58 Die dritte Schicht (Ende 3. Jh.– 2 Jh. v. Chr.) bildet das zweite Buch der Überlieferung der angehängten Sprüche (Xicizhuan) sowie drei weitere Texte: Die Erklärung der Zeichen, welche sich auf die Symbolik der Teilzeichen und deren Zugehörigkeit zu sogenannten Korrelationsketten (lei, Arten) bezieht, die Folge der Zeichen, die auf Grundlage der Namen der Zeichen eine Erläuterung der Reihenfolge der Zeichen darstellt und das Vermischen der Zeichen, eine Erläuterung der Namen der Zeichen durch ihre Gegenüberstellung nach Maßgabe ihrer Bedeutung. Die Überlieferung der angehängten Sprüche (auch Große Überlieferung genannt) beinhaltet eine allgemeine Abhandlung zu Idee, Wirkung und Geschichte des Orakels, eine Auslegung einzelner Sprüche anhand der Worte von Konfuzius und die Technik des Orakels. Methodisch entwickelt diese philosophisch wirkmächtigste Überlieferung kosmologische und politische Ideen, eine Auslegung der konfuzianischen Ethik und ein numerologisches Denken. 59 Die geschlechtshierarchische Dimension wird in dem Tuanzhuan (Überlieferung des Urteils) grundgelegt, sofern er die durchgezogene Linie mit dem Harten und die geteilte Linie mit dem Weichen identifiziert und vor diesem Hintergrund das Geschlecht und Wirkpotential von Qián und Kūn bestimmt. Die patriarchale Familienstruktur und hierarchische Zeugungsfolge findet sich ausgehend von dem Xiangzhuan (Überlieferung des Bildes) und wird durch die Zuordnung von Qián und Kūn zu den Naturkräften des Himmels, Vater und der Erde, Mutter gerechtfertigt. Grundlegend für beide Überlieferungen ist die Theorie der Positionen (wei), die eine normative Matrix der Besetzungen der Ränge durch harte und weiche Linie entwickelt und fest gefügte Positionen definiert, die auf die Gesellschaftsschicht übertragen werden. Dabei entspricht das Verhältnis einer weichen zu einer harten Linie dem Verhältnis des Herrschers Wen kann dabei als Epitheton der Herrschaftsbezeichnung im sakralen Kontext verstanden werden. Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 65, FN. König Wen der Zhou ist ›der die Zeichen der Herrschaft besitzende König‹, wo bei Zeichnung (wen) sowohl die Omen zur Berufung zum Herrscher als auch die Fähigkeit und Tauglichkeit, die Gottheiten und anderen Machthaber für sich zu gewinnen, bezeichnet. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 829. 59 Siehe für diese Zusammenfassung die schematische Darstellung von Dennis Schilling. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 271. Sowohl die Xicizhuan als auch die Wenyan Überlieferung der zweiten Schicht beziehen sich auf die Texte der ersten Schicht, insbesondere die Tuanzhuan Überlieferung, die auf deren Grundlage ihre Auslegungen entwickelt. 58
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zu seinem Untergebenen, von dem ausgehend das Verhältnis von Qián, Himmel und Kūn, Erde bestimmt wird. Die Wenyan-Überlieferung (Überlieferung der Worte von Wen) spezifiziert dieses Verhältnis im Hinblick auf den Weg und die Tugend des Herrschers. Die Xicizhuan-Überlieferung (Große Überlieferung oder Überlieferung der angehängten Sprüche) baut diese geschlechtshierarchische Perspektive topographisch weiter aus, indem sie Qián mit dem Himmel, dem Hohen und davon ausgehend dem Weg des Männlichen und Kūn mit der Erde, dem Niedrigen und davon ausgehend dem Weg des Weiblichen gleichsetzt. Die Auslegungen der Überlieferungen zielen darauf ab, eine Entsprechung herzustellen zwischen der im Yijing abgebildeten Ordnung der Zeichen und der Ordnung des Kosmos, des Staates und der Gesellschaft. Das Yijing dient auf diese Weise als eine Rechtfertigung des hierarchischen und geschlechtsbasierten Staats- und Gesellschaftssystems. Es wurde bereits gesagt, dass das Yijing für gewöhnlich mit dem Denken von yin yang in Verbindung gebracht wird: Dabei wird das Verhältnis von Qián und Kūn, das für die älteren Schichten des Yijing sinnbestimmend ist, mit der vor allem während der Han-Dynastie weit verbreiteten Relation von yin yang, tian di (Himmel-Erde) und nan nü (Mann-Frau) gleichgesetzt. Diese Gleichsetzung kann im Yijing jedoch nur ausgehend von den Überlieferungen ausfindig gemacht werden. In den älteren Schichten des Yijing ist weder die Analogie yin yang, noch auch diejenige von Himmel und Erde (tian di), oder nan nü (Mann-Frau) gegeben, es findet sich noch nicht einmal der Terminus yin yang selbst, der mit dem Yijing traditionell in Verbindung gebracht wurde: Diese Termini werden erst mit den Überlieferungen in die Zeichen des Yijing und in das Spruchwerk eingeschrieben und mit den für das Yijing maßgeblichen Zeichen Qián und Kūn in Verbindung gebracht. Es ist davon auszugehen, dass das für das Gesamtverständnis des Yijing grundlegende Verhältnis von Qián und Kūn durch das in den Überlieferungen applizierte Modell von tian di, yin yang und nan nü in ein fixierendes geschlechtshierarchisches Modell eingebunden wird. Die Differenzierung zwischen den älteren Schichten des Yijing und den Überlieferungen ist daher wesentlich im Hinblick auf das subordinative Verständnis von Kūn, das sich ausgehend von den Überlieferungen durchgesetzt hat. Zwar ist die Geschlechtsthematik auch in dem Spruchwerk präsent, auch findet sich eine zeitlich strukturierte und hierarchische Anordnung des Spruchmaterials, jedoch wird das Geschlecht in den Sprüchen an132 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Einführung in das Yijing
ders verstanden: Im Zentrum steht mehr eine periodische Erneuerung der Fruchtbarkeit, für welche die Dynamik des Zeichens Kūn und mit ihm in Verbindung stehende Assoziationen des Weiblichen maßgeblich sind. Ausgehend von der Übertragung geschlechtshierarchisch operierender Korrelationen wie tian di, nan nü und yin yang auf das Verhältnis von Qián und Kūn wird das Zeichen Kūn als Erde, yin (weiblich) dem Zeichen Qián, Himmel, yang (männlich) nicht nur bei-, sondern zugleich auch untergeordnet. Dabei ist die in den Texten der Überlieferungen vollzogene Identifikation von Kūn und Qián mit Himmel und Erde (im Sinne des Gegensatzmodells tian di) nicht zwingend. Ausgehend von den älteren Schichten des Yijing geben Qián und Kūn primär religiöse und mythische Symbole wieder: Bereits zur Entstehungszeit des Yijing wurden die Zeichen als Embleme von Wesen – von Gottheiten, Ahnen der Geschlechter und von Tieren – verstanden, denen spezifische Wirkungsmächte auf die Geschehnisse der Welt zugeschrieben wurden, die eigentlich dahinter stehenden Gottheiten und ihr Verständnis – etwa des Himmels und der Erde – bleiben jedoch unklar. Qián und Kūn sind demnach nicht identisch mit ›Himmel und Erde‹ (zumindest nicht vor dem Hintergrund der gängigen komplementärlogisch konstruierten Modelle), bzw. nicht ohne weiteres mit ihnen identifizierbar. 60 Die auf Gegensätzlichkeit und Trennung basierende komplementärlogische Bestimmung der Überlieferungen scheint eine Verkürzung und Reduktion des ursprünglichen Verhältnisses und auch Verständnisses von Qián und Kūn – insbesondere auch hinsichtlich der Gestalt und Macht der hinter ihnen wirkenden Gottheiten – darzustellen und sie in eine feste Konzeption und Interpretationsschemata einzubinden, die eine Subordination der Erde unter den Himmel nach sich zieht. Diese Subordination und die ihr entsprechende Bestimmung von Kūn ist sinnstiftend für den gesamten machttheoretischen Ausbau des Yijing. Entgegen dieser Subordinationslogik der Überlieferungen scheint in dem Spruchwerk noch ein anderes Verständnis von Kūn und der eigenständigen Macht der mit diesem Zeichen verbundenen Gottheit und Macht durch. Es lassen sich dabei Motive aufgreifen, die nicht nur die periodische Form der Erneuerung der Fruchtbarkeit, die
Weder sind ihre Namen etymologisch rekonstruierbar noch ist die genaue Bedeutung der Zeichen bekannt.
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wesentlich mit Kūn verbunden ist, aufzeigen, sondern zugleich auch die ursprüngliche Entscheidungsmacht von Kūn kenntlich machen.
2.
Ku¯n in dem Spruchwerk des Yijing: Die archaische Macht der Erde
Zweites Zeichen: ䷁ Kūn 61 Das Hauptopfer an den [Ahn] des Erdreichs ist der Weihung an die Urstute dienlich. Dem Fürstensohn steht der Aufbruch bevor: Er irrt zuerst, dann erreicht er den Herrn. Dienlich ist [er] ihm, im Südwesten Freunde zu gewinnen und im Nordosten Freunde zu verlieren. Die Verkündigung von Wohlbefinden an die Ahnen verheißt Glück. Anfangs eine Sechs [Beim Aufbruch] tritt man auf Reif. Bei hartem Eis kommt man an. Sechs auf zweitem Rang Man richtet das winklige Land zu Größe auf. Man ist unerfahren, [doch] gibt es nichts, dem es nicht dienlich ist. Sechs auf drittem Rang Das ummantelte Mal. Die Ahnenweihe kann durchgeführt werden. Jemand folgt dem Dienst des Königs. Der Wirkungslose wird bewahrt. Sechs auf viertem Rang Man bindet den Sack zu. Es hat weder Tadel noch Lob. Sechs auf fünftem Rang Man färbt gelb das Untergewand. Großes Glück.
Das im Folgenden wiedergegebene Spruchwerk zu dem Zeichen Kūn entspricht der Übersetzung von Dennis Schilling. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19 f.
61
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Ku¯n in dem Spruchwerk des Yijing: Die archaische Macht der Erde
Oben eine Sechs Die Drachen kämpfen auf freiem Feld. Ihr Blut ist gelb und dunkel. Verwende die Sechs Dienlich ist es, um den Ahnen langes Bestehen zu verkünden.
Die Sprüche zu Kūn gehören neben dem Zeichen selbst zu der ältesten Schicht des Yijing und bilden nicht nur das direkte sprachliche Zeugnis von Kūn, sondern enthalten zugleich tiefe Bedeutungsschichten ihres ursprünglichen Verständnisses. 62 In den Sprüchen des Yijing finden sich bestimmte wiederkehrende Themenbereiche: darunter die Heirat, das Reisen, die Feldzüge und das Ahnenopfer. 63 Dem Ahnenkult sowie den damit verbundenen Opferritualen kommen eine ausgezeichnete Rolle in den Orakelsprüchen des Yijing zu. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Zeichen des Yijing auch auf Embleme von Gottheiten und Geschlechtern zurückführen lassen. 64 So verbirgt sich hinter dem Emblem von Kūn, aus der Perspektive des Spruchwerkes betrachtet, offenbar das Wirken einer archaischen Macht oder Gottheit, die mit der Erde und dem ihr zukommenden Kult in enger Verbindung gestanden haben muss, wie aus dem Orakelspruch des Zeichens hervorgeht. 65 Dabei werden die Gottheiten im Yijing nicht nur als ›Ahnen‹ der Geschlechter verstanden, sondern stehen oft auch in einem engen Bezug zu Tieren, welche zugleich als Totemzeichen der Geschlechter aufgefasst werden können. 66 Im Zusammenhang mit dem Orakelspruch zu Kūn – wo das Das Spruchwerk gehört zu den Werken der vorklassischen Literatur Chinas. Es unterscheidet sich sprachlich von dem klassischen und antiken Chinesisch, in welchem die Literatur ab dem 6. Jahrhundert verfasst wurde (darunter die philosophischen Werke). Zur vorklassischen Literatur zählen auch das Buch der Lieder (Shijing), die Bronzeinschriften auf Ritualgefäßen der Zhou-Zeit und Das Buch der Urkunden (Shujing). Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 295. 63 Diese Motive lassen sich sehr gut in den Kontext der Bronzeinschriften und der Zhou-Zeit einfügen, in der die Wirklichkeit durch kriegerische Auseinandersetzungen der Staaten, ihrer politischen Rechtfertigung und den entsprechenden Opferritualen bestimmt wurde. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 297 f. 64 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 374. 65 »Das Hauptopfer an den [Ahn] des Erdreichs ist der Weihung der Urstute dienlich.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 66 Vielen Zeichen des Yijing liegen Tiervorstellungen zugrunde, welche einen Bezug zu Gottheiten haben. Die Gottheiten sind als Ahnen der Geschlechter zu verstehen und treten in mythischen Zusammenhängen häufig als jene Tiere auf, die auch die 62
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Opfer an die Ahnenmacht oder Ahnengottheit der Erde gerichtet ist – wird daher die ›Urstute‹ genannt, die ein dezidiert weibliches Geschlecht trägt. Die ursprüngliche Macht oder Kraft der Erde, die mit dem Zeichen Kūn in dem Orakelspruch des Zeichens in Verbindung gebracht wird, kommt auch in verschiedenen Motiven des Spruchwerks zur Geltung: In den Liniensprüchen zu Kūn sind zunächst die Motive des Räumlichen (2. Spruch) 67 und auch des Zeitlichen (1. Spruch) 68 versammelt. 69 Es zeigen sich darin die Muster der Fruchtbarkeit, die wesentlich für die Wirkkraft von Kūn sind. Kūn kommt die Kraft des Werdens – das Austragen der Frucht (4. Spruch) 70 – und die Kraft des Vergehens – das Zerstören der Frucht (6. Spruch) 71 – zu. Auch zeigt sich die Bereitschaft von Kūn, in sich etwas aufzunehmen und Gestalt werden zu lassen (5. Spruch). 72 Zugleich kommt ihr jedoch auch eine Entscheidungsmacht (3. Spruch) 73 zu. Hierin wird bereits eine grundlegende Differenz zwischen dem Verständnis von Kūn im Kontext des Spruchwerks und demjenigen, das Kūn im Kontext der Überlieferungen gewinnen wird, offensichtlich: Während die zeitlich betrachtet späteren Überlieferungen Kūn im Sinne der Wirkkraft der Erde passiv als ein Sich-Fügen und damit die weibliche Empfänglichkeit als eine untergeordnete Kraft deuten, kommt Kūn in dem Spruchwerk nicht nur die Kraft des Werdens und Vergehens, sowie eine Bereitschaft zum Empfangen, sondern zugleich auch eine Ent-
Embleme der Geschlechter sind. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 307. 67 Sechs auf zweitem Rang: Man richtet das winklige Land zu Größe auf. Man ist unerfahren, [doch] gibt es nichts, dem es nicht dienlich ist. Die Wiedergabe der Liniensprüche zu dem Zeichen Kūn entspricht der Übersetzung von Dennis Schilling. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19 f. 68 Anfangs eine Sechs: [Beim Aufbruch] tritt man auf Reif. Bei hartem Eis kommt man an. 69 Diese Motive des Räumlichen, der Kraft des Werdens und Vergehens und damit verbunden der Fruchtbarkeitszyklen werden für die Revision von Kūn und die Dekonstruktion der Hermeneutik der Überlieferungen von Bedeutung sein. 70 Sechs auf viertem Rang: Man bindet den Sack zu. Es hat weder Tadel noch Lob. 71 Oben eine Sechs: Die Drachen kämpfen auf freiem Feld. Ihr Blut ist gelb und dunkel. 72 Sechs auf fünftem Rang: Man färbt gelb das Untergewand. Großes Glück. 73 Sechs auf drittem Rang: Das ummantelte Mal. Die Ahnenweihe kann durchgeführt werden. Jemand folgt dem Dienst des Königs. Der Wirkungslose wird bewahrt.
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scheidungsmacht zu. Kūn trägt alle Wesen 74, aber dieses Tragen versteht das Spruchwerk offenbar als eine Form des Gewährens, das von Kūn ausgeht. Für das Wirken der Wesen ist es gleichzeitig notwendig, die Macht oder Kraft von Kūn zu gewinnen, insofern sie über Erfolg oder Misserfolg bestimmter Ereignisse entscheidet. Dies besagt, dass die Wesen einen Zugang zu der Macht von Kūn haben, bzw. es ein spezifisches Interaktionsverhältnis gibt, innerhalb dessen die Macht von Kūn gewonnen werden kann. Kontrollieren können die Wesen die Macht von Kūn jedoch nicht: Lediglich um die Zuneigung oder Unterstützung von Kūn können die Wesen bitten, oder sich bemühen, sie auf bestimmtem Wege zu erlangen, indem sie in etwa ihre Tauglichkeit unter Beweis stellen. Dies wird auch aus anderen Zeichen des Yijing deutlich, die in einem engen Zusammenhang mit dem Zeichen Kūn stehen. Im 24. Zeichen, das, wie wir später noch genauer sehen werden, als Wiederkehr oder Umkehr bezeichnet werden kann, lässt Kūn die Wesen wieder oder auch umkehren, jedoch spielen dabei die Erwartungen, die an den Um- oder Wiederkehrenden gestellt werden, eine zentrale Rolle. Kūn erscheint hier als eine Art Richterin. Der Vollzug der Umkehr wird zur Grundlage der Beurteilung von Erfolg und Misserfolg. 75 Nicht unerheblich für die Beurteilung von Erfolg und Misserfolg ist dabei der genaue der Zeitpunkt der Umkehr sowie die Haltung des Umkehrenden: Opfer werden vollbracht, welche den Vorgang der Umkehr begünstigen sollen. 76 Die Gunst oder Ungunst des Umkehrenden ist abhängig von der Prüfung, die Kūn vollzieht. Dasselbe zeigt sich auch in der Zerstörungskraft von Kūn, die nicht nur in dem 6. Spruch des Zeichens von Kūn zu sehen ist, sondern auch in dem 23. Zeichen Bo (Das Schinden). So übersteht die Frucht auf dem 6. Rang, der eigentlich die Zersplitterung des Harten vorsieht, ihre Zerstörung vermöge der ihr selbst innewohnenden Integrität und Kraft, während andere Wesen verWesen (wu) bezeichnet eigentlich das Opfertier und dann allgemein jegliches »Wesen«. Ausgehend von einem archaischen, d. h. mythisch-rituellen Denken lässt sich der Begriff Wesen nicht auf den Komplex Menschen-Tiere-Pflanzen einschränken, sondern impliziert auch Geister und Götter auf der nicht-menschlichen Ebene. 75 »Man kehrt nicht von weither um. Keine große Schmach. Höchstes Glück.«; »Man kehrt in Gnaden zurück. Glück.«; »Dringende Umkehr führt zu Gefahr. Kein Tadel ist gegeben.«; »Mitten des Weges kehrt man alleine um.«; »Beflissen ist man, umzukehren. Keine Schmach.«; »Man kehrt irregleitet um. Unheil.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 86 f. 76 »Opfert man bei der Wiederkehr (an Tagen der Sonnenwende), bringen Ein- und Ausgehen keine Krankheit.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 86. 74
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gehen. 77 Das Zerstören, Schinden und Schälen wirken auf dieser Stufe als Auslese und Bestätigung. 78 Hieraus wird ersichtlich, dass Kūn in den Liniensprüchen nicht nur die Kraft des Werdens und Vergehens auf der Grundlage ihrer Bereitschaft, in sich selbst etwas aufzunehmen und Gestalt werden zu lassen, zukommt, sondern ihr auch eine Wahl und Entscheidungskraft obliegt, die ihre eigenständige Macht kennzeichnet: Kūn wählt aus, sie prüft und richtet. Dabei erscheint die Prüfung der Wesen nicht sofort: Die Wesen gehen in die Irre, sie verlieren den Weg oder ihr Vermögen, oder befinden sich an einem falschen Ort. Insbesondere der Gedanke des Ortes erhält mit der Prüfungsmacht von Kūn an Bedeutung. 79 Die Fruchtbarkeit bildet demnach in den Liniensprüchen des Yijing einen sehr wichtigen Gedanken, wird jedoch nicht auf dieselbe Weise betont bzw. verstanden, wie dies in den Überlieferungen des Yijing der Fall ist, wo die Fruchtbarkeit der Erde im Sinne des Sich Fügens im Dienste der Macht des Himmels steht – also eine grundlegend andere Konnotation hat. Der Gedanke, dass das Lebendige aus einem ursprünglichen Gewähren hervorgeht und die Wesen in ihrem Wirken, um die Unterstützung von Kūn zu gewinnen, sich zu bemühen haben, und zwar um etwas, dass sie letztendlich nicht kontrollieren können, kann für das Ethos des Unverfügbaren fruchtbar gemacht werden. Dies gilt vor allen Dingen hinsichtlich der Frage nach der Haltung des (modernen) Menschen gegenüber der Erde, sofern Erde nicht nur, wenn man sich von der absolutistisch-reduktionistischen Modalität ihrer Rezeption im vergegenständlichenden, modernen und epistemisch-zentrierten Denken distanziert, als Figur »Eine Frucht wird nicht gegessen. Den Fürstensohn empfängt man mit Wagen. Dem geringen Mann zerstört man die Unterkunft.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 83. 78 Auch aus den Sprüchen der Zeichen 15 (Die Demut) und 16 (Die Ankündigung) wird deutlich, dass es einen Zugang zu Kūn gibt der in der Gewinnung ihres Beistandes liegt. Die Wesen bemühen sich um ihre Macht, gleichzeitig bedienen sie sich aber auch ihrer. In den Zeichen 7. (Das Heer) und 8. (Die fruchtbare Vereinigung) zeigt sich eine fast anarchische Neigung von Kūn: Als Heer und freier Gefolgschaft ist sie in der Lage bestehende Ordnungen umzuwerfen und neue zu begründen. Das Heer hat die Kraft Länder zu erschließen und Fürstenhäuser fortzuführen, also eine Dynastie zu gründen. Das Heer handelt in den Liniensprüchen – im Vergleich zu der Überlieferung, in welcher Gehorsam gegenüber dem Führer den Erfolg verspricht – dabei ohne Befehl. 79 »Dienlich ist es dem Aufbruch an einen anderen Ort.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 86. 77
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einer materiellen Ganzheit oder phänomenal bestimmbares Seiendes fungiert, sondern als Gottheit oder Kraft erfahrbar wird. 80 Das Verständnis des Spruchwerkes von Kūn weist dabei auf einen Kontext, worin eine Art Haltung des Menschen gegenüber der Erde als einer archaischen Macht zur Geltung kommt, die zwar von ihm anerkannt wird und ihm gewissermaßen auch übergeordnet ist, die ihm jedoch nicht gänzlich entzogen bleibt, sondern mit der er interagieren kann und die er auch erschließen oder deren Macht er gewinnen kann durch kodifizierte Rituale (wie dem Opferritual). 81 Dies bedeutet zugleich, dass Kūn als diese Kraft oder Macht verstanden – im Kontext des Ahnenkultes – nicht gänzlich unverfügbar ist für die Machenschaft des Menschen. Die Menschen können sich durch eine Bitte oder Botschaft an die Ahnen, an die Gottheiten wenden, während die Gottheiten den Menschen ein gewisses Treuezeichen verleihen. 82 Dieses Verständnis – eines Zuganges des Menschen zu einer Macht oder Kraft mittels der Zeichen – kehrt auch in den Überlieferungen wieder, wonach die Berufenen die inneren Kräfte des Reiches wahrnehmen und abbilden konnten: Durch die Abbildung konnten sie wiederum auf die Gottheit einwirken. 83 Die Embleme der Gottheiten oder Geschlechter, worauf die Zeichen zurückgeführt werden, geben hiernach in sich ein Bild des Reiches wieder, das von dem Geschlecht der Ji aus Zhou, die sich als Söhne des Himmels verstanden, verwaltet wird. Der Fruchtbarkeitskult und die Verehrung verschiedener Gottheiten und Ahnen, die das Reich bevölkern, welches »unter dem Himmel« ist (tian xia), steht im Mittelpunkt der Legitimierung der Herrschaft des Geschlechtes der Zhou und ihrer Einbindung in einen Entstehungsmythos der Welt. 84 Dass die Embleme des Yijing immer schon mit Ahnengottheiten und Dieser Zusammenhang wird in dem letzten Kapitel, im Kontext der Herausstellung der eigenen Signifikanz von Kūn (gegenüber Chora und Physis) mit Blick auf das Ethos des Unverfügbaren und einem darauf basierenden Denken der Erde, aufgegriffen. 81 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung S. 374. 82 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 298. Die Vorlagen für die Angaben in den Sprüchen der Zeichen des Yijing, dass den hinter den Emblemen stehenden Gottheiten und Mächten zu opfern sei und daß das Opfer an diese Mächte die Ahnen günstig stimme, scheinen dabei auf Ritualvorschriften zurückzugehen, die möglicherweise schon früh mit den divinatorischen Texten zusammen gefallen sind. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 374. 83 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 326. 84 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 374. 80
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
mythologischen Wesen verbunden waren, erklären die späteren Entstehungsmythen auf eine andere Weise, wo die Embleme nicht mehr als Totemzeichen oder Klanzeichen der Ahnengottheiten betrachtet wurden, sondern als Zeichen von Wirkkräften der Natur, die von Gottheiten geschaffen und den Menschen zur Verfügung gestellt worden sind. Beiden Auffassungen ist gemeinsam, dass in den Zeichen Wirkkräfte inhärent sind, welche sich im Sinne eines ›Abbildes‹ der Kräfte des Reiches mit der Macht des Orakels befragen und bestimmen lassen. 85 Insofern handelt es sich bei Kūn aus der Perspektive des Spruchwerkes zwar um eine sehr machtvolle Ahnengottheit oder Macht der Erde, jedoch erscheint sie selbst – zumindest zu einem gewissen Zeitpunkt – eingebettet in einen Herrschaftskult, innerhalb dessen Kūn nicht nur zugänglich wird durch Opferrituale oder ähnliches, sondern auch instrumentalisiert wird bis hin zu ihrer Bestimmung als ein Sich-Fügen der Erde in den Überlieferungen des Yijing.
3.
Ku¯n in den Überlieferungen des Yijing: Die Gefügigkeit der Erde
Das Zeichen Kūn wird in den Überlieferungen des Yijing als Erde bzw. als die Wirksamkeit der Erde aufgefasst. Die Identifikation von Kūn mit der Erde geschieht in Entsprechung zu der Bestimmung des sie im Yijing komplementär ergänzenden Zeichens Qián, das umgekehrt als die Wirkmacht des Himmels verstanden wird. Die Interpretation der Wirkkraft von Kūn enthält unterschiedliche Nuancierungen in den verschiedenen Überlieferungstexten. Allen Überlieferungen gemeinsam ist der definitorische Rückbezug von Kūn zur Erde und der spezifischen Dynamik mit ihrem als Walten des Himmels aufgefassten Komplementärzeichen Qián. Obwohl die Auffassung der Erde in Entsprechung zu der Weise, wie die Dynamik zwischen Himmel und Erde gedacht wird, unterschiedlich ausfällt, lässt sich die Tendenz einer hierarchisierenden Unterordnung der Erde in Bezug auf den Himmel und damit eine Einschränkung der Wirkmacht von Kūn auf unterschiedlichen Ebenen in den verschiedenen Schichten und Arten der Überlieferungstexte feststellen. Die Aspekte, welche die Wirkkraft von Kūn bestimmen, beziehen sich vor dem Hintergrund ihrer Identifikation mit der Erde zunächst auf ihre 85
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 286.
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Ku¯n in den Überlieferungen des Yijing: Die Gefügigkeit der Erde
Fruchtbarkeit (hou, wörtlich ›Dicke‹), Ausdehnbarkeit, Empfänglichkeit und damit verbunden ihrer Fähigkeit des Austragens und Beförderns (zai) der Lebewesen. Intrinsisch damit verknüpft ist jedoch die besondere Konnotation ihrer Gefügigkeit, Fügsamkeit (shun), die im Rahmen der variierenden Aspekte, welche die Erde umfasst, zu dem maßgeblichen Konzept der Bestimmung der Wirkkraft von Kūn ausgehend von den Überlieferungen des Yijing wurde. Kūn wird in den Überlieferungstexten des Yijing im Ganzen als das Sich-Fügen der Erde definiert. Der Auffassung von Kūn als dem Sich-Fügen der Erde steht die Wirkkraft von Qián als dem Walten des Himmels gegenüber: Der Himmel waltet, die Erde fügt sich. Aspekte des Harten, der Stärke, des Kräftigen, Zwingenden, Lenkenden und Richtenden bringen die Vorstellung der Macht- und Herrschaftsposition zum Ausdruck, die mit der Wirkkraft des Himmels in Verbindung gebracht wurde. Die aus den Überlieferungen des Yijing stammende Form der Bestimmung von Kūn als der – dem Himmel gegenüber – fügsamen Erde wurde auch in den meisten (darunter auch historisch kritischen) Übersetzungen des Yijing mitübernommen. Die in der Konnotation der Gefügigkeit sehr auffällig werdende hierarchische Unterordnung der Erde unter den Himmel und damit die Tatsache einer grundlegenden Asymmetrie zwischen dem Himmel und der Erde wurde dabei oft nicht gesehen, oder nur ungenügend thematisiert. Im Folgenden soll es darum gehen, das Verständnis von Kūn, seine Variationen und Konnotationen in den verschiedenen Überlieferungstexten des Yijing zu rekonstruieren. Es soll gezeigt werden, dass sich in allen Überlieferungstexten eine Kūn hierarchisch unterordnende Tendenz zeigt, obschon diese unterschiedlich ausgeprägt ist und in ihren Konnotationen durchaus variiert. Dabei erscheint die Bezeichnung des Fügsamen bzw. der Gefügigkeit für die Erde bzw. Kūn bereits in der ältesten Überlieferung des Yijing, in der Überlieferung des Urteils (Tuanzhuan), die zugleich Aufschluss über die archaische Machtstruktur gibt, die in den Zeichen des Yijing zum Ausdruck kommt. Es zeigt sich, wie die Auslegung der in den Zeichen des Yijing abgebildeten Ordnung der Natur das Model für die Entwicklung und Legitimation der gesellschaftlichen Herrschaftsstruktur abgibt. In der Umsetzung dieser archaischen Machtstruktur nimmt das Konzept der Gefügigkeit der Erde eine zentrale Rolle ein. Die Überlieferung des Urteils, welche generell als der älteste Text der ›Zehn Flügel‹ bekannt ist, bezieht sich, wie gesagt, in seiner Auslegung auf das durch harte und weiche Linien sich ergebende Linienbild. Das 141 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
Linienbild wird dabei als ein Zeugungsakt verstanden, wobei die harte Linie mit dem Phallus und die weiche Linie mit der Vulva korrespondiert. Das Linienbild ist gleichzeitig Ausdruck der politischen Herrschaft. Dem Zeugungsakt entspricht ein Herrschaftsakt, so dass sich, wie wir sehen werden, die 64 Zeichen des Yijing aus der Perspektive des Tuanzhuan als die Entstehung und Festigung einer Herrschaftsordnung lesen lassen, in dessen Zentrum die Inthronisierung des Herrschers als Sohn des Himmels steht. 86
4.
Die Überlieferung des Urteils: Fügsamkeit als Konstituens der Herrschaftsordnung
Den Anfang markieren die Zeichen Kūn und Qián, die in der Einleitungsformel der Tuan-Überlieferung als die Urahnen aller Wesenheiten und Geschlechter betrachtet werden: »Groß war der Erstling des Zapfens [qian yuan]! Die zehntausend Wesen [wan wu] bedienten sich seiner zu [ihrem] Beginn [shi].« 87 »Weit erstreckt sich der Erstling des Erdreiches [kun yuan]! Die zehntausend Wesen bedienten sich seiner zu ihrer Geburt [sheng].« 88 Als generative Urspungsmächte (kun yuan/qian yuan) der zehntausend (unzähligen) Wesen oder Dinge (wan wu) kommt Qián und Kūn im Vergleich zu den anderen Zeichen eine Sonderstellung zu. Der Terminus yuan (üblicherweise als groß, da, 大 gelesen) bezieht sich hier auf das Haupt und auf den Anfang oder Ursprung (元), der den Namen Kūn
Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 386 f. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 12. 88 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. In der vorliegenden Übersetzung wird Kūn als Erdreich, und Qián als Zapfen übersetzt. Dem kosmologischen Bild des Zapfens würde die Nut oder auch das Hohlgefäß entsprechen, womit Kūn unter anderem identifiziert wird. Die Übersetzung von Kūn als Erdreich setzt einerseits die Identifikation von Kūn mit der Erde voraus und antizipiert anderseits die Qualitäten, die mit ihr in Verbindung gebracht werden. In dem Text der Überlieferung selbst ist jedoch zunächst nur von dem Erstling Kūn (kun yuan) und dem Erstling Qián (qian yuan) die Rede, die in den folgenden Sätzen mit Erde und Himmel in Verbindung gesetzt werden. Rainald Simon bezieht Kūn und Qián direkt auf Himmel und Erde: »Auf dem Höhepunkt, wahrlich, ist die Güte der Erde, gestützt darauf entstehen die zehntausend Dinge.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 39. »Groß wahrlich ist der Himmel, [denn] die zehntausend Dinge stützen sich auf diesen Ursprung.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 18. 86 87
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Die Überlieferung des Urteils
und Qián zugeordnet wird. 89 In Bezug auf das Wirken von Kūn und Qián erhält er unterschiedliche Bestimmungen. Die ursprüngliche Wirkmacht von Kūn wird in ihrer Weite (zhi) gesehen: Die Weite bezieht sich einerseits darauf, dass Kūn alles erreicht, dass sie überall hinkommend, umfassend ist. Vor dem Hintergrund späterer Bestimmungen wird es ersichtlich, dass sich die Weite auch auf das Erstrecken und auf die Dehnbarkeit von Kūn bezieht. Die ursprüngliche Weite und Dehnbarkeit von Kūn wird komplementärlogisch mit der ursprünglichen Größe und Stärke von Qián kontrastiert: Fruchtbarkeit und Zeugungsmacht kommen in den Zeichen von Kūn und Qián zum Ausdruck. Dabei hat die Größe von Qián Gültigkeit über alle anderen Formen. Qián ist kraftvoll tätig (jian), lenkt (tong) und richtet (zheng). Seine Übersetzung als ›Zapfen‹ ist der Schreibung von Qián als Türbolzen entnommen und antizipiert die sexuelle und geschlechtliche Metaphorik, die in beiden Zeichen deutlich hervortritt. 90 Den Anfangszeilen der Überlieferung zufolge bedienten sich oder stützten sich (zi) die zehntausend Wesen zu ihrem Beginn und zu ihrer Geburt auf Qián und Kūn. Dies deutet darauf hin, dass Kūn und Qián primär als Stütze und Quelle im Sinne einer Ressource oder eines Kapitals für die zehntausend Dinge betrachtet werden. Sie sind daher nicht direkt mit Himmel und Erde gleich zu setzen, sondern vielmehr als deren Vermögen, deren Potenzen und Geschlechter anzusehen, die später die Formen von Himmel und Erde annehmen, bzw. in Form von Himmel und Erde wirksam werden. Qián und Kūn bringen so die zehntausend Wesen nicht nur hervor (in der Form von Himmel und Erde), sondern reduplizieren sich selbst in den Wesen als deren Potenz. Der Grund für die Entstehung der Vielfalt aller Lebewesen (der Dinge und Geschlechter) wird auf die Potenz von Qián, seiner Zeugungstätigkeit, die dem Phallus entspricht und auf die Potenz von Kūn, ihrer Fruchtbarkeit, die der Vulva entspricht, zurückgeführt. Die Vorstellung von Kūn und Qián als Urformen der Geschlechtsorgane ist dem Aufbau ihrer Zeichenbilder nachempfunDie übrigen Zeichen werden im Vergleich zu Kūn und Qián lediglich als da (groß) anstatt als yuan (Anfang, Ursprung, Erstlinge) bezeichnet. 90 In dem Mawangdui-Text steht statt des Schriftzeichens Qián das Wort juan, (nach dem Liji) der Türbolzen oder Riegel für ein Schloss. Türbolzen und Schloss verhalten sich wie Penis und Vagina. Mit Bolzen und Schloss lassen sich Vorstellungen des ›Öffnens‹ und ›Schließens‹ wie auch des Geschlechtsverkehres verbinden. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar S. 423. 89
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
den: Kūn – ䷁ – besteht aus sechs durchgängig weichen (offenen) Linien, Qián – ䷀ – aus sechs harten (geschlossenen) Linien. In ihrer Dynamik reflektieren sie die Bewegungen der Geschlechtsorgane, wie Öffnen und Schließen, Zusammenziehen und Ausstrecken. Beide Bewegungen sind Formen der Ausdehnung: Größe entsteht aus den Bewegungen des Phallus und Weite aus denen der Vulva. 91 Darauf basierend werden sie mit verschiedenen kosmologischen Bildern, wie Zapfen und Nut und Türbolzen und Schloss, identifiziert. Das ausgehend von der späteren Großen Überlieferung (Dazhuan) oft verwendete Bild von Qián und Kūn als dem ›Tor der Wandlungen‹ geht auf diese Vorstellungen zurück. Einander gegenüberstehend bilden Kūn und Qián das zweiflüglige Tor, durch das hindurch unablässig der Prozess der Wandlung hindurchgeht. 92 Einerseits betont das im späteren Verlauf noch weiter zu vertiefende Symbol des Tores den dualen Charakter (und geschlechtsspezifisch unterschiedenen Charakter) von Qián und Kūn, der insbesondere in der symmetrischen Bestimmung des Urteilstextes unterstrichen wird, anderseits deren Einheit oder einheitliches Zusammenwirken, was in der Großen Überlieferung zu der Grundlage der Bestimmung von yi, dem Konzept der ›Wandlungen‹, wird. 93 Innerhalb der Parallelstellung der Sätze fallen trotz der symmetrischen Struktur weitere gegensätzliche Bestimmungen auf: Die Ursprungskraft von Kūn zeigt sich, wie bereits gesagt, in ihrer Weite und damit verbunden ihrer Fruchtbarkeit, während die Ursprungskraft von Qián in seiner Größe liegt, die darin besteht, alles im Sinne der Zeugungsmacht zu lenken. Dieser Vorstellung entspricht die Sichtweise, dass die Lebewesen in dem Zeichen von Qián beginnen, während sie in dem Zeichen von Kūn geboren werden. Qián korreliert mit dem ›Beginn‹ (shi, 始) der Lebewesen und Kūn mit der ›Geburt‹ (sheng, 生) der Lebewesen. 94 ›Beginn‹ und ›Geburt‹ können konkret als die verschiedenen Momente im Prozess der Prokreation aufgefasst werden: Befruchtung, Schwangerschaft und Gebären. Dabei lassen sich ›Beginn‹ und ›Geburt‹ der Lebewesen, wie es im FolVgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 424. Vgl. François Jullien: Denkzugänge, Mögliche Wege des Geistes, übers. v. Till Bardoux, Berlin 2015, S. 34. 93 Auf dieses metaphorische Bild und der damit verbundenen Konzeption der Wandlung wird in dem Abschnitt zur Xicizhuan-Überlieferung ausführlich eingegangen werden. 94 Sheng bezieht sich auf den Lebens- und genauer den Wachstumsvorgang. 91 92
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Die Überlieferung des Urteils
genden noch deutlicher werden soll, auch im Sinne des Zeitlichen und Räumlichen verstehen, wobei das Zeitliche mit Qián und das Räumliche mit Kūn korrespondiert. 95 Semantisch hängt das ›Beginnen‹ mit einem Impuls, einer Anregung, einem Anstoß zusammen, damit, dass etwas in Bewegung gesetzt wird. Das Verhältnis wird offenbar so verstanden, dass von Qián ein Impuls, eine Anregung, ein Anstoß ausgeht: Qián setzt etwas in Bewegung, er löst etwas aus. Shi verweist auf Qián als initiatorisches Vermögen 96, als dasjenige, von dem ausgehend die Lebewesen entstehen, und zwar im Sinne ihrer Abstammung, ihrer Erzeugung und ihrer Identität (ein Verhältnis, das intrinsisch auf den Himmel übertragen wird). Als rezeptives Vermögen 97 wird Kūn von diesem ursprünglich von Qián ausgehenden Impuls angeregt, sie setzt den von Qián ausgehenden Anstoß fort, indem sie (in Form der Erde) die Lebewesen gebiert: Sheng hängt mit dem Ort der Geburt zusammen, als dasjenige, woraus die Lebewesen entstehen, im Sinne ihres Hervorbrechens, ihres in das Sein und in die Erscheinung Gelangens, ihrer (Re-) Produktion. Die potentielle Macht von Qián und Kūn wird von dem Prozess der Generation, die von der Vereinigung von Himmel und Erde ausgeht, nicht erschöpft, sondern vervielfältigt sich mannigfach in den Wesen. Himmel und Erde können in diesem Sinne als die Agenten der Grundwirkkräfte von Qián und Kūn betrachtet werden. 98 Diese Unterscheidung wird in den folgenden Beschreibungen des Urteilstextes deutlicher, indem auch die Vormachtstellung der Zeugungsmacht von Qián zum Ausdruck kommt. So wird die Initiation der Geburt der Lebewesen von der Wirkmacht von Qián ausgelöst und bestimmt. Ursprünglich gebietet Qián über den Himmel und lässt Wolken ziehen und Regen fallen: »Sodann lenkt der [Zapfen] den Himmel.« 99 »Wolken ziehen, Regen fällt: Der Aspekt des Räumlichen, der mit der Wirkkraft von Kūn in Verbindung gebracht wird, dient in den Texten der Überlieferungen ihrer Delimitation: Eine Radikalisierung dieser Dimension soll im Folgenden zu der Ausweitung des Wirkspektrums von Kūn über die ihr in den Überlieferungen zugesprochene Position dienen. 96 Vgl. Jullien: Denkzugänge, S. 34. 97 Vgl. Jullien: Denkzugänge, S. 34. 98 Nach Wang Bi sind Himmel und Erde als die Formen oder phänomenologischen Entitäten zu verstehen, die von Qián und Kūn angenommen werden, um wirksam zu werden. Vgl. Richard John Lynn: The Classic of Changes. A New Translation of the I Ching as Interpreted by Wang Bi, New York/Chichester, West Sussex 1994, S. 143 und S. 129. 99 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 12. 95
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Die hunderterlei Dinge nehmen ihre Formen an.« 100 Das Ziehen der Wolken deutet auf die prozesshafte Entwicklung hin, die von Qián als dem initiatorischen Vermögen ausgelöst wird und sich entfaltet. Der herabfallende Regen bringt den Gedanken der Ausbreitung und Durchdringung sowie den Reifevorgang, der durch Qián angeregt wird, zum Ausdruck. 101 In Entsprechung dazu ist die Passage zu Kūn in der Überlieferung des Urteils zu lesen: »Sodann empfängt [das Erdreich, Kūn] gefügig den Himmel. Die Dicke [Fruchtbarkeit] […] des Erdreichs [Kūn] befördert die Wesen. [Seine] Tauglichkeit umfaßt keine Grenze. Umschließend dehnt es sich, glänzend weitet es sich.« 102 Die potentielle Macht von Qián und Kūn wird in der Überlieferung des Urteils in das gängige Bild des Zusammenwirkens von Himmel und Erde übertragen. Bedingt durch die Potenz von Qián befruchtet der Himmel die Erde. Diese empfängt gefügig den Himmel (die ›Essenz‹ des Himmels im Sinnbild des Regens) und bringt vermöge ihrer Fruchtbarkeit (wörtlich ›Dicke‹, hou) und grenzenlosen Weite (der Wirkmacht von Kūn, ihrem rezeptiven Vermögen) die Lebewesen hervor. Die Erde folgt dem (durch Qián ausgelösten) Impuls des Himmels, d. h. sie materialisiert, konkretisiert diese Anregung in Form aller Lebewesen. Trotz der generativen Macht der Erde werden die Lebewesen als von dem Himmel bzw. von der Zeugungsmacht des Himmels, Qián, erzeugt und abstammend betrachtet. Kūn fungiert in diesem Sinne als ein Raum für die Materialisation und Konkretion der Impulse, der Anregungen, die von Qián als Initiator und Erzeuger ausgehen. Die Bezeichnung des Hohlgefäßes 103 für Kūn ist eine Indikation für ihre weibliche Funktion, die darin besteht Aufnehmerin und Trägerin der Lebewesen zu sein. Das Hohlgefäß ist ein Symbol der Gebärmutter, des Bauches oder Raumes der Schwangerschaft und steht für die passiv-empfängliche Natur, die der Deutung der Wirkkraft von Kūn in den Überlieferungstexten entspricht. Das umschließende sich Dehnen und Weiten der Erde, der Wolkenziehen, das Spenden des Regens des Himmels und die Flüssigkeit sind Metaphern für den Geschlechtsakt und Befruchtungsvorgang. Die fruchtbare Erde empfängt fügsam den herabfallenden Regen (die Potenz von Qián) und trägt das dadurch in ihr 100 101 102 103
Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 18. Vgl. Jullien: Denkzugänge, S. 43. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 387.
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Die Überlieferung des Urteils
hervorbrechende Leben, die mannigfaltigen Wesen zur Reife aus: Der Zyklus des Lebens beginnt sichtbar zu werden, die Wandlungen des Himmels vollziehen sich. 104 Es zeigt sich, dass die Konnotation der Gefügigkeit der Erde mit der Funktion des Fruchtbringenden im Sinne des Austragens der Nachkommenschaft in Verbindung steht, der die Wirkmacht von Kūn zugrunde liegt. Sie bezieht sich auf die grenzenlose Empfänglichkeit der Erde gegenüber den schöpferischen Anregungen, den Zeugungsimpulsen des Himmels und deren Umsetzung, Materialisation. Zwar wird hier keine Unterscheidung zwischen dem Geistigen und Materiellen getroffen, jedoch liegt durch die lenkende Kraft von Qián und durch den Impuls, der von ihm ausgeht, eine Struktur oder ein Plan, ein Konzept vor, das von Kūn bzw. ihrer angenommenen Form als Erde formvollendet wird. Das Hervorbingen der Erde wird daher lediglich als eine Formvollendung oder Fortsetzung dessen angesehen, was von dem Himmel gesetzt wurde: Die Erde arbeitet nach einem vorgegebenen Plan. Der Himmel stößt an, die Erde setzt fort, das ist die erste Form des Einflusses von Himmel und Erde auf die Welt. 105 Die Komplementaritätslogik, die durch die wechselseitige Einflussnahme von Himmel und Erde figuriert wird, zeigt ein hierarchisches Gefälle, das eine Subordination der Erde unter den Himmel im Dienst der Generativität impliziert und zugleich die Errichtung einer Herrschaftsstruktur bedeutet. Die Erde bereitet folgsam den fruchtbaren Boden für die Hervorbringung der zehntausend Wesenheiten und der Himmel ist Herrscher über sie, die ihm mit ihren klimatischen Veränderungen, den Vegetationsperioden der Pflanzenwelt und den Existenzverläufen der Fauna nach dem Lauf der Jahreszeiten folgt. 106 Der Himmel gibt den Rhythmus, den Zyklus und die Die bedeutungsmäßige Verknüpfung der Erde mit dem Fügsamen (shun) der Überlieferung des Urteils basiert methodisch betrachtet auf den Eigenschaften der Naturbilder, welche den Teilzeichen zugeordnet sind. Aus den spezifischen Eigenschaften der Naturbilder wird, wie bereits erwähnt wurde, eine familiäre Stellungsfolge innerhalb des Zeugungsvorganges (des Kosmos) entworfen, wonach Kūn als Naturkraft der Erde die Stellung der Mutter entspricht, die (naturgemäß) dem Himmel als Vater untergeordnet wird. Alle anderen Teilzeichen (Donner und Wind, Wasser und Feuer, Berg und See) erscheinen in der Zeugungsfolge als ›Söhne‹ und ›Töchter‹ von Himmel und Erde. 105 Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 455. 106 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 46. Der Beginn (shi), der mit der Wirkmacht von Qián assoziiert wurde, und sich in den Anfangszeilen auf die Zeu104
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
Bewegung vor, die dann durch die Rezeptivität der Erde an konkreter Gestalt gewinnt und damit manifest, räumlich wird. Die Unterordnung der Erde unter den Himmel bedeutet damit zugleich die Unterordnung des Raumes unter die Muster der Zeit.
4.1 Herrschaft des Himmels In der Tuan-Überlieferung lenkt Qián nicht nur den Himmel, sondern auch den Anfang und das Ende der großen Lichter bzw. des großen Lichtes (da ming). 107 Pluralisch gelesen 108 sind unter dem Ausdruck da ming die aufgehenden und untergehenden Gestirne, d. h. Sonne und Mond und auch die Sternbilder zu verstehen. 109 Im Liji wird da ming jedoch einzig als Sonne verstanden. 110 Im Shijing wird König Wen als ›Großes Licht‹ besungen. 111 Kong Yingda versteht in diesem Sinne unter dem großen Licht das Zeichen Qián im Ganzen. 112 Der Überlieferung zufolge lenkt und besteigt Qián als Macht des Himmels die sechs Drachen: 113 »Zu jeder Jahreszeit schafft er gungsmacht des Himmels bezieht, nämlich, dass die Wesen ihre Identität und ihr Entstehen durch den Himmel bedingt erlangen, bezieht sich auch auf den Vollzug der Jahreszeiten. Hiernach lässt der Himmel die Jahreszeiten entstehen, die dann durch die Erde manifest werden. Dabei fällt auf, dass die Überlieferung das Entstehen der Jahreszeiten in einigen Zeichen mit dem wechselseitigen Zusammenwirken von Himmel und Erde vergleicht: »Indem Himmel und Erde sich wenden, vollziehen sich die vier Jahreszeiten.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 161. »Der Himmel und Erde Schwellen und Schwinden vergehen und ruhen zusammen mit den Zeiten.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 178. »Indem sich Himmel und Erde beschränken, vollziehen sich die vier Jahreszeiten.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 192. Aus korrespondenztheoretischer Sicht korreliert die Dynamik von Himmel und Erde gewissermaßen mit derjenigen der Gestirne, dem Wechsel der Sonne und des Mondes. Beide Gestirne sind jedoch Himmelserscheinungen und werden daher als durch ihn bestimmt betrachtet. 107 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 12. 108 Wie dies aus der Übersetzung von Dennis hervorgeht. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 12. 109 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 434. 110 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 434. 111 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 435. Vgl. hierzu die Übersetzung von Rainald Simon, der da ming singularisch übersetzt: »Große Helle [die Sonne], in Untergang und Aufgang […].« Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 18. 112 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 435. 113 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 427.
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Die Überlieferung des Urteils
[Qián] sechs Ränge. So besteigt er zu jeder Jahreszeit die sechs Drachen, um den Himmel zu steuern.« 114 Die Überlieferung greift hier das Bild des Drachens auf, das in den verschiedenen Liniensprüchen des Zeichens Qián thematisiert wird: Dort ist die Rede von im Wasser verborgenen Drachen (1. Linie), Drachen auf dem Feld (2. Linie), über einen Abgrund springende Drachen (4. Linie), fliegende Drachen am Himmel (5. Linie), Drachen über den Wolken (6. Linie) und Drachen ohne Haupt (7. Linie). Viele dieser Vorstellungen entstammen hochwahrscheinlich mythologischem Gedankengut: Mythologisch fungiert der Drache als Donner-, Wolken- und Regengott, der die Felder befruchtet. 115 Im Lenz steigt der im Wasser geborene Drache zum Himmel auf. Wenn er sich zu hoch emporhebt, müssen die Felder verdorren. Das Gewitter tobt, wenn Drachen kämpfen. Gelbe und schwarze Gewitterwolken sind Ströme vergossenen Drachenblutes. Zum Ende des Herbstes verbirgt sich der Drache in Wassergründen, die ihm als Schlafkammer im Winter dienen. 116 Der Drache verkörpert das Herrschertum: Sein Sitz ist der Thron. 117 Es bedeutet Unheil, wenn Drachen zur unrechten Zeit und am unrechten Ort erscheinen. 118 Neben den hier genannten Vorstellungen, die offenbar sehr nahe an den eigentlichen Ursprung der in dem Zeichen Qián versammelten Motive heranreichen, gehen auch eine Reihe astrologischer Vorstellungen in die Interpretation des Zeichens ein. Hiernach teilt der Drache mit den anderen Zaubertieren den Himmel in vier Viertel. 119 Dabei regiert der Drache das östliche Geviert, dem verschiedene Sternbilder entsprechen, die sich wie die Beschreibung eines Drachenleibes lesen lassen. 120 Die verschiedenen Stellungen des Drachens, die sich aus den Liniensprüchen ergeben, wurden auf die zu jeweils verschiedenen Jahreszeiten auftretenden Sternbilder bezogen. 121
Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 12. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 90. 116 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 92. 117 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 93. 118 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 93. 119 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 427. 120 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 427. 121 Siehe hierzu insbesondere den Artikel von Edward Shaughnessy: The Composition of »Qian« and »Kun« Hexagrams in the Zhouyi, in: Edward Shaughnessy: Before Confucius. Studies in the Creation of the Chinese Classics, Albany 1997, S. 197–220. 114 115
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
Das Lenken des Drachens und des großen Lichtes oder der großen Lichter bringt noch einmal den Gedanken der Tuan-Überlieferung in den Vorschein, dass Qián über den Lauf des Himmels und damit über die Zeit bestimmt, bzw. diese im Sinne der Jahreszeiten gestaltet und schafft. Aus der Schaffung der sechs Ränge in Übereinstimmung mit der Jahreszeit vollendet sich der Jahreskreis. 122 Nach Gao Heng stehen die sechs Drachen, die von Qián gelenkt werden, metaphorisch für Tag, Nacht und die vier Jahreszeiten. 123 Seine Übersetzung der entsprechenden Stelle in der Überlieferung lautet: »Die Sonne [da ming] geht auf und unter, wodurch die Sechs Positionen [Norden, Süden, Osten, Westen, unten und oben] zur rechten Zeit bestimmt werden, zu den rechten Zeiten fährt sie mit den sechs Drachen [legt sie Tag und Nacht sowie die vier Jahreszeiten fest], um den Himmel zu bewegen.« 124 Der Gedanke der Zeitübereinstimmung wurde bereits aus den mythologischen Motiven ersichtlich. Auch der Bezug des Zeichens zur Sonne lässt sich in einen mythologischen Kontext stellen, nämlich dem Glauben an zehn Sonnen, die im ewigen Rhythmus die Erde unter dem Himmel beleuchten. 125 Der Zehnsonnenmythos ist, wie in der Einleitung bereits gesagt wurde, vor allen Dingen mit den religiösen Vorstellungen der Shang verbunden und geht mit in der Zhou-Zeit verloren, bzw. wird durch den Glauben an nur eine Sonne ersetzt. Dem Mythos nach sind die zehn Sonnen die Kinder der Xi He und werden von ihr vor ihrem Aufstieg jenseits des Meeres im süßen Wasserabgrund gebadet. 126 In der mythologiVgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 435. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 20. 124 Gao Heng, zitiert nach: Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 20. Rainald Simon schließt sich dieser Übersetzung an: »Große Helle [die Sonne], in Untergang und Aufgang sind die sechs Positionen [Norden, Süden, Osten, Westen, unten und oben] bestimmt; zur rechten Zeit traben die Sechs Drachen und kutschieren die Sonne.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 18. 125 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 310. Münke bezieht sich hinsichtlich des Ursprunges der Zehnsonnensage auf den Dichter des Zhaohun, der in den Worten einer Schamanin die Seele vor den Gefahren des Jenseits warnt: »Seele, komm zurück! Darfst Ostwelt nicht als Zuflucht wählen! Riesen, 1000 Klafter hoch, machen Jagd auf Seelen. 10 Sonnen treten im Turnus hervor […], verflüssigen Gold, zerschmelzen Gestein. Dortige sind es gewohnt. Seele, die hinzieht, zerfließt. Komm zurück! Komm zurück! Darfst sie nicht als Zuflucht wählen.« Zitiert nach Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 310. 126 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike, Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, Frankfurt am Main 1998, S. 331. Münke bezieht sich auf das Kapitel »Südliche Kanon des Großen Wüstenlandes« (Dahuang nanjing) des Kanons 122 123
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Die Überlieferung des Urteils
schen Vorstellung soll Xi He die zehn Sonnen nicht nur geboren, sondern gleichzeitig auch als deren Lenkerin fungiert haben. 127 Für eine Auslegung des Zeichens Qián ausgehend von dem Spruchwerk könnte zudem das mit dem Sonnenmythos verbundene Sonnenaufgangstal von Interesse sein, das im Tian wen auch als ›Tal der heißen Wasser‹ betrachtet wird: »Sie [die Sonne] tritt aus dem Tal der heißen Wasser und nächtigt am Ufer der Finsternis Meng-szu. Wie weit ist ihr Weg vom Hell zum Dunkel?« 128 Wie die Sonne scheint der im Wasser verborgene Drache, von dem das Spruchwerk des Zeichens Qián berichtet, aus den wässrigen Tiefen auf- und abzusteigen, eine Vorstellung, die insbesondere für die Revision von Kūn von Bedeutung sein wird. 129 In der Überlieferung des Urteils wird das mit Qián verbundene große Licht (da ming) vor allen Dingen zu einer Bezeichnung des Herrschers, dessen Herrschaft wie die Sonne über das ganze Reich scheint, wodurch seine Befehle in jede Gegend des Reiches gelangen. 130 Die Macht des Herrschers bewirkt Entwicklung und Aufder Berge und Meere (Shanhaijing): »Jenseits des südöstlichen Meeres, zwischen den Süßen Wassern Kann-shuei, ist das Hi Ho-Reich. Da ist eine Frau namens Hi Ho, die badet just die Sonnen im Süßen Wasserabgrund Kan-yüan. Hi Ho […] gebar die zehn Sonnen.« Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike, Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 85. 127 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike, Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 87. Nach Münke ist das Urbild der Zehnsonnenmutter die Sonnengöttin Yi, die als leuchtende Xi He im Osten aufsteigt und im Westen versinkt. Er führt den Dichter Qu Yuan an: »Morgens löst’ ich dem Bremsklotz am AzurDryandrabaum Ts’ang-wu, abends erreichte ich Hüan-p’u, die Hängenden Gärten. Ich wollte ein wenig verweilen in diesem Zauberschloß, doch rasch, zu rasch glitt die Sonne dem Dämmer entgegen. Hi Ho musste das Tempo drosseln auf meinen Befehl, durfte drängen zum Yen-tzu-Gebirge.« Im Tianwen fragt der Dichter: »Weshalb leuchten des Jo[-mu-Baumes] Blüten, ehe sich Hi Ho erhebt?« Zitiert nach Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 118. Münke zufolge verschmolz die Xi He Sage mit einer Kombination aus täglichem Sonnenlauf und jahreszeitlichen Fixpunkten der Sonnenreise. Gemeint sind Frühlingsäquinoktium, Sommersonnenwende, Herbstäquinoktium und Wintersonnenwende. Es wurde um die eine Sonnengöttin, die gleichzeitig die Bahnen aller Gestirne vorzeichnete, vier Figuren platziert, die als mittlere Xi, jüngere Xi, mittlere He und jüngere He an den vier äußerten Enden der Erde die Sonnenkurskorrekturen vornahmen. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 119. 128 Zitiert nach Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 310. 129 Es wird sich zeigen wie diese Tiefe, aus denen Qián aufsteigt, mit Kūn wesensmäßig verbunden ist. 130 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 834.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
blühen und bringt so die Tugend des Sommers zum Ausdruck. 131 In dem auf- und absteigenden Drachen (das in Entsprechung zu dem Auf- und Absteigen der Sonne gedacht werden kann), wurde analogisch der Auf- und Abstieg des Herrschers, des Sohnes des Himmels gesehen. Die Sonne wie auch der Drache sind hiernach als Embleme der Macht und Herrschaft des Himmels zu verstehen. Der Wechsel, der Lauf und die Konstellationen, die im Bild der Sonne, der Gestirne und dem Drachen gezeigt werden, bildet den Weg des Himmels. Das Zeichen Qián weist damit im Ganzen auf den Weg (dao) des Himmels, der sich einerseits als das den Kosmos regelhaft bestimmende und durchdringende Walten und andererseits als Herrschaftsordnung verstehen lässt: »Der Weg des Zapfens [Himmels] verändert Macht, richtet jede Geburt (xing) und Befehl (ming), hütet und vereint den großen Einklang […] Sein Haupt steht aus allen Wesen hervor, die zehntausend Länder sind allerorten in Frieden.« 132 Hier wird noch einmal deutlich, dass das Beginnen und Initiieren (shi), das in den Eingangszeilen der Überlieferung des Urteils in Bezug auf das Wirken von Qián genannt wird, zugleich ein Gebieten (tong) ist, d. h. die Herrschaft des Himmels markiert. Der Himmel erzeugt die zehntausend Dinge nicht, sondern gebietet zugleich über sie: ihr Geschick, ihre rechte Natur und Lebensdauer. 133 Dieses Gebieten bedeutet sowohl einen kontinuierlichen Prozess als auch eine ursprüngliche Bestimmung. Der Vollzug dieses Prozesses hängt von dem spezifischen (Entwicklungs-) Kapital ab, das durch den Himmel bzw. die Zeugungsmacht von Qián einem jeden Wesen gegeben wird. Das Haupt verweist auch auf den Herrscher oder Drachenkönig 134, der das inititatorische Vermögen des Himmels verkörpert. 135 Auch der Herrscher erhält seine Autorisation, seinen Befehl (ming) letztlich von dem Himmel und führt durch die ihm vom Himmel verliehene Macht (seinem himmlischen Mandat, tian ming 136) das Reich zur Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 16. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 12. 133 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 18. 134 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 20. 135 Vgl. Jullien: Denkzugänge, S. 46. 136 Das Wirken von Tian, der Gottheit der Zhou, lässt dich durch die Naturkräfte und den Bildern des Himmels erkennen. Die Tian-Gottheit vergibt an die Zhou den Befehl (ming, Mandat) über das was unter dem Himmel (tian xia) ist zu herrschen, wonach der Herrscher des Reiches als Sohn des Himmels (tian zi) als von himmlischer Abstammung kommend betrachtet wird. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 825. 131 132
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Die Überlieferung des Urteils
Blüte, bewirkt allgemeines Reichtum und hält damit die Länder in Frieden zusammen. Diese dem Herrscher verliehene Macht wird im Yijing als ein ›Pfand‹ betrachtet d. h., dass der Herrscher von dem Himmel einen gewissen Vertrauensvorschub erhält, den er durch seine Herrschaftsausübung geltend machen muss. 137 Traditionell wurde diese Herrschaftsausübung, insbesondere in seiner konfuzianischen Lesart als eine ethisch-moralische Anforderung gedeutet. Nach der Großen Überlieferung hat der Herrscher die ›Tugenden‹ 138 des Himmels in sich zu vereinen: »›Sublimity‹, ›penetration‹, ›benefit‹ and ›steadfastness‹« 139. Er ist die vermittelnde Instanz, durch die sich die Ordnung der Welt mit der Ordnung der Gesellschaft verbindet. 140 Seine Herrschaftsausübung ist ein Abbild der ursprünglichen Größe und (Zeugungs-)Macht des Himmels. Ausgehend von der Tuan-Überlieferung kann Qián als Lenkkraft des Himmels betrachtet werden. Seine Wirkmacht zeigt sich in dem Auf- und Untergang der Gestirne, Sonne, Mond und Sterne, dem Wechsel von Tag und Nacht und den Jahreszeiten. Dieser zeitlich und regelhaft bestimmte Wechsel, der von Qián gesteuert wird, scheint für das Verständnis von yi (›Wandel‹ bzw. ›Wandlung‹) bedeutsam zu sein. Ausgehend von der Wortebene betrachtet, ist die ursprüngliche Bedeutung von yi nicht sicher belegt. 141 Es verschriftlicht eigentlich zwei Bedeutungen: ›leicht‹ bzw. ›einfach‹ im Gegensatz zu ›schwierig‹ und ›tauschen‹. Als eine wesentliche Bedeutung von yi kann das Tauschen 142 verstanden werden, das unter anderem Das 14. Zeichen des Yijing, Der Besitz von Großem oder Der Beistand der Götter, spricht von dem Beistand des Himmels. In dem Spruchwerk erscheint der Mythos von König Wen, der ein Zeichen erhält, bei dem es sich um ein Pfand (fu) handelt. Dennis Schilling sieht fu als ein Zeichen des Vertrauens der Götter und in you fu nominalisiert als derjenige, der im Besitz dieses Vertrauenszeichens war. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 421. 138 In der Tuan-Überlieferung beziehen sich diese auf die Wirkung von Qián. 139 Edward Shaughnessy: The Composition of the Zhou Yi. Ann Arbor 1983, S. 96 f. Richard John Lynn übersetzt: »Qian consists of fundamentality (yuan), prevalence (heng), fitness (li), and constancy (zhen)«. Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 129. Die moderne historisch-kritische Lesart hat den anachronistischen Charakter dieses moralischen Verständnisses offengelegt und die ursprünglich im Opfer und Orakelkult der Zhou Dynastie zu kontextualisierende Bedeutung wiederhergestellt. 140 Vgl. Jullien: Denkzugänge, S. 47. 141 In den Sprüchen des Yijing erscheint yi lediglich als ein Ortsname. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 340. 142 Etymologisch ist 易 mit 移 ›versetzen‹ verwandt. In dem Zeichen 賜 ›belohnen‹ kommt der Tauschgedanke ebenfalls zum Ausdruck. 137
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
den Gedanken des Wechsels einsichtig werden lässt. 143 Yi wird seit der Han-Zeit als Wandlung aufgefasst und insbesondere die Überlieferung als eine philosophisch fundierte Abhandlung über das Wandlungsgeschehen der Wirklichkeit gedeutet. Nach der Großen Überlieferung hat yi eigentlich eine dreifache Bedeutung: Einmal bedeutet es ›Wandlung‹, aber auch dasjenige, was sich nicht wandelt und schließlich das Einfache im Sinne dessen, was Wandlung wie Dauer ermöglicht. 144 An einer Stelle wird gesagt, dass yi, hier im Sinne des Einfachen verstanden, als dasjenige zu betrachten ist, was das Leben hervorbringt. Zugleich bezeichnet das Einfache auch die Wirkkraft von Qián, die Zeugungsmacht. 145 Es ist hiernach die Wirkkraft von Qián, d. h. dasjenige was das Leben hervorbringt (die Zeugungsmacht), welche in dem Verständnis der Großen Überlieferung die Wandlung und auch die Dauer bewirkt. Dieses Verhältnis wird bereits aus der in der Tuan-Überlieferung gegebenen Bestimmung von Qián und Kūn im Sinne von shi (beginnen, anstoßen, initiieren) und sheng (gebären), der anfänglichen Einwirkung des Himmels auf die Erde, deutlich: Gelenkt durch die Wirkmacht von Qián, seinem initiatorischen Vermögen, befruchtet der Himmel die Erde und werden die zehntausend Dinge im Sinne eines zyklischen Werdens geboren. Hiernach besteht eine enge Verflechtung zwischen dem Verständnis von yi und der Wirkmacht von Qián, die unter dem Rückbezug von Qián zu der Sonne und dem Lichten (yang) noch weiter verdeutlicht werden kann. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass yi mitunter auch als das Bild einer durch die Wolken durchbrechenden Sonne und zwar im Sinne von Aufklären (der Wolken) aufgefasst wurde. 146 Wie alle Zu einem späteren Zeitpunkt wird deutlich, dass das Tauschen auch im Sinne des Austausches von Flüssigkeiten betrachtet werden könnte, was in einen Zusammenhang gebracht werden kann mit dem Gedanken der Prokreation, die von Qián bewirkt wird. 144 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 343. 145 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 849. 146 Der Sonnenmythos der Shang wurde mit dem Zeichen 易 in Verbindung gebracht. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass sich auf den Orakelknochen das Zeichen yi häufig in Kombination mit dem Zeichen für Sonne (ri) findet: Yi wird in diesem Kontext auch als Gabe oder geben (ci) verstanden. Während der ShangDynastie soll bei bewölktem und dunklem Wetter die oberste Ahnengottheit ShangDi darum gebeten worden sein den Menschen die Sonne wieder zurückzugeben: Erscheinen und Nicht-Erscheinen der Sonne oblag für das Volk der Shang verschiedener Mächte und Kräfte zu denen die Ahnen eine Vermittlungsinstanz bildeten. Daher 143
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Die Überlieferung des Urteils
Dinge, so könnte man sagen, wechselt auch die Sonne beständig ihren Ort, sie befindet sich in einem ständigen Aufgang und Untergang, wodurch Tag und Nacht bestimmt werden. Zudem ist ihre Strahlkraft teilweise vermehrt und teilweise vermindert, einmal erstrahlt sie in der Helle, ein anderes Mal ist sie von Wolken bedeckt, wodurch auch die Dinge in einem anderen Licht erscheinen. Der Fokus in der oben genannten Interpretation von yi im Sinne von ›Aufklären der Wolken‹ liegt jedoch nicht nur auf dem Wechsel der Sonne (ihrem Vorund Zurücktreten, Auf- und Untergang), sondern vor allem auch in dem Moment der Aufklärung selbst. Das Aufklären ist in Bezug auf die Sonne ein Lichten. Man könnte sagen, dass sich durch das Lichten der Sonne auch die Erscheinungen verändern. Der Einfluss des Sonnenlichtes lässt die Wesen nicht nur wachsen, sondern auch ins Licht der Erscheinung hervortreten und aufscheinen. Graphosemantisch wird die Sonne bzw. das Licht der Sonne im Yijing eigentlich durch das 30. Zeichen – ䷝ –, Lichthof der Sonne, verkörpert. Das Zeichen besteht aus der Dopplung des Teilzeichens Li, Licht oder Feuer (☲). Der Überlieferung des Urteils nach lässt der Lichthof der Sonne nicht nur die Herrschaft, d. h. den Weg des Himmels aufscheinen, sondern auch die Körner, Gräser und Bäume am Boden leuchten, aufscheinen. 147 Von Interesse sind in diesem Zusammenhang auch einige Untersuchungen Schindlers 148, wonach die antike Konzeption des Himmels, als einerseits verfinsterter, bewölkter und andererseits strahlender, sonniger Himmel (hao tian und min tian) aus einer dualistischen Konzeption der Sonne resultiert. 149 Dass die Sonne wechselweise als strahlend-hell und als bewölkt bzw. verdüstert verehrt wird, besuchten sie, die Ahnen zu beschwören, die Mächte mögen ihnen die Sonne wiedergeben oder genauer übergeben: ci ri. Hiernach könnte yi mit der Idee der Wiederkehr des Lichtes in Verbindung gestanden haben, eine Vorstellung, die sich, wie wir noch sehen werden, graphosemantisch zeigen lässt. 147 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 105. Der Sinologe Bruno Schindler promovierte 1919 bei August Conrady über das ›Priestertum im alten China‹ und gründete 1923 die Zeitschrift Asia Major, das zu dieser Zeit international bedeutendste Organ der deutschen Sinologie. Die auf dem Werk Conradys basierenden Untersuchungen Schindlers sind aus der Sicht der heutigen Sinologie jedoch überholt. 148 Siehe Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, in: Hirth Anniversary Volume, Asia Major: Introductory volume, London 1923, S. 298–366. 149 Vgl. Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, S. 299.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
trachtet Schindler zudem als eine mögliche Grundlage für die Begriffe yin und yang. 150 Die ursprüngliche Form des Zeichens yang – 陽 – trägt das Zeichen für die Sonne –日 – und bedeutet so viel wie ›strahlende Sonne‹ (und auch andere leuchtende Dinge) und steht für die Leuchtkraft. 151 In seiner Schreibform ›Sonne‹ und ›Wolken‹ bedeutet yin – 陰 – eigentlich das Gegenteil des Zeichens yang, nämlich von Wolken bedeckte Sonne und korrespondiert nach Schindler in der Form mit ›bewölkter Himmel‹ (min tian). 152 Den Zeichen yin und yang wurde später ein Klassifikationszeichen hinzugefügt als Ausdruck für die sonnige und schattige Seite, d. h. den Süd- und Nordhang eines Hügels: yang bildet hiernach die Süd und yin die Nordseite. 153 Im Hinblick auf die Beschreibung des Wandels bedeutet yang demnach strahlende Sonne oder Leuchtkraft und yin von Wolken bedeckte Sonne, oder auch die durch den Mangel des Lichtes verursachte Kälte. Yin würde in diesem Sinne lediglich die Bezeichnung für die Abwesenheit von yang bedeuten. Yin wächst nur, wenn das Sonnenlicht verschwindet bzw. verdunkelt ist. Yin setzt yang voraus. Yang wird damit zu der entscheidenden Kraft, die den Wandel bewirkt. 154
Vgl. Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, S. 301. Schindler weist in diesem Kontext darauf hin, dass die verbreitete Interpretation von yin und yang als das Männliche und Weibliche verkörpernde Prinzipien des Kosmos nicht der primären Konzeption entspricht. Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, S. 306. 151 Vgl. Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, S. 307. 152 Vgl. Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, S. 308. Andere Formen von yin weisen nach Schindler auf ein etwas anderes Verständnis, das mit dem weiblichen Geschlechtsorgan, Wasser aus einer Öffnung, im figurativen Sinne mit gu ›Tal‹ in Verbidnung steht. Schindler weist in diesem Kontext darauf hin, dass die verbreitete Interpretation von yin und yang als das Männliche und Weibliche verkörpernde Prinzipien des Kosmos nicht der primären Konzeption entspricht. Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, S. 307. 153 Vgl. Bruno Schindler: The Development of the Chinese Conceptions of Supreme Beings, S. 308. 154 Das Verständnis des Wandels könnte sich demnach durch das jahreszeitliche Vermehren und Vermindern des Sonnenlichtes gebildet haben, das durch das Zeichen yang repräsentiert wird. Insofern der Wandel die vorrangige Regel des Kosmos bildet, wird Yang zu der ultimativen Kraft in Relation zu dem yin. In dem Aufsatz Interpretations of Yang in the Yijing Commentarial Traditions wird die grundlegende Asymmetrie in dem Verhältnis von yin und yang vor dem Hintergrund einer dem Yijing zugrundeliegenden sonnenzentrierten Kosmologie erörtert. Vgl. Dennis Chi-Hsiung 150
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Die Überlieferung des Urteils
Die lebensspendende Leuchtkraft der Sonne und der durch sie sichtbar werdende Wandel in den Erscheinungen sowie das Lichte oder die Leuchtkraft, yang, steht in einem immanenten Bezug zu Qián als dem ›großen Lichten‹ (da ming) und der schöpferischen Zeugungsmacht, welche alles im Kosmos lenkt, bewegt, hervorbringt, und durchdringt. Obwohl Kūn, wie wir im Folgenden sehen werden, auch mit dem Beständigen in Verbindung gebracht wurde, dass einen graduellen Wandel impliziert, und damit eine spezifische Form des Wandels, entspricht diese Form nicht dem grundlegenden Verständnis der ›Wandlungen‹, das sich aus der Wirkkraft des Himmels, der Zeugungsmacht von Qián ableitet. Die Wirkkraft von Kūn impliziert den Auslegungen der Überlieferungen zufolge lediglich einen graduellen Wandel, der dazu gedacht ist, den grundlegenden Wandel, der durch Qián initiiert wurde, zu Ende zu führen. Qián bildet in diesem Sinne die Bestimmungsbasis der ›Wandlungen‹, die sich durch Kūn hindurch vollziehen. Die Aufnahmebereitschaft von Kūn als Möglichkeitsbedingung der Sichtbarwerdung der Wandlungen des Himmels wird in den Überlieferungen als ein Sich-Fügen der Erde gegenüber der waltenden Macht des Himmels gedeutet.
4.2 Gefügigkeit der Erde Kūn wird in den Orakeltexten mit einem weiblichen Pferd (pin ma), der Stute, verglichen, was die Tuan-Überlieferung mit der Wirkmacht der Erde, ihrer Fügsamkeit und Weichheit erläutert: »Die Stute gehört zu den Arten der Erde, die die Erde ohne Grenzen begehen. Weich geworden ist [das Erdreich] gefügig, befriedigt gibt es Bestehen den Ahnen.« 155 Die Stute wird hier als ein Symbol für die Weiträumigkeit der Erde genommen und zugleich als Symbol der (sich ausweitenden) Herrschaft des Himmelsohnes. 156 Ist die Erde weich, dann ist sie gefügig. Mit dem Weichwerden, d. h. Gefügigwerden der Erde weitet sich auch der Raum für die Herrschaft. Das Gefügigwerden der Erde steht quasi proportional zu der Ausweitung der Herrschaft. Die Herrschaft bezieht sich dabei einerseits auf den Cheng: Interpretations of Yang in the Yijing Commentarial Traditions, in: Journal of Chinese Philosophy, 2008. 155 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. 156 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 452.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
konkreten Raum der Herrschaft, den es zu erschließen gilt und andererseits auf das Fortbestehen der Ahnen, d. h. die generative Herrschaft, die es zu erwirken gilt. Die Interpretation von Kūn als das in ihrer Weichheit Gefügige steht nach der Auslegung der Tuan-Überlieferung in Zusammenhang mit der Erreichung eines bestimmten Zieles, hier vorrangig der Herrschaft. Das fügsame Verhalten der Erde wird dabei in Relation zu dem Verhalten eines ›Fürstensohnes‹ gesetzt: »Dem Fürstensohn steht der Aufbruch bevor. Er irrt zuerst: Er verliert den Weg. Dann erreicht er gefügig das Beständige. Im Südwesten gewinnt er Freunde: So geht er mit Gleichartigen. Im Nordosten verliert er Freunde: So endet es, dass er Segen hat.« 157 In der Weiträumigkeit (Nordosten und Südwesten) der Erde zeichnet sich die Erschließbarkeit des Herrschaftsraumes vor. Dass der Fürstensohn von einem Ort zu einem anderen Ort aufbricht, ehe er sein Ziel erreicht, antizipiert den Prozess der Ausdehnung der Erde in die vier Himmelsrichtungen und acht Gegenden, von dem auch in dem Spruchwerk zu Kūn die Rede ist. Dieser Vorgang wird analogisch mit der Gewinnung und Erschließung der Herrschaft zusammengebracht. Der Herrscher muss die Erde neu ausrichten, d. h. seine Herrschaft implementieren. Dem Akt des Ausrichtens und Aufrichtens der Erde entspricht die konkrete Ausübung der Herrschaft: Dazu gehören die Inspektion und Begehung des Landes, die territoriale Erschließung der verschiedenen Gebiete und die Gewinnung von Orten und Allianzen. Durch das Motiv der Ausrichtung und Strukturierung der Erde lässt sich ein Bezug zur der legendären Herrscherfigur Shun herstellen. 158 Als der Legende nach der Kaiser Yao Shun die Regierung als Sohn des Himmels übertrug, bestand sein erster Akt des Regierens in der Neuordnung des Landes. Hiernach wurde das Reich in zwölf Provinzen (zhou) aufgeteilt und somit eine Ordnung geschaffen. 159 Nach der Tuan-Überlieferung erreicht der Fürstensohn sein Ziel, was als Beständigkeit bestimmt wird, durch das Gefügige, das die Überlieferung der Erde als ihre Wirkkraft unterstellt. Dies nimmt noch einmal Bezug auf die anfängliche Bestimmung der Überlieferung, dass der Himmel etwas anstößt, was durch die Erde fortgesetzt Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 452. 159 Eduard Erkes: Zur Sage von Shun, in: T’oung Pao, Second Series, Vol. 34, Livr. 4, 1939, S. 295–333, hier S. 324. 157 158
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Die Überlieferung des Urteils
wird. Die Fortsetzung dessen, was durch den Himmel angestoßen oder initiiert wurde, korreliert mit dem Beständigen, das letztlich durch die Erde erreicht wird. Die Tuan-Überlieferung bezieht sich in der zuletzt genannten Stelle auf das Spruchwerk zu Kūn, in dem aber weder in Bezug auf Kūn noch auch in Bezug auf den Fürstensohn von Gefügigkeit die Rede ist. 160 In dem Spruch zu Kūn ist von der Dienlichkeit eines Fürstensohnes gegenüber seinem Herren die Rede, in dessen Dienst er sich sozusagen bewegt. Die Tuan-Überlieferung stellt dieses Verhältnis zwischen dem Herrn und seinem Untergebenen in Bezug zu dem Verhältnis von Erde als dem Sich-Fügenden und Himmel als dem Waltenden. Das Verhältnis von Erde und Himmel wird als eine Art politische Hierarchie im Sinne der Verteilung der Position des Führenden und des Untergebenen kontrastiert. Dabei dient die Fügsamkeit der Erde dem Fürstensohn in seiner anfänglichen Bewegung zugleich als ein Vorbild, das dazu dient sein Ziel, nämlich die Herrschaft bzw. deren Ausweitung oder Fortsetzung, sofern sie ursprünglich als die durch den Himmel initiierte Herrschaft betrachtet wird, zu erreichen und das Werk fortzuführen. Die Erde und die mit ihr im Sinnbild der Stute verbundenen Qualitäten werden in der Überlieferung somit zugleich zu der Bedingung der Erfüllung einer bestimmten Position innerhalb des Herrschaftsgefüges erhoben. Das Beständige wird durch die weiblich konnotierte Eigenschaft der Gefügigkeit, man könnte sagen durch ein anfängliches Folgeleisten-Können erreicht: »Kun consists of fundamentality, prevalence, and its fitness is that of the constancy of the mare.« 161 Wang Bi kommentiert diese Stelle folgendermaßen: »The horse is a creature that travels by staying down (on the ground), but even more important we have the female of it, so it is something that represents the acme of compliance [shun]. Here one prevails only after becoming perfectly compliant.« 162 Die durch die Erde und ihr Symbol der Stute wirksam gemachte Qualität der Gefügigkeit wird analogisch mit dem Verhalten eines Fürstensohnes verbunden, eines Mannes, der Fortschritte erzielt, indem er sich gefügig zeigt, d. h. strategisch zunächst eine untergeordnete Position wählt, statt eine »Dem Fürstensohn steht der Aufbruch bevor: Er irrt zuerst, dann erreicht er den Herrn. Dienlich ist [er] ihm, im Südwesten Freunde zu gewinnen und im Nordosten Freunde zu verlieren.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 161 Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 142. 162 Zitiert nach Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 143. Hervorhebung durch die Verfasserin. 160
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
leitende Position anzustreben: 163 »When the superior man has to make a movement, if he takes the initiative, he will go astray; if he follows, he will find his (proper) lord. […] The superior man, represented by it [the figure of Kun], must not take the initiative; and by following he will find his lord, –the subject that is of Khien [Qian].« 164 In der Gefügigkeit von Kūn wird das Prinzip der Folgeund Unterordnungsbereitschaft aufgezeigt – ein Prinzip, das die Überlieferung durch das Geschlecht des Pferdes intrinsisch mit dem Weiblichen verbindet. 165 Innerhalb der hier aufgespannten Machtstruktur entspricht die Wirkkraft von Kūn im Sinne der Erde also dem Untergebenen, der sich fügt und die Wirkkraft von Qián im Sinne des Himmels dem Herrschenden, der waltet: Prozessual betrachtet interpretiert die Überlieferung das Untergebensein, die Folgebereitschaft vor dem Hintergrund der Fügsamkeit von Kūn als ein notwendiges Moment in der Umsetzung von Herrschaft. Die ›Weichheit‹ der Erde als Korrelat ihrer Fügsamkeit ermöglicht Beständigkeit. Die Beständigkeit bezieht sich einerseits auf das Fortbestehen der Herrschaft durch das Aufrechterhalten der Ahnenlinie, anderseits auf das Erlangen der Herrschaft und dann auf die Dauer der Herrschaft. Fügsamkeit ist in diesem Sinne auch maßgeblich für den künftigen Herrscher. Der Herrscher muss sich durch eine gewisse Leidensfähigkeit und Opferbereitschaft hindurch auszeichnen. Er muss verschiedene Prüfungen bestehen, die ihn als Herrscher legitimieren und seine Auswahl rechtfertigen. Erst durch diese Haltung hindurch kann er sich bewähren und dadurch die Herrschaft erlangen. Seine Leidensfähigkeit, sein Bestehen- und FolgeleistenKönnen entspricht im übertragenen Sinne der grenzenlosen Aufnahme- und Folgebereitschaft der Erde dem Himmel gegenüber: »Die Vgl. Lisa Raphals: Sharing the Light, S. 145. James Legge: The I Ching, The I Ching. The Sacred Books of the East, translated by various Oriental scholars and edited by F. Max Müller, Vol XVI, New York 1963, S. 60. Hervorhebung durch die Verfasserin. 165 Lisa Raphals deutet darauf hin, dass in dem Urteilstext des Zeichens Kūn lediglich eine Differenzierung zwischen leitenden und untergeordneten Positionen, sprich eine politische Hierarchie entwickelt wird und weiter keine Unterscheidung zwischen Himmel und Erde, Mann und Frau oder Ehemann und Ehefrau getroffen wird, die Gender-Kategorie auf dieser Ebene der Hierarchisierung also noch nicht gegeben ist. Das Verhältnis von Himmel und Erde wird in den Überlieferungen von Anfang an auf eine geschlechter-hierarchisierende Weise gedeutet. Jedoch legt bereits der Urteilstext selbst diese Differenzierung nahe, indem er von einem weiblichen Pferd, einer Stute ausgeht. Vgl. Lisa Raphals: Sharing the Light, S. 145. 163 164
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Die Überlieferung des Urteils
(dem Wirken des Himmels) antwortende Erde hat keine Grenze.« 166 Die Grenzenlosigkeit meint auch, dass die Erde in ihrer Fügsamkeit den durch den Himmel angestoßenen Weg fortsetzt und zu Ende führt und er dadurch eine gewisse Dauer bzw. Beständigkeit erhält. In demselben Maße setzt der Herrscher mit der ihm verliehenen Macht die Herrschaft des Himmels fort, wie dies in der noch zu erläuternden Wenyan-Überlieferung noch deutlicher wird. Die Fortsetzung der territorialen Herrschaft des Himmels lässt sich in Rückbezug auf die zu erbringenden Opfer auch als eine rituelle Beherrschungspraxis der Erde verstehen. 167
4.3 Der Sinn von Himmel und Erde: Herrschaft und Position Aus verschiedenen Zeichen wird deutlich, dass der Zeugungsprozess von Himmel und Erde als die Entstehung der unzähligen Lebewesen (wan wu 168) verstanden werden kann: »Erregen sich Himmel und Erde, werden die zehntausend Dinge geboren.« 169 »Indem Himmel und Erde lösen, setzen Donner und Regen ein. Setzen Donner und Regen ein, öffnen sich bei all den hundert Früchten, Gräsern und Bäumen die Schalen.« 170 »Der Himmel spendet, die Erde gebiert.« 171 »Indem Himmel und Erde aufeinandertreffen, [ergibt sich] die Vielfalt der Dinge in all ihrer Menge.« 172 »Tauschen sich Himmel und Erde nicht aus, gedeihen die zehntausend Wesen nicht.« 173 In der Überlieferung des Urteils dominiert das genealogische Denken, weswegen unter den Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 452. Dieser Punkt soll im Kontext der Funktion und Bedeutung der Erde in Mythos, Ritus und Religion weiter unter noch einmal aufgegriffen werden. 168 Wu (物) in wan wu bezeichnet nicht nur die sich wandelnden Dinge des Kosmos, sondern die Wesen in ihrer bestimmten Ausprägung und Wirkung. Die Vorstellung von wu geht ursprünglich auf das Opfertier zurück. Opfertiere zeichnen eine spezifische Verwendung und Wirkung aus, da mit ihrer Hilfe die Kommunikation mit den Göttern stattfinden kann. Nur Tiere mit einer bestimmten Färbung und mit unbeschädigter Gestalt wurden von den Göttern angenommen. Jedes wu-Wesen verfügt über Eigenschaften, die es auszeichnet, zusammengenommen ergeben sie ein Wirkungsgeflecht. 169 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 108. 170 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 124. 171 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 141. 172 Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 328 f. 173 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 175. 166 167
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
wu in aller erster Linie die Geschlechter zu verstehen sind, die sich durch die Ahnenlinie auf Himmel und Erde zurückbeziehen. Wörtlich bedeutet der Ausdruck wan wu die zehntausend Dinge und steht im weitesten Sinne für alle Lebewesen. 174 Darunter gehören Menschen, Tiere und Pflanzen gleichermaßen. 175 Wu hat die Bedeutung der Varietät, der Mannigfaltigkeit der lebendigen, sich wandelnden Dinge des Kosmos. 176 In der antiken chinesischen Philosophie ist der Prototyp für das Verständnis von wu das Pflanzenleben. 177 Das pflanzliche Wachstum bildet in seinen alljährlichen Mustern der Wandlung und seinem reproduktiven Kontinuum zugleich das Model für das Konzept der Zeit und der Abstammungslinie. 178 In dem Pflanzenleben kommt der jährliche Zyklus von Fruchtbarkeit und Erzeugung, die Beziehung zwischen den Jahreszeiten und den Lebewesen zum Ausdruck. Es verweist auf ein Kontinuum der Wandlung, eine natürliche Ordnung, innerhalb derer alle lebendigen Dinge wie Pflanzen sind, die keimen, blühen und absterben. Die wan wu sind Dinge, die sheng, d. h. ›leben‹ und ›geboren‹ sind. 179 Das Piktogramm sheng zeigt in seiner frühsten Schreibweise eine Pflanze, die durch die Erde sprießt. Dieses Bild steht exemplarisch für den Lebens- oder Wachstumsvorgang (auch die Geburt). Die Norm aller Lebewesen ist, dass sie, nachdem sie geboren bzw. erzeugt wurden, aufblühen, und Früchte tragen, bevor sie sterben. Auch die Menschen sind geboren, reifen heran, reproduzieren sich und sterben. Durch die Reproduktion, die als essentieller Teil des Lebensmusters betrachtet wird, ent-
Im Yijing bezieht sich der Ausdruck ursprünglich auf wirkmächtige Wesen, vorranging Opfertiere. Im engeren Sinne sind mit den Wesen die Geschlechter und Totemtiere gemeint. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 434. 175 Die Übersetzung von wu für lebendige Dinge oder Lebewesen ist irreführend, sofern er eine Entgegensetzung zwischen lebenden und nicht-lebenden Dingen impliziert, die durch diesen Ausdruck nicht getroffen wird. Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 96. Im Gegensatz zu Indo-Europäischen Traditionen setzt der Terminus wu auch keine Differenz zwischen Pflanzen und Tieren. Darüber hinaus umfasst er ebenso den Menschen. Sowohl Menschen als auch Tiere und Pflanzen werden als wu, lebendige Dinge, Lebewesen klassifiziert. Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 12. 176 Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S, 96 f. 177 Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 97. 178 Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 13. 179 Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 98. 174
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Die Überlieferung des Urteils
steht ein Kontinuum, das durch die Abstammungslinie, die Ahnenlinie ausgedrückt wird. 180 Dieses Verständnis von wu kommt im Yijing auf das auf Qián und Kūn folgende Zeichen, Zhun – ䷂– zum Ausdruck, welches in den Überlieferungstexten zunächst als ›Schwierigkeit‹ gedeutet wird. Zhun kann im Allgemeinen als eine ›Konsequenz‹ des ersten Verkehres von Himmel und Erde betrachtet werden. Nach der traditionellen Auslegung stellt das Zeichen einen Pflanzenspross dar, der sich durch den Erdboden kämpft und dabei auf Widerstand stößt. Sein Durchbrechen durch die Erde ist mit Schwierigkeiten verbunden. Diese Lesart geht auf den Ausdruck nan sheng, ›unter Schwierigkeiten gebären‹ der Überlieferung des Urteils zurück. 181 Der Überlieferung des Urteils nach begegnen sich das Harte und das Weiche im Bild des Donners und des Regens des Zeichens Zhun – ䷂ – das erste Mal. Das Aufeinandertreffen von Donner (☳) und Regen, Wasser (☵) gleicht der Entladung eines heftigen Gewitters, welches die Erde überflutet. Dass der anfängliche Zeugungsprozess mit Schwierigkeiten verbunden ist, verweist in diesem Sinne auch auf das katastrophale Ausmaß der anfänglichen Begegnung von Erde und Himmel. Die Urzeugung hängt mit der Vorstellung einer übermäßigen Äußerung bzw. Entladung von verschiedenen Kräften zusammen: »Des Donners und des Regens Bewegen schöpfte [die Erde] übervoll.« 182 Damit tritt nicht nur der Aspekt der Fruchtbarkeit (welche das Pflanzenwachstum initiiert) zutage, sondern auch das Gewaltvolle und Maßlose (der Überschuss) in dem Einwirken des Himmels auf die Erde. Der Donner und das Wasser des Regens (das Spenden des Himmels) ist zwar fruchtbar für die Erde und das Wachstum der Pflanzen, ein Übermaß an Wasser bringt jedoch eine Überflutung und damit eine Katastrophe hervor. Die Flut, das Wasser hängt mit der Erde zusammen, von der nach traditionellem Verständnis eine zerstörerische Wirkung ausgehen kann, genauso wie mit dem Himmel die Hitze und das Trockene verbunden ist, dem auch eine zerstörerische Wirkung zukommt, sofern es Dürre zu erzeugen vermag. Vor allen Dingen die Flut, das Wasser, symbolisiert den anfänglich chaotischen und instabilen Zustand, der während und nach der Urzeugung von Himmel und Erde herrscht und der erst in ein Gleichgewicht überführt wer180 181 182
Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 99. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 457. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 25.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
den muss. Mit dem Zeichen lassen sich Mythen verbinden, die das Motiv einer zum Beginn der Erschaffung der Welt herrschenden Urflut thematisieren. 183 Ein Ausgleich zwischen Erde und Wasser soll der mythologischen Überlieferung nach durch die Bändigung des Wassers in Kanäle und der Gestaltung von Feldern durch den Kulturheroen Yu geschaffen worden sein, wodurch die Erde für den Menschen urbar und zu bewohnbarem gemacht Land wurde. Die Vorstellung der Urbarmachung von Feldern ist noch in dem mit zhun verwandten Wort tun erkennbar. 184 Die anfängliche Begegnung von Himmel und Erde ist in diesem Sinne mit der Entstehung von Katastrophen verbunden und damit ein Zeichen der Äußerung von ›Gewalt‹. Es muss demnach erst noch ein Gleichgewicht geschaffen werden: Dieses Gleichgewicht hängt wesentlich von der Form der Begegnung von Himmel und Erde, dem Harten und dem Weichen ab. Das Gleich- und Ungleichgewicht, das von Himmel und Erde ausgeht, steht nach dem Verständnis der Überlieferung im Verhältnis zu der Weise, wie Himmel und Erde sich begegnen, d. h. in der graphosemantischen Anordnung der Zeichen, welche Position (wei) sie jeweils einnehmen und inwiefern diese Position ihrer je eigenen Wirksamkeit entspricht. Die Konfiguration der weichen und der harten (dem schattigen yin oder dem lichten yang entsprechenden) Linien innerhalb eines gegebenen Zeichenbildes beinhaltet wie gesagt stets eine Position, eine Richtung und eine Bewegung. Jeder Linie ist ein durch die Struktur mitbestimmtes Bewegungsziel inhärent im Sinne dessen, was zu einem je günstigeren Resultat führt: Eine weiche Linie (yin) sollte in einer yin-Position (yin wei) sein, während eine harte Linie (yang) sich auf einer yang-Position (yang wei) befinden sollte. 185 Von der rechten Positionierung der Linien gehen Erfolg und Misserfolg aus. 186 Ausgehend von diesem Setting ergeben sich Interpretationschemata, die das Zusammenwirken von Himmel und Erde unterschiedlich charakterisieren und bewerten. Das Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit Auf das Motiv der Flut soll weiter unten im Zusammenhang des Mythos der Gottheit der Erde eingegangen werden. 184 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 458. 185 Vgl. Robin Wang: Yinyang, S. 69. 186 Robin Wang erklärt dies folgendermaßen: »If both the hard and strong and the soft and weak behave correctly and thus stay in their rightful positions, evil will have no chance to occur. This, only when such rectitude prevails, it is fitting to practice constancy.« Robin Wang: Yinyang, S. 69. 183
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Die Überlieferung des Urteils
in der Begegnung von Himmel und Erde wird insbesondere in dem Zeichen Tai – ䷊ –, Der Ausgleich und seiner Umkehrung, dem Zeichen Pi – ䷋ –, Die Stockung, thematisiert. In dem Zeichen Tai – ䷊ – wird in dem traditionellen Verständnis der gelungene wechselseitige Austausch und die harmonische Ergänzung von Himmel und Erde gesehen. Gleichzeitig wird in der Auslegung der Überlieferung ersichtlich, wie dieses Verhältnis den oben genannten Ordnungsinstanzen folgend als eine Basis der Legitimation für die geschlechtshierarchische und politisch-soziale Gesellschaftsordnung genommen wird: »Im Austausch von Himmel und Erde durchdringen sich die zehntausend Wesen, und im Austausch von Oben und Unten einen sich ihre Absichten. Innen ist das Lichte und außen das Schattige. Das Innere ist kräftig, das Äußere gehorsam. Innen ist der Fürstensohn [die Führenden, der Herrscher] und außen der Geringe [die Untergebenen, das Volk]. Der Weg des Fürstensohns wächst. Der Weg des Geringen schwindet.« 187 Die Überlieferung bezieht sich auf das Urteil des Zeichens Tai, das auch als Wendepunkt verstanden wird, was das prozessuale Verständnis des Zeichens betont: »Geringes geht, Großes kommt.« 188 Das Geringe, das schwindet, bezieht sich graphosemantisch auf das Schattige, die yin-Linien, die das obere Teilzeichen der Erde (☷) in der Liniengestalt des Zeichens Tai – ䷊ – bilden. Der Ausgleich entsteht der Überlieferung des Urteils zufolge dadurch, dass das Lichte, die yangLinien, die das untere Teilzeichen des Himmels (☰) bilden, zur Übermacht gelangen, d. h. im Aufstreben, Aufgang begriffen sind. Das Lichte (yang) wächst, das Schattige (yin) schwindet. Das Große, Kräftige und Lichte (yang) entspricht dem Himmel (☰) und im übertragenen Sinne dem Platz des Herrschers, der als ein ethisches Vorbild gilt. Das Geringe, Schwache und Schattige (yin) entspricht der Erde (☷) und im übertragenen Sinne dem Platz des Volkes und des Mannes von geringen Eigenschaften, der nicht zur Herrschaft berufen ist. 189 Wenn Himmel und Erde in wechselseitigem Austausch stehen, durchdringen sich die Wesen, d. h., dass das dao (der Weg) des Herrschers (des Himmels) wächst, und das dao des Volkes (der Erde) schwindet, wodurch Eintracht und Friede herrscht: Das Volk wird demnach durch die Erde verkörpert, deren Wirksamkeit in dem Ge187 188 189
Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 49. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 48. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 503.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
fügigen, dem Untergebensein liegt. Das Volk ist dem Herrscher gegenüber genauso gehorsam und fügsam wie die Erde dem Himmel. Das Zeichen liest sich auf diese Weise als die Legitimation einer (konfuzianischen) Herrschaftsideologie. 190 Das Wachsen der lichten yang-Kraft wird als Konstitution des Machtgefüges verstanden. Das Wachsen der schattigen yin-Kraft ist hingegen negativ konnotiert und wird als eine Zersetzung und Unterhöhlung dieses Gefüges ausgelegt. Dies wird noch deutlicher in der Umkehrung des Zeichens, Pi – ䷋ –, Die Stockung, die bezüglich des Zusammenwirkens von Himmel und Erde als Disharmonie und Unfruchtbarkeit und auf die gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen als die vollkommene Verkehrung der ›rechten‹, d. h. der in der Überlieferung als positiv gesetzten Ordnung gelesen wird: »Großes geht, Geringes kommt. Wenn Himmel und Erde sich nicht austauschen, durchdringen sich die Wesen nicht. So gilt: Wenn oben und unten sich nicht austauschen, besitzt das Reich keine Länder. Das Schattige innen drängt das Lichte nach außen. Das Weiche innen drängt das Harte nach außen. Der geringe Mann innen drängt den Fürstensohn nach außen. Der Weg des geringen Mannes wächst, der Weg des Fürstensohnes schwindet.« 191 Dass Himmel und Erde sich nicht austauschen, wird hier auf das Herrschaftsverhältnis übertragen. Die schattige yin-Kraft wächst, die lichte yang-Kraft schwindet: Das Große geht, das Geringe wächst. Das aufsteigende Weiche, Schattige (☷ die Erde, das gehorsame Volk) verdrängt das Harte, Lichte (☰ den Himmel, den Herrscher). Das yin (die Erde, das Volk) dekonstruiert das Machtgefüge des yang (der Himmel, der Herrscher) und untergräbt seine Herrschaftsposition. Der Machtzuwachs des Volkes wird in der Überlieferung als fou, d. h. etwas Nichtiges und Falsches betrachtet. 192 So wie der nicht vorhandene Austausch von Himmel und Erde zu Unfruchtbarkeit führt (d. h. die Wesen sich nicht durchdringen), zeigt der Zugewinn der Macht des Volkes nach der Auslegung der Überlieferung die Zersetzung der herrschenden Ordnung und den Verlust des Reichtums (der Länder) der Herrschenden an. Nur wenn Volk und Herrscher gemäß der vorausgesetzten Bestimmung des Waltens des Himmels und der Fügsamkeit der Erde die ihnen gebührenden Plätze in der gesellschaft190 191 192
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 104. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 52. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 504.
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Die Überlieferung des Urteils
lichen Hierarchie einnehmen, bewahren sie den rechten Weg und befinden sich somit in Harmonie. 193 Dieses (konfuzianisch geprägte) Verständnis zeigt die affirmative Grundhaltung gegenüber der archaischen Machtstruktur: Das Volk entspricht dem Willen des Herrschers und nimmt die von oben kommenden Leitlinien des Verhaltens und Handelns mit Freude entgegen und folgt ihm bescheiden nach. 194 Der Herrscher richtet sich nach dem dao des Himmels und festigt auf diese Weise seine von Natur aus überlegene Herrschaftsposition, das Volk hält sich als fügsamer und bescheidener Teil des Herrschaftsverhältnisses gemäß dem dao (der Wirkkraft) der Erde unten. Aus dem bisher Gezeigten wird deutlich, dass das Konzept der Gefügigkeit der Erde das Konstituens für die Bildung der in der Überlieferung anvisierten archaischen Machtstruktur und ihres Herrschaftssystems abgibt. Genauso wie die Erde sich der Macht des Himmels fügt, hat sich das Volk der Macht des Herrschers zu fügen. Fügsamkeit wird damit in der Befolgung der vorausgesetzten ›natürlichen Ordnung‹, bzw. in der Entsprechung dem dieser Ordnung zugesprochenen Sinn und der dadurch zur Geltung gebrachten Akzeptanz des gesellschaftlichen Systems gesehen. 195 Das durch die Erde wirksam gemachte Prinzip der Fügsamkeit dient insofern sowohl der Gründung als auch der Aufrechterhaltung dieses Systems. Das diesem Verständnis zugrundeliegende Verhältnis von Schattigem (yin) und Lichtem (yang) zielt auf die Rechtfertigung und Strukturierung jeglicher Form von (sozialer und politischer) Beziehung und Interaktion ab. Es bedeutet in Bezug auf die Positionen die Setzung einer festen Matrix von Korrespondenzen. Während das Lichte dem Himmel, dem Männlichen, dem Herrscher, dem Vater, dem Älteren, dem Führer entspricht, wird das Schattige mit der Erde, dem Weiblichen, dem Minister, dem Kind und dem Volk assoziiert. Die Basis für die Subordination des Schattigen unter das Lichte (und damit des Weiblichen unter das Männliche) hängt mit dem bereits in der Tuan-Überlieferung grundgelegten Konzept der Positionierung, wei, zusammen. 196 Hier wird noch einmal deutlich, dass die Bedeutung eines Zeichenbildes und seine Auslegung im Sinne von ›günstig‹ und ›un193 194 195 196
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 119. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 119. Vgl. Gao Heng nach Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 120. Vgl. Robin Wang: Yinyang, S. 105.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
günstig‹ nicht nur durch die Proportionierung oder Quantität von Schattigem, Weichem und Lichtem, Hartem bestimmt ist, sondern vor allen Dingen auch durch ihre Positionierung innerhalb eines Zeichens. 197 Einige Positionen sind dazu gedacht, von weichen Linien (yin) und andere von harten Linien (yang) besetzt zu werden, woraus sich die Setzung einer normativen Matrix ergibt. 198 Dieses Positionsdenken spiegelt sich exemplarisch in der Struktur der Familie, wo jedes Familienmitglied eine ihm gemäße Position in dem organischen Ganzen einzunehmen hat, die konstitutiv für die Funktionalität des Ganzen ist. 199 Innerhalb der familiären Beziehungsrelationen befindet sich nach der klassischen Teilung der Geschlechterrollen das Weibliche stets innen (nei) und das Männliche außen (wai). 200 Dies Ordnung der Familie wird im Yijing in dem Zeichen für die Sippe Jiaren – ䷤ – dargestellt und in der Tuan-Überlieferung folgendermaßen gefasst: »Was die Frauen angeht, so ist ihr richtiger Ort im Inneren, was die Männer anbetrifft, so ist ihr richtiger Ort in der Außenwelt. Dass Männer und Frauen ihren richtigen Platz einnehmen, das ist der große Sinn von Himmel und Erde.« 201 An dieser Stelle wird es noch einmal sehr deutlich, worin die Überlieferung das Aufgehen des Sinnes von Himmel und Erde bestimmt sieht. Die Frau hat sich im Inneren zu befinden, der Mann im Äußeren. Der ›große Sinn von Himmel und Erde‹ zeigt sich vor dem Hintergrund der Positionstheorie der Überlieferung als die Bestimmung des Ortes oder Platzes, den das Weibliche und das Männliche in Bezug aufeinander und innerhalb des familiären und gesellschaftlichen Systems einzunehmen haben, damit Friede und Ordnung herrscht. Aus der Auslegung des Zeichens Jiaren geht die Unterordnung der Frau unter die Autorität des Mannes, des Familienoberhauptes oder Patriarchen überdeutlich hervor. 202 Von letzterer Position ist die Vgl. Robin Wang: Yinyang, S. 105. Vgl. Robin Wang: Yinyang, S. 105. 199 »Die Angehörigen einer Familie haben gestrenge Obere unter sich: So werden Vater und Mutter genannt. Der Vater verhält sich als Vater, der Sohn als Sohn, der ältere Bruder als älterer Bruder, der jüngere Bruder als jüngerer Bruder, die Gattin als Gattin, und dann ist der Weg, das Dào, der Familie in Ordnung. Geordnete Familien – und das Reich ist stabil.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 282. 200 Vgl. Robin Wang: Yinyang, S. 105. 201 Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 282. 202 Untrennbar ist die untergeordnete Stellung der Frau mit der Rolle und Struktur der Familie verbunden. Die Familie als soziale Einheit bildete länger als zwei Jahrtausende bis in das 20. Jahrhundert hinein die Basiseinheit der chinesischen Gesellschaft 197 198
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Die Überlieferung des Urteils
Frau a priori ausgeschlossen. Grundsätzlich wird jeder Stamm der Familie alleine durch die männliche Nachkommenschaft repräsentiert. Gleichzeitig bringt der Stamm ein spezifisches Reproduktionsvermögen hervor (das wesentlich mit der Fruchtbarkeit der Frau, d. h. der Fähigkeit männliche Nachkommenschaft hervorzubringen, zusammenhängt). Dieses Vermögen kann der Stamm selbst nicht nutzen, sondern gibt es im Tausch mit anderen Reproduktionsvermögen an einen anderen Stamm ab. Auf diese Weise stattet sich der Stamm, um seine Fortsetzung abzusichern, mit der Gebärmutter eines anderen Stammes aus. Heirat wäre in diesem Sinne als eine Ökonomie des Tausches zu betrachten, d. h. die Implantation und Reimplantation des Reproduktionsvermögens, welche darauf ausgelegt ist das Fortbestehen des Stammes zu sichern. Genauso wie die Fügsamkeit der Erde der Gestaltwerdung der durch den Himmel erzeugten Wesen dient, dient die weibliche Fruchtbarkeit der Frau primär der Austragung und dem Absichern männlicher Nachkommenschaft. Vor diesem Hintergrund lässt sich zusammenfassend sagen, dass die Überlieferungen des Yijing ein System abbilden, nach dem die menschliche Gesellschaft von Natur aus hierarchisch strukturiert ist. Innerhalb dieses Systems bildet der Staat die Familie in Großform und die Familie den Staat in Kleinform ab: Dabei sind sowohl der Staat als auch die Familie von Natur aus patriarchal organisiert. 203 Dem entspricht, dass der gesamte Kosmos von Natur dualistisch geprägt und aufgeteilt ist: ein jedes Seiendes ist gemäß seinem Charakter entweder dem Lichten (yang) oder Schattigen (yin) zugeordnet und sollte dementsprechend entweder ein dem weiblichen yin oder dem männlichen yang gemäßes Verhalten zeigen. 204 Auch die menschliche Gesellschaft – als der natürliche Bereich des Kosmos – ist durch diesen Dualismus gekennzeichnet: Vorgesetzte sind stets yang, Untergebene sind stets yin und sollten ihre jeweiligen Rollen entsprechend erfüllen. 205 Yang ist das Harte, das Starke, das Sich-Durchsetzende, die Autorität, der Initiator, das Männliche und yin ist das Weiche, das Schwache, das Gehorsame und Sich-Ergebende, der Nachfolger, das Weibliche. Die politischen Rollen werden analog dazu
und hat diese Rolle in den nicht urbanen Regionen bis in die Gegenwart inne. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 288. 203 Vgl. Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 8. 204 Vgl. Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 8 205 Vgl. Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 8 f.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
betrachtet: Herrscher sind wie Väter, die beherrschte Masse wie Kinder; der Machthaber steht zu seinen Ministern, wie der Ehemann zu seiner Frau. 206
5.
Die Wenyan-Überlieferung: Zeugungsmacht und territoriale Beherrschung
Die Tuan-Überlieferung bringt die intrinsische Verbindung zwischen dem anfänglichen Zeugungsakt und dem Herrschaftsakt zum Vorschein, der sich in der Übertragung des Verhältnisses von Himmel und Erde auf dasjenige zwischen dem Herrscher und dem Volk und dem Männlichen und dem Weiblichen konkretisiert. Der fruchtbare Verkehr von Himmel und Erde hängt, wie wir gesehen haben, von der rechten Position ab. In der Sprache der Überlieferung des Urteils hat das Harte stets den 5. Rang (d. h. die Position des Herrschers) zu besetzen und ›richtet‹ (zheng) von dort aus. ›Richten‹ (zheng) bedeutet einerseits die Ausübung der Herrschaft, das Regieren. 207 Auf der sexuellen Ebene bedeutet der Ausdruck gleichzeitig, dass das männliche Geschlechtsorgan, der Penis, aufrecht steht und auf das weibliche Geschlechtsorgan, die Vagina einwirkt und sie ›regiert‹, bzw. sich so positioniert, dass die Penetration (tong) stattfinden und gelingen kann. 208 Das Bild des (geradestehenden und richtenden) Phallus, das dem Zeichen von Qián eingeschrieben ist, kann im Ganzen als das Symbol der Herrschaftsausübung begriffen werden: »Des Zapfens Gang ist mit zeichnender Helle kraftvoll tätig.« 209 Das Wirken des Himmels wird als ›kräftig‹ (jian) definiert, was auf das Wort ›einrammen‹ zurückgeführt werden kann. 210 Es ist demnach eine spezifische Form der Gewalt notwendig, damit die Erde sich öffnet und der BeVgl. Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 9. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 510. 208 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 855. Entsprechen sich das Harte und das Weiche, der Himmel und die Erde, der Herrscher und das Volk auf diese Weise, entsteht daraus Beständigkeit, wie dies im Zeichen 32, Heng, Die Dauer zum Ausdruck kommt.: »Das Harte ist oben, das Weiche unten. Donner und Wind sind miteinander verbunden, der Wind – das ist die Bewegung, Hartes und Weiches entsprechen sich: beständig […] Der Weg von Himmel und Erde ist beständig und von Dauer und endet nicht […] Der Vollkommene ist von Dauer auf seinem Weg und das Reich wandelt sich zur Vollendung.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 246. 209 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 55. 210 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 425. 206 207
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Die Wenyan-Überlieferung: Zeugungsmacht und territoriale Beherrschung
fruchtungsvorgang sich vollziehen kann. Die Befruchtung der Erde durch den Himmel wird wie die Macht des Herrschers über das Land im Bild des ›Donners‹, d. h. ›Erschütterung‹, gedacht: »Die erschütternde Macht des Himmels ist fruchtbar für die Erde, und so ist die Macht des Herrschers fruchtbar für die Regionen.« 211 Der Ausdruck zheng (regieren, zum Rechten bringen) erscheint zusammen mit dem Begriff zhong, ›Mitte‹ oder ›treffen‹ in den Verbindungen zhong zheng, ›die Mitte einnehmen und regieren‹ und zheng zhong, ›die Mitte recht machen‹. 212 Auf der politischen Ebene bedeutet dies, wie gesagt, dass das Harte von der Position des Herrschers aus regiert und diese festigt, auf der sexuelle Ebene die Penetration im Zeugungsakt, wie dies in der Wenyan-Überlieferung zur Überlieferung des Urteils des Zeichens Qián noch einmal verdeutlich wird: »Groß, wahrhaft ist der Zapfen! Hart geworden, ist er kräftig tätig. Ist die Mitte getroffen, ist er gerade, lassen Same und Seim sich drillen.« 213 Der Ausdruck die ›Mitte treffen‹ steht aber gleichzeitig auch mit der Gründung des Reiches (als Ort der Herrschaft) in Verbindung, wonach der Herrscher einen Punkt in die Mitte (des Landes, der Erde) setzt, von dem ausgehend das Land aufgerichtet und geteilt wird. Diese Motive entstammen dem Spruchwerk des Zeichens Kūn und deuten auf die räumliche Dimension der Erde, die ausgehend von der Wenyan-Überlieferung als Ausdehnung, Aufrichtung und territoriale Einteilung des Landes (›des Reiches unter dem Himmel‹, tian xia) zu verstehen ist: »Man richtet das winklige Land zu Größe auf (zhi, fang, da).« 214 Das »Aufrichten ist Gerade-Machen.« 215 In dem Gedanken des Aufrichtens des Landes, der als Herrschaft über die Gegenden zu verstehen ist, kommt die Vorstellung des Messens zum Ausdruck: Der Einfluss des Herrschers macht das Reich ›gerade zu einem (Land =) Viereck‹. 216 Das Land (fang), das Winklige, Viereckige (die Erde) wird in die vier Himmelsrichtungen und acht Gegenden erstreckt. Der Himmelssohn richtet durch die Gefügigkeit von Kūn seine Herrschaft auf.
Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 537. Symbolisch pflügt der Herrscher im Frühjahr die Erde mit einem Pflug, um das neue Jahr feierlich zu beginnen. 212 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 855. 213 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 17. 214 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 215 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 22. 216 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 446. 211
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
Das ›Reich‹ bildet nicht nur den Raum der Geschlechter und Lebewesen, der durch die Grenzenlosigkeit von Kūn (dem Erdreich) bereitet wird, sondern auch den Raum der Herrschaft des Himmelsgeschlechtes. Dieses Verständnis der räumlichen Dimension der Erde (im Sinne der Ausdehnung und Ausweitung territorialer Macht) zeigt den Charakter des Verfügbaren und Beherrschbaren, das in der Bestimmung von Kūn als das Sich-Fügen der Erde (der Erde als einer die schöpferischen Impulse des Himmels lediglich formvollenden, d. h. passiv-empfänglichen und formbaren Wirkmacht) bereits antizipiert ist. Das Gefügigmachen der Erde durch den Himmel ist offenbar gleichbedeutend mit der Gründung und Beherrschung des Reiches (der Erde) durch den Herrscher, wie dies in der Wenyan-Überlieferung zu dem Urteilstext von Kūn noch einmal verdeutlicht wird: »Ist das Erdreich weich geworden, läßt es sich bewegen. Ist das Harte zur Ruhe gekommen, ist die Tauglichkeit [die Kraft des Erdreichs] überall. Später erhält [die Erde ihren] Herrscher und dies ist eine Gesetzmäßigkeit. Es [das Erdreich] umschließt die zehntausend Wesen und lässt [ihre] Macht glänzen. Wie gehorsam ist der Weg des Erdreichs! Es empfängt den Himmel, daß die Jahreszeiten sich vollziehen.« 217 Nur in ihrer weichen, beweglichen Form kann die Erde als Mutterboden für die Schöpfungen des Himmels dienen und ist sie tauglich zur Einrichtung einer Ökonomie der Herrschaft. Die Weichheit der Erde bildet, wie dies bereits aus der Tuan-Überlieferung hervorging, das Korrelat ihrer Gefügigkeit und als Zustand die Möglichkeitsbedingung der Befruchtung. Obwohl die Erde, so könnte man sagen, erst in diesen Zustand versetzt werden muss, ist ihre Empfänglichkeit dennoch nicht lediglich eine Frage ihres Einverständnisses. Denn der Konzeption nach ist die Erde bereits auf die Voraussetzung dieser Weichheit, auf ihre Empfangsbereitschaft, d. h. ihre Gefügigkeit hin bestimmt und ausgelegt, obwohl ihr Sich-Öffnen sozusagen als eine natürliche Konsequenz der Einwirkungsversuche des Himmels verstanden wird. Indem die Erde schließlich den Himmel aufnimmt, nimmt sie ihn zugleich als Herrscher an. Dass sowohl die Erde als auch die zehntausend Wesen den Himmel als Herrscher annehmen, geschieht aus Sicht der Wenyan-Überlieferung in Form von natürlichen Gesetzmäßigkeiten. Shun, das Fügsame der Erde, ist mit dem Begriff des Gemäßen und Angepassten, des Folgerichtigen, verbunden: »›Die Wandlungen‹ sagen: ›Man betritt Reif. Hartes Eis wird 217
Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 22.
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Die Wenyan-Überlieferung: Zeugungsmacht und territoriale Beherrschung
werden‹.« 218 Dieser Gedanke, der aus dem Spruchwerk zu Kūn stammt, liest sich aus der Perspektive der Tuan und Wenyan-Überlieferung als eine graduelle Implementierung der Herrschaft in dessen Zentrum die In-Besitz-Nahme der Erde, d. h. die Inthronisierung des Herrschers – als Sohn des Himmels – steht. Die Logik der Unabänderlichkeit, der natürlichen Folge drückt das Naturverständnis aus, das den Weg der Erde bestimmen soll: Die Erde bringt die zehntausend Wesen hervor und der Himmel herrscht über sie, die ihm mit dem Lauf der Jahreszeiten, der Fülle und Schönheit des Lebendigen folgt. Sie lässt die Macht des Himmels glänzen, bleibt als sie selbst jedoch unscheinbar. »Obwohl das Prinzip Yin das Schöne [in sich] hat, enthält es dies [nur], um damit den Dienst des Königs auszuführen, wage nicht ihn zu vollenden. Zum Weg Dao der Erde [gehört] die Ehefrau, gehört der Untertan. Der Weg Dao der Erde ›findet keine Vollendung‹, und doch setzt er an ihre Stelle das ›glückliche Ende‹.« 219 Die Erde selbst kann genauso wenig wie der Minister oder die Ehefrau die Führung übernehmen, sie kennt im Gegensatz zum Himmel keine Vollendung, als Verkörperung des Irdischen ist sie rein rezeptiv und kann deshalb nur aufbewahren, was ihr gegeben wurde, d. h. die Prozesse zu Ende führen, die durch den Himmel als Generator in Gang gesetzt wurden. Dementsprechend setzt der Minister die Regierung des Herrschers lediglich fort und gibt ihr dadurch Dauer. 220 So wie die Erde als die yin-Kraft dem Himmel als yang-Kraft Folge leisten muss, so hat die Ehefrau dem Ehemann und der Untertan dem Herrscher zu folgen. Die Wenyan-Überlieferung bringt auch noch einmal den Gedanken der Tuan-Überlieferung zum Vorschein, dass ein Herrscher sich ethisch legitimieren, d. h. verschiedene Prüfungen durchlaufen muss, um seine Auswahl als Herrscher zu rechtfertigen. Um das ›Werk‹ (die Erlangung der durch den Himmel sanktionierten Herrschaft) zu vollenden, gilt es, sich die Macht von Himmel und Erde zu Nutzen machen, und ihre Qualitäten zu verkörpern. Die Verkörperung dieser Qualitäten umgibt den Herrscher mit Glanz als Zeichen seiner moralischen Schönheit: »Der Edle durchdringt in seiner ›gelben‹ [d. h. moralisch ›schönen‹] Mitte die Strukturen der Dinge […] Er ist die Er-
218 219 220
Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 22. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 45. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 455.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
füllung des sittlich Schönen.« 221 Die gelbe Farbe wurde nach späteren Korrespondenzbeziehen mit der Erde assoziiert, genauso wie die ›Mitte‹. Beide Aspekte bringen die Pracht und Macht des Herrschers zum Ausdruck und gelten als Symbole der Vollkommenheit und Zurückhaltung. Der Überlieferung zufolge hat die Erde ihre Qualitäten zu verbergen und darf sie nicht zur Schau stellen: Die innere Vollkommenheit oder Macht darf nicht direkt hervortreten, sondern nur als Wirkung von innen sich mittelbar äußeren. Übertragen auf das Verhalten des Hochwohlgeborenen bedeutet dies die getreue Folgsamkeit und Untergebenheit gegenüber dem Herrschenden: »Auch, wenn das Schattige mit Farbpracht ausgestattet ist, hält es sie im Mund zurück. [Der Fürstensohn] folgt dem Dienst des Königs, da er nicht wagt, zu wirken. Dies ist der Weg der Erde.« 222 Die Erde wirkt nicht auf eine souveräne Weise, sie wahrt ihre untergebene Position, hält sich zurück, was ihre besondere Qualität auszeichnet. Der Himmel bleibt der Erde gegenüber vorrangig, genauso wie das yang dem yin und der Herrscher dem Untertan. Der Versuch, diese vorgegebene Hierarchie zu überschreiten, führt nach der Auslegung der Überlieferung der sechsten Linie des Spruchwerkes von Kūn 223 zu Zerstörung und gewaltsamer Auseinandersetzung: »Hegt das Schattige Zweifel am Lichten, kommt es gewiss zum Kampf.« 224 Graphosemantisch betrachtet würde die Besetzung der obersten Position in dem Zeichen Kūn – ䷁ – durch eine yang-Linie das Zeichen Bo – ䷖ – ergeben, was als ›Zerstörung‹ bzw. ›Zerfall‹ gedeutet wird. Der Aufstieg der yin-Kraft wird letztlich einseitig als ein Prozess der Zersetzung und Unterhöhlung ausgelegt, als ein ›Zweifel‹ des Schattigen am Lichten, der zu Blutvergießen führt. Zweifel am Lichten zu hegen, würde in diesem Sinne auch bedeuten, dass das yin seine angestammte, untergegebene und untere Position verlässt und die Position des Lichten einzunehmen sucht, was aber nicht seiner (untergebenen) ›Art‹ entspricht, weswegen eine unheilvolle Situation entsteht. Während das Blut zu dem Schattigen, dem yin gehört, entspricht der Atem dem Lichten, yang. 225 Der Atem des Lichten (yang Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 45. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 23. 223 »Die Drachen kämpfen auf freiem Feld. Ihr Blut ist gelb und dunkel.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. 224 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 23. 225 »Um seinem Bedauern darüber, daß es [in den Sprüchen des Erdreichs] kein Lichtes gebe, Ausdruck zu geben, führt [König Wen] hier die Drachen an. Doch um nicht 221 222
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Die Große Überlieferung: Topographien der Macht
qi), steigt nach oben, der Atem des Schattigen (yin qi) senkt sich nach unten. 226 »Gleiche Stimme antwortet einander, gleicher Atem sucht einander.« 227 Gemäß dem Analogiedenken (lei), der Zuordnung aller Dinge und Eigenschaften zu einer bestimmten Kategorie, folgt ein jedes stets seiner Art. Das im Himmel Verwurzelte ist dem Oben verwandt, das in der Erde Verwurzelte dem Unten. 228 Prozessual betrachtet wird die oberste Linie von Kūn auch als ein Übergang von yin zu yang (was hier als eine Art Machtergreifung oder Angriff gedeutet wird) und als ein anschließendes Wiederhervorgehen des yang aus dem yin (was grundsätzlich als eine günstige Entwicklung interpretiert wird) betrachtet. Das Wachsen der yin-Kraft wird, wie wir noch genauer sehen werden, in vielen Zeichen als ungünstig gedeutet, es stellt eine Gefahr dar. Nichtsdestotrotz ist es Teil des natürlichen Ablaufes und des Überganges, der dadurch bereitet wird. Das yin verdrängt das yang, was zugleich als eine Vorbereitung für das Wiederaufstreben des yang als immer wieder erneutes Zentrum oder Ziel der Bewegung gesehen wird: »The Receptive does not combat the Creative but completes it.« 229
6.
Die Große Überlieferung: Topographien der Macht
Die Stellung der Erde sowie ihr Verständnis als das Sich-Fügende basiert den Überlieferungen des Yijing zufolge auf einer natürlichen Gesetzmäßigkeit: shun. Im Grunde genommen dient sie jedoch der Etablierung einer patriarchalen Herrschaftsordnung, die den Boden für ein geschlechtshierarchisch gegliedertes Gesellschaftsmodell schafft. Die Grundlagen dafür befinden sich, wie wir gesehen haben, des [Erdreichs] Art zu verlieren, führt er hier deren Blut an.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 23. 226 Das Aufsteigen und Absinken der Lebenskräfte, des Himmelsatems und des Erdatems bewirken sich öffnend und sich schließend die Jahreszeiten. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 424. 227 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 15. 228 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 15: »Was im Himmel wurzelt, sucht Verwandtschaft mit dem Oberen. Was in der Erde wurzelt, sucht Verwandtschaft mit dem Unteren. So folgt jedes seiner Art.« Mit dem Himmel verwandet sind die Himmelskörper, mit der Erde verwandt die Tiere und Pflanzen. 229 Richard Guisso: Thunder Over Lake. The Five Classics and the Perception of Woman in Early China, in: Women in China: Current Directions in Historcial Scholarship, 1981, hrsg. v. Richard Guisso und Stanley Johannesen, S. 47–61, hier S. 49.
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
bereits in den frühen Überlieferungen und werden in der philosophisch betrachtet einflussreichsten Überlieferung des Yijing, der so genannten Großen Überlieferung (Dazhuan) topographisch weiter systematisiert. 230 Insbesondere dieser Überlieferungstext macht es deutlich, dass Qián und Kūn als die im Yijing abgebildeten Wirkmächte der kosmischen Autoritäten des Himmels und der Erde betrachtet werden. Durch die Identifikation von Qián und Kūn mit Himmel und Erde erlangt das Yijing den Status eines die Wirklichkeit transzendierenden, allumfassenden Gefüges, d. h., dass Text und Wirklichkeit fortan ununterscheidbar werden. Die Große Überlieferung stellt eine genaue Entsprechung bzw. Korrespondenz zwischen den Phänomenen des ›Reiches von Himmel und Erde‹, dem Kosmos (tian di) und darunter inbegriffen dem ›Reich unter dem Himmel‹ (der Gesellschaft) und den Zeichen und Linien (den Wandlungen) im Yijing her. 231 Die Zeichen des Yijing ergeben sich aus Sicht der Großen Überlieferung als Manifestationen des Flusses und der Transformationen von Himmel und Erde, d. h. des Kosmos. Der Terminus der Wandlungen, yi, bezieht sich hier also nicht nur auf die Zeichen und Linien des Yijing, sondern auf die gesamten Wandlungen, die den Kosmos und die menschliche Gesellschaft selbst durchlaufen: diese Sicht suggeriert eine Form von Kontinuität der Wandlungen, so dass zwischen den Zeichen und der kosmischen Wirklichkeit eine intrinsische Verbindung hergestellt wird. Nach Peterson stellt die Große Überlieferung die unausgesprochene Behauptung auf, dass die Technik der Divination für die der Text der Wandlungen das geschriebene Repositorium ist, die im Reich des Himmels und Erde arbeitenden Beziehungen und Prozesse verdoppelt oder wiederholt. 232 Die Dynamik der Prozesse und Beziehungen des Kosmos, die in den Zeichen des Yijing abgebildet sein sollen, können auf diese Weise verstanden und durchdrungen werden. Dieses Wissen bildet wiederum die Basis »The ›Commentary on the Attached Verbalizations‹ […] has been for some two thousand years one of the most important statements in the Chinese tradition on knowing how the cosmos works and how humans might relate to that working.« Willard J. Peterson: Making Connections. ›Commentary on the Attached Verbalizations‹ of the Book of Change, in: Harvard Studies of Asiatic Studies, 1982, S. 67–116, hier S. 67. 231 Der Begriff ›Reiches des Himmels und der Erde‹ war ein bereits entwickelter Terminus, den sich die Große Überlieferung angeeignet hat, um auf den physikalischen Kosmos zu referieren. Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 18. 232 Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 85. 230
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für ein wirksames Handeln im Reich unter dem Himmel, d. h. der Ordnung der Welt. 233 Dass es Hierarchien in der Natur wie auch innerhalb der Gesellschaft gibt und diese Hierarchien sich in den Rängen der Zeichen des Yijing abzeichnen sollen, bildet die Grundauffassung der Großen Überlieferung. Obwohl das Denken von yin yang ausgehend von den Überlieferungen zu dem maßgeblichen Interpretationsschema des Yijing geworden ist, werden yin und yang in der Großen Überlieferung selbst kaum erwähnt. Die Große Überlieferung entwickelt auf der Grundlage von Kūn und Qián, die mit Himmel und Erde bzw. dem Weiblichen und dem Männlichen identifiziert werden, ein dem Modell von yin und yang und dessen Schemata gleichendes komplementäres Denken. Dieses für das Yijing spezifische, auf komplementären Gegensätzen basierende Denken war bereits in den früheren Überlieferungen am Werk, wird von der Großen Überlieferung aber noch einmal auf eine höhere, spekulativere Ebene gehoben. Dabei werden die Positionen der Zeichen Qián und Kūn fest fixiert, indem sie in Übereinstimmung gebracht werden mit dem Rang, der Stellung von Himmel (oben) und Erde (unten) im Kosmos. Die ›Wandlungen‹ bilden damit nach dem Verständnis der Großen Überlieferung den Kosmos, ausgehend von den Grundrelationen von Himmel und Erde, ab. Aus der topographischen Lokalisierung der kosmischen Mächte von Himmel und Erde leitet die Große Überlieferung ein ganzes Wertesystem ab. Die räumliche Zuordnung dient dabei als eine Art sozialer Ordnungsfaktor, der eine territoriale Teilung der Geschlechter vornimmt und deren Aktionsradius hierarchisch und oppositionell organisiert. »Der Himmel ist würdig, die Erde niedrig. [So] waren das Walten und das Sich-Fügen gesetzt. Niedriges und Hohes breiten sich. [So] wurde dem Adel und dem niederen Stand Rang gegeben. Bewegung und Ruhe haben Beständigkeit. [So] haben sich das Harte und das Weiche getrennt. Orte sammeln nach Arten. Die Wesen teilen sich in Gruppen. [So] sind Glück und Unheil entstanden. Am Himmel entstehen Bilder. Auf der Erde bilden sich Formen. [So] sind Veränderung und Einfluß sichtbar geworden. […]
233
Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 85 f.
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Der Weg des Waltens bringt die Männer hervor. Der Weg des SichFügens bringt die Frauen hervor.« 234
Die auf den Naturbildern aufgebaute Asymmetrie zwischen Himmel und Erde wird in der Großen Überlieferung in einer Art vertikalen Korrelationslogik verankert und auf ein gesellschaftliches Modell übertragen. Die korrelative Struktur beinhaltet also schon einen Kontrast, der eine Machtbeziehung implementiert, insofern die Korrelation vertikal konstruiert ist. Hier wird es deutlich, dass in dem beschreibenden Urteil (oben Himmel, unten Erde) bereits ein Werturteil (Himmel würdig, Erde niedrig) vorhanden ist, das nicht von dem ersten abzulösen ist. Das beschreibende Urteil erscheint als Spiegel des Kosmos, während das Werturteil eine gesellschaftliche Ordnung gründet. Zwischen beiden Momenten gibt es keinen Hiatus, sondern eine perfekte Kontinuität. Es wird etwas beschrieben, indem Werte gesetzt werden. Dieses soziokosmische Modell basiert auf einer Amalgamierung von nomothetischen Akten und ethischen Konsequenzen. Dabei ist das Gesetzte, woraus die Intelligibilität des Kosmos resultiert, gleichzeitig ein spezifisches Gesetz, nämlich der Wille des Himmels, der die Gesamtheit des Erscheinenden auf ›natürliche‹ Weise durchdringt. Der Himmel fungiert als ein Identitätsprinzip 235, das eine Aufstiegsbewegung impliziert: Der Himmel ist das Erhabene, Würdige und entspricht Qián (dem Walten), die Erde ist das Niedrige, Gemeine und entspricht Kūn (dem Sich-Fügen). Alle Seienden erheben sich vom Niedrigen (der Erde, dem Schattigen) zum Erhabenen (dem Himmel, dem Lichten), die Abfolge und Lesart der Linien der 64 Zeichen spiegelt diese Hierarchie wieder. 236 Ausgehend von der Großen Überlieferung werden die Bewegungen des Harten und des Weichen als Ausdrücke für das komplementäre Aufeinanderbezogensein von Himmel (Qián) und der Erde (Kūn) verstanden, durch das hindurch alle Phänomene des Kosmos und der menschlichen Gesellschaft bestimmt sind und beschrieben werden können: Höchste Bewegung führt zu Ruhe und höchste Ruhe wiederum zu Bewegung. Zum einen bringt dies eine durchgängige Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 209. Dieses Identitätsprinzip wird besonders in dem Ausdruck des Erkennens des großen Anfanges (dà shǐ, 大始) deutlich. 236 Die Abfolge der sechs Linien eines Zeichens wird als eine Widerspiegelung der sozialen Hierarchie interpretiert. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 458. 234 235
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Gesetzmäßigkeit zum Ausdruck, insofern die verschiedenen Zustände ineinander übergehen und einen einheitlichen Fluss (qi) bilden, zum anderen geht es um die Möglichkeit einer wechselseitigen Beeinflussung, die auf Entsprechung und damit Unterteilung, Kategorisierung (lei) basiert. Das Harte und das Weiche trennen sich wie die Sonne, die sich tagsüber bewegt und in der Nacht ruht und der Mond, der zu- und wieder abnimmt. 237 Genauso trennen sich Himmel (oben, erhaben) und Erde (unten, niedrig) und werden Kūn und Qián bestimmt: Der Weg des Waltens (Qián) entspricht dem Männlichen, der Weg des Sich-Fügens dem Weiblichen (Kūn). Gemäß dem Niedrigen der Erde (unten) und dem Erhabenen des Himmels (oben) werden insgesamt die Herrschenden (der hohe Stand, der Adel) und die Beherrschten (der niedere Stand) bestimmt. Die Menschen bilden nach ihrer Art Gruppen. Die Übereinstimmung mit den Herrschenden, dem Erhabenen und den moralisch guten Angelegenheiten führt zu Glück, Konformität mit den ›kleinen Leuten‹, Übereinstimmung mit dem Niedrigen und den moralisch schlechten Dingen erzeugt Unglück. 238 Nach demselben Prinzip trennen sich auch alle anderen Dinge ihrer Art gemäß voneinander und verteilen sich zu Gruppen an verschiedenen Orten. Dies ist der Grundgedanke sympathetischen Denkens und seiner Bedeutung für die Herrschaft: Wesen gleicher Art (lei) sammeln sich an einem Ort (fang), wenn zwischen ihnen Entsprechung gegeben ist und sie gegenseitig aufeinander einwirken können. Das Reich lässt sich nach diesem Prinzip in verschiedene Regionen (zhou) unterteilen. 239 Das Wort fang bedeutet hier nicht nur ›Ort‹ oder ›Richtung‹, sondern kann auch als das Winklige, das Vier- oder Rechteckige verstanden werden, was die Qualität der Erde im Gegensatz zu dem Runden des Himmels bestimmt: 240 In der Wenyan-Überlieferung ist das Aufrichten der Erde, ihre Ausdehnung in die vier Himmelsrichtungen eine Metapher für die Herrschaft und ein Hinweis darauf, dass die Erde als etwas betrachtet wird, das verfügbar gemacht werden kann und messbar ist. 241 Die Erde ist nach diesem Verständnis nicht Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 756. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 458. 239 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 756. 240 Auf diese beiden Aspekte soll in dem nächsten Kapitel noch einmal genauer eingegangen werden. 241 Der Einfluss des Herrschers macht das Reich zu einem Viereck, es wird ausgestreckt in die vier Himmelsrichtungen. 237 238
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nur formbar und trägt selbst eine spezifische Form, sondern sie bildet auch Formen aus. Die Formgebung der Erde wurde vor dem Hintergrund der Tuan-Überlieferung als eine Umsetzung oder Materialisierung der Impulse des Himmels gedeutet. Der Himmel konzipiert, er gibt einen Plan oder ein Muster vor, die Erde setzt diesen Plan fort und gibt ihm eine ihm gemäße Gestalt. Man könnte sagen, dass durch die Erde die ›Konzepte‹ des Himmels in eine reguläre Form umgrenzt werden. Als die der Ausdehnungsanregung des schöpferischen Himmels entsprechende Größe ist sie sowohl als ›Nährboden‹ der Ausbreitung dimensionierter Lebenskörper als auch als Sinnbild für den unendlichen Raum, den Träger für Geometrie und Bewegung, aufzufassen. Das Rechteckige (der Erde) steht auch für dasjenige, was die Beschaffenheit hat, in eine reguläre Form umgrenzt zu sein. 242 Fang hat außerdem die Bedeutung einer eindeutig umgrenzten Menge individueller Dinge. 243 Darüber hinaus steht fang auch mit der Idee von Wissen in Verbindung. Es impliziert nicht nur eine physische oder territoriale Grenze, sondern insbesondere auch eine begriffliche. 244 Ein Mangel an der Qualität des Rechteckigen bedeutet, nicht anfällig oder empfänglich zu sein, in Teile unterschieden zu werden und nicht begrenzt zu sein durch irgendeine begriffliche Bindung. 245 Das Rechteckige (fang), das mit der Qualität der Erde korrespondiert, wird in der Großen Überlieferung mit shen kontrastiert, demjenigen, dass keinen Ort (fang) hat, d. h. vor dem Hintergrund der bisherigen Bestimmung nicht in die Regularität einer feststehenden Form begrenzt werden kann: »What is shen has no squareness, and the Change has no embodiment.« 246 Shen steht mit dem Bereich des Geistigen oder Göttlichen in Verbindung. Es weist in die Richtung von etwas, das nicht vollkommen erfasst werden kann. Die Große Überlieferung definiert teilweise selbst das Wort shen: »Was das Schattige [yin] und das Lichte [yang] nicht ausloten, nennt man den Geist.« 247 Shen weist Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 103: »I take fang to mean ›squareness‹ in the sense of ›having the characteristic of being bounded by a regular (quadrilateral) shape‹«. 243 Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 103. 244 Willard J. Peterson: Making Connections, S. 103. 245 Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 103. 246 »Der Geist [hat] keinen festen Ort und die Wandlung keinen [festen] Körper.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 212. 247 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 212. 242
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auf eine Dimension, die durch yin und yang nicht festzumachen ist, obwohl yin und yang dasjenige ist, woraus die Mannigfaltigkeit der Dinge besteht und wodurch alle Dinge beschrieben werden können. Obschon das Wort shen eine Dimension zu indizieren scheint, die an sich nicht explizit gemacht werden kann, 248 bedeutet dies nicht, dass die Große Überlieferung davon ausgeht, dass diese Dimension sich jeglichem Wissen entzieht. Der Großen Überlieferung zufolge sind es gerade die ›Wandlungen‹, das Yijing, durch das hindurch wir einen Zugang zu shen haben, das verborgen ist und nur schwer wahrnehmbar. Die Weisen sind Menschen, die in sich etwas von der Kraft des shen aufgenommen haben. Obschon wir nicht den Weisen des Altertums entsprechen, ist es uns nach Ansicht der Großen Überlieferung möglich, einen Zugang zu shen zu schaffen. 249 So werden auch die Orakelmittel als geistig beschrieben. 250 Diese Vorstellung deutet auf die divinatorische Natur des Yijing, auf die die Große Überlieferung ihre metaphysisch anmutenden Spekulationen gründet. Dabei spielen die Zeichen eine bedeutsame Rolle. Denn dem Verständnis der Großen Überlieferung zufolge ermöglicht das Yijing einen Zugang zu shen, jedoch nicht durch die Sprache, die in sich begrenzt ist, sondern durch seine ›Bilder‹/ xiang: »The sages established images in order to express fully their ideas, and set up hexagrams in order to express fully the characteristics [of things], appended statements to them in order to express fully their words, caused [= alternated and penetrated] them to change in order to express fully their benefit, and drummed them and danced them in order to express fully their spirit.« 251 Das ›Trommeln‹ und ›Tanzen‹ ist ein Hinweis auf den religiösen, Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 104. Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 106. 250 »Daher liegt die Tauglichkeit der Schafgarbe im Runden und im Geistigen.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 218. »Nichts ist größer als Schafgarbe und Schildkröte, um die inneren Kräfte zu erforschen und deren Verborgenes zu erfassen, um das Tiefe heraufzuholen und das Weite zu erschließen.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 220. 251 Zitiert nach Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan and the Making of the Yijing, Rev. ed., n.d., unpublished, S. 208. Shaughnessy unterstreicht den Fokus, den die Große Überlieferung auf die divinatorische Natur des Yijing legt: »This too, I would suggest, is why the author of this stratum of the Xici insists on the divinatory nature of the Yi: if one simply reads it, it is dead just like any other book of wisdom; but if one uses it in divination, setting its changes in motion, then it comes alive, changing so as to comment on each new situation addressed to it.« Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan, S. 211. 248 249
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vielleicht sogar schamanischen Ursprung der Divination. Anfänglich dienten die Zeichen als ein Medium der Kommunikation mit den Ahnen- und Naturgottheiten, als Sprache der Götter oder des Göttlichen. Die Mittler der geistigen Welt waren wu – 巫 –, Schamanen, diejenigen, die die Divination beherrschten, zhenren – 貞人 – und Wahrsager mit der Schafgarbe shiren – 筮人 –. Peterson versteht die ›Wandlungen‹ als eine Art Transportmedium: »In affirming the potency of the Change, the ›Commentary‹ wants to persuade us not only that the Change is numinous, but also that it can be our medium, in a double sense. First, the Change in effect will be our wu xi, a shaman or diviner or ›possessed person‹, who puts us in touch with shen, whether we interpret that word as spirits, divinities, demons, numinosity, or whatever. In this context, shen is that ›other‹ realm with which we make contact only through some process of ›divination‹. Like a shaman summoning a spirit with music and dance […] The Change can ›transport‹ us, shamanlike.« 252 Nach der Großen Überlieferung stellt das Yijing das notwendige Werkzeug dar, um Einsicht in die Natur der Wirklichkeit, d. h. die Bewegungen des Himmels und der Erde zu gewinnen. 253 Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass in den Zeichen die Kräfte der Welt gegenwärtig und komprimiert sein sollen. Auch wird eine enge Verbindung zwischen den Zeichen und verschiedenen mit magischen Kräften ausgestatteten Wesen her-
Willard J. Peterson: Making Connections, S. 107. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, Nachwort, S. 561. Siehe dazu die Stellen der Großen Überlieferung: »Da die ›Wandlungen‹ nach Himmel und Erde ausgerichtet sind, können sie die Wege von Himmel und Erde zusammenschnüren. Sie blicken nach oben, um die Zeichnung des Himmels zu betrachten. Sie schauen nach unten, um die Adern der Erde zu untersuchen. Daher wissen sie um die Gründe des Verborgenen und Lichten. Sie verfolgen die Anfänge [die Wesen] bis hin zu ihren Ursprüngen und zurück bis zu [ihren] Enden. So erkennen sie die Lehren von Leben und Tod.« Yijing, übers. u hrsg. v. Dennis Schilling, S. 211. »Die Wandlungen nehmen die Umgestaltung von Himmel und Erde zu [ihrem] Maß und Umfang, so daß sie nicht fehlgehen.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 212. »Denn weit sind die ›Wandlungen‹ ! Wie groß sind sie! Nimm sie, um das Ferne anzusprechen, so wirst du nicht abgewehrt! Nimm sie, um das Nahe anzusprechen, so bewirkst du Ruhe und Gerechtigkeit! Nimm sie, um das anzusprechen, was zwischen Himmel und Erde ist, so ist dies alles gegeben.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 213. »Denn die Wandlungen sind das, womit die Berufenen die Tiefe ausloten und die Keime prüfen. Dadurch, dass sie keimhaft sind, konnten sie die Absichten des Reiches durchdringen. Dadurch, dass sie keimhaft sind, konnten sie Aufgaben des Reiches vollenden.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 218.
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gestellt. 254 Dieser Zusammenhang ist für die Vorstellung der Macht, das die Große Überlieferung den Zeichen unterstellt, bedeutsam und nicht unmittelbar einsichtig, wenn die Zeichen als bloße ›Bilder‹ verstanden werden im Sinne dessen, was beschaut oder betrachtet werden kann. 255 Die verbale Bedeutung des Wortes xiang 象 ist ›nachahmen‹. 256 In der Großen Überlieferung wird gesagt, dass die Berufenen fähig waren, die inneren Kräfte und Bewegungen des Reiches von Himmel und Erde wahrzunehmen und sie ihrer Gestalt und ihrem Aussehen nach zu erschließen, um auf diese Weise die Eigenschaften der Wesen zu Bildhaftigkeit zu bringen. 257 Das heißt, dass die Bilder das Korrelat dessen sind, was die Berufenen in den Kräften der Welt erkannt und dementsprechend gemustert (guan 258) haben. 259 Die Musterung ist nicht ein Zeichen im Sinne eines Abstandes von dem Wirklichen, sondern die Wirksamkeit des Realen in einer intermediären Sphäre. Unter einem Bild ist damit nicht eine bloß optische Repräsentation von etwas zu verstehen: Das Yijing versteht sich nicht als ein Repräsentationsmodell, es bildet den Kosmos nicht einfach nur ab, sondern schafft und strukturiert ihn auch. Als Alternative zu ›Bildern‹ könnte man daher vielleicht von ›Figuren‹ sprechen: Eine Figur ist ein Bild, aber es ist auch eine bestimmte Form oder Gestalt. Etwas zu figurieren, zu mustern bedeutet nicht nur, es als ein Bild oder ein Symbol zu präsentieren, sondern auch, ihm eine aktive Form zu geben. 260 Die Gestalten, Muster (xiang) sollten von xing unterschieden werden, was im Allgemeinen als Form verstanden wird, aber oftmals auch im Sinne einer Klasse von physikalischen Objekten als Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 284 Das Wort für Bild ist xiang 相 und bedeutet ›beschauen‹. 256 Die Würdigen ahmten den Weg des Himmels nach. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 213. 257 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 213. 258 Guan 觀 heißt wörtlich ›in Augenschein nehmen‹. Das im Text genannte Muster ist wen (文). 259 Dem Ahnengott Fu Xi (Bao Xi) wird die Erfindung der 64 Zeichen zugeschrieben: »In vergangener Zeit war der aus der Sippe Bao Xi König über das Reich: Er schaute nach oben und betrachtete die Bilder am Himmel. Er schaute nach unten und betrachtete die Formen auf der Erde. Er betrachtete die Vögel und wilden Tiere und wie [diese] der Erde angepasst waren. Indem er im Nahen von seinem Leib nahm und in der Ferne von den Dingen, schuf er zuerst die acht Zeichen, um [in gegenseitiger] Durchdringung zur Tauglichkeit der Götter und Geister zu stehen und das nach seiner Weise mit der Veranlagung der zehntausend Wesen Übereinstimmende zu wirken.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 223. 260 Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 81. 254 255
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auch für bestimmte physikalische Objekte mit der Implikation dessen, was berührbar, was fassbar ist und verwendet werden kann. 261 Grundlegend für das Verständnis der Macht der Zeichen ist jedenfalls die ältere Vorstellung, dass einem xiang eine spezifische Wirkmacht zu eigen ist, die Zeichen gewissermaßen magisch aufgeladen sind. Es ist diese Wirkkraft der Bilder und damit verbunden ihr durch die Praxis der Divination erzeugter Wandlungscharakter, der das Yijing über den Status eines bloßen Buches hinaushebt. Das Yijing besteht nicht aus feststehenden Worten, welche den statischen Charakter eines Buches bestimmen, sondern aus sich wandelnden und damit lebendigen Bildern, Figuren und Mustern, von denen eine Wirkung ausgeht. 262 Dies erklärt die Ansicht der Großen Überlieferung, dass die Wandlungen beständig ihren Ort verändern: Sie sind beweglich und ruhen nicht an einem Ort. 263 In diesem Gedanken drückt sich das Wesen von shen vielleicht am ehesten aus, nämlich, dass es nichts fixes und fixierbares, sondern in ständiger Bewegung ist. Die ›Wandlungen‹ bilden hiernach das Medium des Überganges zu demjenigen, was nicht direkt zu verstehen ist und keine Gestalt an sich hat: der ›geistigen Wirklichkeit‹ (shen), die in den Mustern der Zeichen und ihrem Wandlungscharakter wirksam werden. Die sich wandelnden Muster (xiang), worin das Wesen von shen sich manifestiert, stehen nach Ansicht der Großen Überlieferung mit dem Himmel in Verbindung und die Formen (xing) mit der Erde: »Am Himmel entstehen Bilder [xiang]. Auf der Erde bilden sich Formen [xing].« 264 Konkret gedacht sind unter den Bildern des Himmels die Himmelskonstellationen und Sternbilder zu verstehen, welche den Himmel geographisch unterteilen, diese stehen wiederum in einem Bezug zu den verschiedenen Regionen des Reiches und ihren Beschaffenheiten, welche die Naturräume der Erde – Flüsse, Berge und Seen – bilden. Kosmisch betrachtet bilden die Formen der Erde eine Entsprechung zu den Bildern des Himmels. Es stellt sich die Frage, wie diese Entsprechung genau beschaffen ist. In jedem Fall scheint die Unterscheidung von den Bildern des Himmels und den Formen der Erde mit der anfänglichen topographischen Aufteilung von Himmel (oben) und Erde (unten) zu korrespondieren. An einer anderen 261 262 263 264
Vgl. Willard J. Peterson: Making Connections, S. 81. Vgl. Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan, S. 211. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 232. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 209.
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Stelle der Großen Überlieferung heißt es, dass dasjenige, was die Bilder vollendet, Himmel genannt wird und dasjenige, was die Gesetzmäßigen [des Himmels] nachahmt bzw. wirken lässt, Erde. 265 Die Ausgestaltungen des Himmels, die hier auch als Gesetzmäßigkeiten betrachtet werden, werden von der Erde also nachgeahmt und gleichzeitig wirksam gemacht. Dieses Nachahmunsgverhältnis bzw. der Gedanke, dass durch die Erde etwas, was durch den Himmel angestoßen bzw. initiiert wurde, sichtbar wird, an konkreter Gestalt gewinnt, lässt sich in einen Bezug zu der Tuan-Überlieferung setzen, wo die Erde nicht aus sich selbst heraus die zehntausend Wesen schafft, sondern im Rahmen der Einwirkung des Himmels nach einem spezifischen Plan vorgeht. Dieser Plan kann im Sinne spezifischer Gestaltungsvorgaben als eine Art kreatives Design aufgefasst werden, das der Himmel in Form eines Impulses vorgibt und die Erde dann in eine individuelle Form umgrenzt und damit verräumlicht. Die konkreten Formen der Erde aktualisieren hiernach die Himmelsbilder. Das zentrale Schema, dass die Große Überlieferung verwendet, um das Zusammenwirken von Himmel und Erde bzw. Kūn und Qián zu beschreiben, ist das Sich-Öffnen und Sich-Schließen eines Tores oder Türflügels: »Aus diesem Grund nannten sie das Schließen des Türflügels ›Sich-Fügen‹. Und das Öffnen des Türflügels nannten sie ›Walten‹. Einmal Schließen, einmal Öffnen nannten sie ›Veränderung‹. Das unerschöpfliche Gehen und Kommen nannten sie ›Durchdringung‹.« 266 Der Prozess der Wandlung wird hier bildhaft als die Bewegung eines sich öffnenden und sich schließenden Tores beschrieben. Nach der Auslegung der Großen Überlieferung entspricht die Öffnung des Tores Qián, der Aktivierung der lichten Yang-Kraft und das Schließen des Tores Kūn, der Aktivierung der dunklen yinKraft. Zusammen bringen diese beiden Bewegungen den Zyklus der Wandlungen hervor, der vergleichbar ist mit dem Wachsen und Schwinden von entgegengesetzten Kräften. Die auf diese Beschreibung folgende Stelle wirft Fragen auf, deren Bedeutung umstritten ist: »Daher wird das oberhalb der Formen Dao genannt; das unterhalb der Formen Ding.« 267 Dieselbe Stelle ließe sich auch wie folgt übersetzen: »Daher heißt das, was als Gestalt aufsteigt, Weg. Was als GeVgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 212. Siehe auch dieselbe Stelle in Simons Übersetzung: Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 465. 266 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 219. 267 Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 480. 265
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stalt niedersinkt, heißt Gerät.« 268 In der letzteren Übersetzung fällt sofort die Unterscheidung dessen, was aufsteigt und dessen, was niedersinkt, auf. Auf Grundlage der topographischen Zuordnung von Himmel (oben) und Erde (unten) dürfte dasjenige, was aufsteigt, analogisch mit dem Himmel korrelieren und dasjenige, was niedersinkt, analogisch mit der Erde. Versteht man die Stelle im Sinne der ersten Übersetzung, scheint der Ausdruck xingershang (oberhalb der Formen) eine metaphysische Dimension zu implizieren 269, die dem Dao einen transzendenten Status verleiht, der oberhalb und jenseits der konkreten Formen anzusiedeln wäre. Die von der Überlieferung gemachte Zweiteilung würde dann die Frage nach der Relation zwischen dem, was eine Form hat und dem, was über jegliche Form hinausgeht, aufwerfen, d. h. den mannigfaltigen Dingen (wanwu) und Objekten und dem dao. Ob sich diese Zweiteilung aber tatsächlich als eine Metaphysik im strengen Sinne einer klassischen Zwei-Welten-Lehre verstehen lässt, ist fragwürdig, sofern das dao nicht als etwas von den konkreten Erscheinungen vollkommen Getrenntes, Ewiges und Unwandelbares betrachtet wird. Denn auch der Großen Überlieferung zufolge ist das dao noch immer durch einen Wechsel und eine Interaktion von yin und yang bestimmt: »Einmal Yīn, einmal Yáng – das heißt Dào.« 270 Unter der Voraussetzung einer Sicht der Wirklichkeit unter dem Gesichtspunkt von zwei Aspekten: dem, was unterhalb der fassbaren Formen (xingerxia) ist und dem was, oberhalb der fassbaren Formen ist (xingershang), 271 könnte das Bild des Tores zugleich in die Richtung weisen, dass es als eine Art Übergang fungiert, der die beiden Aspekte dessen, was unterhalb der Formen ist und dessen, was oberhalb der Formen ist, miteinander verbindet und Beständigkeit und Wandel bzw. Mannigfaltigkeit zu einem Ganzen vereinigt. 272 Vor dem Hintergrund des Formlosen und der Form grenzt das Tor diese Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 221. Yan Fu nutze diesen Ausdruck um die Metaphysik des Aristoteles in das Chinesische zu übersetzen. Seitdem wurde diesem Satz eine besondere Bedeutung im Rahmen einer akademischen Disziplin beigemessen: Die Auseinandersetzung mit dem xingershang wurde zu einer Auseinandersetzung mit der Metaphysik. Vgl. Robin Wang: Yinyang, S. 66. 270 Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 464. 271 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 480. 272 Vgl. Franklin Doeringer: The Gate in the Circle, A Paradigmatic Symbol in Early Chinese Cosmology, in: Philosophy East and West, Vol. 32, 1982, S. 309–324, hier S. 315. 268 269
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beiden Bereiche ab und dient als ein Durchgang, durch den die Dinge herausdestilliert werden aus dem Formlosen in die Welt des Geformten. Die Funktion und Konzeption der Bilder (xiang) in der Großen Überlieferung stützt diese Perspektive: Denn alles, was eine Form und damit manifeste Eigenschaften hat, kann erfasst werden. Was jedoch keine feste Form hat, widersteht einer Prädikation, insofern es nichts anbietet, das klar erfasst werden kann. 273 Letzteres hängt mit shen, dem Bereich des Geistigen oder Göttlichen zusammen, als etwas, das nicht vollkommen zu erfassen ist und keinen festen Ort hat, was also einen Kontrast zu dem Rechteckigen (fang) der Erde bildet, etwas das in Gegensatz zu shen in die Regularität einer feststehenden Form begrenzt werden kann. Nach der Auslegung der Großen Überlieferung wird der Zugang zu shen durch die ›Bilder‹ (xiang) geschaffen, die mit dem Himmel in Verbindung stehen genauso wie die Formen (xing) mit der Erde. Die Bilder, Muster des Yijing könnten vor dem Hintergrund der Annahme einer zweifachen Unterscheidung dann als die erste Manifestationsform in dem Übergang von Formlosen zur Form betrachtet werden und eine Art Zwischenstadium zwischen dem vollkommen Formlosen und der konkreten Form markieren. 274 Wie bereits gesagt wurde, entstehen die proteischen Bilder im Himmel, während die voll definierten Formen auf der Erde lokalisiert sind. Dadurch werden Verwandlungen sichtbar. Die Bilder, die im Himmel entstehen, werden von der Erde aktualisiert. Der Prozess der Veränderung beginnt insofern im Himmel und vollendet sich auf der Erde. Das Tor würde hiernach einem Schema entsprechen, wonach der ›Schöpfungsakt des Schöpferischen‹ den Durchgang vom Nicht-Manifesten zum Manifesten realisiert. 275 Jedenfalls scheint der Begriff des Tores der Wandlungen das ›Oberhalb‹ und ›Unterhalb‹ oder anders dasjenige, was aufsteigt und dasjenige, was niedersinkt (unabhängig davon, wie genau diese Unterscheidung zu verstehen ist, bzw. welche Konsequenzen daraus abzuleiten sind) aufeinander zu beziehen, bzw. miteinander in Bezug zu setzen. Denn ›Oberhalb‹ und ›Unterhalb‹, bzw. ›Aufsteigendes‹ und ›Herabsinkendes‹ sind formal betrachtet – genauso wie shen und fang, xiang und xing – analogische Ausdrücke für die aneinander gekoppelten Wirkweisen des Vgl. Franklin Doeringer: The Gate in the Circle, S. 315. Vgl. Franklin Doeringer: The Gate in the Circle, S. 315. 275 Vgl. Mircea Eliade: The Myth of the Eternal Return or Cosmos and History, übers. v. Willard R. Task, Princeton/New Jersey 1971, S. 18. 273 274
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Himmels und der Erde, Kūn und Qián. Gleichzeitig geben diese analogischen Ausdrücke Aufschluss über die implizite Wertung und Asymmetrie, die in der der Großen Überlieferung zugrundeliegenden topographischen Zuordnung von Himmel (oben) und Erde (unten) mitgesetzt ist. Nicht aus den Augen verloren werden darf im Hinblick auf ein mögliches Verständnis der Großen Überlieferung, dass sie, genauso wie die Tuan-Überlieferung, in Kūn und Qián die produktiven Urvermögen des Kosmos sieht. Das Hauptmotiv der Großen Überlieferung bildet, wenn man diesem Verständnis folgt, die kosmische Vereinigung von Qián und Kūn, des Männlichen und des Weiblichen, ein Motiv, das sich von den Anfängen der Überlieferungen bis hin zu der Großen Überlieferung durchgehalten hat. Dies bringt vielleicht noch ein konkreteres Verständnis der Vorstellung des kosmischen Tores zum Vorschein, das bereits in der Bewegung des Sich-Öffnens und Sich-Schließens angeklungen ist. Qián und Kūn alternieren zwischen Ruhe und Bewegung, Größe und Weite. Größe und Weite sind Bestimmungen, die die Tuan-Überlieferung nutzt, um die Zeugungsmacht und Fruchtbarkeit von Qián und Kūn zu beschreiben. Beides, Ruhe und Bewegung, Größe und Weite korrespondieren mit den Bewegungen der beiden Geschlechtsorgane: »Denn was das Walten angeht, so ist es in der Ruhe in sich gekehrt und in der Bewegung geradegerichtet. Daher wird Größe in ihm geboren. Denn was das SichFügen angeht, so ist es in der Ruhe geschlossen und in der Bewegung sich öffnend. Daher wird Weite in sich geboren.« 276 Anders als in der Beschreibung des Tores, wo das Sich-Öffnen und Sich-Schließen funktional auf Kūn (Sich-Schließen) und Qián (Sich-Öffnen) verteilt wird, korrespondiert sowohl das Sich-Öffnen als auch das SichSchließen, ausgehend von der Beschreibung des Mechanismus der Geschlechtsorgane, mit der Bewegung, die alleine von Kūn vollzogen wird. Kūn öffnet sich und Kūn schließt sich, woraus die Weite geboren wird. Die Weite manifestiert sich zugleich in ihrer Liniengestalt – ䷁ –. Aufgrund dieser Weite ist Kūn empfangend und fruchtbar und kann die zehntausend Wesen befördern. 277 Anders Qián: Seine Bewegung ist das Sich-Aufrichten und das Zusammensinken, in seinem Aufgerichtet-Sein verkörpert er die Aktivität der Zeugungsmacht, den Zapfen, d. h. die lenkende Macht des Himmels, 276 277
Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 213. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20.
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Die Große Überlieferung: Topographien der Macht
welche die Erde durch das Spenden des Regens, im übertragenden Sinne der Flüssigkeit des Samens befruchtet. In Bezug auf die Wirkweise von Kūn liegt der Akzent auf dem Sich-Öffnen, dem Sich-Weiten, d. h. der Empfangsbereitschaft und der Fruchtbarkeit. In Bezug auf die Wirkweise von Qián liegt der Akzent auf dem Sich-Aufrichten, dem Geradestehen, d. h. der Zeugungsfähigkeit. Es ist in diesem Sinne fragwürdig, warum die Große Überlieferung in Bezug auf die Beschreibung des Tores das Sich-Öffnen Qián zuschreibt und das Sich-Schließen Kūn und nicht umgekehrt. Hochwahrscheinlich rührt diese Zuordnung aus der Vorstellung der aktivierenden und initiatorischen Kraft, die von Qián ausgehen soll und von der die Bewegung – auch ganz konkret die ›Begattung‹ im Zeugungsakt – letztlich angestoßen wird. An einer Stelle der Großen Überlieferung heißt es, worauf bereits früher hingewiesen wurde, dass dasjenige, was Leben hervorbringt, yi genannt wird, was das ursprüngliche Verständnis des Begriffs yi deutlich macht: Yi bedeutet Reproduktion und Fähigkeit zur Reproduktion. 278 Yi als Fähigkeit zur Reproduktion erklärt sich primär daraus, dass es die Identität von etwas (eines Geschlechts, eines Wesens oder eines Dinges) im Zeugungsakt weitergibt. Daraus wird verständlich, warum die Große Überlieferung das Wort yi sowohl als dasjenige betrachtet, was das Leben hervorbringt, als auch als eine Bezeichnung der Wirkweise von Qián, der Zeugungsmacht, versteht. Die Weitergabe dieser Identität, die im Zeugungsakt durch Qián geschieht, wird in der Großen Überlieferung auch als eine Art Wissen beschrieben, das Qián eignet: 279 »Qian through exchange (yi) knows. Kun through its opening is capable (neng).« 280 »Das Walten Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 342. Qián und Kūn sind die Mächte, die das Leben hervorbringen. Sie sind die beiden produktiven Urvermögen des Kosmos. Qián und Kūn unterscheiden sich als reproduktive Organe des Kosmos von ihren konkreten Exemplifizierungen in Form des Männlichen und des Weiblichen insofern sie die zehntausend Wesen hervorbringen: ihre Größe und Vollkommenheit liegen in ihrer allumfassenden Potenz. Qián und Kūn sind als die reproduktiven Organe des Kosmos zugleich die Modelle und Vorfahren aller individuellen Organe. Die Vorrangigkeit der kosmischen Organe ist eine Vorrangigkeit im Rang und in der Macht und in der Zeit, wodurch das Wechselspiel der kosmischen Kräfte Qián und Kūn zum Anfang der zehntausend Wesen, der Dinge, Generationen und Geschlechter wird. Vgl. Dennis Schilling: Cosmic Life and Human Life in the ›Book of Changes‹, S. 9 f. 279 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 343. 280 Vgl. Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan, S. 217. 278
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erkennt die großen Anfänge. Das Sich-Fügen stellt die Vollendung der Wesen dar.« 281 Das ›Erkennen‹ kann dabei in dem Sinne gedeutet werden, dass das aktiv Männliche im Verkehr mit dem Weiblichen um den Ursprung seiner patriarchalen Abstammung weiß und daher seine Reproduktion sichert. 282 Die Identität einer Sache wird also von dem Männlichen bestimmt, das Weibliche hat keinen Anteil in der Identitätsbestimmung, sondern verleiht dieser Identität ihre Gestalt und ihr Aussehen. 283 Nach Shaughnessy könnte das ursprüngliche Zeichen für yi (im Sinne von ›Tauschen‹ oder ›Austauschen‹) das Bild einer überlaufenden oder aus einem Gefäß sich ausgießenden Flüssigkeit bezeichnen. 284 Es ist unnötig, darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um das Ergießen männlicher Samenflüssigkeit handelt, welche die Schwangerschaft initiiert. 285 Das Wort ›vermögend‹ (neng) in Bezug auf Kūn ließe sich Shaughnessy zufolge auch im Sinne von ›schwanger‹ (sowohl im physiologischen Sinne als auch im Sinne eines latenten Potentials) deuten. 286 Dieses Wort wird nach ihm auch durch das Wort ren glossiert, das wiederum ›etwas in sich tragen, beherbergen‹ bedeutet. Die Öffnung von Kūn lässt sich in diesem Sinne auch ganz konkret als die Öffnung der Vagina, als Vaginalkanal, verstehen, durch den hindurch das Weibliche schwanger wird. 287 Dass die Vorstellung von Qián und Kūn mit den kosmischen Geschlechtsvermögen zusammenhängt und damit mit einer (auf kosmischen Ebene statthabenden) sexuellen Vereinigung dieser männlich und weiblich markierten Urmächte verbunden ist, tritt in allen Texten der Überlieferungen jedenfalls deutlich hervor, auch, dass es sich dabei um den Austausch von Flüssigkeiten handelt, woraus letztlich das Werden der Dinge entsteht: »Die Mischung der Fluida vom Himmel und Erde – wandelt sich in die zehntausend Dinge. Männ-
Diese Übersetzung weicht von den üblichen Interpretationen ab, scheint aber den Kern der Sache zu treffen, nämlich, dass das konkrete Verständnis von Yi mit der Reproduktion und der Fähigkeit zur Reproduktion verbunden ist, ein Resultat zu dem auch Dennis Schilling kommt. 281 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 209. 282 Vgl. Dennis Schilling: Cosmic Life and Human Life, S. 10. 283 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 343. 284 Vgl. Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan, S. 217. 285 Vgl. Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan, S. 217. 286 Vgl. Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan, S. 217. 287 Vgl. Edward Shaughnessy: The Writing of the Xici Zhuan, S. 217.
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liches und Weibliches [Prinzip] vereint die Samen – die zehntausend Dinge wandeln sich zur Existenz.« 288 Die Weite und das Sich-Öffnen von Kūn wird, ausgehend von den gesamten Überlieferungen, als das Vermögen der Vagina verstanden, d. h. als Möglichkeitsbedingung dafür, dass das Weibliche schwanger wird und den männlichen Samen aufnehmen und austragen kann. Nur in ihrer geöffneten Form ist sie weich und aufnahmefähig: Das mit Kūn auch ein Sich-Schließen verbunden wird, weist darauf hin, dass Kūn auch die Fähigkeit hat sich zurückzuhalten. Das Sich-Öffnen und Sich-Schließen verleihen Kūn eine gewisse Eigenständigkeit und Wahlmöglichkeit. Die Fähigkeit des Sich-Öffnens und Sich-Schließens weist auf eine generative Kapazität, die intrinsisch mit der Kraft des Weiblichen verbunden wird, hin: Nicht nur in dem Sinne, dass das Weibliche etwas austrägt, das von dem MännYijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 493. Siehe auch die Übersetzung von Dennis Schilling: »Himmel und Erde verwirren sich zu einem Knäuel, die zehntausend Wesen wandeln ihren Saft. Mann und Frau paaren ihren Samen, die zehntausend Wesen wandeln ihre Geburt.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 229. Die Vorstellung, dass Kūn sich öffnet und schließt, was der Bewegung des weiblichen Geschlechtsorgans entnommen ist, kann das Bild des Tores wie es in der Großen Überlieferung beschrieben wird (wonach Kūn lediglich mit einer Seite des Mechanismus korreliert) re-evaluieren. Wie wir später noch genauer sehen werden, findet sich die Vorstellung eines einzigen kosmischen Tores, das als Quelle der phänomenalen Welt von Himmel und Erde fungiert – im Sinne einer weiblich chiffrierten UrÖffnung – im Daodejing: Im Gegensatz zu der Großen Überlieferung besteht die transformative Dynamik im Daodejing mehr in einer Rückkehrbewegung, denn in dem Zusammenspiel von antipodischen Kräften. Vgl. Franklin Doeringer: The Gate in the Circle, S. 318. Die Rückkehrdynamik ist abhängig durch die Aktivierung einer einzigen ›dunklen Kraft‹, die allen Dingen inhärent ist und diese zu einer großen Übereinstimmung zusammenführt. Vgl. Franklin Doeringer: The Gate in the Circle, S. 318. Diese allen Dingen inhärente Kraft respondiert mit der Aktivität und Ruhe eines einzigen ›Synchronisators‹ dessen Operationen die Vorgänge des gesamten Kosmos harmonisiert. Manifest nur in der Bewegung, wird dieser ›Synchronisator‹ dao genannt, der Prozess selbst ist jedoch eine bloße Manifestation des dao, das als es selbst dunkel, namenlos und undefinierbar bleibt. Vgl. Franklin Doeringer: The Gate in the Circle, S. 318. Die Bewegung des Öffnens und Schließens, die, dem Vorbild des Weiblichen folgend, das Tor charakterisiert, bildet die konstante Transformation des dao. Das Seiende (yu) entsteht aus dem Nicht-Seienden (wu) und kehren auch wieder in es zurück. In dem Daodejing bedient – im Gegensatz zu der Metapher des Tores wie sie in der Großen Überlieferung erscheint – nur eine einzige Macht, nämlich die weibliche Kraft, dieses Tor. Vgl. Franklin Doeringer: The Gate in the Circle, S. 319. Dem Daodejing scheint damit ein anderes kosmologisches Verständnis zugrunde zu liegen, dass die Kapazität des weiblichen Prinzips in den Anfang rückt. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 493.
288
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lichen initiiert wurde, sondern, dass sie die Keime oder Möglichkeiten des Lebens in sich selbst hat sowie die Fähigkeit und die Macht, diese Gestalt werden zu lassen (die Generativität). Dass die Große Überlieferung das Sich-Schließen des Tores Kūn zuordnet und das SichÖffnen Qián, bestätigt letztlich nur das fixierende, duale Schema, das ausgehend von den Überlieferungen der Dynamik der Zeichen unterlegt wird. Dieses duale Schema hat sich als konstitutiv für die Logik der generativen Unter- und Nachordnung der Wirkweise von Kūn unter diejenige von Qián ergeben. Als Zeugungsmacht hat Qián einen deutlichen Vorrang vor Kūn, selbst wenn Kūn die Möglichkeit zugedacht wird, sich zu verschließen, bleibt ihre Bestimmung diejenige der Gefügigkeit und der Aufnahmefähigkeit, die alleine dazu gedacht ist, der Identität von Qián eine konkrete Gestalt zu geben und sie im Sinne der Herrschaftslogik fortdauern zu lassen. Ihr Sinn geht letztlich – im Kontext der Überlieferungen – darin auf eine (auf der vorrangigen Funktion des Sich-Öffnens des weiblichen Geschlechtsorgans basierenden), ›Matrize‹ für die Ausformungen und Reproduktion der himmlischen Identität bzw. des himmlischen Geschlechtes zu sein. 289 Die geschlechtshierarchisch wertende Auslegung von Kūn und Qián im Sinne einer Dualität von Himmel, oben, würdig und Erde, unten, niedrig – wie sie vielleicht am deutlichsten in der Großen Überlieferung zum Vorschein kommt – bringt eine negative Symbolik der Erde und des Weiblichen hervor, die sich in verschiedenen Zeichen-Thematiken besonders verdichtet zeigt. 290 Die negative Nicht nur aus der Dynamik von Kūn, die es im 4. Kapitel zu entfalten gilt, wird ersichtlich werden, dass Kūn keine untergeordnete, gefügige Stellung im Ganzen des Yijing zukommt, sondern auch aus dem Spruchwerk, welches die Wirkkraft von Kūn im Sinne einer Entscheidungsmacht offenlegt und damit eine dezidierte Gegenstellung zu derjenigen der Überlieferungen bildet. 290 Reich an Metaphorik ist unter anderem das Zeichen 44: Das Verführerische. Vor dem Machtvollen und Starken des Weiblichen, vor allen Dingen seiner erotischen Natur, gilt es sich in Acht zu nehmen und eine Frau, die Macht und Kraft besitzt, dürfe nicht geheiratet werden. Dieses Weibliche, im übertragenen Sinne die Triebnatur, stelle eine Bedrohung für das standhafte Männliche dar und müsse reguliert und konstant unter Kontrolle gehalten werden. Repräsentativ für die Regulationsbedürftigkeit des Weiblichen ist das Zeichen 54: Das heiratende Mädchen. Das Bild des Donners über dem See symbolisiert die Empfänglichkeit des Weiblichen gegenüber dem Männlichen, die nach dem Yijing und den anderen klassischen Schriften als die einzige ihr zukommende positive Eigenschaft – ihre ›Erlösung‹ – betrachtet werden kann. Eine ungezügelte Frau gilt als ein negativer Störfaktor des Kosmos und ihre Empfänglichkeit als ihre einzige Rettung: Aktiviert und geleitet durch das männliche 289
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Spruch, Zeichen und System: Zur Hermeneutik der Macht
Symbolik des Weiblichen lässt sich aber nicht nur in einzelnen Zeichen nachweisen, sondern ist letztlich in das gesamte Gefüge der ›Wandlungen‹ verwoben, sofern die vorausgesetzte Bestimmung von Himmel und Erde (ihre jeweilige Stellung und damit verbunden negativ bzw. positiv konnotierten Eigenschaften) in der Gestalt des Harten und Weichen, des Lichten und des Dunklen, yin und yang, die Bedeutung und wechselnde Folge der Zeichen konstituiert und damit auch in allen durch sie zum Ausdruck kommenden Phänomenen vorhanden ist.
7.
Spruch, Zeichen und System: Zur Hermeneutik der Macht
7.1 Die Zeichen als Ort der Gründung von Macht Das traditionelle Verständnis des Yijing hat sich durch die geschlechtshierarchisch orientierten Interpretationschemata der Überlieferungen hindurch konsolidiert. Wie in der Einleitung bereits hervorgehoben wurde, besteht das Yijing jedoch aus zwei voneinander zu unterscheidenden Schichten: 1. Das historisch ältere Spruchwerk, welches die 64 Zeichenbilder und die diesen Zeichenbildern zugeordneten Sprüche enthält und 2. die historisch jüngeren Texte der Überlieferungen, die in sich selbst auch noch einmal unterschiedlichen Epochen zuzuordnen sind. 291 Aus Sicht der Tradition gehen die Ideen und Vorstellungen dieser beiden Schichten ineinander über und bilden eine vollkommene Einheit. 292 Aus historisch-kritischer Sicht sind Prinzip, den Donner über dem See, würden ihre besseren Qualitäten an die Oberfläche treten: Gefügigkeit, Hingabe und Sanftmütigkeit. Die Frau wird als eine Kreatur gesehen, die reguliert werden muss. Alle Frauen besitzen eine Natur, die überwiegend yin ist und wenn sie nicht durch die yang-Eigenschaften des Mannes reguliert werden, wird die alles entscheidende Harmonie von Familie und Kosmos gestört. Vgl. Richard Guisso: Thunder Over Lake, S. 60. 291 Die Niederschrift der Sprüche, deren Alter und Herkunft selbst schwer zu bestimmen ist und ihre Zuordnung zu den Strich-Zeichen erfolgte vermutlich zwischen dem Ende des 9. und dem Beginn des 7. Jahrhunderts v. Chr. und ist eng verbunden mit der Legitimation der Herrschaft der Zhou. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 253. 292 Aus historisch-kritischer Sicht lässt sich sagen, dass die formale Gestaltung der Zeichen des Yijing im Kontext der Niederschrift des Yijing, besonders der darin zum Ausdruck kommende Dualismus, für politische und naturphilosophische Vorstellun-
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beide Teile vollkommen verschiedenen Gedankenwelten zuzuordnen und damit getrennt voneinander zu betrachten. 293 Diese Differenzierung ist wichtig, da sie Möglichkeiten eines anderen Verständnisses des Yijing eröffnet. Ausgehend von Motiven der älteren Textschichten des Yijing lassen sich verschiedene Sinnstrukturen ausmachen, welche die historisch jüngere Textschicht der Überlieferungen, die die Zeichen und Sprüche vor ihrem zeitgenössischen Hintergrund auslegen, in Frage stellen. Dies betrifft einerseits die BewegungsDynamik der Zeichen, aus der sich ein anderes Verständnis von Kūn und davon ausgehend der Bedeutung des Gestaltungsprozesses des Yijing gewinnen lässt und anderseits das Spruchwerk, dessen Motive auf eine andere Form der Bedeutung der Zeichen – darunter insbesondere der ursprünglichen Wirkmacht von Kūn – schließen lassen. Dabei stellt sich die Frage, inwiefern es eine Verbindung zwischen den Motiven des Spruchwerks und den Zeichen und ihres Aufeinanderbezogenseins gibt. Tradition und historisch-kritische Sicht unterscheiden sich nämlich vor allem im Hinblick auf die Frage nach dem Status der Zeichen und ihrer Bedeutung und Funktion für die Erschließung des Spruchwerkes. 294 Für die historisch-kritische und philologische Sicht sind die Sprüche primär, während die Symbolik der Zeichen als eher sekundär gen zum Ende der Zhou-Dynastie und dem Beginn der Han-Dynastie nutzbar gemacht worden ist. Dabei ist jedoch die Adaption des Spruchwerks in die politische und ethische Diskussion der ausgehenden Zhou Dynastie aus ideengeschichtlicher Sicht bedeutsam: Fortan gehört die prestigeträchtige Kompilation zum ideellen Vermächtnis der frühen Könige, auf das sich verschiedene politische und philosophische Denkrichtungen beziehen. Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 50. 293 Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 47. 294 Den Forschungen des Altphilologen Gao Heng zufolge gilt es als ersten unabdingbaren Schritt für die Rekonstruktion der Urfassung des Spruchwerkes die Textschichten – des Spruchwerks und der Überlieferungen – voneinander zu trennen. Zur Rekonstruktion der ursprünglichen Sprachgestalt des Yijing sieht es Gao Heng dabei vor, alles, was wie eine Verfälschung durch die Überlieferungen erscheint, auszuschließen: Darunter fällt vorrangig auch sinnhafte Beziehung zwischen den Zeichen und den Sprüchen. Folgt man der traditionellen Exegese, bilden die Zeichen und Sprüche eine untrennbare Einheit. Nach Dennis Schilling steht die Rekonstruktion des vorantiken Spruchwerks vor weitaus größeren Schwierigkeiten, als es die reduktionistische Methodik von Gao Heng vorgibt. Dennis Schilling versucht hingegen zunächst der Frage nachzugehen, welchen Ideen der Beziehung von Zeichen und Spruch bereits im Spruchwerk zu Grunde liegen und ferner in welchem Bezug diesen Ideen zu den Überlieferungen stehen. Vgl. hierzu Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 49 f.
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Spruch, Zeichen und System: Zur Hermeneutik der Macht
betrachtet wird. Sie tendiert dazu, den eigentlichen Sinn des Werkes und seiner Sprüche unabhängig von den Zeichen zu erschließen, oder ihnen eine nur formale Funktion zuzuweisen; teilweise wird der sinnhafte Bezug zwischen Spruch und Zeichen als eine Verfälschung der Überlieferungen überhaupt gesehen. 295 Aus Sicht der Tradition liegt die Herkunft des Yijing dagegen in den Zeichen, während die Sprüche lediglich Erklärungen dazu angeben. 296 Diese für die Tradition fundamentale Rolle der Zeichen ergibt sich unter anderem aus ihrer Funktion, eine Basis der Legitimation für den politischen Herrschafts- und Machtanspruch zu schaffen, der in den Interpretationen der Überlieferungen zur Geltung kommt. Der Herrschaftsanspruch der Überlieferungen basiert auf der Aneignung des Sinnes der Zeichen zum Zwecke der Implementierung einer Machtstruktur und wird, wie wir gesehen haben, auf unterschiedliche Weise konstruiert. Den Zeichen kommt für die Einlösung des Machtanspruches demnach eine zentrale Bedeutung zu. Es ist offenbar so, dass die Erschließung des Sinnes des Spruchwerkes sich nicht außerhalb der Komposition des Werkes anhand der Zeichen bewegen kann. 297 Dies bedeutet, dass der sinnhafte Bezug zwischen Spruchwerk und Zeichen nicht in Frage gestellt werden kann, genau so wenig wie die fundamentale Bedeutung der Zeichen für das Verständnis des Yijing als solchem. Was jedoch in Frage gestellt werden kann, ist der herrschaftsorientierte und konzeptuell fixierende Zugang der Überlieferungen zu den Zeichen und auch zu dem Spruchwerk. So deutet die Dynamik der Zeichen an sich auf andere Möglichkeiten des Verständnisses des Ganzen hin als das durch die Überlieferungen imponierte Schema. 298 Die unaufhörliche Bewegung der Generativität, Umkehr und Rückkehr ergibt eine andere Konzeption von Ausgleich und wechselseitiger Ergänzung als die Reproduktion statischer binärer Gegensätze. 299 Zwar ist die GeVgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 52. Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 52. 297 Vgl. Dennis Schilling: Embleme der Herrschaft, S. 57. 298 Die neueste historische Forschung und Kontextualisierung der älteren Schichten zeigt ein anderes Bild der statischen hierarchischen Ordnung der Natur und Gesellschaft: Umgestaltung, Umkehrung, Bewegung, Hervorbringung und fruchtbarer Austausch sind konstitutiv für den Gestaltungsprozess des Yijing, wo die Polaritäten der Positionen sich kontinuierlich verändern wie in einem Tanz. Vgl. Nelson and Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 269. 299 Vgl. Nelson and Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 269. 295 296
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
schlechtsthematik auch in dem Spruchwerk präsent, auch findet sich eine zeitlich strukturierte und hierarchische Anordnung des Spruchmaterials, jedoch wird das Geschlecht in den Sprüchen anders verstanden: Im Zentrum steht mehr eine periodische Erneuerung der Fruchtbarkeit, für welche die Dynamik des Zeichens Kūn maßgeblich ist. Das Verhältnis von Kūn und Qián und der Modus ihres Aufeinanderbezogenseins stellen sich anders dar, wenn die von den Überlieferungen ausgeblendeten Sinnstrukturen des Wirkspektrums von Kūn wieder eingeholt werden. Dadurch wird gleichzeitig eine Interpretationsgrundlage für ihre eigene Signifikanz und das Ethos des Unverfügbaren geschaffen. Die Asymmetrie zwischen den Interpretationschemata der Überlieferungen und der in den Zeichen auszumachenden Dynamik von Kūn zeigt den ›ideologischen‹ Charakter an, welcher den Überlieferungen anhaftet. So suggeriert die rein graphosemantische Darstellung von Kūn und Qián ein Verhältnis wechselseitiger Inhärenz und Immanenz, wo Kūn im Grunde sogar eine fundierende Stellung und Funktion zugesprochen werden müsste. Erst auf der Ebene der systematischen Sinnaneignung der Zeichen durch die Überlieferungen des Yijing wird daraus eine hierarchische Struktur entworfen, die eine Logik der Subordination der Erde nach sich zieht. Durch die geschlechtsorientierte Stratifizierung in Gegensätzen besitzt der Himmel den Status eines dominanten Bedeutungsträgers, der die ganze symbolische Ordnung des Yijing durchwaltet. Der übergeordnete Status des Himmels wird durch eine ›Hermeneutik der Macht‹ gerechtfertigt und zwar im Sinne eines genitivus objectivus, d. h. einer machtbegründenden Hermeneutik. Hermeneutik der Macht bedeutet, dass sich durch die Überlieferungen hindurch eine spezifische Form der Aneignung des Sinnes der Zeichen und auch der Sprüche vollzogen hat, die als Legitimationsgrund politischer Macht und gesellschaftlicher Ordnung fungiert und dessen Niederschlag die Tradition begründet. Die Hermeneutik der Macht ist sinnstiftend für die Tradition: Tradition verweist stets auf eine Konsolidierungsgeschichte, d. h. die Aneignung von Sinn als Vernähung verschiedener Schichten zu einem Ganzen. Die Entwicklung der Hermeneutik der Macht der Überlieferungen hängt methodisch mit der Reduktion des vollen Wirk- und Bedeutungsspektrums von Kūn auf eine unterlegene Funktion, ihrer Bestimmung als das SichFügen der Erde zusammen, die der Einrichtung einer Ökonomie der Macht dient, in dessen Zentrum der Himmel und der durch ihn ver196 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Spruch, Zeichen und System: Zur Hermeneutik der Macht
körperte Machthaber steht. Die Zeichen des Yijing lassen sich in diesem Sinne, insbesondere vor dem Hintergrund ihres wirkmächtigen Charakters, als Ort der Gründung der Tradition verstehen: Die in den Zeichen symbolisch verkörperte und kodifizierte Macht verleiht der Tradition ihre Gründungskraft. Die Zeichen als der Ort der Gründung der Tradition ist zugleich der Ort der Wahrheit, der Autorität und der Macht des Ursprungs. Dabei spielt die Annahme einer Kontinuität zwischen den Zeichen des Yijing und der Wirklichkeit (d. h. die Kontinuität der Wandlungen) – die insbesondere in der Großen Überlieferung deutlich wird – eine maßgebliche Rolle. Die Macht des yi hängt von dieser Korrespondenzbeziehung zwischen dem ›Text‹, den Zeichen und der Wirklichkeit ab. 300 Der Begriff der Wandlungen bezeichnet nicht nur die Zeichen des Yijing, sondern zugleich das Wandlungsgeschehen der Wirklichkeit. 301 Die Überlieferungen erklären die Bedeutung der Zeichen und des gesamten Yijing durch die Voraussetzung, dass deren konstitutive Elemente eine unmittelbare Entsprechung mit der Welt haben. Die ›Bilder‹ als visuelle Zeichen ermöglichen dabei Einsicht in die Struktur der Wirklichkeit und ihrer inhärenten Tendenzen durch ihre Entsprechung zur natürlichen und sozialen Welt. 302 Der Fokus der Überlieferungen auf die ›Bilder‹ hat das Yijing in eine natürliche Das Yijing wurde nicht nur als der ultimative Ursprung der Schrift, sondern zugleich auch der Behandlung der Macht der Zeichen angesehen. Die Große Überlieferung erklärt die Erzeugung des yi durch die weisen Könige des Altertums, die die Zeichen nutzten, um die Zivilisation aufrechtzuerhalten. Fu Xi gilt als Stammvater sowohl der Schrift als auch des königlichen Weges. Allein er kontemplierte unmittelbar natürliche Muster, während alle anderen zivilisatorischen Erfindungen durch die Hexagramme inspiriert wurden, die durch dieses anfängliche Schauen entstanden sind. Diese anfängliche Entdeckung der Trigramme aus der Kontemplation der Natur, die Wurzel der Zivilisation, ist identisch mit dem Anfang der Schrift. Die damit verbundene Idee einer Theorie geschriebener graphischer Zeichen als eine direkte ›Abbildung‹ der Struktur der Wirklichkeit unberührt von der gesprochenen Sprache hatte einen großen Einfluss auf Konzepte der Chinesischen Schrift. Vgl. Lewis: Authority and Writing, S. 276. Vor allen Dingen das Vermögen der Schrift parallele Wirklichkeiten zu erzeugen, bildet nach Lewis den Schlüssel für seine fundamentale Rolle: »The culminating role of writing […] and the key to its importance in imperial China, was the creation of parallel realities within texts that claimed to depict the entire world.« Mark Lewis: Authority and Writing, S. 4. 301 Diese Gleichsetzung von Zeichen und Wirklichkeit ist nach Lewis zentral für den Versuch der Entwicklung einer natürlichen Philosophie der Schrift. Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 262. 302 Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 262. 300
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Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
Philosophie von Zeichen transformiert, in dem mittels einer Infinitesimalrechnung die Prozesse der Welt durch die Manipulation einer begrenzten Anzahl an Grundeinheiten erfasst werden. 303 Diese Grundeinheiten werden in sich selbst als bewegt und dynamisch betrachtet und es bestehen Korrespondenzen zwischen ihnen. Demnach entwickeln die Überlieferungen eine ›Protowissenschaft‹ 304 von generierenden und mutierenden Zeichen, um die Muster, die der Wandlung der Welt unterliegen, zu erfassen. 305 Weil sie sowohl ein feststehendes Repertoire an Zeichen und Interaktionen als auch eine abstrahierte Repräsentation von natürlichen oder sozialen Phänomenen darstellen, sind die Elemente des Yijing ununterscheidbar Text und Wirklichkeit. Die Identität von Text und Welt oder ihrer gegenseitigen Hervorbringung bekräftigt die Idee, dass Ersteres eine direkte Wahrnehmung der Strukturen von Letzterem ermöglicht und autorisiert die Gewährsmänner des Yijing als Meister der Weisheit: der Zeit, des Raumes und der Wirklichkeit. 306 Durch die Zeichen wird nicht nur eine direkte Verbindung zur Wirklichkeit hergestellt, sondern die Zeichen sollen in ihrer potentiellen Macht über die Wirklichkeit hinausgehen: sie begründen oder schaffen – bestimmen – die Wirklichkeit. Die Auslegungen der Überlieferungen sind zugleich die Einschreibung einer spezifischen Ordnung der Macht in das Gefüge der Wandlungen und damit der Welt. Die Welt wird informiert durch den Text, die Elemente des Textes und sein inneres Gefüge: Die Beherrschung des Textes und die darin geschaffene Welt kommt der Beherrschung der Wirklichkeit als von diesem Text erschaffener Ordnung gleich. Dem Zeichen Kūn eignet, wie es im vierten Kapitel anhand von einer zu entwickelnden Gegenhermeneutik zu zeigen gilt, ein gewisses Vermögen, den Ort der Gründung der Macht der Überlieferungen als eine Leere freizulegen, in dem Sinne, dass ihre uneingeschränkte Offenheit an sich mit jeder Strategie des Ursprungs (als Gründung der Wahrheit und Macht) bricht. In Kūn lässt sich eine Bewegungsdynamik ausmachen, die dem Aufbau von festen, konsistenten Einheiten widerspricht. Sie ist jedoch nicht rein dekonstruktiv aufzufassen, da ihre Offenheit gleichVgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 265. Nach Lewis haben die Autoren der Überlieferungen durch die Definition der Elemente und Relationen die phänomenale Welt in ein proto-mathematisches System überführt. Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 266. 305 Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 265 f. 306 Vgl. Mark Lewis: Authority and Writing, S. 266. 303 304
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Spruch, Zeichen und System: Zur Hermeneutik der Macht
zeitig auf eine ereignishafte Wandlungsstätte hinweist, die jedoch von keiner Besetzungsstrategie mehr abhängig zu machen ist. Die Freilegung der verdeckten Sinnschichten von Kūn trägt in diesem Sinne zu einer radikalen Dekonstruktion der Macht bei, und zwar nicht in dem Sinne, dass die Machtposition von Qián durch Kūn ersetzt wird, sondern vielmehr durch einen selbstdekonstruktiven Abbauprozess, der dem immanenten Wirkpotential von Kūn selbst entspricht, bzw. sich aus diesem gewinnen lässt.
7.2 Der Mythos als Legitimationsgrund von Macht Für die Herausstellung der verdeckten Sinnschichten von Kūn spielen zugleich einige mythologische Elemente, die sich mit verschiedenen Motiven aus dem Spruchwerk zu Kūn verbinden lassen, eine wichtige Rolle. Grundlegend hierfür ist ihr Verständnis als Gottheit der Erde, welches der Vorstellung von der Erde als einer kosmologischen Größe vorangeht und sich eher in der älteren Lesart des Yijing im Kontext des religiösen Opfer- und Orakelkultes situieren lässt. Obschon die Mythen jedoch einen Teil der wichtigsten Sinnstrukturen des Yijing darstellen, die es ermöglichen, einen ursprünglicheren Bedeutungszusammenhang der Zeichen zu erschließen und in diesem Sinne zur Sichtbarmachung des Sinnspektrums von Kūn auch herangezogen werden können, dürfen gerade sie nicht ohne Vorbehalt befragt werden, sofern insbesondere dem Mythos eine maßgebliche Funktion in der Legitimation der Herrschaft zukommt. Der Herrschaftsordnung, die in der Sinnstruktur und den Zeichen des Yijing kodifiziert ist, wird in der Kompilation des mythologischen Materials ein erzählerischer Geltungsanspruch verschafft. Innerhalb des Konsolidierungsverfahren der Tradition als Sinnaneignungsprozess kann der Mythos als ein nicht mehr weiter hinterfragbarer Legitimationsgrund von Macht und Autorität angesehen werden. Der Mythos wird dadurch zu einem wichtigen Werkzeug der Hermeneutik der Macht. Die Problematik von Kūn hängt letztlich mit einem Geltungsbzw. Begründungsanspruch der Macht zusammen, dessen Ab-gründigkeit sich durch eine kritische Rekonstruktion der mythischen Schichten, die im Kontext der Gewinnung einer räumlichen Ordnung und damit verbunden des Entstehens der Welt stehen, hin zu der Frage nach der Authentizität des Schöpfungs- und Erdgestaltungsmythos zuspitzen lassen, der ursprünglich mit der Gottheit der Erde 199 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
(Hou Tu) in Zusammenhang stand, jedoch im Rahmen der Überlieferung der klassischen Mythologie nicht unter ihrem Namen tradiert wurde. In dem Versuch einer Rekonstruktion des Mythos von der Gottheit der Erde (Hou Tu) wird auch etwas von den in der Systematik der Überlieferungen des Yijing verdrängten Schichten hinsichtlich eines allumfassenderen Verständnisses der Erde und ihrer Wirksamkeit sichtbar. Der Mythos von der Gottheit der Erde (Hou Tu) zeigt auf einer anderen Ebene dasjenige auf, was sich auch ausgehend von einer Auslegung der Dynamik von Kūn im Yijing gewinnen lässt: nämlich ihre primär generative und gestalterische Macht und Funktion mit Blick auf die Erschaffung und Ordnung der Welt. In Bezug auf die klassische chinesische Mythologie dient der Versuch der Wiedersichtbarmachung mythischer Zusammenhänge, die von der Tradition unkenntlich gemacht wurden, der Infragestellung des Absolutheits- und Machtanspruches der (schriftlichen) Überlieferung. Dieser Versuch kann als eine Form der Dekonstruktion verstanden werden, die nicht das Ziel verfolgt oder das Recht beansprucht, die ursprüngliche Gestalt des Mythos ans Tageslicht zu befördern, sondern die Schichten abbaut, um die Möglichkeit einer anderen Form der (in den mythischen Zusammenhängen verankerten) ›Geschichte‹ sichtbar werden zu lassen. Dabei kommen der Konstruktion und Narration von Geschlechtlichkeit eine besondere Rolle zu. Im Yijing erscheint Kūn als Erde ausgehend von ihrer traditionellen Bestimmung unter der Konstruktion des Sich-Fügens, die eben dazu dient das Ganze in einer bestimmten Weise auszulegen: himmels- und machtzentriert. Durch die Heranziehung mythischer Schichten kann ein anderes ›Bild‹ der Erde im Sinne einer machtvollen Gottheit aufgezeigt werden, die mythologisch mit der Hervorbringung und Gestaltung der Welt und des Menschen in Zusammenhang steht. Es gilt demnach, eigentlich eine doppelte Form der Dekonstruktion zu vollziehen: Nicht nur eine Dekonstruktion der Überlieferungen des Yijing, sondern auch der Überlieferung der klassischen Mythologie im Kontext des mit der Gottheit der Erde verbundenen Schöpfungs- und Erdgestaltungsmythos. Es bedarf einer Abbaubewegung, die methodisch den engen Zusammenhang zwischen der Konstruktion des Geschlechts und der Geltendmachung des Herrschaftsanspruches in der Überlieferung der Mythen deutlich macht. Unter diesen Vorzeichen zeigt sich die Konsolidierungsgeschichte der Tradition im Sinne der mythologischen Überlieferung als eine Geschichte der Vermännlichung von ursprünglich weiblichen 200 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Spruch, Zeichen und System: Zur Hermeneutik der Macht
Gottheiten, worunter die Gottheit der Erde nur ein prominentes Beispiel bildet. Ursprünglich wurde die Gottheit der Erde (Hou Tu) im Mythos doppelgeschlechtlich vorgestellt, was als die Kennzeichnung der Unabhängigkeit angesehen werden kann. Die Idee der Doppelgeschlechtlichkeit, welche im Mythos zum ersten Mal erscheint, liegt dem Denken der Komplementarität von Himmel und Erde wie auch dem Schema von yin-yang zugrunde. Retrospektiv betrachtet wurde diese Doppelgeschlechtlichkeit jedoch im Sinne einer auf Geschlechterteilung basierenden Paarverbindung gedeutet: Himmel-Erde, yin-yang, Mann-Frau, wobei der Logik der Subordination entsprechend die weibliche Seite innerhalb des Schemas zugleich eingeschränkt wird. In der mythologischen Überlieferung zeigt sich dies darin, dass bestimmte Funktionen und Qualitäten der weiblichen Gottheiten in der Amalgamierung zweier eigenständiger Gottheiten zu einem Paar auf männliche Gottheiten übertragen wurden, oder die Verdienste weiblicher Gottheiten hinter dem Prestige der männlichen Gottheiten zurücktreten. Ein Blick auf die verdeckten Schichten des Mythos kann zeigen, dass die Auslegung der Doppelgeschlechtlichkeit im Sinne eines Bezugsmusters zwischen zwei verschiedenen, getrennten, das männliche und das weibliche verkörpernden Kräften, einen Teil der machtvollen patriarchalen Konstruktion ist, welche der Tradition ihre Autorität verleiht. Die Weise, wie Kūn traditionell – im Gegensatz zu Qián – im Yijing gedacht wird, ist Teil der Sinnaneignung und insofern eine strategische Notwendigkeit zur Entwicklung der Hermeneutik der Macht, welche in ihrer Anreicherung zur Konsolidierung der Tradition bzw. dessen geführt hat, was auf der Ebene einer exegetischen Kanon-Formation gerechtfertigt wurde. Dieser Zusammenhang macht die Notwendigkeit einer Differenzierung der verschiedenen Schichten des Yijing noch einmal deutlich und legt das Augenmerk darauf, dass das Yijing nicht als ein homogenes, in sich geschlossenes Werk zu betrachten ist, sondern ganz verschiedene Narrationsmöglichkeiten beinhaltet, die der Hermeneutik der Macht der Überlieferungen nicht entsprechen. Dass das Altertum offensichtlich eine andere Vorstellung der Erde als diejenige einer sich der Macht des Himmels fügenden und ihm unterworfenen kannte, zeigt sich nicht zuletzt auch im Mythos. Dabei ist dieses andere Verständnis der Erde, wie es sich ausgehend von dem Mythos erschließen lässt, auch in den Zeichen des Yijing und vor allen Dingen in Kūn zu erkennen, jedoch 201 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Teil II – Ku¯n: Das Sich-Fügen der Erde
durch die machtvolle Konstruktion der Überlieferungen überschichtet. In der Vertiefung der Problematik der selektiven Überlieferung der Mythen soll noch einmal deutlicher werden, dass Kūn ein Sinnspektrum besitzt, das nicht nur nicht durch die Tradition überliefert wurde, sondern dessen Eingrenzung der Konsolidierungsmacht der Tradition dient. Das Konzept der Gefügigkeit der Erde hat den Charakter eines wirkmächtigen Symbols und ist Teil der machtvollen Stiftungslogik einer spezifischen kulturellen Identität. Das Konzept der Gefügigkeit der Erde hängt intrinsisch mit der Weise zusammen, wie Macht gedacht wird und sich konstituiert: nämlich in der Form einer einschränkenden Unterordnung der Erde und des Weiblichen. Die Anbindung von Kūn an den mit der Erde verbundenen Schöpfungsmythos – und ihre zentrale Rolle hinsichtlich der Hervorbringung der Welt und des Menschen – erweitert den Blick auf das Wirk- und Bedeutungsspektrum von Kūn. Die Tatsache, dass es sich bei Kūn um ein sehr machtvolles Zeichen handelt, dessen Status sich letztlich ganz unabhängig von dem Mythos, nämlich aus einer Auslegung ihrer Zeichendynamik gewinnen lässt, macht zugleich deutlich, dass die Rekonstruktion der Mythen hier keine rein fundierende Funktion haben soll, sondern letztlich dem Aufweis einer parallelen Logik der Macht dient und zugleich den Blick dafür öffnet, dass der Mythos offenbar Elemente verwahrt, die ein Korrelat zu dem Verständnis von Kūn, das ausgehend von einer dekonstruktiven Gegenhermeneutik zu gewinnen ist, bilden. Es gilt einen neuen Zugang zu dem Ganzen – dem Gefüge der Wandlungen und damit gewissermaßen auch zur Wirklichkeit – zu schaffen, und zwar ausgehend von Kūn und ihrer im Yijing manifesten Gestalt der ›Erde‹. Kūn bzw. die Erde darf in diesem Sinne nicht als eine festgelegte Größe verstanden werden, genauso wenig wie das Ganze im Voraus besteht: Die durch die Dynamik von Kūn neu zu gewinnende Sicht und Haltung gegenüber der Erde ist vielmehr der Schlüssel zu einem neu zu gewinnenden Ganzen.
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde: Mythologische Schichten und religiöser Kontext
Kūn wird ausgehend von dem Kontext des Spruchwerkes – wo Ahnenverehrung und ein damit verbundener Opferkult dominieren – mit der Ahnengottheit der Erde oder dem ›Ahn des Erdreichs‹ 1 in Verbindung gebracht. Dabei wurde das Zeichen Kūn nicht nur auf das Emblem der Ahnengottheit der Erde zurückgeführt, sondern – ausgehend von seiner Lineatur bzw. seinem ganz spezifischen Muster – unter anderem auch mit einem Ritualgefäß assoziiert. 2 Im Folgenden soll es darum gehen, dieser möglichen Verbindung zwischen Kūn und dem Zeremonialgefäß, dem sogenannten cong, nachzugehen: Verschiedenen Untersuchungen zufolge soll die Funktion und Symbolik dieses Gefäßes mit der Konzeption der Erdgottheit und ihrer religiösen Bedeutung im Kontext eines Fruchtbarkeits-, Toten- und Regenerationskultes in Zusammenhang gestanden haben. Die diversen Untersuchungen zur Erdgottheit, die im Folgenden dargelegt werden sollen, stehen dabei im Zusammenhang mit einem im 20. Jahrhundert in der sinologischen Forschung gehaltenen Diskurs hinsichtlich der Frage nach dem Alter und Status eines der Erde zukommenden Opfer-Kultus in der frühen chinesischen Religion: Grundlage für diesen Diskurs bildet die ausgehend von einigen maßgeblichen Untersuchungen vollzogene grundsätzliche Infragestellung eines dem Himmelskult äquivalenten Kultus der Erde im Altertum. Dabei wurde teilweise ausgehend von der mythologischen Überliefe»Das Hauptopfer an den [Ahn] des Erdreichs ist der Weihung an die Urstute dienlich.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. Es stellt sich die Frage, warum hier nicht von einer Ahnin der Erde bzw. des Erdreichs die Rede ist, sofern das Geschlecht, das im Orakelspruch zu Kūn genannt wird (nämlich des geopferten Tiers, das mit der Gottheit in enger Verbindung steht), eindeutig weiblich ist. Auf die Frage inwiefern die Ahnenverehrung mit einem patrilinearen Abstammungssystem zusammenhängt, soll weiter unten (Vgl. Kūn als Zeichen eines horizontalen Weltzuganges) eingegangen werden. 2 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 445. 1
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
rung nicht nur das Alter der kultischen Verehrung der Erde, sondern auch ihr Geschlecht in Frage gestellt. Die Frage nach dem Geschlecht der Erdgottheit und seiner Konstruktion bildet die Grundlage des Versuchs einer Wiederherstellung mythologischer Vorstellungen, die mit der antiken Konzeption der Erdgottheit in Verbindung gestanden haben könnten, jedoch als solche nicht überliefert wurden. Die Geschlechtsdimension in dem Diskurs über die Erdgottheit kann als ein symptomatisches Moment der teilweise nicht nur eurozentrischen, sondern zugleich auch androzentrischen bzw. paternalistischen Ausrichtung westlicher Forschung gegen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, d. h. der Einseitigkeit im Hinblick auf die Bewertung der Rolle des Weiblichen und dem Verständnis ihrer Symbolik in der Religion nicht-westlicher Kulturen, betrachtet werden. 3 Diese Ausrichtung scheint, wie gezeigt werden soll, bis zu einem gewissen Grad in Übereinstimmung mit der patriarchal orientierten Überlieferung der klassischen Schriften der chinesischen Tradition zu stehen: Der Eliminierung von Frauen aus der Formgebung des klassischen Literaturkanons sowie das Herausschreiben weiblicher Gottheiten aus der mythologischen Überlieferung und der Übertragung ihrer Funktionen auf männlich-historisierte Gründungsfiguren. Zugleich zeigt sich in dem Diskurs aber auch, dass es sowohl in der westlich-sinologischen Forschung als auch in der Auslegung der Überlieferung der Mythen eine der androzentrischen, oder paternalistischen Linie des Diskurses konträr entgegenstehende Deutungsmöglichkeit gegeben hat, die Bezug nimmt auf die herausragende Stellung und Funktion der Gottheit der Erde und dem auf weiblichen Gottheiten basierenden Fruchtbarkeitskult, eine Sichtweise, die sich teilweise mit älteren und neueren archäologischen Entdeckungen – darunter auch das cong-Gefäß – und den damit verbundenen Interpretationsmöglichkeiten deckt.
1.
Das Jade-Bild der Gottheit der Erde
Ein cong ist ein prismatischer Zylinder, ein Gefäß, das im Inneren eine kreisrunde Öffnung bildet, die von einer viereckigen Form umgeben ist. Dem Altsinologen Eduard Erkes zufolge soll dieses Gefäß Vgl. Jordan Paper: Through die Earth Darkly, Female Spirituality in Comparative Perspective, hrsg. v. Jordan Paper, New York 1999.
3
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Das Jade-Bild der Gottheit der Erde
das älteste Symbol für die Erdgottheit darstellen und in Trauerzeremonien dazu verwendet worden sein, die Rückkehr der Toten zur ›Mutter Erde‹ zu vollziehen. 4 Dabei präsentiert ihm zufolge sein Hohlraum bzw. seine Öffnung die Vagina oder den Bauchraum der ›Mutter Erde‹ – wie sie in dem Erd-Kult als Grube oder Vertiefung vorgestellt wurde, in welcher die der Erde dargebrachten Opfer begraben wurden. 5 Nach Erkes ist diese Konzeption auch in der Liniengestalt des Zeichens von Kūn im Yijing enthalten, dessen Form oder Gestalt im Sinne einer durchgehenden Öffnung dieselbe Idee impliziert. 6 Conrady assoziiert in seinen Studien zum Yijing mit der großen Spalte des Zeichenbilds von Kūn eine »Opfergrube für die Erdgottheit« 7. Die Verbindung zwischen Kūn und dem cong ist umso eingehender, sofern, wie es aus einigen Abbildungen hervorgeht, die Lineatur von Kūn als Ornamentstruktur des cong selbst verwendet wurde. 8 Die Vorstellung von Kūn als Urform der Vagina ist – obschon eingebunden in eine spezifische kosmologische Interpretationsfigur – auch in den Überlieferungen des Yijing präsent. 9 Dass Kūn mit einem Opferkult verbunden war, geht aus dem zentralen Urteilsspruch zu Kūn aus dem Spruchwerk hervor, wo von dem zu vollbringenden Hauptopfer an den Ahnen des Erdreichs bzw. die Ahnengottheit der Erde die Rede ist. 10 Dieselbe Vorstellung ist aber auch noch in der Überlieferung des Urteils erhalten. 11 Das viereckige cong-Gefäß ist neben der runden bi-Scheibe, die symbolisch mit dem Kult der Gottheit des Himmels assoziiert wurde, eines der bekanntesten Jade-Objekte der Liangzhu-Kultur (ca. 3300– 2200 v. Chr.) des späten Neolithikums. Das frühste Aufkommen Vgl. Eduard Erkes: Some Remarks on Karlgren’s ›Fecundity Symbols in Ancient China‹, in: BMFEA, 3, 1931, S. 63–68, hier. S. 66. 5 Vgl. Eduard Erkes: Idols in Pre-Buddhistic China, in: AA,1928, S. 4–12, hier S. 6. 6 Vgl. Eduard Erkes: Some Remarks, S. 66. 7 Vgl. August Conrady: Yih-king-Studien, hrsg. v. Eduard Erkes, in: AM 7, 1932, S. 410–468, hier S. 417. 8 Siehe hierzu die Abbildungen von Berthold Laufer: Jade. A Study in Chinese Archaeology and Religion, Chicago 1912. Ein Exempel dieses cong befindet sich im Metropolitan Museum of Art. Vgl. New York. The-Metropolitan-Museum of Art. ›Arts of Ancient China‹, 2005. Siehe Abbildung 3. 9 Die Vorstellung zeigt sich strukturell auch im Daodejing in der Figuration des dao im Sinne eines weiblichen Tores, durch das alle Dinge ein- und wieder austreten. 10 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 11 »Umschließend dehnt sich [das Erdreich], glänzend weitet es sich, um der vielerlei Wesen Opfer zu genießen.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. 4
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
künstlerischer Verarbeitung von Jade findet sich bereits 3500 v. Chr. in der Hongshan Kultur, wo verschiedene Jade-Objekte im Kontext zeremonieller Stätten, Tempelanlagen und Gräbern gefunden wurden. 12 Diese Jade-Funde stehen vermutlich in Zusammenhang mit einem alten Furchtbarkeitskult. In Dongshanzui wurden zwei Altaranlagen mit einer rechteckigen und einer runden Plattform und umgeben von mehreren weiblichen Figurinen entdeckt. 13 Dem Verständnis der Forschung zufolge bildete Dongshanzui ein zeremonielles Zentrum, dessen Opferaltar vermutlich der Verehrung einer als Fruchtbarkeitsgöttin betrachteten Erdmutter galt. 14 Es wird angenommen, dass sie dasjenige repräsentiert hat, was in späteren literarischen Quellen Hou Tu oder ›Herrscherin Mutter Erde‹ genannt wird. 15 Die Betonung der Verehrung einer Fruchtbarkeitsgöttin stand hochwahrscheinlich mit der Ahnenverehrung in Verbindung, wo die Fruchtbarkeitsgöttin eine mystifizierte Ahnin verkörperte. 16 Ein zentrales Objekt der Ausgrabungen der Hongshan Periode bildet das Motiv des Drachens, darunter der sogenannte ›Schweine-Drache‹, der als eine frühe Form des bekannten mythischen chinesischen Drachen angesehen werden kann. Im Kontext des Fruchtbarkeitskultes könnte der Drache als eine Art Gehilfe der Göttin und als ein Fruchtbarkeitssymbol fungiert haben. 17 Darüber hinaus stand er offenbar in Verbindung mit dem Beginn der Agrarkultur und der domestischen Fruchtbarkeit. Der Drache gilt in den früheren literarischen Quellen als ein Regenbringer, eine Quelle der Fruchtbarkeit und ein Symbol des Überflusses. In Verbindung mit den archäologischen Funden, welche die Hongshan-Jade-Drachen mit Fruchtbarkeitsfigurinen in einen Bezug stellen, liegt die Vermutung nahe, dass der Hongshan Drache ursprünglich als ein Fruchtbarkeitssymbol der Erdmutter konzipiert wurde. 18 Auffällig ist die den geometrischen Proportionen folgende Formübereinstimmung zwischen der Konstruktion der Altaranlagen der Hongshan, dem cong-Gefäß und der bi-Scheibe der mit der Hongshan-Kultur sich zeitlich überschneidenden LiangzhuVgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture: the dragon and fertility cult worship, in: Arts Asiatiques, 46, 1991, S. 82–95, hier S. 82. 13 Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture, S. 91. 14 Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture, S. 91. 15 Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture, S. 91. 16 Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture, S. 91. 17 Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture, S. 92. 18 Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture, S. 92. 12
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Das Jade-Bild der Gottheit der Erde
Kultur. Dabei wurden die cong und bi Jade-Objekte überwiegend in Elite-Gräbern entdeckt. Einigen Forschungen nach sollen sie als rituelle oder astronomische Werkzeuge gedient haben und galten außerdem als Symbole kosmologischer und sozialpolitischer Macht. 19 Rekonstruktionen zufolge bildete die zweitgrößte Stätte der LiangzhuKultur eine prachtvolle, groß angelegte Stadt, welche die Form eines Jade-cong, eines von einem Vier- oder Rechteck umgebenen Kreises, imitierte. 20 Cong und bi haben demnach eine lange Geschichte im frühen China, ausgehend von ihrem Entstehen in der Liangzhu Periode, ihrer Abnahme während der Xia, der Shang und der Westlichen Zhou-Zeit und ihrem Wiederaufkommen während der Östlichen Zhou- und Han-Dynastie. 21 Bereits Berthold Laufer widmete sich, zu einer Zeit, wo viele archäologische Funde noch nicht feststanden, in seiner Studie Jade: A Study in Chinese Archaeology and Religion dem Vorkommen von Jadeobjekten in den religiösen Kulten Chinas und suchte die symbolische und religiöse Bedeutung von cong und bi in den Kontext der Verehrung der Gottheit der Erde und des Himmels zu stellen. Er bezieht sich dabei unter anderem auf das sogenannte Zhouli, die Riten der Zhou, die cong und bi der Erde und dem Himmel zuordnen und unter vermutlichen korrespondenz-theoretischen Überlegungen sogar deren Platzierung auf den Leichen in den Särgen angeben. 22 In Übereinstimmung mit Erkes kommt Laufer zu der Schlussfolgerung, dass die Jade-Objekte als Abbildungen der Gottheiten der Erde und des Himmels zu verstehen sind und ihre religiöse Verehrung mit dem Totenkult intrinsisch verbunden war. 23 In seiner Studie widmet er Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Speculations on the Religious Use and Significance of Jade Cong and Bi of the Liangzhu Culture, in: Liangzhu: Late Neolithic Jades, ed. Throckmorton Fine Art. Syracuse, New York 2012. 20 Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Speculations on the Religious Use and Significance of Jade Cong and Bi of the Liangzhu Culture. 21 Elizabeth Childs-Johnson: Speculations on the Religious Use and Significance of Jade Cong and Bi of the Liangzhu Culture. 22 »With the round tablet pi of bluish (or greenish) color, he does homage to Heaven. With the yellow jade tube ts’ung, he does homage to Earth.« Zhouli, zitiert nach Berthold Laufer: Jade, S. 120. »The objects are thus arranged to be desposited with the corpse in the coffin.« Zhouli, zitiert nach Berthold Laufer: Jade, S. 120. »The circular disk is under the back. The jade tube Ts’ung is on the abdomen […] the circular disk pi and the octagonal tablet ts’ung are, by their separation, symbolical of Heaven and Earth.« Zhouli, zitiert nach Berthold Laufer: Jade, S. 121. 23 Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 121. 19
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
sich zunächst dem Bild oder Symbol der Erde »as the most significant of all« 24. Die cong folgen, wie gesagt, geometrisch betrachtet genauen Proportionen, sie sind innen rund und außen viereckig, wodurch gemäß dem Zhouli die Erde symbolisiert werden soll. Den Beschreibungen nach besitzen einige der cong außerdem das besondere Merkmal eines ›gezahnten‹ Musters. 25 Dieses gezahnte Muster soll als Emblem der Verehrung der Erde gedient haben. 26 Daraus folgert Laufer, dass das cong-Gefäß als das zentrale Bild der Gottheit der Erde betrachtet werden muss. Symbolisch soll es für die Form der Erde, die innen rund und außen eckig ist, stehen. 27 Interessant ist der Hinweis auf das ›gezahnte Muster‹ als Emblem der Verehrung der Erde, das noch auf einer Abbildung des cong zu erkennen ist und identisch zu sein scheint mit der Lineatur von Kūn im Yijing. 28 Die Erde wird, wie wir gesehen haben, im Yijing auch mit dem Winkligen, dem Viereckigen (fang) in Verbindung gebracht. In diesem Sinne könnte auch das ältere Schriftzeichen für Kūn interpretiert werden, welches dem im Yijing überlieferten Namen für die Erde – 坤 – vorausgeht: 巛. Das Muster wurde im Sinne von Winkeln gedeutet. 29 In der bisher noch kaum thematisierten Überlieferung des Bildes scheint diese Vorstellung von Kūn bewahrt zu sein: »Der Erde Beschaffenheit ist [gegeben durch] des Erdreichs [Winkelmaß].« 30 Kūn wird hier nicht im Sinne von Gefügigsein verstanden, sondern durch ihre ›Beschaffenheit‹, ihre quadratische Gestalt charakterisiert. Es stellt sich jedoch die Frage, wie diese Motive – vor dem Hintergrund älterer mythologischer und religiöser VorstelBerthold Laufer: Jade, S. 122. »What is round in the interior and provided with teeth outside, is called a ts’ung.« Zitiert nach Berthold Laufer: Jade, S. 132. 26 Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 131. 27 »Heaven is round, and Earth is square; the principle of Heaven is roundness and that of the Earth squareness.« De Groot: The Religious System of China, Zitiert nach Berthold Laufer: Jade, S. 137. 28 Ob es sich allerdings in das Schema von Erde und Himmel, Räumliches und Zeitliches, einordnen lässt, ist fragwürdig. 29 Diese Deutung ist jedoch nicht die einzig mögliche, sofern die alte Schreibweise von Kūn, wie wir noch genauer sehen werden, auch dem Zeichen von ›Fluss‹ nahekommt und zeichengenetisch zugleich mit der Gestaltung von Wasserläufen in Verbindung gebracht werden kann. Mythologisch können beide Symbole oder Motive hochwahrscheinlich nur schwer voneinander getrennt werden, sofern sie verschieden gewendet Figurationen für dieselbe symbolische Darstellung der ursprünglichen Macht oder Autorität der Erde anzusehen sind. 30 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 21. 24 25
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Hou Tu: Zum Status und Geschlecht der Gottheit der Erde
lungen – zu verstehen sind. Nach Erkes wird in dem cong-Gefäß als Abbild der Erdgottheit die Autorität der Herrscherin hou verkörpert, zu deren Machtbereich auch die Aufsicht über das Maß gehört. Wie wir noch sehen werden, gibt es einige mythologische Elemente, die mit dieser primordialen, den Raum oder die Ordnung des Raumes schaffenden Dimension der Erdgottheit verknüpft werden können. Dabei kommt der Erdgottheit in der Schaffung des Raumes eine zentrale Rolle zu. Vor dem Hintergrund der Untersuchungen von Hanna Rydh könnte das ›gezahnte Muster‹ jedoch auch als ein ›DreiecksMuster‹ gedeutet werden, welches, worauf noch näher eingegangen werden soll, im Allgemeinen als ein Symbol der weiblichen Fruchtbarkeit und der Erde als Mutter angesehen werden kann und außerdem mit dem Totenkult in enger Verbindung stand. Die Beigabe einer Gefäßurne mit Dreiecksmustern soll dabei symbolisch für die Bitte um Regeneration stehen, d. h. die Rück- und Wiederkehr der Toten in und aus dem Schoß der Mutter Erde. 31
2.
Hou Tu: Zum Status und Geschlecht der Gottheit der Erde
Laufer zufolge hatte die Gottheit der Erde einen zentralen Platz in der antiken chinesischen Religion: »It is simply called tu and sometimes ti ›Earth‹ and frequently characterized by the attribute hou, meaning a sovereign.« 32 Besondere Aufmerksamkeit soll hier zunächst dem Titel hou – 后 – für die Gottheit der Erde zukommen. Dazu ist zu sagen, dass die Erdgottheit in der klassischen chinesischen Mythologie nicht direkt überliefert wurde, zumindest nicht unter dem Namen Hou Tu. 33 Hou Tu ist bis auf eine einzige, später noch genauer zu betrachtende Stelle nur Teil von genealogischen Aufzählungen. Zudem ist das Geschlecht der Gottheit der Erde, ausgehend von ihrer nur fragmentarischen Erwähnung im mythologischen Kontext, nicht Vgl. Hanna Rydh: On Symbolism in Mortuary Ceramics, in: The Museum of Far Eastern Antiquities Stockholm, Bulletin1, 1929, S. 71–120, hier S. 86. 32 Berthold Laufer: Jade, S. 144. Es soll zu einem späteren Zeitpunkt auf die Möglichkeit einer Differenzierung der von Laufer genannten Bezeichnungen tu (土) und di (地) für die Erde eingegangen werden. 33 In einigen Texten wird der Titel hou als Bezeichnung für die Gemahlin des Königs verwendet. Dabei wurde hou ab dem 3 Jhr. v. Chr. zu einer Betitelung des Kaisers und des männlichen Herrschers. 31
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
eindeutig festzustellen. Erst, als in der Staatsreligion der frühen HanDynastie die Erdgottheit zu einer Kultfigur erhoben wurde, soll Hou Tu eindeutig als die Bezeichnung für die weibliche Gottheit der Erde, als ›Herrscherin Erde‹ gedient haben, die in einer Hymne auch als überreiche Mutter Erde besungen wird. 34 Die meisten antiken literarischen Quellen identifizieren Hou Tu jedoch mit dem männlichen Schutzgeist oder Gott des Bodens (she), außerdem wird Hou Tu als ein vergöttlichter Held Gou Long, Sohn des Gong Gong, beschrieben. 35 Dieser uneinheitliche Zusammenhang führte in der sinologischen Forschung zu einer kontroversen Diskussion hinsichtlich der Frage nach dem Geschlecht der Gottheit der Erde und einem der Himmelsgottheit äquivalenten Verehrungskult der Erde im Altertum. Nach der Ansicht Laufers soll die Gottheit der Erde eine herausragende Rolle in der chinesischen Antike eingenommen haben, vergleichbar derjenigen von Shang Di. 36 Und obwohl gemäß Laufer in den Bezeichnungen für die Erde (tu, di, hou) eigentlich gar kein Geschlecht ausgedrückt wird, bzw. die Gottheit der Erde ihm nach ursprünglich weder als unverwechselbar weiblich noch männlich zu betrachten ist, sondern vielmehr als geschlechtslos 37, kann sie als unter die Kategorie von yin, dem negativen, dunklen, weiblichen Prinzip fallend aufgefasst werden. 38 Dabei ist für Laufer die in der Han-Zeit gegebene, offizielle Sanktion der Erde als weiblicher Gottheit und fruchtbarer Mutter als das Resultat einer bereits lang anhaltenden Entwicklung zu sehen, nämlich der im Bewusstsein der Menschen allgemein verankerten Vorstellung von der Erde als einer weiblichen Gottheit und Mutter. Es ist ihm nach deswegen davon auszugehen, Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 24. »Gonggong was hegemon over the nine provinces. His son was called Hou-Tu. He could put in order the nine provinces, hence they sacrificed him as She, god of the soil; Hou Tu was She, the god of the soil; The ruler of the earth (soil) was called Hou-tu.« Spätere Kommentare affirmieren diese Identifikation: »Hou-tu is She; Hou-tu is the god (the spirit of the tu earth (soil); She is the master of the earth.« Zitiert nach Bernhard Karlgren: Some Fecundity Symbols in Ancient China, in: BMFEA, 2, 1930, S. 1–48, hier S. 11. 36 Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 144. 37 Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 144. 38 Laufer betont, dass es zweifelhaft sei, dass das Wort yin ursprünglich eine klare Genderdimension zum Ausdruck brachte, dies sei vielmehr als eine philosophische Abstraktion der späteren Zeit zu betrachten. Es bestünde jedoch kein Zweifel daran, dass yin und yang die vereinte Aktion von Himmel und Erde in der Produktion und Transformation der Seienden bezeichne. Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 144. 34 35
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Hou Tu: Zum Status und Geschlecht der Gottheit der Erde
dass die weiblichen Elemente und Charakterisierungen schon lange bevor der Han-Periode der Konzeption der Gottheit der Erde inhärent gewesen sind. 39 Was nun die Verbindung der Gottheit der Erde mit dem ›Geist des Bodens‹ (she) angeht, so sind diese beide Gottheiten gemäß Laufer hinsichtlich ihrer Größe und Wirkmacht unbedingt voneinander zu unterscheiden. Der dezidiert als männlich aufzufassende ›Geist des Bodens‹ (she), eine Gottheit von insbesondere anthropomorpher Natur, stellt ihm nach mehr eine lokale und territoriale Gottheit dar, die in ihrer Macht räumlich und zeitlich begrenzt ist. 40 Die Gottheit der Erde hingegen ist Laufer zufolge in Raum und Zeit unbegrenzt: »It comprises the totality of the entire unknown earth, the limits of which were unknown; it is permanent and eternal like Heaven, and the second great cosmic power of nature acting in harmony with Heaven towards the welfare of the whole creation.« 41 Die Gottheit der Erde wäre hiernach als die tellurische Gottheit schlechthin anzusehen, während der ›Geist des Bodens‹ lediglich die Funktion eines terrestrischen Schutzgottes, eines genius loci zukäme. 42 Laufer wendet sich damit gegen die in der damaligen Forschung aufgeworfene Behauptung, dass die Opfer an die Gottheit der Erde im Gegensatz zu denjenigen an den Himmel nicht in die Antike zurückreichen würden, und dass der duale Kult von Himmel und Erde erst unter dem Herrscher Wu (ca. 140–87 v. Chr.) an Bedeutung gewonnen hätte. 43 Für Laufer bildet das duale Konzept von Himmel und Erde im Sinne vergöttlichter omnipotenter Mächte der Natur vielmehr den essentiellen Bestandteil der tiefsten Schicht der antiken religiösen Konzeption Chinas. 44 Er unterstreicht, dass Himmel und Erde als lebendige schöpferische Kräfte charakterisiert wurden, vergleichbar mit dem Fortpflanzungsvermögen eines Vaters und einer Mutter, die im Bewusstsein der Menschen als dessen Vorbild dienten und bezieht sich dabei unter anderem auf das Yijing. 45 Laufer betont unter anderem auch die Bedeutung der Verehrung des Himmels und der Erde im
39 40 41 42 43 44 45
Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 144 f. Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 145. Berthold Laufer: Jade, S. 145. Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 145. Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 145. Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 146. Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 146.
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Kontext der Agrarkultur als einem Korrelat des bäuerlichen Lebens. 46 Die Zurückweisung eines dem Himmel entsprechenden antiken Erdkultes ist der Position Laufers nach zu folgen nicht nachvollziehbar, vor allen Dingen nicht mit Blick auf die archäologische Entdeckung des Jadebildes der Erde, das ihm nach eine noch höhere Evidenz als die vorhandenen, teilweise abstrakt-philosophischen schriftlichen Quellen liefert. Es war aber vollen Dingen Karlgren, der in seinem Aufsatz Some Fertility and Fecundity Symbols in Ancient China eine Darstellung der Erdkonzeption im alten China gegeben hat und zu belegen versuchte, dass she die älteste und bekannteste männliche Fruchtbarkeitsgottheit darstellt. Ausgehend von einer Zeichenanalyse konstatiert er den phallischen Charakter des Zeichens der Erde und bestimmt tu, das antike Zeichenbild der Erde, als »a drawing of the phallic-shaped sacred pole of the altar of the soil.« 47 Die Ahnen sollen demnach durch ursprünglich Phalli verkörpernde Ahnentafeln verehrt worden sein, welche die Zeugungskraft der Familie repräsentiert haben sollen. 48 Nach Karlgren stellte der Ahnenkult primär ein Fruchtbarkeits- bzw. Bodenkult dar, wo die Fortpflanzungskraft der Ahnen auf die Nachkommen übertragen wurde. 49 Die Voraussetzung dieser Untersuchung Karlgrens bildete im Grunde genommen die Annahme, dass die kulturübergreifend weit verbreitete Vorstellung eines phallischen Stratums früher Fruchtbarkeitskulte auch in der chinesischen Religion belegt werden kann: »the well-known fact […], that fecundity and fertility are intimately connected in the mentality of the ancient people, and that the phallicism has regularly had to do with the crops of the soil.« 50 Karlgren’s Phallizismus Hypothese kann als eine Entgegnung der Untersuchungen von Hanna Rydh On Symbolism in Mortuary Ceramics verstanden werden. 51 Hanna Rydh Vgl. Berthold Laufer: Jade, S. 147. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 7. 48 Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 9. 49 Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 9. 50 Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 1 51 »For the time being I limit my investigations mainly to two symbols of fecundity, which I have special reasons for taking up at present in thus periodical: in its first volume considerable space was devoted to the psychological basis and primitive meaning of certain decorative motives. On the one hand Dr. Hanna Rydh treated the triangular and pointed (toothed) ›death-pattern‹ on the prehistoric Chinese grave urns and its highly interesting affinities all over the old world; she suggested as an interpretation that it was a fecundity-vitality-resurrection symbol, and she read the tri46 47
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zieht in ihren Studien eine Verbindung zwischen den Mustern der neolithischen Grabkeramik, vor allem dem sogenannten ›Todes-Muster‹, dessen hauptsächliches Konstituens das Dreieck bildet, und den Ornament-Motiven der nördlichen Megalith-Keramik. Nach Rydh stand das oftmals mit Tier- und Pflanzenmotiven versehene Dreiecks-Muster, das sie als ein Symbol der weiblichen Fruchtbarkeit und der Mutter Erde deutet, mit dem Totenkult in enger Verbindung, dessen Ziel die Regeneration bzw. Wiederauferstehung war. 52 Fruchtbarkeits- oder Regenerationsriten nehmen Rydh zufolge eine zentrale Stelle in dem Kult der Toten bzw. der Ahnen ein. Die Beigabe einer Gefäßurne mit Dreiecksmuster steht dabei symbolisch für die Bitte um Regernation, d. h. die Rück- und Wiederkehr der Toten in und aus dem Schoß der Mutter Erde. Interessanterweise weist Rydh in ihrem Artikel darauf hin, dass das chinesische Graphem eines Vierbzw. Rechtecks ein bestelltes Feld bedeutet hat und dies als eine sekundäre Bedeutung aufgrund seiner Eigenschaft, Fruchtbarkeit als ›Mutter Erde‹ geben zu können, verstanden werden könnte. 53 Dass die verschiedenen Bezeichnungen für die Erde tu, di und hou differenziert zu betrachten sind, darauf geht auch Karlgren in Abgrenzung zu Laufer ein. Di bezieht sich ihm zufolge auf die Erde als einem kosmologischen Gegenpol zu dem Himmel (tian) wie in dem geläufigen Kompositum tian di (Himmel-Erde). 54 Tu hingegen würde jedoch primär den Erdboden, die Ackererde, die Erde im Sinne der physischen Materie meinen. Nach Karlgren ist es deswegen auch unbestreitbar, dass di in der antiken chinesischen Kosmologie als eine dem Himmel komplementäre weibliche Macht aufgefasst wurde. 55 Tu erscheint ihm zufolge aber niemals alleine oder in Verbindung mit angle as a symbol of fecundity in women. In this paper I will try to show that pointed or even triangular symbols in ancient China sometimes served the opposite purpose, having indeed a phallic meaning.« Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 1. 52 Vgl. Hanna Rydh: On Symbolism in Mortuary Cerammics, S. 86. 53 Vgl. Hanna Rydh: On Symbolism in Mortuary Ceramics, S. 101. Wie wir gesehen haben, zeigt die alte Schreibweise von Kūn genau drei Winkel. Dass das Muster von Kūn als weibliche Fruchtbarkeitssymbolik zu verstehen ist, wurde bereits mehrfach gesagt. Damit hängt auch die kosmologische Funktion von Kūn im Yijing zusammen. In der späteren Analyse der verschiedenen Schreibweisen von Kūn oder einzelner sie bestimmenden Komponenten, wird sich zeigen, dass das Feld in Verbindung mit dem Wasser in der Tat auch eine zentrale Bedeutungskomponente der Schreibform von Kūn bildet. 54 Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 14. 55 Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 15.
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dem Himmel, sondern immer in der Kombination Hou Tu. Das wesentliche Problem besteht für Karlgren deswegen in der Frage, ob Hou Tu der weiblichen Macht di entspricht oder aber dem männlichen Gott des Bodens she. 56 Karlgren schlägt in diesem Kontext zwei unterschiedliche Bedeutungen des Begriffes Hou Tu vor, indem er das Wort hou adjektivisch und verbal verwendet: 1. Die herrschende Erde (Hou Tu gleich di) und 2. der Regent über den Boden, der den Erdboden beherrscht (Hou Tu gleich she). 57 Karlgren kommt zu dem Schluss, dass Hou Tu ursprünglich ein poetisches Synonym für di, Erde gewesen ist. 58 Die widersprüchlichen Auffassungen des Termins Hou Tu hinterlässt nach Karlgren damit zwei hauptsächliche Aspekte: Di ist eine weibliche Naturmacht und im Sinne von Hou Tu als die herrschende Erde zu verstehen, während tu der Erdboden ist, der (obschon voll von yin-Kraft, sofern auch er schließlich Teil von di ist) von einem männlichen Gott she, dem Gott des Bodens, beherrscht bzw. dominiert wird. 59 Aus dem hier rekonstruierten Diskurs zeigen sich zwei vollkommen konträre Linien oder Tendenzen: Einerseits eine Linie, welche die Erde und die weibliche Fruchtbarkeit, also das Matrilineare betont und eine andere, welche die Fruchtbarkeit eher phallisch deutet und damit das Patrilineare unterstreicht. Folgt man der ersten Linie, so ist es bemerkenswert, dass das Altertum offensichtlich auch eine Vorstellung der Erde als einer Herrscherin oder herrschenden Gottheit kannte. Auch die oben aufgeführten archäologischen Funde könnten in diese Richtung weisen, insofern die mit einem offenbar machtvollen Fruchtbarkeitskult der Hongshan-Kultur in Verbindung stehende Göttin, von der mehrere Keramikabbildungen gefunden wurden, entweder Hou Tu oder auch eine andere, große weibliche Fruchtbarkeitsgottheit mit einem ähnlichen Profil repräsentiert haben könnte. Der
Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 15. Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 16. 58 Die Gehlehrten der Zhou-Zeit wollten die Vorstellungen über die Erde und den Boden zu einem Ganzen amalgamieren: Di war hiernach Hou Tu (die herrschende Erde) – ergo she war auch Hou Tu, jedoch in einem anderen Sinne: nämlich im Sinne eines den Erdboden beherrschenden Regenten. So wurde Karlgren zufolge aus dem mythischen Helden Gou Long ein Minister der Agrarkultur geschaffen. Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 16. 59 »She is [where you] sacrifice to earth (soil, t’u, materia), and he [the god of the soil] dominates (presides over) the yin emanations.« Zitiert nach Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 17. 56 57
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Titel Hou Tu wäre in diesem Sinne nicht nur als eine alte poetische Bezeichnung der weiblich kosmologischen Entsprechung des Himmels, tian, sprich als eine Bezeichnung für di zu verstehen, sondern als eine souveräne, d. h. von der Gleichordnung oder Komplementärbeziehung mit dem Himmel unabhängige, eigenständige Gottheit. Das Verständnis einer machtvollen und von der Komplementarität mit einem männlichen Gott unabhängigen Gottheit der Erde findet sich in der Mythologie, die den später noch aufzugreifenden Untersuchungen Münkes zufolge ganz zentral mit Hou Tu und einigen ihrer mythischen Figurationen in Verbindung gestanden hat. Dabei hängt die ›Souveränität‹ im Mythos überwiegend mit der Doppelgeschlechtlichkeit der Gottheiten, d. h. dem Vermögen weibliche und männliche Züge in einer einzigen Gestalt und Wirkkraft zu vereinigen, zusammen. Diese Vorstellung von doppelgeschlechtlich gestalteten Gottheiten, wie sie insbesondere auch für die chinesische Tradition kennzeichnend ist, eröffnet letztlich eine viel komplexere Perspektive im Hinblick auf das Verständnis von Geschlecht und seiner Konstruktion, sofern ein singuläres Wesen komplementäre Wirkungsformen in sich selbst vereinigen und so unabhängig von seiner Bezogenheit auf etwas anderes eine autonom wirkende Ganzheit verkörpern und eigenständige, zentrale Funktionen ausüben kann. Es findet sich darin ein gewisses dekonstruktives Element. Die komplementärlogische und kosmologische Trennung der Geschlechter, d. h. die Aufteilung männlicher und weiblicher Anteile in zwei aufeinander bezogene Entitäten im Sinne eines Paares oder Ehepaares, die zuvor auf der Ebene der Mythologie in einer einzigen androgyn konzipierten Gottheit vereint waren, scheint mit der Etablierung einer geschlechtshierarchischen Ordnung in Verbindung zu stehen. Dies lässt sich, wie wir im Folgenden sehen werden, an der Geschichte vieler weiblicher Gottheiten aufzeigen. Der Übergang von androgynen Vorstellungen in der Mythologie zu komplementären geschlechterteilenden Vorstellungen in der Kosmologie markiert in diesem Sinne weniger eine Komplexion, denn eine Reduktion: Eine Reduktion der pluralistischen Geschlechtsauffassung und damit zugleich eine Reduktion bzw. Einschränkung der ursprünglichen Wirkmacht des Weiblichen. Genau dies hat sich auch in der kosmologischen Auslegung von Kūn und Qián im Yijing gezeigt, nämlich, dass Kūn als Erde verstanden, dem Himmel nicht nur bei, sondern damit gleichzeitig im Sinne des Sich-Fügens auch untergeordnet wird, wodurch sich gleichsam ihr Wirkspektrum, das noch auf der Ebene des Spruch215 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
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werkes und auch der Zeichen nachvollzogen werden kann, verringert. 60
3.
Die Ausradierung weiblicher Figuren aus der klassischen Mythologie
Yves Bonnefoy schreibt in seinem Buch Asian Mythologies 61, wo er den antiken chinesischen Göttinnen eine eigene Sektion widmet, mit Verwunderung, dass die antike chinesische Mythologie verschiedene weibliche Figuren kennen würde, die eine größere Rolle spielten, als man es eigentlich von einer patriarchalen Gesellschaft erwarten könne. 62 Bonnefoy erklärt diese Anomalie damit, dass es eine evolutionäre Stufe in der Entwicklung der Zivilisation des Menschen gegeben haben müsse, wo, in seinen Worten, Frauen eine wichtigere Position eingenommen hätten. 63 Bonnefoys Geste in Richtung des Konzepts von Engels, nämlich der Annahme der Stufe eines Urmatriarchats kann als ein Mythos in sich selbst gesehen werden, der in China unter den marxistischen Historikern weit verbreitet war. 64 Engels argumentierte, dass es unter den Stammesordnungen der prähistorischen Periode einen Vor-Klassen-Egalitarismus zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen gegeben hat, der durch das Entstehen des Privateigentums als einem Organisationsprinzip der Gesellschaft ausgelöscht wurde. Darüber hinaus hat das System des Privateigentums eine Klassenstruktur erzeugt, die das weibliche Geschlecht nicht privilegierte. Dabei gründete Engels seine ethnographischen und historischen Rekonstruktionen überwiegend auf die klassische westliche Literatur. 65 Postmoderne Forscher haben wiederum Bachofens Theorie des ›Mutterrechts‹ als einem komparativen Model für die UnterAusgehend von der im Mythos dargestellten Doppelgeschlechtlichkeit könnte man die Frage aufwerfen, inwiefern das Aufeinander-Bezogensein von Kūn und Qián nicht auch auf eine ganz andere, nämlich nicht trennende Weise betrachtet werden kann. Denn letztlich kann auf der Ebene der Zeichendynamik gezeigt werden, dass Kūn auch das Potential von Qián eignet und Qián auch das Potential von Kūn. 61 Vgl. Yves Bonnefoy: Asian Mythologies, translated under the direction of Wendy Doniger, Chicago and London, 1993. 62 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, in: The Journal of Asian Studies, Vol. 59, 2000, S. 835–862, hier S. 839. 63 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, S. 839. 64 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, S. 839. 65 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, S. 839. 60
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Die Ausradierung weiblicher Figuren aus der klassischen Mythologie
suchung, ob Frauen in prähistorischen Gesellschaften eine gleichberechtigte, oder sogar eine privilegierte Position zukam, wiederentdeckt. In seiner Theorie argumentierte Bachofen, dass das Mutterrecht eine natürliche und biologische Beziehung zwischen der Mutter und dem Kind präsentierte, aus der sich schließlich ein Matriarchat entwickelt habe und später eine ›Gynokratie‹ oder zivile Herrschaft der Frau. 66 Trotz der methodologischen Schwierigkeiten seiner Arbeit und der Unzuverlässigkeit der darin verwendeten Quellen, ganz zu schweigen von dem veralteten Terminus ›Matriarchat‹ sowie Bachofens Affirmation des aus dem 19. Jhr. stammenden Frauenbildes, bleibt seine Untersuchung aufschlussreich im Hinblick auf eine Wiederentdeckung der dominanten Figur der Mutter in den darin erwähnten Erzählungen und Bezügen zu angeblich matrilinearen Gesellschaften. 67 In einem ausführlichen Artikel zu der ersten Ausgabe der Zeitschrift Nan Nü befasst sich David Keightley mit dem Thema des Geschlechts in der neolithischen Archäologie und den Inschriften der Orakelknochen der Shang und zieht den Schluss, dass sich in der chinesischen Zivilisation bis zu ihrem Eintritt in das Stadium geschriebener historischer Aufzeichnungen, keine Spuren einer matriarchalen Macht ausfindig machen lassen: »From at least Late Neolithic until the Late Shang, the political and economic status of most women in China […] was inferior to that of most men.« 68 Dabei verfolgt er offenbar einen dezidiert präfeministischen Zugang zu Frauen, indem er sich auf die Statusunterschiede zwischen Frauen als einer Gruppe und Männer als einer Gruppe konzentriert. Dieser Versuch von Keightley lässt sich als ein Beispiel dafür anführen, wie das Zusammenfassen von Frauen zu einer einzigen Kategorie zu einer ahistorischen Herangehensweise an die Geschichte führt, eine Betrachtungsweise, die Frauen als unveränderbar und ohne Geschichte betrachtet. 69 Vgl. Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur, hrsg. v. HansJürgen Heinrichs, Berlin 1975. 67 Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 2. 68 David N. Keightley: At the Beginning. The Status of Women in Neolithic and Shang China, in: NAN NÜ, 1, 1999, S. 1–51, hier S. 53. 69 Diese Strategie funktioniert, insofern die Leser keine umfassenden feministischen Kritiken archäologischer Erklärungen kennen: Frauen wurden (und werden) ebenso wie Männer nach Klasse, Verwandtschafts-verhältnissen, Alter, Beruf und vielen anderen Merkmalen unterschieden. Damit zu beginnen, dass die Kultur eine Kategorie wie die der ›Frauen‹ kannte, die alle anderen individuellen Merkmale außer Kraft 66
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Es stimmt, dass die von Bonnefoy aufgeführten weiblichen Göttinnen nicht Bestandteil der klassischen chinesischen Mythologie bilden, sondern Legenden, historisierte Erzählungen, die ausgehend von dem Material archaischer Mythen konstruiert worden sind. Sie können als ein Produkt des Zivilisationsprozesses verstanden werden, indem archaische Mythen durch Geschichte, Literatur und Populärkultur überschrieben wurden. 70 Diese Legenden des Frauentums bilden jedoch konstitutive Elemente der patriarchalen Gesellschaft, d. h. im Grunde genommen integrale Bestandteile der Weise, wie die Geschichte des Patriarchats in der chinesischen Kultur funktioniert. 71 Dies bedeutet zugleich, dass die Narration der Werte des Patriarchats offenbar wesentlich von der Zelebration starker Frauen abhängig ist. 72 Anne Birell hat sich in ihren Arbeiten zur klassischen chinesischen Mythologie mit den archaischen Mythen, welche den rekonstruierten, historisierten Legenden, die einen Großteil der Kollektion von Bonnefoy bilden, vorausgehen, eingehend beschäftigt. Ihr zufolge dominieren zwar die männlichen Gottheiten in der klassischen chinesischen Mythologie, jedoch sind es eindeutig die weiblichen Figuren und Gottheiten, die im Sinne ihrer mythologischen Funktion und Rolle bedeutsamer sind. 73 Sie betont dabei, dass es einen engen Zusammenhang zwischen Mythen der Weltenstehung und den weiblichen Gottheiten gibt, d. h., dass es überwiegend weibliche Gottheiten gewesen sind, die mit der Entstehung der Welt und des Menschen in Verbindung gebracht wurden. 74 Birell weist in ihren Untersuchungen darauf hin, dass das Geschlecht einiger Götter aber setzt, verzerrt nicht nur die Ergebnisse, sondern kann keine bedeutungsvollen Kategorien bereitstellen und ermangelt daher aussagekräftiger Daten. Vgl. Sarah Milledge Nelson: Shamanism and the Origin of the States, Spirit, Power and Gender in East Asia, London, New York 2008, S. 97. Obschon Keightley (der feministischen Kritik der Geschichtswissenschaft gegenüber nicht gänzlich unbewusst) anerkennt, dass die historischen chinesischen Texte von Männern verfasst wurden und daher als voreingenommen zu betrachten sind, nimmt er die männliche Wissenschaft als Hinweis für den vermeintlich niedrigeren Status von Frauen. Es ist naheliegend, dass die Form männlicher Voreingenommenheit einen großen Teil der weiblichen Geschichte ausgelassen und trivialisiert hat. Vgl. Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of the States, S. 97 f. 70 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, S. 839. 71 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, S. 842. 72 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, S. 839. 73 Vgl. Susan Mann: Myths of Asian Womanhood, S. 839. 74 Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 19.
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Die Ausradierung weiblicher Figuren aus der klassischen Mythologie
oftmals durch deren Titel verdeckt wurde und zudem ambivalenter Natur ist: Als das vielleicht prominenteste Beispiel nennt sie in diesem Zusammenhang die Gottheit der Erde Hou Tu. 75 In ihrem Artikel Gendered Power analysiert Birell eine ganze Reihe weiblich-mythologischer Figuren, ausgehend von dem sogenannten ›Klassiker der Berge und Meere‹, und demonstriert, dass es ein Monopol entscheidender Funktionen gab, die ursprünglich von weiblichen Figuren ausgeführt wurden, darunter: »female control of cosmology, ancestral foundation, fertility, sacrifice, and female self-rule.« 76 Diese bedeutenden Funktionen sind ihr zufolge ein Beweis dafür, dass weiblich-mythologische Figuren mit symbolischer Autorität bemächtigt und ausgestattet waren. 77 Auf Grundlage dieses Ergebnisses wirft Birell schließlich die Frage auf, wodurch der Mann eigentlich in der historischen Zeit die Rolle und Funktion der weiblich-mythologischen Figuren übernommen haben kann und wie Frauen aus den mythologischen Aufzählungen herausgeschrieben worden sind. 78 Der Schlüssel für die Eliminierung von Frauen aus der kanonischen Literatur in der Antike ist Birell zufolge in der männlichkeitsorientierten Autorenschaft der klassischen Schriften zu suchen. 79 Die klassischen Schriften bildeten das Medium, durch das hindurch die klassischen Mythen überliefert wurden. Sie entstanden ausgehend von männlichen Autoren und gingen aus männlichkeitsorientierten Schulen des Denkens hervor, allen voran dem Konfuzianismus. Sie reflektieren demnach die patriarchale Ideologie, die in der kulturellen Tradition Chinas bis in das 20 Jhr. hinein codiert ist. Dabei wurden Frauen sozial von der aktiven Rolle der Formgebung und Überlieferung der mythischen Erzählungen ausgeschlossen. 80 Die Mythen weiblicher Figuren sind demnach ausschließlich durch männliche Autoren vermittelt. Es kann daher als eine plausible Hypothese dieses Prozesses angenommen werden, dass die Mythen einer transformativen Veränderung unterzogen wurden. Nach Birell bildet der von ihr untersuchte, am Rande der Textualität stehende ›Klassiker der Berge und Meere‹ (Shanhaijing) eine Ausnahme hinsichtlich der generellen Verschiebung der Betonung des 75 76 77 78 79 80
Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 3 und 24. Anne Birell: Gendered Power, S. 20. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 20. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 25. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 25. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 25.
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
Geschlechts. 81 In Relation zu den anderen Texten und der Behandlung des Geschlechts kann eine Minimierung der Rolle von Frauen ausgemacht werden. 82 Der frühste Trend in Richtung einer Ausradierung von Frauen aus der Mythologie kann für Birell darin gesehen werden, dass weiblichen Figuren, denen eine vormalige Unabhängigkeit in ihren Funktionen und in ihrer Macht zukamen, männliche Gottheiten zur Seite gestellt worden sind. 83 In späteren Repräsentation wurde in etwa die weibliche Gottheit Nü Wa mit dem männlichen Gott Fu Xi zu einem göttlichen Paar verbunden: Deren ineinandergeschlungene Schwänze gelten heute noch als klassisches Symbol der Vereinigung des Männlichen mit dem Weiblichen und der Zeugung. Urzeitliche Göttinnen scheinen auf diese Weise entmythologisiert und ihrer göttlichen Potenzialität beraubt worden zu sein. 84 Eine andere Methode der Ausradierung weiblicher Figuren aus den mythologischen Aufzeichnungen stellt nach Birell die Maskulinisierung ihres Geschlechts dar. 85 Dabei ist ein deutlicher Unterschied zu erkennen zwischen der Rolle und Funktion von Frauen in weiblich-mythologischen Figuren und der Rolle und Funktion von Frauen in der historischen Epoche. 86 Generell wurden weiblich mythologische Funktionen, die als prestigeträchtig und wertvoll betrachtet wurden, von Männern in deren kultureller Gleichwertigkeit übernommen. 87 Es zeichnet sich hiernach eine Umkehrung der Geschlechterrollen und die Etablierung einer strukturellen Antithesis zwischen öffentlichen und häuslichen Bereichen ab. Die mythischen Rollen von Ahninnen, Gründerinnen und Herrscherinnen wurden in dem patriarchalen System zu dem männlichen Ahnen, dem Gründer und dem Herrscher. 88 In der historischen Epoche und mit dem ersten klassischen Text, etwa 600 v. Chr., verlagerten sich die weiblichen Rollen auf die der Mutter, der Ehefrau, der Tochter, der Schwiegermutter, der Schwiegertochter, der Ehefrau zweiten Ranges, des Mädchens und der Prostituierten, zusätzlich zu der weib-
81 82 83 84 85 86 87 88
Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 25. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 26. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 26. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 26. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 26. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 27. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 27. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 27.
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Die Ausradierung weiblicher Figuren aus der klassischen Mythologie
lichen Gemahlin des Königs und in einem einzigen Fall der weiblichen Herrscherin. 89 Girardot hat sich ebenfalls mit dem Problem der Erforschung der Mythen in China auseinandergesetzt. Er sagt, dass andere antike Kulturen eine umfangreiche Aufzeichnung mythologischer Natur hinterlassen haben, während in China das reale Problem eines Mangels und einer Fragmentierung mythologischer Aufzeichnungen bestehe, ja nahezu die vollkommene Abwesenheit irgendeiner kohärenten mythischen Erzählung der frühen Zeit. 90 Umso mehr würde dies in Bezug auf authentische kosmogonische Mythen gelten, insofern die erhaltenen Fragmente sehr mager sind und es in den meisten Fällen nur sekundäre Aufzeichnungen sind, welche durch die Redaktion der konfuzianischen Schule historisiert und moralisiert wurden, die als die vorherrschende klassische Tradition während der Han-Periode entstanden ist. 91 Er weist darauf hin, dass das größte Probleme darin besteht, dass die meisten antiken mythologischen Erzählungen, die überliefert wurden, bereits durch die Filter systematischer Bemühungen der Kollektion und Edition aller antiken Texte durch die Han gegangen sind, deren Ziel darin bestand, sie einem pseudohistorischen Schema im Hinblick auf die zivilisatorischen Handlungen der Sagen-Könige und Kulturheroen des Altertums anzupassen. 92 Er betont, dass die daoistische Tradition, von der angenommen werden kann, dass sie auf eine authentischere Weise die Mythen und Legenden der archaischen Periode erhalten hat, dabei von der konfuzianischen Forschungstradition kontinuierlich ignoriert wurde. Die große Schwierigkeit in der Auseinandersetzung mit den chinesischen Mythen besteht demnach in ihrer vorhergehenden vollkommenen Zersetzung, Degradierung und bewussten Modellierung, die dazu diente, sie mit den durch die humanistische Tradition des Konfuzianismus sanktionierten Standards der klassischen Literatur und Geschichte konform zu machen. 93
Ihre Rollen des Ernährens und der Führung des Haushaltes waren mit Restriktionen besetzt, die in die Marginalisierung von Frauen in der traditionellen Gesellschaft führten. Vgl. Anne Birell: Gendered Power, S. 28. 90 Vgl. Norman Girardot: The Problem of Creation Mythology in the Study of Chinese Religion, in: History of Religion, Vol. 15, 1976, S. 289–318, hier S. 294. 91 Vgl. Norman Girardot: The Problem of Creation Mythology, S. 295. 92 Vgl. Norman Girardot: The Problem of Creation Mythology, S. 295. 93 Vgl. Norman Girardot: The Problem of Creation Mythology, S. 295. 89
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4.
Hou Tu und ihre mythischen Figurationen
Vor diesem Hintergrund soll nun versucht werden, die mythologischen Vorstellungen, die mit der Erdgottheit Hou Tu in Verbindung gestanden haben könnten, zu rekonstruieren. Die kosmologischen Vorstellungen und mythologischen Motive, die sich in dem Spruchwerk zu Kūn finden, erlauben es, wie gesagt, eine Parallele zu dem Wirken der Erdgottheit Hou Tu herauszustellen. In dem Spruchwerk ist Kūn mit Motiven der Entstehung einer ursprünglichen räumlichen Ordnung verbunden. Sie verweisen auf den Vorgang einer Art von Kosmisierung des Geländes, seiner Verwandlung in eine bewohnbare Welt. In dem zweiten Linienspruch ist von der Aufrichtung des Landes zu einem Viereck die Rede: erste Richtungen und Gegenden entstehen. 94 Das Viereckige, Winklige – das Maß – ist das Symbol der Macht der Erde: 巛. Die alte Schreibform von Kūn – 巛 – steht aber nicht nur mit dem Winkligen oder Viereckigen in Verbindung, sondern auch mit dem Fluß. In diese Richtung weist auch der Mawangdui-Text, wo als Name des Zeichenbildes für Kūn ein ähnliches Zeichen steht, nämlich chuan – 川 –, Fluss. In der Kombination mit tian – 田 –, Feldern, hat die ältere Schreibform von Kūn – 巛 – außerdem die Bedeutung ›kleiner Wasserläufe oder Wasserkanäle in Feldern‹. 95 Das Motiv einer anfänglichen räumlichen Gestaltung der Welt zusammen mit dem gestalterischen Aspekt der Schaffung eines Gleichgewichtes auf der Erde durch die Leitung des Wassers in Flussbzw. Wasserläufe wird von besonderem Interesse für den Zugang zu dem Entstehungs- und Erdschöpfungsmythos sein, der vermutlich mit Hou Tu, der Gottheit der Erde, in Verbindung gestanden hat. In den Überlieferungen des Yijing wird im Gegensatz dazu die räumliche Gliederung der Erde als ein Akt der Herrschaft ausgelegt. Hiernach wird das Land durch die Macht des Herrschers zu einem Viereck gemacht, d. h. aufgerichtet. Die Aufrichtung der Erde bedeutet ihre Teilung und Ausrichtung, wodurch eine erste sichtbare Ordnung geschaffen wird. Der Vollzug der Schaffung einer ersten Ordnung kann mit Bezug auf die Logik der Überlieferungen als ein primordialer Herrschaftsakt im Sinne eines Strukturierungsprozesses verstanden werden. Diese Vorstellung der Gestaltung der Erde Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. Vgl. Richard Kunst: Unpublished Yijing Notes, http://research.humancomp.org/ ftp/yijing/yi_hex.htm.
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Hou Tu und ihre mythischen Figurationen
durch einen anfänglich wirksamen ›Architekten‹ korreliert mit der vielleicht größten Gründungsfigur der antiken chinesischen Mythologie, nämlich der des Großen Yu, welcher den Legenden nach die im fernen Altertum aufgekommene Flutkatastrophe bezwungen haben soll, indem er, nach einem spezifischen architektonischen Plan vorgehend, Grenzlinien gezogen hat, die Fläche der Erde einteilte und Flussläufe aushob, um die Wasser zu leiten, um dadurch die Grundlagen für die Zivilisation zu legen. Zahlreiche Legenden und Volksagen kreisen um seinen Namen und preisen seine vergangenen, selbstlosen Taten im Dienste der Menschheit. Der traditionellen Überlieferung nach ist Yu als der dritte und letzte Herrscher des mythischen goldenen Zeitalters der Antike, als Gründer der Xia-Dynastie und Nachfolger des ›Allvaters Yao‹ und des ›Lichträgers Shun‹ anzusehen: »Yu the Great, is said to have brought civilization to China […] His great achievement was to allow the waters of the Huanghe to flow through narrow defiles. The river was blocked by high mountains, so the gods sent Yu to put the territory in order. Not only did he master the Huanghe, but also all the rivers in China […] After completing these Herculean works, [he] was allowed to found the first dynasty in Chinese history, the Xia.« 96 Ein ganz anderes Bild rekonstruiert Wolfgang Münke in seinem Buch Die klassische chinesische Mythologie, in dem er herausstellt, dass sich hinter der Gestalt und den Taten des Yu nicht die einer männlichen Gründergestalt, sondern ursprünglich die für ihn eindeutig weibliche Gottheit der Erde Hou Tu verbirgt. Vor diesem Hintergrund rekonstruiert Münke eine Art weibliche Genealogie innerhalb der mythischen Überlieferung, die hauptsächlich mit einer Variation von Mythologemen der Erdschöpfung und Gestaltung in Verbindung steht und nach ihm Züge einer Frühreligion und ihres Erdgöttinnenkultes erkennen lässt. Wie bereits gesagt, wurden Mythen über Hou Tu kaum überliefert. Bis auf zwei Stellen einer flüchtig umrissenen Schöpfungssage ist Hou Tu bloßer Bestandteil von Aufzählungen und Genealogien. Münke weist jedoch darauf hin, dass der auf Hou Tu bezogene Satz die Taten von Yu zusammenfasst, von denen vielen antike literarische Quellen berichten. 97 Auf der Grundlage von literarischen Gleichungen zeigt Münke die Parallelität in der Florence Padovani: Chinese Way of Harnessing Rivers. The Yangtze River, in: A History of Water, London 2006, S. 120–143, hier S. 121. 97 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 132. 96
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
Überlieferung dieser zwei Figuren auf: »Hou Tu [Urmutter Erde] konnte die neun Erden [Zwischenstromlande] ausgleichend wägen [ping shuei tu], daher opferte man ihr als She [Schutzgöttin Erde].« 98 »Hou Tu [Urmutter Erde] ward She [Schutzgöttin Erde] [Hou Tu wei she].« 99 Und parallel dazu eine Stelle, wo Shun den Befehl an Yu erteilt, Wasser und Erde ins Gleichgewicht zu bringen: »Yu, du wäge ausgleichend Wasser und Erde [ping shuei tu]!« 100 Unter der Voraussetzung der Identität von Hou Tu und Yu übersetzt Münke die folgende Stelle: »Yu setzte ihre Kräfte ein für das Unter-dem-Himmel und ward, als sie starb, Schutzgöttin der Erde.« 101 Nach Münke ist Yu als die mit weiblichen Eigenschaften ausgestattete Erdgottheit bzw. Schutzgottheit der Welt anzusehen, die der Glaubensvorstellung des Xia-Geschlechts und ihrem Erdgöttinnenkult entsprungen sein soll. Da die Identität zwischen der Ahnengottheit Yu und der Naturgottheit Hou Tu, der Urmutter Erde 102 verloren ging, umso mehr noch, als man Hou Tu genealogisch Gong Gong als ›Vater‹ überordnete, wurden Mythen über die Erdgottheit in ihrer Namensform Hou Tu nicht überliefert, Münke zufolge sind sie jedoch unter dem Namen und den Taten von Yu verbürgt. 103 Hou Tu wurde durch den Ahnenkult zu einer ›Fürst(in) tu‹ herabgesetzt,
»Als der [für die Flutschäden verantwortliche] Feenversorger das Unter-dem-Himmel besaß, stellte die Urmutter das Gleichgewicht auf Erden her und erhielt deshalb die einer Schutzgöttin Erde gebührenden Opfer.« Kuo-Yü, zitiert nach Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 106. Siehe zum Vergleich die von Karlgren angeführte Übersetzung: »Gonggong [Gong Gong] was hegemon over the nine provinces. His son was called Hou-Tu [Hou Tu]. He could put in order the nine provinces, hence they sacrificed him as She, god of the soil.« Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 11. 99 »Der Feenversorger [Gong Gong] hatte ein Kind, gekrümmte Drachen Gou-lung [Gou Long] genannt, die war Urmutter Erde […] Urmutter Erde ward Schutzgöttin.« Zuozhuan zitiert nach Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 106. Siehe auch hier zum Vergleich die Übersetzung von Karlgren dieser Stelle: »Hou Tu was She, the god of the soil.« Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 11. 100 Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 107. 101 Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 107. 102 Wolfgang Münke setzt Hou Tu, die Herrscherin Erde in Bezug zu Gaia und Tellus in der griechischen und römischen Antike. Vgl. Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 133. 103 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 133. 98
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die aufgrund ihrer übermenschlichen Verdienste derselbe Opferkult zu Teil werden sollte wie in der Zhou-Zeit ein lokaler Schutzgott des Bodens, she. 104 Die Eigenschaften der Erdgottheit wurden demnach der historisierten Gründergestalt Yu inkorporiert, der als erster König der Xia-Dynastie einst die Erde von der Urflut befreit haben soll. 105 Der Hou Tu gegebene Name Gou Long soll den Rekonstruktionen von Münkes folgend die ursprünglich tierhafte Gestalt der Gottheit bezeugen: Long bedeutet ›Drache‹ und gou ›gekrümmt, gebogen‹. Nach Münke ist daher das sagenhafte chinesische Symbol des Drachens ursprünglich als das mythische Derivat der Gottheit der Erde anzusehen. 106 Der in Drachengestalt vorgestellten Herrscherin von Xia gebührte dabei einst das Honorifikum shi, was sie, wie Münke betont, unter denjenigen einreiht, die das Mana der großen Heiligen besessen haben sollen. 107 Der Urmutter der Xia 108 entspricht mythologisch Yu, der nach der Deutung seines Paläograms als eine verkreuzte Doppelschlange vorgestellt werden muss. Dieser Zusammenhang deutet auf die Vorstellung einer ursprünglich nicht nur tierhaft, sondern auch doppelgeschlechtig gedachten Gestalt der Erdgottheit hin. Ausgestattet mit dieser urwüchsigen Kraft soll Hou Tu der mythologischen Vorstellung nach es vermocht haben, Schluchten in das Gebirge zu schlagen und dadurch die Urflut zu leiten: »Voreinst, in alter Zeit, war das Drachentor noch nicht geöffnet (…) Der Huanghe trat aus dem Erstlingstor Meng-men hervor, gegenläufig floß weithin überbordendes Wasser, tilgte sämtliche Hügel, fruchtbaren Auen, Ebenen, Höhen, hieß das Urflutwasser. Da bahnte Yu dem Huanghe den Weg, schlug dem Urstrom Breschen.« 109
Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 133. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 133. 106 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike, Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 106. 107 »P’ao Hi (Fu Xi), Nüwa, Shen Nung und die Herrscherin von Xia – sie hatten Schlangenleib, menschliches Antlitz, Rindshaupt und Tigernase. Nicht menschlich war ihre Gestalt, doch sie hatten das Mana großer Heiliger.« Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 134. 108 Nach Münke ist Xia wortidentisch mit xia ›unten‹ und benennt die ›Unteren, Irdischen, Unterirdischen, Unterwelt‹ auch im Sinne eines chthonischen Herrschergeschlechts. Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 108. 109 Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 108 f. 104 105
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Münkes Nachforschungen zufolge handelt sich bei dieser mythischen Erzählung nicht um eine pseudohistorische Flutkatastrophe, wo ein vermännlichter Gründer des Königshauses der Xia bereits vorhandene Flüsse regulierte oder einen Damm legte, 110 sondern um den eigentlichen Schöpfungsmythos des Xia-Geschlechts: Der Entstehung und Gestaltung der Erde als Wohnstätte der Menschen aus dem Urstrom. Hiernach schuf die Xia-Urmutter in Gestalt der Urschlange Yu Flüsse, glich Wasser und Erde aus und macht damit das Viereck der Erde bewohnbar. Literarischen Quellen nach soll Yu sich dabei an den sogenannten neun ewigen Urmodellfeldern (hong fan) orientiert haben, das nach Münke als ein Modell zur Gestaltung der Erde im Urflutzeitalter zu betrachten ist. 111 Seine neun, im Geviert angeordneten ewigen Felder sollen die Prototypen der neun Zwischenstromlande oder zhou sein, in die Yu einer großen Architektin gleich das Erdenviertel einteilte, um die Wasser zu leiten. Das Unterdem-Himmel war demnach von quadratischer Gestalt und die Erde ließ sich in dreimal drei große Felder teilen. 112 Diese Vorstellungen korrelieren mit Motiven der Erzählungen um die Figur Gun, die in einer möglichen genealogischen Folge als Elter von Yu, bzw. als eine Yu inhärente Figuration betrachtet werden kann. Gun wird in der Regel mit einem Fischdeterminativ geschrieben und ist zudem mit dem Element ›dunkel‹ (huan) versehen: Münke übersetzt Gun als ›Protogaia in Fischgestalt‹ 113, weist jedoch darauf hin, dass Gun mit dem Erddeterminativ-Sinogramm di –地– geschrieben die lebendige Erde meint. 114 Di fang bedeutet Bereich, Ort oder Regionen: Gemeint sind die Regionen der Erde. Der Fischleib von Gun gründet in dem Mythos der Urflut: Hiernach vermochte es Gun nicht, die Urflut zu bezwingen und wurde deswegen am Federberg hingerichtet. Nach einer weiteren Überlieferung steht die Hinrichtung von Gun noch mit einem anderen Thema in Verbindung, Ein Bild, das sich Münke nach der durch den Philosophismus geprägten Betrachtung des Altertums und der chinesischen Überlieferung ergibt. Vgl. Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 137. 111 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 419. 112 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 419. 113 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 184. 114 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 184. 110
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nämlich dem der Auflehnung ›Protogaias‹ gegen den ›Allvater‹ Yao. Hiernach verficht Gun ihren Anspruch auf das dao der Erde, was sie zur rechtmäßigen Gebieterin der Teilreiche unter dem Himmel (san gong), des Erdenvierecks der neun Zwischenstromlande erklärt hätte, gegenüber Shun, dem von Yao unter der Umgehung Protogaias die Mitregentschaft übertragen wurde: »Als [Allvater] Yao dem [Lichtträger] Shun das Unter-dem-Himmel abtrat und Protogaia Wächterin wurde, wütete sie gegen Yao und sprach: ›Wer das Tao des Himmels hat, ist Gott. Wer das Tao der Erde hat, Drei-Teilreichgebieter. Nun habe ich das Tao der Erde, doch zur Drei-Teilreichgebieterin [san gong] macht man mich nicht.‹« 115 Nach Münke korrespondiert das san gong (Gebieter der drei Teilreiche unter dem Himmel) Mythologem mit der altchinesischen Semantik von di – 地 –, das sich von tu – 土 –, Erde dadurch unterscheidet, dass es die umfassendere Idee des Unter-dem-Himmel vermittelt. 116 Die Auflehnung Protogaias wird in den Quellen mit Neid auf Shun begründet, welcher Protogaia schließlich am Federberg hinrichtet, indem er ihr mit einem metallenen Spaltwerkzeug den Bauch aufschlitzt: aus diesem gespaltenen Leib soll Yu in Form einer Schlange bzw. eines Drachens hervorgetreten sein. 117 Münkes Untersuchungen nach zu urteilen, war die Erdgottheit Hou Tu also primär weiblich und auch Yu (gleich Hou Tu) war primär weiblich 118, d. h. eine lebendige Verkörperung der Erdmaterie, die sie aus einer Ödnis in bewässertes, fruchtbares Land verwandelte. 119 Das Fehlen jeglichen Hinweises, dass Yu in der Zhou Zeit noch als Vgl. Lüshi chunqiu, zitiert nach Münke: Mythologie der chinesischen Antike, S. 186 f. Münkes Übersetzung stellt eine Korrektur dar: »Der Passus ›te ti chih tao che wie san-kung‹ = wer Gottes Tao hat, ist Gebieter der drei Teilreiche unter dem Himmel« entbehrt jeder Logik, denn Göttlichkeit beziehen die Götter aus dem naturimmanenten Tao, nicht über einen vom Tao abhängigen Himmelsherrn. Ti 帝 ›Gott‹ ist durch das im Neuchinesischen homophone 地 di ›Erde‹ zu ersetzen, was auch das folgende ›nun habe ich das Tao der Erde, doch man macht mich nicht zum san-kung‹.« Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 186. 116 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 186. 117 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 188. 118 Dass Hou Tu primär als weiblich aufgefasst wurde, steht der Idee ihrer doppelgeschlechtlichen Gestalt nicht im Wege. 119 »Yu war Erde, und wenn aller Gegensatz zwischen Erde und Himmel, yin und yang, weiblich und männlich in der chin. Überlieferung nicht zum Gespött werden 115
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Muttergottheit aufgefasst wurde, führt Münke auf ein langes Stadium der Entwicklung bzw. eine Überschichtung der Xia durch fremde Eroberervölker zurück, die selbst keinen Bezug zu einer ›Mutter Erde‹ hatten, sofern diese den Ackerbau und die Wasserwirtschaft erst von Seiten der Xia erlernt haben. 120 Münke zufolge hat sich nach dem Sturz des Xia-Könighauses zusammen mit der Vermännlichung Yus zum Gründer des sagenumwobenen Xia-Könighauses allmählich die Vorstellung entwickelt, hou sei nicht nur die Ehrenbezeichnung für den (die) göttliche(n) Gründer(in), sondern a priori der eigene Titel der Xia-Könige und Xia-Königinnen selbst, als hou im Sinne von ›Herrscher(in), Fürst(in), König(in)‹. 121 Trotz anachronistischer und aus Spätvorstellungen beruhender Verdeutschung des Wortes hou ›Fürstin, Herrin‹ kann gemäß Münke jedoch der Schöpfungsmythos erarbeitet werden, der einen Teil des Denkgebäudes des Xia-Geschlechts darstellt. Dieser Schöpfungsmythos soll, wie Münke es versucht hat zu zeigen, dem Paläogramm hou – 后 – selbst inhärent sein. Münke geht davon aus, dass das Paläogramm ursprünglich dazu diente, jenen Felsblock am Fuße des heiligen Berges der Mitte darzustellen, in den sich der Volkssage nach die Göttin vom Tu shan, dem Berg der fruchtbaren Erde 122, verwandelt haben soll. 123 Hiernach soll sich der Leib der zu Stein gewordenen Göttin geöffnet haben und aus diesem Spalt Qi, der Öffner, (der mit dem ersten Xia-Königsohn identifiziert wurde) getreten sein. 124 Wie Münke betont, darf dieser Felsspalt ausgehend von der archaischen Vorstellungswelt der Xia soll, so war die Erdgottheit Hou Tu primär weiblich, so war Yu = Hou Tu primär weiblich.« Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 139. 120 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 139. 121 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 139. 122 Münkes Untersuchungen zufolge bedeutet Tu shan ursprünglich ›Berg der Erde‹, ›Berg der Erdgöttin‹. Der Begriff tu wird ausnahmsweise nicht mit dem einfachen Ideogramm für tu (Erde) wiedergegeben, sondern mit Hilfe eines graphischen Kompositums aus Erde und Bewässerungsgräben: Tu shan ist der Names des Berges der fruchtbaren, bewässerten Urmutter Erde. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 145 und 146. 123 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 140. 124 Nach Münke beweist die Sage von der Verwandlung der Tu shan Göttin in jenen Stein am Fuß des heiligen Berges der Mitte, durch dessen Spalt hindurch der Xia König Qi […] geboren wurde, dass die Tu shan Göttin und die mit dem Wort hou und den Schriftzeichen hou bezeichnete Erdgöttin Hou Tu und damit auch Yu primär ein und dasselbe waren. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 142.
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nicht als ein bloßes Sagensymbol, sondern muss als der ureigentliche Mutterschoß der lebendigen, ständig und überall Leben hervorbringenden Erde betrachtet werden. 125 Dieser Mythos ist nach Münke in dem ›Urmuttersymbol‹ 126 stenographisch enthalten: Der in hou – 后 – gezeigte Stein und seine Öffnung wurde hiernach als die in ihrer Ganzheit zu erfassende Erde selbst, d. h. als eine realpräsente Darstellung der unter dem Worte hou verehrten Urmutter Erde gesehen. Insofern es im Bewusstsein des Geschlechts der Xia nur eine hou gegeben haben kann – Xia-hou oder Hou Tu – ist es, wie Münke deutlich macht, auch irrsinnig, die Fügung Hou Tu ›Urmutter Erde oder Urmutter seiende Erde‹ auf andere Gestalten der Antike zu übertragen. 127 Erst die Mythologie des Zhou-Königtums hat Münkes Folgerungen nach den Urmutternamen der Erdgöttin entfremdet und als Titel für die Gattin des Königs verwendet 128, wodurch sich zugleich ein Bedeutungsverfall des Wortes hou vollzogen hat. 129 Vor diesem Hintergrund rekonstruiert Münke ein frühtheologisches Denkgebäude, dessen erste Stufe für ihn das Xia-Zeitalter bildet mit Hou Tu, der lebenden Erde als Gottheit in der Gestalt der steinernen Mutter am Fuße des heiligen Berges der Mitte, d. h. am Anfang dessen, was unter dem Himmel war. 130 Während Xia Hou die Erdgöttin in ihrer Eigenschaft als Urmutter der Xia bezeichnete, ist Yu als der Schriftbildname der Erdgöttin in ihrer Eigenschaft als Gründerschlange, die das Wasser der Urflut in den östlichen Abgrund leitete, zu sehen. 131
Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 140. Der heilige ›Berg der Mitte‹ ist Münke zufolge als das ursprüngliche zentrale Heiligtum der XiaMutter Erde (auch Tu shan Göttin genannt) anzunehmen. Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike, S. 415. 126 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 112. 127 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 112. 128 Vgl. Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 112. 129 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 142. 130 Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 143. 131 Retrospektiv-pseudohistorisch ist den Angaben Münkes nach daraus der Name für den Xia-König bzw. der Xia-Königin geworden. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 143. 125
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5.
Nü Wa und die Erschaffung des Menschen
Was nun die Erschaffung des Menschen anbelangt, soll diese unter dem Mythos der Göttin Nü Wa überliefert worden sein. 132 Auch Nü Wa, die hohe Frau 133, wurde in Form einer Schlange oder eines Drachens dargestellt und ist außerdem intrinsisch mit dem Element des Wassers verbunden. Im Tianwen (›Himmelsfragen‹) findet sich die frühste Erwähnung von Nü Wa. Das Tianwen fragt: »Die Leiblichkeit der Hohefrau [Nü Wa], wer hat sie geformt?« 134 In Bezug auf spätere Darstellungen, wonach Nü Wa den Menschen erschaffen haben soll, kann davon ausgegangen werden, dass der Autor des Tianwen diese Geschichten kannte und die Frage aufwarf, wer denn nun Nü Wa geschaffen hat, wenn sie selbst es war, die den Menschen erschuf. Im Huainanzi findet sich eine kryptische Stelle, die sich auf Nü Was generative Macht bezieht, nämlich die sich aus der (Selbst-)Transformation ihres Körpers vollziehende Entstehung der Wesen und der Welt: »It was with these that Nüwa made her seventy transformations.« 135 Dies zeigt, dass es frühe Berichte gegeben haben muss wie diejenigen, die im Tianwen impliziert sind. 136 Der spätere Han-Text Fengsu tongyi greift das Motiv von Nü Wa als Schöpfergottheit auf und berichtet, dass Nü Wa den Menschen aus gelber Erde geschaffen hat. 137 Nü Wa wird auch im Kontext des Wiederherstellungsmotivs der Welt nach der Flut als Schöpferin der Welt tradiert: »Vor alters her leitete der Strahlende Gott [der
Die hauptsächlichen Quellen für die mythologische Funktion von Nü Wa sind: Chuci und Tianwen. 133 Gemäß Münke ist das Wort wa sprachverwandt mit jiao, was so viel wie ›hochherzig, hochsinnig‹ bedeutet. Vgl. Wolfgang Münke: Die klassische chinesische Mythologie, S. 247. 134 Wolfgang Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 242. 135 Zitiert nach Anne Birell: The Four Flood Myth Traditions of Classical China, in: T’oung Pao, Second Series, Vol. 83 (1997), S. 213–259, S. 226. 136 Vgl. Mark Lewis: Writing and Authority, S. 202. 137 Der Text versteht sich als eine Erklärung der Ursprünge der sozialen Spaltungen: »In this story Nüwa at first fashions men entirely from yellow earth. Because the process takes too much time she later resorts to dipping cords in mud to form human creatures. The rich and noble descend from the creatures formed by yellow earth, while the cord and mud hybrids are the ancestors of the commoners.« Lewis: Writing and Authority, S. 202. Obwohl der Text relativ spät ist, existierte die Tradition von Nü Wa als Schöpferin des Menschen schon zur Zeit der Streitenden Reiche. 132
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Nü Wa und die Erschaffung des Menschen
Gelbe Kaiser] das Unter-dem-Himmel, […] und man lebte daselbst in Frieden und Eintracht. Aber dennoch reichte er nicht an das des verehrten Fu Hi heran. In uralter Zeit waren die vier Endauflager zerbrochen, die neun Zwischenstromlande [die neun Regionen] zerrissen. Der Himmel bedeckte nicht alles, die Erde trug nicht das Ganze […] Da schmolz Nü kua Fünffarbensteine, flickte mit ihnen den Azurhimmel, hackte Schildkrötenfüße ab, stellte sie hin als die vier Endauflager; tötete den schwarzen Drachen, rettete das Zwischenstromland der nördlichen Felder, häufte Schilfasche an und hemmte die strömenden Wasser […] Fu Hi und Nü kua schufen weder Gesetz noch Norm, aber sie hinterließen der Nachwelt ihr vollkommendes Mana.« 138 Nü Wa wird hier als eine Agentin von Fu Xi dargestellt, welche die primäre Arbeit sowohl der physischen Wiederherstellung der Welt als auch der Bezwingung der Flut verrichtete. Diese Passage ist die einzige Han-Textquelle, welche eine Verbindung zwischen Nü Wa und Fu Xi, dem mythischen Gründer der Zhou-Dynastie und der Acht Trigramme im Yijing, herstellt. Sie berichtet von den Lebensgeistern, die aus dem urweltlichen Chaos hervorgehen und die Spaltung zwischen yin und yang erzeugen. 139 In der hanzeitlichen Grabkunst treten Fu Xi und Nü Wa stets als Paar auf und erscheinen in ihrer höchst bedeutsamen Rolle als yin und yang verkörpernde Lebensgeister. 140 Die Verbindung zwischen Fu Xi und Nü Wa und ihre Identifikation mit yin und yang besteht jedoch erst seit der Han-Dynastie. In den meisten Berichten wird die Bezähmung der Flut Fu Xi zugerechnet und Nü Wa als Ehefrau oder Schwester von Fu Xi identifiziert. 141 Die Rolle und Assoziation von Nü Wa in dem Flutmythos wurde auch lange Zeit nicht anerkannt. 142 Nü Wa wurde den offiziellen Aufzeichnungen zufolge nicht zu der Gefolgschaft derer gezählt werden, die Mark Lewis die »potent, wonder-working
Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 116. 139 Vgl. Mark Lewis: Writing and Authority, S. 204. 140 Vgl. Mark Lewis: Writing and Authority, S. 204. 141 Vgl. Mark Lewis: Writing and Authority, S. 204. 142 »It should be made clear at the outset that by no means all scholars, whether traditional or modern, recognize the existence of a flood myth associated with the figure of Nüwa. Whether or not it is due to an increasing awareness of the role of women in cultural history is not clear, but the function of this female deity as a flood myth protagonist has been acknowledged by a minority of scholars, and is now gaining acceptance.« Anne Birell: The Four Flood Myth Traditions, S. 223. 138
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
rulers at the heart of imposing order and definition on a world that otherwise collapsed into chaos« 143 bezeichnet hat. Das Schema von anfänglich ›wunder-wirkenden Herrschern‹ wurde durch die Untersuchungen Münke hinsichtlich der ursprünglichen Gestalt, Funktion und dem Status der Erdgottheit Hou Tu und ihrer Identifikation mit Yu in Frage gestellt. Nach Münke zeigen die bekannten Doppelschlangenfresken des Altertums auch nicht Nü Wa und Fu Xi als Paar, sondern entweder Nü Wa oder Fu Xi. 144 Gemäß den Untersuchungen Münkes ist der Schlangengott Fu Xi als ein Analogon der Schlangengöttin Nü Wa, sowie Nü Wa als ein Analogon der schlangenhaften Urmutter (Yu bzw. Hou Tu) anzusehen, die sowohl männliche als auch weibliche Qualitäten in sich vereinend, die Erde im Urflutzeitalter in eine bewohnbare Welt transformierte und das Leben aus sich selbst heraus erschuf; letzteres ist im Falle von Nü Wa in der Vorstellung der Transformation ihres Körpers in die Welt aufgehoben. Durch die Paarung von Nü Wa mit Fu Xi wurde die ursprünglich in sich doppelgeschlechtige, d. h. unabhängige und uranfänglich wirkende Göttin in ein yin yang Schema gezwungen und dadurch domestiziert und in ihrer Macht eingeschränkt. Dass dabei einige ihrer Qualitäten und Funktionen auf Fu Xi übertragen wurden, geht auch aus der Symbolik der ikonographischen Darstellungen der Han-Zeit hervor. 145 Hiernach hält Fu Xi einen Winkel, das Symbol der Erdgöttin bzw. ihrer ursprünglich schöpferischen Tätigkeit, in den Händen. Der Winkel kann, Fu Xi zugeordnet, als ein Symbol der imponierten Herrschaft des Männlichen über die Erde verstanden werden, seiner Figuration als Bezwinger und Beherrscher des primordialen Chaos bzw. der Schöpfung der Welt aus dem priMark Lewis: The Flood Myths of Early China, New York 2006, S. 152. Vgl. Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 117. 145 Nach Münke ist anzunehmen, dass der Tradierer des Nü Wa Weltrettungsymythos den Königsahnen Fu Xi durch eine Identifizierung mit Nü Wa an dem Ruhm, der ihm gestaltlich gleichenden Nü Wa, teilhaben lassen wollte. Der Überlieferung nach bilden auch Yu und die Tu shan Göttin ein Paar. Wie Münke gezeigt hat ist Yu jedoch die Erdgöttin in Gestalt einer Schlange: Dabei sind die beiden verkreuzten Schlangen das Symbol der Doppelgeschlechtlichkeit der Erdgöttin, die sowohl weibliche als auch männliche Eigenschaften vereinend, durch Selbstbefruchtung das Leben zeugte und gebar. Das Symbol der doppelten Schlange von Yu trug dazu bei, dass darin nicht mehr die in der Verschlingung symbolisierte primäre Einheit, sondern die Verkopplung zweier primär selbständiger Wesen gesehen wurde. Vgl. Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 117. 143 144
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Erde und die Kontrolle über das Wasser
mordialen Chaos. In der Großen Überlieferung des Yijing wird Fu Xi als der erste Regent des Kosmos betrachtet, als mythischer Gründer des Zhou-Königtums und Erschaffer der Acht Trigramme des Yijing, der Grundlage des Schafgarbenorakels. In der apogryphischen HanLiteratur wird behauptet, dass Fu Xi zu einer Zeit lebte, wo alles chaotisch und ungeteilt war und dass er einen Winkel benutzte, um alles zu teilen und die Trigramme zu erschaffen. 146 In der Großen Überlieferung wird auch behauptet, dass die Trigramme viereckig, winklig sind, während die Schafgarbe rund ist, was die Divination des Yijing zu einer Replikation des Kosmos macht. Der Winkel wird hiernach durch seine Fähigkeit, Linien zu erzeugen, als etwas für die Erschaffung der Welt Fundamentales betrachtet. Durch diese Assoziation mit dem Winkel, entspricht die Erfindung der Trigramme den Mustern der kosmischen Erzeugung, die in den Han-Repräsentationen von Fu Xi und Nü Wa dargestellt sind. Eine der Grabkammerfresken – das Bildnis zweier menschlicher Oberkörper mit ineinander verschlungenen Schlangenleibern – trägt die Inschrift: »Fu Hi […] schuf das Königtum […] ritzte Strichzeichen, knotete Schnüre und regelte das Innerhalb-der-Meere.« 147 Kein Wort von Nü Wa, die die Welt rette und neu erschuf. 148
6.
Erde und die Kontrolle über das Wasser
Es hat sich gezeigt, dass in dem Prozess der Historisierung und Überschreibung der Mythen, die offenbar mit der Erdgottheit und ihren analogen Figurationen in Verbindung standen, die männliche Übernahme und Kontrolle über das Wasser als zivilisatorische Handlung eine besondere Rolle spielte. Die Vorstellung der Befruchtung der Erde durch das Wasser, der Bestellung der Felder, zeugt dabei von einem agrarkulturellen Kontext und ist verknüpft mit dem Konzept Vgl. Lewis: Writing and Authority, S. 204. Zitiert nach Münke: Mythologie der chinesischen Antike. Mit Ausblick auf spätere Entwicklungen, S. 119. 148 Im analogen Sinnbild zu der Gottheit der Erde Hou Tu darf der Winkel jedoch nicht nur als ihr Instrument zur Gestaltung der Welt angesehen, sondern sie schafft die Welt letztlich nach ihrem Maß. Die Vorstellung der Gottheit der Erde als Herrscherin über das Maß und die Proportionen ist sowohl für die Architektur als auch für den Wasserbau wichtig. Vgl. Harry Rothschild: Emporer Wu Zhao and her Pantheon of Devis, Divinities and Dynastic Mothers, New York 2015, S. 26. 146 147
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
der Erde als dem Fruchtbringenden, Nährenden und Erzeugenden. In dem Bild der Wasserläufe klingt zugleich der alte Erdgestaltungs- und Schöpfungsmythos an, wonach die Urmutter Hou Tu in Form einer Schlange durch die Schaffung von Wasserläufen ein Gleichgewicht zwischen Wasser und Erde schuf und dadurch den Grundstein für das Leben auf der Erde legte. Historisch betrachtet entstanden frühe Siedlungen entlang von Flüssen, wo das Wasser der Flüsse in Bewässerungsgräben geleitet wurde. Dies bildete die Basis für die agrarkulturelle Gesellschaft. Die Entwicklung von Bewässerungssystemen als Grundlage für die Agrarwirtschaft kann als ein Übergangsstadium im Hinblick auf die symbolische Bedeutung des Wassers und auch den Umgang des Menschen mit dem Wasser und der Erde betrachtet werden. Der Artikel Lording It over the Goddess: Water, Gender, and Human-Evironmental Relations zeigt, wie Wasser, das ursprünglich als Verkörperung von weiblichen Prinzipien galt und in archaischen Gesellschaften oftmals in Form von die flüssige und lebensschaffende Qualität des Wassers widerspiegelnden Schlangenfiguren dargestellt wurde, in den Mythen und Erzählungen verschiedener Kulturen allmählich zu der Gabe von männlich-religiösen Wesenheiten und Göttern transferiert und historisch zu dem Fokus primär männlicher Besitzrechte und Kontrolle gemacht wurde. 149 Dabei führte die einfache Nutzung von Überschwemmungen im Rahmen dem um 6000 v. Chr. ansetzenden, intensiveren Reisanbau in China und anderen Teilen Asiens, als neolithische Gesellschaften Steinwerkzeuge und Grabstöcke benutzten, um Dämme zu bauen und die Rückstände zu stauen, noch zu keiner radikalen Veränderung der Geschlechter- und Machtverhältnisse und der Wandlung der Gottesbilder. 150 Erst als sich aus der Landwirtschaft eine der wichtigsten Wirtschaftsformen etablier»Through a focus on water and gender, this article considers critical transitions in the historical trajectories of most societies, from animistic and polytheistic ›nature religions,‹ which venerated localized female, male, and androgynous forces, to increasingly male-dominated and hierarchical belief systems, which valorized more distant religious figures. These transitions intersected with shifts from hunting and gathering to settlement and agriculture, changes in gender roles, and the emergence of stratified sociopolitical arrangements. As technologies such as irrigation developed and societies enlarged, human-environmental relations also moved away from egalitarian and reciprocal partnerships with other species and ecosystems to more directive interactions.« Veronica Strang: Lording It over the Goddess: Water, Gender, and Human-Evironmental Relations, in: Journal of Feminist Studies in Religion, Vol. 30, 2014, S. 85–109, hier S. 85 f. 150 Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 91. 149
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Erde und die Kontrolle über das Wasser
te, begann sich eine direktere wasserökonomische Praxis durchzusetzen, woraus komplexere und ambitioniertere Bewässerungssysteme hervorgingen. 151Obwohl diese neueren Bewässerungsanlagen anfänglich noch in Übereinstimmung mit den jahreszeitlichen Rhythmen funktionierten, indem die jährlichen Überschwemmungen gemessen und wirtschaftliche Aktivitäten mit den natürlichen Bewegungen des Wassers durch Umwelt koordiniert wurden, hatte die Ausweitung der Landwirtschaft erhebliche soziale Auswirkungen. 152 Die Investition von Arbeitskräften in Bewässerungssysteme, Felder und Nutzpflanzen erforderte neue Formen von Land- und Eigentumsbesitz. Die räumliche Aufteilung in ›häusliche‹ und ›öffentliche‹ Räume brachte größere Divergenzen in den Geschlechterrollen mit sich. 153 Die Expansion der Wasserwirtschaft förderte auch hierarchischere politische Strukturen und mit der Etablierung zunehmend patriarchalischer Systeme wurden sowohl Frauen als auch die ›Natur‹ zunehmend der männlichen ›Kultur‹ untergeordnet. 154 Nachweislich wurden Gottheiten in Gesellschaften, die Bewässerung entwickelten, immer weniger als animistische Schlangen- oder Naturwesen dargestellt, sondern begannen, eine stärker humanisierte und eine speziell geschlechtsspezifische Persona anzunehmen. 155 Obwohl Gottheiten humanisiert wurden, hatten weibliche Wassergottheiten in einigen Gebieten auch weiterhin eine starke Präsenz. Aber ihnen erging es in größeren Gesellschaften, wo Bewässerung eine verstärkte landwirtschaftliche Produktion, Bevölkerungswachstum und Urbanisierung ermöglichte, deutlich schlechter. 156 Viele weibliche Gottheiten, die sich ursprünglich in wasserbezogenen Schlangenformen manifestierten, wurden nicht nur humanisiert, sondern auch maskulinisiert. 157 Von etwa 1500 v. Chr. bis in die ersten Jahrhunderte nach Christus gab es eine Blütezeit von männlichen Kulturhelden, ›Superheldengöttern‹, deren einziger Zweck es war, die mächtigen Wasserschlangenwesen zu töten, die ihnen vorausgegangen waren.
151 152 153 154 155 156 157
Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 92. Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 92. Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 92. Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 92. Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 93. Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 95. Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 95.
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
Ein prominentes Beispiel hierfür bildet auch die von Marduk in Form einer weiblichen Schlange beherrschte Tiamat in dem Schöpfungsmythos Enuma Elish. 158 Ursprungsmythen wurden entsprechend reformiert und patriarchalische Instruktionsfiguren imponiert. Auch Platons Interpretation von Chora als ursprüngliche ungeformte Materie, die von dem Demiurgen in den Kosmos geformt wird, kann als ein Zeugnis dieser Entwicklung betrachtet werden. Der Glaube, dass die Natur gezähmt werden muss, wurde vor allen Dingen in der Wasserwirtschaft voll zum Ausdruck gebracht. 159
7.
Wasser als Grundmetapher des frühen chinesischen Denkens
Sarah Allan untersucht in ihrem Buch The Way of Water and the Sprouts of Virtue die Grundmetaphern des frühen chinesischen Denkens und zeigt, dass das Wasser in seiner Vielfalt an möglichen Formen und außerordentlichen Fähigkeit, Bilder zu erzeugen, das wesentliche Modell für die philosophische Reflexion über die Natur des Kosmos war, genauso wie Pflanzen, die von dem Wasser genährt keimen, wachen, bis sie blühen und verdorren, sobald sie Samen hervorgebracht haben, die Bildsprache für das Verständnis der Natur des Menschen bereitete: »This natural world was the source of the root metaphors used in the formulation of abstract concepts and its imagery is embedded in the language and structure of Chinese Philoso-
Vgl. Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 96. In der griechischen Mythologie tötete Zeus Typhon, das Schlangenkind der Erdgöttin Gaia, um die Herrschaft der olympischen Götter zu sichern. Perseus tötete ein Seeungeheuer um Andromeda zu retten und Medusa zu töten. Apollo tötete Python und eignete sich so die weiblichen Kräfte des Orakels in Delphi an. Hercules beseitigte die vielköpfige Hydra. 159 »The Domesday Book (1086) records water mills along almost every mile of the rivers in southern England. Through the Middle Ages, environmentally directive technologies increased exponentially. Water pumps, bores, pipes, and canals became central to economic production. Wetlands, formerly treasured for their rich resources, were recast as fetid and feminized ›nether regions‹ and drained to enlarge agricultural areas. In urban settlements, where butchery, tanning, and other nascent industries spewed pollution into streams, water became undrinkable and was seen, increasingly, as the source of miasma and disease. Such negative views echoed long-standing fears about water’s potential ›dark side‹.« Veronica Strang: Lording It over the Goddess, S. 100. 158
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Wasser als Grundmetapher des frühen chinesischen Denkens
phy.« 160 Insbesondere die Transformations- und Bewegungsfähigkeit des Wassers spielt für seine Modellfunktion für die Natur und Musterhaftigkeit des Kosmos eine zentrale Rolle: »Water, which provides life, gurgles up unbidden from the earth and moves of its own accord, becomes perfectly level and clears itself of sediment when still, takes the shape of any container, penetrates the tiniest opening, yields to pressure but wears down the hardest stone, becomes hard as ice and disperses as steam.« 161 Das chinesische Wort für Wasser ist shui. Es bedeutet nicht nur Wasser in seiner Substanz oder ›Wasser‹ an sich, sondern auch ›Fluss‹, ›Flut‹ oder ›fluten‹, wie dies aus den Orakelknocheninschriften der Shang hervorgeht. 162 Seine frühsten piktographischen Schreibformen zeigen einen Wasserlauf oder einen Fluss. Dabei können verschiedene Formen des Wassers nach ihrem Aufkommen unterschieden werden: Wenn der Grund eines Flusses eine Quelle ist, wird sie kontinuierlich aufgefüllt. Das Wasser steigt von der Erde auf und fließt immer weiter. Regen dagegen, der keine Quelle oder Wurzel (ben) hat, kann Bewässerungsgräben füllen und Wasser für die Landwirtschaft liefern, jedoch trocknet dieses Wasser schnellt aus, während das Wasser von einer Quelle weiterfließt. 163 Quellwasser ist hiernach das Bild für ein kontinuierliches Fließen. Das Fließen des Wassers, der Fluss, suggeriert, dass etwas vorbeigeht und bildet damit auch die Grundlage der frühen chinesischen Vorstellungen dessen, was wir Zeit nennen: shi. Das Wasser in Form eines Flusslaufes mit einer natürlichen Wasserquelle als seinem Grund ergibt das Modell für die Ideen von Übergang und Kontinuität. 164 Lao zi benutzt das Wort shi in Bezug auf das dao: »Es [das dao] ist groß, bewegt sich also fort [shi]; es bewegt sich fort, ist also in die Ferne sich ausweitend.« 165 Sarah Allan greift interessanterweise den Mythos von Yu auf und bezieht sich auf Menzius, wenn sie sagt, das Yu den ›Weg des Wassers‹ nutze, um die Flut zu regulieren: »By using the ›way of water‹, Mencius meant that Yu took advantage of its natural tendency to flow downward and yield to obstacles. Because of this characteristics water can easily be channelled.« 166 Diese Tendenz 160 161 162 163 164 165 166
Sarah Allan: The Way of Water, S. 4. Sarah Allan: The Way of Water, S. 4. Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 34. Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 36. Vgl. Sarah Allan: The Way of Water, S. 37. Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 85. Sarah Allan: The Way of Water, S. 40.
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des Wassers, durch sein kontinuierliches Fließen hindurch Widerständen zu weichen, wird oft in daoistischen Quellen betont, wo das Wasser insbesondere eine weibliche Qualität verkörpert. Das Bewegliche, konstant Fließende des Wassers ist das wesentliche Charakteristikum des dao: »Das, was Dao ist, ist der Fluss der zehntausend Dinge.« 167 »Das große Dao strömt, es kann [so] hilfreich wirken. Die zehntausend Dinge stützen sich auf es und es bringt sie hervor und verlässt sie nicht.« 168 »Man kann das Verhältnis des [dao] zur Welt vergleichen mit den Bergbächen und Talwassern, die sich in die Ströme und Meere ergießen.« 169 Wasser überwindet in seiner Weichheit jedes Hindernis, das es in seinem Abwärtsfließen behindern könnte: »Nichts unter dem Himmel ist so weich und schwach wie das Wasser, und doch ist es von keinem, das gegen Festes und Starkes anstürmt, zu schlagen.« 170 »Das Weichste dessen, was unter dem Himmel ist, versetzt das Festeste dessen, was unter dem Himmel ist.« 171 »Das, wodurch Ströme und Meere die Könige der hundert Täler sein können, ist ihre Beherrschung des Hinabfließens.« 172 Die Qualitäten des Wassers sind untrennbar mit dem ›Geist des Tales oder der Tiefe‹ [gu shen, 谷神] verbunden: »Der Geist des Tales [gu shen] vergeht nicht, das heißt Mystische Vagina [xuan pin], das Tor [men] der mystischen Vagina – dies heißt Wurzelgrund von Himmel und Erde.« 173 Das Wort pin (eigentlich ein Tierweibchen) verweist piktographisch auf das weibliche Geburtsorgan: Es bedeutet auch eine dunkle Höhle. 174 Auch das Wort men (eigentlich Tor) deutet im Sinne von Öffnung oder Ausgang auf einen Geburtskanal. Das Wort gu (Tal) zeigt im Sinne einer Schlucht ebenfalls eine Öffnung, die von steilen Bergen umgeben ist, wo Wasserfälle in die Tiefe stürzen. Im Talgrund sammelt sich das Wasser und bildet einen Flusslauf. Das Wesen des Tales ist es, alles Wasser in der Tiefe zusammenfließen und sich sammeln zu lassen. Das Tal in seiner Funktion als Hohlraum Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 191. Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 111. 169 Vgl. Richard Wilhelm, zitiert nach Günter Wohlfart: Der philosophische Daoismus: Philosophische Untersuchungen zu Grundbegriffen und komparative Studien mit besonderer Berücksichtigung des Laozi (Lao-tse), Reihe für Asiatische und Komparative Philosophie, hrsg. v. Günter Wohlfart und Rolf Elberfeld, Köln 2001, S. 19. 170 Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 235. 171 Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 137. 172 Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 205. 173 Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 25. 174 Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 27, Kommentar. 167 168
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Das Schriftzeichen Ku¯n: 巛
oder aufnehmendes Becken entspricht der Fruchtbarkeit der Gebärmutter: aus dem Wasser, das sich darin ansammelt und fließt, entsteht Leben. In der Natur ist das Tal die Quelle der Fruchtbarkeit, die das Leben auf der Erde hervorbringt und nährt. Das Tal steht für das dao als dauerhaft wirkende Fruchtbarkeitsquelle der Welt, die kontinuierlich fließt und die unzähligen Wesen hervorbringt und nährt – seine schöpferische Wirksamkeit entspricht derjenigen einer Gebärmutter und einem Geburtskanal, den inneren weiblichen Geburtsorganen des Lebens: »The Tao never dies, it is a deep womb.« 175
8.
Das Schriftzeichen Ku¯n: 巛
Die Symbolik des Wassers im Sinne des Hervorbringenden und Nährenden, als unendlich fruchtbare Quelle des Lebens und aller Wesenheiten, könnte einen Hinweis auf die Bedeutung der ältesten Schreibweise von Kūn – 巛 – im Yijing geben. In diese Richtung weist auch der Mawangdui-Text, wo als Name des Zeichenbildes für Kūn ein ähnliches Zeichen steht, nämlich chuan – 川 –, Fluss. In der Kombination mit tian – 田 –, Feldern, könnte die ältere Schreibform von Kūn – 巛 – außerdem die Bedeutung ›kleiner Wasserläufe oder Wasserkanäle in Feldern‹ haben. 176 Letzteres kann in Bezug gesetzt werden zu dem mythologischen Motiv der Gestaltung der Erde als Wohnstätte des Menschen aus dem Urstrom – wonach die Gottheit der Erde Hou Tu in Gestalt der Urschlange Yu Flüsse, Wasser und Erde ausgeglichen hat. Einher soll dieser Vorgang der Leitung des Wassers mit der Einteilung des Erdenviertels in Felder gegangen sein, woraus sich zugleich die quadratische Gestalt der Erde ergibt. 177 Vor diesem Hintergrund ließe sich vielleicht auch die Assoziation der Schreibweise von Kūn – 巛 – mit Winkeln und Metaphern des Räumlichen, der Ausdehnung und Ausweitung, d. h. im Sinne der Gestaltung der Erde in verschiedene Teilbereiche und Felder verstehen. Durch den rekonstruierten Erdschöpfungs- und Gestaltungsmythos scheinen beide Motive – das Motiv des Wassers und des Flusses und Diese Übersetzung basiert auf Gu Zhengkun: Dao de jing. The Book of Tao and Teh: with the bamboo slip-text ›The great one begot the water‹, übers. v. Gu Zhenkun, Beijing 2007. 176 Vgl. Richard Kunst: Unpublished Yijing Notes, http://research.humancomp.org/ ftp/yijing/yi_hex.htm. 177 Vgl. Münke: Mythologie der chinesischen Antike, S. 419. 175
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das Motiv des Winkligen und Räumlichen – aufeinander bezogen zu sein. Mit der Leitung des Wassers in Wasserläufe geht die räumliche Gestaltung der Erde einher. Im Folgenden soll versucht werden, die maßgeblichen Bedeutungselemente des Schriftzeichens für Kūn und seine Variationen, in ihrem jeweiligen Rückbezug zur Erde, dem Wasser und dem Räumlichen zusammenzufassen und das sich hieraus ergebende Verständnis gegen die Bestimmung von Kūn im Sinne des Sich-Fügens der in den Überlieferungen des Yijing abzugrenzen. Auf der untersten Stufe eines bäuerlichen Lebenskontextes beinhaltet die Erde zunächst die Bedeutung des fruchtbaren Bodens, der Ackerkrume oder eines zu kultivierenden Feldes. Die Erde und ihre Fruchtbarkeit schaffen die Lebensgrundlage für die Menschen, weswegen ihre Bestellung und Pflege von zentraler Bedeutung ist. Hier steht vor allen Dingen der Vorgang der Bewässerung des Bodens, des Landes zur Beförderung des Pflanzenwachstums im Vordergrund. Einher geht diese Bewässerung mit einer Aufteilung der Erde in verschiedene Felder, um die herum sich Dörfer und Gemeinschaften bilden und schließlich das ›Reich unter dem Himmel‹ entsteht. Bereits auf dieser ersten und einfachen Stufe der Nahrungsbeschaffung und des existentiellen Bodens zeigt sich, dass die Erde das fruchtbare Zentrum des Wachstums und der Entwicklung bildet. Sowohl der Bezug zu dem Wasser und der Fruchtbarkeit als auch der Bezug zu einer ersten Gestaltung und Gliederung des Raumes der Erde, hier in Form der Einteilung der Erde in Felder, ist auf dieser ersten Stufe gegebenen. Bildlich könnte sich dieser Vorgang und Zusammenhang in der Kombination des Zeichens für Feld – 田– und der alten Schreibvariante für Kūn – 巛 – ausdrücken. Beides zusammen bringt wie gesagt die Bedeutung kleiner Wasserläufe in Feldern zum Ausdruck. 178 Hier ließe sich wiederum eine Verbindung zu den Motiven des Erdgestaltungs- und Schöpfungsmythos herstellen. Historisch verweist das Bild auf die Grundlagen und den Beginn der Agrarkultur und der damit verbundenen Wasserwirtschaft. Das Piktogramm für Kūn im Yijing – 坤 – besteht aus tu, Erde, Boden, Lehm, Schlamm und shen: Shen wird unter anderem als ›aus-
Siehe hierzu die handschriftlichen Aufzeichnungen zu dem Zeichen Kūn von Richard Kunst: http://research.humancomp.org/ftp/yijing/yi_hex.htm, [zuletztaufgerufen am 26. 04. 2018].
178
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Das Schriftzeichen Ku¯n: 巛
dehnen‹ oder ›strecken‹ begriffen. 179 Der Gedanke des Ausdehnens weist ebenfalls in die Richtung einer Aufteilung, Gliederung und Ausweitung des Raumes der Erde. In den Sprüchen des Yijing findet sich das Motiv des Aufrichtens oder Gerademachens – 正 – des winkligen Landes in die Himmelsrichtungen und Gegenden. In den Überlieferungen des Yijing steht dabei das Aufrichten als eine Metapher für die Herrschaft über das Land. Piktographisch wurde shen mit – 申 – in Verbindung gebracht, worin unter anderem ein Blitz gesehen wurde. 180 Der Blitz steht mit dem Donner in einem Zusammenhang. Nach älteren Vorstellungen symbolisiert der Donner eine Fruchtbarkeitskraft: Donner ist wie der Drache ein Regen- und Fruchtbarkeitsbringer. 181 Karlgren weist auf den Donner als Symbol männlicher Zeugungsmacht und Geburtsbeschleuniger, der nach späteren daoistischen Vorstellungen dazu gedient haben soll, den Muttermund zu öffnen und die Leibesfrucht hervortreten zu lassen. 182 Im Altertum war die Ansicht verbreitet, dass der Donner im Frühling zu Beginn der warmen Jahreszeit aus der Erde komme und die Erde erschüttere, womit die Vorstellung verbunden war, dass die Keime der zehntausend Dinge aus der Erde hervorbrechen. 183 In den Überlieferungen des Yijing ist die erschütternde Macht des Himmels fruchtbar für die Erde: Gelenkt durch die Zeugungsmacht befruchtet der Himmel die Erde im Bild des herabfallenden Regens. Der Donner öffnet die Erde, das Wasser befruchtet sie. Shen, Donner, wird hier als eine fruchtbarkeitserregende Macht wahrgenommen, welche die Erde durch Erschütterungen hindurch öffnet oder weitet und dadurch den durch sie sich vollziehenden Wachstumsprozess entfacht. Der Donner lässt sich jedoch entgegen diesen Vorstellungen auch als eine der Erde selbst inhärente Kraft auffassen, verstanden als die primäre Fruchtbarkeitskraft der Erde, die aus dem Inneren der Erde hervorgeht. Es ist die magische und initiatische Kraft der Erde, die das Hervorbringen und Wachsen der Wesen erzeugt. Shen wäre dann weniger als ›Erstreckung der Erde‹ (und damit als eine Siehe hierzu das Zeichen in Bernhard Karlgren: Grammata Serica Recensa, in: The Museum of Far Eastern Antiquities, Bulletin No. 29, Stockholm 1957. 180 Diese Bedeutung wurde später durch das Zeichen – 電 – geschrieben. 181 Vgl. Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 35. 182 »We, the gods of thunder, command that the womb opens, and that the fruit of your womb speedily comes out.« Zitiert nach Bernhard Karlgren: Fecundity Symbols, S. 35. 183 Vgl. Yijing, hrsg. u. übers. v. Rainald Simon, S. 139. 179
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Teil III – Ku¯n und die Gottheit der Erde
äußere Bestimmung der Erde) denn als dasjenige Kraftfeld zu verstehen, von dem die gesamte Erde selbst durchwaltet ist und die das Pflanzenwachstum, das Hervorbrechen der Früchte aus der Erde bewirkt. Das Zeichen shen – 申 – kann vor diesem Hintergrund als die ursprüngliche Form von ›Geist‹, ›Gottheit‹ oder ›Spirit‹ – 神 – betrachtet werden. Das Piktogramm von Kūn im Yijing – 坤 – ließe sich hiernach als Tu Shen, Geist oder Gottheit der Erde, lesen. Dies steht in Übereinstimmung mit dem Piktogramm von tu, das in den Orakelknocheninschriften zu finden ist: Es zeigt eine Erhebung der Erde – einen Erdaltar oder einen aus aufgeschütteter Erde bestehender Erdhügel. Tu und she, die Erde und der Erdaltar sind eng miteinander verbunden. 184 Der Fruchtbarkeitskult der Erde hatte unter anderem das Ziel, die der Erde inhärenten Kräfte anzuregen oder heraufzubeschwören und dadurch den Wachstumsprozess zu initiieren oder zu unterstützen. Dabei wurden Trommeln geschlagen und der Erde Opfer vollbracht. 185 Im Yijing bildet die Erde, wie wir gesehen haben, die Ahnenmacht der Erde, der im Rahmen von Orakelbefragungen regelmäßig große Opfer erbracht worden sind: »Umschließend dehnt sich [das Erdreich], glänzend weitet es sich, um der vielerei Wesen Opfer zu genießen.« 186 Wie wir später noch genauer sehen werden, kann die Verbindung zwischen Donner und Erde im Yijing auch auf einer graphosemantischen Ebene gezeigt werden. Jedenfalls dienten die Fruchtbarkeitsriten der Erweckung jener der Erde selbst inhärenten, initiatischen Anfangskraft, die alles zum Leben erweckt: Donner wäre hiernach die Wandlungskraft der Erde auf der untersten Stufe der Sichtbarwerdung der Formen, d. h. der Spross oder das Licht, das in der Erde heranwächst und sich in ihr zum Leben, zur Gestalt hin verdichtet. Die Erde kann vor diesem Hintergrund als ein lebendig waltendes, göttlich beseeltes bzw. magisch aufgeladenes Wesen gesehen werden, die vermöge ihrer lebensgebenden und lebenserneuernden Macht als göttlich verehrt wurde: Die Erde speit das Leben buchstäblich durch ihren weit geöffneten Mund aus. 187 Jedoch gibt die Erde nicht nur das Leben, sondern sie nimmt es auch wieder in sich zurück.
Siehe hierzu die Untersuchung von Claudius Müller: Untersuchungen zum Erdaltar She in der Chou- und Han-Zeit, München 1980. 185 Vgl. Claudius Müller: Untersuchungen zum Erdaltar, S. 26. 186 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. 187 Vgl. hierzu das Zeichen in: Karlgren: Grammata Serica Recensa. 184
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Das Schriftzeichen Ku¯n: 巛
Der Doppelaspekt von Gebären und Auslöschen, Sich-Öffnen und Sich-Schließen, zeigt sich mythologisch in der Doppelgeschlechtlichkeit, der animalischen Naturgewalt der Erde. Hou ist das Honorifikum für die Erdgottheit, die als doppelgeschlechtliche Naturmacht das Leben aus sich selbst heraus zeugt und gebärt: Sie ist verantwortlich für Leben, Tod und Wiedergeburt. In diese Richtung hat auch das Zeremonialgefäß cong gewiesen, welches als ältestes Symbol der Erdgottheit verstanden, in Trauerzeremonien dazu verwendet werden sollte, die Rückkehr der Toten zur Erde zu vollziehen. 188 Die Gestalt von Kūn im Yijing – ihre durchgängige Öffnung – könnte vor diesem Hintergrund der Vorstellung einer Rückkehr der Toten zur Erde durch ihre Öffnung hindurch (im Erdkult als Opfergrube gedacht) – verstanden werden. 189 In diesem Kontext könnte die alte Schreibform von Kūn (巛) auch als eine Variante des Dreiecksmusters – im Sinne eines weiblichen Fruchtbarkeitssymbols – aufgefasst werden, das im Kontext des Totenkultes symbolisch nicht nur mit der Rückkehr, sondern auch mit der Bitte um Wiederkehr der Toten aus der Erde verbunden ist. 190 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass es neben dem Yijing noch zwei weitere, alternative Orakelbücher gab, darunter das fast vollständig verloren gegangene Guizang. Kürzlich entdeckte Fragmente weisen darauf hin, dass die darin überlieferte Anordnung der Zeichen eine andere als diejenige des Yijing gewesen ist, wonach das Zeichen Kūn – im Gegensatz zur überlieferten Fassung des Yijing – an erster Stelle gestanden haben soll. 191 Bemerkenswerterweise nimmt die Überlieferung des Zeichens, das in dem Guizang-Fragment Kūn zugeordnet wird, Bezug auf den Flutmythos, auch andere Zeichen des Guizang beziehen sich auf denselben Mythos sowie andere zentrale mythologische Motive, darunter den Zehnsonnenmythos. 192 Guizang bedeutet so viel wie ›Rückkehr und Speichern‹ oder Vgl. Eduard Erkes: Some Remarks, S. 66. Vgl. Eduard Erkes: Some Remarks, S. 66. Wie wir gesehen haben, wurde die Lineatur von Kūn als Ornamentstruktur des cong verwendet. 190 Vgl. Hanna Rydh: On Symbolism in Mortuary Cerammics, S. 86. 191 Das Guizang wurde 1993 entdeckt und wird als ein alternatives Divinationsmanual zu dem Yijing betrachtet. Vgl. Edward Shaughnessy: Unearthing the Changes: Recently Discovered Manuscripts Of The Yijing And Related Others, New York Chichester, Wese Sussex 2014, S. 14. 192 »Gua ›Orphan‹ says: Not humane. In the past Xia Hou [Xia König Ki] Qi divined by milfoil about rising into heaven. Di did not regard him as good and threw him into the abyss, leading Gong Gong to … river […].« Edward Shaughnessy: Unearthing the 188 189
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›Returning to be Stored‹ 193. Erkes deutet den Titel des Werkes durch ›jedes Wesen kehrt zu ihr zurück und birgt sich in ihrem Inneren‹, und erläutert, dass der Tod als die Rückkehr in den Schoß der Mutter Erde verstanden wurde. 194 Die Herrschaft der Erdgöttin über alle Wesen zeige sich ihm nach auch darin, dass im Guizang Kūn, die Erde das Anführende ist. 195 Erkes erkennt darin eine mutterrechtliche Weltanschauung, die der vaterrechtlichen Organisation der Zhou und deren oberster Gottheit, dem Himmel, der in der überlieferten Fassung des Yijing den ersten Platz einnimmt, vorausgegangen sein soll. 196 Auch wenn es für diesen Schluss keine historische Evidenz gibt, dürfte schon aus dem bisher Gesagten klar geworden sein, warum es nicht nur problematisch, sondern auch ungerechtfertigt ist, Kūn als eine dem Himmel unter- und beigeordnete Erde zu verstehen, vielmehr weist ihre Wirkmacht in die Richtung dessen, was hier als eine souveräne, unabhängige tu bezeichnet wurde, nämlich einer hou. Diese im Mythos und dem religiösen Kontext fragmentarisch aufscheinenden Motive, welche der Gestalt der Erde eine weitaus größere Bedeutung einräumen als dies im Verständnis von Kūn als dem Sich-Fügen der Erde in den Überlieferungen des Yijing der Fall ist, kehren in der Herausstellung der Dynamik von Kūn – auf der Ebene einer graphosemantischen Analyse der Zeichen – wieder. Die Dynamik von Kūn gilt es im Folgenden herauszuarbeiten und zu zeigen, wie die Motive der Rückkehr und der Wiederkehr intrinsisch mit der Zeichengestalt von Kūn verbunden sind und sich hierauf eine Gesamtdynamik des Lebendigen gründen lässt, die in sich selbst das Kontinuum der Wandlungen bildet.
Changes, S. 174. Ein anderes zentrales Motiv nimmt Bezug auf die Maulbeertradition, die, wie wir noch sehen werden, mit dem Zehnsonnenmythos der Shang verbunden ist. 193 Vgl. Edward Shaughnessy: Unearthing the Changes, S. 174. 194 Guizang bedeutet Erkes nach wörtlich das ›Zurückkehren in den Mutterleib‹. Vgl. Eduard Erkes: Eine P’an-ku-Mythe der Hsia-Zeit, in: T’oung Pao, Second Series, Vol. 36, 1941, S. 159–173, hier S. 164. 195 Vgl. Eduard Erkes: Eine P’an-ku-Mythe der Hsia-Zeit, S. 164. 196 Vgl. Eduard Erkes: Eine P’an-ku-Mythe der Hsia-Zeit, S. 164.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
Im Folgenden soll nun versucht werden, eine andere Form von Hermeneutik zu entwickeln und zu zeigen, inwiefern Kūn eine Wirkkraft entspricht, die keineswegs auf das Sich-Fügen der Erde (wie es die Überlieferungen des Yijing verstehen) eingeschränkt werden kann, was Kūn funktional in die Begründung einer hierarchischen Logik der Macht einbindet und dadurch verfügbar macht. Ganz im Gegenteil soll Kūn als das uneingeschränkt Offene zugänglich gemacht werden, das als Bedingung der Mannigfaltigkeit des Lebendigen die Notwendigkeit eines Ethos des Unverfügbaren nahelegt und es erlaubt, die himmelszentrierte Ökonomie der Herrschaft in Frage zu stellen. Dabei wird der dekonstruktiv-hermeneutische Ansatz für die Herausstellung ihrer eigenen ethischen Signifikanz einerseits aus ihrem Muster und der diesem Muster selbstinhärenten Wirkkraft geschöpft und andererseits aus den mit Kūn im Yijing zentral verbundenen Zeichen und ihrer Bedeutungsschichten. Es gilt, das Potential und die Dynamik von Kūn im Kontext der mit ihr interagierenden und durch sie bestimmten Zeichen aufzuweisen und eine Bewegungsform der ›Wandlungen‹ zur Geltung zu bringen, die dem durch die Überlieferungen imponierten machthermeneutischen Schema der Gegensatzwirkung zweier getrennter und miteinander agierender komplementärer, doch letztlich ungleicher Pole, widerspricht. Durch die Dynamik von Kūn wird die Möglichkeit eröffnet, die ›Wandlungen‹ als eine sich selbst erneuernde, zyklische Form der Bewegung von Wieder, Rück- und Umkehr zu lesen, wodurch die auf Gegensatzspaltung beruhende Subordinationslogik der Überlieferungen aufgehoben wird. In ihrer Offenheit und Dynamik bildet Kūn – wie es deutlich werden soll – den Rahmen und die Grundlage der Gesamtwandlung und Manifestation aller durch sie hindurch entstehenden und wieder vergehenden Lebensformen.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
1.
Ku¯n in den Zeichen des Yijing
Im Yijing gibt es insgesamt 20 Zeichen (darunter das Zeichen Kūn selbst), die – mit Blick auf ihren Aufbau – wesentlich durch die Wirkkraft von Kūn getragen sind. Ausgehend von den unterschiedlichen Aufbauprinzipien dieser Zeichen gewinnt Kūn eine etwas andere Bedeutung. Als unteres und oberes Trigramm erscheint Kūn jeweils in den folgenden Zeichen: 7. Shi (Das Heer) und 8. Bi (Das Zusammenhalten) ䷆䷇, 11. Tai (Der Ausgleich) und 12. Pi (Die Stockung) ䷊䷋, 15. Qian (Die Demut) und 16. Yu (Die Begeisterung) ䷎䷏, 19. Lin (Die Aufsicht) und 20. Guan (Das In-Augenschein-Nehmen) ䷒䷓, 23. Bo (Der Zerfall) und 24. Fu (Die Wiederkehr) ䷖䷗, 35. Jin (Das Vorstoßen) und 36. Ming Yi (Die Verfinsterung des Lichts) ䷢䷣, 45. Cui (Das Sich-Versammeln) und 46. Sheng (Das Emporsteigen) ䷬䷭. Als inneres Trigramm erscheint Kūn außerdem in: 3. Zhun (Die Anfangsschwierigkeit) und 4. Meng (Die Bestie) ䷂䷃, 27. Yi (Die Ernährung) ䷚ und 41. Sun (Das Mindern) und 42. Yi (Das Mehren) ䷨䷩. Bereits auf den ersten Blick wird deutlich, dass die Zeichen in einem Umkehrverhältnis zueinanderstehen, wobei Kūn sich unterschiedlich bewegt. Je nachdem ob sie sich oben oder unten, innen oder außen befindet, ergeben sich unterschiedliche Perspektiven, Bewegungsrichtungen und Formen, die in Relation zu dem mit ihr interagierenden Teilzeichen auf einen je anderen Sinn schließen lassen. Dabei decken die mit Kūn interagierenden Zeichen das ganze Spektrum an Möglichkeiten ab 1: ☰ Qián (Himmel); ☳ Zhen (Donner) und ☴ Xun (Wind); ☵ Kan (Wasser) und ☲ Li (Feuer); ☶ Gen (Berg) und ☱ Dui (See). Insbesondere der Bezug von Kūn zu den Teilzeichen Zhen (☳), Kan (☵) und Gen (☶) ist bedeutsam. Dieser zeigt sich einerseits in den Kūn inhärenten Zeichen, d. h. den Zeichen, in die sich Kūn – ䷁ – jeweils wandelt, wenn ihre jeweiligen Linien geschlossen werden: ䷖䷗ (Linie 1 und 2), ䷆䷇ (Linie 2 und 5), ䷎䷏ (Linie 3 und 4). Der Bezug ergibt sich aber auch aus dem Teilzeichen von Kūn, sofern Zhen (☳), Kan (☵) und Gen (☶) dem Teilzeichen von Kūn strukturell inhärent sind. Schließt sich Kūn (☷) auf der untersten Ebene, erscheint Zhen (☳), schließt sie sich auf der mittleren Ebene, erscheint Kan (☵) und schließt sie sich auf der obersten Ebene, dann erscheint Gen (☶). Zhen ist von der Bewegung her gesehen etwas, das 1
Die Kombinatorik der insgesamt 8 Teilzeichen ergibt die 64 Zeichenbilder.
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Ku¯n in den Zeichen des Yijing
von unten nach oben aufsteigt ☳, Gen etwas, welches die Bewegung oben begrenzt ☶ und Kan dasjenige, was in der Mitte der Bewegung gehalten wird ☵. Aus diesen Charakterisierungen wird klar, dass die Bewegung an sich hier durch Kūn (d. h. die offenen Linien) definiert ist. Das Feststehen dieser Bewegung wird hingegen durch die geschlossenen Linien (und damit durch Qián) definiert. Das Feste (Qián, geschlossene Linien) wird somit stets von der Bewegung (Kūn, offene Linien) bestimmt und umgeben. In dem Zeichen Zhun – ䷂ – befindet sich Kūn (☷) in der unteren Mitte. Gleichzeitig bildet sie Teil des oberen Teilzeichens (☵), des unteren Teilzeichens (☳) und des oberen inneren Teilzeichens ☶. In dem unteren Teilzeichen beginnt die Bewegung auf der untersten Stufe (erste Wandlungsebene von Kūn ☷ ☳), erfährt dann eine Begrenzung (letzte Wandlungsebene von Kūn ☷ ☶) und bewegt sich von dort aus nach oben weiter (daraus ergäbe sich dann wiederum, würde man die offenen Linien fortführen, die erste Wandlungsebene von Kūn ☷ ☳). Die Bewegung von Kūn (☷) ist somit einerseits nach oben sich öffnend (☳) und anderseits nach unten sich schließend oder begrenzend (☶) und oben in der Mitte wahrend oder umfassend (☵). In dem Zeichen Meng – ䷃ – befindet sich Kūn hingegen in der oberen Mitte. Sie bildet gleichzeitig Teil des oberen Teilzeichens (☶), des unteren Teilzeichens (☵) sowie des unteren inneren Teilzeichens (☳). Unten wird etwas in der Mitte gehalten (☵), oben findet eine Begrenzung (☶) der auf der zweiten Linie neu anhebenden Bewegung statt ☳. Die Bewegung von Kūn ist demnach unten in der Mitte bewahrend (☵), nach oben sich öffnend (☳) und nach unten sich schließend oder begrenzend (☶). Von besonderem Interesse sind, wie gesagt, die Zeichen, die sich aus den Wandlungsebenen von Kūn – ䷁ – ergeben, darunter Fu (Die Wiederkehr) und Bo (Der Zerfall), die der ersten und letzten Wandlungsebene von Kūn entsprechen. Durch Fu – ䷗ – wird eine nach oben hin sich öffnende Bewegung manifest. Es entsteht oder bildet sich etwas. Durch Bo – ䷖– wird eine nach unten, oder besser rückverlaufende Bewegung manifest. Das, was sich vorher gebildet hat, wird wieder aufgehoben oder zurückgenommen. Das Sich-Öffnen und Schließen von Kūn lässt etwas entstehen und vergehen. Fu und Bo markieren den Anfang und das Ende der Bewegung von Kūn. Das untere Teilzeichen Zhen ☳, das von der Bewegung her von unten nach oben aufsteigt, stellt die Umkehrung des oberen Teilzeichens Gen ☶ dar, wo die Bewegung angehalten und damit zugleich fest wird. Der 247 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
Anfang und das Ende der Bewegung entsprechen sich. Auf diese Bewegungsmotive lassen sich unterschiedliche Bedeutungsschichten der Liniensprüche zurückbeziehen. Ein zentrales Motiv ist der Aufbruch zu einem Ort, der entweder als günstig oder ungünstig betrachtet wird. In Bezug auf die Dynamik zwischen Bewegung und Festwerden markiert die Bewegung (die durch die offenen Linien, im Ganzen Kūn bestimmt ist) den Aufbruch und der Ort das Festwerden (das durch die geschlossenen Linien, im Ganzen Qián definiert ist). Dieser Zusammenhang ist wiederum für das Verständnis des Zeichens von Kūn ausgehend von dem Spruchwerk von Bedeutung. Grundlegend ist dort der Gedanke einer räumlichen Gliederung oder Manifestation von Bewegung. Der zweite Linienspruch von Kūn bezieht sich auf die Entstehung des winkligen Landes (fang). 2 Der Ausdruck fang bedeutet, wie bereits gesagt wurde, einerseits das Winklige und Viereckige und andererseits die Erstreckung in die vier Himmelsrichtungen und Gegenden. 3 In dem Spruchwerk werden Südwesten und Nordosten genannt. 4 In den Überlieferungen steht Kūn mit der Idee des Räumlichen in Verbindung, Qián hingegen mit dem Zeitlichen. Dem Grundgedanken nach wird durch Kūn das Zeitliche in einen Raum versetzt. Dies würde zugleich eine Determination von Kūn – ䷁ – bedeuten, hier im Sinne ihrer reinen Ausdehnung verstanden. In dem Spruchwerk finden sich zugleich auch Motive der Bewegung, die mit dem Räumlichen in einem Zusammenhang stehen. Auf der ersten Linie von Kūn ist von einem allmählichen Prozess der Verfestigung die Rede: Reif wird zu festem Eis. 5 Auch das Aufbrechen zu verschiedenen Orten und das Ankommen an diesen Orten wird thematisiert. Ausgehend von der oben aufgeführten Dynamik von Bewegung und Festwerden, entspricht der Reif auf der untersten Wandlungsebene von Kūn dem Anheben eines Vorganges der schrittweisen Verfestigung (☷ ☳), der sich dann auf der obersten Wandlungsebene von Kūn ganz vollzogen haben wird (☷ ☶).
»Man richtet das Winklige Land zu Größe auf [zhi, fang, da].« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 3 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 446. 4 »Dem Fürstensohn steht Aufbruch bevor: Er irrt zuerst, dann erreicht er den Herrn. Dienlich ist [er] ihm, im Südwesten Freunde zu gewinnen und im Nordosten Freunde zu verlieren.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 5 »[Beim Aufbruch] tritt man auf Reif. Bei hartem Eis kommt man an.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 2
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Ku¯n in den Zeichen des Yijing
Die Bewegung von Kūn – ䷁ – ist demnach von Aufbruch – ䷗– und Ankunft – ䷖ – gekennzeichnet. Dies bedeutet, dass die erste Linie, die den Übergang von der Bewegung zur Festwerdung markiert, bereits ein erstes Ankommen bezeichnet, von dem aus wiederum ein neues Aufbrechen beginnt. Dass die Bewegung von Kūn sich erst auf der ersten Ebene manifestiert, heißt jedoch nicht, dass sie nicht schon stattgefunden hat, was durch die reine Bewegung in der Gestalt von Kūn – ䷁ – zum Ausdruck kommt, die der Verfestigung in Fu – ䷗ – vorausliegt. Versteht man Kūn also im Sinne einer Verräumlichung, dann entspräche die Bewegung Kūn und das Festwerden der Bewegung Qián: Qián wäre damit das Zeichen für die Verortung von Kūn bzw. der Bewegung, die durch sie bestimmt ist. Dabei sollte das Begriffspaar ›Bewegung‹ und ›Ort‹ nicht als ein Gegensatzpaar gedacht werden, sondern als eine komplementäre Bestimmung. Denn Kūn ist auch die (sich immer schon realisierende) Möglichkeit einer Ver-ortung und diese Verortung ist Bewegung, während Bewegung mit einem minimalen konsistenten Erscheinungsgrad (dasjenige, was in jeder Situation notwendig ist) ›emplacement‹ bedeutet. Durch Kūn vermittelt sich hiernach die Vorstellung eines räumlichen Werdens. Die Wirksamkeit von Kūn – ䷁ – ist maß-gebend – 巛 – für das Verständnis der Wandlungen im Sinne eines räumlichen Werdens, d. h. der Versetzung der Bewegung in den Raum und Ort. Die Wandlung im Sinne einer räumlichen Strukturierung des Werdens ist darüber hinaus für den Bezug von Kūn zur Erde zentral, denn er übersetzt nicht nur die Bewegungen von Kūn in Naturvorgänge, wodurch ihre Wirksamkeit anschaulich und erfahrbar wird, eine Dimension, die für das Verständnis des Ethos des Unverfügbaren bedeutsam ist, sondern legt den symbiotischen Zusammenhang zwischen der Erde und den Lebewesen offen. 6 Mit dem Gedanken des Kreislaufes von Entstehen und Vergehen (in den Zeichen von Fu und Bo) eröffnet sich, wie sich im Folgenden noch genauer zeigen wird, die Ebene der Logik der Artikulation des lebendigen Seienden in Relation zu der radikal phänomenologischen Ebene der uneingeschränkten Offenheit von Kūn: Kūn in ihrer eigenen Grundgestalt ist reine Offenheit und in Bezug auf die Dynamik der Zeichen reine Bewegung. Mit der Verortung dieser Bewegung »Natur« ist hier nicht als etwas Objektivierbares zu verstehen, sondern als eine Art Schauplatz für die Verhältnisdynamik von Lebewesen, innerhalb dessen der Mensch kein Zentrum bildet oder irgendeine Form von Vorrangstelle besitzt.
6
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
zeichnet sich die Kreislaufdynamik des lebendigen Seienden (durch die Modi des Sich-Öffnens, Sich-Schließens, Entstehens und Vergehens) ab. Qián als Zeichen der Verfestigung und Verortung von Kūn korreliert hiernach mit der Ebene der Artikulation des lebendigen Seienden, das ausgehend von der Grundgestalt von Kūn (reine Offenheit und Bewegung) und der aus ihr hervorgehenden Bewegungsmodi (Sich-Öffnen, Sich-Schließen) ermöglicht wird.
2.
Die Gestalt von Ku¯n: Uneingeschränkte Offenheit
Die Bestimmung von Kūn als das Sich-Fügen der Erde in den Überlieferungen des Yijing ist im Grunde genommen bereits auf einer rein begrifflichen Ebene problematisch. Konzeptionell hängt diese Bestimmung mit der Vorstellung der Erde als dem rein Empfänglichen zusammen. Eine gewisse Empfangsbereitschaft ließe sich ausgehend von der Liniengestalt von Kūn – ䷁ – herleiten, wo alle Linien scheinbar offenstehen. In den Überlieferungen werden die Linien auch als ›weiche‹ Linien gedeutet und mit den ›harten‹ Linien, die mit Qián assoziiert sind, kontrastiert. Die Weichheit der Linien korrespondiert mit der Vorstellung der weiblichen Empfänglichkeit gegenüber der männlichen Zeugungskraft. Dass die Liniengestalt von Kūn auch im Sinne einer Offenheit gedeutet werden kann, ließe sich vordergründig auch ausgehend von dem Verständnis der Überlieferungen sagen. Allerdings muss der Sinn dieser Offenheit ganz genau herausgestellt werden, sofern sich in der Offenheit von Kūn entgegen ihrer Bestimmung als das Sich-Fügen der Erde in den Überlieferungen, gerade der Status ihrer eigentlichen Unverfügbarkeit ausmachen lässt. Was sich nämlich in der Liniengestalt von Kūn – ䷁ – ausdrückt, ist nichts anderes als eine Offenheit, die uneingeschränkt wirkt und genau mit dieser Uneingeschränktheit überschreitet Kūn im Grunde genommen bereits alle Abgrenzungs- und Fixierungsbestimmungen, die der Konstitution irgendeines Machtgefüges im Sinne der Überlieferungen dienlich sein könnten. Wird Kūn, wie in den Überlieferungen des Yijing, begrifflich als das Sich-Fügende der Erde bestimmt, dann wird gleichzeitig der Modus ihrer ›Empfänglichkeit‹ (die Art und Weise, wie die Erde in Bezug zum Himmel gesetzt empfangen soll) zur hauptsächlichen Bestimmung von Kūn selbst erklärt. Dies bedeutet, dass die Bestimmung der Erde als das Sich-Fügende die Einschränkung der Erde auf eine dem Himmel untergeordnete und von ihm 250 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Die Gestalt von Ku¯n: Uneingeschränkte Offenheit
abhängige Position im Prozess der Weltentstehung unterstützt, was der Vorstellung des väterlichen Zeugens und des mütterlichen Gebärens folgt: Die Erde wird als ein passiv-räumliches Aufnahmegefäß für den Himmel betrachtet, das dazu gedacht ist, seine ›Zeugungsimpulse‹ in sich aufzunehmen und ihnen eine Gestalt, ein Aussehen zu verleihen – ihr selbst kommt nach dieser Sichtweise keine eigene Form der Bestimmung oder Entscheidungsmacht zu bzw. ihre Bestimmung geht darin auf, der Verwirklichung der Zeugungsimpulse der himmlischen Macht Folge zu leisten. Die Interpretation der ›reinen Empfänglichkeit‹ oder Offenheit von Kūn als ein Sich-Fügen der Erde bedeutet nicht nur ein Aufzwingen von etwas, das Kūn wesensmäßig nicht ist, sondern ist wesentliches Indiz dafür, dass Qián in den Überlieferungen eine Vorrangstelle verliehen wurde, die ihm, wie es im Folgenden deutlich werden soll, gar nicht zukommt. Damit deutlich wird, dass ›uneingeschränkte Offenheit‹ eben nicht mit einem vollkommenen Sich-Fügen koinzidiert, soll im Folgenden anhand der Analyse der Dynamik von Kūn ein formales Modell entwickelt werden, innerhalb dessen die ontologische Wirkkraft von Kūn gegenüber der ontischen Wirkkraft von Qián herausgestellt wird. 7 Dieses Modell zeigt, warum Kūn als ontologisch konsistent betrachtet werden muss, ontisch hingegen als inkonsistent. Vor dem Hintergrund dieses Modells wäre ›uneingeschränkte Offenheit‹ nicht nur nicht dasselbe wie ›Sich-Fügen‹, sondern genau das Gegenteil davon, d. h. dasjenige, was sich ›wesensmäßig‹ (d. h. ausgehend seiner ontischen In-konsistenz) niemals in ein Unterordnungsverhältnis forcieren lässt. Das Modell wird es plausibel machen, dass die als ontisch zu betrachtenden Machtstrukturen, Strategien und Vorgänge der Überlieferungen das uneingeschränkt Offene von Kūn nicht erreichen können. Vielmehr bildet die uneingeschränkte Offenheit, die in der Liniengestalt von Kūn – ䷁ – zum Vorschein kommt, die Möglichkeitsbedingung ihrer unendlichen Generativität und zeichnet zugleich den Status ihrer Unverfügbarkeit aus. 8 Nur indem Kūn uneingeschränkt offen ist, d. h. selbst nicht erscheint (keine Konsistenz auf Die Einführung dieses Modells dient dem Anspruch dieser Arbeit, die Bedeutung der uneingeschränkten Offenheit von Kūn auf eine philosophisch plausible Weise zu rechtfertigen und die Vorrangstellung von Kūn gegenüber Qián durch eine formale Bestimmung sichtbar werden zu lassen. 8 Die sich hier stellende Frage nach dem Zusammenhang zwischen passiver Offenheit und aktiver Hervorbringung lässt sich, wies im Folgenden noch deutlich werden soll, durch die Kūn inhärente Bewegungsintensität aufklären. 7
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
ontischer Ebene hat), kann sie die Mannigfaltigkeit aller Lebensformen zur Erscheinung bringen. Hierin liegt zugleich der Schlüssel für das Verständnis der ontologischen Konsistenz: Ontologische Konsistenz bedeutet zugleich ein generatives Vermögen, das den Übergang von dem Ontologischen zum Ontischen im Sinne eines KonsistentWerdens der Wandlungen markiert. Und in der Tat kann Kūn als Anfangs- und Endpunkt jeder Gestaltwerdung, jedes Erscheinens von etwas, aufgefasst werden – nicht nur im Sinne eines vorgängigen Ortes der Herkunft, sondern als verortbares Ereignis der Wandlungen. Diese, das gesamte Spektrum von Konsistentwerden und Inkonsistentwerden umfassende Dynamik von Kūn soll im Folgenden auf einer graphosemantischen Ebene, d. h. im Kontext der Interaktion des Zeichens von Kūn – ䷁ – mit dem Zeichen der Wiederkehr – ䷗– und dem Zeichen des Zerfalls – ䷖ – demonstriert werden. Das Zeichenbild von Kūn – ䷁ – zeigt eine reine, durchgängig offene Struktur. Dies besagt, dass Kūn an sich unsichtbar, d. h. ontisch betrachtet inkonsistent ist. Im Vergleich zu der Gestalt von Qián – ䷀ – besitzt Kūn keinerlei Solidität und Dichte, sondern korreliert in ihrer uneingeschränkten Offenheit mit dem Grad Null des Erscheinens. Hierbei handelt es sich jedoch um einen Grad Null des Erscheinens, sofern das Erscheinen ontisch, d. h. immer als Erscheinen eines Erscheinenden bestimmt ist. Die uneingeschränkte Offenheit von Kūn wäre in diesem Sinne reine (d. h. noch nicht konkret bestimmte) Wandlung, die sich als solche dem ›allumfassenden‹ Maßstab des Ontischen entzieht. Dies impliziert, dass die Wandlung aufgrund der ontischen Inkonsistenz von Kūn immer schon angefangen hat. Sofern die uneingeschränkte Offenheit von Kūn als reine (noch nicht determinierte) Wandlung gedacht wird, kommt in ihr eine Bewegungsintensität zum Tragen, die im Vergleich zu der Solidität und Dichte, der Festigkeit und Härte von Qián als ein ›Fließen‹ oder ein ›Fluß‹ beschrieben werden kann. 9 Dabei darf dieser ›Fluß‹ reiner Wandlung – die uneingeschränkte Offenheit von Kūn – nicht als ein Das ›Fließen‹ besagt, dass es sich bei der uneingeschränkten Offenheit von Kūn im Sinne ihrer Wirkkraft keineswegs um ein statisches Geschehen handelt, das in ihrer Gestalt sich anzeigt, sondern um reine (noch nicht konkret bestimmte) Wandlung und Wandlungsfähigkeit. Während die geschlossenen Linien von Qián ›Festigkeit‹, ›Härte‹ und ›Determination‹ andeuten, lassen die gebrochenen Linien von Kūn auf ›NichtFestigkeit‹ (›Fließen‹ oder ›Fluidität‹), ›Weichheit‹ und ›Offenheit‹ schließen. Das ›Fließen‹ – oder im dauerhaften ›Fluss-Sich-Befinden‹ – ist ein für die ›Wandlungen‹ grundlegendes Verständnis. Die ›Wandlungen‹ bewegen sich in Zyklen, die Gestalten
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Die Gestalt von Ku¯n: Uneingeschränkte Offenheit
Nichtiges betrachtet werden, sondern ist als Rahmen der Gesamtwandlung der Erscheinungsformen als ontologisch konsistent zu betrachten. Ontologische Konsistenz bedeutet hier dasjenige, was in einer ontischen Situation als ›Ermöglichungshintergrund‹ präsent ist, jedoch nicht sichtbar ist und dennoch in seiner Zugehörigkeitslogik eine andere Ebene einführt, die sich den Bestimmungsvorgängen des Ontischen entzieht. 10 Der Bereich der ontologischen Konsistenz ist dabei nicht als ein Vakuum zu fassen, sondern beinhaltet die Potenzialität aller Wandlungen in sich. Von dieser ontologischen Konsistenz von Kūn hängt letztlich der gesamte Prozess der Wandlungen, das Entstehen und Vergehens der Lebensformen ab. Als ›Fluss‹ reiner Wandlung bzw. in ihrer uneingeschränkten Offenheit trägt Kūn demnach bereits alle Erscheinungsgrade in sich, verfügt selbst aber über keinen bestimmten Erscheinungsgrad: Erst wo der Erscheinungsgrad ansteigt, gibt es Erscheinendes, d. h. örtlich Begrenztes. Dort vollzieht sich der Übergang oder die Koagulation der reinen Wandlung (Kūn) hin zu einer spezifischen Erscheinungsform bzw. einem bestimmten Ort (Qián). Was in dem Übergang von dem Zeichenbild von Kūn – ䷁ – zum Zeichenbild der Wiederkehr – ䷗ –, Fu veranschaulicht wird, ist demnach eine Bewegung der Verfestigung, d. h. ein Konsistentwerden des Flusses der reinen Wandlung (Kūn). Dies würde zugleich bedeuten, dass in dem ›Rückzug‹ des uneingeschränkt Offenen (was eigentlich die Uneingeschränktheit des Offenen selbst ausmacht) in Bezug auf sich selbst eine Koagulationsinstanz stattfindet. Distanziert sich das Offene von der Offenheit, bildet sich die Konsistenz, d. h. die ontische Konsistenz wird erst dort kristallisiert, wo sich eine Bewegung des ontologischen Prius weg von sich selbst, d. h. eine Änderung der Konsistenz bzw. des Konsistenzfeldes ereignet. Diese Bewegung der Verfestigung bildet, wie wir gesehen haben, die erste Wandlungsebene der Zeichenstruktur von Kūn. Erst mit dieser ersten Feststellung einer Form hängt das ›Lichte‹ oder ›Harte‹ von Qián zusammen. Das ›Lichte‹ oder ›Harte‹ von Qián kann vor diesem Hintergrund stellversind ›Sinnbilder‹ für die verschiedenen Stadien dieser Zyklen und Bewegungsvorgänge. 10 Der ontisch-ontologische Status von Kūn ist dadurch begründet, dass Kūn nicht als ein ›Teil‹ in einer ontischen Situation erscheinen kann, sofern ein ›Teil‹ zu sein von einer Situation die Möglichkeit der Limitation bedeutet und das gerade dasjenige ist, dem Kūn sich radikal entzieht – daher ist sie als unsichtbares und die Situation übersteigendes Ganzes zu verstehen.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
tretend als die Verfestigung von Formen verstanden werden. Das Zeichen Fu – ䷗ – wäre dann die sich im Rahmen der beständigen Wandlung – ䷁ – von Kūn sich vollziehende Wiederkehr (des Lichten, d. h. der Form, des Festen). Hieraus wird deutlich, dass das Ontologische im Rahmen des hier entwickelten formalen Modells von der Metapher des Lichtes getrennt wird. Ontologische Konsistenz bedeutet nicht die Setzung des ›Lichten‹ als Ur-Instanz, die alle sichtbaren Bestimmungen ermöglicht, sondern ›Lichtes‹ hängt eher mit der ontischen Konfiguration, d. h. dem Konsistent-Werden zusammen. Das Lichte oder Feste auf der untersten Stufe von Fu – ䷗ –, das sich im Hinblick auf das Ganze des Aufbaus und des Verfestigungsvorganges auf Qián bezieht, bildet damit letztlich das erste Zeichen einer ontischen Konsistenz, die einen Prozess – nämlich die Vervielfältigung von verortbaren Erscheinungsformen – in Gang setzt. Das auf Qián bezogene ›Feste‹ befindet sich hiernach in dem Wandlungsvorgang von Kūn und kann als ein erstes Resultat dieser ontisch-ontologischen Wandlung von Kūn betrachtet werden. Dieses Verhältnis von Kūn und Qián ist fundamental für die Anfangsbewegung der Manifestation des Lebendigen. Denn es bedeutet zugleich, dass die Wandlung von Qián oder des Himmels nur ontisch und nicht ontologisch zu bestimmen ist. Die Verfestigung (die dauerhafte Wiederkehr der Erscheinungsformen) wird damit letztendlich nicht von Qián, sondern von Kūn hervorgebracht. Qián bildet daher auch kein Prius oder Telos des Wandlungsprozesses, sondern ist Teil einer größeren, allumfassenderen Dynamik, die von Kūn getragen wird. Die volle Gestalt von Qián – ䷀ – ließe sich im Vergleich zu Kūn – ䷁ – dann als eine einheitliche Konsistenz und Bestimmtheit, d. h. eigentlich ein vollkommenes Verschließen fassen: Als einheitlich konsistente und damit vollkommene verschlossene Bestimmtheit wäre Qián das Gegenteil des uneingeschränkt Offenen von Kūn und damit im Grunde genommen zugleich der Ausschluss des Werdens. An dieser Stelle wird es deutlich, dass die auf Qián beruhende Hermeneutik der Macht im Grunde genommen in die Irre führt, insofern sie logisch betrachtet auf etwas basiert, das unmöglich ist, nämlich auf einer Art ›absoluten Ontizität‹. Eine absolute Ontizität wäre jedoch kontradiktorisch, wenn man die Wandlungen als eine Konstante des Yijing betrachtet. Jede Situation muss im Prinzip eine minimale Offenheit beinhalten, da es andernfalls keine Wandlungen gäbe. Die Unmöglichkeit von Qián im Sinne einer verabsolutierten Ontizität bildet daher auch keine Parallele zu der ontologischen Konsistenz, da 254 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Die Gestalt von Ku¯n: Uneingeschränkte Offenheit
es im Grunde genommen keine Instanz in der allumfassenden Immanenz des Erscheinenden gibt, die vollkommen geschlossen ist, andernfalls würde dies das Ende der Bewegung bedeuten. In diesem Sinne müsste man Qián – ䷀ – dann als die Möglichkeit des Unmöglichen betrachten: Auch diese Unmöglichkeit scheint der Dynamik von Kūn, dem Werden und den Wandlungen paradoxerweise als eine Möglichkeit unter anderen Möglichkeiten eingeschrieben, ist jedoch selbst nicht konstitutiv wirksam. Die letzte Wandlungsstufe von Kūn erscheint im Zeichenbild des Zerfalls – ䷖ –. Es ist der Tod (das vorübergehende ›Anhalten‹ der Bewegung), der hier jedoch nur als ein Inkosistentwerden des Erscheinenden verstanden werden kann. Der Mensch (wie alle anderen Lebewesen) bedarf eines Verfestigungsgrads, um sich am Leben zu erhalten. Phänomenologisch betrachtet bedeutet dies, dass kein Erscheinendes als solches bestehen kann ohne die Bildung von ontischen Konturen, so dass die Herausbildung dieser Konturen und das Beharren auf die Konsistenz als ein Identitätsprinzip verstanden werden kann. Den Grundoperator für den Prozess des Identitätsaufbaus bildet im Falle des Yijing der Himmel bzw. Qián. In diesem Sinne bedeutet die Identifikation des Menschen mit dem Himmelsprinzip eine Anhaftung an die Ebene der Selbstbehauptung der Erscheinungsform (d. h. der Erscheinungsform von sich selbst) und damit zugleich eine Nicht-Akzeptanz der Dynamik von Kūn bzw. der Erde. Dies kommt auf der obersten Wandlungsebene von Kūn – ䷁– zum Ausdruck, wo die Rückkehrbewegung – ䷖ – (das Inkonsistentwerden des letzten harten Striches, was dem Tod des Individuums entspräche) durch Widerstand und Kampf angedeutet ist. Wird jedoch Kūn jedoch als das ontologische Prius der Wandlungen erkannt, sind Leben und Tod im Sinne des Entstehens und Vergehens von Einzelerscheinungen lediglich Kategorien des Erscheinens und nicht des Seins, d. h. ontologisch betrachtet gibt es keinen Tod, sondern nur Wandlungen. Auf diese Weise ließe sich damit auch die Metapher des Tores der Wandlungen verstehen: »Das kosmische Tor wird einmal geöffnet, einmal wieder geschlossen, die Onta strömen daraus hervor, die Onta strömen wieder hinein: Das wird als Wandlung bezeichnet.« 11 Kūn – ䷁ – öffnet sich – ䷗ – (erste Wandlungsebene von Kūn ☳) und Kūn schließt sich – ䷖ – (letzte Wandlungsebene von Kūn ☶): Die Dinge
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Gao Heng, zitiert nach Yijing, übers. u. hrsg. von Rainald Simon, S. 477.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
kommen und die Dinge gehen, wobei der Fluß reiner Wandlung oder die uneingeschränkte Offenheit (Kūn) – ䷁ – beständig in der Mitte (mittlere Wandlungsebene von Kūn ☵) bleibt.
3.
Ontologische Konsistenz und ontische Konsistenz: Methodologische Überlegungen
Aus der differenzialistischen Unterscheidung zwischen ontologischer Konsistenz (Kūn) und ontischer Konsistenz (Qián) wird der Gedanke der uneingeschränkten Offenheit von Kūn und der Status ihrer Unverfügbarkeit deutlich. Denn dieses Uneingeschränkte von Kūn ist genau dasjenige, was die strikt ontologische Konsistenz ausmacht. Alles andere, was eine Offenheit zeigt, die nicht ›un-eingeschränkt‹ ist, würde sich in eine ontische Situation als ›Teil‹ eingliedern lassen, d. h. Kūn hätte als ›Teil‹ des Ganzen nicht die Vorrangstelle, die sie eben wegen ihrer uneingeschränkten Offenheit hat. Letztlich würde dies zu dem Modell einer rein ontischen Immanenz führen, wo es keinen Platz für die (differenzialistische) Offenheit gibt, die hier in Bezug auf Kūn thematisiert werden soll. Ausgehend von diesem formalen Model stellt sich damit aber die Frage, was eigentlich ›Wachstum‹ und ›Leben‹, d. h. der sinnhafte Bezug zu den Naturvorgängen sei. Hält man sich an den formalen Rahmen der Konsistenz und Inkonsistenz, dann gibt es stricto sensu eigentlich kein Wachstum, sondern nur eine Wandlung in der Koagulation des Erscheinens. Kehrt das Leben zur ›Offenheit‹ von Kūn zurück, dann bedeutet dies nicht den Tod, sondern nur das Inkonsistentwerden der ontischen Formen und das entsprechende Erhalten-Bleiben der dynamischen Offenheit von Kūn. Wachstum wäre dann eine Kategorie des Erscheinens qua Erscheinendem, d. h. eine Kategorie, die nur auf ontischer Ebene einen Wert hat. Für das differenzialistische Modell gilt, dass die Kategorien von Konsistenz und Inkonsistenz nicht vollkommen auflösbar sind, sonst würde diese Auffassung in eine deterministische Emanationslehre münden. Jedoch sollte dieses Begriffspaar integrierbar sein, sofern es keine absolute Trennung zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen gibt, sondern lediglich eine Differenz in den Konsistenzgraden. Ausgehend von dem differenzialistischen Modell könnte man daher sagen, dass genauso wie Qián aus Kūn hervorgeht, Kūn auch eine Bestimmung hin zu Qián hat: Kūn ist ontologisch konsistent 256 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Ontologische Konsistenz und ontische Konsistenz
und ontisch inkonsistent, Qián hingegen ontologisch inkonsistent und ontisch konsistent. Obwohl im Falle von Qián die ontologische Inkonsistenz vollständig ist und im Falle von Kūn die ontische Konsistenz, bedeutet dies nicht, dass beide vollkommen getrennt voneinander sind. Alle Wesen sind teilweise ontisch konsistent und teilweise ontologisch konsistent. Nach dem formalen Modell hat die Wirklichkeit eine Duplizität des Erscheinens, insofern sie aber Wandlungen sind, besteht keine Duplizität. 12 Ein ontologisches Prius wäre ausgehend davon streng genommen nur eine analytische Kategorie ohne Entsprechung in der Wirklichkeit. Während Qián jedoch mehr mit der Bestimmung der Formen, der Erscheinung zusammenhängt, kommt Kūn ein generatives Vermögen zu. Die ontologische Konsistenz in Bezug auf das durchgängige Offene von Kūn bedeutet zwar den Grad Null der ontischen Konsistenz, von der Qián sozusagen das leuchtende exemplum oder nec plus ultra ausmacht, jedoch ist Kūn nicht getrennt von allem anderen und als Wirkkraft der Erde doch auch etwas, was ›erscheint‹ – was in der Erde und ihren Erscheinungsformen manifest ist – und insofern auch ›Teil‹ des Ganzen ist. 13 Als Generatrix ist sie freilich nicht ein Teil, wie jedes andere Lebewesen ein Teil ist. So bedeutet die ontologische Konsistenz von Kūn zugleich ein generatives Vermögen, das den Übergang vom Ontologischen zum Ontischen im Sinne eines Konsistent-Werdens der Wandlungen (d. h der Tonalitäten von Kūn vom reinen a-phanes zum Erdhaften) markiert. Der ontologischen Generativität (Kūn) entspräche der ›Fluss‹ reiner Wandlung, welcher alle Erscheinungsformen in sich trägt und diese zu einem zusammenhängenden Ganzen verbindet. Als generatives Vermögen stellt Kūn einen Übergang von dem Ontologischen zum Ontischen her: Zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen gibt es damit keine Trennung, sondern beide sind prozesshaft miteinander verbunden. Das differenzialistische Modell dient in diesem Sinne dazu, die immanente Wichtigkeit von Kūn heWenn man sich auf der Ebene der Formen situiert, scheint Qián eine Art Lebensprinzip zu sein, das alles bestimmt, während Kūn nur die Rolle des Empfangenden dieser Formen im Modus ihrer (Selbst-)Auflösung hat. Wenn man sich auf der Ebene der dynamischen Offenheit (der reinen Wandlung) befindet, ist Kūn das, was alles zum Verschwinden bringt und auch ermöglicht, dass das Verschwundene sich wieder konfiguriert. 13 Doch selbst wenn die Erde in diesem Sinne auch als ein ›Teil‹ zu betrachten ist, so ist sie als ›Generatrix‹ nicht ›Teil‹ wie jedes andere Lebewesen. 12
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
rauszustellen sowie ihre ontologisch-ontische Generativität als transgressives Produktivitätsmerkmal der Entstehung der soliden oder koagulierten (Welt-)Formen, die sonst nicht sichtbar werden könnte. Dies beinhaltet auch das vorübergehende Abziehen von Kūn aus den Naturvorgängen, d. h. von der Erde und ihren Erscheinungsformen. 14 In der Musterung der Wirkkraft von Kūn – ihrer uneingeschränkten Offenheit – ausgehend von einer anderen Hermeneutik – der Hermeneutik von Kūn, die bisher nicht sichtbar war, sofern sie eben durch die in den Überlieferungen dominierende Hermeneutik der Macht verdeckt wurde – wird zugleich ein Einstellungswechsel vollzogen. Dieser Einstellungswechsel betrifft zunächst das ›weg von‹ den Erscheinungen, dem Lebendigen, ›hin zu‹ dem, was dieses Lebendige trägt und wieder zurück. Wird die Erde nämlich durch Kūn hindurch erfahren, wird zugleich dasjenige einsichtig, was die uns umgebende Vielfalt (das Lebendige, die Fülle der Natur und Erscheinungsformen) in ihrem Zusammenhang überhaupt erst ermöglicht: Die Fülle des Lebendigen, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen kann nur sein vermöge einer der Verfügbarkeit des Menschen entzogenen uneingeschränkten Offenheit – Kūn: der Wirkkraft der Erde. Dies bedeutet, dass Kūn selbst nicht erscheint, sondern in ihrer Offenheit als Erscheinungsbedingung der Mannigfaltigkeit des Lebendigen notwendigerweise unverfügbar bleibt. Kūn als Wirkkraft bildet somit das Vermögen der Generativität der Erde. Dabei ist mit Wirkkraft ein vor der ontischen Situation wirksames ontologisches Wirken bezeichnet. Durch die Wirkkraft der Erde (Kūn) zeigt sich, dass die Erde sich nicht in der Sichtbarkeit der Gestalten erschöpft, d. h. zugleich, dass die unsichtbare Natur mehr ist als das, was man in den sichtbaren Gestalten sieht. 15 Die uneingeschränkte Offenheit von Kūn – als Wirkkraft der Erde – besagt ein ›Mehr‹ als das in jeder ontischen Situation Konfigurierte. Sie ist die nicht zu erschöpfende Möglichkeitsbedingung der Mannigfaltigkeit des Lebendigen, die sich ihrerseits musterweise in verschieden und jeweils zusammenhängenden ontischen Situationen konfiguriert. Dies würde zugleich bedeuten, dass in dem Sich-Zurückziehen In Bezug auf die Frage nach der Verbindung zwischen Kūn und Erde lässt sich sagen, dass eben, weil die Erde eine ontische Konsistenz haben muss, Kūn auf dem Grad des Erscheinens auch im Ontischen präsent ist, nur in absentia. 15 Damit wird zugleich ein Paradoxon berührt: Das Ontologische geht über alles hinaus und befindet sich gleichzeitig in allem. 14
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Ontologische Konsistenz und ontische Konsistenz
des uneingeschränkt Offenen eine Koagulationsinstanz stattfindet. Distanziert sich das Offene (in seinem intrinsisch mannigfaltigen und kontextbezogen konsistenten Charakter) von der Offenheit, bildet sich die Konsistenz der Wesensabstufung als manifeste Ordnung, d. h. die ontische Konsistenz wird erst dort kristallisiert, wo sich eine Bewegung des ontologischen Prius in differenzialem Selbstbezugsmodus, d. h. eine Änderung der Konsistenz bzw. des Konsistenzfeldes ereignet. Die Distanz, die Kūn von sich zu sich nimmt – und die im Grunde keine ›Distanz‹, sondern eine Wandlung des Manifestationsgrads impliziert – und ihre Bewegung ausmacht, schafft einen Raum (als erlebbares Vielheitskontinuum) und führt einen ersten Grad von ontischer Konsistenz ein. 16 Das ist der Grund, warum die Schaffung des Raumes gleichzeitig eine Vermehrung des Seienden ist. Letztlich geschieht dieser ganze Prozess notwendigerweise und kontinuierlich, d. h. die ontische Konsistenz hat immer schon stattgefunden, und in der ontischen Konsistenz wird sich stets ein ontologischer Rest präfiguriert haben. Ausgehend von der uneingeschränkten Offenheit von Kūn als Möglichkeitsbedingung der Mannigfaltigkeit des Lebendigen (der Erde) kann das Ethos des Unverfügbaren plausibel gemacht werden. Allerdings bedarf die Herausstellung dieses Ethos, wie das bisher Dargelegte gezeigt hat, einer Gegenhermenutik, welche die differenzialistische Instanz, d. h. Kūn sichtbar und explizit werden lässt. Im Folgenden soll die Dynamik von Kūn ausgehend von einigen exemplarischen Zeichen aufgezeigt und dadurch die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Yijing in Abgrenzung zu der Hermeneutik der Macht der Überlieferungen eröffnet werden.
Kūn verlässt demnach auf der Ebene der ›Naturgestalten‹ ihre uneingeschränkte Offenheit nicht: Vielmehr bildet sie ein Kontinuum, d. h., es gibt nicht zwei Momente, von denen einer die qualitative Änderung der Quelle (hier in Form einer Limitation) implizieren würde, um sich zu entfalten. Nur auf der Ebene des Menschen kann von einer Diskontinuität gesprochen werden.
16
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
4.
Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
4.1 Kūn im Zeichen der Wiederkehr Der Übergang von dem Zeichen Kūn – ䷁ – zu dem Zeichen Fu, Die Wiederkehr – ䷗ – wurde als ein Prozess der allmählichen Verfestigung oder als ein Konsistentwerden beschrieben, d. h. als das Entstehen einer Form ausgehend von dem Fluss reiner Wandlung oder der uneingeschränkten Offenheit von Kūn. Diesem Vorgang der allmählichen Verfestigung von Formen entspricht Qián im Sinne der ›Wiederkehr des Lichten‹ (des Festen und Konsistenten) ausgehend von der Offenheit von Kūn (der ontologischen Konsistenz oder dem Fluss reiner Wandlung). Die Umkehrung des Zeichens der Wiederkehr – ䷗ – ergibt das Zeichen Bo – ䷖ – (Der Zerfall), welches wiederum den Vorgang des Inkonsistentwerdens der Form beschreibt. Dieser Inkonsistentwerdung entspricht die Rückkehr der Lebensformen in das uneingeschränkt Offene von Kūn (der ontologischen Konsistenz oder dem Fluss reiner Wandlung). Das Zeichen Fu ist in diesem Sinne doppeldeutig: Es kann sowohl als Wieder- als auch als Rückkehr gedeutet werden. Dabei ergibt sich die doppelte Bedeutung aus den Bewegungsmöglichkeiten der beiden aufeinander bezogenen Zeichen selbst. Das volle Verständnis von Fu kann nur durch seinen immanent gegebenen Bezug zu Bo, d. h. aus der wechselseitigen Bedingung beider Zeichen, gewonnen werden. Auf der Ebene der Teilzeichen betrachtet ist das bedeutungsgebende Element in dem Zeichen Fu Zhen (☳), was die Umkehrung des bedeutungsgebenden Elementes im Zeichen Bo ist, Gen ☶. Dies lässt sich so verstehen, dass in Fu – ䷗ – (Die Wiederkehr) eine Bewegung beginnt, die in Bo – ䷖ – (Der Zerfall), wiederum endet. Fu und Bo bilden zwei zentrale Zeichen, welche die Grunddynamik von Kūn einsichtig machen können. Mit Blick auf den Aufbau des Zeichens besteht das Zeichen Fu – ䷗ – (Die Wiederkehr) aus dem unteren Teilzeichen Zhen (☳) und dem oberen Teilzeichen Kūn (☷). Im Vergleich zu dem Zeichen Kūn – ䷁ – das reine Offenheit (sechs weiche Linien) zeigt, gibt es in Fu – ䷗ – an der unteren Stelle (erste Linie) bereits einen ersten Grad der Verfestigung, von der ausgehend wiederum eine Bewegung nach oben anhebt, die an sich noch nicht besetzt ist, jedoch bereits auf eine schrittweise Aufbaubewegung, eine weitere Verdichtung hinweist. Nach der Überlieferung des Bildes entsprechen die Teilzeichen Zhen (☳) und Kūn (☷) den Kräften des Donners und der Erde. Der 260 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
Donner steht für die Naturkraft der Erneuerung und der Initiation eines anfänglichen Wachstums nach der Zeit des Winters: Er ist die Kraft des Anfangs, welche die zyklische Wiederkehr des Lebens, die Vegetationsphasen der Natur einleitet. Der Donner symbolisiert im Zeichen Fu auch den unter die Erde versenkten Samenspross, der sich im Zuge der periodischen Entwicklung hin zum Aufgehen bewegen wird. Die Überlieferung des Bildes versteht das Bild des Zeichens Fu daher als die Wiederkehr des Donners (das Wachstum der Lebewesen) aus dem inneren Bauchraum der Erde. 17 Dabei wird in den Überlieferungen des Yijing der Fokus der Bewegung bzw. des Prozesses, der sich in dem Zeichen ausdrückt, einseitig auf die Wiederkehr gelegt, d. h. auf das Aufgehen oder die Erscheinung, sprich das Feste oder Lichte (Qián): »Dienlich ist es dem Aufbruch an einen anderen Ort: Denn das Harte wächst. Läßt nicht die Wiederkehr das Herz von Himmel und Erde sehen?« 18 Dass das Harte wächst, steht im Zentrum der Interpretation des Zeichens in den Überlieferungen: Das Harte entspricht dem Lichten und damit den Kräften des Wachstums. Die ›Wiederkehr des Lichten‹ wird auch als Wiederkehr des Lichtes der Sonne verstanden und das Zeichen Fu wird mit der Wintersonnenwende assoziiert, zu der Opfer erbracht wurden, damit der Lauf der Sonne (das Ein- und Ausgehen) sich ohne Fehl vollzieht. 19 Das Zentrum der Bewegung bildet aus der Perspektive der Überlieferung demnach die Wiederkehr des Lichten, welches den Aufbruch zu einer neuen Periode des Wachstums nach dem Winter symbolisiert: Da es von nun an kontinuierlich zunimmt, d. h. an Gestalt gewinnt, wird der Aufbruch als günstig betrachtet. 20 Diese Entwicklung entspricht dem ersten Stadium der zwölf Zeichen des Jahreskreises: Während Fu – ䷗ – die Wintersonnenwende zugeordnet wird, in der das Lichte wiederkehrt, ist seiner polaren Entsprechung, dem Zeichen Gou – ䷫ – die Sommersonnenwende zugeordnet, in dem das Dunkle zurückkehrt. Das Zeichen Gou – ䷫ – ist von seinem Aufbau her und seiner Bedeutung bemerkenswert: Im Vergleich zu Fu, das aus fünf offenen Linien oben und einer festen Linie unten aufgebaut ist, besteht Gou umgekehrt aus fünf festen Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 87. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 87. 19 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 559. 20 Dies wird auf das menschliche Handeln übertragen: »›Vorteile gibt es für diejenigen, die hinausgehen.‹ [Denn] das Harte erstarkt.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 194. 17 18
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
Linien oben und einer offenen Linie unten. Nach der Überlieferung des Urteils begegnet in dem Zeichen Gou das Weiche, Weibliche dem Harten, Männlichen. Weil das Weiche von unten wiederkehrt und nach und nach das Harte verdrängt, woraus sich eine gewisse Stärke des Weichen ableiten lässt, wurde dem Spruch des Zeichens eine Warnung hinzugefügt, nämlich, dass man es nicht verwenden soll, um eine Frau zu nehmen, d. h. sie nicht heiraten soll. 21 Dabei ist die eigentliche Bedeutung des Wortes gou – 姤 – ›kopulieren‹ und setzt sich aus den Graphemen für Frau nü –女– und Herrscherin hou – 后 – zusammen, d. h. dem gleichen Zeichen, das in dem Namen Hou Tu als Honorifikum für die Gottheit der Erde herausgestellt wurde. Nü zhuang kann demnach auch als ›die Frau ist stark‹ gelesen werden. 22 Der Spruch würde dann lauten: »Eine Paarung (im Sinn von Gou) [bedeutet]: Die Frau ist stark.« 23 Das Zeichen stellt in diesem Sinne eigentlich eine Konfrontation dar: Das (eine) Weiche hat die Macht und Stärke es mit (fünf) Harten gleichzeitig aufzunehmen. Dies bedeutet, dass das Weibliche, Weiche und Schattige mächtig ist. Aus den Bedeutungsschichten von nü und gou lässt sich wiederum auf die Macht der Geburt schließen, was für den Mann zugleich die Sicherung der männlichen Nachkommenschaft bedeuten und damit auch die Regulation des Weiblichen, gerade auch ihrer sexuellen Kraft, erfordern würde. In dem Zeichen Gou setzt sich jedoch eindeutig die Mutterlinie durch, sofern das Weiche und Weibliche in seiner Promiskuität hier nicht mehr reguliert wird, d. h. nicht in eine patriarchale Linie gefügt werden kann. In der Zeichenstruktur wird daher – entgegen der Deutung der Überlieferungen – deutlich, dass Qián – das Harte – seine Macht verliert und dem Weiblichen, das von unten aufsteigt, nicht ausweichen kann. Dieser Zusammenhang lässt sich auch auf das Werden in den Jahreszeichen übertragen. Zur Zeit der Sommersonnenwende erstrahlt die Natur in ihrer ganzen Fülle. Gleichzeitig beginnt sich dieser Vorgang wieder umzukehren. Die geöffnete Linie an unterster Stelle unterscheidet Gou – ䷫ – von Qián – ䷀ –, dem Bild einheitlicher Kraft, Konsistenz und Festigkeit. Qián ist zugleich ein Bild für die vollkommen ausgebildete Erscheinungsform, die reife ›BaumVgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 146. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 660. 23 Siehe die alternative Übersetzung von Dennis Schilling. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 660. 21 22
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
frucht‹ 24, die sich über mehrere Stufen der Intensivierung des Erscheinungsgrades ausgehend von Kūn entwickelt hat. In dem Zeichen Gou beginnt nun der allmähliche, aber sichere Abbau der Erscheinungsformen: Das ›Schälen‹ der Frucht. Alle harten Linien werden von unten aufgehend wieder geöffnet, um am Ende vollständig inkonsistent zu werden. Dieser Inkonsistentwerdung entspricht die Rückkehr zu Kūn, dem Grad Null des Erscheinens. Der Anstieg des Lichten vollzieht sich ausgehend von seiner Wiederkehr aus Kūn bis hin zu dem Zeichen Qián, das den Höhepunkt der Entwicklung zeigt, die ausgereifte Lebensform und beginnt von dort aus wieder zu schwinden bis hin zu seiner vollkommenen Rückkehr zu Kūn. Gou ist damit (genauso wie Fu und Bo) ein Wendezeichen im Kreislauf von Werden und Vergehen. Aus Sicht der Tradition (die den Fokus auf die Konsistenz und einheitliche Kraft von Qián legt) gewinnt der Abbauprozess, das Schälen, eine negative Bedeutung: als Aufstieg der dunklen Kräfte der Zersetzung, die dem Lichten seine Festigkeit abzieht, stellt es eine Gefahr dar. Obwohl das Lichte, Qián hier mit der Fülle, dem Leben und dem Wachstum assoziiert ist, dessen Wiederkehr in den Überlieferungen zelebriert wird, muss das Offene, d. h. Kūn als das Generative und auch Regenerative in diesem Vorgang betrachtet werden, von dem ausgehend die Verfestigung der Formen erst vollzogen wird und von dem die Formen genährt werden und in die sie auch wieder zurückgespeichert werden. Eine mythologisch vergleichbare Vorstellung findet sich in dem Spruchwerk zu Qián, wo sich der Drache in dem Wassergrund (komplementär zu Kūn) verbirgt, darin ruht, um aus diesen unendlich erzeugenden Tiefen wieder aufzusteigen, d. h. an Kraft zu gewinnen, verschiedene Formationen anzunehmen und daraufhin wieder zurückzukehren. Dies besagt, dass Qián wie alle Dinge aus Kūn hervorgeht und Kūn zu seiner Regeneration und Erfüllung bedarf. Durch diese mit Kūn intrinsisch verbundene Dynamik wird offenbar, dass der Prozess der Wiederkehr von dem Prozess der Rückkehr nicht getrennt werden kann: Jedem neuen Aufbruch geht eine Phase der Wiederherstellung, d. h. der Regeneration vorher, was erst den tieferen Sinn der Rückkehr ausmacht. Die Dinge kehren zu Kūn zurück, um nach einer Zeit der Regeneration wieder neu aus ihr hervorzugehen, d. h. geboren zu werden und an Gestalt zu gewinnen. Anders als die Überlieferungen des Yijing betont Wang Bi in 24
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 513.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
seinem Kommentar zu dem Zeichen Fu die Bedeutungsdimension der Rückkehr: »Fu, it means to revert to the root.« 25 Dabei ist Wang Bis Interpretation von seiner Auslegung des 40. Kapitels des Daodejing geleitet, wonach das Zurückkehren (fan) die Bewegung des dao ist. Das dao identifiziert Wang Bi mit dem ›Nicht-Sein‹ oder der ›primordialen Leerheit‹, zu der alle Dinge zurückkehren: »Everything under heaven is born of Being. The origin of Being [you] is rooted in Non-Being [wu]. Thus, for the fulfillment of beings, they must return to Non-Being.« 26 Nach Wang Bi werden Dasein oder die Wesenheiten (you) aus dem Nicht-Sein, oder besser der primordialen Leere, der Negativität (wu) erzeugt. Wang Bi fasst das Zeichen Fu im Yijing vor dem Hintergrund seines Verständnisses des dao primär als eine Rückkehr der Dinge zur ›primordialen Leere‹ auf. Den Terminus wu (Negativität) benutzt Wang Bi, um die Eigenschaftslosigkeit und Form- sowie Namenlosigkeit dessen, worauf die zehntausend Dinge beruhen, oder wodurch sie sind und seine radikale Differenz in Bezug auf das Dasein oder die Wesenheiten (you) zu unterstreichen. 27 Nach Wang Bi beginnen alle Wesenheiten in der ›Negativität‹ : Der Weg beginnt und vervollständigt die zehntausend Arten von Wesenheiten durch seine Eigenschaftslosigkeit und Namenlosigkeit. 28 Mit eben dieser primordialen Leere oder Negativität (wu) des Daodejing assoziiert Wang Bi die Wirkmacht von Kūn im Yijing. 29 Wang Bis Auslegung des 40. Kapitels des Daodejing und des Zeichens Fu im Yijing wurde kritisiert, sofern er die Rückkehr primär als eine Rückkehr der Dinge zu dem dao im Sinne der primordialen Leere denkt und nicht als Rückkehr des dao als eines dynamisch-generativen Prinzips zur Welt. 30 Sowohl im Daodejing als auch im Yijing sei Zitiert nach Ellen Marie Chen: In Praise of Nothing: An Exploration of Daoist Fundamental Ontology, New York 2011, S. 108. 26 Zitiert nach Ellen Marie Chen: In Praise of Nothing: An Exploration of Daoist Fundamental Ontology, S. 107. 27 Siehe hierzu Rudolf G. Wagner: A Chinese Reading of the Daodejing. Wang Bi’s Commentray on the Laozi with Critical Text and Translation, Albany 2003, S. 53. 28 Vgl. Rudolf G. Wagner: A Chinese Reading of the Daodejing, S. 54. 29 Vgl. Nelson and Yang: The Yijing, Gender, and the Ethics of Nature, S. 273. Auf die Frage, inwiefern das dao einen Bezug zu Kūn aufweist und in der daoistischen Tradition des Denkens tatsächlich eine Anerkennung der primordialen und generativen Macht des Weiblichen auszumachen ist, gilt es weiter unten noch ausführlicher einzugehen. 30 Vgl. Ellen Marie Chen: In Praise of Nothing: An Exploration of Daoist Fundamental Ontology, S. 106 f. 25
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
das Zurückkehren (fan oder fu) jedoch nicht bloß als eine Rückkehr des Seienden zu seiner Quelle, sondern wichtiger noch als die Rückkehr des schöpferischen Prinzips zur Welt zu verstehen. 31 Wang Bi würde – so die Kritik – die Affirmation des weltlichen Lebens und die Zelebration der Rückkehr der schöpferischen Kraft zur Welt, unterschätzen, die für das Daodejing und das Yijing gleichermaßen charakteristisch sein sollen. Diese geforderte Betonung der Rückkehr eines schöpferischen Prinzips zur Welt wird verständlich, wenn man das schöpferische Prinzip in seinem Bezug zu dao, verstanden als die ›Mutter‹ aller Wesenheiten auffasst. Das dao als ›Mutter von allem unter dem Himmel‹ bringt alle Dinge hervor, unterstützt, nährt und trägt sie ohne Unterlass: Es bleibt dabei aber nicht in dem Rückzug und der Verborgenheit der Leere abgekehrt von der Welt der Erscheinungen, sondern wendet sich ihr – entgegen der Implikationen des dao als primordiale Leere – zu. 32 Vor dem Hintergrund, dass Kūn intrinsisch mit der Erde verbunden ist und diese eine organische Beziehung mit den Wesen wahrt, d. h. in ihrer gebärenden Kraft nicht abgezogen ist von den Wesenheiten, wäre der Kritik an Wang Bi – hinsichtlich der mit dem Begriff der Leere gesetzten Implikation einer Abgekehrtheit des schöpferischen Prinzips von der Welt – zuzustimmen. Zugleich ist das Zeichen Fu im Yijing in der Tat nicht nur als ›Wiederkehr‹, sondern zugleich auch als ›Rückkehr‹ zu denken. Dies wird deutlich, wenn man das Zeichen der Wiederkehr umkehrt, woraus das Zeichen des Zerfalls (Bo) hervorgeht, d. h. letztlich, dass sich Wieder- und Rückkehr wechselseitig entsprechen, so dass das eine von dem anderen nicht getrennt werden und auch keine Vormachtstellung daraus gebildet werden kann. Aus dieser Dynamik wird auch verständlich, dass der Tod im Yijing als eine Rückkehr zu Kūn im Sinne des Regenerativen zu betrachten ist. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass Qián – obschon es im Yijing mit dem Schöpferischen, dem Lichten korrespondiert – das Resultat des Wandlungsvorganges von Kūn ist: Das Manifestwerden des an sich nicht-manifesten reinen Flusses der Wandlung. Qián ist in diesem Sinne nicht getrennt von Kūn, sondern eine Ausformung des reinen Flusses von Kūn. Obschon Kūn nicht Vgl. Ellen Marie Chen: In Praise of Nothing: An Exploration of Daoist Fundamental Ontology, S. 109. 32 Vgl. Ellen Marie Chen: In Praise of Nothing: An Exploration of Daoist Fundamental Ontology, S. 109. 31
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
mit der ›primordialen Leere‹ oder der ›Negativität‹ im Sinne von Wang Bi identifiziert werden kann, 33 könnte man der an Wang Bi geübten Kritik entgegnen, dass umgekehrt auch das Verständnis des Zeichens Fu, wie es in den Überlieferungen des Yijing gefasst wird, einseitig ist, insofern Qián (als ›Wiederkehr des Lichten‹) diesem Verständnis nach das alleinige Telos des Prozesses bildet, ohne dass seine Abhängigkeit und Rückbezogenheit zu Kūn als dem Generativen und auch Regenerativen hinreichend berücksichtigt und bedacht wird. Mit der ausgehend von der Hermeneutik der Überlieferungen vollzogenen Identifikation mit dem Prinzip des Lichten geht zugleich eine Negativbewertung der durch die Wirksamkeit des Schattigen sich vollziehenden Rückkehrbewegung der Formen in das Offene oder Formlose, d. h. des Sterbeprozesses einher.
4.2 Kūn im Zeichen des Zerfalls Das Zeichen Bo – ䷖ –, Der Zerfall oder Die Zersplitterung – wurde als das Inkonsistentwerden des Erscheinenden beschrieben. In der Zeichenstruktur von Bo zeigt sich der Zerfall als eine Dekoalugation der obersten feste Linie hin zu dem Offenen von Kūn – ䷁ – (der ontologischen Konsistenz oder reinen Wandlung). Die Bewegungstendenz verläuft anders als im Zeichen Fu von oben nach unten. Dass eine Bewegung hier zum Stillstand kommt, zeigt sich in der Form des oberen Teilzeichens Gen, dem Anhalten (☶). Gen stellt die formvollendete Gestalt von Zhen, dem anfänglichen Konsistentwerden (☳) dar, was für das Zeichen Fu – ䷗ – sinnbestimmend war. Bo – ䷖ – bildet, wie gesagt, die genaue Umkehrung von Fu – ䷗ –. Anders als in dem Zeichen Fu befindet sich Kūn (☷) in dem Zeichen Bo unter Gen (☶): Die Form wird hier Kūn zugeführt. Das Feste an oberster Stelle (sechste Linie), welches, an diesem Punkt der Konsistentwerdung angelangt, seine volle Gestalt erreicht hat, muss schließlich wieder zu dem Offenen von Kūn (der ontologischen Konsistenz oder reinen Wandlung) zurückkehren. Nach der Überlieferung des Bildes
Der Begriff des ›Leeren‹ (xu) oder ›Nicht-Gefüllt-Seins‹, der Volumen impliziert, ließe sich mit Bezug auf die antike chinesische Philosophie dem ›Zur-Frucht-Gekommensein‹ gegenüberstellen. ›Eine Frucht gebildet haben‹ (shi 實) bezeichnet zugleich die Vorstellung des Wirklichen in der chinesischen Philosophie: Frucht und Wirklichkeit gehen hiernach zusammen.
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
entspricht Gen dem Berg, der an der Erde haftet: In dem an der Erde haftenden Berg kommt der Gedanke zum Ausdruck, dass mit dem Zerfall ein gewisser Widerstand verbunden ist, nämlich des Festen – im Sinne der ausgebildeten Form – gegenüber der zu vollziehenden rückwendigen Bewegung hin zu dem Offenen (der reinen Wandlung). In den verschiedenen Linien des Spruchwerks zu dem Zeichen Bo wird der Vorgang einer fortschreitenden Zerspaltung oder Zersplitterung beschrieben. 34 Das Zeichen Bo wird in den Überlieferungen insgesamt als ein sehr unheilvolles Zeichen betrachtet, spricht es doch von Vernichtung, Zerstörung, Spaltung und Umsturz. Richard Smith assoziiert folgende Namen mit dem Zeichen: »To strip, flaying, destruction, falling away, falling apart, peeling, splitting apart, disaggregation, dispersion.« 35 Wörtlich bedeutet Bo ›schälen‹ oder ›schinden‹ : »Schinden [der Wesen] ist nicht dienlich dem Aufbruch zu einem anderen Ort.« 36 Nach der Überlieferung des Urteils ist unter dem Schälen oder Schinden die Veränderung des Harten durch das Weiche zu verstehen. 37 Das Schattige zieht der hier angesprochenen Vorstellung nach das Lichte ab. Graphosemantisch besteht das Zeichen Bo – ䷖ – aus fünf offenen Linien, über denen eine einzige harte geschlossene Linie angeordnet ist. Dies wird in der Überlieferung so verstanden, dass die Kraft des zahlreichen Weichen und Schattigen das Harte und Lichte destruiert, so dass in dem Zeichen Bo ein Destruktionsvorgang des Lichten durch das Schattige gesehen wird. Auf die Jahreszeiten bezogen herrscht im Winter das Schattige vor und unterdrückt das Lichte, so das alle Wesen schließlich zu Fall kommen. 38 Bo bezeichnet auch das Abschlagen oder Pflücken der Früchte vom Baum. Es zeigt das Welken im Gegensatz zum Erblühen: »Schinden lässt welken.« 39 Anders als im Zeichen der Wiederkehr – ䷗ – wird »Spaltet das Bett bis zum Fuß.«; »Spaltet das Bett bis zum Rahmen.«; »Man zerspaltet es.«; Spaltet das Bett bis zur Haut.« Yijing, übers u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 83. 35 Zitiert nach Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 187. 36 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 83. 37 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 187. 38 Dieses Bild wird politisch und machttheoretisch auf die Gesellschaft übertragen, wonach die ›kleinen Leute‹ (Yin) den begabten Hochwohlgeborenen (Yang) entmachten. Berg und Erde sind graphosemantisch nach der Struktur des Zeichens aufgenommen. So wie der Berg sich auf die Erde stützt, so ruht die Oberschicht der Herrschenden auf den Untertanen. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 188 f. 39 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 84. 34
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
der Aufbruch an einen anderen Ort in Bo – ䷖– als nicht dienlich betrachtet, weil das Lichte sich hier nicht aufbaut und nicht an Konsistenz gewinnt, d. h. nicht im Aufgang begriffen ist, sondern umgekehrt abgebaut und inkonsistent wird, d. h. sich im ›Niedergang‹ befindet. Eine Bestätigung für dieses Verständnis der Überlieferungen findet sich in dem Zeichen Guai, Das Durchbrechen, welches die polare Entsprechung zu dem Zeichen Bo bildet. Ein Durchbruch – ䷪ – entsteht nach der Überlieferung des Urteils dadurch, dass das Harte das letzte Weiche an oberer Stelle verdrängt und schließlich – anders als in Bo, wo das Harte durch das Weiche verdrängt wird – seinen Platz einnimmt. 40 Während also die Verdrängung des Lichten oder Harten durch das Schattige in dem Verständnis der Überlieferungen als ein Zerfallsvorgang wahrgenommen wird, erscheint die Verdrängung des Weichen, Schattigen durch das Lichte als ein Durchbruch. Diesem Verständnis der Überlieferungen entgegen, lässt sich das Zeichen auch auf eine andere Weise, nämlich als eine Form von Öffnung verstehen. In Bo – ䷖ – geht es letztlich darum, dass etwas Festes, Verschlossenes (sechste Linie) geöffnet, bzw. wieder offen gemacht wird: Öffnet sich schließlich die oberste Linie, gibt es auch keinen Widerstand mehr, was ganz der Wirkkraft von Kūn – ䷁ – entspricht. In Bo ist der Zustand kurz vor der Rückkehr der Lebewesen zu Kūn gezeigt. Das Zeichen Bo – ䷖ – gehört wie Fu zu den Jahreszeichen und entspricht dem vorletzten Stadium, dem Winter, kurz vor der Rückkehr in das Zeichen Kūn – ䷁ –, welches das letzte Stadium des ganzen Zyklus bildet und woraufhin wiederum die Wiederkehr – ䷗ – folgt. Nach der Überlieferung des Urteils wird das Fortschreiten des Abschälens oder Zerspaltens mit der oberen Linie zum Stillstand gebracht, dem Gedanken nach also quasi ›aufgehoben‹ und dadurch die Wirkung des Schattigen kontrolliert: In dem Spruchwerk ist die Rede von einer großen noch ungegessenen Frucht. 41 Diese bezieht sich auf das Lichte, die einzige harte, feste Linie an oberster Schaut man sich die Zeichendynamik an, ist der Begriff eines Durchbruches nicht nachvollziehbar: Eigentlich wird an der obersten Stelle nichts durchbrochen, sondern geschlossen. Das Bild hinter der Anordnung des Zeichens Guai kann auch anders gedeutet werden, nämlich als ein Metallring, der an einer Seite offen ist: Dieser diente auch der Hautabschürfung (vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 654): »Auf dem Steißbein ist keine Haut, sein Gang ist wankend.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 143. Thematisch betrachtet würde sich das Zeichen Guai dann direkt auf die Thematik von Bo, das Schinden, beziehen. 41 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 83. 40
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
Stelle, im Ganzen auf Qián. Aber auch das Feste, diese letzte noch ungegessene Frucht an oberster Stelle wird zurückgenommen werden in das Offene von Kūn (der ontologischen Konsistenz oder der reinen Wandlung). Erst aus der Tiefe oder dem Offenen von Kūn heraus entsteht die Frucht, d. h. das Lichte oder im Ganzen Qián, im Zeichen der Wiederkehr allmählich aufs Neue. Das Zeichen Bo entspricht zugleich der letzten Wandlungsphase des Zeichens Kūn, d. h. dem Inkonsistentwerden des letzten harten Striches an oberster Stelle, was den Tod, jedoch im Sinne der Rückkehrbewegung der Lebensformen in das Offene von Kūn (der ontologischen Konsistenz oder der reinen Wandlung) bedeutet: – ䷖䷁ –. 42 Auf der sechsten Linie des Spruchwerkes von Kūn ist Kampf, eigentlich eine Art Kampf, der auf Leben und Tod hinausläuft, angedeutet. 43 Dieser Kampf und Widerstand lässt sich entgegen der Interpretation der Überlieferungen, wonach das Schattige sich ungerechtfertigter Weise mit dem Lichten anlegt und seinen Platz einzunehmen sucht, als eine Form der Selbstbehauptung der Erscheinungsform (Qián) gegenüber dem Vorgang seiner Rückkehr in das Offene von Kūn (der ontologischen Konsistenz oder der reinen Wandlung) deuten. Dem Konsistenten steht der Übergang zum Inkonsistentwerden bevor. Der Tod bedeutet hier jedoch nur das Inkonsistentwerden und bildet daher keine feste Grenze oder scharfe Trennungslinie: Zwischen dem Zerfall, der Rückkehr – ䷖ – und der Wiederkehr – ䷗ – ist der reine Fluss von Kūn – ䷁ –, der beide zu einem zusammenhängenden dynamisch-bewegten Ganzen verbindet und damit eine Kontinuität herstellt. Die Formen kehren zurück und kehren wieder in einem beständigen Fluss der Bewegung, der letztlich kein Anfang und kein Ende hat. Nur auf der Ebene der Lebensformen besteht dieser Gedanke und damit auch der Widerstand.
Die Rückkehr darf hier nicht als Rückkehr zur Ur-Einheit verstanden werden. Die reine Wandlung ist die Vielheit auf einem Intensitätsgrad (des Werdens), wo sich alle Gestalten auflösen. Es stellt sich also nicht nur die Frage nach dem Schauplatz der Wandlungen, sondern auch die Frage nach der Intensität des Werdens. 43 »Die Drachen kämpfen auf freiem Feld. Ihr Blut ist gelb und dunkel.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. 42
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
4.3 Kūn im Zeichen der Ernährung Das Zeichen von Kūn – ䷁ – macht in der Dynamik von Kūn die Mitte zwischen dem Zeichens des Zerfalls – ䷖ – und dem der Wiederkehr – ䷗ – aus. Dies wird auch aus der Zusammenfügung der drei Zeichenstrukturen ersichtlich: – ䷖䷁䷗ –. Würde man alle drei zu einem Ganzen zusammenfügen, ginge daraus das Zeichen der Ernährung Yi – ䷚ – und gleichzeitig die Gestalt eines dynamischen Kontinuums hervor. 44 In dem Zeichen der Ernährung befindet sich Kūn (☷) in der Mitte, gleichzeitig ist sie Teil des oberen Teilzeichens Gen (☶) und des unteren Teilzeichens Zhen (☳): Die Erweiterung von Gen (☶) durch Kūn (☷) nach unten würde Bo – ䷖ – ergeben und die Erweiterung von Zhen (☳) durch Kūn (☷) nach oben Fu – ䷗ –. Sowohl der Zerfall in Bo als auch die Wiederkehr in Fu werden demnach durch das Nährende von Kūn bestimmt. Dies ist der Gedanke, der graphosemantisch in dem Zeichen für die Ernährung, Yi – ䷚ – zum Ausdruck kommt, nämlich, dass der Prozess von Entstehen und Vergehen durch die Dynamik von Kūn getragen und bestimmt wird und dadurch ein einheitliches Zusammenwirken entsteht. Das bedeutet aber nicht nur, dass beide Vorgänge der Wiederkehr – ䷗ – und Rückkehr – ䷖ – einander wechselseitig entsprechen und gleichermaßen auf Kūn – ䷁ – zurückbezogen sind, sondern auch, dass dasjenige, was kommt und geht, Kūn eigentlich an keiner Stelle verlässt, d. h. ihrer Dynamik vollkommen inhärent ist. Das Lebendige ist damit nicht getrennt von Kūn, weder in seinem Entstehen (oder Konsistentwerden) noch in seinem Vergehen (Inkonsistentwerden). Das Offene von Kūn (die ontologische Konsistenz oder der Fluss reiner Wandlung) bildet in dem Zeichen Yi das dauerhaft Nährende – ䷚ – aller Lebensformen. Das dauerhaft Nährende – ䷚ – ist als die Lebensgrundlage des Lebendigen aufzufassen. Die polare Entsprechung des Zeichens Yi – ䷚ – ist das Zeichen Da Guo, Das Vergehen von Großem – ䷛ –. Die Liniensprüche des Zeichens bilden dem Aufbau nach zu folgen Paare aus: In der ersten Linie tragen die Grundlagen, womit das Weiche, Offene unten gemeint ist und in der obersten Linie vernichten sie. Das Tragen und Vernichten, das von den Grundlagen, d. h. dem Weichen, Offenen aus geschieht, korrespondiert mit dem unteren Teilzeichen Zhen (☳) und dem oberen Teilzeichen Gen (☶) in dem Zeichen Yi – ䷚ – und damit zugleich mit der Wiederkehr – 44
Siehe Abbildung 4.
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
䷗ – und dem Zerfall – ䷖ –. Das Zeichen Yi – ䷚ –, das in der Mitte durch Kūn bestimmt ist, bedeutet die innere Lebensgrundlage für die Existenz des Lebendigen. Das Zeichen Guo – ䷛ –, das in der Mitte durch Qián bestimmt ist, zeigt den Entzug oder die Schwächung dieser Lebensgrundlage, was das Ganze, die Existenz des Lebendigen, ins Wanken bringt. Das innerlich Tragende, Nährende und Stützende der Existenzen bildet damit das Weiche, Offene, Kūn und nicht das Feste, Geschlossene, Qián. Wird das Lebendige, die Existenz nicht von Innen genährt, biegt es sich 45 und vergeht schließlich. Das Feste, Qián kann nach außen hin nur stark und stabil sein bzw. wirken, weil es im Inneren durch das Offene, durch Kūn genährt, gestützt und getragen wird. Graphosemantisch setzt sich das Zeichen Yi – ䷚ – wie gesagt aus dem unteren Teilzeichen Zhen (☳) und dem oberen Teilzeichen Gen des (☶) zusammen. Das Zeichen Yi kann auch als ein Piktogramm gelesen werden: Die offenen Linien stellen die Zähne dar, die festen Linien die Umrundung. Yi ist der mit Zähnen besetzte Kieferknochen. 46 Conrady spricht von dem ›Bild des Mundes‹. 47 Dass der Kiefer mit dem Ernähren zusammenhängt, geht auch aus der Folge der Zeichen hervor: »Werden Wesen aufgezogen, dann können sie ernährt werden. Daher setzt man [der Wesen Folge] mit dem Kiefer fort. Der Kiefer ist Ernähren.« 48 Betrachtet man den Kiefer, betrachtet man dasjenige, was nährt: Nach der Überlieferung des Urteils wird an dieser Stellen Bezug auf Himmel und Erde genommen, welche die zehntausend Wesen nähren. 49 Aus dem Zeichenbild geht aber eindeutig hervor, dass Kūn – ䷁ – als dasjenige zu betrachten ist, was die Wesen von innen heraus nährt – ䷚ –: »Die zehntausend Wesen erhalten alle ihr Nahrung von ihm [dem Zeichen Kūn].« 50 Die Dynamik des Leerens und des Füllens des Kiefers entspricht der beschriebenen Bewegung des Sich-Öffnens (☳) und Sich-Schließens (☶) von Kūn (☷), die dem Zeichen Yi inhärent ist. Das Öffnen entspricht der Wiederkehr – ䷗ – und das Schließen dem Zerfall – ䷖ –. Als das
In dem Spruchwerk ist von dem sich verbiegenden oder krümmenden Hauptbalken die Rede. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 98. 46 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 573. 47 Vgl. August Conrady: Yih-King-Studien, S. 417. 48 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 244. 49 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 96. 50 Vgl. Yijing, übers. ur. Hrsg. v. Dennis Schilling, S. 237. 45
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
dauerhaft Nährende gibt Kūn das Leben und nimmt es wieder in sich zurück. Aus der Perspektive der Überlieferungen, welche das Feste, Geschlossene, d. h. letztlich die Form, Qián, betont, wird das Schinden oder Schälen, d. h. der Abbau der Lebensformen in das Offene von Kūn (im Vergleich zu der reinen Zeichendynamik) als destruktiv, zerstörerisch und gefahrvoll betrachtet. Dieser von den Überlieferungen betonte Aspekt des Zersetzenden, des Zerfalls und des Todes hat sich nach Neumanns tiefenpsychologisch angelegter Analyse insgesamt in der Konzeption der Erde 51, verstanden als dem dunklen Prinzip, als die maßgebliche und dominante Konstante durchgesetzt: »Die Erde ist die dunkle Mutter des Lebendigen, ihr Schoß gebiert alles Lebendige, Pflanzen, Tier und Mensch, aber die Große Mutter frisst als furchtbare Mutter alles Geborene erbarmungslos in sich zurück. Ihr Todesschoß ist ein fressendes Maul der Dunkelheit, und als Grab […] ist sie das ›Innen der Erde‹, der dunkle Abgrund alles Lebendigen.« 52 Dieses negativ aufgeladene Bild der Erde und des Weiblichen, das auch in den Überlieferungen dominiert, kann als das Gegenbild der Manifestation der generativen und regenerativen Macht der Erde und des Weiblichen verstanden werden, wie sie in dem Zeichen Yi der Ernährung – im Kontext der Dynamik von Kūn – zum Ausdruck kommt. Es stimmt, dass eine maßgebliche Seite der Herausforderung hinsichtlich einer uneingeschränkten Offenheit, wie sie durch Kūn gezeigt wird, letztlich auf der Ebene des menschlichen Daseins mit der Frage nach dem Umgang mit dem Tod und der damit einherNach Neumann speist sich die negative Bedeutung des Archetypus der Erde als bekannteste mythologische Gestalt der ›Großen Mutter‹ aus ihrer ambivalenten Struktur. 52 »Sie ist aber nicht nur als Abgrund das verschlingende Todes-Loch, sondern darüber hinaus ist sie wild und gierig als Gebärende und als Tötende. Das Symbol dieser Gier ist das Blut, das sie befruchtet, mit dem sie nährt, und aus dem sie das zu gebärende Leben speist. Deswegen muss die Erde mit der Darbringung lebendigen Blutes gesättigt werden. […] In urtümlicher Nähe sind ihr Aggressionstrieb und Sexualtrieb, Liebestrieb und Todessehnsucht miteinander verbunden. Die Fruchtbarkeit des Lebendigen fußt nicht nur auf der dunklen Triebhaftigkeit, die das Lebendige im Sexus treibt, sondern alles Lebende ist im Bezirk des Animalischen auf die Nahrung durch das Fressen und Überwältigen angewiesen: das heißt […] mit Blutvergießen, und so mit dem Tode verbunden.« Erich Neumann: Die Bedeutung des Erdarchetyps für die Neuzeit, in: Eranos-Jahrbuch Bd. 22: Mensch und Erde, 1953, hrsg. v. Olga Fröbe-Kapteyn. Zürich 1954, S. 11–56. 51
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
gehenden ›Urangst‹ und auch ›Ursituation‹ des Menschen zusammenhängt. Dabei scheint die Einsicht in die im Zusammenhang mit Kūn beschriebene Ganzheitsdynamik bedeutsam: Denn ausgehend von Kūn gibt es letztendlich keinen Tod im Sinne einer feststehenden Grenze, sondern nur ein Konsistent- und Inkonsistentwerden, d. h. im Grunde nur Wandlungen. Die Zeichenstruktur von Kūn betont eindeutig ihren Wandlungscharakter, der die Möglichkeitsbedingung ihres generativen, regenerativen und nährenden Vermögens bildet: Uneingeschränkte Offenheit, höchste Bewegtheit, Fluss. Kūn zeigt in sich den gestalterischen Aspekt des Umschlagens und der Wandlung. Als ›große Wandlerin‹ 53 ist sie als das verortbare Ereignis des Lichten, der Sonne und des Tages – Qián – zu verstehen. Nun kann der Gedanke, dass es ausgehend von Kūn nur Wandlungen gibt, an sich noch keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit dem Tod sein. Jedoch eröffnet sich durch Kūn die Möglichkeit einer Einübung, einer Vertiefung in diese Offenheit. Die Einübung hat in diesem Sinne eigentlich zwei Seiten: Eine Seite ist dem Entstehen und damit den Lebensformen und eine andere dem Vergehen, d. h. der eigentlichen Gestaltlosigkeit dieser Lebensformen zugewandt. In Bezug auf das Unverfügbare von Kūn, das mit ihrem Ethos verbunden ist, verbinden sich diese beiden Seiten miteinander. Denn nur vermöge der uneingeschränkten Offenheit von Kūn, d. h. ihres Nicht-Erscheinens (oder ontologischen Konsistenz im Sinne des Flusses reiner Wandlung), kann alles Erscheinende sein. Kūn – ䷁ – vereint oder verbindet in dem Zeichen der dauerhaft nährenden Mitte der Erscheinungsformen Yi – ䷚ – die beiden grundlegenden Seiten von Entstehen und Vergehen auf eine affirmative Weise. Uneingeschränkte Offenheit bedeutet Ent-grenzung, d. h. dauerhafte Wandlung, Bewegung und Fluss. Es bedeutet auch, dass dieser Fluss reiner Wandlung sich nicht erschöpfen kann und das Lebendige in seiner Formation und Deformation von diesem Fluss reiner Wandlung bestimmt und getragen wird.
»Jetzt erweist sich die Erdmutter als die große Schöpferische, die auch der nächtliche Himmel ist, indem sie ihre eigene Dunkelheit erhellt und morgendlich die Sonne und den Tag gebiert. Denn die große Wandlerin ist auch die Ursprungsstätte des Lichtes und umfasst als obere Mutter auch den Himmel.« Erich Neumann: Die Bedeutung des Erdarchetyps für die Neuzeit, S. 244.
53
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
4.4 Kūn in den Zeichen der Minderung und Mehrung Von Kūn gehen die Bewegungen der Minderung und der Mehrung aus. In dem Zeichen Sun, Die Minderung – ䷨ – befindet sich Kūn in der oberen Mitte, um von dort aus in dem Yi, Die Mehrung – ䷩ – in die untere Mitte zu wandern – ䷨䷩ –. Die Bewegung von Kūn verläuft im Zeichen Sun (Die Minderung) von oben nach unten. Im Zeichen Yi (Die Mehrung) dagegen von unten nach oben. Die Bewegung ist gegenläufig. Wiederum ist die Zeichendynamik durch Gen (☶) und durch Zhen (☳) bestimmt, d. h. der in Bezug auf die Dynamik von Zerfall und Wiederkehr maßgeblichen Komponenten. Hinzu kommen Xun (☴) und Dui (☱). In dem Zeichen Sun – ䷨ – trifft Gen (☶) auf Dui (☱). In dem Zeichen Yi – ䷩ – trifft Zhen (☳) auf Xun (☴). In Sun ist Gen (☶) sinnbestimmend: Gen steht für das Anhalten und damit auch Verringern. In Yi ist Zhen (☳) sinnbestimmend: Zhen steht für das Anheben und damit auch Vermehren. Dem Zeichen der Mehrung Yi – ䷩ – und dem der Minderung Sun – ䷨ – entspricht auf der Ebene der konkreten Manifestation die wechselseitige Bewegung von Zunehmen und Abnehmen, die in der Bewegung von Kūn (☷) gezeigt wird: »Sun [Diminution] and Yi [Increase] are the beginnings of prosperity and decline.« 54 Die beiden Zeichen Sun, Die Minderung – ䷨ – und Yi, Die Mehrung – ䷩ – bilden genauso wie Fu und Bo thematisch ein Paar: Die Minderung – ䷨ – stellt die Umkehrung der Mehrung – ䷩ – dar. Der Gegensatz zwischen Schwinden und Wachsen zeigt sich im Linienbild der beiden Zeichen nur an der veränderten Stelle eines einzelnen Striches: Im Zeichen Sun – ䷨ – liegt der durchgezogene Strich auf dem zweiten Rang, im Zeichen Yi – ䷩ – auf dem fünften. 55 Durch das Zunehmen und Abnehmen in der Bewegung von Kūn werden die Wesen in Sun – ䷨ – gemindert, in Yi – ䷩ – werden sie dagegen gemehrt. Nach der Überlieferung des Urteils wird in dem Zeichen Sun das Harte gemindert und das Weiche gemehrt, im Zeichen Yi soll es umgekehrt sein. 56 Hinter dieser Interpretation verbirgt sich das geschlechtsorientierte Gegensatzschema der Überlieferungen, wonach das Mindern dem Schwinden der Mondkraft und das Mehren dem Wachsen der Sonnenkraft entsprechen soll. Abnehmen und Zu54 55 56
Richard Lynn: The Classic of Changes, S. 398. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 642. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 642.
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
nehmen sind jedoch beides vorrangig Eigenschaften des Mondes. 57 In den Linienbildern der beiden Zeichen Sun und Yi liegt der Bezug zu dem Mond im Zeichen Kūn, das zwischen den harten Linien auf und abwandert: Das im oberen Bereich liegende Kūn zeigt das Schwinden der Mondkraft an – ䷨ – und das im unteren Bereich liegende Kūn ihr Wachsen – ䷩ –. 58 Die polare Entsprechung des Zeichens Yi ist das Zeichen Heng, Das Beständige – ䷟ –. Das Wort heng bedeutet in seiner Lesart geng ein alles ausfüllendes Ausbreiten, womit das Wachsen der Mondkraft gemeint ist. Das Erneuern und Schwinden der Heng-Kraft, der Kraft des Beständigen, hängt mit dem weiblichen Zyklus zusammen, bzw. wird dadurch gelenkt. 59 Die Zuordnung der Minderung und Mehrung zu entgegengesetzten Kräften und ihre Verteilung auf Sonne und den Mond erzeugt die einseitig negative Konnotation von Kūn, wonach mit Kūn lediglich die Minderung der Wesen korreliert. So bezieht sich die Überlieferung des Urteils im Zeichen der Mehrung ausschließlich auf die Zunahme der Sonne, womit das Mehren allein der Sonnenkraft zugesprochen wird. 60 Diese Sichtweise hat das asymmetrische Modell von Himmel und Erde zur Voraussetzung, auf das sich die Überlieferung des Urteiles bezieht: »Der Himmel breitet auf der Erde das Werden [des Lebens] aus, sein Mehren ist allgemein wirksam.« 61 Dies macht noch einmal deutlich, wie der Himmel, Qián, nach der gegensätzlichen Bestimmung der Überlieferungen das Lichte, Helle, die Fülle, das Wachsen, die Mehrung – das Leben, das Positive – symbolisiert und die Erde, Kūn das Dunkle, die Leere, das Schwinden, Verringern, Schälen und Schinden – den Tod, das Negative – verkörpert. Als tieferen Grund für die Bestimmung von Kūn als das SichFügende der Erde und der mit dieser Bestimmung einhergehenden Negativkonnotation und Unterordnungstendenz kann der Versuch der Kontrolle und Beherrschung dessen gesehen werden, was hier als Kehrseite des Lebens erscheint. Kūn als das Offene (ontologische Konsistenz oder Fluss reiner Wandlung) ist jedoch gerade jene vorauszusetzende Stütze, deren das Feste, Konsistente bedarf, um am Leben erhalten zu bleiben.
57 58 59 60 61
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 642. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 642. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 596. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 642. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 316.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
Nach der Überlieferung des Bildes bedingen sich die beiden dynamischen Zeichen Zhen (☳ Donner) und Xun (☴ Wind) wechselseitig und bringen die Mehrung – ䷩ – hervor: Der Wind verteilt die Samen auf der Erde, der Donner treibt sie aus. Das Zeichen der Mehrung wird in der Großen Überlieferung auch mit der Erfindung des Ackerbaus und des Pfluges assoziiert. 62 Im Zeichen der Wiederkehr – ䷗ – ist der Donner (☳) die Bewegungskraft der Erde (☷) und zugleich ihre erste Manifestationsebene: das Konsistentwerden und der Beginn der Gestaltwerdung in dem Offenen (dem ontologisch Konsistenten oder Fluss reiner Wandlung) von Kūn. In dem Zeichen des Zerfalles – ䷖ – ist der Berg (☶) die Gestaltkraft der Erde und zugleich ihre letzte Manifestationsebene: Das Inkonsistentwerden nach der Vollendung der Gestalt in dem Offenen von Kūn (dem ontologisch Konsistenten oder dem Fluss reiner Wandlung). Genau dieser Zyklus wird im Ackerbau wiederholt: Auf das Ausbringen der Saat im Frühjahr folgt das Einbringen der Ernte im Herbst und daraufhin eine Phase der Speicherung im Winter. Das Mehren und das Mindern beschreiben in diesem Sinne auch einen erdgebundenen Zyklus. Minderung und Mehrung sind intrinsisch mit der Bewegung von Kūn verbunden, was einerseits durch ihr Abnehmen und Zunehmen in der Zeichenstruktur zum Ausdruck kommt. Andererseits ist der Kreislauf von Minderung und Mehrung strukturell zurückgebunden an die umfassende Bewegung der Wiederkehr und Rückkehr, des Prozesses von Entstehen und Vergehen, wie es in den Zeichen Fu und Bo gezeigt wird und wodurch sich die Grunddynamik von Kūn bestimmen lässt. Das eine kann als der kleine Kreislauf innerhalb eines größeren Bewegungskreises von Konsistent- und Inkonsistentwerden der Lebensformen aufgefasst werden, der sich durch das Offene, d. h. durch Kūn hindurch als gegebene Rahmenbedingung des Lebendigen vollzieht.
4.5 Kūn in den Zeichen der Verfinsterung des Lichts und des Vorstoßens In dem Zeichen Ming Yi, Die Verfinsterung des Lichts – ䷣ – befindet sich Kūn (☷) an der oberen Stelle und Li (☲) an der unteren Stelle. Der Bewegung nach wird Li (☲) unter Kūn (☷) verborgen gehalten. Die 62
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 792
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
Umkehrung von Ming Yi – ䷣ – ist das Zeichen Jin, Das Vorstoßen – ䷢ –, in dem Kūn (☷) sich unten befindet und Li (☲) oben. Der Bewegung nach wird hier Li (☲) von Kūn (☷) emporgehoben. Nach der Überlieferung des Bildes entspricht Li dem Feuer oder dem Licht der Sonne und Kūn der Erde. In Ming Yi – ䷣ – dringt das Licht in die Erde ein, in Jin – ䷢ – steigt es aus ihr empor. Der Name des Zeichens Ming Yi – ䷣ – besteht aus dem Wort ming, ›Licht‹ und yi, das unterschiedliche Bedeutungen umfasst, darunter ›untergehen‹, ›verletzen‹ und ›töten‹. 63 Dabei fasst die Überlieferung des Urteils das Eindringen des Lichtes in das Innere der Erde in dem Zeichen als eine ›Verletzung‹ oder ›Verwundung‹ des Lichtes auf. Dass das Licht verdunkelt wird, heißt der Interpretation der Überlieferung nach, dass es gleichsam verletzt wird. Richard Smith schlägt in Bezug auf diesen Aspekt der Verdunkelung eine Reihe von Übersetzungen vor: »Brightness Obscured […] Suppression of Light; Darkening of the Light; Brightness hiding; Intelligence Repressed; Darkening; Extinction of Light, Darkness, Darkening of the Light.« 64 Das Licht der Sonne, das hier verdunkelt ist, entspricht analogisch der Wirkmacht von Qián. In der Tuan-Überlieferung lenkt, wie wir gesehen haben, Qián das große Licht (da ming), kann aber auch selbst als eine Verkörperung dieses großen Lichtes verstanden werden. Das große Licht ist in den Liniensprüchen zu Qián im Aufgehen und im Untergehen begriffen: Dies steht in einem analogen Verhältnis zu der Bewegung des Drachens und des Herrschers (dem Aufstieg und dem Untergang). Das Aufsteigen des Lichtes entspricht der Manifestation, dem In-Erscheinung-Treten und das Untergehen des Lichtes der Verborgenheit oder dem Rückzug. Überträgt man dies auf die Zeichen von Ming Yi und Jin, dann bedeutet das Versinken des Lichtes in Kūn (Erde) Rückzug oder Nicht-Erscheinen (Der Drache ruht in der Tiefe) und das Emporsteigen des Lichtes aus Kūn (Erde) das In-Erscheinung-Treten (Der Drache steigt auf). In den Überlieferungen wird dieses Einsinken des Lichtes in Kūn in dem Zeichen Ming Yi – ䷣ – wie gesagt als eine ›Verletzung‹ oder ›Verwundung‹, bzw. als eine ›Unterdrückung‹ des Lichtes aufgefasst: Dass sich das Licht unter Kūn befindet, wird so verstanden, dass es gleichsam unter der Erde festgehalten wird und damit in seinem Emporsteigen, seinem Vorstoßen – ䷢ – gehemmt ist. 63 64
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 270. Zitiert nach Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 270 f.
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Die Thematik von Ming Yi hat einen Bezug zu dem Phänomen der Sonnenfinsternis, auf das die sechste Linie des Zeichens anspielt: »Es wird nicht hell, bleibt in der Finsternis. Zuerst steigt es zum Himmel, danach tritt es in die Erde ein.« 65 Aus Zhou-Texten ist bekannt, dass im Falle einer Sonnenfinsternis Trommeln geschlagen und der Erdgottheit Opfer erbracht wurden, auch soll sie mit einer roten Schnur umwunden worden sein, wodurch ihre Wirkkraft gehemmt werden sollte, damit die Sonne wiederkehrt. 66 Befindet sich das Licht über der Erde, so wird dies als ein ›Vorstoßen‹ des Lichtes, d. h. als eine Progression – ䷢ – aufgefasst, das Vorstoßen hat wiederum die Gehorsamkeit der Erde zur Voraussetzung: »Das Licht steigt aus der Erde empor. Gehorsam wird [die Erde] vom großen Licht beleuchtet.« 67 Dass ein Zuviel des Lichtes (der Sonne) gefährlich sein kann, geht unter anderem auch aus dem Zeichen Xu, Das Ausharren (der Regenzauber) – ䷄ – hervor. In dem Zeichen wird um Regen (☵ Wasser) gebeten, es bezeichnet die Zeit des Ausharrens, bevor der Regen fällt. In den Liniensprüchen steht es für verschiedene Rituale des Regenzaubers. 68 Mythologisch ist das Bitten um Regen vor allem mit Cheng Tang verbunden, dessen Selbstopfer eine Zeit der Dürre beendet. 69 Das Wasser (☵) ist ein zentraler Aspekt der Fruchtbarkeit und des Nährenden der Erde, ohne den die Manifestation von Leben nicht möglich wäre. Die beiden Zeichen Ming Yi – ䷣ – und Jin – ䷢ – werden ausgehend von dem Fokus der Überlieferungen auf das Lichte, auf die Manifestation und auf Qián als eine Progression – ䷢ – (Aufstieg und Manifestation des Lichts) und als eine Regression – ䷣ – (Abstieg Yijing, über. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 123. Die Kommentatoren der Han-Zeit beriefen sich in der Auslegung des rituellen Geschehens auf ein Schema, das der Subordinationslogik der Erde aus den Überlieferungen des Yijing entspricht. So müsse die Sonnenfinsternis darauf zurückgeführt werden, dass der Mond als yin-Verkörperung die yang-geladene Sonne unstatthaft verdeckt und die Menschen dazu aufgerufen waren in einem stellvertretenden Akt die Sonne in ihrem Kampf gegen das unmäßige yin-Prinzip zu unterstützen. Alle Riten am Erdaltar als der Verkörperung des yin sollen diesem Zweck gedient haben. Vgl. Claudius Müller: Untersuchungen zum Erdaltar, S. 93. 67 Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 120. Siehe auch die Übersetzung von Rainald Simon: »Die Helle [Sonne] erhebt sich über die Erde. Folgsam und abhängig von der großen Helle [ist die Erde], sanft geht sie vorwärts und wandert nach oben.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 266. 68 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 469. 69 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 470. 65 66
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und Verdunkelung des Lichts) ausgelegt. Aus der Bewegung, die Kūn vollzieht, wenn sie einmal das Licht unter sich verborgen und geschützt hält und einmal über sich emporhebt, ergibt sich jedoch ein anderes Verständnis, das, wie gesagt, mehr mit der mythologisch unterlegten Vorstellung des Spruchwerkes übereinstimmt, wonach der Drache, Qián, sich aus dem Offenen von Kūn aufbaut (in dem Spruchwerk ist die Rede von den wässrigen Tiefen, die, wie wir gesehen haben, Kūn entsprechen) und dadurch an Gestalt, Konsistenz gewinnt. Erscheinung und Verdunkelung des Lichten entsprechen hiernach dem Konsistentwerden und Inkonsistentwerden, d. h. der Dynamik von Kūn. Dieser Zusammenhang lässt sich sehr gut anhand des mythologischen Hintergrundes des Zeichens verdeutlichen, weswegen an dieser Stelle noch einmal darauf eingegangen werden soll. So erscheint der Name Ming Yi in dem Spruchwerk auch als Name eines Vogels 70, eines Totemvogels, der hochwahrscheinlich in Zusammenhang mit dem Mythos der zehn Sonnen aus der sogenannten Tradition des Maulbeerbaumes 71 steht. Nach Sarah Allan lässt sich der Mythos der zehn Sonnen auf die Herrschaft der Shang zurückführen, die eine totemartige Beziehung zu diesen Sonnen unterhielten. Als die Zhou, die an nur eine Sonne glaubten, die Shang eroberten, ging der Mythos und seine frühere Bedeutung jedoch verloren, seine Motive wurden aber transformiert und sind daher in anderen Kontexten erhalten geblieben. 72 Hieraus entwickelte sich eine Unstimmigkeit zweier gegensätzlicher Traditionen von zehn Sonnen und nur einer Sonne, die vermutlich durch den Mythos des Schützen Yi, auf den im Spruchwerk Bezug genommen wird, zu erklären versucht wurde: Diesem nach sollen eines Tages die zehn Sonnen, die für gewöhnlich in einer festen Abfolge von den Ästen des Maulbeerbaumes aufgestiegen sein sollen, alle auf einmal erschienen sein, woraufhin der Schütze Yi neun davon abschoss. Nach Sarah Allan lässt der Mythos des Schützen Yi zugleich die wesentlichen Motive der Tradition der zehn Sonnen erkennen, welche ihm vermutlich vorausgegangen ist: Nämlich das Motiv des Fu-Sang Baumes am Fuße des Tales der Sonne, der ein Wasserbecken beinhaltet; das Motiv der Zahl zehn als die ursprüngliche Anzahl der Sonnen; das Motiv der Identi-
70 71 72
Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 613. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 292 f. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 293.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
fikation der Sonnen mit Vögeln und ganz zentral das Motiv der Xi He als Mutter der zehn Sonnen. 73 Die expliziteste Beschreibung stammt aus dem Shanhaijing: »Above the Tang Valley is the Fu Sang. [The Valley] is wherein the ten suns bathe. […] In the swirling water is a great tree. Nine suns dwell on its lower branches; one sun, on its uppermost branch.« 74 »Above the Tang Valley is the Fu Tree. When one sun reaches it, another sun goes out; all of them carried by birds.« 75 Das phonetische Element der Sonne enthaltend, wird ›Tang Valley‹ teilweise auch als ›Yang Valley‹ oder ›Tal der Sonne‹ bezeichnet. 76 Mythologisch ist es jedoch immer ein Tal, das ein Wasserbecken umfasst, worin die zehn Sonnen baden, die zugleich als Vögel betrachtet werden. 77 Jeden Morgen wurde der Sonnenvogel, der den Tag über durch den Himmel fliegend aus dem Sonnental aufstieg, von seiner Mutter in dem Wasserbecken gebadet: »Beyond the south-eastern Sea amidst the Sweet Waters is the Tribe of Xihe. There is a woman named Xihe who regularly bathes the suns in Sweet Springs. […] It is she who gave birth to the ten suns.« 78 Eine ähnliche Passage findet sich in dem Guizang, dem den Shang zugeschriebenen Äquivalent des Yijing: »Behold their ascent to the sky! A time of brightness, then a time of darkness, as the sons of Xihe go out from the Sun Valley.« 79 Xi He, die Mutter der zehn Sonnen, wird im Guizang auch mit dem ›hohlen Maulbeerbaum‹ in Verbindung gebracht: Sie kontrolliert das Kommen und Gehen der Sonne und des Mondes, um Licht und Dunkelheit zu erzeugen. 80 In ihrem Ursprungsmythos wurden die Shang aus dem Ei eines schwarzen Vogels geboren, den Sarah Allan mit dem SonnenVgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 294. Zitiert nach Sarah Allan: Sons of Suns, S. 295. 75 Zitiert nach Sarah Allan: Sons of Suns, S. 295. Das Zeichen Tang setzt sich aus dem Wasserradikal und dem phonetischen Element für Sonne zusammen. Manchmal wird es mit dem homophonen yang ausgedrückt. 76 Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 295 f. 77 ›Sonnen‹ und ›Vögel‹ bilden mythologisch eine Entsprechung. Vgl. Allan: Sons of Suns, S. 296. 78 Zitiert nach Sarah Allan: Sons of Suns, S. 298. 79 Zitiert nach Sarah Allan: Sons of Suns, S. 298. 80 Die Entsprechung von Xi He bildet Chang Xi, welche als Mutter der zwölf Monde betrachtet und mit Chang O identifiziert wurde. Chang O ist die Göttin des Mondes, die zu dem Mond geflogen sein soll, nachdem sie das Unsterblichkeitselixier von dem Schützen Yi gestohlen hatte. Nach Sarah Allan stellen diese Figuren Varianten der Mondgöttin dar. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 299. 73 74
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Die Grunddynamik von Ku¯n in den Zeichen des Yijing
vogel identifiziert: »They saw a black bird drop an egg. Jian Di took it. Thus, she became pregnant and gave birth to Xie.« 81 In den Orakelknocheninschriften finden sich zwar keine Hinweise auf Jian Di, in den Bronzegefäßen wird jedoch eine schwarze Vogelfrau (›Black bird lady‹) genannt, deren Name etymologisch mit der Geburt aus dem Ei assoziiert ist. 82 Mythologisch betrachtet, ist in dem Zeichen Ming Yi die Übergangssituation von der Herrschaft der Shang zu der Herrschaft der Zhou und deren Weltordnung aufgehoben: Dies spiegelt sich in den konkurrierenden Traditionen der zehn Sonnen und der einer Sonne, deren Spannungsfeld durch den Mythos des Schützen Yi eine Auflösung erfährt. Den früheren ursprungsmythischen Vorstellungen zufolge wurden die zehn Sonnen von Xi He, der Sonnenmutter, geboren und stiegen, gebadet in den Wassern des Tales, von dort auf und ab, um in geregelten Bahnen Licht und Dunkelheit zu erzeugen. Ming Yi lässt sich vor dem Hintergrund des Zeichenbildes nicht nur mit der Sonnenmutter und der Geburt der Sonne aus dem Talwasser assoziieren, sondern auch mit der schwarzen Vogelfrau, die als Urahnin der Shang angesehen werden kann und deren Mythos mit der Geburt aus einem Ei in Verbindung steht. Die Vorstellung, dass die Sonnen aus dem Talwasser der Sonnenmutter auf- und absteigen, steht in Übereinstimmung mit der Zeichendynamik und bildlichen Symbolik von Kūn in dem 35. und 36. Zeichen: Das 36. Zeichen – ䷣ – entspricht der Verbergung des Lichts, der Dunkelheit oder Nacht – der Phase der Rückkehr und Regeneration – mythologisch dem Eintauchen der Sonne in die wässrigen Tiefen von Kūn. Das 35. Zeichen – ䷢ – entspricht der Unverborgenheit des Lichts, der Helle oder dem Tag – der Phase der Wiederkehr und der Entfaltung – mythologisch dem Auftauchen der Sonne aus den wässrigen Tiefen von Kūn. Kūn lässt das Licht, Qián, aus sich heraus in zyklischen Bahnen auf- und absteigen. Dieser Zusammenhang bestätigt sich auch aus der bereits genannten Stelle des Spruchwerks zu Kūn und Qián, wo sich Qián in Form eines Drachens in den wässrigen Tiefen (Kūn) verborgen hält und von dort aus über verschiedene Stufen bis hin zu seiner vollkommenen Gestalt aufsteigt. Die Verbergung des Lichts (die in dem Zeichen Ming Yi gezeigt wird) darf demnach, wie der Mythos und das Spruchwerk entgegen der Auslegung der Überlieferungen zeigt, nicht 81 82
Zitiert nach Sarah Allan: Sons of Suns, S. 305. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 317.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
als eine Unterdrückung oder Tötung des Lichts verstanden werden, sondern in Bezug auf den Aspekt der Regeneration, der einen wesentlichen Teil der Dynamik von Kūn bildet, als ein Rückborgenwerden des Lichtes in das Offene (die Tiefen) von Kūn. Das Motiv der Verletzung des Lichts, welche in den Überlieferungen des Yijing zutage tritt, lässt sich auf den gewaltsamen Sieg der Zhou über die Shang zurückbeziehen, d. h. der Ablösung einer früheren Weltanschauung durch eine spätere Weltanschauung. Mit dem ›Abschießen‹ der neun Sonnen korrespondiert zugleich das Aufkommen einer neuen und orthodoxen Weltordnung, wo Kūn nicht mehr als das Anführende im Sinne der unendlich generativen und regenerativen Macht der Erde und des Weiblichen, die das Licht wieder- und rückkehren lässt, aufgefasst wird, sondern im Sinne des Sich-Fügens der Erde, die durch die Zhou inaugurierten Herrschaft des Himmels untergeordnet wird, wodurch sich ihre Dynamik nicht nur einschränkt, sondern Aspekte ihrer Bewegung negativ bewertet werden.
5.
Das dao als Mutter der Welt »Das Zurückkehren ist die Bewegung des Dao.« 83 »Die zehntausend Dinge stützen sich auf es und es bringt sie hervor und verlässt sie nicht […] Es kleidet und nährt die Wesen […] Die zehntausend Wesen kehren in es zurück und doch tritt es nicht als ihr Herrscher auf.« 84
Eine gewisse Öffnung für die Dynamik von Kūn und auch eine Aufwertung einiger mit dem Weiblichen zentral verbundenen Aspekte lässt sich unter Vorbehalt in der Figur des dao im Kontext des Daodejing finden. Hinsichtlich der Verwendung einiger Sinnbilder für das dao, insbesondere dasjenige eines dunklen Tores (men) im Sinne einer primordialen, weiblichen Ur-Öffnung, aus deren unaufhörlicher Bewegung die Wesenheiten geboren werden, von der sie gestützt, genährt und getragen werden und wohin die Wesenheiten wieder zurückkehren – der Vorstellung des dao im Sinne einer ›Mutter‹ der Welt (tianxia zhi mu) – scheint das dao innerhalb der daoLaozi: Daodejing, Das Buch vom Weg und seiner Wirkung, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, Stuttgart 2009, S. 129. 84 Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 111. 83
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Das dao als Mutter der Welt
istischen Tradition chinesischen Denkens einige Aspekte zu tragen, die als eine Widerspiegelung verschiedener Grundzüge betrachtet werden können, die sich auch für Kūn als wesentlich herausgestellt haben. 85 Wie wir gesehen haben, wird das dao im Daodejing mit einem Tor im Sinne einer weiblich konnotierten kosmischen ›Uröffnung‹ 86 verglichen, aus der alles Seiende ständig neu geboren wird: »Der Geist des Tales [gu shen] vergeht nicht, das heißt Mystische Vagina [xuan pin], das Tor [men] der mystischen Vagina – dies heißt Wurzelgrund von Himmel und Erde.« 87 Die Bewegung des Öffnens und Schließens der weiblichen Uröffnung ergibt dabei die konstante Transformation des dao: »Könntest du dich mit weiblicher Natur […] im Prozess der unablässigen Veränderungen aufhalten?« 88 Dao, für das hier metaphorisch der Begriff des Talgeistes – gu shen 89 – verwendet wird, kann als die strömende Permanenz der Wandlung, die form-, namen- und lautlos der Ebene der Unterscheidung von Himmel und Erde vorausgeht, verstanden werden. Der Kosmos wird aus dem dao permanent aufs Neue geboren. Dabei ist das dao unerschöpflich »wie ein leeres Gefäß«. 90 Als Gipfel der ›Leere‹, ist dao Vgl. hierzu Ellen Marie Chen: Tao as the Great Mother and the Influence of Motherly Love in the Shaping of Chinese Philosophy, in: History of Religions, 14, 1974, S. 51–64. 86 Das Wort men ›Tür‹ im Sinne von Öffnung, Ausgang verweist auf die Bildvorstellung des Geburtsvorganges. Erwin Rousselle formuliert »Erdkrume, die weiblicher Schoß ist.« Wagner erwähnt, dass das Dunkle weibliche Tierwesen als ›Vagina‹ konstruiert wird. Zitiert nach Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, Kommentar, S. 27. 87 Daodejing, übers. u hrsg. v. Rainald Simon, S. 25. Nach Rainald Simon soll Laozi mit der Umschreibung des dao als pin – eigentlich Vagina eines Rindes, später ›Weibchen‹ oder ›tiefe Höhle‹ – weniger auszudrücken, dass das dao weiblich sei, sondern, dass es als das All-Eine nicht geschlechtlich zu spezifizieren sei und auf seine Leben erzeugende Kraft, seine schöpferische Potenz hinweisen. Vgl. Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, Kommentar, S. 27. Als schöpferische Potenz verstanden würde das dao eher dem Schema von Qián im Yijing gleichen. 88 Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 35. 89 Der Begriff gu shen wird von Viktor Strauß 1870 wörtlich als ›Tal-Geist‹, von Stanislav Julien als ›esprit de la vallée‹ und von Liou Kia-Hway als ›génie de la vallée‹ verstanden. In den beiden französischen Ausgaben wird auf die metaphorische Verwendung des leeren Tals für dao hingewiesen. Nach Zhang Songru verweist die Stelle auf eine ›ursprüngliche Göttin der großen Leere‹. Zitiert nach Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, Kommentar, S. 26. 90 Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 21. Nach Simon wird das dao als eine paradoxe Polarität beschrieben und steht für die Leere unendlicher Potenzialität. 85
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die unerschöpfliche Quelle alles Seienden, denn alles kommt aus ihm und alles kehrt in es zurück: »Den höchsten leeren Pol erreichen […] Ein jedes kehrt wieder zu seinem Ursprung zurück.« 91 Die Rückkehr der Existenzen zu dao, dem Tod, versteht sich als eine Rückkehrbewegung des Seienden zur Wurzel des Seins. Diese Rückkehrbewegung ist zyklisch bestimmt im Sinne des Zurückfließens aller Existenzen in dao. Bei aller Vergänglichkeit bestimmter Seinszustände gibt es Dauer, die in der Konstanz der sich wiederholenden Prozesse gesehen werden kann. Deshalb ist der Tod der persona kein Verlöschen und hat nichts Ängstigendes. Alle Individuen sind Teil der Natur in Form der schaffenden natura naturans. 92 Da die Natur in dao ist, sind alle Individuen mit Dao eins. In Dao ist der subjektive Zustand des Getrenntseins, der auf der Ebene der Individuation herrscht, aufgehoben. Nur in der Rückkehr zu dao, was zugleich die Aufhebung des Individuationsprinzipes bedeuten würde, sind wir nach dem Daodejing rückverbunden mit der Quelle des Lebens als »aller feinen Verästelungen Tor.« 93 Es ist zugleich die Rückkehr des Hellen, Lichten (ming) in das mystisch Dunkle (xuan), des Erkennens (you) in das Nicht-Erkennen der bewegten Leere (wu) als dynamischster und fruchtbarster Lebenspotenz, die alles Leben erhält, das ins Licht gelangt. Dao, im Sinne von wu verstanden, enthält und produziert alle Dinge aus seiner Tiefe. Besonders hervorzuheben ist der kosmogonische Charakter des Textes, der mit der Bezeichnung des Geistes (shen) des Tales (gu) oder ›Geist der Tiefe‹ anhebt. Gu bedeutet zwar wörtlich ›Tal‹, könnte aber auch im Sinne einer ›erdhaften Tiefe‹ oder eines ›Abgrundes‹ aufgefasst werden. Xuan (dunkel, verborgen) pin (weibliches Geschlecht) wurde unterschiedlich als ›mystische Vagina‹ (Simon), ›femmelle mysterieuse‹ (Julien), ›female mystery‹ (Legge), ›generatrice de l’abîme infini‹ (De Harlez), ›Hidden Mother‹ (Chalmers) und ›Abyss mother‹ (Eitel) wiedergegeben. 94 Ursprünglich bezeichnet das Wort pin, wie bereits gesagt wurde, die Vagina eines Die Formen für chong werden im Shuowen als ›leeres Gefäß‹ und damit als eine Metapher für die Leere des dao kommentiert. Vgl. hierzu Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, Kommentar, S. 22. 91 Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 53. 92 Vgl. Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 54. 93 Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 9. 94 Vgl. hierzu Albert Terrien de Lacouperie: Western Origin of Early Chinese Zivilisation, S. 126.
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Das dao als Mutter der Welt
Rindes. Es ist dasselbe Wort, das in dem Urteilsspruch zu Kūn für die Indikation des Geschlechts von Kūn im Sinne eines weiblichen Pferdes, der Stute (pin ma), verwendet wird. 95 Die Bedeutung des ›Geistes der Tiefe‹ als Mutter (mu) geht aus dem 25. und dem 52. Kapitel des Daodejing hervor, wo von dem dao als ›Mutter der Welt‹ (tianxia zhi mu) die Rede ist. Xuan pin zhi men, Das ›Tor des dunklen Weibchens‹, die ›Pforte der großen Mutter‹, ist die ›Wurzel‹ (gen) im Sinne der Quelle von Himmel und Erde (tian di). 96 Dabei weist die Abwesenheit einer dualen Struktur des Männlichen und des Weiblichen im Anfang vermutlich auf eine ältere kosmogonisch-mythische Vorstellung: »There was something undefined and complete, – Before Heaven and Earth existed. – It was still and formless! […] It may be regarded as the Mother of the Universe.« 97 Nach der Erklärung der Zeichen wirkt Kūn wie ein Rind. Vgl. Daodejing, über. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 25 und 27. 97 »Es gibt ein Ding geworden aus dem Chaos Strom, vor Himmel und Erde geboren. Lautlos, oh, leer, oh […] Man kann es als Mutter dessen, was unter dem Himmel ist, bezeichnen.« Daodejing, über. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 85. Beachtlich scheint hier auch der figurative Bezug zu der babylonischen Kosmogonie, wonach die Welt aus dem anfänglich noch nicht geteilten Wasser entsteht: »Time was when what is above was not yet called heaven, the below, earth was not yet named – the ocean, the primeval, their progenitor [and] mūmu Tiamat, the bearer of them all, their waters [still] were gathered together [i. e. there was one mass of water].« W. Muu-Arnolt: A Comparative Study on the Translations of the Babylonian Creation Tablets with Special Reference to Jensen’s Kosmologie and Barton’s Tiamat, in: Hebraica, Vol. 9, 1892, S. 6–23, hier S. 15. Dieses anfänglich noch nicht geteilte Wasser steht in Übereinstimmung mit dem Wasser der Tiefe des Alten Testamentes, tehom, das Casey, wie wir gesehen haben, mit Tiâmat (von tamtu, tiamtu, ›Meer‹), der schöpferischen, alles gebärenden Mutter identifiziert. Catherine Keller entwickelt in ihrem Buch Face of the Deep eine Theologie des Werdens, die eine creatio ex profundis – eine Schöpfung aus den Wassertiefen – vorschlägt sowohl als Alternative zu dem orthodoxen Machtdiskurs der Schöpfung aus Nichts als auch als Figur eines grundlosen Prozesses des Werdens. Die Theologie des Werdens versteht sich als die Artikulation einer tehomischen Theologie: »The heteroglossic Deep –; the Hebrew tehom or primal oceanic chaos – already marks every beginning. […] signifying a fluid matrix of bottomless potentiality, a germinating abyss, a heterogeneous womb of self-organizing complexity, a resistance to every fixed order.« Catherine Keller: Face the Deep. A Theology of Becoming, New York 2003, S. 189. Durch die Zerstörung der Wasser-Göttin Tiamat, ›sie die sie alle geboren hat‹, gelangt Marduk zur Vormachtstellung. Die Beherrschung des Abgründigen und Strukturlosen, aus der sich eine Abgrenzungsbewegung vollzieht, ist aus der Perspektive einer tehomischen Theologie als ein ursprüngliches Vergehen zu betrachten: »a blockage: a habitual obstruction of the originary flow.« Catherine Keller: Face the Deep. A Theology of Becoming, S. 214. Diesen ursprünglichen Fluss gilt es zu restituieren und den durch die männliche Abgrenzung entstan95 96
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Dass das dao ausgehend von dem Daodejing in seiner Gestalt als weibliche Attribute verkörpernde Schöpfungsquelle 98 figuriert wird, ließe sich als eine Dekonstruktion der durch den Konfuzianismus geprägten geschlechtshierarchischen Gesellschaftsordnung und dem damit verbundenen sozio-politischen Werte- und Machtsystem verstehen. So gesehen, stünde es dem Yijing insofern entgegen, als dieses in seiner traditionellen durch die Überlieferungen geprägten Betonung des Lichten, Harten, des Manifesten, männlichen Prinzips und seiner progressiven Sicht auf die Entwicklung von Gesellschaft, Moralität und Zivilisation eindeutig konfuzianischen Charakter hat. 99 Aus dem bisherigen Zusammenhang ist zumindest deutlich geworden, dass sich zwischen dem dao – ausgehend von einigen zentralen metaphorischen Umschreibungen – und Kūn ein Bezug herstellen lässt. Das dao wird wie Kūn mit einem Geburtsorgan verglichen, aus dem durch die Bewegung des Sich-Öffnens und Sich-Schließens eine permanente Transformation vollzogen wird, die mit dem Ausströmen und Zurückströmen der Onta korreliert. Das Tor (men), von dem in Bezug auf das dao die Rede ist, erinnert an die Öffnung von Kūn, dargestellt durch ihre Liniengestalt. Aspekte der Wirksamkeit (de) des dao widerspiegeln Wirkaspekte von Kūn im Yijing: Aufnahmebereitschaft, Durchlässigkeit, Folgsamkeit, Weichheit und Anpassungsfähigkeit. 100 Durch das selektive Prisma verschiedener, in der denen Verschluss aufzulösen, der durchaus im Sinne des Imponierens einer spezifischen Ordnung der Macht in das Gefüge der ursprünglichen Matrix interpretiert werden kann. 98 Wasser und Tiefe vereinigen in ihren weiblichen Qualitäten die höchsten Tugenden (de) des dao: Nachgiebigkeit, Formbarkeit, Anpassungsfähigkeit, Weichheit und Aufnahmefähigkeit. 99 Vgl. Ellen Marie Chen: Tao as the Great Mother and the Influence of Motherly Love in the Shaping of Chinese Philosophy, S. 53 f. 100 Das Prinzip des dao ist es, die Dinge geschehen zu lassen (wuwei), damit sie sich entsprechend ihrer Natur entfalten können, wie es im Passus 37 des Daodejing zum Ausdruck kommt: »Der Sinn ist ohne Machen und nichts bleibt ungemacht.« Richard Wilhelm, zitiert nach Laozi: Der Urtext, übers. u. hrsg. v. Wolfgang Kubin, Freiburg 2014. Dem entspricht die Sentenz aus dem Linienkommentar des Yijing zu Kūn: »Without working at it, nothing he does here fails to be fitting«. Lynn: The Classic of Changes, S. 147. Die daoistische Kernaussage, wonach das dao in seiner Weichheit und Nachgiebigkeit mit dem Wasser verglichen werden kann, dass über alle Widerstände hinwegfließt, ist der Form und Bedeutung von Kūn inhärent. Der Geist des Tals und des Wassers korrespondiert mit dem Weiblichen, das sich dem Lauf der Dinge gegenüber nicht verschließt. Leben ist ein Ausdruck von dynamischer Vielheit. Nur indem Kūn unterschiedslos offen ist, kann sie dieser Vielheit entsprechen und
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Das dao als Mutter der Welt
Figur des dao aufscheinenden Aspekte betrachtet, scheinen die in den Überlieferungen des Yijing negativ behafteten Eigenschaften von Kūn (bzw. des Weiblichen und Mütterlichen) eine Aufwertung in der daoistischen Tradition chinesischen Denkens zu erfahren, nämlich dadurch, dass sie ins Zentrum gerückt werden, wodurch sich die Subordinationslogik gewissermaßen umkehrt. Jedoch bleiben auch die weiblichen Attribute wie Niedrigkeit, Nachgiebigkeit, Weichheit und Aufnahmefähigkeit, die das Daodejing der Figuration des dao unterlegt, in traditionellen Rollenbildern und passiv-weiblichen Schemata befangen. Das Daodejing (re-)affirmiert hiernach zugleich die mit dem Weiblichen traditionell assoziierten Aspekte, obwohl es die damit verbundene Rechtfertigungsstrategie der Subordination umdreht, indem es diese Aspekte als die im Angesicht der Wirksamkeit des dao wesentlichen Qualitäten setzt und sie damit gewissermaßen aufwertet. Es parodiert mittels dieser Strategie über die traditionelle Konstruktion der Figur des Herrschers die mit ihm verbundenen Eigenschaften und den durch ihn gesetzten gesellschaftspolitischen Machtapparat. Die Wiederaufnahme des Yijing durch die Dynamik von Kūn hat gezeigt, dass die Unterordnung von Kūn und ihre Bestimmung als das Sich-Fügende nicht mit der den Zeichenbildern inhärenten Bewegung übereinstimmt, sondern Teil eines auf der In-Formation der Zeichen basierenden Machtdiskurses bildet, der darauf abzielt, eine spezifische Gesellschaftsordnung zu etablieren. Dieser Machtdiskurs und die darauf basierende Gesellschaftsordnung wird durch die radikale Offenheit von Kūn von innen heraus dekonstruiert. Für die Differenz zwischen der Affirmation der weiblich generativen Kraft im Daodejing und seiner Negation in den Überlieferungen des Yijing hat sich der jeweils unterschiedliche Fokus auf die Rückkehrbewegung einerseits und die Wiederkehrbewegung andererseits als maßgeblich erwiesen. Auf der Ebene der Analytik der Zeichen zeigte sich jedoch, dass die Dynamik von Kūn beide Bewegungsformen gleichermaßen bestimmt und zu einem zusammenhängenden Ganzen integriert. Dieses integrative Potential von Kūn widerspricht einer gegensatzbildenden Spaltung und Unterscheidung: Qián ist nicht gedient sie dem ›Edlen‹ als Vorbild, wie dies in der Überlieferung des Bildes zum Ausdruck kommt: »Der Edle trägt [gemäß der Wirkmacht von Kūn] mit seiner umfangreichen ethischen Kraft die [Seins-]Gegenstände.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 39.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
trennt von Kūn, sondern die ihr inhärente Bewegungs- oder Verortungsrealisation. Keine Form hat eine Eigenexistenz getrennt von dem Fluss (reiner Wandlung) und gleichermaßen bleibt der Fluss (reiner Wandlung) nicht formlos, sondern gewinnt an Form und verliert an Form: »Life is a continuation of death, and death is the beginning of life.« 101
6.
Frucht und Wirklichkeit
Obschon einige Metaphern oder Bilder, welche dem dao im Kontext des Daodejing unterlegt werden, um seine Wirkkraft zu beschreiben, in einem Zusammenhang mit der Dynamik und Wirkkraft von Kūn gesehen werden können, 102 bringt die Identifikation von Kūn mit dem ›Leeren‹ bzw. der ›Leere‹ – im Daodejing wird das dao auch als ›Gipfel der Leere‹ 103 und ›leeres Gefäß‹ 104 (chong) bezeichnet – oder dem Nicht-Sein 105 bzw. der Negativität 106, wie bei Wang Bi, einige Schwierigkeiten mit sich. Während der Begriff des ›Leeren‹ (xu) ein Volumen impliziert, setzt der Begriff der ›Negativität‹ oder des ›Nicht-Vorhandenseins‹ (wu) eine radikale Differenz zwischen dem, worauf die zehntausend Wesenheiten beruhen, und den Wesenheiten selbst. 107 Was letzteres angeht, wurde bereits im Kontext des Zeichens Zitiert nach David Loy: On the Meaning of the I Ching, in: Journal of Chinese Philosophy, 14, 1987, S. 39–57, hier S. 42. 102 Darunter die Konnotation des dao als eine weibliche ›Uröffnung‹, aus welcher die Wesenheiten geboren werden, welche die Wesenheiten nährt und wohin die Wesenheiten zurückkehren: Die Konnotation des dao als ›Mutter‹ der Welt. 103 Vgl. Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 53. 104 Vgl. Daodejing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 21. 105 Nach Wang Bi werden, wie wir gesehen haben, das Dasein oder die Wesenheiten (you) aus dem Nicht-Sein oder besser der primordialen Leere, der Negativität (wu) erzeugt. Vgl. Ellen Marie Chen: In Praise of Nothing: An Exploration of Daoist Fundamental Ontology, S. 107. 106 Wie wir im Kontext des Zeichens der Wiederkehr gesehen haben, benutzt Wang Bi den Terminus ›Negativität‹ (wu), um die Eigenschaftslosigkeit und Form- sowie Namenlosigkeit, dessen, worauf die zehntausend Dinge beruhen oder wodurch sie sind, d. h. seine radikale Differenz in Bezug auf das Dasein oder die Wesenheiten (you) zu unterstreichen. 107 Es wurde bereits im Kontext von Chora als dem Raumgebenden darauf hingewiesen, dass eine Identifikation des Raumgebenden mit dem buddhistischen Konzept der ›Leerheit‹ (shûnyatâ) problematisch ist. Nach der buddhistischen Lehre ist die Welt leer, weil sie keine Substanz hat und es kein Substrat gibt, kein Wesen wodurch die 101
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Frucht und Wirklichkeit
der Wiederkehr die Kritik angesprochen, die an Wang Bi geübt wurde, nämlich, dass Wang Bi die Rückkehr primär als eine Rückkehr der Dinge zu dao im Sinne der ›primordialen Leere‹ denkt und nicht auch als eine Rückkehr des dao als eines ›generativen Prinzips‹ zur Welt. 108 Wird dao als ›Mutter von allem unter dem Himmel‹ verstanden, dann bringt dao nicht nur alle Dinge hervor, sondern unterstützt, nährt und trägt sie auch ohne Unterlass, d. h. es bleibt nicht – auch nicht in seinem Rückzug und seiner Verborgenheit – abgekehrt von der Welt der Erscheinungen. 109 Eben dieser mütterliche Aspekt, welcher in dem Hervorbringenden das Unterstützende, Nährende und Tragende betont, spielt auch im Hinblick auf die Frage der Beziehung zwischen Kūn (im Sinne der Wirkkraft der Erde) und den Wesenheiten eine Rolle. Mütterlich verstanden, ist die Quelle aller ›Erscheinungen‹ oder aller ›Wesenheiten‹ nicht von den ›Erscheinungen‹ oder ›Wesenheiten‹ abgekehrt, unberührt oder getrennt. Was den Begriff des Leeren (xu) angeht, so hat dieser in der Ausgestaltung des Denkens des Yijing in der Song-Zeit an Bedeutung gewonnen: zum Beispiel in dem Werk Rechtes Auflichten 110 von Chang Tsai, der den Versuch unternimmt, die sinnlich-wahrnehmbare Wirklichkeit auf ein zugrundeliegendes Substrat zurückzuführen. Dabei wird der für das Werk zentrale Begriff der ›Größten Leere‹ mit der Luft 111 (›Pneuma‹), dem Welt getragen wird. In dem Begriff des Raumgebenden wird ein Geben impliziert, das nicht im einer Entsubstanzialisierung (wie in dem buddhistisch verstandenen Begriff der Leere), oder einem Entzugsgeschehen (wie in dem postmodernen Begriff der Differenz) aufgeht. Mit dem Gedanken, dass die Welt ›leer‹ ist, geht zugleich eine Entlarvung (und damit auch eine Abwertung) der empirischen Wirklichkeit als einem bloßen Schein einher. 108 Da in den Überlieferungen des Yijing überwiegend der Gedanke der Wiederkehr des Lichten – sofern dieses mit Qián korrespondiert – positiv gesehen wird, wurde mit Wang Bi zunächst auf das Maßgebliche der Rückkehr verwiesen, ohne die eine Wiederkehr des Lichten nicht möglich wäre. Dass sowohl die Rückkehr als auch die Wiederkehr die intrinsische Bewegungsdynamik von Kūn bilden, ist hinreichend dargestellt worden. 109 Vgl. Ellen Marie Chen: In Praise of Nothing: An Exploration of Daoist Fundamental Ontology, S. 109. 110 Chang Tsai: Rechtes Auflichten / Cheng-meng, übers. aus dem Chinesischen, mit Einleitung und Kommentar versehen und herausgegeben von Michael Friedrich, Michael Lackner und Friedrich Reimann, Hamburg 1996. In seiner Auseinandersetzung mit den kanonischen Texten des Konfuzianismus und dem Bemühen diesem eine neue Verbindlichkeit und Gültigkeit zu verleihen, bildet das Cheng-meng von Chang Tsai einen wesentlichen Beitrag zum Neokonfuzianismus. 111 Indem die ›Luft‹ sich zum Bereich des ›Lichten‹ formt, tritt sie in einen Prozess ein,
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
Licht 112, dem Geist 113 und dem Himmel 114 gleichgesetzt. Dem Begriff des Leeren (xu) oder des Nicht-Gefüllt-Seins lässt sich der Begriff des ›Zur-Frucht-Gekommen-Seins‹ (shi實) gegenüberstellen. Der Begriff shi wird teilweise als ›Substanz‹ oder ›Wirklichkeit‹ übersetzt. Dabei der den Übergang zur gestalthaften Wirklichkeit ausmacht, anderseits trägt sie zugleich diese Wirklichkeit. Obschon die Luft als Substrat auch den ›dunklen‹ Bereich (die passive, zurückweichende yin-Kraft, d. h. die sinkende, trübe und schwere Luft) ausmacht, ist sie allein durch die Funktion bestimmt den ›lichten‹ Bereich zu ermöglichen und aus sich heraustreten zu lassen (die dann wiederum das ›Dunkle‹ aus sich heraustreten lässt). Die Luft bestimmt Chang Tsai insofern als die ›Größte Leere‹ oder den ›Himmel‹ im Sinne der alles in sich tragenden Einheit. Vgl. Chang Tsai: Rechtes Auflichten, Analytischer Kommentar, S. 145 f. 112 Die Lichtmetapher dient Chang Tsai dazu die reine Identität des Geistes zu verdeutlichen: Als unbestimmte Leere ist der Geist Grund aller Bestimmungen des ›lichten‹ Bereiches und damit reines Licht. Als die Einheit dessen, was ›Licht‹ gibt, d. h. den lichten Bereich hervorbringt, und dessen, was ›Licht‹ empfängt, d. h. den ›lichten‹ Bereich in sich trägt, gleicht er einem Spiegel, der selbst Quelle des Lichtes ist. Er ist die – durch keine Differenz getrübte – allgegenwärtige Präsenz und als Ursprung aller Besonderungen Inbegriff von Bewegung in der gestalthaften Wirklichkeit. Vgl. Chang Tsai: Rechtes Auflichten, Analytischer Kommentar, S. 163. 113 Als unendliche Fülle unendlicher Bestimmungen ist der Geist nach Chang Tsai ohne reale Bestimmung und damit vollkommene Leere und in dieser Hinsicht nicht von der ›Größten Leere‹ zu unterschieden. Dem Geist entspricht die absolute und nicht durch Gegensätze bestimmte ›Größte Leere‹. Vgl. Chang Tsai: Rechtes Auflichten, Analytischer Kommentar, S. 148 f. 114 In seinen Bestimmungen von Qián und Kūn weicht Chang Tsai nicht von der Hermeneutik der Macht der Überlieferungen des Yijing ab, bzw. geht gewissermaßen sogar noch darüber hinaus: Qián ist als das erste Zeichen, das alle anderen Zeichen in sich enthält, zu betrachten und bezeichnet analog zu den 64 Zeichenmustern – als Abbild der Gesamtwirklichkeit – die reine Wirklichkeit, aus der jede bestimmte Wirklichkeit hervorgeht. Kūn hingegen ist als die komplementäre Entsprechung zu Qián im Sinne der alle Besonderungen der reinen Wirklichkeit tragenden und ihr gegenüber offenen, Möglichkeit zu sehen. Qián und Kūn stellen nach Chang Tsai die beiden Aspekte der Prozesshaftigkeit des ›Einfachen‹ dar, wobei der Modus der unendlichen Fortbestimmung der reinen Wirklichkeit das ›Erkennen‹ ist. Während Qián die Seite des sich auf sich selbst richtenden, in sich selbst den Gegensatz setzenden ›Erkennens‹ des Einfachen ist und in diesem Erkennen die bestimmte Wirklichkeit produziert, ist Kūn das diesem Erkennen gegenüber ›Offene‹, welches das durch Qián erkannte als sein ›Gesetz‹ aufnimmt und es in die bestimmte Wirklichkeit austrägt. Vgl. Chang Tsai: Rechtes Auflichten, Analytischer Kommentar, S. 147 f. An dem die Wirklichkeit begründenden Himmel werden von Chang Tsai der Aspekt der absoluten Identität als Geist oder ›Himmelstugend‹ und der Aspekt der relationalen, die Prozesshaftigkeit des ›Wandels‹ auszumachenden Identität des ›Weges‹ bzw. des ›Einfachen‹ aufgezeigt und als vom allgemeinen Substrat der ›Luft‹ getragene ›Gliederung‹ bzw. ›Wirkung‹ einander gegenübergestellt. Der Mensch hat sich wiederum darum zu bemühen, das in der absoluten Identität des Geistes begründete Wesen,
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Frucht und Wirklichkeit
ist die Übersetzung dieses Begriffes als ›Substanz‹ und teilweise auch als ›Wirklichkeit‹ irreführend, sofern seine Verbindung zu dem ›Wandel‹ bzw. dem ›Prozesscharakter‹ dabei verloren geht: Der Begriff shi im Sinne des ›Zur-Frucht-Gekommen-Seins‹ oder dem ›eine Frucht gebildet haben‹ meint nicht nur das Resultat eines Vorganges, sondern auch den Vorgang selbst, d. h. ein Vollwerden, und zwar in dem Sinne eines Keimes, der wächst, indem er räumliche Grenzen ausfüllt. 115 Im organischen Sinne meint shi das Füllen des Raumes, dadurch, dass etwas wächst und dabei seine Konturen erweitert. Das Füllen impliziert also kein Zugeben an Substanz in ein Aufnahmebehältnis, das an sich eine feststehende Gestalt hat, sondern den Vorgang des Ausfüllens des Raumes, wie ein Samen, der zur vollen Frucht heranwächst (zur Reife, zur Erfüllung oder Verwirklichung kommt). 116 Der Begriff shi zielt damit eher auf die ›Wandlung‹ : Im Sinne des ›Zur-Frucht-Kommens-und-Gekommenseins‹ (dem Prozess der Erfüllung oder Verwirklichung) deutet shi auf einen Wachstumsvorgang und damit einhergehend auf eine wachsende Ausfüllung des Raumes. Ausgehend von dem Begriff shi, erhält der Begriff der ›Leere‹ andere Konturen: ›Leere‹ bezeichnet dann nicht das ›Nicht-Sein‹, sondern vielmehr den Zustand, in dem etwas noch nicht zur Erfüllung gekommen ist, d. h. noch nicht zu einer Frucht herangewachsen ist, bzw. gebildet wurde. 117 Die Wirklichkeit im Sinne der (prozessual verstandenen) Verwirklichung hängt mit dem ›ZurFrucht-Kommen‹, bzw. dem ›Zur-Frucht-Gekommen-Sein‹ zusammen, welches zugleich ein räumliches Werden impliziert. Erst was zu einer Frucht ausgebildet wurde, hat eine Wirkung und kann Aufschluss über sein Wesen geben: Frucht, Wirkung und Wirklichkeit gehen zusammen. Im Hinblick auf das Verhältnis von Kūn und Qián würde Kūn als dem Generativen die Fähigkeit des ›Zur-Frucht-Bringens‹ entsprechen, während Qián – im Sinne des ersten sichtbaren Resultates des welches der relationalen Identität des ›Weges‹ bzw. des ›Einfachen‹ entspricht, in sich freizulegen und damit zu vollenden. Vgl. Chang Tsai: Rechtes Auflichten, Analytischer Kommentar, S. 163. 115 Vgl. Jane Geaney: On the Epistemology of the Senses in Early Chinese Thought, Honolulu 2002, S. 109. 116 Vgl. Jane Geaney: On the Epistemology of the Senses in Early Chinese Thought, Honolulu 2002, S. 110. 117 Vgl. Jane Geaney: On the Epistemology of the Senses in Early Chinese Thought, Honolulu 2002, S. 118.
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Teil IV – Das uneingeschränkt Offene: Die Dynamik von Ku¯n
Wandlungsvorganges von Kūn – dem Stadium des ›Zur-Frucht-Gekommen-Seins‹ entspräche. Qián bildet, wie wir gesehen haben, nicht das Prius der Wandlungen, sondern im Kontext der herausgestellten Dynamik von Kūn, das ›strahlende Exempel‹ für die vollkommen ausgebildete Erscheinungsform, d. h. in den Worten des Yijing die reife ›Baumfrucht‹ 118, die sich über mehrere Stufen der ›Intensivierung des Erscheinungsgrades‹ ausgehend von Kūn entwickelt hat. Die Wiederkehr des Lichten – das mit Qián assoziiert ist – wird in den Überlieferungen des Yijing im Sinne der Wiederkehr des Lebens, der Fülle und des Wachstums zelebriert, jedoch muss Kūn als die generative und auch regenerative Macht in diesem Vorgang des Wachstums angesehen werden, d. h. als dasjenige, was die Verwirklichung der Formen – die Vollendung der Frucht – vollzieht, und das die Formen nährt und trägt und sie wieder zurückkehren lässt, bzw. sie wieder in sich zurücknimmt.
118
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 513.
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Das Ethos des Unverfügbaren
1.
Ku¯n, Chora und Physis
Im Folgenden sollen die zentralen Eigenschaften von Chora und Physis mit Blick auf das Ethos des Unverfügbaren noch einmal aufgegriffen werden. Dabei sollen nicht nur die Gemeinsamkeiten, sondern auch die Unterschiede zwischen Kūn, Chora und Physis hervorgehoben und auf Schwierigkeiten hingewiesen werden. Die Herausstellung von Chora als das Raumgebende und Physis als unscheinbarer Fügung bildete zunächst eine Basis der phänomenologischen Annäherung an die Gestalt von Kūn im Sinne des uneingeschränkt Offenen und ein mögliches Verständnis für die spezifische Wirkkraft von Kūn, welche sich in dieser Gestalt anzeigt und deren Ausdifferenzierung zu dem Ethos des Unverfügbaren führt. 1 Mit der Entfaltung des Chora und Physis eigentlich inhärenten Potentials konnten zugleich die Bruchstellen und Einschränkungen der Rahmenbedingungen des Denkens, in welche diese Figuren eingebunden sind, sichtbar gemacht und hinterfragt werden. Sowohl Chora als auch Physis können in Bezug auf Kūn als Indikationsfiguren für einen Ortswechsel des Denkens betrachtet werden, dessen Vollzug einen neuen Horizont eröffnen soll. Dieser Vollzug ist notwendig, sofern sich erst durch die Perspektivveränderung Möglichkeiten der Transformation ergeben, die unter den vorherigen Bedingungen nicht möglich gewesen wären. Dabei ergab sich in der Analyse der Ausgangssituation – insbesondere von Chora und Kūn – eine gewisse Parallelität, die mit der Eingrenzung des weiblichen Potentials dieser Figuren innerhalb eines Systementwurfes zusammenhängt. Die problematische Einbettung von Chora – als passiv-weiblichem Behältnis – in Platons KosDas Ethos zeigt sich in der spezifischen Wirkweise von Kūn, Chora und Physis und kann zugleich als eine Konsequenz der Reflexion über den Stellenwert und die Bedeutung dieser Wirkweise (mit Bezug auf den Menschen) betrachtet werden.
1
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Das Ethos des Unverfügbaren
mologie hat einen Charakter, der in der Analyse des Dialogs als symptomatisch sichtbar gemacht werden konnte, während die Herausstellung des ›dekonstruktiven‹ Potentials von Chora, einige ihrer Aspekte in den Vordergrund treten lassen hat, die sie von ihrer ursprünglichen Determination abgehoben haben und eine andere Dynamik ins Spiel brachten. Dabei war für die Annäherung an den Gedanken des Ethos des Unverfügbaren vor allen Dingen die spezifische Wirkweise bzw. die intrinsische Dynamik von Chora ausschlaggebend: nämlich, dass sie durch ihr Zurückweichen jeglichem Seienden zuallererst einen Raum gibt und derart dem Kosmos als dessen Erscheinungsbedingung vorausliegt. Diese Perspektive erweiterte sich, indem gezeigt werden konnte, dass Chora den Raum nicht nur gibt, sondern ihn auch schafft, d. h., dass Chora in ihrer weiblichen Generativität eine aktive Rolle in der Hervorbringung des Kosmos – dem Werden und Vergehen des Seienden – zukommt und dabei gewisse Aspekte ihrer Dynamik wie Sich-Öffnen und Sich-Schließen – vor dem Hintergrund ihrer Rückbindung an mythische und kultische Vorstellungen der Erde und des Erdkultes in der griechischen Antike – wieder aufgegriffen werden konnten. Im Folgenden sollen zunächst die Parallelitäten in der Ausgangssituation von Chora und Kūn – ihre jeweilige Einbettung in ein Denkschema, das ihr eigenes Potential einschränkt und zugleich die Logik der Macht dieses Systems stützt – nachgezeichnet und hervorgehoben werden. Auch gilt es das Potential von Chora mit Blick auf den Gedanken des Ethos des Unverfügbaren zu unterstreichen. Schlussendlich gilt es auf Unterschiede, Schwierigkeiten und Begrenzungen von Chora hinzuweisen. Wie wir gesehen haben, konzipiert Platon die Figur der Chora, um die Kluft, welche ausgehend von dem oppositionellen Gefüge einer metaphysischen Spaltung zwischen dem Bereich des Seins und dem des Werdens aufklafft, methodisch zu verschließen. Der Hintergrund dafür ist die Erkenntnis Platons, dass alles Seiende (qua Seiendes) sich notwendigerweise an irgendeinem Ort befinden und irgendeinen Raum einnehmen muss, wofür es eben der Chora bedarf, die dem Seienden einen Raum gibt. Um diese Funktion – dem Seienden einen Raum zu geben – erfüllen zu können, darf Chora selbst keine eigene Form oder Bestimmung haben, sondern muss rein empfänglicher Natur sein. 2 Wie wir gesehen haben, beschreibt Platon diese Dass Chora selbst keine eigene Form und Bestimmung haben darf, bedeutet im Denken Platons, dass sie einer anderen Logik – nämlich letztlich der Logik des intelli-
2
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Ku¯n, Chora und Physis
rein empfängliche Natur der Chora mittels unterschiedlicher Bilder: »Amme des Werdens«, 3 »Mutter«, 4 »Gefäß«, 5 »Behältnis«, 6 »gestaltloses, allaufnehmendes Gebilde«, 7 »Prägemasse«, 8 »Abdruckträgerin«. 9 Das Verhältnis zwischen der Chora, dem intelligiblen Sein und dem Werden vergleicht Platon mit einer dreifachen Ordnung der Zeugung und Geburt. Hiernach entspricht Chora als »Worin des Werdens« 10 der Platz der Mutter, dem intelligiblen Sein als »Woher des Werdens« 11 der Platz des Vaters und dem Werden der Platz des »Sprösslings« 12. Nach Platon empfängt Chora die Imprägnierungen des intelligiblen Seins in sich und trägt dieses in Form des Werdenden aus. Die ungestalteten und unsichtbaren Lebewesen werden in die Chora – die, wie wir gesehen haben, einen intrinsischen Bezug zur Gebärmutter aufweist – wie in einen noch unbestellten Acker ausgesät und von dort aus ans Licht gebracht. 13 Folgt man Platon in seinen Ausführungen, fungiert Chora im Kontext seiner Kosmologie als eine Matrix, die, mit passiv-weiblichen und mütterlichen Eigenschaften ausgestattet, den Imprägnierungen des intelligiblen Seins – welches als sich selbstgleiches und unwandelbares nicht rezeptiv ist – einen Erscheinungsraum bietet, worin sich Werden und Vergehen vollziehen können. Eine ähnliche Zuschreibung von passiv-mütterlichen Eigenschaften – wie Empfänglichkeit, Fügsamkeit, Aufnahmefähigkeit, Weichheit, Formbarkeit etc. – findet sich in der Konzeption von Kūn in den Überlieferungen des Yijing. In ihren mütterlichen und passivweiblichen Eigenschaften – ausgedrückt durch das Sich-Fügen – erfüllt Kūn in den Überlieferungen des Yijing die Funktion der sichtbaren Ausgestaltung der Anregungsimpulse des Himmels: Kūn, dem giblen Seins unterworfen ist bzw. von dieser bestimmt wird. Zugleich liegt in diesem Gedanken auch die Möglichkeit einer Dekonstruktion, sofern Chora sich in ihrer vollkommenen Bestimmungslosigkeit jeglicher Bestimmbarkeit entzieht. 3 Platon: Timaios, 49a. 4 Platon: Timaios, 51a. 5 Platon: Timaios, 49a. 6 Platon: Timaios, 49a. 7 Platon: Timaios, 51a. 8 Platon: Timaios, 50e. 9 Platon: Timaios, 50e. 10 Platon: Timaios, 50d. 11 Platon: Timaios, 50d. 12 Platon: Timaios, 50d. 13 Platon: Timaios, 91d.
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Das Ethos des Unverfügbaren
Sich-Fügen der Erde, entspricht in der kosmologischen Rangordnung der Überlieferungen der Platz der Mutter, Qián, dem Walten des Himmels, der Platz des Vaters. Von Qián geht, wie dies aus der Überlieferung des Urteils hervorging, ein Impuls, eine Anregung aus: Shi verweist auf Qián als initiatorisches Vermögen 14, als dasjenige von dem ausgehend die Lebewesen entstehen, und zwar im Sinne ihrer Abstammung, ihrer Erzeugung und ihrer Identität. Als rezeptives Vermögen 15 wird Kūn von diesem ursprünglich von Qián ausgehenden Impuls angeregt, sie setzt den von Qián ausgehenden Anstoß fort, indem sie die Lebewesen gebiert: Sheng hängt mit dem Ort der Geburt zusammen, als dasjenige, woraus die Lebewesen entstehen. 16 Das Schema der Geburt und Zeugung in den Überlieferungen des Yijing ähnelt demjenigen in Platons Timaios, sofern in beiden Fällen eine weibliche Kraft durch die ihr zugeschriebenen passiven Eigenschaften (Empfänglichkeit, Aufnahmefähigkeit, Formbarkeit, Fügsamkeit etc.) die Funktion erfüllen soll, der materiellen Realisation des durch ein männliches Prinzip erzeugten ›Zeugungs- oder Schöpfungsimpulses‹ zu dienen. Sowohl im Fall der Überlieferungen des Yijing als auch in der platonischen Kosmologie fungieren Kūn und Chora in dieser Funktion – der Subordination – zugleich als die Möglichkeitsbedingung für die Instandsetzung und Aufrechterhaltung eines spezifischen Systems der Macht und Logik, und nehmen – dem Schema einer hierarchischen Familienordnung folgend – eine untergeordnete oder zweitrangige Rolle in der Hervorbringung des Kosmos ein. Ähnlich wie Kūn eignet jedoch auch Chora ein ihr selbst inhärentes ›Dekonstruktionspotential‹, das die feststehende Ordnung der Kosmologie Platons in Frage stellt. Das Motiv der Chora kann als Versuch betrachtet werden, hinter den voraussetzungslosen Anfang der Metaphysik zurückzugehen. Mit der Einführung dieses Terminus ist Platons Denken, wie insbesondere Jacques Derrida gezeigt hat, über sich selbst hinausgegangen. Weder dem Bereich des Sinnlichen, noch dem des Intelligiblen angehörend, ist Chora, wie Derrida sagt, letztlich eine leere Stelle, eine klaffende Öffnung, ein Abgrund, was dem ursprünglichen Sinn des griechischen Wortes Chaos ent-
14 15 16
Vgl. Jullien: Denkzugänge, S. 34. Vgl. Jullien: Denkzugänge, S. 34. Vgl. Kapitel II.
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Ku¯n, Chora und Physis
spricht. 17 Das Potential der Chora lässt sich jedoch nicht nur dekonstruktiv, sondern auch phänomenologisch deuten. Obwohl bei Platon eine radikale Phänomenologie nicht stattfinden kann, sofern die der ontischen Situation angehörenden Gestalten letztlich von den dem phänomenalen Bereich entzogenen Ideen (und ihrer arche-typischen Bestimmungsinstanz) getragen sind, legt er nolens volens die Grundlage des dekonstruktiven Potentials der Chora, wenn er sagt, dass dasjenige, was alle Formen aufnehmen soll, notgedrungen von jeglicher Form frei sein muss. 18 Radikalisiert man diesen Gedanken Platons, kann Chora mit einer phänomenologischen Vorbedingung des Erscheinens verglichen werden. Phänomenologisch betrachtet wäre Chora demnach nicht als ein aufnehmender Raum zu denken, sondern vielmehr das durch die Bewegung des Zurückweichens Raumgebende. Dabei ließe sich auf eine generelle Struktur schließen: Das Moment der wesensmäßigen Form- und Bestimmungslosigkeit der Chora lässt sich (phänomenologisch betrachtet) nicht nur auf die Möglichkeitsbedingung der Denkbarkeit von Seiendem gemäß einem metaphysischen Oppositionsverhältnis reduzieren. Es trägt eine zugleich phänomenologische und ontologische Potentialität in sich, vermittelst derer die sichtbare Welt zur Erscheinung gebracht werden kann ohne metaphysischen oder sogar realontologischen Kontinuitätsbruch. Alles erscheint durch Chora, sie selbst erscheint jedoch als solche nicht, sondern ermöglicht das Erscheinende gerade durch ihre wesensmäßige ›Unscheinbarkeit‹. Form- und Bestimmungslosigkeit bilden demnach keine Einschränkung, sondern die Voraussetzung für die Öffnung von Chora, aber nicht im Sinne eines (zu informierenden) Hohlraumes, sondern im Sinne einer Bewegung des zurückweichenden Raumgebens. In dem Geschehen des zurückweichenden Raumgebens öffnet sich, d. h. ereignet sich Welt. Die Bewegung des Zurückweichens der Chora, damit die Welt sich öffnen und ereignen kann, ist für den Gedanken des Ethos des Unverfügbaren relevant: Denn nur indem Chora zurückweicht – selbst keine eigene Form und Bestimmung hat –, kann sie der Vielheit aller Bestimmungen und Formen stattgeben. Vor dem Hintergrund des Raumgebenden ließe sich auch die Gestalt von Kūn deuten, deren Dynamik eine uneingeschränkte Offenheit eignet. Diese uneingeschränkte Offenheit ist Voraussetzung 17 18
Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 33. Vgl. Platon: Timaios, 50d.
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Das Ethos des Unverfügbaren
für das Gegebensein der Vielheit des Lebendigen: Wäre Kūn nicht uneingeschränkt offen, könnte sie die Vielheit des Lebendigen nicht ermöglichen. 19 Dabei bedeutet die uneingeschränkte Offenheit von Kūn – genauso wenig wie das Raumgebende der Chora – keine bloß passive Empfangsbereitschaft oder Aufnahmefähigkeit, sondern umgekehrt gerade ein Zeichen ihrer unendlichen Generativität, ihrer Hervorbringungskraft. Die uneingeschränkte Offenheit von Kūn kennzeichnet ein Vermögen. Gerade vermöge ihrer uneingeschränkten Offenheit – die sozusagen selbst von jeder spezifischen Form frei ist – kann Kūn die Vielfalt aller Formen – die Mannigfaltigkeit des Lebendigen – ermöglichen. Dieses Vermögen – Möglichkeitsbedingung der erscheinenden Vielfalt zu sein – besagt nicht die Fähigkeit des Aufnehmens der Formen oder die bloße Bereitschaft, etwas in sich zur Gestalt zu bringen, sondern eben Hervorbringungskraft – das Vermögen der Generativität. Dieses Vermögen beinhaltet im Grunde genommen eine dreifache Bewegung: Hervorbringung, Nährung und Zurücknahme (etwas, das vor dem Hintergrund der Rückbindung der Wirkkraft dieser Figuren zur Erde verständlich wird). 20 Dass die Wirkkraft von Kūn nicht nur intrinsisch mit dem Räumlichen (ein Aspekt, der in der platonischen Chora dominiert und auch in der Ausgangssituation der Überlieferungen des Yijing mit Kūn identifiziert ist), sondern auch mit dem Zeitlichen, mit der Kraft des Werdens und des Vergehens zusammenhängt, hat sich bereits in dem Spruchwerk gezeigt und wurde durch die Analyse der Dynamik von Kūn graphosemantisch kenntlich gemacht. Dieses umfänglichere Wirkspektrum konnte mit Blick auf Chora teilweise wieder eingeholt werden durch die Integration ihrer weiblichen Hervorbringungskraft. Die weibliche Hervorbringungskraft von Chora kommt in ihrer phänomenologischen Deutung jedoch kaum zur Geltung und wird ausgehend von ihrer dekonstruktiven Interpretation konsequent zurückgewiesen. Als Chiffre postmodernen Denkens kann Chora nicht mit einer weiblichen Hervorbringungskraft ausgestattet sein. Die Eigenschafts- und Bestimmungslosigkeit von Chora, d. h. der Gedanke Platons, dass dasjenige, was alle Formen in sich aufnehmen soll, notwendigerweise von jeglicher Form frei sein muss, könnte man in der Gestalt von Kūn im Sinne der uneingeschränkten Offenheit sehen. Darin würde sich zugleich der paradoxale Charakter einer Nicht-Figur des Erscheinens nachvollziehen lassen, die sich zeigt, indem sie sich verbirgt. 20 Dieses Dreifache des hier gezeigten Vermögens zeigt sich in ganz unterschiedlicher Weise bei Chora, Physis und Kūn. 19
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Ku¯n, Chora und Physis
Vor dem Hintergrund dessen, dass Chora weder dem Sinnlichen noch dem Intelligiblen angehört und damit kein Zugrundeliegendes, sondern ein radikal Anderes und letztlich jeder essentiellen Bestimmung sich entziehendes Außerhalb bildet, müsste mit Derrida auch jegliche Identifikation der Chora mit dem Mütterlichen oder Weiblichen zurückgewiesen werden. So deckt die dekonstruktive Annäherung die radikale Andersheit von Chora zwar auf (wodurch diese gewissermaßen herausgelöst werden kann aus ihrer schematischen Bindung und Logik der Unterordnung), gleichzeitig wird sie jedoch noch weiter und drastischer eines jeglichen Sinnes entleert. Derrida kritisiert in Bezug auf die Rezeption von Platon, dass der Diskurs über Chora zwar eine mise en abîme des Ganzen im Timaios ausführlich entwickelten metaphysisch-kosmologischen Lehrgebäudes darstellt, sich aber dasjenige, was sich durch den differenziellen Aspekt der Chora öffnet, durch die Zurückführung der Chora auf Metaphern des Weiblichen zugleich wieder schließt, sofern diese wiederum eine Logik der Binarität einführen. 21 Die feministisch orientierte Relektüre 22 des Timaios hat im Gegensatz dazu gezeigt, dass es (entgegen Derrida) gerade die ontische Körperlichkeit des Mütterlichen und Weiblichen wieder in das Denken der Chora einzuführen gilt, um seine Wiederaneignung für die feministische Philosophie zu ermöglichen. Sofern die weibliche Generativität oder Hervorbringungskraft der Chora wesentlich an die reproduktive, mütterliche Funktion gebunden ist, müsste jeder Versuch, den Wert von Chora für die feministische Philosophie festzustellen, die irreduzible mütterliche Rolle in Platons Schöpfungsgeschichte ernst nehmen und auf die richtige Weise erfassen. 23
Vgl. Jacques Derrida: Über den Namen, Drei Essays, hrsg. v. Peter Engelmann, S. 140 f. 22 Julia Kristeva hat sich auf Chora in ihrer linguistischen, psychoanalytischen Untersuchung des Semiotischen bezogen, um den mütterlichen Körper zu beschreiben. Auch Luce Irigaray, Judith Butler und Elizabeth Grosz haben den Timaios hinsichtlich seiner Produktion und Designierung des Weiblichen und des Mütterlichen analysiert. Emanuela Bianchi zeigt in ihrem wegweisenden Aufsatz, dass Chora nicht nur als eine gewalttätige Abstraktion und Enteignung weiblicher Körperlichkeit betrachtet werden muss, sondern durch eine kritische Wiederannäherung als ein produktives Terrain entdeckt werden kann, welches ein feministisches Neu-Denken von Räumlichkeit, Körperlichkeit, Figuralität, Temporalität und Leben ermöglicht. Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 126. 23 Vgl. Emanuela Bianchi: Receptacle/Chōra, S. 137. 21
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Das Ethos des Unverfügbaren
In diesem Kontext wurde gezeigt, dass Chora nicht nur hervorbringend als Raum ist, sondern vor dem Hintergrund ihrer wiederherzustellenden Beziehung zum Mütterlichen, die Hervorbringung des Raumes selbst: Chora schafft, erzeugt und eröffnet den Raum, sie stellt ihn nicht lediglich zur Verfügung. 24 Chora ist in diesem Sinne nicht nur nährend und aufnehmend, sondern zugleich hervorbringend, zwei sich wechselseitig bedingende Aspekte, die sich letztlich nicht voneinander trennen lassen. Dies zeigt sich in dem ursprünglichen Bedeutungsspektrum des Begriffes der Matrix, die begrifflich und historisch nicht nur als nutrix (als weibliche Ernährerin und Amme), sondern auch als generatrix betrachtet wurde. 25 Die Verbindung dieser beiden Begriffe weist darauf hin, dass es keinen verfügbaren Raum in der Matrix gibt, der darauf wartet, die väterliche Erzeugung zu unterstützen; Raum ist vielmehr dasjenige, was die Matrix-Chora ermöglicht, was hergestellt wird durch den Akt des Beherbergens und des gastfreundlichen Aufnehmens des Mütterlichen. 26 Die Matrix ist somit kein bloßer Behälter, aus dem alles stammt, sie selbst besitzt eine schöpferische Dimension: »In its literal sense of ›uterus‹ or ›womb‹, the matrix is the generatrix of created things: their mater.« 27 Nicht zufällig ist das Wort ›Materie‹ entlehnt aus dem lat. Wort materia 28, einer Ableitung von dem lat. Wort mater. Im Ursprung des Begriffs ›Materie‹ zeigt sich die Auffassung von der ›Mutter Erde‹, die das Leben gibt und alle möglichen Gestalten aus sich hervorbringt. Mircea Eliade assoziiert diese Vorstellung mit einer mythisch-religiösen Weltanschauung, in der Leben und Tod nur zwei Momente sind, nämlich ein Loslösen aus dem Inneren der Erde und ein Zurückkehren, so dass zwischen der Erde und ihren Geschöpfen, den Pflanzen, Tieren und Menschen ein magisches Band der Sympathie besteht. 29
Vgl. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 3. Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 3 f. 26 Irina Aristarkhova: Hospitality of the Matrix, S. 27. 27 Edward Casey: The Fate of Place, A Philosophical History, S. 24. 28 Eigentlich ›Stamm und Schößlinge von Fruchtbäumen und Weinreben, Bauholz, Nutzholz, (Grund-)Stoff, Aufgabe, Anlage, Ursache‹. Materie bezeichnet dann den Stoff, aus dem etwas gefertigt ist oder die stoffliche Seite eines Naturkörpers und Möglichkeit des Seins, das seine Bestimmung erst durch die Form erhält. Vgl. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, erarbeitet u. d. Leitung v. Wolfgang Pfeifer, München 2005, S. 847–848. 29 Vgl. Mircea Eliade: Die Religionen und das Heilige, S. 291. 24 25
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Ku¯n, Chora und Physis
Die Rückbindung von Chora an die mythologische Vorstellung der Erde sollte die (verdeckte und verdrängte) Kraft der weiblichen Generativität in den Vordergrund rücken und zugleich ihre Kehrseite zeigen. Das Zurückweichen der Chora führt zu der doppelten Funktion der Erdgottheiten zurück, die stets so ausgestattet sind, dass sie das Leben nicht nur hervorbringen oder gebären (Sich-Öffnen), sondern es auch wieder in sich zurücknehmen und Bergen (Sich-Schließen). So ist die Erde (χθόνος) nicht nur der bergende Schoß oder feste Boden, sondern auch dasjenige, was sich von unten her plötzlich auftut, um zu verschlingen. 30 Das, was sich auftut, was auseinander berstet (χαίνω), ist uranfänglich betrachtet die Kluft, die Finsternis, der unermessliche Raum (χάος), aus dem das Weltall geschaffen wurde. Konzeptionell scheint Chora rückgebunden an die Erdgottheiten der griechischen Antike, zugleich aber auch an das Chaos, den Abgrund, der sich in der dunklen, verschlingenden Macht der Erde – als Unterwelt – manifestiert. 31 Möglicherweise ließe sich die Amputation von Chora als ein Verdrängungsmechanismus deuten, welcher letztendlich nicht mit der Imponierung eines bloßen Machtapparates oder phallogozentrischen Logik, sondern mit einer (sublimierten) Abwehrreaktion gegenüber dem Tod als Kehrseite des Lebens zusammenhängt – während beide Seiten im Grunde genommen untrennbar mit dem Weiblichen verbunden sind. Dieser Zusammenhang konnte insbesondere im Kontext der Überlieferungen des Yijing – vor dem Hintergrund der Dynamik von Kūn – deutlicher gemacht und ausgehend von einem tiefergehenden Verständnis des Ganzen dieser Dynamik einer möglichen Lösung näher gebracht werden: Kūn gibt das »Dann tue sich die Erde auf um zu verschlingen.« Wilhelm Pape: Griechisch-Deutsches Handwörterbuch, Zweiter Band, Braunschweig 1914, S. 1324. Etymologisch zeigt sich, dass die Erde wesensmäßig mit einem Sich-Öffnen und (negativ konnotiert) dem Aufklaffenden, Verschlingenden in Verbindung steht, was die Nähe der Erde zur Vorstellung des χάος verständlich werden lässt. χάος, der leere unermessliche Raum, auch die rohe, verworrene Masse, ist auf das Verb χαίνω, gähnen, klaffen, sich auseinandertun, platzen und bersten zurückzuführen. χασίς ist der Spalt, die Scheidung, χάσμα die gähnende, klaffende Öffnung, der Erdschlund oder Erdspalt, auch der Schlund des Mundes. 31 Das Ursprüngliche ist hier als ein Negativum bestimmt, das keinen Halt verleiht, das als bedrohlich, als verschlingend-zerstörende Macht erfahren wird. Es ist ein Ursprung, der nicht als sicherer Grund fungiert, sondern Angst und Entsetzen auslöst und den die mythische Erzählung in entsprechenden Monstren – Drachen, Schlangen etc. – symbolisiert. Vgl. Emil Angern: Die Frage nach dem Ursprung: Philosophie zwischen Ursprungsdenken und Ursprungskritik, München 2007. 30
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Das Ethos des Unverfügbaren
Leben, sie nährt es und nimmt es wieder in sich zurück – eine Bewegung, die ein offenes Kontinuum der Wandlungen bildet. Wird Kūn als ontologisches Prius dieser Wandlungen erkannt, sind Leben und Tod im Sinne des Entstehens und Vergehens von Einzelerscheinungen lediglich Kategorien des Erscheinens und nicht des Seins, d. h. ontologisch betrachtet – ausgehend von Kūn – gibt es keinen Tod, sondern nur Wandlungen. Eine grundlegende Schwierigkeit mit Blick auf Chora liegt in den Rahmenbedingungen des Denkens begründet, in welche diese Figur eingebettet ist und die eine Erweiterung ihres Bedeutungsspektrums auf verschiedenen Ebenen einschränken, bzw. mit grundlegenden Schwierigkeiten besehen. Diese Einschränkung kann vielleicht am anschaulichsten in der Unterscheidung Platons von Chora als einem ›Ur-Raum‹ und den materiellen Körpern ausgemacht werden. Nach Platon entstehen und vergehen die Dinge in der Chora, sie selbst bleibt aber vollkommen unberührt von demjenigen, was in ihr und durch sie geschieht – dem Werden der Dinge, den Dingen in ihrer Vielheit. In der Entfaltung des Potentials der Chora hat sich das Verhältnis der Chora zu den werdenden Dingen verändert. 32 Als Nutrix und Generatrix ist Chora nicht nur eine das Werden bloß äußerlich beherbergende Amme, sondern eine Hervorbringerin, deren Hervorgebrachtes ihr in dem Prozess des Gestaltwerdens zugehörig bleibt. Hier könnte man die Erde als Vergleichsmöglichkeit heranziehen. Die Erde ist der Lebensraum für alle Lebewesen: Tiere, Pflanzen und auch Menschen. Sie ist dies aber nicht als bloßer Untergrund, sondern die Lebewesen sind intrinsisch und organisch mit der Erde verbunden: sie entstehen aus ihr, werden aus ihr genährt und sterben in sie zurück. Die Lebewesen wandeln sich organisch in dem selbstregulativen Prozess der Erde. Ihr Dasein, ihre Wachstumsbedingungen sind nicht getrennt von dem Dasein der Erde und dem, was sie an Wachstumspotential ermöglicht oder gibt. Kūn ist in ihrem Rückbezug zur Erde nicht wie in dem platonischen Denken der Chora angelegt ein bloßer Spiegel des Physischen. 33 Als Wirkkraft der Erde ist Kūn von dem Lebendigen, den Wesenheiten nicht getrennt: Aus ihrer Wirkkraft (Generativität) geht die Vielheit der Wesenheiten in ihrer Fülle und Chora gibt nicht nur den Raum, sondern schafft ihn auch, so dass der Hervorbringung des Raumes auch die Hervorbringung des Seienden entspräche, womit das Seiende nicht gänzlich getrennt von der Bewegung des Raumgebens wäre. 33 Vgl. Edward Casey: The Fate of Place, S. 32. 32
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Ku¯n, Chora und Physis
Komplexität hervor – dessen Ganzes sozusagen die Erde bildet. Gleichwohl kann sie selbst dadurch nicht erschöpft werden und bleibt deswegen in ihrem Wirken und der Unendlichkeit ihrer Kraft der Verfügbarkeit entzogen. Dieser Bezug zwischen Kūn und Erde ist für das Ethos des Unverfügbaren grundlegend. Im Gegensatz zu der in den Überlieferungen des Yijing gegebenen Bestimmung von Kūn als Austragungsraum der Bewegungsanregungen von Qián ist Kūn demnach von einer eigenen Dynamik getragen, die die Gesamtheit des Erscheinenden in sich umfasst. Die Vielfalt der Dinge hängt von der Potenzierungsbewegung von Kūn ab, der verschiedene Erscheinungsgrade entsprechen. Daher ist die Betonung ihres fluiden Charakters zentral, der zeigt, dass die Formen, die entstehen und vergehen, Manifestationen oder Verortungsinstanzen der Gesamtwandlung von Kūn sind, die sich permanent vollziehen bzw. Kūn gewissermaßen inhärent sind und damit nicht getrennt von ihr betrachtet werden können. Der Gedanke einer uneingeschränkten Offenheit von Kūn darf deswegen keineswegs als unbeweglich betrachtet werden, sondern vielmehr als die höchste Intensität von Bewegung überhaupt, der potentiell alle Erscheinungsmöglichkeiten inhärent sind. 34 Nicht nur erscheint etwas in ihr oder durch Kūn hindurch als Folge der Anregung eines sie äußerlich bestimmenden kreativen Impulses, sondern die Vielheit des Lebendigen geht aus ihrer immanenten Potenz und transformativen Kraft, ihrer Bewegungsintensität – ihrer Generativität – selbst hervor. Die Mannigfaltigkeit des Seienden lässt sich in diesem Sinne als das Ergebnis der Potenzierung und Vervielfältigung 35 von Kūn begreifen, deren Wirksamkeit unerschöpflich ist und nicht auf ein bestimmtes Moment der Bewegung in der Erscheinung reduziert oder eingeschränkt werden kann. Vielleicht ist das Problem des Hiatus zwischen Werden und Sein, das die ganze westliche Metaphysik kennzeichnet, in der Ausprägungslogik des westlichen Denkens (einschließlich bei nicht-metaphysischen Entwürfen) derart eingeschrieben, dass jeglicher (mehr oder weniger nachvollziehbare) Überbrückungsversuch dieses Hiatus Die Auffassung von Potenzialität im Rahmen dieser Arbeit muss daher von dem überlieferten aristotelischen Verständnis drastisch abgrenzt werden, insofern hier ›potenziell inhärieren‹ zugleich ›immer schon in actu hervorbringend‹ bedeutet. 35 Insofern Potenzierung Vervielfältigung impliziert, ist der hier gebrauchte Begriff von Potenzialität kein extensiver, sondern ein intensiver, d. h. ein Begriff, der auf einen besonderen Intensitätsgrad (= Verdichtungsgrad von Intensität) verweist. 34
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Das Ethos des Unverfügbaren
nur in Form von hyperbolischen Negativitäts- bzw. Entzogenheitskonzepten erfolgt. Denn Chora bleibt nicht nur unter platonischen Parametern von dem Seienden selbst unberührt und getrennt, sondern besonders auch – wenn man sie wie Derrida dekonstruktivistisch auffasst – als Denkfigur radikaler Differenz. So wahrt Chora als dieser, wie Derrida sagt, irreduzible Zwischenraum ein dissymmetrisches Verhältnis zu allem, d. h. eine radikal diskontinuierliche Beziehung zu jeglicher Artikulationsinstanz des Ganzen. 36Von all den Interpretationen und hermeneutischen Typen, welche Chora informieren und ihren schematischen Abdruck in ihr hinterlassen, weiß Derrida sie – unempfindsam und amorph – vollkommen unberührt. 37 Mit seinem Wiederaufspüren der Chora versucht Derrida einen vormetaphysischen (Außer-) Stand-Ort der kosmischen Einschreibung ins Spiel zu bringen. Dieser unbestimmbare und unsichere AußerStand-Ort fungiert als Chiffre des Außen und fading-out des Inneren. Trotz der konstitutiven und durch sprachlichen Gebrauch nicht zu überwindenden Struktur der Metaphysik ergäbe sich doch, ein ›Diesseits‹ der Geschlossenheit der historisch-metaphysischen Epoche zu denken – einer Epoche, die nach Heideggers Diagnose auf Platon zurückzuführen sei. Das ›Diesseits‹ der derrideanischen Differänz ist dabei nichts anderes als die radikalste Negativitätsform, d. h. die In-Differenz, die in der Geschichte der westlichen Philosophie gleichzeitig eine neue Stimme und ein Verstummen ist. In diesem Kontext konnte eine Konzeption nicht übergangen werden, die viel zur Kritik der abendländischen Metaphysik und zur Aufstellung von neuen Parametern der Ontologie beigetragen hat: Heideggers Denken der Physis als Gegenteil zur metaphysischen Einstellung zum Kosmos. Die Denkfigur der Physis, wie Heidegger sie in seiner Heraklit-Vorlesung von 1943/44 entwickelt hat, besitzt neben der Chora als dem zurückweichend Raumgebenden eine bestimmte Relevanz für das Verständnis des Ethos des Unverfügbaren. Zugleich wird durch Heideggers Denken der Physis ein Licht auf die Erde bzw. auf das Verhältnis, das Physis offenbar zur Erde und Natur im Denken Heideggers hat, geworfen. Denn Physis bedeutet für Heidegger weder Natur als Gegenstand der Naturwissenschaft, noch einen Gegenbegriff zur Geschichte, jedoch auch mehr als Natur im gewöhnlichen Sinne – verstanden als Wachstum –, nämlich das reine Auf36 37
Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 67 f. Vgl. Jacques Derrida: Chōra, S. 21.
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Ku¯n, Chora und Physis
gehen, in dessen Offenen und Lichten 38 alles erscheint, d. h. die Naturvorgänge selbst in ihrem Aufgehen erst sichtbar werden. 39 Dabei darf die Physis jedoch nicht wie ein umgreifendes Behältnis verstanden werden, sondern vielmehr als das sich selbst bildende Walten des Seienden im Ganzen 40, von welchem alles Seiende gleichsam auch durchwaltet ist. 41 Für Heidegger bleibt Physis als das, was das Aufgehen des Seienden sichtbar werden lässt, als anfängliche Vollzugsinstanz dieses Aufgehens selbst entzogen. Diese Entzogenheit der Physis hängt für Heidegger mit ihrer wesensmäßigen Struktur zusammen. Denn in der Physis geht zwar jegliches Erscheinende auf, doch gehört das Aufgehen wesensmäßig dem Sichverbergen (oder ereignishaften Entzug) an – welches Heidegger als konstitutive Voraussetzung des Aufgehens begreift. 42 Es zeigt sich hierin die Dynamik der Physis, innerhalb derer das Aufgehen und das Untergehen sich wechselseitig die Gunst ihres Wesens gewähren – so, dass das eine aus dem anderen heraus west. 43 Das Aufgehen ist gewissermaßen zurückgegründet in »Der Wesenszusammenhang zwischen φύσις und ζωή und ›Licht‹ bekundet sich darin, dass griechisch das Wort für ›Licht‹ denselben Stamm wie φύσις hat und φάος, φῶς lautet. Auch sprechen wir noch vom ›Lebenslicht‹ und denken freilich weder ›Leben‹ noch ›Licht‹ in ihrem einigen Wesen griechisch aus der φύσις (und d. h. aus der ἀλήθεια).« Martin Heidegger: GA/55, S. 89 f. 39 »Das griechische Wesen der φύσις ist nun freilich keineswegs die passende Verallgemeinerung (…) der naiven Erfahrung des Aufgehens von Keimen und Blüten und des Aufgehens der Sonne, vielmehr ist es umgekehrt die ursprüngliche Erfahrung des Aufgehens und des Hervorkommens aus dem Verborgenen und Verhüllten der Bezug zu dem ›Licht‹, in dessen Helle erst das sogenannte Keimding und das Blütending in seinem Aufgehen festgehalten und darin die Weise gesehen wird, in der der Keim im Keimen, die Blüte im Blühen ›ist‹.« Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 89 f. »ζα [ζάω: ›leben‹] bedeutet griechisch gedacht das reine Aufgehen innerhalb der Weisen des Aufgehens und Erscheinens z. B. im Hervorbrechen.« Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 94. Physis hat nach Heidegger keinen Bezug zum Biologischen oder Zoologischen, gleichwenig hat sie etwas mit dem Physischen oder Physikalischen zu tun. 40 Vgl. Martin Heidegger: Grundbegriffe der Metaphysik, S. 38. 41 »Das reine Aufgehen durchwaltet die Berge und das Meer, die Bäume und die Vögel; deren Sein selbst wird durch die φύσις und als φύσις bestimmt und nur so erfahren.« Martin Heidegger: GA/55, S. 102. 42 Diese Zwiefachheit der Physis erkennt Heidegger in dem Heraklit Fragment 123, das er folgendermaßen übersetzt: »Das Aufgehen dem Sichverbergen schenkt’s die Gunst.« Martin Heidegger: GA/55, S. 125. 43 »Die φύσις, das Aufgehen, steht in einer Wesensbeziehung zum Sichverschließen, d. h. zum Eingehen in die Verbergung, also zum griechisch gedachten ›Untergehen‹. […] Das Aufgehen gönnt, und zwar, insofern es Aufgehen ist, dem Sichverschließen, 38
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Das Ethos des Unverfügbaren
das Sichverschließen, bzw. letztlich in sich selbst ein Sichverbergen. 44 Das Sichverbergen bedeutet für Heidegger zugleich ein Bergen im Sinne des schützenden Unterbringens und Verwahrens. 45 Nur durch dieses Zurückgeborgensein in das Sichverbergen west das Aufgehende: Heidegger führt hier das Bild der an das Licht der Erde hervorkommenden Quelle an, deren Wesen sich aus den im Unterirdischen ihr zufließenden Wassern speist. 46 An diesem Bild können wir nach Heidegger das eigentlich Bildlose des Wesens des – aus der Verborgenheit – hervorkommenden Aufgehens fassen. 47 Physis als das reine Aufgehen west vor allem anderen, was erscheint, bzw. ist immer schon vor jedem Seienden erschienen. Wesentlich mit Blick auf das Ethos des Unverfügbaren ist, dass Heidegger die Physis ausgehend von Heraklit, Fragment 54, als unscheinbare Fügung 48 denkt, d. h. als dasjenige, was das Erscheinen gewährt und dabei in allem Erscheinenden selbst zurücktritt. In eben dieser Unscheinbarkeit – der Offenheit der Physis als reines Erscheinen – liegt nach Heidegger ihr edler Charakter und zugleich ihr Vermögen, das Erscheinende aufgehen zu lassen. 49 daß dieses im eigenen Wesen des Aufgehens wese. Das Sichverschließen gönnt, und zwar, insofern es Sich- verschließen ist, dem Aufgehen, daß dieses aus dem eigenen Wesen des Sichverschließens wese.« Martin Heidegger: GA/55, S. 135. 44 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 139. 45 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 139. 46 »Das Aufgehen west nicht als das, was es west, wenn es nicht zuvor und stets zurückgehalten und zurückgeborgen bleibt in das, was ein Sichverbergen ist. Deshalb, d. h. seines Wesens wegen, und nur deshalb schenkt das Aufgehen die Gunst dem Sichverbergen. Was wäre, wenn die an das Licht der Erde hervorkommende Quelle ohne die Gunst der im Unterirdischen ihr zufließenden Wasser bliebe? Sie wäre nicht die Quelle. Sie muss den verborgenen Wassern gehören, welches Gehören sagt, dass die Quelle ihrem Wesen nach in die sich verbergenden Wasser geborgen und aus ihnen her die Quelle bleibt.« Martin Heidegger: GA/55, S. 137. 47 »Alles ›Wesen‹ bleibt in Wahrheit bildlos. Zu Unrecht fassen wir dies als einen Mangel. Wir vergessen dabei, daß das Bildlose und also Unanschauliche allem Bildhaften erst den Grund und die Notwendigkeit gibt.« (Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 137.) An dieser Stelle zeigt sich ganz deutlich, wie sich Heidegger vom mythischen und imaginalen Denken abgrenzt. Das Motiv des Bildlosen (das sehr präsent in der Begrifflichkeit einer Episteme ist, die gegen mythische Imagination und Sprache reagiert) trennt Heidegger vollkommen von einer tiefen Revision der abendländischen Tradition, in der er sich befindet. 48 Siehe hierzu Heraklit, Fragment 54: harmoníê aphanês phanerês kreittôn. Vgl. Herman Diels und Walther Kranz: Die Fragmente der Vorsokratiker. Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 141. 49 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 143.
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Ku¯n, Chora und Physis
Hiernach hat Physis für Heidegger zwei grundlegende Züge: 1. Sie erschöpft sich nicht in der Bestimmung des Ontischen, sondern deutet auf etwas, was die Gesamtheit einer ontischen Situation in ihrer ontologischen Dynamik (d. h. jenseits des im Ganzen verorteten Seienden) ausmacht. Es gilt daher zwischen den verorteten Elementen in einer Weltsituation (dem Erscheinenden) und einer sich-öffnenden Instanz zu unterscheiden, welche diese Situation als solche ermöglicht (das Erscheinen des Erscheinenden in seiner Komplexität). Physis deutet jedoch nicht nur auf das lichtende Aufgehen des Seienden, sondern auch auf das unscheinbare Anfängliche des Erscheinungsgeschehens, das mit einem Sich-unhintergehbar-Entziehenden übersetzt werden muss. Dieses Sich-Entziehende thematisiert Heidegger in der ontologischen Dynamik, findet dafür jedoch – aufgrund des Versagens der Sprache an dieser Stelle – keine philosophisch konsistente Bestimmung und fällt, wie Fink dies an Heideggers Physis Denken kritisiert hat, immer wieder in eine indirekte Lichtmetaphorik zurück. 50 Physis wird nach Heidegger nur dann anfänglich gefasst, wenn sie als Fügung – harmonia – gedacht wird: Die Fügung beschreibt Heidegger auch als ein ›Fachen‹ der Entbergung und die Verbergung in das Ein-fache ihres Wesens. 51 Er bringt die Physis mit der Entfachung des Lichten, der Flamme und dem Feuer zusammen 52, das jedoch nicht einem bloßen Aufleuchten besteht, sondern sich in dem Blitz, der alles steuert, sammelt. 53 Das Licht des Feuers schlägt ein, es scheidet und hellt auf und lässt auf diese Weise das Erscheinende in den gefügten Grenzen seines Gebildes erscheinen. 54 In der lichtenden Fügung erscheint nach Heidegger das Seiende im Ganzen. Sie ist die ›ursprüngliche Zier‹ (der ›Kosmos‹), in der das Seiende erglänzt und insofern das Feuer und der Blitz selbst. 55 Heidegger unterscheidet zwischen der unscheinbaren Fügung (›der ursprünglichen Zier‹) und Fink behauptet, dass Heidegger, obwohl er das Sichverbergen der Physis denkt, sich letztlich doch mehr der aletheia, der ›Lichtmacht des Seins‹, statt der lethe, der Verborgenheit, zuwendet. Heidegger betrachtet das Sein des Seienden primär aus der Unverborgenheit, der Helle, die alle Dinge im Anwesen versammelt. Siehe hierzu Kapitel 1. 51 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 161. 52 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 161. 53 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 163. 54 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 163. 55 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 164. 50
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Das Ethos des Unverfügbaren
der bloß scheinbaren Fügung (dem Gezierde). 56 Weil das erscheinende Gefüge die reine Fügung überdeckt, gilt es den Blick frei zu machen für die unscheinbare Fügung. 57 Mit der Bestimmung der Physis als lichtender Fügung, in deren Offenes, das Seiende im Ganzen – d. h. in der gefügten Weite seines Gebildes aufscheint –, der Physis als Maß des Kosmos, nähern wir uns gewissen Parametern dessen an, was traditionellerweise mit dem ›Logos‹ in Verbindung gebracht wurde. Es wird ersichtlich, dass Heidegger den Logos im Sinne Heraklits als die strukturierende Dynamik der Physis selbst begreift. Der Logos spricht demnach den Wesenszug der Physis an, welcher im Zusammenbringen der Fuge besteht. Die Physis ist das sich zu sich selbst auseinanderbringende Zusammenbringen – und darin entspricht sie dem Logos. 58 Nach Heidegger ist der Logos somit nicht als ein äußerlich steuerndes Eingreifen in die Bewegtheit der Dinge zu denken, wie der platonische Logos, der dem Blitz gleich alles erhellt, und damit einrichtet, steuert und bestimmt 59, sondern in Übereinstimmung mit der Bewegung der Physis als eine Kohäsion des Seienden, d. h. als identisch mit der inhärent sich strukturierenden Dynamik der Physis selbst im Sinne des Zusammenbringens zu denken. Das für die Entfaltung der Physis maßgebliche Gegenstreben von Ent- und Verbergung kommt in Heideggers Wortbildung der Wahrheit als a-letheia (Un-verborgenheit, Ent-bergung 60) zum Ausdruck, die für ihn das im griechischen Denken letztlich doch Ungedachte bildet. In Bezug auf das zu entwickelnde Verständnis der Dynamik (der uneingeschränkten Offenheit) von Kūn und dem Ethos des Unverfügbaren haben sich vor allen Dingen folgende Überlegungen Heideggers mit Blick auf den Status von Physis als relevant erwiesen: 1. Die Unterscheidung zwischen dem Erscheinenden und dem Erscheinen des Erscheinenden, d. h. der immer schon verorteten Seienden und der Vollzugsinstanz, welche diese ontische Situation in ihrer ontologisch-bestimmten Dynamik (Bezugsinstanz) als solche ermöglicht. 61 2. Es bleibt diejenige Instanz, welche in ihrer ontologischen Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 165. Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 165 f. 58 Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 178. 59 Vgl. hierzu Martin Heidegger – Eugen Fink: Heraklit, S. 20. 60 Wörtlich: Nicht-Vergessenheit, d. h., dass das Sein nicht im Seienden begraben bleibt. 61 Die Physis lässt das Seiende im Ganzen aufgehen. Als reines Aufgehen ist Physis 56 57
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Ku¯n, Chora und Physis
Dynamik die ontische Situation ermöglicht, in ihrer Anfänglichkeit entzogen. 62 3. Diese Entzogenheit hängt mit der Dynamik der ontologischen Instanz zusammen, wo das Aufgehen(-lassen) konstitutiv auf das Sich-Verbergen zurückbezogen bleibt. 63 4. In der Unscheinbarkeit, dem Sich-Verbergen liegt das Edle und zugleich das Vermögen dieser Instanz, das Seiende im Ganzen aufgehen, bzw. erscheinen zu lassen. 64 5. Von immanenter Bedeutung ist dabei, dass die ontologische Dimension nicht nur eine Differenz in Bezug auf das Seiende, sondern eine Dynamik des Gesamtlebendigen darstellt. 65 In eben dem letzten Punkt liegt eine maßgebliche Differenz zwischen Kūn und Physis, die sich bereits in der methodischen Anwendung des formal-differenzialistischen Modells als analytisches Unterscheidungskriterium für die Herausstellung des Sonderstatus von Kūn gezeigt hat. Um deutlich zu machen, dass uneingeschränkte Offenheit nicht mit einem Sich-Fügen koinzidiert, wurde entlang der graphosemantischen Analyse der Dynamik von Kūn ein formal-differenzialistisches Modell appliziert, innerhalb dessen die ontologische Wirkkraft von Kūn gegenüber der ontischen von Qián herausgestellt wurde. nicht gleichzusetzen mit den Naturvorgängen, sondern werden diese darin erst sichtbar. 62 Obwohl Physis das Seiende im Ganzen aufgehen lässt, erscheint sie selbst dabei nicht. 63 In der Physis geht zwar jegliches Erscheinende auf, jedoch gründet dieses Aufgehen seinerseits in einem Sichverbergen. Das Aufgehen bleibt stets zurückgeborgen im Sichverbergen und west nur als solches im Modus eines Aufgehens. 64 Als dasjenige, was das Erscheinen gewährt, dabei aber in allem Erscheinen und Erscheinenden zurücktritt, ist Physis die unscheinbare Fügung (ἁρμονία ἀφανής). Physis ist edel, sofern sie sich nicht in den Vordergrund der erscheinenden Dinge drängt. Unscheinbar (ἀφανής) ist die Fügung (Physis) vermöge ihrer Offenheit als reines Erscheinen und genau darin liegt, dass sie mehr vermag, d. h. »vermögender« ist als das geradehin Offenkundige. 65 Physis ist die Bewegung des Entbergens und Sichverbergens. In Physis zeigt sich die Gegenwendigkeit des Seins, nämlich, dass das Entbergen (die Unverborgenheit) dem Sich-Verbergen (der Verborgenheit) zugeneigt ist und darin sich ihr Wesensmäßiges offenbart. In der (Fuge) Physis herrscht »Harmonie«, d. h., dass die eine Bewegung sich in die andere einpaßt, beide Bewegungen sich in die Fuge fügen, so dass Fügung ist (geschieht, stattfindet). Heidegger bringt die Physis mit den aufgehenden und sich verschließenden Weiten (den Metra von metron) in Verbindung: Physis ist das Maß-gebende, d. h., dass der Kosmos das Maß gibt, das er selbst ist als Physis. Physis gewährt als Aufgehen das Maß und die Weite. Physis ist das, was das Erscheinende in den gefügten Glanz seines Erscheinens eröffnet, sie macht auf, sie lässt entstehen (kosmeîn).
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Das Ethos des Unverfügbaren
Das Modell sollte zeigen, warum Kūn als ontologisch konsistent, ontisch hingegen als inkonsistent betrachtet werden muss. Vor dem Hintergrund dieses Modells konnte deutlich gemacht werden, dass uneingeschränkte Offenheit nich nur nicht dasselbe wie Sich-Fügen bedeutet, sondern genau das Gegenteil davon, nämlich dasjenige, was sich ausgehend von seiner ontischen Inkonsistenz niemals in ein Unterordnungsverhältnis forcieren lässt. Uneingeschränkte Offenheit hat sich vielmehr als Hauptmerkmal der Wirkkraft von Kūn – im Sinne einer unendlichen Generativität und zugleich als Status ihrer Unverfügbarkeit herausgestellt. Nur indem Kūn uneingeschränkt offen ist (d. h. selbst nicht erscheint – keine Konsistenz auf ontischer Ebene hat), kann sie die Mannigfaltigkeit aller Lebensformen zur Erscheinung bringen. Ontologische Konsistenz wurde hiernach nach dem formal-differenzialistischen Modell als das Besitzen eines generativen Vermögens bestimmt, welches zugleich den Übergang von dem Ontologischen zu dem Ontischen – im Sinne des Konsistentwerdens der Wandlungen – markieren sollte. Diese, das Gesamtspektrum von Konsistent- und Inkonsistentwerden umfassende Dynamik von Kūn wurde vor dem Hintergrund der uneingeschränkten Offenheit graphosemantisch dargestellt. Dabei konnte gezeigt werden, dass Qián nicht das Prius der Wandlungen bildet, sondern im Wandlungsprozess im Sinne des ersten Zeichens einer ontischen Konsistenz als das Resultat der ontisch-ontologischen Wandlung von Kūn betrachtet werden muss. Die differenzialistische Unterscheidung zwischen ontologischer Konsistenz (Kūn) und ontischer Konsistenz (Qián) diente dazu, den Gedanken der uneingeschränkten Offenheit von Kūn und ihrer Unverfügbarkeit verständlich zu machen: Denn die Uneingeschränktheit (der Offenheit von Kūn) macht gerade die strikt ontologische Konsistenz aus, sofern alles andere, was eine Offenheit zeigt, die nicht uneingeschränkt ist, sich in die ontische Situation als Teil eingliedern müsste und damit auch verfügbar wäre. Die Schwierigkeit, die sich aus der Applikation dieses Modells ergibt, ist die Frage nach dem Bezug zu den Naturvorgängen – und grundlegender das Verhältnis zwischen Kūn und Erde. Bereits in den methodologischen Überlegungen wurde darauf hingewiesen, dass ›Wachstum‹ ausgehend von dem differenzialistischen Modell nur eine Kategorie des Erscheinens qua Erscheinenden wäre und damit nur auf ontischer Ebene einen Wert hätte. Obwohl die Kategorien von Konsistenz und Inkonsistenz sich mit Bezug auf das differenzialistische Modell als nicht auflösbar er310 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Ku¯n, Chora und Physis
wiesen haben, sollte mit diesem Begriffspaar keine Trennung zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen impliziert, sondern nur eine Differenz in den Konsistenzgraden angezeigt werden. Daher ist das Verständnis der ontologischen Konsistenz von Kūn im Sinne eines generativen Vermögens, das den Übergang von dem Ontologischen zum Ontischen verstanden als Konsistent-Werden der Wandlungen markiert, wesentlich – wonach das Ontische und das Ontologische prozesshaft miteinander verbunden sind. Das differenzialistische Modell wurde aus analytischen Gründen angewandt, um die fundamentale Stellung von Kūn im Gesamtprozess der Wandlungen herauszustellen, sowie ihre ontologisch-ontische Generativität als transgressives Produktivitätsmerkmal der Entstehung der soliden oder koagulierten (Welt-)Formen deutlich zu machen – die andernfalls nicht in den Augenschein getreten wäre. Es wurde gesagt, dass Kūn in der Distanz, die sie von sich zu sich einnimmt – und die im Grunde keine ›Distanz‹ ist, sondern eine Wandlung des Manifestationsgrads impliziert – einen ersten Grad von ontischer Konsistenz einführt und dadurch einen Raum (als erlebbares Vielheitskontinuum) schafft. Kūn verlässt demnach auf der Ebene der ›Naturgestalten‹ ihre uneingeschränkte Offenheit nicht, sondern bildet ein Kontinuum. Der methodische Vorgang der Herausstellung von Kūn als ontologisches Prius beinhaltete das vorübergehende Abziehen von Kūn aus den Naturvorgängen, d. h. von der Erde und ihren Erscheinungsformen. Die Musterung der Wirkkraft von Kūn – ihrer uneingeschränkten Offenheit – zielte darauf ab, einen (phänomenologisch verstandenen) Einstellungswechsel zu vollziehen. Wird die Erde nämlich durch Kūn hindurch zugänglich gemacht, wird zugleich einsichtig, dass die uns umgebende Mannigfaltigkeit des Lebendigen nur sein kann vermöge einer, der Macht der Verfügbarkeit entzogenen uneingeschränkten Offenheit – Kūn: der Wirkkraft der Erde. Als das Vermögen der Generativität der Erde ist Kūn jedoch nicht getrennt von den Naturvorgängen bzw. von der Erde. In der Herausstellung der (ontologischen) Wirkkraft von Kūn geht es darum, dass die Erde sich nicht in der Sichtbarkeit der Gestalten erschöpft, d. h. zugleich, dass die unsichtbare Natur mehr ist als das, was man in den sichtbaren Gestalten sieht. Die uneingeschränkte Offenheit von Kūn besagt eben dieses ›Mehr‹ als das in jeder ontischen Situation Konfigurierte. Sie ist die nicht zu erschöpfende Voraussetzung der Mannigfaltigkeit des Lebendigen, die sich ihrerseits in verschiedenen 311 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Das Ethos des Unverfügbaren
und jeweils zusammenhängenden ontischen Situationen konfiguriert. Die Darstellung der ontologischen Dynamik erfolgt in Heideggers Konzeption der Physis sehr genau. Soll die ontologische Dimension jedoch nicht nur eine Differenz in Bezug auf das Seiende darstellen, sondern eine Dynamik des Gesamtlebendigen gründen, bedarf es letztlich eines Überganges von dem Ontologischen zu dem Ontischen. An dieser Stelle angelangt, fragt es sich daher, was eigentlich die Verbindung der Physis zur Natur und zur Erde ist. Für Heidegger wird das reine Aufgehen der Physis im Sinne des Hervorkommens aus dem Verschlossenen und Verhüllten in dem ›Aufgehen‹ des in die Erde versenkten Samenkorns, im Sprossen der Triebe, im Aufgehen der Blüte unmittelbar anschaulich. 66 Dabei ist die Physis nicht aus den Naturvorgängen abstrahiert – sie ist für Heidegger keine Verallgemeinerung der unmittelbaren Erfahrung des Aufgehens –, sondern im Lichte der Physis – als reines Aufgehen – werden die Naturvorgänge – das »Keimding und das Blütending« 67 – in ihrem ›Aufgehen‹ erst sichtbar. In dem Bild des gewöhnlich Erscheinenden kommt das Scheinen der Physis am ehesten in den Anblick. 68 Das Wachstum der Pflanzen stellt somit für Heidegger auf ontischer Ebene dasjenige dar, was ontologisch ein Modell der Physis sein soll. 69 Dabei spielt das in Augenschein-Nehmen des Verhältnisses zwischen Entbergung und Verbergung – für das Erfassen des Sichverbergens der Physis als konstitutive Voraussetzung der Entbergung – eine wesentliche Rolle. So geht die Pflanze aus dem Grund der Erde hervor und entbirgt sich dergestalt, jedoch kann sie dies nur, indem sie wurzelnd in die Erde zurückgegründet bleibt. Das Hervorkommen der Pflanze ist hiernach nur aus der Verborgenheit heraus möglich und auf der Basis einer anhaltenden Verbergung, die dem Entborgenen einen Stand verleiht. Dieses Verhältnis kehrt im Kontext des Kunstwerkaufsatzes auch in dem Bezug von Welt und Erde wieder: Genauso wie die Pflanze in einem dunklen Grund wurzelt, gründet die vom Dasein aufgerichtete Welt in der Erde als der verborgenen Ursprünglichkeit der Vgl. Martin Heidegger: GA/55, S. 87. Martin Heidegger: GA/55, S. 89. 68 Doch bedarf das reine Aufgehen der Physis für Heidegger letztlich nicht dieser ontischen Modelle und Bilder. 69 »Die φύσις als Aufgehen kann überall, z. B. […] am Wachstum der Pflanzen […] erfahren werden.« Martin Heidegger: Einführung in die Metaphysik, S. 11. 66 67
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Ku¯n, Chora und Physis
Herkunft des Seins. 70 In ihrer vorgefügten Ursprünglichkeit bleibt die Erde der Erschließung und Erschließbarkeit durch den Menschen entzogen: Die Erde erscheint für Heidegger nur dort, wo sie als dieses wesensmäßig Unerschließbare gewahrt bleibt, das vor jeder Erschließung zurückweicht und sich verschlossen hält. 71 Natur und Erde bilden auch hier eine Art Entsprechung zur anfänglichen Physis, als Physis in ihrem sich-verbergenden Entbergen grundsätzlich nicht machbar ist, d. h. nicht in der Verfügung des Menschen steht. Gemäß dem Verhältnis zwischen dem Ontischen und dem Ontologischen lichtet die Physis (das reine Aufgehen) zugleich die Erde als dasjenige, was im Aufgehenden als das Bergende west. 72 In diesem Sinne gehört die Erde (und auch die Welt) zu jenem Bereich, welcher durch das Offene, den Aufgang der Physis als solcher erst eröffnet wird: Und dazu gehört insbesondere, dass die in dem menschlichen Werk eröffnete Welt und alles Aufgehende in die Erde zurückgeborgen bleibt – letztere darf dabei nicht länger als ein einförmiges, starres Verhangenbleiben gesehen werden, sondern vielmehr als das sich-verschließend Aufgehende 73, das sich in eine unerschöpfliche Fülle einfacher Wesen und Gestalten entfaltet, d. h. im Lichte der Physis erscheint die Erde zugleich in ihrer Weise als tiefster, niemals zu erreichenden Wesenszug des Wahrheitsgeschehens. Es wurde darauf hingewiesen, dass Fink in Heideggers Begriff der Erde einen »kosmischen Weltbegriff« 74 aufscheinen sieht, wo Wahrheit im Sinne der Lichtung nicht mehr länger vom Menschen, sondern von der verschlossenen Erde oder der dunklen Physis ausgehend gedacht wird. Fink betont insbesondere das Moment der Verschlossenheit der Erde, welche für ihn mit dem ›Dunklen‹ der Physis korrespondiert. Insbesondere diesen Aspekt der ›Verborgenheit‹ gilt es gegenüber der ›Unverborgenheit‹ – in dem Ganzen des Begriffes der Wahrheit (a-letheia) noch weiter aufzuwerten, eine Aufwertung, die Fink bei Heidegger nur teilweise erfüllt sieht, insofern er ihm schlussendlich doch eine größere Nähe zur Seite der ›Unverborgenheit‹ unterstellt. Die äußerste Wandlung des Denkens führt für Fink daher von der eröffneten, lichten Welt zu der Erde als dem Woraus-
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Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 35. Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 33. Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 32. Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerkes, S. 42. Vgl. Eugen Fink: Welt und Endlichkeit, S. 178.
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Das Ethos des Unverfügbaren
her des Lichtes, die in ihrer aller Dinglichkeit vorausgehenden Ursprünglichkeit als ›Seinsmacht der Verschlossenheit‹ 75 waltet. Dieser in der Weltvergessenheit mitvergessenen Erde, die in allem west und doch zugleich in allem verborgen ist, soll der Mensch sich gegenüber andenkend verhalten: »Aus der Erde ziehen wir die Nahrung, aus ihr kommt alles Leben und in sie betten wir die Toten. […] Die Erde ist zugleich der Schoß und das Grab alles Lebendigen, in ihr sind Leben und Tod ineinander verknüpft.« 76 So zeigt sich die Erde ihrem Wesen nach als das Bewahrende, Hütende und Bergende, das alle ausgesetzten Dinge stets zurückbehält in ihrem reinen Umfangen und sie nie wirklich aus sich entlässt. 77 Letztere wesensmäßige Bestimmung der Erde – als das Bewahrende, Hütende und Bergende – scheint auch in Heideggers ontologischem Modell der Physis Eingang gefunden zu haben. In Bezug auf die Kritik Finks ist zu sagen, dass obschon Heidegger die Erde – wie wir gesehen haben – als Teil des Bereiches des von der Physis gelichteten betrachtet, dabei doch das spezifische Verhältnis der Erde gegenüber der Welt und dem Seienden sichtbar gemacht wird. Dabei spielt die Bestimmung der Erde als das Bergende eine Rolle, ein Moment, ohne welches die volle Gestalt der Physis bei Heidegger nicht gedacht werden kann. Das Verbergungsmoment der Physis, das Fink mit der Erde assoziiert, hat in Heideggers Denken immer mehr an Gewicht gewonnen. Die Physis wandelt sich von dem bloß faktisch Verborgenen, welche Logos und Werk der Verborgenheit entreißen können, zu einem unaufhebbaren Sich-Verbergen. Die Unaufhebbarkeit der Verbergung der Physis zeigt sich für Heidegger gerade als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung des in seinen Grund zurück geborgenen Aufgehens von Seiendem. 78 Heidegger denkt die Verbergung als konstitutiv für die Entbergung von Seiendem überhaupt. Weil Entbergung in die Unverborgenheit zugleich als Verbergung zu denken ist, ist sie damit zugleich ein Bergen und kein bloßes Ausgesetztsein. Entbergung (›Unverborgenheit‹) bedeutet für Heidegger damit kein Ausgesetztsein, sondern zugleich eine Geborgenheit, ein Bergen oder Zurückgeborgensein. Gerade dieses Verständnis des Bergens gewinnt Heidegger aus der Erde, die, wie 75 76 77 78
Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 279. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 282. Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 284. Vgl. Martin: Heideggers Physis-Denken, S. 106.
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Ku¯n, Chora und Physis
er in dem Kunstwerkaufsatz sagt, in dem Aufgehenden als das Bergende west. 79 Das Bergen der Erde bedeutet in Bezug auf das Seiende ein Schutz gewährendes Verwahren: Das Sichverbergen der Physis ist daher auch keine reine Verschließung 80, sondern etwas, das das Erscheinende im Entbergen zugleich geborgen hält, es stützt und ihm einen sicheren Halt gibt. Physis und Erde sind Begriffe, die bei Heidegger in einer gewissen Wechselseitigkeit zueinander betrachtet werden können. Das an der Erde (dem Bergen) orientierte Verständnis der Physis bringt die Physis dem Seienden gleichsam gewisserweise näher, sofern darin das Verhältnis der Erde zu dem Seienden – im Sinne des Schutz gebenden Zurückgeborgenseins – aufgehoben ist. Umgekehrt gewinnt die Erde erst durch die Dynamik der Physis an Gestalt, insofern sie – vermittelt durch die Physis – in ihrem niemals gänzlich einholbaren Ereignis- und Wahrheitscharakter erscheinen kann (wodurch zugleich ein allzu verkürztes Naturverständnis korrigiert werden kann). Die Erde in ihrer eigentlichen Gestalt und mit ihr verbunden auch die Natur in ihrer ›Unverstelltheit‹ zeigen sich für Heidegger nur, wenn sie als Physis – und das heißt in ihrem Ereignis- und Wahrheitscharakter (im Sinne der aletheia) – erfahrbar werden. Wird die Erde und die mit ihr verbundenen natürlichen Vorgänge dem Hintergrund der Physis zugänglich gemacht, erscheint sie unter den Vorzeichen des Ereignisses und der sich entbergenden Wahrheit (aletheia). Die Physis erinnert den Menschen gleichsam an seine Zugehörigkeit zu der Erde und zu dem Ereignis der Wahrheit (a-letheia), das durch die Erde spricht. Wenn Heidegger sagt, dass die Erde nur dort erscheint, wo ihre wesensmäßige Verschlossenheit gewahrt wird, weist dies im Grunde genommen unmittelbar in das ›Herz‹ der Physis: In ihrem Sich-Verbergen als wesentliche Bedingung des Entbergens – der Unscheinbarkeit als dem edlen Wesen der Physis – bleibt Physis unverfügbar, da sie nur dadurch vermögend ist, die Dinge erscheinen zu lassen. Dies würde zugleich bedeuten, dass der Mensch durch Physis einen anderen Zugang zu der Erde und den natürlichen Vorgängen gewinnen kann, der vielleicht jenseits technischer Verfügbarmachung und auch anderen instrumentellen Bestimmungsinstanzen liegt. 81 79 80 81
Vgl. Martin Heidegger: Der Ursprung des Kunstwerks, S. 28. Heidegger spricht an einigen Stellen von dem Sich-Verschließen der Physis. Die Schwierigkeit besteht in aller erster Linie in dem wissenschaftlich orientierten
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Obschon Physis als Struktur der Wirklichkeit und Erde bzw. Natur nicht identisch miteinander sind, erhellen sie sich wechselseitig: An dieser Stelle geht es gewissermaßen darum, die Erde tiefer zu erfahren, und dies geschieht durch das Nachvollziehen der Dynamik der Physis (in Bezug auf die Erde), d. h. durch das Gewahrwerden ihres Ereignischarakters. 82 Denn dem Wesen der Erde können wir, wie Fink dies in Rückbezug auf die Physis schreibt, nur dann wirklich nahe kommen, wenn wir das Worausher aller Dinge und auch das Wohinein ihres Untergangs denken. 83 Physis ermöglicht auf diese Weise einen anderen Zugang zur Erde und Natur. Umgekehrt zeigt sich durch die Erde, dass alle Dinge organisch mit ihr verbunden sind, d. h. sie nicht getrennt werden können von der Erde als allumfassenden Boden. Wesensmäßig betrachtet zeichnet sich die Erde als das Bewahrende, Hütende und Bergende aus, das alle ausgesetzten Dinge stets zurückbehält in ihrem reinen Umfangen und sie nie wirklich aus sich entlässt. 84 Es ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, wie sich die Bewegung des Aufgehens und Untergehens, die Heidegger in Bezug auf Physis in komplexen Wendungen zu beschreiben sucht, durch die Dynamik von Kūn in den Bildern des Yijing analogisch dargestellt werden kann. Im 4. Kapitel wurde graphosemantisch dargestellt, wie die Wiederkehr – ䷗ – und die Rückkehr – ䷖ – die innere Dynamik von Kūn – ䷁ – bilden: In der Wiederkehr vollzieht sich das Aufgehen (›Entbergen‹) und in der Rückkehr das Untergehen (›Zurückbergen‹). 85 Die Wiederkehr und der Zerfall bilden als oberes und unUmgang mit der Natur, in der damit zusammenhängenden Entleerung von allen Sinnesqualitäten. Hierzu vgl. Michel Henrys kritische Stellungnahme zur Tragweite und den Grenzen der galileischen Reduktion in: Michel Henry: Inkarnation: Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg: München, 2004, S. 155–165. Objektivierung und Mechanisierung bedeuten eine Abschaffung des Ereignischarakters (der Physis) in der Natur. 82 »Das Natürliche der Natur ist jenes Auf- und Untergehen der Sonne, des Mondes, der Sterne, das die Wohnenden unmittelbar anspricht, indem es ihnen das Geheimnisvolle der Welt zuspricht.« Martin Heidegger: GA 13, S. 145. 83 Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 284. »Wo immer der Mensch der Erde nachdenkt, erfährt er auch ihr hütendes Wesen, gewinnt er eine letzte Vertrautheit des Daseins, auch in seinen furchtbaren und schrecklichen Zügen, wird er heimisch im Ganzen und begreift, dass diese windige und gefährliche Welt gleichwohl eine ewige Heimat hat.« Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 285. 84 Vgl. Eugen Fink: Sein und Mensch, S. 284. 85 Dass das Aufgehen der Physis, wie Heidegger es zu bestimmen sucht, paradoxerweise gerade ein Untergehen – ein Eingehen in die Verbergung sein soll, zeigt sich
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Ku¯n, Chora und Physis
teres Ende das Kontinuum von Kūn und das Wesentliche ihrer Gesamtdynamik. 86 Die Darstellung der Gesamtdynamik von Kūn im Yijing lässt sich im Grunde genommen als eine Art Verdeutlichung von Elementen sehen, welche sich als ebenso zentral für die Erweiterung des Potentials von Chora und Physis erwiesen haben. Die Polarität des Sich-Öffnens und Sich-Schließens, die für die Dynamik von Chora 87, Physis 88 und Kūn 89 kennzeichnend ist, kann dabei als gemeinsam verbindende Signatur der anfänglich doppelwendigen (bzw. so vorgestellten) Gestalt des Potentials dieser Figuren betrachtet werden. 90 Dieses gemeinsame Strukturmerkmal ist insofern zentral, als darin die Vollständigkeit und damit zugleich die Eigenständigkeit dieser Figuren und ihre fundamentale Stellung im Hinblick auf die Hervorbringung des Ganzen unterstrichen wird. Das eigentlich Wesentdarin, dass im Yijing das Zeichen der Wiederkehr die Umkehrung des Zeichens des Zerfalls bildet. Beides bedingt sich nicht nur wechselseitig, sondern bildet die gegenwendige Entsprechung zueinander. 86 Heidegger betont das allumfassende der Bewegung der Physis, indem er sie auf die Göttin Artemis bezieht: In Artemis konvergiert nach Heidegger die Gegenwendigkeit des Seins – des Finsteren und Erstarrten mit dem Leben und dem Wachstum – die Entsprechung zwischen Leben und Tod. 87 In Chora zeigt sich diese Polarität bereits darin an, dass sie als raumgebendes zurückweicht und damit Welt eröffnet. In der Rückbindung von Chora (ausgehend von ihrer Verwandtschaft mit Chaos im Sinne von ›gähnen‹ und ›klaffen‹) an griechische Gottheiten der Erde konnte gezeigt werden, dass das Sich-Öffnen und Sich-Schließen der Erde ein Grundmotiv bildet, welches die chthonische Wirkmacht beschreibt. Gottheiten wie Demeter und ihre römische Entsprechung Ceres umfassen stets beide Sphären des chthonischen Bereiches: das Hervorbringen eines neuen Wachsens der Natur (Sich-Öffnen) und das Bergen dessen, was gestorben war (Sich-Schließen). In der Polarität des Sich-Öffnens und Sich-Schließens, des Gebärens alles Lebendigen und des Bergens der Toten, entsprechen sich diese chthonischen Gottheiten. 88 In Falle von Physis hat Heidegger das Sich-Öffnen und Sich-Schließen im Sinne der ontologischen Dynamik von Physis sehr detailliert beschrieben: »Die φύσις ist dieses ›Weg‹ und Auseinander von Sichöffnen und Sichverschließen.« Martin Heidegger: GA/55, S. 158. 89 »Das kosmische Tor wird einmal geöffnet, einmal wieder geschlossen, die Onta strömen daraus hervor, die Onta strömen wieder hinein: Das wird als Wandlung bezeichnet.« Gao Heng, zitiert nach Yijing, übers. u. hrsg. von Rainald Simon, S. 477. Kūn – ䷁ – öffnet sich – ䷗ – (erste Wandlungsebene von Kūn ☳) und Kūn schließt sich – ䷖ – (letzte Wandlungsebene von Kūn ☶): Die Dinge entstehen und die Dinge vergehen, wobei die uneingeschränkte Offenheit von Kūn – ䷁ – als verbindende Mitte (mittlere Wandlungsebene von Kūn ☵) bestehen bleibt. 90 Dabei handelt es sich zunächst um eine strukturelle Übereinstimmung, sofern der Kontext, innerhalb dessen diese Elemente in Bezug auf die genannten Figuren anzutreffen sind, grundverschieden ist.
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liche scheint mir jedoch der Bezug dieser Figuren zur Erde zu sein, welcher sich ausgehend von den verschiedenen Figuren jedoch nur graduell wieder öffnet bzw. öffnen lässt. So wird durch Heideggers Ontologie das Sein zwar offengelegt, gleichzeitig aber verdunkelt die Ontologie auch das Sein der natürlichen Dinge, wenn Heidegger die Natur in Übereinstimmung mit den Grundzügen des Seins denkt: Indem Heidegger die Physis von der Physik abstrahiert, ontologisiert er damit gleichzeitig auch die Natur. Aus dem Leben wird eine Art Erscheinung. Die Assimilation von Zoe, Physis und Lichtung setzt voraus, dass Licht das Wesen der Natur ist. Dies beruht nach Heidegger auf einer phänomenologischen Evidenz: Physis (›Natur‹) ist Aufgehen, Hervorkommen, in das Licht des Tages kommen und demnach wesentlich Licht. Damit hängt zusammen, dass die Erde in der Untersuchung über Physis explizit abwesend zu sein scheint – trotz ihrer Analogie und ihres Verbundenseins mit der Physis. Physis bleibt gewissermaßen mit der ›Lichtmacht des Seins‹ aufgeladen. 91 Die Dominanz der Lichtmetaphorik in Heideggers Denken zeigt sehr deutlich, dass sein Denken der Physis letztlich kein auf die Erde bezogenes Denken ist, bzw. von der Erde getrennt bleibt. 92 Und obwohl das Seiende vom Sein in Heideggers Konzeption nicht getrennt ist, stellt das Sein in Bezug auf das Seiende eine Differenz dar, die Heidegger im Sinne der Entzogenheit der Physis denkt. Diese Entzogenheit ist dabei im Grunde keine reine Entzogenheit (wie die Differenz im Sinne Derridas), insofern man in der Entzogenheitsbewegung noch etwas von der ›Wesung‹ des Seins nachspüren kann. Das Seiende ist nach Heidegger durchwaltet von dem Sein und zwar so, dass das Sein sich in dem Seienden nicht erschöpft, jedoch kommt dem Sein keine Generativität zu – das Sein hat Die Identifikation des Lebens mit dem Prinzips des Licht(en) ist unter anderen Voraussetzungen auch in dem Verständnis von Qián in den Überlieferungen des Yijing am Werk: Der Fokus der gesamtem Bewegung der Wandlungen wie sie in den Überlieferungen dargestellt ist liegt auf der Wiederkehr des Lichten, Hellen (Qián) aus dem Verborgenen, dem dunklen Prinzip, der Erde (Kūn). Das Leben, die Wandlung und das Erscheinen – sowie die Identität und Bestimmung der Dinge – sind nach der Logik der Überlieferungen intrinsisch mit dem Prinzip des Lichten (Qián) – dem Himmel – verbunden. In der Analytik von Kūn hat sich jedoch gezeigt, dass Leben und Tod, Werden und Vergehen gleichermaßen intrinsisch mit der Bewegung verbunden istsind, die Kūn vollzieht. 92 Sein phänomenologisches Vokabular vermag es nicht, die Instanz eines ›lumen naturale‹ zu konzipieren. Das Licht ist auf das Erscheinen bezogen, die Metapher bleibt das Auge und der Blick. 91
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Ku¯n, Chora und Physis
in Bezug auf das Seiende vielmehr eine Stützkraft. Kūn trägt in diesem Sinne zwar Wesenszüge dessen, was Heidegger unter der Konzeption der Physis zu denken sucht, wahrt jedoch – vermöge ihrer Generativität und im Kontext ihres mythisch-rituellen Denkens – zugleich eine tiefe Verbindung zur Erde. In der Möglichkeit der Wiederherstellung einer Beziehung zur Erde kommt Kūn ausgehend vom Yijing demnach eine Sonderstellung zu. Dabei spielt das Verständnis der Zeichen im Yijing eine maßgebliche Rolle. Die Wirkkraft, welche den Zeichen des Yijing zukommt, erlaubt es in Bezug auf Kūn auch nicht, in den Kategorien der Entzogenheit einer differenziellen Instanz von dem Lebendigen im Sinne der konkreten Wirklichkeit des Seienden zu sprechen. Zwar kommt Kūn im Yijing eine Vorrangstelle zu, jedoch ist sie als Wirkkraft der Erde nicht getrennt von der Erde und der Mannigfaltigkeit des Lebendigen, dessen Ganzes die Erde bildet. Die ›Lebendigkeit‹ erhält alles Seiende – alle Wesen der Erde und die Erde selbst – von Kūn, d. h. vermöge ihrer ganz spezifischen Wirkkraft. Diese Wirkkraft von Kūn erschöpft sich jedoch nicht in der Mannigfaltigkeit des Lebendigen. Ihre uneingeschränkte Offenheit bildet vielmehr die Vorrausetzung für die unendliche Generativität (welche Kūn als Wirkkraft der Erde ist), weswegen sie als solche auch nicht verfügbar ist. Für die Herausstellung einer Gesamtdynamik des Lebendigen hat sich die Generativität von Kūn als maßgeblich erwiesen. Obwohl auch die Dynamik der Zeichen als Resultat eines Abstraktionsprozesses verstanden werden könnte, konkretisiert sich etwas durch sie. Dieses etwas ist das, was irgendwann wahrgenommen wurde und auch wieder wahrgenommen werden kann, zunächst jedoch in Form von Gestalten erscheint. 93 Durch die ›analogische Konkretisierung‹ kann etwas Klarheit in Bezug auf einen vielleicht unumgänglichen Mangel des Denkens Heideggers gewonnen werden: Heidegger kann die onta nicht anders betrachten, bzw. erleben als durch die bisherigen Bestimmungen der abendländischen Kategorien, d. h. das, was Heidegger offenbar in seinem Denken der Physis aufdeckt, ist eine Differenz in der Immanenz der Kontinuität von metaphysischen und technisch-wissenschaftlichen Bestimmungen des Die ›analogische Konkretisierung‹ ließe sich ausgehend von funktionellen Faktoren plausibel machen, beispielsweise dem Zeitfaktor. In dem analogischen Vorgehen erhalten Kategorien der Vergangenheit und Kategorien, die für die Zukunft angewandt werden können, einen gemeinsamen Boden.
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Seienden. Das ist u. a. der Grund, warum seine Sprache destruktiv bis zum Punkt des Selbstentzugs des Seins bleibt: Er verfügt über kein anderes Erfahrungsregister als jenes seiner eigenen kulturellen Tradition – wo analogische Konkretisierung keine Wirkkraft hat. Das Yijing zeigt in seinen Gestalten, dass man von der komplexen Vielheit des Seienden etwas restituieren kann, wodurch die ontologische Differenz nicht mehr dazu quasi verurteilt wird, in einem restriktiven Entzogenheitsfeld zu verbleiben – sofern es eine Kontinuität zwischen Kūn und Erde gibt, etwas, das für das ›westliche Denken‹ vielleicht ein rätselhaftes Paradoxon bleibt. Dies bedeutet daher auch keinen Rückfall in die Metaphysik, sofern andere Traditionen (wie das Yijing) nicht unter den Parametern des europäischen Denkens beurteilt werden können. Das Verhältnis von Kūn, Chora und Physis und die Möglichkeit eines komparativen Gebrauchs zentraler Strukturelemente lässt sich wie folgt zusammenfassen: Trotz der differenten Rahmenbedingungen des Denkens haben sich in Chora und Physis gewisse Züge von etwas abgezeichnet, was in Kūn letztlich eine konkrete Gestalt angenommen hat und worin zugleich auch das Ethos des Unverfügbaren anschaulich wurde. Strukturell betrachtet handelt es sich bei Chora und Physis um eine Figur 94, welche die Vielheit des Lebendigen durch ihr eigenes Zurückgenommensein ermöglicht: Die Ermöglichung von Seiendem hängt hiernach konstitutiv mit Selbstzurücknahme zusammen, worin sich zugleich eine wesentliche Dimension des Ethos zeigt – hier verstanden als die besondere Wirkungsweise dieser Figuren. Chora vermag allem Seienden einen Raum zu geben, dadurch, dass sie als sie selbst zurückweicht oder, wie Platon sagt, als dasjenige, was alle Formen aufnimmt, von jeglicher Form notwendigerweise selbst frei sein muss. 95 Physis lässt das Seiende im Ganzen aufgehen 96, jedoch nur vermöge ihrer eigenen Unscheinbarkeit 97, ihres konstitutiven Sich-Verbergens – worin zugleich das edle ›VerStreng genommen müsste man von einer Nicht-Figur sprechen. »Von allen Formen [muss] frei sein, was alle Formen in sich aufnehmen soll.« Platon: Timaios, 50d. 96 Aufgehen besagt hier eine Bewegung, ein Wachsen, bedeutet aber keine ontologische Wirkkraft, wie dies bei Kūn der Fall ist. 97 Eben weil wir nicht das Aufgehen selbst sehen, sondern nur das Seiende. Es scheint eine Überschneidung zwischen dem Aufgehen und dem Seienden im Ganzen zu geben, während sich das Sich-Verbergen dadurch erklärt, dass der ontologische Bereich leer ist. 94 95
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mögen‹ der Physis liegt. In der Bestimmung der Figur von Chora als dem zurückweichenden Raumgebenden wird ebenso wie bei der Bestimmung der Figur der Physis als unscheinbarer Fügung der Fokus auf dasjenige gelenkt, was in Bezug auf das Erscheinende – in seiner eigenen Wirkungsweise – verborgen bleibt, was unscheinbar ist und zurückweicht. Damit wird zugleich offenbar, dass es gerade dieser Verborgenheits- und Unscheinbarkeitscharakter ist, welcher das Vermögen dieser Figuren ausmacht, als Möglichkeitsbedingung des Erscheinens zu fungieren. Genau hierin zeichnet sich der Gedanke eines Ethos vor, das mit dem Vermögen dieser Figuren verbunden ist. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch die uneingeschränkte Offenheit der Gestalt von Kūn verstehen: Denn nur dadurch, dass Kūn uneingeschränkt offen ist, d. h. auf der Ebene der Erscheinung selbst nicht erscheint, kann sie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen ermöglichen. Die Gestalt von Kūn ließe sich auf diese Weise als eine Darstellung jener Figur des Unscheinbaren 98 verstehen, welche das Erscheinen ermöglicht, indem sie sich verbirgt oder erscheint, indem sie nicht erscheint. Kūn – im Sinne der uneingeschränkten Offenheit – wäre die jener spezifischen Wirkkraft entsprechende Gestalt, die sich auch in Chora und Physis (in Form des Sich-Zurücknehmens, des Sich-Verbergens) gezeigt hat und die selbst ein Ethos in sich trägt. Das Vermögen, die Vielheit alles Lebendigen zur Erscheinung zu bringen, liegt in der uneingeschränkten Offenheit von Kūn begründet. Dies bedeutet jedoch auch, dass uneingeschränkte Offenheit weder rein passiv-phänomenologisch (wie Chora im Sinne einer Erscheinungsmatrix) noch rein dekonstruktiv im Sinne eines radikalen Außerstandortes (wie Chora im Sinne einer radikalen Differänz) und auch nicht als Entzogenheit (wie im Falle von Physis) zu verstehen ist, sondern als ein Vermögen der Generativität zu verstehen ist, welche eine Dynamik des Gesamtlebendigen gründet und damit die intrinsische Verbindung von Kūn und Erde – welche für das auf dem Ethos des Unverfügbaren basierenden Denken wesentlich ist – wieder herstellt. Denn Chora bleibt nicht nur unter platonischen Parametern betrachtet von dem Seienden gänzlich ›unberührt‹, sondern insbesondere auch, wenn man sie wie Derrida im Sinne einer Chiffre »Es könnte eine Figur geben, von der man annehmen darf, dass sie die Figur des Unscheinbaren ist. Ob sie es ist oder nicht, würde sich zeigen, wenn es gelingt, mit ihr als Paradigma – als etwas an dem entlang sich etwas zeigen lässt – die Züge des Unscheinbaren zu erkennen.« Günter Figal: Unscheinbarkeit, S. 38.
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postmodernen Denkens dekonstruktivistisch als Figur radikaler Differänz auffasst. Ähnliches gilt auch in Bezug auf die Physis, wenn Heidegger sie als eine Entzogenheitsbewegung (im Sinne einer Leerstelle) denkt. 99 Kūn unterscheidet sich von Chora und Physis hinsichtlich des Herstellens einer Gesamtdynamik des Lebendigen, d. h. des Herstellens eines ›Überganges‹ bzw. eines Zusammenstimmens von demjenigen, was das Erscheinen gewährt (der ›ontologischen Instanz‹) und dem Erscheinenden (dem ›ontischen Geschehen‹) selbst. Als Wirkkraft der Erde verstanden ist Kūn von dem Lebendigen und den Wesenheiten nicht getrennt: Aus ihrer Wirkkraft – ihrer unendlichen Generativität – geht die Vielheit der Wesenheiten und des Lebendigen in seiner Fülle und Komplexität hervor, dessen Ganzes die Erde bildet, jedoch kann die Wirkkraft der Erde (Kūn) dadurch nicht erschöpft werden, weswegen sie der Verfügbarkeit entzogen bleibt und auch entzogen bleiben muss.
2.
Ku¯n als Gottheit und Kraft
2.1 Kūn und die Erziehung des Menschen Ein solch generatives Vermögen, welches die Verbindung zwischen Kūn und Erde markiert, bietet zugleich auch eine theoretische und operativ relevante hermeneutische Entfaltungsmöglichkeit, wodurch andere Modalitäten des Umganges mit Seiendem wieder eingeholt werden können. In dem Spruchwerk des Yijing wird deutlich, dass Kūn im Vergleich zur Chora und Physis noch eine grundlegend andere Signifikanz im Hinblick auf diese maßgebliche Dimension des Ethos des Unverfügbaren zukommt. Wird von einer reduktionistischen Modalität der Erde im vergegenständlichenden, modernen und epistemisch-zentrierten Denken abgesehen, kann die Erde als etwas anderes als eine Figur materieller Ganzheit oder phänomenal bestimmbares Seiendes in den Blick kommen. So verbirgt sich, wie wir bereits gesehen haben, auch ›hinter‹ dem Zeichen Kūn – aus der Die ontologische Differenz waltet nach Heidegger im ontischen Bereich, bzw. in den jeweiligen onta. Die Physis befindet sich als Erscheinungsbedingung in jeder Instanz der ontischen Deklination dieser Kraft, jedoch ›generiert‹ sie nicht das Seiende. Die Lichtmetaphorik Heidegger zeigt deutlich, wie sein Denken der Physis von der Erde und damit von der Gründung einer Gesamtdynamik des Lebendigen getrennt bleibt.
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Perspektive des Verständnisses des Spruchwerks, wo Ahnenverehrung, Orakelwesen und Opferkult im Zentrum stehen – weniger die Silhouette einer Nicht-Figur des Erscheinens als vielmehr das Wirken einer Gottheit oder Kraft, die, wie wir gesehen haben, mit der Macht der Erde und dem mit ihr verbundenen Kultus und Ritus in enger Verbindung steht. 100 Diese Vorstellung führt zu der Frage nach dem Status der Bilder im Yijing zurück. Es hat sich gezeigt, dass der Begriff des Bildes (xiang) mehrdeutig ist: Die Zeichen können als Embleme (Sinnbilder) von Kräften, Tieren und Dingen, als graphische Abbildung von Gegenständen oder als (begrifflich nicht auszuschöpfende) Symbole verstanden werden. 101 In jedem Fall sind die Zeichen wesentlich für die Wirkkraft des Orakels. Nicht nur besitzen sie eine bestimmte Tauglichkeit oder Eignung (de) und sollen Kräfte in ihnen gegenwärtig sein, sondern es besteht auch eine enge Verbindung zwischen den Zeichen und Naturwesen. 102 Mythologische Vorstellungen, dass die Zeichen aus den Körperzeichnungen von magischen Tieren hervorgegangen sein sollen, weisen darauf hin, dass die Zeichen nicht nur als einfache Symbole gesehen wurden, sondern als ›Bilder‹ von mit magischen Kräften ausgestatteten Wesen. 103 Gemeinsam ist den verschiedenen Vorstellungen über die Herkunft und das Wesen der Zeichen – von ihrer Auffassung als Totemzeichen oder Klanzeichen der Ahnengottheiten bis hin zu Zeichen anonymer Wirkkräfte der Natur –, dass bestimmte Wirkkräfte in den Zeichen eingeschlossen sein sollen. 104 Diese Wirkkräfte werden zugleich als ›Abbildungen‹ und ›Nachbildungen‹ der Kräfte des Reiches (der Gottheiten) gesehen und lassen sich mit der Macht der Schafgarbe befragen und bestimmen. 105 Der Großen Überlieferung nach konnten die Berufenen die inneren Kräfte der Welt wahrnehmen und sie ihrer Gestalt und ihrem Aussehen nach erschließen, um sie hiernach in den EigenDiese Vorstellung von Kūn als einer Gottheit oder Kraft führt uns zu einem anderen Verständnis der Zeichen im Yijing, das mit Blick auf die Implikation eines horizontal ausgerichteten Zuganges zur Welt im nächsten Abschnitt thematisiert werden soll. 101 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 283. 102 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 283. Vielen Zeichen des Yijing liegen Tiervorstellungen zugrunde. 103 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 284. 104 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 286. 105 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 326. 100
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Das Ethos des Unverfügbaren
schaften ihrer Wesen zur Abbildung zur bringen. 106 Mit der ›Abbildung‹ der Kraft sollte es wiederum möglich sein, auf die Gottheit einzuwirken. 107 Dabei ist die Verwendung des Schriftzeichens xiang im Sinne von ›Bild‹, ›bildhaft‹, ›abbilden‹ erst nach dem Spruchwerk entstanden. 108 Eine ältere Bezeichnung für die Zeichen ist ti, ›Körperteil‹. Der Begriff ti lässt sich mit Opfern in Verbindung bringen: Er bezeichnet das Tier, das mit der Gottheit, der geopfert wird, in engem Zusammenhang steht. In dem Begriff ti zeigt sich die Idee der Korrelation zwischen dem Opfertier und der Gottheit auf Basis eines Wirkungsverhältnisses. 109 Dem Verständnis der Zeichen scheint insgesamt eine mehr kultisch-magische Auffassung zugrunde zu liegen: Dies bedeutet, dass demjenigen, was in dem Zeichen sich zeigt, zugleich auch Lebendigkeit und Kraft zugesprochen wird, bzw. die Kraft in der Figuration des Zeichens selbst wirksam ist. Die Zeichen oder Bilder repräsentieren also nicht nur die Gottheiten oder Kräfte in dem Sinne, dass sie auf ein Abgebildetes verweisen, oder ein bloßes Abbild von etwas sind, wobei dies in der rationalistischen Bildauffassung der Moderne durch das Prinzip der Arbitrarität und dem Verweis auf Konvention in Frage gestellt wurde, sondern figurieren sie auch, d. h., dass die Kräfte oder Geister in dem Zeichen selbst Gestalt annehmen oder angenommen haben. Die Zeichen scheinen jedenfalls die Fähigkeit zu besitzen, mit den Geistern und Gottheiten, den verschiedenen Kräften der Welt in Berührung zu kommen und ermöglichen insofern einen Zugang oder eine Öffnung zu einer besonderen Schicht der Wirklichkeit. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die ›Figuration‹ der Wesen bzw. Kräfte nicht als etwas angenommen wird, dass auf einem Erkenntnisakt im Sinne einer vollkommenen Abstraktion von der konkreten Wirklichkeit basiert, sondern mit einer besonderen Form der Wahrnehmung zusammenhängt. Dies kann zugleich als ein Hinweis darauf genommen werden, dass die Kräfte und Wesen nicht als etwas zu verstehen sind, das sich jenseits der Wahrnehmbarkeit, des Sinnlichen oder der sinnlichen Wirklichkeit – d. h. in einer höheren Sphäre der Wirklichkeit – bewegt. Die Rückbindung der Kräfte an Naturwesen und Tiere zeigt letztlich ihr tiefes Eingebundensein in die 106 107 108 109
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 326. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 319. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 319. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Einleitung, S. 319.
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wahrnehmbare Natur. Die Beziehung zwischen den Zeichen und der darin zum Vorschein kommenden Kraft darf in diesem Sinne nicht metaphysisch verstanden werden, derart, dass die Zeichen auf eine transzendente Wirklichkeit 110 verweisen, viel wahrscheinlicher ist es, dass sich das Verständnis der Zeichen im Kontext des Yijing auf der Grundlage eines schamanistisch geprägten Zuganges zur Wirklichkeit entwickelt hat, d. h. der Interaktion zwischen der menschlichen Welt und der der Geister mittels verschiedener Praktiken, für die im Kontext des Yijing insbesondere die Divination das geeignete Mittel darstellt. 111 Die Zeichen oder Gestalten sind versehen mit der Kraft der Gottheiten und Geister, welche sich zugleich in der Natur manifestieren. Sie dürfen daher auch nicht als etwas angesehen werden, was eine Distanz zur Wirklichkeit schafft, sondern umgekehrt eher als die Möglichkeit einer vertieften Form der Wahrnehmung und Erfahrung von Wirklichkeit – und zugleich als Korrelat einer solchen Wahrnehmung. Die Deklination der Wirkkraft von Kūn in einem Kontext, der nicht ausgehend vom modernen säkularen aufgeklärten Denken, sondern vom archaischen, d. h. mythisch-rituellen Denken bzw. Erfahrungsmodus bestimmt ist, schränkt sich nicht auf den Komplex Menschen-Tiere-Pflanzen ein, sondern impliziert auch Geister und Götter auf der Ebene der nicht-menschlichen Wesen. 112 Dabei stehen die Wesen 113 in einem Interaktionsbezug mit den magischen Kräften Siehe Petersons Auslegung des Wortes shen vor dem Hintergrund des von Otto geprägten Begriffes des ›Numinosen‹ : »The Change in effect will be our wu […], a shaman or diviner or ›possessed person‹, who puts us in touch with shen, whether we interpret that word as spirits, divinities, demons, numinosity, or whatsover. In this context, shen is that ›other‹ realm with which we make contact only through some process of ›divination‹. […] Thus the Change is the medium also in sense of being the means of passing from the realm of what is intelligible to us to the real of what is not directly or only imperfectly knowable. […] The Change is the medium giving us access to all that is numinous.« Willard J. Peterson: Making Connections, S. 107–110. 111 In dem Versuch des Schamanimus im Kontext des frühen China zu exemplifizieren, wurde die Divination als charakteristisches Merkmal der Herstellung eines Kontaktes und einer Interaktion mit den Geistern hervorgehoben. Auf den Komplex des Schamanismus als möglichem Korrelat für die frühreligiösen Vorstellungen, welche dem Yijing zugrunde gelegen haben könnten, soll im nächsten Abschnitt (Vgl. Kūn als Zeichen eines horizontalen Weltzuganges) eingegangen werden. 112 Dies bedeutet, dass die Tiere und Pflanzen nicht von den Geistern getrennt sind, d. h., dass sich die Eigenschaften, die später den Gottheiten zugeschrieben wurden, sich in den Geistern dieser Wesen befindet. 113 Wu bezeichnet, wie bereits gesagt wurde, eigentlich das Opfertier und steht dann 110
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Das Ethos des Unverfügbaren
oder mit den Gottheiten, von welchen die Zeichen die Embleme sind: Die Gottheiten können von den Wesen nicht nur etwas verlangen oder ihnen etwas gewähren, die Wesen können umgekehrt auch die Gottheiten oder Mächte um etwas bitten oder sich um ihre Unterstützung bemühen. Es ist auf der Ebene dieser spezifischen Deklination der Wirkkraft von Kūn, dass die Erde als Gottheit erscheint und dass die personifizierte Primordialität dieser Gottheit etwas ›verlangt‹ oder ›gewährt‹, was seitens der Wesen durch Bemühung gewonnen werden kann. Dabei ist das Verhältnis zwischen den Wesen und den Gottheiten oder Mächten nicht symmetrisch gestaltet, sofern die Wesen mit den Gottheiten und Mächten zwar interagieren, sie jedoch nicht kontrollieren können. Die archaische Macht der Erde kommt, wie wir gesehen haben, in verschiedenen Motiven des Spruchwerks noch zur Geltung: Kūn wird hiernach nicht nur so gedeutet, dass ihr die Kraft des Werdens – das Entstehen und Austragen der Frucht 114 – und Vergehens – das Zerstören der Frucht 115, sondern neben ihrer Bereitschaft, in sich etwas Gestalt werden zu lassen 116 auch eine grundlegende Entscheidungsmacht 117 zukommt. Anders als in den Überlieferungen des Yijing, welche die Wirkkraft von Kūn als eine passive Kraft im Sinne des Sich-Fügens der Erde deuten, liegt den historisch betrachteten älteren Sprüchen offenbar ein ganz anderes Verständnis von Kūn zugrunde. Als archaische Macht der Erde besitzt Kūn eine Entscheidungsmacht mit Blick auf die Wesenheiten. 118 Kūn gewährt das Lebendige: Sie gibt das Leben und sie bringt (damit unweigerlich) auch aber allgemein für jegliches ›Wesen‹. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 848. Die ›zehntausend Wesen‹ (wan wu) sind die wirkmächtigen Wesen, vorrangig Opfertiere (d. h. wu im eigentlichen Sinne des Wortes): Im einem weiteren Sinne steht wu für alle Lebewesen, in einem engeren Sinne für die Geschlechter und Totemtiere. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 434. 114 »Sechs auf viertem Rang: Man bindet den Sack zu. Es hat weder Tadel noch Lob.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 115 »Oben eine Sechs: Die Drachen kämpfen auf freiem Feld. Ihr Blut ist gelb und dunkel.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. 116 »Sechs auf fünftem Rang: Man färbt gelb das Untergewand. Großes Glück.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 20. 117 »Sechs auf drittem Rang: Das ummantelte Mal. Die Ahnenweihe kann durchgeführt werden. Jemand folgt dem Dienst des Königs. Der Wirkungslose wird bewahrt.« Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 19. 118 Dabei stellen Werden und Vergehen kein Problem für die Erde dar, jedoch für die Wesen, die in einer ›ontischen Situation‹ gezeugt werden. Die Erde als Gottheit ist eine ›Herrin‹ der Zyklen und steht deswegen über dieser Problematik.
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Ku¯n als Gottheit und Kraft
den Tod. Als jene Kraft, welche Werden und Vergehen gewährt, steht Kūn über diesen Zyklen des Lebens. 119 In der Entscheidungsmacht von Kūn zeigt sich jedoch auch, dass Kūn eine Instanz darstellt, die richtet, prüft und wählt. Dies äußert sich unter anderem darin, dass sie bestimmte Erwartungen an die Wesen stellt, von denen ›Erfolg‹ und ›Misserfolg‹ bestimmter Vorgänge abhängig sind. 120 Daher ist es für die Wesen in ihrem Wirken notwendig sich um die Unterstützung oder die Zuneigung von Kūn zu bemühen. 121 Obschon die Wesen sich jedoch darum bemühen können, die Unterstützung von Kūn zu ›gewinnen‹ und ihre Prüfung 122 zu bestehen, indem sie sich ihr gegenüber als ›tauglich‹ erweisen, bzw. ihre Tauglichkeit (de) ihr gegenüber unter Beweis stellen, ist es ihnen nicht möglich, die Macht von Kūn zu kontrollieren und in ihrem Sinne – unabhängig von der Entscheidungsmacht von Kūn – zu nutzen. 123 Dieser Gedankengang des Spruchwerks ist für das Ethos des Unverfügbaren von Bedeutung: Kūn trägt in ihrer umfassenden Kraft alle Wesen, dies bedeutet jedoch aus der Perspektive des Spruchwerkes nicht, dass die Wesen mit Blick auf ihr Wirken über Kūn verfügen können. Die Wesen können Kūn um etwas bitten, sich um ihren Beistand bemühen und sich ihrer Zuneigung verdient machen – umgekehrt kann Kūn Forderungen an die Wesen stellen, sie kann die Wesen prüfen, auswählen und mit Blick auf ihr Verhalten über sie richten. Diese archaische, dem mythisch-rituellen Denken entsprungene Vorstellung, dass Kūn mit Blick auf die Wesen eine Macht bildet, von deren Prüfungs- und Entscheidungsmacht das ›Geschick‹ der Dies kann als eine Regulierung der ontischen Situationen innerhalb einer kosmischen Ökonomie verstanden werden. Die Erde reguliert auch eine kosmische Ökonomie, welche die Gesamtheit der Lebendigen betrifft. Der Tod ist in diesem Sinne ein Katalysator der Transformation. 120 In den Sprüchen zum 24. Zeichen (Die Wiederkehr) liegt der Gedanke nicht nur darin, dass etwas zu seiner Quelle zurückkehren muss, sondern in den Erwartungen, die an den Umkehrenden und Rückkehrenden gestellt werden. Umkehr wird zur Grundlage der Beurteilung von Erfolg und Misserfolg. Kūn ist in diesem Kontext eher Richterin als Quelle des Lebens. 121 Das Bemühen um die Zuneigung von Kūn und das Gewinnen ihres Beistandes erscheint als Motiv unter anderem in dem 15. Zeichen (Die Demut) und in dem 16. Zeichen (Die Ankündigung). 122 Das Motiv der Prüfung, der Auslese und Auswahl erscheint unter anderem in dem 23. Zeichen (Die Zersplitterung). 123 Nach frühantiken Vorstellungen misst sich auch die Legitimation von Herrschaft und Führung an der ›Tauglichkeit‹ des Herrschers. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Glossar, S. 843. 119
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Das Ethos des Unverfügbaren
Wesen abhängig ist, weswegen es für die Wesen notwendig ist, die Unterstützung von Kūn zu gewinnen, ohne sie dabei kontrollieren zu können, besitzt eine Relevanz mit Blick auf eine maßgebliche Seite des Ethos des Unverfügbaren, nämlich der Frage nach einem Korrektiv hinsichtlich einer der Erde gegenüber angemessenen Haltung des Menschen. Obschon Kūn nämlich das Lebendige gewährt, steht der Mensch seinerseits vor einer grundlegenden Herausforderung, von welcher das Ausmaß seines eigenen ›Schicksals‹ abhängig ist: Nämlich jener einer möglichen Umkehr von einer Haltung der Beherrschung, Verobjektivierung und zerstörerischen Manipulation der Erde hin zu einer nicht-beherrschenden, bewahrenden Haltung gegenüber der (unendlich generativen) ›Kraft‹ der Erde. Wenn Kūn dabei Erwartungen an den Umkehrenden stellt, dann geht es dabei auch darum, wie sich das Ethos des Unverfügbaren in der menschlichen Interaktion auf eine bestmögliche Weise vollziehen kann. Kūn prüft die Wesen, allerdings erscheint diese Prüfung nicht unmittelbar: Dass die Wesen in die Irre gehen, oder ihren Weg und ihr Vermögen verlieren können, besagt, dass der Mensch sich im Ethos des Unverfügbaren erziehen muss, andernfalls kommen die Kalamitäten nachher, d. h., wenn die Handlungen des Menschen aufgrund einer falschen Haltung zu weit gegangen sind und dadurch Schaden (›Unheil‹) entstanden ist. Die Erde ist aus der Perspektive des Archaischen betrachtet nicht leer, d. h., dass sie nicht in der Verfügung des Menschen steht. Vielmehr bildet sie in sich selbst ein Kraftfeld, von dessen Wirkung alles Lebendige, nicht nur im Sein, sondern auch im Tun und Handeln abhängig bleibt. Anders gesprochen: Der Erde kommt eine gewisse ›Logik‹ zu, an welche der Mensch – durch Erziehung – sich wieder lernen muss anzupassen. Der Anschluss des Menschen ergibt sich aus einer entsprechenden Haltung oder Einstellung, durch die er aktiv zu der ›Logik‹ der Erde beitragen kann. Diese Haltung muss jedoch erst gewonnen, ein entsprechender Einstellungswechsel muss vollzogen werden, woraus ein neues Verhältnis zwischen dem Menschen und der Erde entstehen kann. Die Beziehung des Menschen zur Erde ist abhängig von seinem Zugang zu ihr. Dieser Zugang scheint für den heutigen Menschen und aufgrund kultureller Differenzen auf verschiedenen Ebenen eingeschränkt zu sein. Es gilt daher eine andere Zugangsweise zur Erde zu gewinnen, welcher mit Bezug auf das Zeichen von Kūn als Form eines horizontal ausgerichteten Weltzuganges verstanden werden muss. 328 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
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2.2 Kūn als Zeichen eines horizontalen Weltzuganges Es wurde zu Beginn dieser Arbeit gesagt, dass den Zeichen des Yijing eine besondere Wirkkraft zukommt und diese Wirkkraft sich unter anderem in der unmittelbaren Bildlichkeit oder Gestalt der Zeichen ausdrückt. Dieser Zusammenhang war für die Auslegung der Zeichengestalt von Kūn ausschlaggebend: In der Gestalt von Kūn, die als uneingeschränkte Offenheit gedeutet wurde, zeigte sich die (generative) Wirkkraft der Erde. Den Zeichen kommt im Rahmen des Yijing ein besonderer Status zu, der sich nicht einfach erschließen lässt, wenn man sie lediglich – wie es das normativ-bindende Paradigma der modern-westlichen Episteme vorschreiben würde – als eine Ansammlung von abstrakten geometrischen Figuren bzw. bloße Signifikanten sieht. 124 Eine grundlegende Schwierigkeit, das Zeichen von Kūn als Gottheit oder Kraft für das Ethos des Unverfügbaren furchtbar zu machen, besteht jedoch nicht in einer präjudizierten Anwendung fremder Interpretationssysteme auf eine Weltkonfiguration, die eine andere Zugangsweise verlangt, sondern gerade in den hierarTrotz der verschiedenen Versuche, ein hermeneutisches Gegengewicht in der Symbolinterpretation zu schaffen, beispielsweise bei Gaston Bachelard, Mircea Eliade, C. G. Jung und Gilbert Durand, bleibt die allgemein legitimierte Propädeutik in den westlichen Geisteswissenschaften immer noch an ein u. a. auf Ferdinand de Saussure und Claude Levi-Strauss zurückführbares formales Kriterium gebunden, nach dem das Zeichen d. h. das, was sich bezugsmäßig zeigt, keinerlei Bindungskraft besitzt außerhalb der Immanenz der formalen Struktur, zu der es gehört. Die Korrelation zwischen Signifikanten und Signifikat würde in diesem Sinne nur vom Verhältnis zwischen der Sphäre des Sprachsystems und jener der mentalen Sphäre bzw. der abstrakten Vorstellungskraft des Individuums Rechenschaft ablegen, und zwar unter Absehung des Bezugs zur ›äußeren Wirklichkeit‹. Diese Evakuierung der ontologischen Frage, die zu einem gewissen Zeitpunkt einige methodologische Vorteile mit sich gebracht haben mag, ist im Hinblick auf die Symbolhermeneutik (insbesondere bei nicht europäischen Kulturen) eine irreführende Amputation. Gegen die Zäsur der Erlebnisebene angesichts des ›Realen‹ oder nicht formal Konstruierten bei dem Umgang mit Symbolen hat Gilbert Durand (als Antwort auf Levi-Strauss’ Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft) folgenden Satz formuliert: »Wenn das, was der Ordnung der Natur angehört und daher den Kriterien von Allgemeinheit und Spontaneität entspricht von jeder Kulturtätigkeit des Menschen völlig getrennt ist, d. h. von dem, was mit Partikularität, Relativität und Einschränkung zusammenhängt, sind wir trotzdem dazu gezwungen, irgendeine Art Entsprechung zwischen Natur und Kultur [hier zwischen dem Realen und dem Konstruierten] zu finden, sonst würden wir in die Gefahr geraten, zu bestätigen, dass die ganzen Inhalte unserer Kultur niemals erlebt wurden.« Gilbert Durand: Les structures anthropologiques de l’imaginaire, Paris 2016, S. 32.
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chischen Implikationen, die mit den der Weltkonfiguration des Yijing inhärenten religiösen Komplexen wie dem Opferkult und der Ahnenverehrung in Verbindung stehen. 125 Wir sind daher in unserer Auseinandersetzung mit Kūn mit einer doppelten Aufgabe konfrontiert: 1. eine alternative Zugangsweise zur ›Wirklichkeit bzw. Wirkkraft der Zeichen‹ zu schaffen und plausibel zu machen, und 2. eine archäologische Restauration der mythologischen, kultischen und rituellen Schichten, die einen operativen und alternativen Wert nicht nur im System, sondern auch des Systems geltend machen können. In diesem Sinne bildet der Schamanismus 126 einen Komplex, der (neben der Es wurde bereits im zweiten Kapitel (Vgl. Kūn als Ahnengottheit der Erde) darauf hingewiesen, dass der Fruchtbarkeitskult und die Verehrung verschiedener Gottheiten und Ahnen, die das Reich bevölkern, welches ›unter dem Himmel‹ ist (tian xia), im Mittelpunkt der Legitimierung der Herrschaft des Geschlechtes der Zhou und ihrer Einbindung in einen Entstehungsmythos der Welt steht. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 374. Obschon im dritten Kapitel (Vgl. Kūn und die Gottheit der Erde) durch eine kritische Rekonstruktion verschiedener religiöser und mythologischer Motive versucht wurde, die Vorstellung von Kūn als einer zweitrangigen Gottheit zu unterlaufen, bleibt das ein ›Pantheon‹ von Gottheiten kennzeichnende Hierarchisierungsgefälle – zumindest im Kontext der Überlieferungen und teilweise auch des Spruchwerkes – bestehen. Wie Ahnenverehung, Opferkult und Analogismus (als zentralem Hierarchisierungschema) einander wechselseitig bedingen bzw. im Rahmen eines Komplexes gesehen werden können, soll im Folgenden noch deutlicher werden. 126 Mit Bezug auf den Komplex des Schamanismus in China wurde der Ausdruck ›Wuismus‹ geprägt, der sich aus dem Wort wu ableitet, was unter anderem als ›Schamane‹ übersetzt wurde. Das Zeichen wu wurde auf den Orakelknochen der ShangDynastie entdeckt. Wu kann daher als ein altes Konzept betrachtet werden, obschon einige Verschiebungen hinsichtlich seiner genauen Bedeutung im Laufe der Zeit und in verschiedenen Regionen aufgetreten sind. Vgl. Enzheng Tong: Magicians, Magic, and Shamanism in Ancient China, in: Journal of East Asian Archaeology, 2002, S. 27– 74. Die Wortneuschöpfung ›Wuismus‹ trägt dabei der Tatsache Rechnung, dass der Begriff des Schamanismus, aufgrund seiner vielfältigen Erscheinungsformen und Erscheinungstypen in kulturellen und ethnischen Kontexten, nicht einheitlich definiert werden kann. Die chinesischen Gelehrten sind sich jedoch einig darüber, dass die wu als Schamanen im Sinne des Tanzens, der Divination und des Kontaktes mit Geistern (›Spirits‹) betrachtet werden können. Siehe hierzu Kwang-chih Chang: Art, Myth and Rituals, The path to Political Authority in Ancient China, Cambridge 1983; Kwangchih Chang: Ritual and Power, in: Cradles of Civilization: China, hrsg. v. R. E. Murowchick, Norman 1994, S. 60–69; Kwang-chih Chang: Shang Shamans, in: The Power of Culture, hrsg. v. W. J. Peterson, A. H. Plaks und Y. Yu, Hong Kong 1994, S. 10–36; Kwang-chih Chang: The Rise and the Formations of City-States, in: The Formation of Chinese Civilization, An Archaeological Perspective, hrsg. v. K. C. Chang und P. Xu, New Haven 2005, S. 125–140, und Elizabeth Childs-Johnson: Dragons, Masks, Axes and Blades from Four Newly Documentes Jade-Producing Cultures 125
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Ahnenverehrung und dem Opferkult) im Kontext der religiösen Schichten und Vorstellungen, die dem Yijing und seiner Formation zugrunde gelegen haben, eine wesentliche Rolle gespielt haben könnte und bietet unter anderem eine mögliche Grundlage für ein differenzialistisches Verständnis der Wirkkraft der Zeichen im Yijing. 127 Dafür spricht insbesondere auch die für das Yijing wesentliche Kraft des Orakels oder der Divination, die als eine besondere Methode der Interaktion mit verschiedenen geistigen Mächten und Kräften betrachtet werden kann. 128 Der Schamanismus stellt, im Hinblick auf of Ancient China, in: Orientations, 1988, S. 30–37; Elizabeth Childs-Johnson: The Shang Bird: Intermediary to the Supernatural, in: Orientations, 1989, S. 53–61; Elizabeth Childs-Johnson: Ghost Head Mask and Metamorphic Shang Imagery, in: Early China, 1995, S. 79–92. Siehe auch Lothar Falkenhausen: Reflections on the Political Role of Spirit Mediums in Early China: The Wu Officials in the Shou Li, in: Early China, 1995, S. 279–300 und David N. Keightley: Shamanism, Death, and the Ancestors: Religious Mediation in Neolithic and Shang China, in: Asiatische Studien, 1998, S. 763–831, welche das Wort wu mit Geist-Medium übersetzen. Nach Sarah Allan stand im Zentrum der Shang-Überzeugungen nicht der Schamanismus, sondern die Ahnenverehrung, in welcher die Toten weiter existieren und Nahrung von den Lebenden benötigen. Der Opferkult wird von Allan als Mittelpunkt der Religion der Shang angesehen, mit rituellen Opfern und Speiseangeboten an die Geister als Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten. Vgl. Sarah Allan: Chinese Bronzes through Western Eyes, in: Exploring China’s Past, hrsg. v. Roderick Whitfield und Wang Tao, S. 63–76, hier S. 71. Sarah Allan betrachtet die wu der Shang-Dynastie als eine Form spezialisierter Priester, die die Seelen der Toten rufen konnten. Sie benutzt den Begriff Schamane nicht, sttattdessen betrachtet sie das Denken der Shang als »mythisch«. Vgl. Sarah Allan: The Shape of the Turtle: Art and Cosmos in Early China, Albany 1991, S. 85. 127 In der Großen Überlieferung wird dem Ahnengott Fu Xi (Bao Xi) die Erfindung der 64 Zeichen zugeschrieben: »In vergangener Zeit war der aus der Sippe Bao Xi König über das Reich: Er schaute nach oben und betrachtete die Bilder am Himmel. Er schaute nach unten und betrachtete die Formen auf der Erde. Er betrachtete die Vögel und wilden Tiere und wie [diese] der Erde angepasst waren. Indem er im Nahen von seinem Leib nahm und in der Ferne von den Dingen, schuf er zuerst die acht Zeichen, um [in gegenseitiger] Durchdringung zur Tauglichkeit der Götter und Geister zu stehen und das nach seiner Weise mit der Veranlagung der zehntausend Wesen Übereinstimmende zu wirken.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Die Große Überlieferung, S. 223. 128 »Da die ›Wandlungen‹ nach Himmel und Erde ausgerichtet sind, können sie die Wege von Himmel und Erde zusammenschnüren. Sie blicken nach oben, um die Zeichnung des Himmels zu betrachten. Sie schauen nach unten, um die Adern der Erde zu untersuchen. Daher wissen sie um die Gründe des Verborgenen und Lichten. Sie verfolgen die Anfänge [die Wesen] bis hin zu ihren Ursprüngen und zurück bis zu [ihren] Enden. So erkennen sie die Lehren von Leben und Tod.« Yijing, übers. u hrsg. v. Dennis Schilling, S. 211. »Die Wandlungen nehmen die Umgestaltung von
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Das Ethos des Unverfügbaren
eine differenzialistische Lesart, einen Zugang zu den Zeichen des Yijing dar, selbst, wenn ein solcher Schritt mit einigen Schwierigkeiten behaftet ist, insbesondere mit Blick auf die Frage des spezifischen Erscheinungstypus des Schamanismus, welcher zumindest dem weiteren Kontext des Yijing unterstellt werden müsste. Von mehreren Archäologen, deren Forschungstätigkeit in China lag, wurde das Postulat aufgestellt, dass die frühe Religion bzw. Ideologie Ostasiens der Schamanismus war, insofern verschiedene Merkmale archäologischer Entdeckungen – insbesondere Bestattungs- und Kunstgegenstände – schamanische Rituale nahelegen. Andere Archäologen und Historiker sind davon nicht überzeugt und sehen in patrilinearen Klans und Ahnenverehrung die politischen und sozialen Bindungen, die den Staat funktionsfähig hielten. 129 Gemeinsam ist den gegenwärtigen Formen ostasiatischen Schamanismus die Überzeugung, dass es Geister 130 gibt, die das menschliche Leben beeinflussen können und einigen besonderen Menschen die Fähigkeit zukommt, diese Geister zu erreichen, vor allen Dingen aber die Vorstellung, dass eine Aussöhnung mit den Geistern den Verlauf von Ereignissen beeinflussen kann. 131 Dabei bildet die Beziehung zwischen den Geistern und ihren menschlichen Gegenübern eine KonHimmel und Erde zu [ihrem] Maß und Umfang, so daß sie nicht fehlgehen.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 212. »Denn weit sind die ›Wandlungen‹ ! Wie groß sind sie! Nimm sie, um das Ferne anzusprechen, so wirst du nicht abgewehrt! Nimm sie, um das Nahe anzusprechen, so bewirkst du Ruhe und Gerechtigkeit! Nimm sie, um das anzusprechen, was zwischen Himmel und Erde ist, so ist dies alles gegeben.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Die Große Überlieferung, S. 213. »Denn die Wandlungen sind das, womit die Berufenen die Tiefe ausloten und die Keime prüften. Dadurch, dass sie keimhaft sind, konnten sie die Absichten des Reiches durchdringen. Dadurch, dass sie keimhaft sind, konnten sie Aufgaben des Reiches vollenden.« Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Die Große Überlieferung, S. 218. 129 Vgl. Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of the State, S. 2. 130 Der Begriff ›Geister‹ ist mit einiger Vorsicht zu gebrauchen, sofern er eine Art meta-empirische Sphäre impliziert: »Other-than-human persons include not only rarely encontered beings, but also many far more common, but still potentially powerful, persons. […] Spirit is unhelpful because it suggests that all persons of significance to shamans are of one kind, and also because it suggests such persons are beyond sensual experience. […] The immediate link of ›spirit‹ with ›supernatural‹ and ›spiritual‹ insists that such beings are meta-empirical, i. e. not real in any everday, selfevident, scientifically respectable way […]. The end result is a further call to abandon terms like ›spirits‹ as unhelpful and often meaningless«. Graham Harvey: Shamanism: A Reader, London, New York 2010, S. 11. 131 Vgl. Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of States, S. 4 f.
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stante, welche den beachtlichen Unterschieden in den verschiedenen Formen des ostasiatischen Schamanismus zugrunde liegt. 132 In ihrem Buch Shamanism and the Origin of States vertritt Sarah Nelson die These, dass der Schamanismus und seine Rituale und Überzeugungen eine wichtige Grundlage in der Bildung von Staaten im alten Ostasien bildete und Schamanen selbst zu Führern werden konnten. 133 Ausschlaggebend für diese Annahme ist, dass den Schamanen eine besondere Fähigkeit zugesprochen wurde, die auf einem unterschiedlichen Zugang zu den Geistern und damit zur spirituellen Macht basierte. 134 Zentral für die Untersuchung von Nelson ist dabei die Frage nach dem Geschlecht der Schamanen: Nicht nur sind aktuellen Studien nach überwiegend Frauen Schamanen, sondern auch im Kontext des Auftretens von Schamanismus im frühen China sollen Frauen Schamanen gewesen sein, was – vor dem Hintergrund von Nelsons These – zugleich implizieren würde, dass ihnen auch eine bestimmte In dem Versuch, das Phänomen des Schamanismus näher zu fassen, sind für eine archäologische Eingrenzung vor allen Dingen die Praktiken und die damit verbundene materielle Kultur wichtig. Dabei scheint die Inszenierung von dramatischen Ereignissen durch Musik (die Erzeugung von rhythmischem Klang durch z. B. Trommeln, Glockenspiel und Flöten), Tanz (mit langen Ärmeln und ausgestreckten Armen) und verschiedene Kostüme und Kopfbedeckungen (die wirbeln, baumeln oder glitzern und mit Tierdarstellungen versehen sind) charakteristisch zu sein. Vgl. Sarah Milledge Nelson: Shamans, Queens, and Figurines, The Development of Gender Archaeology, London, New York 2016, S. 202. Auch können spezifische Arten der Darstellung von Vögeln, Wildtieren, Zeichnungen der Sonne mit Strahlen als schamanische Merkmale angesehen werden, genauso wie die Transformationen einer Art von Wesen zu einer anderen Art und zusammengesetzte Tiere. Die neolithische Archäologie in China ist, wie wir teilweise schon gesehen haben, vielfältig, einschließlich des Inhalts und der Anordnung von Bestattungen sowie ritueller Bauten und Landschaften, Statuen und Figuren sowie geschnitzter Jade-Objekte mit verschiedenen Bedeutungen. Auch Altäre und die Platzierung und Form von Gräbern tragen zum Verständnis des neolithischen Schamanismus bei. Der Shang-Schamanismus ist ein weiterer möglicher Prüfstein, der aus verschiedenen Quellen (den Orakelknochen, Dokumenten aus der Zhou-Zeit und später, Symbolik auf Bronzen und anderen Symbolen, insbesondere auf Jade) entnommen werden kann. Vgl. Sarah Nelson: Shamans, Queens, and Figurines, S. 202. 133 Nelson führt verschiedene archäologische Evidenzen für die Gegebenheit des Schamanismus im ostasiatischen Neolithikum an. Die neolithischen Daten bieten Gründe für die Annahme, dass der Schamanismus in China bereits vor dem Aufstieg des Shang-Königreiches eine lange Geschichte hatte. Vgl. Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of States, S. 10–11. 134 Die Fähigkeit der Führer Geister zu kontaktieren und zu beeinflussen, garantierte nach Nelson die Folgebereitschaft der Bevölkerung. Vgl. Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of States, S. 9. 132
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Macht zugekommen ist. 135 Doch genauso wie der Schamanismus als unvereinbar mit Gesellschaften auf staatlicher Ebene betrachtet wurde 136, wird Führung als ein ausschließlich männliches Vorrecht betrachtet. Nelson konstatiert, dass trotz der aussagekräftigen Beweislast für weibliche Schamanen 137 viele das Gegenteil behauptende Schriften vorgelegt wurden. 138 Ihr zufolge sind die der Frau einen Vgl. Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of States, S. 3. Die Definition einer Gesellschaft auf Staatsebene umfasst in der Regel eine von Priestern dominierte Religion und einen schriftlichen Kanon, was darauf hindeutet, dass schamanisch Praktizierende, die einen direkten Zugang zu den Geistern hatten, als zur ›niedrigeren‹ Ebene der soziokulturellen Evolution gehörend betrachtet wurden. Vgl. Kent Flannery: Cultural Revolution of Civilizations, in: Annual Review of Ecological Systematics, 3, S. 399–426. Auch in der Ethnologie wird der Schamanismus oft als ein Gegensatz zum Staat gesehen, der innerhalb staatlicher Mechanismen koexistiert. In weniger komplexen Gesellschaften werden Schamanen konsequent als Führer beschrieben, und ein allgemeines Verständnis dafür ist, dass sie als ›sachkundig‹ gelten. Hsu unterstreicht dieses Element in Bezug auf diejenigen, welche die Orakelknochen der Shang in China lesen konnten, und stellt fest, dass sie sachkundige Spezialisten waren. Vgl. Cho-yun Hsu: The Origina and Diversity of Axial Age Civilizations, hrsg. v. S. N. Eisenstadt, Albany 1986, S. 451–486. 137 Aus einer Textpassage, die einen eindeutigen Bezug zum Schamanismus aufweist und welche die Grundlage bildet, worauf das Verständnis des Schamanismus im alten China errichtet wurde, geht eindeutig hervor, dass wu Männer und Frauen gewesen sind, welche Zugang zu den Geistern hatten und die Geister vermöge ihrer Fähigkeiten mit ihnen in Verbindung treten konnten: »Anciently, human beings and spirits did not mix. But certain persons who were so perspicacious, single-minded, reverential, and correct that their intelligence could understand what lies above and below, their sagely wisdom could illumine what is distant and profound, their vision was bright and clear, and their hearing was penetrating. Therefore, the spirits would descend upon them. The possessors of such powers were, if men, called xi and if women, wu. They supervised the positions of the spirits at the ceremonies, took care of sacrificial victims and vessels as well as of the seasonal robes.« Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of States, S. 51; Hervorhebung von der Verfasserin. Das altchinesische Wörterbuch Shuowen definiert den Begriff wu folgendermaßen: »Wu are Chu, female, capable of serving the formless [spirits] and dancing to bring down the spirits. [The character] is composed of a person extending the two sleeves in the act of dancing.« Julia Ching: Mysticism and Kingship in China: The Heart of Chinese Wisdom, Cambridge 1997, S. 20. 138 Während Chang zeigen möchte, dass Könige Schamanen und Schamanen Könige sein können – weswegen es für ihn notwendig erscheint, Frauen als Schamanen auszuschließen, um sein Hauptanliegen des Beweises der Identität des Königtums und des Schamanismus zu schützen – räumt Keightley im Kontext der Untersuchung von neolithischen Bestattungen noch ein, dass einige Frauen einen hohen Status haben konnten, weil Frauen als Vorfahren verehrt werden wurden. Dies kann als ein wichtiger Beweis für den Status von Frauen – nicht von Frauen im Allgemeinen –, sondern von einigen Frauen, wahrscheinlich Elite- und mächtigen Frauen angesehen werden, 135 136
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lediglich zweitrangigen Platz einräumenden, konfuzianischen Vorschriften dafür verantwortlich, dass das Verständnis der frühen ostasiatischen Kulturen verzerrt wurde, weswegen sie es für notwendig erachtet, dass die Archäologie und die Textnachweise ohne das Gewicht der Meinung späterer Zeitalter untersucht werden. 139 In ihren Untersuchungen kommt sie nicht nur zu dem Schluss, dass Schamanen während der Bildung von Staaten in vielen Teilen Ostasiens führend gewesen sind, sondern auch, dass die für sie patrilinear strukturierte Ahnenverehrung den Schamanismus in China als spirituelles Zentrum ersetzt hat und damit zugleich Frauen aus der legitimen Macht ausgeschlossen wurden: »At that time, women were often shamans – and they were often leaders. Men may have achieved and maintained control in China through the simple device of the lineage system […], which, being patrilineal, crowded women out of legitimate power in human affairs. In China, ancestor worship replaced shamanism as the spiritual center of the culture, transferring power to the male lineage. Perhaps lineages eventually deprived women from power even in the world of the spirits in central China. But elsewhere in East Asia, women retained their connections with the spirit – and with power.« 140 Es stellt sich mit Blick auf Nelsons These jedoch die Frage, welche Form von Schamanismus sie im Blick hat, wenn sie sagt, dass Schamanen während der Entstehung von Staaten führend gewesen sind. 141 Sofern Frauen zu dieser Zeit oft Schamanen gewesen sind, müsste ihnen eine führende Position bzw. eine bestimmte Form von die ihre Macht möglicherweise sowohl aus ihrer Abstammung als auch aus ihrer wahrgenommenen Fähigkeit gezogen haben, andere davon zu überzeugen, dass sie den Geistern befehligen könnten. Vgl. David N. Keightley: Theology and the Writing of History: Truth and Ancestors in the Wu Ding Divination Records, in: Journal of East Asian Archaeology, 1, 207–230; K. C. Chang: The Rise of Kings and the Formation of City-States, in: The Formation of Chinese Civilization, An Archaeological Perspective, hrsg. v. K. C. Chang und P. Xu, 2005, S. 125–140. 139 »The question of whether women could be shamans/rulers in state-level societies is a sticky one. The vehemence with which female shamans have been denied by some prominent scholars is quite surprising, especially given the abundant ethnographic evidence of women as shamans. Atkinson […] notes that ›scholarly constructions of shamans reveal highly gendered assumptions.‹ […] The gynophobia of Chinese historic texts may mask considerable power in the hands of women.« Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of States, S. 95. 140 Sarah Nelson: Shamanism and the Origin of States, S. 231. 141 Es müssten hinreichend Elemente gegeben sein, um eine Kontinuität des Schamanismus bei dem Übergang von stammartigen Gruppen zu komplexen Siedlungen zu
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Das Ethos des Unverfügbaren
Macht zugekommen sein. Wenn sie dies damit erklärt, dass die Ahnenverehrung den Schamanismus ersetzt hat und dadurch die Macht auf die patrilineare Linie übertragen wurde, impliziert dies zugleich, dass der Schamanismus (oder eine bestimmte Erscheinungsform desselben) ursprünglich nicht patrilinear oder patriarchal organisiert war. Ob eine genderspezifische Wandlung innerhalb der Institution des Schamanismus tatsächlich stattgefunden hat, ist indes unmöglich zu beweisen, aber die Unterscheidung zwischen einem vertikalen und einem horizontalen Schamanismus 142 könnte für unsere differenzialistische Lesart von Kūn und eine alternative Hermeneutik des Yijing richtungsweisend sein. Die Unterscheidung zwischen einem vertikalen und einem horizontalen Schamanismus lässt sich ausgehend von einigen Forschungsergebnissen der post-strukturalistischen Ethnologie 143 an eine Erweiterung des Konzeptes des Animismus 144 anbinbeweisen und gleichzeitig eine Diskontinuität des agens der schamanischen Macht zu postulieren, die wesentlich mit der aktuellen Genderproblematik zusammenhinge. 142 Siehe zu dieser Unterscheidung: Hugh-Jones: Shamans, Prophets, Priests and Pastors, in: Shamanism, History and the State, hrsg. v. N. Thomas und C. Humphrey, Ann Arbor 1996. 143 Diese Ergebnisse betreffen die sogenannte ›ontologische Wende‹ in der Anthropologie. Zur Klärung und Kontextualisierung des Begriffs und der damit zusammenhängenden Denkströmung siehe u. a. John Kelly: The ontological Turn in French Philosophical Anthropology, in: HAU: Journal of Ethnographic Theory, 4 (1), 2014, S. 259–269; Olivier Surel: Let a Hundred Natures Bloom: A Polemical Trope in the ›Ontological Turn‹ of Anthropology, in: Krisis. Journal of Contemporary Philosophy, Issue 2, 2014, S. 14–28; und Frédéric Keck, Ursula Regehr, Saskia Walentowitz: Anthropologie: le tournant ontologique en action, in: Tsantsa, 20, 2015, S. 4–9. Wie der Ausdruck schon andeutet, führt diese Wendung nicht nur eine Art Paradigmenwechsel innerhalb des Komplexes ›Ethnographie-Ethnologie‹ ein, der immer auf bestimmte (kulturell und geographisch eingeschränkte) Weltkonfigurationen verweist, sondern sie stellt die Basis der klassischen philosophischen Anthropologie und selbst der interkulturellen Philosophie in Frage, zunächst indem die alte Trennung zwischen ›Natur‹ (als dem, was nicht-menschlich ist) und ›Kultur‹ (d. h. dem, was vom Menschen gemacht wurde) aufgehoben wird, aber auch indem sogenannte Universalfragen der Philosophie (wie z. B. der Aufbau von ontologischen Modellen und Letztbegründungsversuchen oder die allgemeine Objektivität der modernen Wissenschaft) angesichts der Koexistenz von gleichwertigen und inkommensurablen Weltanschauungen ihre Selbstverständlichkeit bzw. ihren Absolutheitsanspruch verlieren. 144 Die Ethnologie nach dem Zeitalter des Kolonialismus stellt der philosophischen Reflexion eine unausweichbare Herausforderung: ihr eigenes objektiviertes Wissen nicht nur zu relativieren, sondern in seinen eigenen Voraussetzungen zu hinterfragen. Was den Animismus betrifft, gilt die selbstverständlich hingenommene Annahme eines (falschen) Glaubens an nicht-empirische Wesen (bei Edward Tylor, Georg Frazer, Sigmund Freud, usw.) als das Ergebnis einer Unfähigkeit, die modern-west-
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den, welcher dem Schamanismus neben der Ahnenverehrung (und auch dem Totemismus) oftmals zur Seite gestellt wurde. 145 Ein erweiterter Begriff des Animismus würde nicht nur den anthropologisch geprägten Paradigmenwechsel in Betracht ziehen, sondern auch, vermittelst einer genaueren Annäherung an das Phänomen, verschiedene Typen, d. h. Misch- und Übergangsformen innerhalb dieser Weltkonfiguration einschließen: einen immanenten, d. h. horizontal und egalitär ausgerichteten und einen hierarchischen – vertikalen – Animismus, denen jeweils (auch im Falle des antiken China) ein vertikaler und ein horizontaler Schamanismus entspräche. 146 Dabei kann der liche rein kognitive Unterscheidung zwischen ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ auf alle möglichen Weltverhältnis- und Weltverständnismodi mechanisch anzuwenden, d. h. unter Absehung von spezifischen Denk-, Handlungs- und Interaktionsstrategien andersartiger Gruppen. Es gibt daher einen neue Bedeutungsschicht des Terminus ›Animismus‹, die nicht mehr von einer Verwechslung zwischen Subjekt und Objekt (d. h. einer Zuschreibung von subjektiven Qualitäten zu bloßen d. h. nicht-beseelten Naturobjekten), sondern von einer Verhaltensweise gegenüber anderen Wesen (sowohl menschlich als nicht-menschlich) getragen ist. In den Worten von Graham Harvey: »The newer usage [of the term ›animism‹] refers to a concern with knowing how to behave appropriately towards persons, not all of whom are human. […] While it may be important to know whether one is encountering a person or an object, the really significant question for animists of the new kind is how personas are to be treated or acted towards. Discussion of theses discourses, points of view, practices and possibilities aids to attempt to understand world-views and lifeways that are different in various ways from the typically inculcated and more or less taken for granted Western modernity.« Graham Harvey: Animism. Respecting the Living World, London 2019, Einleitung, S. xvii-xviii. 145 Obschon Animismus und Ahnenverehrung jeweils einen eigenen Komplex bilden, können sie koexistieren und bilden gewisse Überschneidungsstellen. Der animistische Komplex könnte in seiner Erweiterung einen anderen Zugang zu dem schamanistischen Komplex in China bieten. 146 Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, in: Animism in Southeast Asia, hrsg. v. Kaj Århem und Guido Sprenger, New York 2016. Kaj Århem erweitert – vor dem Hintergrund seiner Studien und seiner Anlehnung an Philippe Descolas Unterscheidung verschiedener ontologischer Typen. (Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, Berlin 2001) das Konzept des Animismus, verstanden als ein Kontinuum phänomenaler Formen, von einer egalitären oder horizontalen Form (was dem standardisierten Verständnis von Animismus entspricht) hin zu einem hierarchischen oder vertikalen Typus, den er als hierarchischen Animismus bezeichnet. Sofern der Animismus als eine besondere Form der Welterschließung und Sozialisierungstendenz einer Gruppe definiert werden, kann, in der – wie Descola sagt – eine Kontinuität von Innerlichkeiten oder Interioritäten zwischen Menschen und NichtMenschen (Tieren, Pflanzen) auffällig ist, führt die hierarchische Variante des Animismus eine Art sammelnde Oberinstanz ein, welche die Gesamtheit der Innerlichkeiten (›Geister‹) als eine Deklination von subjektiv-geprägten Kraftemanationen in
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Das Ethos des Unverfügbaren
hierarchische, vertikale Animismus im Zusammenhang mit einer hierarchisch gegliederten Vorstellung des Kosmos (in etwa dem Analogismus 147, der auch für die Hermeneutik der Macht in den Überlieferungen des Yijing als Ordnungsfaktor eine zentrale Rolle spielt) und einer Ausrichtung an einer höchsten Gottheit, eines Wesens oder einer Kraft (wie der Gottheit des Himmels) sowie einem ausgeprägten Ahnen- und Opferkult (wie im Kontext des Spruchwerks) gesehen werden. Während der horizontale oder immanente Animismus eher mit einem Weltbezugsmodus korreliert, der von einer ontologischen Gleichwertigkeit der Wesen ausgeht und wo das Hierarchieprinzip sowie die Vorstellung eines höchsten Wesens und eines damit verbundenen Ahnen- und Opferkultes abwesend ist. 148 Durch eine Kontrastierung des Animismus mit dem Analogismus, die nach Philippe Descola als zwei verschiedene Formen einer Ontologie und Alternative zum modernen Naturalismus aufgefasst werden können, soll dieser Zusammenhang deutlich gemacht werden. 149 Im Gegensatz zum Naturalismus, der von einer grundlegeneiner ontischen Situation verteilt, sodass einige Wesen (beispielsweise Tiere) gemäß einer Notwendigkeitslogik ›geopfert‹ werden müssen, damit andere Wesen zu einer gelungenen Sozialisation (z. B. Menschen mit Göttern) und einer fruchtbaren Entwicklung ihrer eigenen sozialen Dynamik gelangen können. Diese vorläufige Unterscheidung soll im Folgenden weiter spezifiziert werden. 147 In seiner Studie Jenseits von Natur und Kultur entwirft Philippe Descola eine vierfache Typologie generischer ontologischer Typen – Animismus, Totemismus, Analogismus und Naturalismus –, unter die er alle historisch und ethnographisch bekannten Kosmologien subsumiert. Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, Berlin 2001. Sein Ausgangspunkt bildet eine universelle Dichotomie zwischen ›Innerlichkeit‹ und ›Körperlichkeit‹. Ausgehend von dieser Prämisse gibt es vier logisch mögliche Wege, auf denen ein hypothetisches Subjekt (Selbst) ein ›Anderes‹ in Bezug auf Ähnlichkeit oder Unterschied identifizieren kann: (1) geteilte Innerlichkeit, aber unterschiedliche Körperlichkeit (Animismus); (2) geteilte Körperlichkeit, aber unterschiedliche Innerlichkeit (Naturalismus); (3) geteilte Innerlichkeit und Körperlichkeit (Totemismus); und (4) unterschiedliche Innerlichkeit und Körperlichkeit (Analogismus). Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 190. 148 Beiden Formen gemeinsam ist die Vorstellung, dass nicht nur Menschen eine Seele haben (Bewusstsein, Wille und Absichten), sondern auch Tiere, Pflanzen und eine ganze Reihe anderer Objekte und Phänomene. Vgl. Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 3. 149 Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 190. Descola beschreibt bzw. rekonstruiert diese Ontologien (Animismus, Totemismus, Analogismus und Naturalismus), und führt damit die Problematik eines pluralontologischen Universums ein, in dem keine Ontologie absolut ist und Elemente der einen oder der anderen Ontologie wechselseitig nützlich gemacht werden können.
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den Dichotomie zwischen objektiver Natur und subjektiver Kultur ausgeht, stellt der Animismus ein an menschliche und nicht-menschliche Personen gebundenes, d. h. pan-subjektives Universum dar, in dem die kartesianische Spaltung zwischen Person und Ding – sowie alle damit zusammenhängende Dichotomien, die in der modernen westlichen Kultur dominant geworden sind – aufgelöst wird. Im animistischen Kontext können Tiere und Pflanzen, Wesen und Dinge als intentionale Subjekte und Personen erscheinen, die zu Wille, Absicht und Handeln fähig sind. 150 Im Vergleich zu einer (ontologischen) Äquivalenz zwischen existierenden Wesen im Animismus ist die ontologische Hierarchie konstitutiv für den Analogismus. 151 Nach Descola geht der Analogismus von einem Kosmos aus, dessen Bestandteile in eine Vielzahl von Essenzen, Formen und Substanzen aufgeteilt ist, die durch kleine Unterscheidungen getrennt und manchmal in einem abgestuften Modell angeordnet sind, welches sie zu einem dichten Netz von Analogien verbindet. 152 Das Funktionieren des analogen Kosmos wird typischerweise durch eine unpersönliche und unbeabsichtigte Dynamik verständlich und handhabbar gemacht, einer Art Analogiemechanik oder ›symbolischen Physik‹, die
Von seinen evolutionistischen Konnotationen befreit, kann der Animismus nach Århem als eine alternative, nicht-moderne Ontologie verstanden werden und bildet in diesem Sinne einen Kontrapunkt zum Naturalismus, die er als eine hegemoniale Kosmologie der Moderne bezeichnet. Als ein solcher hat er die disziplinären Grenzen der Anthropologie und Religion überschritten und ist zu einem weit verbreiteten kritischen Begriff in den Geistes- und Sozialwissenschaften geworden. Vgl. Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 3. Für Bird-David stellt der Animismus kein merkwürdiges religiöses Glaubenssystem dar – der Glaube an Naturgeister oder an die belebte Natur –, sondern vielmehr einen relationalen Modus der Welterkenntnis. Dabei schärft die ansprechende Auseinandersetzung mit nicht-menschlichen Wesen und Dingen als Person die Aufmerksamkeit für die Umwelt und erweitert das Wissen über die Umwelt. Aus diesem Grund macht der Animismus den Menschen die Verbundenheit zwischen dem Selbst und der Umwelt bewusst. Vgl. Nurit Bird-David: Animism Revisited, Personhood, Environment and Relational Epistemology, in: Current Anthropology, 40, 1999, S. 76–91. Ingold spricht im Kontext des Animismus von der Bejahung einer Weltoffenheit. Der Animismus stellt für ihn eher eine Ontogenese (d. h. eine Haltung, die offen ist für die Welt, die selbst in einem beständigen Werden begriffen ist), denn eine Ontologie dar. Vgl. Tim Ingold: The Perception of the Environment: Essays on Livelihood, Dwelling, and Skill, London 2000, S. 69. 151 Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 339 f. 152 Als Beispiel hierfür nennt er die Doktrin der Korrespondenzen im alten China. Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 301. 150
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Descola der zwischenmenschlichen Intimität und intersubjektiven Verwandtschaft des animistischen Kosmos gegenüberstellt. 153 Subjektivitäten oder Intentionalitäten – die Begriffe von Descola für Seelen und Geister – sind im analogen Universum reichlich vorhanden, doch scheinen sie für Descola fragmentiert und zerstreut, gebrochen in einer Vielzahl von Wesen und Objekten. 154 Als personifizierte Geister hypostasiert, bewohnt diese diffuse Subjektivität die verschiedensten Ansammlungen von Wesen und Dingen (Steine, Bäume, menschliche Personen etc.) und offenbart sich, verdinglicht als Macht, Potenz oder Vitalität durch ihre Wirkungen. 155 Für Descola bildet die Hierarchie als grundlegendes Strukturierungsprinzip in analogen Systemen eine sinnvolle Methode, um die außerordentliche Verbreitung und den Fluss der Singularitäten, die den analogen Kosmos bilden, zu steuern. 156 Diese ontologische Hierarchie und ihr politischer Ausdruck im analogen Gemeinwesen wird nach Descola motiviert und legitimiert durch die Idee einer außergewöhnlichen Singularität, d. h. eines höchsten Wesens, mythischen Vorfahren oder göttlichen Herrschers, die das Weltkollektiv hypostasiert und die soziale und kosmische Ordnung gewährleistet. 157 Nach Descolas Darstellung ist die analoge Ontologie empirisch durch einen ausgeprägten Komplex verwandter Ideen und Institutionen identifizierbar, der Folgendes umfasst: eine Vielzahl mantischer Praktiken, divinatorische Modalitäten, Zeichenlesen und ausgefeilte rituelle Kalender; eine Vielfalt von Ritualspezialisten, darunter Priester, Orakel, Medien, Geomanten und Astrologen; eine übermäßige Aufmerksamkeit für die Toten und das Jenseits; Ahnenkult, GeisterNach Århem beruht die Analogie auf den Prinzipien der Magie, den Frazerschen Gesetzen der sympathischen Magie. Die analogische Ontologie im Schema von Descola scheint hiernach eine zu sein, bei der die physische Kausalität des Naturalismus und die intentionale Kausalität des Animismus durch eine ›magische‹ Kausalität ersetzt werden, die auf metaphorischen und metonymischen Assoziationen beruht. Vgl. Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 14. 154 Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 301. 155 Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 339. 156 Dementsprechend ist die typische Form des analogen Kollektivs, der vormoderne Staat oder das ›Chiefdom‹, hierarchisch organisiert gemäß der Logik der segmentären Verschachtelung, durch die die Menschen nicht nur untereinander (in Kasten oder Klassen) hierarchisch geordnet sind, sondern auch mit anderen Wesen von der Unterwelt bis zum Himmel verbunden sind. Vgl. Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 14. 157 Vgl. Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 14. 153
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besessenheit und vor allem die Institution des Opfers. 158 Genau wie der Ahnenkult drückt das Opfer die hierarchische Struktur des Kosmos und das Verhältnis der schützenden Dominanz der Geister über die lebenden Menschen aus. Er stellt die unverzichtbare Verbindung mit dem höchsten Subjekt (Geist und/oder göttlicher Herrscher) her, das die kosmische Ordnung und die Fortpflanzung allen Lebens gewährleistet. 159 Das Opfer, so deutet er an, kann somit als eine Institution verstanden werden, die im Kontext einer analogen Ontologie entwickelt wurde. Ausgehend von dem spezifischen Charakteristikum der analogen Kosmologie eine universalisierte Subjektivität zu postulieren, die nach Graden differenziert ist und die existierenden Wesen in einem asymmetrischen, hierarchischen Feld der Intersubjektivität verbindet, kann das Konzept des Animismus hin zu einem hierarchischen Animismus erweitert werden. 160 Der hierarchische Animismus kann zugleich als ein transzendenter Animismus gefasst werden, sofern es anders als im immanenten Animismus keinen Bruch mit den verstorbenen Verwandten gibt, sondern die Kontinuität zwischen Lebenden und Toten eine grundlegend strukturierende Vorlage bildet. Die Verschiebung hin zu transzendenten Subjekten und einer asymmetrischen Beziehungsmatrix von Dominanz und Unterwerfung wird durch die Institution Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 340. Descola entwickelt hier auch seine eigene Opfertheorie weiter: Da die Tötung eines Opfertieres eine Verbindung mit einer transzendenten Macht herstellt, ergibt sich die Wirksamkeit der Opferhandlung aus der Tatsache, dass das das Opfertier der Gottheit als ein zusammengesetztes Paket verschiedener Eigenschaften präsentiert wird, von denen einige mit denen des Opfers identisch sind, während andere Eigenschaften mit denen der Gottheit identisch sind. Vgl. Philippe Descola: Jenseits von Kultur und Natur, S. 343. 160 Das Postulat von Descola der Idee einer zerbrochenen Welt, die sich in einem fragmentierten und instabilen Subjekt wiederspiegelt und nur durch ein dichtes Netz von vorgegebenen Analogien zusammengehalten wird, lehnt Århem – im Kontext seiner Beobachtungen – ab, jedoch nicht eine elementare Form des institutionellen Komplexes wie Ahnenkult, Geisterbesitz, Priestertum und Opfer: »I find it provisionally useful to retain Descola’s notion of analogism in a considerably trimmed – down version to refer to an ontological type displaying its distinctive features – a hierarchical cosmos fractioned into innumerable constituent parts, linked only by a symbolic physics of postulated analogies – but reserving it for the type associated with mature premodern state societies. As such, the analogical cosmology emerges as a codification of associative thinking into a systematic conceptual construct which bears the imprint of a class of ritual specialists in a complex and, perhaps, partly literate society.« Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 25. 158 159
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Das Ethos des Unverfügbaren
des Opfers verkörpert. 161 Im Gegensatz zu dem symmetrischen Verhältnis von Menschlichem und Nicht-Menschlichem im horizontalen Animismus, ist die ontologische Intersubjektivität im Opferanimismus grundlegend asymmetrisch und auf die Beziehungen zwischen Mensch und Geist ausgerichtet. Wo der Standardanimismus eine horizontale, egalitäre und symmetrische Gesamtordnung postuliert, geht der hierarchische Animismus von einem vertikalen, geordneten und abgestuften Kosmos aus, wo Objekte sich kontextuell als Subjekte präsentieren und umgekehrt, in dem aber alle Subjekt-Objekte, menschliche und nicht-menschliche, nach dem Grad ihrer Macht und Handlungsfähigkeit abgestuft sind. 162 Mit Blick auf den Kontext des Yijing kann in Anbetracht des vorher Angeführten gesagt werden, dass bereits das Shang-Königtum starke Züge eines vertikalen Schamanismus und damit verbunden eines hierarchischen Animismus zeigt. 163 In den Überlieferungen des Das Opfer ist der zentrale religiöse Akt, der die Abhängigkeit des Menschen von den Geistern und seine Unterwerfung unter sie ausdrückt, aber auch das Vertrauen in ihr Wohlwollen und die Erwartung ihres Segens. Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 19. 162 Kaj Århem: Southeast Asian Animism in Context, S. 26 f. 163 Im Hinblick auf die Shang kann aus den Orakelknochen geschlossen werden, dass Königtum und göttliche Macht eng miteinander verflochten waren und die religiöse Macht die zentrale Säule politischer Autorität bildete: »Successive generations of Shang kings monopolized the power of sacrifice to heaven through the status accorded to the worship of their own ancestors.« Liancheng Lu, Wenming Yan: Society during Three Dynasties, in: The Formation of Chinese Civilization, An Archaeological Perspective, hrsg. v. K. C. Chang und Pingfang Xu, New Haven 2005, S. 141–202, hier S. 142. Die Shang glaubten an eine Vielzahl von Geistern und Kräften. Vgl. David N. Keightley: The Ancestral Landscape, Time, Space and Community in Late Shang China, Berkeley 2002. Der oberste Urahn der Shang war Shang Di, die mächtigste in einer langen Reihe von Ahnen- und Naturgottheiten. Vgl. Yijing, übers. und hrsg. v. Dennis Schilling, Einführung, S. 273. Di kann auf die Stammbedeutung ›Vater‹ im Sinne eines ›Urvaters‹ oder eines königlichen Patriarchen, zurückgeführt werden. Vgl. Sanping Chen: Son of Heaven and Son of God, S. 290. Shang Di wurde später von den die Shang unterwerfenden Zhou mit deren eigener und oberster Gottheit tian, Himmel, gleichgesetzt. Vgl. Sarah Allan: Sons of Suns, S. 323. Für den Zusammenhang zwischen Macht und Divination siehe Einleitung. Die Grundlage des Schamanismus im alten China bildet nach Changs systematischen Erwägungen (vgl. Chang: Shang Shamans, in: The Power of Culture, hrsg. v. W. J. Peterson, A. H. Planks, Y. Yu, Hong Kong 1994, S. 10–34) das Konzept eines Vertrages zwischen den Menschen und den Geistern. Ihm zufolge wurde angenommen, dass Geister als genauso ›real‹ wie Menschen angesehen wurden, jedoch nur einige besondere Menschen die Fähigkeit besaßen, mit ihnen zu kommunizieren. Auf sie stiegen – wie Chang dies formuliert – bei Ritualen, wo den Geistern Opfer erbracht wurden, die Geister herab. 161
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Yijing ist der Analogismus, wie wir gesehen haben, vorherrschend, bzw. bildet der nach analogem Maßstab aufgebaute Kosmos den zentralen Aspekt, genauso wie im Kontext des Spruchwerkes des Yijing die Ahnenverehrung und der Opferkult im Zentrum stehen, welche nach Descola konstitutive Elemente in der hierarchischen Struktur des Kosmos auf Basis einer analogen Ontologie bilden. Dabei spielt für diese vertikale Ausprägung im Kontext des Yijing die zentrale Ausrichtung auf den Himmel bzw. auf die Gottheit des Himmels eine wesentliche Rolle. 164 Aus der Orientierung entlang einer vertikalen Axis wird auch verständlich, warum die Geister in einem ›Oben‹ lokalisiert werden, das, wie wir gesehen haben, mit dem Himmel korrespondiert (während das ›Unten‹ der Erde und den Lebenden angehört) und von dem ausgehend sich ein Auf- und Absteigen der Geister – im Kontext schamanistischer Rituale – ereignet. 165 Zu den Merkmalen des Shang-Schamanismus zählt nach Chang die Überzeugung, dass der Kosmos in obere und untere Ebenen unterteilt ist, während die Geister das Obere, den Himmel, bewohnen sollen. Das ›Unten‹ bildet das Land der Lebenden. Dabei können beide Welten ihm nach wechselseitig durchdrungen werden. Er konstatiert, dass Gottheiten und Geister die Zukunft kannten und es den Menschen möglich war, herauszufinden, was die Geister über die Zukunft wussten: Diejenigen, die über solches Wissen verfügten, waren nach Chang Eigentümer politischer Macht. Elizabeth Childs-Johnson unterstützt in mehreren kunsthistorischen Veröffentlichungen die Ansicht, dass Schamanen bei den Shang wichtig waren. Shang-Bronzen, die für Elite-Rituale hergestellt wurden, wurden individuell hergestellt. ChildsJohnson erklärt Shang-Bronzen als Darstellung von Schamanenmasken, Transformationen verschiedener Art und tierischen Vermittlern zwischen Schamanen und Geistern. Sie stellt fest, dass die Könige Wahrsager waren und Opfer im Namen der Geister und Mächte der Ahnen anordneten. Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: The Shang Bird: Intermediary to the Supernatural, in: Orientations, 1989, S. 53–61 und Elizabeth Elizabeth Childs-Johnson: Ghost Head Mask and Metamorphic Shang Imagery, in: Early China, 1995. 164 Vgl. Kapitel II., Das Sich-Fügen der Erde: Eine kritische Relektüre der Überlieferungen des Yijing, insbesondere Punkt 6. Die große Überlieferung: Topographien der Macht. 165 Ein Merkmal des Schamanismus in Nordasien und Ostasien ist, dass das im alten China vertretene Konzept des Himmels als das allumfassende Prinzip der kosmischen Ordnung und des menschlichen Schicksals dem der Mongolen und Mandschus ähnlich ist. Gottheiten sind Himmelsgottheiten, und der Himmel selbst ist eine Kraftquelle. Vgl. Caroline Humphrey und Urunge Onon: Shamans and Elders: Experience, Knowledge and Power among Daur Mongols, Oxford 1996, S. 197. In den Orakelknochen sind eine Reihe von wu namentlich verzeichnet, darunter Verwandte des Shang-Königs. Das Shujing berichtet, dass im zweiten Jahrhundert nach der Eroberung der Shang, König Wu von den Zhou, Jizi, dem Onkel des besiegten Shang-Königs, einen Besuch abstattete und Jizi, der Schamane gewesen sein soll, den Zhou die
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Das Ethos des Unverfügbaren
Dieser Zusammenhang erschwert den archäologischen Blick auf eine, dem sichtbaren System zugrundeliegende Form des Schamanismus im frühen China und im Kontext des Yijing, der nicht hierarchisch und vertikal organisiert wäre und somit ein Gegengewicht zu der Ahnenverehrung bilden könnte, deren Komplex Nelson mit der Implementierung eines patrilinearen Systems verbindet. Würde man einen Schamanismus annehmen, der als eine Alternative zu anderen patrilinearen Systemen fungieren soll, so dürfte dieser wohl weniger mit einer vertikalen, hierarchischen Ausrichtung einhergehen, sondern eher in Richtung einer horizontalen und egalitären Erscheinungsform weisen, die zugleich einen anderen Zugang zur Welt und seinen Erscheinungsformen vorrausetzt. 166 Diese horizontale und teilweise mythologisch-rekonstruierbare Erscheinungsform könnte den Untergrund des Systems des Yijing bilden und eine latente Logik sichtbar werden lassen, die in der Struktur und Dynamik eines grundlegenden Zeichens, nämlich Kūn, beinhaltet ist und unter bestimmten hermeneutischen Voraussetzungen aufscheinen kann. Ein Zugang dieser womöglich verborgenen Schicht kann im Kontext des Verständnisses des Yijing nicht als unmittelbar realisierbar konstatiert werden – viele Schichten der Überlieferungen spre-
Prinzipien der Himmelsmethoden, d. h. die Divination und Interpretation von Omen lehrte. Vgl. Chang: Shang Shamans, S. 16. 166 Wie wir im Kontext archäologischer Forschungen zur Hongshan-Kultur (vgl. Kun und die Gottheit der Erde: Mythologische Schichten und religiöser Kontext) gesehen haben, soll Dongshanzui ein zeremonielles Zentrum gebildet haben, dessen Opferaltar vermutlich der Verehrung einer Fruchtbarkeitsgöttin galt, die dasjenige repräsentiert haben soll, was in späteren literarischen Quellen Hou Tu oder ›Herrscherin Mutter Erde‹ genannt wurde. Die Betonung der Verehrung einer Fruchtbarkeitsgöttin stand hochwahrscheinlich mit der Ahnenverehrung in Verbindung, wo die Fruchtbarkeitsgöttin eine mystifizierte Ahnin verkörperte. Vgl. Elizabeth Childs-Johnson: Jades of the Hongshan culture, S. 91. Aus der Auseinandersetzung mit dem sinologischen Diskurs um den Status der Gottheit der Erde ergaben sich zwei vollkommen konträre Linien: Einerseits eine Linie, welche die Erde und die weibliche Fruchtbarkeit, also das Matrilineare betont und eine andere, welche die Fruchtbarkeit eher phallisch deutet und damit das Patrilineare unterstreicht. Vor dem Hintergrund mythologischer Motive zeigte sich die Vorstellung der Erde als einer herrschenden und von der Gleichordnung einer Komplementarität befreiten, d. h. souveränen Gottheit. Dieser Zusammenhang kann als Hinweis darauf genommen werden, dass die Ahnenverehrung nicht notwendigerweise, ausschließlich und zu jeder Zeit eine patrilineare Gestalt hatte, sofern auch weibliche Ahninnen in Form von Gottheiten (wie der Gottheit der Erde) verehrt worden sind. Denkbar wäre, dass der Schamanismus in diesem Kontext eine Gestalt hatte, wo Frauen eine besondere Stellung und Funktion zukam.
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Phänomenologie der Erde
chen dagegen. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass sich im Ausgang von Kūn nicht die Möglichkeit des Entwurfes eines, an dem horizontalen und egalitären Animismus orientierten Denkens ergibt, indem alle Wesen als ontologisch gleichwertig zu betrachten sind und wo unter der Voraussetzung einer Auflösung der naturalistischen Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt die Möglichkeit einer fühlenden Natur in Aussicht gestellt wird, in der die Vielfalt der Lebensformen und ihre intersubjektive Verbundenheit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und der intellektuellen Reflexion steht. 167 Der Zugang, der ausgehend von der hier dargelegten Gegenhermeneutik von Kūn zu den Wandlungen, zum Kosmos und konkret zur Mannigfaltigkeit des Lebendigen geschaffen werden soll, legt jedenfalls einen dezidiert horizontal ausgerichteten Weltzugang – eine Art metamorphische Weltoffenheit – nahe: Dieser Zugang hängt nicht nur intrinsisch mit der Erde und ihrer Wandlungsfähigkeit (d. h. einer latenten Naturphilosophie im Sinne einer Phänomenologie der Erde), sondern auch mit einer anderen Form der Wahrnehmung zusammen, die mit dem Anders-Werden in Verbindung gebracht werden kann, einem Blick, welcher die Welt aus der Perspektive des Anderen sieht. 168
3.
Phänomenologie der Erde
Durch die Unterscheidung der ontologischen Konsistenz von Kūn und der ontischen Konsistenz von Qián konnte der Sinn des uneingeschränkt Offenen begrifflich deutlich gemacht werden. Gerade weil Kūn uneingeschränkt offen ist, kann durch sie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen stattfinden bzw. durch ein ontisch-ontologisches Fließen hervorgebracht werden. Dies heißt, dass die uneingeschränkte Offenheit von Kūn Voraussetzung für die Mannigfaltigkeit des LeDie Schichten einer rituellen und mythologischen Neben-Komposition des Yijing, die sich vor den Überlieferungen verdichtet hat, ermöglicht eine kritische Hermeneutik der späteren, durch die Überlieferungen fixierten Tradition. Das Archaische könnte als eine dritte Position zwischen einem absoluten Bruch mit dem System und einer passiven An- oder Übernahme der dominanten Interpretationslinien rehabiliert werden. 168 Diese Andere kann für die Mannigfaltigkeit der horizontal angeordneten Lebewesen genommen werden und aus der Perspektive der Dekonstruktion der Hermeneutik der Macht auch als die Erde im Sinne einer die vertikale und hierarchische Himmelszentriertheit im Yijing unterlaufenden Perspektive auf die Welt und die Lebewesen. 167
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Das Ethos des Unverfügbaren
bendigen ist, allerdings nicht als ein abstraktes universale ante rem, sondern als Wirk- und Hervorbringungskraft. In diesem Sinne kann sich die Herrschaftslogik von Qián nur dann durchsetzen, wenn die ontologische Wirkkraft von Kūn aus dem Prozess ausgeschlossen wird, durch den die Weltkonfiguration entsteht. Dieser Ausschluss ist jedoch künstlich und lückenhaft. Es gibt zwar – auf der Ebene der ontischen Situation – eine Macht in Qián, jedoch ist diese Macht in ihrer Fixierung notgedrungen eingeschränkt. Das Uneingeschränkte muss dann ausgeschlossen werden, damit sich die Macht am Leben erhält. Unser differenzialistisches Modell vermag es, die eigentliche Wirkkraft von Kūn sichtbar zu machen und sie aus dem Schema der Unterordnung der Überlieferungen heraus zu versetzen. Die Vorrangstelle von Kūn bliebe ausgehend von der Hermeneutik der Überlieferungen ›negiert‹, sofern diese, wie wir gesehen haben, die Vollständigkeit der ontischen Situation und eine Einfügung von Kūn in die Logik der Herrschaft forciert. Daher war eine subversive Hermeneutik notwendig, welche Kūn als differenzialistische Instanz zeigt. 169 Doch genauso wenig wie Kūn von dem Lebendigen getrennt ist, kann sie von Qián getrennt werden. Die Trennung dient letztlich nur der Unterscheidung und muss demnach auch wieder aufgehoben werKūn wurde als ›ontisch inkonsistent‹ betrachtet, weil sie nicht als Objekt in einer ontischen Situation (d. h. in einer materiellen Welt) erscheint. Der Begriff der ontischen Inkonsistenz dient (aus der Perspektive abendländischen Denkens betrachtet) zugleich der Vermeidung des Arkanums der Seinsfrage: Statt der Spannung oder Opposition von ›Sein‹ und ›Nicht-Sein‹ wurde die Problematik der phänomenologischen Konsistenz eingeführt, welche es zugleich erlaubt, die Notwendigkeit einer ontischen Konkretion der Phänomene (entgegen Heidegger) wieder zu betonen. Kūn ist ontisch inkonsistent, so dass sie nicht als Gegenstand einer immanenten oder transzendenten Bestimmung fungieren kann. Die Einführung der ontologischen Dimension ist notwendig, um zu zeigen, dass die Erde sich nicht in der Logik der zehntausend Dinge erschöpft, aber auch keine transzendente Größe darstellt. Es gibt in diesem Sinne eine Art Kehrseite der (sichtbaren) Erde. Diese Kehrseite impliziert aber keine verdoppelte Welt (im platonischen Sinne). Es ist eine (Wirk-)Kraft dessen, was auf ontischer Ebene eine Art ›Totalität‹ darstellt (die Erde) und gleichzeitig immer wieder in die Logik der Objektivierung gerät (in etwa die Definition der Erde im Oppositionsverhältnis zum Himmel). Ausgehend hiervon wäre es logisch (jedoch nicht notwendig), auch eine Reversibilität einzuräumen. Wenn Kūn eine ontologische Konsistenz besitzt, so heißt das, dass das Seiende aus dieser Perspektive keine Konsistenz hat, d. h. es kein Seiendes gibt, das über die ›Totalität‹ der sichtbaren Dinge (oder der lebendigen Wesen) als ontologisches Plus hinausgehen kann: Nur Kūn. Kūn ist in diesem Sinne die Öffnung zu einer anderen Dimension, die vielleicht mit der ›archaischen Erde‹ (im Sinne einer göttlichen Kraft oder Macht) ›artikuliert‹ werden kann.
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Phänomenologie der Erde
den. Mit anderen Worten: Das Ontische und das Ontologische können und sollten nicht gegeneinander gewertet werden. Kūn führt keine Fundierungsmacht (als umgekehrtes Pendant zu der Hermeneutik der Macht und der Herrschaftslogik von Qián im Kontext der Überlieferungen) ein, sondern muss mit Blick auf den das Mütterliche unterstreichenden Charakter der Erde nicht nur als dasjenige betrachtet werden, was alle Wesenheiten hervorbringt und sie wieder in sich zurücknimmt, sondern auch als dasjenige, wodurch alle Wesenheiten permanent gestützt, genährt und getragen werden. Mit der Integration bzw. der Wiederherstellung des vollen Spektrums der Dynamik und Wirkkraft von Kūn geht eine Transformation der mit der Erde einseitig und negativ verknüpften Aspekte des ›Zersetzenden‹ und ›Zerstörenden‹ im Kontext Überlieferungen des Yijing einher. Der Aspekt des Mütterlichen, welcher das permanent Unterstützende, Nährende und Tragende in der Gestalt des Hervorbringenden hervortreten lässt, ist für die Beziehung zwischen Kūn (als Wirkkraft der Erde) und den Wesenheiten grundlegend. Das Ethos des Unverfügbaren kann als terminus ad quem der vorliegenden Arbeit betrachtet werden. Es folgt einerseits aus der Dekonstruktion der Hermeneutik der Macht in den Überlieferungen des Yijing, die im Hinblick auf Herausstellung der Rolle und Reichweite von Kūn dargelegt worden ist, andererseits aus einem gemeinsamen Netzwerk von Kūn mit Chora und Physis, d. h. denjenigen Strukturelementen von Chora und Physis, die einen figurativen Bezug zu Kūn aufweisen und der Annäherung an das Verständnis ihrer Gestalt und Wirkkraft in Abgrenzung zu ihrer Bestimmung in den Überlieferungen des Yijing dienen. Die in den Gestalten des Yijing analogisch zur Anschauung zu bringende Phänomenologie der Erde, die es im Folgenden ansatzweise zu entwickeln gilt, kann in diesem Sinne als eine unmittelbare Konsequenz der Dekonstruktion der Macht und der Herausstellung der fundamentalen Rolle von Kūn im Yijing betrachtet werden. Wie diese auf dem Ethos des Unverfügbaren basierende Phänomenologie der Erde genauer beschaffen ist, kann im Rahmen dieser Arbeit nur in Grundzügen herausgestellt werden. Die Dekonstruktion der Hermeneutik der Macht, die hier vorgeführt wurde und die dazu führte, die Vorrangstellung und die Reichweite von Kūn gegen die traditionellen Bestimmungen von Kūn im Kontext der Überlieferungen herauszuarbeiten, bildet die Grundlage für das auf dem Ethos des Unverfügbaren folgende Denken der Erde. In der Figuration von Kūn als dem uneingeschränkt Offenen, 347 https://doi.org/10.5771/9783495999455 .
Das Ethos des Unverfügbaren
Chora als dem zurückweichenden Raumgebenden und Physis als der unscheinbaren Fügung sind Komponenten zutage getreten, die in Richtung eines Ethos des Unverfügbaren geführt haben. Gemeinsam ist Kūn (als dem uneingeschränkt Offenen), Chora (als dem zurückweichenden Raumgebenden) und Physis (als unscheinbarer Fügung) das spezifische Moment ihres eigenen ›Nicht-Erscheinens‹, welches ihr Vermögen ausmacht, die Vielheit der Lebensformen zur Erscheinung, d. h. letztlich in das Dasein zu bringen. In der Wirkkraft dieser Figuren zeichnet sich das Ethos des Unverfügbaren ab: Vermöge ihrer Bewegung des Zurückweichens kann Chora dem Seienden einen Raum geben. Vermöge ihrer Unscheinbarkeit, dem konstitutiven Sich-Verbergen der Physis, kann sie das Erscheinende gewähren. Vermöge ihrer uneingeschränkten Offenheit kann Kūn die Mannigfaltigkeit des Lebendigen zur Gestalt bringen. Nahezu unbeachtet in ihrer fundamentalen Wirkkraft – im Kontext ihres Eingebundenseins in ein spezifisches System – stellen Kūn, Chora und Physis die Reserve, das Potential oder den Fond zur Verfügung, aus dem die Mannigfaltigkeit der Lebensformen nicht nur hervorgebracht, sondern auch gestützt, genährt und getragen wird. Das Ethos des Unverfügbaren bezieht sich somit einerseits auf die besondere Form von Dynamik, die diese Figuren bestimmt, nämlich die Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit des Seienden, Lebendigen durch ›Zurückweichen‹, ›Selbstverbergung‹ und ›uneingeschränkte Offenheit‹ zu ermöglichen und richtet damit zugleich den Blick auf die Unverfügbarkeitsstruktur, welche den wesentlichen Teil der Dynamik dieser Figuren ausmacht und die in der Gestalt von Kūn – in ihrer Uneingeschränktheit – zu einer konkreten Anschauung gekommen ist. Andererseits zielt das Ethos des Unverfügbaren – als Konsequenz des Verständnisses der besonderen Wirkweise dieser Figuren – auch auf die Frage nach einer angemesseneren Haltung des Menschen gegenüber dem Seienden, Lebendigen – gegenüber der Erde als Ort der konkreten Erscheinung der Mannigfaltigkeit des Lebendigen. In allerletzter Konsequenz gilt es einen durch das Ethos des Unverfügbaren vermittelten anderen Zugang zur Erde zu gewinnen. In ihrer uneingeschränkten Offenheit als Möglichkeitsbedingung der erscheinenden Vielfalt ist Kūn für uns unverfügbar. Sie erscheint nicht als solche 170, weil sie nur so die Mannigfaltigkeit aller Erscheinungsformen im Sinne eines permanenten Entstehens und 170
Sie erscheint nicht als eine Einheit, sondern trägt das Ganze als Einheit.
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Phänomenologie der Erde
Vergehens – den ›Fluss der Wandlungen‹ – gewährleisten kann. 171 Der ›Fluss‹, bzw. das ›Fließen‹ fungieren hier als Ausdrücke der Unmöglichkeit einer diskreten (d. h. ontisch-konsistenten) Einheit, um an das Problem des Einen und des Vielen auf eine andere Weise heranzugehen. Die Möglichkeitsbedingung des Erscheinenden umfasst das Ganze, ist aber keine Einheit als Positivum, sondern die Konsistenz (Eins-Werden, d. h. inter-connection) des Mannigfaltigen. Dies bedeutet, dass Kūn als Vermögen der unendlichen Generativität der Erde in der Delimitation der konkreten Mannigfaltigkeit der Lebensformen nicht erschöpft werden kann: Ihre Wirkkraft – verstanden als uneingeschränkte Offenheit – bedeutet in Bezug auf die Mannigfaltigkeit der konkreten Lebensformen stets ein ›Mehr‹, was den Status ihrer Unverfügbarkeit markiert. Für uns zugänglich und in gewissem Sinne auch verfügbar ist jedoch die Erde, die als die sichtbare Ausgestaltung der Wirkkraft von Kūn – der uneingeschränkten Offenheit als Voraussetzung für die unendliche Generativität der Erde – verstanden werden kann: Die Wirkkraft von Kūn wird uns in der Fülle und Vielfalt des Lebendigen, dem Wachsen und Schwinden, Kommen und Gehen der Lebensformen, d. h. den Zyklen der Erde, die auch unseren eigenen Lebenszyklus bestimmen und durchdringen, erfahrungsgemäß zugänglich. In der Überkreuzung von Verfügbarkeit der Erde und Unverfügbarkeit von Kūn würde sich die Möglichkeit einer transformativen Phänomenologie der Erde eröffnen, die mit dem Sich-Einüben in die dynamische Offenheit von Kūn verbunden ist. 172 Eine transformative Phänomenologie der Erde dürfte jeDurch Kūn lässt sich zeigen, dass das Ethos des Unverfügbaren mit einer Weise der Phänomenalisierung zusammenhängt, die auf eine prozesshafte Wirklichkeit hinweist, angesichts derer es nicht möglich ist, zwischen dem Phänomenalen und seiner Grundlage irgendeine Form von Bruch einzuführen. Nur dadurch, dass Kūn uneingeschränkt offen ist, kann sie die Vielheit der Erscheinungsformen – das Gewebe des Lebendigen – als eine zusammenhängende Ganzheit ermöglichen. Ihre Offenheit, welcher der wechselnden Gestaltwerdung des Kosmos stattgibt, manifestiert sich im Yijing in Form der sich wandelnden Zeichen und Bilder. Die Zeichen des Yijing sind als Glieder oder Körper Ausformungen der dynamischen Offenheit von Kūn und stehen in einem inneren Bezug zu einander, welcher einen je spezifischen Geschehenszusammenhang – die Wandlungen – aufscheinen lässt. 172 Vgl. Rolf Elberfeld: »Neben eine ›deskriptive Phänomenologie‹ und ›hermeneutische Phänomenologie‹ kann eine ›transformative Phänomenologie‹ treten, in die die Lebendigkeit und Zeitlichkeit ihres eigenen Vollzugs konstitutiv mit eingeht. In der Vorgehensweise der ›transformativen Phänomenologie‹ ist die Analyse von Phänomenen nicht zentral ein Akt der Objektivierung, sondern selbst eine Transformation der gesamten Wahrnehmung und Existenz […]. Diese Transformation steht immer 171
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Das Ethos des Unverfügbaren
doch nicht als eine Phänomenologie der ›Einkehr‹ verstanden werden, sofern das Sich-Einüben in die dynamische Offenheit von Kūn gerade keine weltverneinende Innenschau oder distanzierte Abstandsnahme von den Erscheinungen besagt, sondern umgekehrt ein (Kūn gleiim Zusammenhang mit meiner Weise zu leben. Phänomenologie betreiben bedeutet dann, in einer gewissen Parallelität zur Kunst, Wirklichkeitsvollzüge zu entdecken, zu gestalten und zu realisieren und nicht primär zu objektivieren, um so ein selbst- und weltproduktives Denken hervortreten zu lassen.« Vgl. Rolf Elberfeld: Phänomenologie des Lebens als Selbst-Transformation, S. 282. Im Zen-Buddhismus hängt das Motiv der ›Übung‹ mit der ›Leere‹ zusammen, die auf einer radikalen Philosophie der Zeit basiert: »Während im Ur-Buddhismus der Gedanke der Leere noch auf eine Realisierung der Vergänglichkeit aller Dinge (Sanskrit: anitya, Pāḷi: anicca) begrenzt war, wird er im Mahāyāna-Buddhismus zu einer spekulativen Gedankenfigur […], wo Leeres und Absolutes sich eindeutig berühren, oder in Nāgārjunas ontologisch gefärbter Äquation von pratītyasamutpāda und nirvāṇa, nach der die Wirklichkeit als ein nicht-duales Kontinuum oder das Ineinander-Umschlungen-Sein von Absolutem und Konditionierungsfeld der individuierten Wesen konzipiert wird«. Adrián Navigante: Östliche Leere. Śūnyatā im Hinduismus und im indischen Buddhismus, in: Immanenz und Einheit, Leiden 2015, S. 97–112, hier S. 108. D. h. Nāgārjuna (Hauptvertreter der Mādhyamika Schule, Mādhyamika = »Mittlerer Weg« oder »Weg der Mitte«) entwickelt eine Philosophie, nach der dharma (im Ur-Buddhismus = Daseinsfaktoren, Vgl. Michael von Brück: Buddhismus. Grundlagen, Geschichte, Praxis, Gütersloh 1998, S. 90: »Die Erfahrung der Vergänglichkeit, die sich aus der Zusammengesetztheit aller Erscheinungen ergibt, ließ die Buddhisten nach den Bausteinen der Wirklichkeit fragen, damit sie die negativen Faktoren analysieren und eliminieren konnten«) als »leer« erscheint. Dieser Lehre zufolge haben die drei Zeitekstasen (Vergangenheit, Gegenwärt und Zukunft) keine Realität. Zeit ist nur ein mentales Konstrukt. Die Hua-yen Schule (Tang Dynastie, China) bemühte sich philosophisch und religiös darum, die Zeit (und daher die Welt und das Selbst) in den theoretischen Rahmen der Leere mit einzubeziehen. Dharma wird hier als ein Prinzip des ›NichtHindernisses aller Erscheinungen‹ (shih-shih wu-ai) verstanden. Das heißt: »The entire universe consisted of creative processes in which the multiplicity of things and events interacted with and interpenetrated one another without obstruction. […] This non-obstruction (muge) was possible through the mediation of emptiness«. Hee-Jin Kim Dogen: A Mystical Realist, Boston 2004, S. 145. Die Schule des Chan-Buddhismus erscheint als Korrektiv der Philosophie der Leere von Nāgārjuna, sofern die Doktrin der Leere die Realität der Phänomena wiedergewinnt, ohne sie zu substanzialisieren. Mit Dogen vollzieht sich die Verbindung zwischen Leere und Zeit im ZenBuddhismus. Hee-Jin Kim Dogen: A Mystical Realist, S. 147–148: »Dogen picked up the problem of time out of obscurity and placed it in the total context of his thought. This was done not from any speculative interest, which he vehemently disdained, but out of existential concerns with the impermanence of life and its limits, namely death. Thus his analysis of time […] was deeply personal, existential and sotieriological«. An anderer Stelle wurde darauf hingewiesen, dass eine Identifikation von Kūn mit dem Gedanken der ›Leere‹ problematisch ist: Dem Begriff der ›Leere‹ wurde der Begriff des ›Zur-Frucht-Gekommensein‹ (shi) gegenübergestellt, der den Vorgang des Vollwer-
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Phänomenologie der Erde
ches) offenes Sich-Einlassen in das Geschehen der zyklischen Wandlungen der Erde, angesichts dessen die Dimension der uneingeschränkten Offenheit von Kūn erfahrungsgemäß zugänglich wird. Während die Seite des Sich-Einübens mehr in die ethische Dimension hineinreicht (das Sich-Einüben im Unverfügbaren, welches auch eine Selbstzurücknahme impliziert), führt das Sich-Einlassen mehr in die ästhetische Dimension der Erfahrung (das Erleben der Vielheit, die nur sein kann vermöge der Unverfügbarkeit der diese Vielheit generierenden Kraft). Das Ethische und das Ästhetische bedingen sich im Hinblick auf die Entwicklung einer – auf dem Ethos des Unverfügbaren basierenden – Phänomenologie der Erde wechselseitig, bzw. bleiben aufeinander verwiesen. 173 dens, und zwar in dem Sinne eines Keimes, der wächst, indem er räumliche Grenzen ausfüllt, bezeichnet. Der Begriff des ›Zur-Frucht-Gekommensein‹ deutet hiernach auf ein Wirklichkeitsverständnis im Sinne eines räumlichen Werdens. Das Sich-Einüben in die dynamische Offenheit von Kūn wäre in diesem Sinne kein Sich-Trennen vom Außen im Sinne einer Einkehr in das Innere, sondern eine Bewegung des Artikulierens und eine Wandlung der (mit der Sinnesleistung verbundenen) Raumorientierung. 173 Der Begriff Ethik geht auf das griechische Wort ›Ethos‹ (ἔθος) zurück, das im Rahmen dieser Arbeit als ›Haltung‹ aufgefasst wurde. In Bezug auf Chora und Physis wurde das Wort zunächst auf die Dynamik bzw. das spezifische Wirkpotential dieser Figuren bezogen: Der Ermöglichung von Seiendem durch Selbstzurücknahme bzw. Selbstverbergung. Das Ethos von Kūn zeigt sich in ihrer uneingeschränkten Offenheit, vermöge derer sie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen hervorbringen kann: Wäre Kūn nicht uneingeschränkt offen, könnte die Mannigfaltigkeit nicht sein. Obschon die Wirkkraft von Kūn nicht erschöpft werden kann, und daher unverfügbar bleibt, ist die Erde selbst – im Sinne der konkreten Auskonfiguration der Wirkkraft von Kūn in die Vielheit des Lebendigen – verfügbar. In Bezug auf den Menschen gewinnt der Begriff Ethos (des Unverfügbaren) daher eine andere Bedeutung, welche mit der Frage nach einer der Erde gemäßen Haltung des Menschen zusammenhängt. Die Frage, die sich stellt, ist, welche Haltung es der Erde gegenüber einzunehmen gilt – angesichts von Kūn, ihrer die Vielheit des Lebendigen hervorbringenden Wirkkraft uneingeschränkter Offenheit d. h. angesichts von etwas, das sich selbst zurücknimmt bzw. zurückgenommen bleiben muss, um die Vielheit zu gewährleisten. Die uneingeschränkte Offenheit von Kūn kann als ein Sinnbild der Orientierung für die Kultivierung einer angemessenen Haltung des Menschen gegenüber der Erde verstanden werden. Dies würde einerseits einen Verzicht auf Verfügbarmachung bedeuten und insofern zu einer Transformation der Pragmatik des Menschen beitragen, andererseits bedeutet es zugleich eine Steigerung der Intensität seiner Erfahrung und Wahrnehmung der Natur im Sinne des Lebendigen. Das Wort Ästhetik stammt von dem griechischen Wort aisthesis (αἴσθησις) und bezieht sich begrifflich auf die sinnliche Wahrnehmung bzw. auf verschiedene Arten von Wahrnehmung. Dabei geht es in der Ästhetik weniger um eine rein begriffliche Erkenntnis, sondern vielmehr um eine
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Das Ethos des Unverfügbaren
Den Ausgangspunkt für die Phänomenologie der Erde bilden die Gestalten des Yijing, d. h. die Methode der analogischen Konkretion. Durch analogische Konkretion soll der Rückbezug von Kūn zur Erde wiederhergestellt werden. Es wurde im vorherigen Abschnitt Kūn und die Erziehung des Menschen bereits deutlich gemacht, dass das analogische Verhältnis nicht metaphysisch verstanden werden darf, derart, dass die ›Gestalten‹ bzw. ›Bilder‹ auf eine transzendente Wirklichkeit verweisen, sondern im Kontext des Yijing auf der Grundlage eines animistischen Zuganges zur Wirklichkeit entstanden sind. Sie sind versehen mit einer spezifischen Wirkkraft – ursprünglich der Kraft der Gottheiten oder Geister –, und weisen in die Natur als Immanenzfeld, von welchem der Mensch einen Teil bildet. Die ›Gestalten‹ des Yijing sind daher nicht als Ausdruck der Schaffung einer Distanz zur Wirklichkeit aufzufassen, sondern als Möglichkeit einer vertieften Form der Wahrnehmung und Erfahrung der Wirklichkeit. 174 Durch die analogische Konkretion lässt es sich kenntlich maVerfeinerung und Erweiterung der sinnlichen Erfahrung von Wirklichkeit, so dass das sinnlich Erscheinende in seiner ganzen Fülle und Reichhaltigkeit erfahren werden kann. Im Rahmen dieser Arbeit besagt das Ästhetische eine Vertiefung der Wahrnehmung als Voraussetzung für einen anderen Zugang zur Erde, der im Kontext des Yijing durch die ›Gestalten‹ bzw. die ›Bilder‹ im Sinne der analogischen Konkretion vollzogen werden soll. Dieser andere Zugang zur Erde scheint für eine Umkehr des Menschen weg von einer Haltung der Beherrschung, Verobjektivierung und zerstörerischen Manipulation der Erde hin zu einer nicht-beherrschenden, bewahrenden Haltung gegenüber der (generativen) Kraft der Erde notwendig. In den Schlussbetrachtungen soll darauf eingegangen werden, wie die zwiegespaltene Haltung des Menschen gegenüber dem Lebendigen möglicherweise mit der conditio humana selbst in einem Zusammenhang gesehen werden kann und inwiefern die Erfahrung einer Kontinuität des Seins für den Menschen eine Form der Rückbindung darstellen kann, die es ihm erlauben könnte aus dem selbstzerstörerischen Vorgang der Naturunterwerfung und Verdinglichung – als Selbstentfremdung – herauszutreten. 174 Der Gedanke, dass das Bild einen Zugang zur Wirklichkeit schaffen kann, findet sich im Kontext der verschiedenen Ausprägungen phänomenologischen Denkens der Natur bei Ludwig Klages. Gegen den programmatischen Ikonoklasmus der Naturwissenschaften und der daraus resultierenden Verbegrifflichung der Natur verteidigt Ludwig Klages in seinem als naturphänomenologisch aufzufassenden Denken das Bild der Natur, welchem er alleine Wirklichkeit zuspricht Vgl. Michael Hauskeller: Natur als Bild, Naturphänomenologie bei Ludwig Klages, in: Phänomenologie der Natur, hrsg. v. Gernot Böhme und Gregor Schiemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 120–132, hier S. 122. Nach Klages ist die Natur im naturwissenschaftlichen Verständnis ein reiner Denkgegenstand, der keine Wirklichkeit besitzt. Natur ist für Klages nur dann wirklich, wenn sie in Erscheinung tritt, nämlich als Bild. Das Bild stellt für Klages eine Erlebnisganzheit dar, die sich aus ihrer situativen, räumlichen und zeitlichen Bindung nicht lösen lässt. Wirklich ist das Bild nur in dem unmittelbaren Lebensvollzug. Das
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Phänomenologie der Erde
chen wie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen auf die Hervorbringungskraft der Erde zurückbezogen ist, wodurch zugleich die besondere Beziehung der Erde zu den Lebewesen in den Vorschein kommt. Es soll deutlich werden, dass die Phänomene – in ihrer spezifischen Gestaltausprägung – intrinsisch mit der Erde verbunden sind, bzw. als Ergebnis ihrer Wandlungsfähigkeit zu betrachten sind. Dabei soll auch auf die bisher kaum thematisierte Überlieferung des Bildes Bezug genommen werden, welche die Bewegungsverläufe der Gestalten auf die Naturvorgänge zurückbezieht. Zunächst gilt es, die Zeichengestalten, die unmittelbar durch Kūn (Erde ☷) bestimmt sind, d. h. wo das Teilzeichen von Kūn (Erde ☷) das tragende Element des Gesamtzeichens bildet, in einen Zusammenhang miteinander zu bringen und darzustellen, daran anschließend soll auch der Bezug zwischen Kūn (Erde ☷) und den anderen Zeichen eröffnet werden. Dabei lässt sich das Immanenzverhältnis zwischen der Erde und den Erscheinungsformen der Erde analogisch bereits in den kleinsten Wesensstrukturen feststellen. Kūn (Erde ☷) sind Zhen (☳), Kan (☵) und Gen (☶) inhärent. Zhen (☳) steht als Donner für das Bewegende, auch für den Samen und den Keim, Kan (☵) steht als Wasser für das Nährende, den Regen und die Befruchtung und Gen (☶) als Berg für das Anhalten, Begrenzen, die Ausformung und Gestaltwerdung. Zhen (Donner ☳), Kan (Wasser ☵) und Gen (Berg ☶) sind für die Zeichengestalten, die in einem sehr engen Bezug zu Kūn stehen, konstitutiv. Durch Kūn (Erde ☷) wird die Manifestation oder Gestaltwerdung von Leben offenbar. Bild ›steht‹ nicht in der Zeit, sondern wandelt sich – dem erlebenden Wesen gleich – unablässig: »Die Wirklichkeit der Bilder – die wirklichste oder vielmehr die einzige, die es gibt – ist ewiges Kommen und Gehen, Wachsen und Welken, Aufleuchten und Wiederverlöschen.« Ludwig Klages: Sämtliche Werke 3, Bonn 1964, S. 469, zitiert nach: Michael Hauskeller: Natur als Bild, Naturphänomenologie bei Ludwig Klages, S. 123. Nach Klages gehört die Wandlung wesenhaft zu den Bildern, so dass sie sich einer feststellend-reflektierenden Betrachtung entziehen. Klages Naturphänomenologie, welche die Natur als begegnende, unbegriffene und unbegreifliche Wirklichkeit zu verstehen sucht, steht in einem Gegensatz zu der Phänomenologie Husserls, innerhalb derer die Phänomene erst von dem Bewusstsein konstituiert werden, während jede bewusstseinsfremde Wirklichkeit ausgeklammert bleibt. Entgegen dem husserlschen Anspruch einer Begründung der Möglichkeit von Wissenschaft, welcher der Wissenschaft ihren Wissensanspruch nicht streitig zu machen sucht, sondern diese zu fundieren trachtet, entzieht sich die Natur für Klages vor jedem wissenschaftlichen Bemächtigungs-, Aneignungs- oder Verfügungswillens. Vgl. hierzu: Michael Hauskeller: Natur als Bild, Naturphänomenologie bei Ludwig Klages, S. 127.
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Das Ethos des Unverfügbaren
Den Anfang dieser Gestaltwerdung bilden die Zeichengestalten Zhun und Meng – ䷂䷃ –. In der Zeichengestalt von Zhun – ䷂ – befindet sich Kūn (Erde ☷) in der unteren Mitte und bildet gleichzeitig Teil des von oben Herabkommenden (Wasser ☵), des von unten Aufsteigenden (Donner ☳) und des von der oberen Mitte her Begrenzenden (Berg ☶). Das Bewegende (Donner, Samen, Keim) trifft auf das Nährende (Wasser, Befruchtung): Das keimhafte Leben (Donner ☳) wird in dem Inneren der Erde (☷) von dem Wasser genährt (Wasser ☵), bis es schließlich hervortritt, um an Gestalt (Berg ☶) zu gewinnen. Das Aufeinandertreffen von Donner (☳) und Wasser (☵) in der Zeichengestalt von Zhun versteht die Überlieferung des Bildes als die Entstehung eines fruchtbaren Gewitters, welches die Pflanzentriebe in der Erde (☷) zum Wachsen anregt. 175 In der Zeichengestalt Meng – ䷃ – befindet sich Kūn (Erde ☷) hingegen in der oberen Mitte und bildet Teil des von oben her Begrenzenden (Berg ☶), des von unten Hervortretenden oder sich Konzentrierenden (Wasser ☵) und des von der unteren Mitte Aufsteigenden (Donner ☳). Das Nährende (Wasser ☵) verbindet sich mit dem Begrenzenden (Berg ☶): Auch nachdem das Leben geboren wurde, wird es weiterhin durch das Innere der Erde (☷) in seinem Wachstum (Donner ☳) genährt (Wasser ☵), wodurch es mehr und mehr an Gestalt gewinnt (Berg ☶). Die Überlieferung des Bildes sieht in der Verbindung des Berges und des Wassers in dem Zeichen Meng eine junge, frische unter dem Berg aus der Erde hervorspringende Quelle. 176 In der Zeichengestalt Shi – ䷆ – befindet sich Kūn (Erde ☷) oben, während sich unter oder in ihr etwas ansammelt (Wasser ☵), von dem zugleich eine Bewegung (Donner ☳) ausgeht. Der Bewegung nach bewahrt Kūn (Erde ☷) etwas unter sich (☵ Wasser). Das Nährende (Wasser ☵) wird durch die Erde gespeichert. Es ist die Fruchtbarkeit (☵) im Inneren der Erde (☷), welche neues Leben und Wachstum (☳) ermöglicht. Nach der Überlieferung des Bildes konzentriert und sammelt sich in dem Zeichen Shi das Wasser unter der Erde: Es zeigt sich darin eine gewisse Formation. 177 In Bi – ䷇ – ist Kūn (Erde ☷) an der unteren Stelle platziert und nimmt das von oben kommende (Wasser ☵) in sich auf. Hier geht die Bewegung von oben Nach der Überlieferung des Urteils geschieht, worauf bereits eingegangen wurde, das Einwirken des Himmels auf die Erde durch den Regen und den Donner. 176 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 28. 177 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 37. 175
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Phänomenologie der Erde
nach unten, d. h. Kūn (Erde ☷) entgegen. Das Nährende (das Wasser), das sich zuvor unter der Erde befand, befindet sich nun über ihr: Die Erde empfängt, das von unten aufgestiegene Wasser von oben wieder in sich, um es wiederum zu speichern, so dass der Zyklus des Entstehens (☳), der Gestaltwerdung und anschließenden Vergehens (☶), der wesentlich durch das fruchtbare Fluid (☵) der Erde getragen ist, aufrechterhalten werden kann. Nach der Überlieferung des Bildes zeigt sich in dem Zeichen Bi, dass die Erde die Gefolgschaft des Wassers hat. 178 Beide Zeichen bringen die Beziehung zwischen Erde und Wasser, d. h. zu demjenigen, was sich auf einer anderen Ebene als das Fließende von Kūn (die ontologische Konsistenz als Grundvoraussetzung für die ontische Konsistenz) gezeigt hat, auf der Ebene der Naturkräfte zum Ausdruck. Der Bezug zwischen der Erde und dem Wasser unterstreicht das Näherende und umfassend Tragende der Erde. In Rückbezug auf die Manifestation von Leben, die durch die Erde geschieht, liest sich das Zeichen für das Wasser (☵) wie das Bewahren des Fötus, des heranreifenden Lebens im Mutterleib: Das Leben wird im Inneren (Erde ☷) genährt, bis es schließlich geboren (Donner ☳) wird und an Gestalt (Berg ☶) gewinnt. Im Anfangsstadium ist das Leben von einer wässrigen Substanz, dem Fluiden, umgeben, wovon ein allmählicher Verfestigungsprozess ausgeht. In der Zeichengestalt Tai – ䷊ – befindet sich Kūn (Erde ☷) oben und Qián (☰ Himmel) unten. Das Offene, Fließende (☷) trifft von oben auf das geschlossene, Feste (☰). Das Feste ist dem Offenen, Fließenden in der Zeichengestalt von Tai ergeben und begibt sich unter es. Nach der Überlieferung des Bildes verkehren Himmel und Erde in dem Zeichen Tai miteinander und bewirken Ausgleich. 179 In dem Zeichen Pi – ䷋ – befindet sich Kūn (Erde ☷) hingegen unten und Qián (Himmel ☰) oben. Das Offene, Fließende (☷) trifft von unten auf das geschlossene, Feste (☰). Das Feste begibt sich über das Offene, Fließende und ist ihm nicht ergeben. Die Überlieferung des Bildes sieht in dem Zeichen Pi, dass Himmel und Erde sich nicht austauschen und dadurch das Stocken (des Flusses) bewirken. 180 In der Zeichengestalt Qian – ䷎ – befindet sich Kūn (Erde ☷) oben und Gen (Berg ☶) unten. Von der Bewegung her senkt sich etwas nach unten ab (Berg ☶) oder befindet sich innerhalb (Erde ☷), 178 179 180
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 40. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 49. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 52.
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Das Ethos des Unverfügbaren
gleichzeitig ragt es nach oben (Donner ☳). Die Überlieferung des Bildes betrachtet das Zeichen Qian als den in der Erde liegenden Berg. 181 In der Zeichengestalt Yu – ䷏ – befindet sich Kūn (Erde ☷) unten und Zhen (Donner ☳) oben. Auf der Ebene der Bewegung steigt etwas von unten (Donner ☳) nach oben durch Kūn (Erde ☷) auf. Der Überlieferung des Bildes nach bricht in dem Zeichen Yu der Donner aus der Erde hervor. 182 Beide Zeichen bringen das Wechselspiel von Bewegen (Donner ☳) und Begrenzen oder Gestaltwerdung (Berg ☶) zum Ausdruck. Das Bewegende (Donner ☳) und das Stillhaltende (Berg ☶) sind aufeinander in der Beziehung ihrer Umkehrung bezogen. In der Zeichengestalt Lin – ䷒ – befindet sich Kūn (Erde ☷) und Dui (See ☱) unten. Von unten innen geht eine Bewegung (☳) frei nach oben hinaus. Nach der Überlieferung des Bildes bezieht sich das Zeichen Lin auf den See oder Wassergrund, der sich unter der Erde befindet: Ein Blick wird freigegeben, der auf den Grund der Erde schauen lässt. 183 Der See ist das Reich unterhalb der Erde. 184 In der Zeichengestalt Guan – ䷓ – befindet sich Kūn (Erde ☷) unten, Xun (Wind ☴) oben. Hier geht die Bewegung von oben innen nach unten, von Xun (Wind ☴) zu Kūn (Erde ☷). Nach der Überlieferung des Bildes ist es der Wind, der in dem Zeichen Guan über das Land, die Erde streicht. 185 In den beiden Zeichen wird die Erde einmal von unten und einmal von oben betrachtet. Dui (See ☱) und Xun (☴ Wind) bilden eine Entsprechung von unten und oben. In dem Zeichen Bo – ䷖– befindet sich Kūn (Erde ☷) unten und Gen (Berg ☶) oben. Der Bewegung nach wird oben etwas angehalten, oder erschöpft sich, nachdem es seine volle Gestalt (Berg ☶) angenommen hat. Nach der Überlieferung des Bildes lässt das Zeichen Bo die Wesen in dem Bild des an der Erde haftenden Berges vergehen. 186 In der Zeichengestalt Fu – ䷗ – befindet sich Kūn (Erde ☷) oben und Zhen (Donner ☳) unten. Im Sinne der Bewegung hebt etwas von unten an (Donner ☳), dessen Entwicklung noch offen (Erde ☷) ist. Nach der Überlieferung des Bildes wird in den Zeichen Fu die Entstehung der Wesen in dem Bild des aus der Erde hervorbrechenden Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 61. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 63. 183 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 73. 184 Das Reich unter der Erde ist auch das Reich der ›Gelben Quelle‹, das Totenreich Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 533 f. 185 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 75. 186 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 84. 181 182
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Phänomenologie der Erde
Donners gezeigt. 187 Die Zeichengestalten Bo und Fu bilden die erste und die letzte Wandlungsstufe der Zeichengestalt Kūn. Fu macht den Übergang von dem Offenen (Erde ☷) zu dem Festen, Geschlossenen auf der untersten Stufe (Donner ☳) aus, Bo hingegen die Rückkehr des Festen, Geschlossenen auf der obersten Stufe (Berg ☶) zu dem Offenen (Erde ☷). Fu und Bo zeigen die beiden Rahmenbedingungen der Entwicklung, die durch Kūn vollzogen wird. Aus dem Offenen (Erde ☷) beginnt sich etwas zu entwickeln (Donner ☳), das zu einem gewissen Zeitpunkt seine volle Reife oder Gestalt (Berg ☶) gewonnen haben wird. Zwischen, aber auch vor und nach Fu – ䷗– und Bo – ䷖ – befindet sich Kūn – ䷁ – von der die Bewegung sich zu verfestigen beginnt und die sie sich wieder verflüssigt. Die Erde (☷) öffnet sich und die Wesen werden geboren (☳), die Erde (☷) schließt sich und die Wesen sterben (Berg ☶). Kūn (Erde ☷) als das dauerhaft Nährende – ䷚ – bleibt bestehen. In der Zeichengestalt Jin – ䷢ – befindet sich Kūn (Erde ☷) unten und Li (Feuer ☲) oben. Das Obere (Feuer ☲) wird durch das Untere (Erde ☷) gehoben oder getragen. Dem Aufgang (Feuer ☲) ist bereits der Untergang (Berg ☶) eingeschrieben. Die Überlieferung des Bildes sieht in der Zeichengestalt Jin das aus der Erde emporsteigende Licht, die Sonne. 188 In der Zeichengestalt Ming Yi – ䷣ – befindet sich Kūn (Erde ☷) oben und Li (Feuer ☲) unten. Das Untere (Feuer ☲) wird durch das Obere (Erde ☷) bedeckt oder bewahrt. Dem Bewahren ist bereits der neue Aufgang (Donner ☳) eingeschrieben. Nach der Überlieferung des Bildes dringt in der Zeichengestalt Ming Yi das Licht in die Erde ein und ist daher verdunkelt. 189 Jin und Ming Yi zeigen den Wechsel des Lichtes (der Sonne) von Emporsteigen aus der Erde und Einsinken in die Erde. Dem Emporsteigen aus der Erde ist der Übergang zum Einsinken in die Erde inhärent und dem Einsinken in die Erde der Übergang zu dem Emporsteigen aus der Erde. In dem Zeichen Sun – ䷨ – befindet sich Kūn (Erde ☷) in der oberen Mitte, sie bildet Teil des oberen Teilzeichens Gen (Berg ☶), des unteren Teilzeichens Dui (See ☱) und des unteren inneren Teilzeichens Zhen (Donner ☳). Von der Grundbewegung her wird oben etwas bedeckt oder vermindert, was von unten her anhebt (Donner ☳). Das Anheben (Donner ☳) und Anhalten (Berg ☶) verlaufen kon187 188 189
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 87. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 120. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 123.
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Das Ethos des Unverfügbaren
trär zueinander. Der Überlieferung des Bildes nach zeigt das Zeichen Sun den See, der sich unter dem Berg befindet, was die massive Gestalt des Berges mindert. 190 In der Zeichengestalt Yi – ䷩ – befindet sich Kūn (Erde ☷) hingegen in der unteren Mitte, bildet Teil des oberen Teilzeichens Xun (Wind ☴), des unteren Teilzeichens Zhen (Donner ☳) und des oberen inneren Teilzeichens Gen (Berg ☶). Zwei Bewegungsformen treffen hier aufeinander: Eine geht von oben nach unten (Wind ☴) und die andere von unten nach oben (Donner ☳): Im Gegensatz zu Sun wird hier die Bewegung nicht angehalten, sondern durch eine andere Bewegung komplementiert. Nach der Überlieferung des Bildes mehren der Wind und der Donner in dem Zeichen Yi. 191 Der Gegensatz zwischen Sun und Yu zeigt sich in dem Linienbild nur an der veränderten Stelle eines Striches: In Sun – ䷨ – liegt der feste Strich auf dem zweiten Platz, in Yi – ䷩ – auf dem fünften. In Sun nimmt etwas ab, zu Yi zu. Abnehmen und Zunehmen sind Eigenschaften des Mondes: In Sun mindert der Mond das Wachstum der Wesen auf der Erde, in Yi mehrt der Mond die Wesen und lässt sie wachsen. In der Zeichengestalt Cui – ䷬ – befindet sich Kūn (Erde ☷) unten und Dui (See ☱) oben. Der Bewegung nach wird oben etwas gehalten (See ☱), das von unten kommt (Erde ☷) oder dort in größerer Menge vorhanden ist. Nach der Überlieferung des Bildes steigen in Cui die Seen über die Erde und sammeln sich dort 192, nachdem das Wasser sich gesammelt hat, fließt es wieder zurück oder versickert. In der Zeichengestalt Sheng – ䷭ – befindet sich Kūn (Erde ☷) oben und Xun (Wind ☴) unten. Der Bewegung zufolge ist Xun (Wind, auch Holz ☴) in Kūn (Erde ☷) befestigt und es hebt von dem festen Boden der Mitte aus gesehen eine Bewegung (Donner ☳) an. Die Überlieferung des Bildes sieht in Sheng, wie die Erde das Holz zum Wachsen bringt, also einen Baum, der unter der Erde seine Wurzeln hat und von dort aus nach oben wächst. 193 In der Zeichengestalt Yi – ䷚ – bildet Kūn das Innere und die Mitte des Zeichens, gleichzeitig ist sie Teil des oberen Teilzeichens Gen (Berg ☶) und des unteren Teilzeichens Zhen (Donner ☳). Die Mitte bildet das Zwischen von einer Bewegung, die sowohl von oben nach unten (Berg ☶) als auch von 190 191 192 193
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 138. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 141. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 339. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, S. 153.
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Phänomenologie der Erde
unten nach (Donner ☳) verläuft. In diesem Bild des auf den Donner treffenden Berges wird der Überlieferung des Bildes zufolge dasjenige betrachtet, was im Inneren die Wesen nährt: die Erde (☷). Nicht nur in den Zeichen, die in einem näheren Zusammenhang mit Kūn stehen, lässt sich ein Bezug zur Erde herstellen, sondern auch in vielen anderen Zeichen, die wiederum mit dem Donner, dem Wasser und dem Berg aber auch mit dem See, dem Feuer und dem Wind verbunden sind. Befinden sich Wolken am Himmel wie in der Zeichengestalt Xu – ䷄ – so harren die Wesen vor dem noch herabfallenden Regen aus. In der Zeichengestalt Song – ䷅ – strebt das Wasser von oben nach unten der Erde und den Wesen in ihrer zahlreichen Menge zu. Der Donner als Macht der Erde lässt den See erzittern im Zeichen Sui – ䷵ –. In der Zeichengestalt Kan – ䷜ – höhlt das Wasser Schluchten aus und schafft tiefe und feste Abgründe. Die Zeichengestalt Xian – ䷞ – zeigt die auf dem Berg liegende Mulde des Sees: Die Offenheit, Leere (xu) des Sees steht dem Vollen (shi) des Berges gegenüber. Donner und Wind erzeugen im Zeichen Heng – ䷟ – Beständigkeit. Das Wasser des Zeichens Jian – ䷦ – bahnt sich seinen Weg durch die Engpässe der Berge. Wenn Donner und Wasser in dem Zeichen Jie – ䷧ – aufeinandertreffen bringen sie Lösung mit sich und lassen die Keimlinge vielfacher fruchtbringender Pflanzen, Kräuter und Bäume durch die Erde hervorbrechen und sich öffnen. 194 Wenn der See kein Wasser hat, weil es in den Grund entzogen ist, entsteht Not im Zeichen Kun – ䷮ –. Gibt es ein Holzwerk über dem Wasser, so entspricht dies dem Zeichen Jing, Brunnen – ䷯ –, von dem das Wasser aus der Erde geschöpft wird. Wiederholte Donnerschläge zeigen die fruchtbare und erschütternde Macht der Erde im Zeichen Zhen – ䷲ –. Jian – ䷳ – hingegen bringt das Bild des Feststehenden und Ruhenden (Gen) einer Berglandschaft zum Ausdruck. Das Wort Gen ist verwandt mit dem Wort gen [根] für ›Stamm‹ und ›Wurzelstock‹ : Wie ein Stamm oder Wurzelstock ruhen die Berge fest in der Erde. Der Donner bewegt den See von unten im Zeichen Gui Mei – ䷐ –. Aufeinanderfolgende Winde durchdringen die Gegenden und breiten das Wachstum auf der Erde im Zeichen Xun – ䷸ – aus. Im Zeichen Dui – ䷹ – verbinden sich zwei Seen miteinander: Dui bedeutet das Öffnen eines Durchganges. Die Öffnung lichtet, löst und klärt, sie wirkt versöhnend. 195 Wenn im Zeichen Huan – ䷺ – der Wind 194 195
Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Rainald Simon, S. 304 f. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 726.
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Das Ethos des Unverfügbaren
über das Wasser streicht, entsteht das Bild einer breiten Strömung. Der Wind malt Muster in das Wasser und lässt es hochsteigen. 196 Wenn es oberhalb des Sees Wasser gibt, wie in der Zeichengestalt Huan – ䷻ –, so bedarf es der Mäßigung des Zuflusses. In Wei Ji – ䷾ – löschen sich Feuer und Wasser gegenseitig aus, in Ji Ji – ䷿ – löschen sie sich nicht aus. Wei Ji und Ji Ji thematisieren die höchste Stufe des größeren (narrativen) Zyklus, der in den Zeichengestalten des Yijing als Ganzes zum Ausdruck kommt. Die Lebewesen befinden sich in einem dauerhaften Vorgang von Vergehen und Werden und des gegenseitigen aufeinander Einwirkens. Wei Ji – ䷾ – entspricht dem Stadium des Ausgelöschtseins und Ji Ji – ䷿ – dem Stadium des Noch-nicht-ausgeschlöscht-Seins. Beide Zeichengestalten haben in dem Spruchwerk das Durchwaten des Flusses als ihr zentrales Thema. 197 Sie scheinen zugleich einen Rückbezug zu dem Mond und dem weiblichen Fruchtbarkeitszyklus herzustellen, wie er bereits in anderen Zeichen thematisch wurde. Wei Ji, Nach dem Überqueren, und Ji Ji, Vor dem Überqueren symbolisieren die unfruchtbaren Tage und Abschnitte innerhalb dieses Fruchtbarkeitszyklusses. 198 Der Fluß und die Tage an denen der Fluss überquert werden kann, versinnbildlichen den Wechsel. 199 Das jahreszeitliche Anschwellen und Austrocknen der Flüsse bilden hiernach die Zyklen der Fruchtbarkeit ab. Wei Ji bezeichnet die Zeit kurz vor dem Monatsfluss, Ji Ji die Zeit danach. 200 Die generative und auch regenerative Wirkkraft von Kūn zeigt sich in den Fruchtbarkeitszyklen der Erde, die das Wachsen und Schwinden, Werden und Vergehen der Lebewesen bestimmen und in einem inneren Bezug zu dem weiblichen Menstruationszyklus stehen, der schließlich entscheidend für das Werden ist. 201 Dieser Zyklus Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 732. Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 743. 198 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 744. 199 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 744. 200 Vgl. Yijing, übers. u. hrsg. v. Dennis Schilling, Stellenkommentar, S. 744. 201 In ihrem Buch Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrung erarbeitet Ute Gahlings eine Systematik des weiblichen Leiberlebens, darunter der Erfahrungsmodus des Flüssigen (der blutende Leib, der sekretierende Leib (Sexualsekrete), der gebärende Leib (Fruchtwasser) und der ernährende Leib). In der phänomenologischen Untersuchung steht dabei das eigenleiblich Gespürte im Vordergrund im Gegensatz zu den scharfen Grenzen des objektivierten Körpers. Den Menstruationszyklus und auch die Schwangerschaft zählt Gahlings zu dem großen Erfahrungsraum eigenleiblicher Autorität. Die Schwangerschaft wird aus der Perspektive eigenleiblicher Erfahrung nicht als Fortsetzung eines Zeugungsaktes erlebt, obschon das Wissen um eine Befruchtung 196 197
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Phänomenologie der Erde
des Werdens bildet in seiner Ganzheit einen Gegensatz zu dem Modell des Werdens der Überlieferungen, das auf einer geschlechterteilenden Korrespondenztheorie des Weiblichen und Männlichen basiert innerhalb dessen das Weibliche dem Männlichen gegenüber abgewertet und generativ untergeordnet wird. Die Überlieferung des Bildes lässt, wenn man von den herrschaftsorientierten Interpretationsschemata absieht, einen deutlichen Rückbezug der Zeichen des Yijing zu der Erde erkennen, worin die durch Kūn beschriebene Dynamik noch einmal auf eine andere Weise verständlich wird. 202 In der Musterung von Kūn wird uns dasjenige gegenwärtig, was die uns umgebende Vielfalt des Lebendigen, uns selbst mit inbegriffen, gewährt und uns in Form der Erde trägt, nährt und stützt. Kūn kann die Varietät der Lebensformen nur durch ihre eigene Offenheit hindurch erzeugen, d. h. dadurch, dass sie selbst unverfügbar bleibt. Dass Kūn im Sinne des uneingeschränkt Offenen die Mannigfaltigkeit der Lebensformen ermöglichen kann, hängt vorausgesetzt wird. Für das weibliche Leibempfinden sind, wie Gahlings ausführt, insbesondere Erfahrungen mit ›Stoffen‹ – welche in der Lage dazu sind, verschiedene Gestalten anzunehmen, und in diversen Aggregatszuständen vorzuliegen, z. B. die Verwandlungsformen des Wassers – charakteristisch. Vgl. Ute Gahlings: Phänomenologie der weiblichen Leiberfahrungen, Freiburg/München 2016, S. 24 f. Die Untersuchung von Gahlings knüpft an die sogenannte Neue Phänomenologie von Hermann Schmitz an, für den im Gegensatz zu der klassischen Phänomenologie im Sinne Husserls nicht das im Bewusstsein Gegebene, sondern das im leiblichen Spüren Gegebene das Phänomen bildet. Dabei bedeutet leibliches Spüren stets ein sich spüren, was zu dem Begriff der Leibesinsel führt und ein räumlich regional ausgebreitetes Sichspüren meint. Hiernach kennt der leibliche Raum wesentlich eigentlich kein Äußeres, was für Gernot Böhme die Möglichkeiten des Verständnisses der Neuen Phänomenologie im Sinne einer Phänomenologie der Natur einschränkt, insofern eine Phänomenologie der Natur eine partielle Distanzierung vom Leib voraussetzen würde. In Abgrenzung zu einem naturwissenschaftlich verobjektivierenden Begriff der Natur, kann die Natur phänomenologisch betrachtet jedoch niemals zu einem reinen Objekt werden, das einem leiblosen Erkenntnissubjekt gegenübersteht. Das Erkannte wird demgegenüber eher in Form von Gestalten und Strukturen beschrieben werden. Mit Goethe stimmt Gernot Böhme damit überein, dass es für das Subjekt der Phänomenologie der Natur wesentlich um einen Bildungsprozess, um die Bereicherung der Erfahrung und die Orientierung in einem Phänomenfeld geht. Insofern Phänomenologie aber auf der eigenen Leiblichkeit basiert ist dieser Bildungsprozzess immer auch ein Selbsterfahrungsvorgang und insofern eine Form von Selbsterkenntnis. Vgl. Gernot Böhme: Phänomenologie der Natur – ein Projekt, in: Phänomenologie der Natur, S. 12 f. und 41. 202 Auf der Ebene des reinen Wandels der Phänomene betrachtet gibt es keine Hermeneutik der Macht.
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Das Ethos des Unverfügbaren
mit ihrer eigenen Unverfügbarkeit zusammen. Der Übergang von dem uneingeschränkt Offenen zu dem Unverfügbaren erfolgt im Prinzip bereits aus der Uneingeschränktheit von Kūn selbst. Denn die Wirkkraft von Kūn ist durch die sich in ihrer Gestalt vorzeichnende Uneingeschränktheit bestimmt und nur dadurch kann sie die Mannigfaltigkeit des Lebendigen ermöglichen. In der Vergegenwärtigung des uneingeschränkt Offenen von Kūn – vor dem Hintergrund der Erscheinungsweisen der Erde – vollziehen wir phänomenologisch gesprochen zugleich einen »Einstellungswechsel« 203. Wird die Erde durch das uneingeschränkt Offene hindurch betrachtet und erfahren, eröffnet sich, dass das Lebendige, die Fülle der Erde nur vermöge dieser Uneingeschränktheit sein kann, d. h. dadurch, dass Kūn als sie selbst diese unbedingte Offenheit wahrt. Als Wirkkraft der Erde bleibt Kūn jeglicher Form von Herrschaft entzogen und bewahrt in ihrer das Lebendige gewährenden Offenheit eine unverfügbare Dimension. Kūn wäre in diesem Sinne als das Unverfügbare der Erde zu betrachten, dessen Herausstellung zu einem anderen Erfahrungs- und Verstehenshorizont in dem wechselseitigen Aufeinanderbezogensein des Menschen und der Erde führt. In der aus der Dekonstruktion der Hermeneutik der Macht herauskristallisierten Wirkkraft von Kūn und dem, was sie ermöglicht, liegt die Möglichkeit für den Menschen eine Kūn entsprechende Haltung gegenüber der Erde zu gewinnen. Der Blickhorizont des modernen Menschen, d. h. eines Menschen, für den die archaischen Gefahren der Natur außer Kraft gesetzt sind, konstituiert sich darin, in der Erde etwas Verfügbares zu sehen, d. h. sich selbst und seine Produktionsweisen als unendlich und die Erde als endlich zu betrachten – jedoch geht es für den Menschen gerade darum, das Unendliche der Erde 204 zu sehen und das Endliche in der menschlichen Produktion. Das Ethos Mit dem Begriff der Einstellung bezeichnet Husserl die ›Qualität‹ einer subjektiven Betrachtungsform, die das Erscheinen und Verschwinden von entsprechenden Merkmalen des betrachteten Gegenstandes bedingt. Einstellung kann hiernach auch als eine Art subjektiver Empfänglichkeit definiert werden, die ausmacht, für welche Dimensionen eines Gegenstandes das eingestellte Subjekt in besonderem Maße empfänglich ist. In dem Übergang von der natürlichen zur phänomenologischen Einstellung stellt sich die Aufgabe, die Gegenstände einer reinen Wesensbetrachtung zu unterziehen ohne dabei ihre in der Natürlichkeit selbstverständliche Seinsgeltung mit zu vollziehen. Vgl. hierzu Hans-Helmuth Gander (hrsg.): Husserl-Lexikon, Darmstadt 2010, S. 78–80. 204 Für den archaischen Menschen war dieses ›Unendliche‹ der Erde schreckenerregend. 203
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Phänomenologie der Erde
des Unverfügbaren zielt in diesem Sinne auch ganz wesentlich auf die Frage nach der Art und Weise, wie sich der Mensch angesichts der Wirkkraft von Kūn zu verhalten hat, bzw. wie eine Kūn gemäße Haltung des Menschen beschaffen sein könnte. Mit Bezug auf das Verständnis des Spruchwerks des Yijing bedarf es einer Erziehung des Menschen im Ethos des Unverfügbaren.
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Schlusswort
Die im Kontext des Ethos des Unverfügbaren aufgeworfene Frage nach einer gemäßen Haltung des Menschen gegenüber der Erde wirft noch ein anderes Problem auf, nämlich dasjenige nach dem Status des Menschseins selbst und damit verbunden den Bedingungen der Erfahrung eines Eingebundenseins in einen ganzheitlichen Lebenszusammenhang. Die Tatsache, dass der Mensch dazu tendiert, sich in sich selbst zu verschließen und sich behauptend gegenüber anderen Formen des Lebens abzugrenzen, diese zerstörerische Selbstbehauptung des Menschen, die zugleich eine eigentliche Selbstentfremdung ist, kann im Kontext der Theorie der Religion 1 von George Bataille auf den Vorgang der Diskontinuität, d. h. einem Bruch des Menschen mit der seinsmäßigen Kontinuität zurückgeführt werden. Die Theorie der Religion beginnt mit dem Zustand der Immanenz oder Kontinuität, Begriffe, die Bataille dazu verwendet, um die Sphäre der Animalität oder Tierheit zu bezeichnen, welche als das In-der-Welt-Sein der Tiere im Sinne eines tiefen Eingebettetseins verstanden werden kann. 2 Die Sphäre der Animalität dient dabei keineswegs als eine bloße Vorstufe für die Beschreibung des sich entwickelnden Bewusstseins, sondern als eine dauerhafte Bezugsquelle, von der aus der preGeorges Bataille: Theorie der Religion, übers. von Andreas Knop, hrsg. v. Gerd Bergfleth, München 1997. 2 Das Tier ist der Welt, in der es lebt, so immanent, dass zwischen ihm und der Welt die Kontinuität eines lückenlosen Zusammenhanges besteht: »Jedes Tier ist in der Welt wie das Wasser im Wasser.« Georges Bataille: Theorie der Religion, S. 19. Vgl. hierzu Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz und Leidenschaft und Weltinnigkeit, in: George Bataille: Theorie der Religion, München 1997, S. 213. Das Bewusstsein setzt Gegenstände und verortet uns dadurch in einer Welt, in der Trennung, Ferne, Berechenbarkeit und Zielsetzung herrscht. Das Tier versetzt uns und führt uns in einen anderen Ort, wo wir etwas von der verlorenen Kontinuität des Seins wiederentdecken können. »Durch das Tier öffnet sich vor mir eine Tiefe, die mich anzieht und die mir vertraut ist. In gewissem Sinne ist diese Tiefe mir bekannt: es ist die meine.« George Bataille: Theorie der Religion, S. 23. 1
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Schlusswort
käre Status des Menschseins beleuchtet werden kann. Den Gegensatz zur animalischen Immanenz bildet nämlich die Transzendenz, die für Bataille mit dem Auftreten des Menschen verbunden ist: Als anthropologischer Begriff bezeichnet sie die Herstellung einer objektiven Gegenstandswelt, die sich immer mehr aus der Immanenz herauslöst. Diese Transzendenzbewegung gehört für Bataille unumgänglich zur conditio humana und als Herausfallen des Menschen aus der Sphäre der Immanenz und Kontinuität, zu den Bedingungen der Religion, welche für Bataille, insbesondere, in ihrer archaischen Gestalt, die Rückkehr zu der Sphäre der Immanenz anstrebt. 3 Die Religion des archaischen Menschen zeichnet sich durch eine Nähe zu der Tierheit aus, die jedoch gerade aus dem Bewusstsein einer unwiderruflichen Entfernung hervorgegangen ist. 4 Die Welt, die sich zwischen der reinen Tierwelt und der Menschenwelt bildet, ist für Bataille die heilige Welt, Schauplatz aller Riten, die der Versöhnung des Menschen mit der Animalität dienen, die ihn jedoch auch vor einem Rückfall in ihre Wildheit bewahren sollten. Die heilige Welt ist der Ort der Vergöttlichung des Tieres, welche zugleich eine Wiedergeburt des Lebens aus dem Tod bedeutet. 5 Spätestens mit Vgl. Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 214. Nach Bataille geht die Entstehung der heiligen Welt demnach aus dem Bruch hervor, der zwischen dem Menschen und dem Tier gesetzt ist. Die Religion wurzelt in der Menschwerdung selbst. Für Bataille stellt die »ewige Animalität in uns« eine Bedrohung für die Vernunft dar, obschon sie ganz zentral zur Menschwerdung selbst gehört. Zeugen dieser Animalität sind für Bataille die Mächte des Todes und der Sexualität, welche von dem archaischen Menschen mit Tabus versehen und neben dem Opfer und dem Fest in die heilige Welt eingeordnet wurden. Vgl. Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 219. 4 »Alles deutet darauf hin, dass die ersten Menschen dem Tier näherstanden als wir; vielleicht unterschieden sie es von sich, doch nicht ohne einen mit Schauder und Sehnen versetzten Zweifel.« George Bataille: Theorie der Religion, S. 32. 5 Das Tier überlebt seinen Tod, in dem es dem Menschen als Tiergott erscheint. Vgl. Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 221. Die Höhle von Lascaux kann als ein Sanktuarium der archaischen Tier-Religion gesehen werden. An der Höhlenmalerei von Lascaux fällt vor allen Dingen das Verschwinden des Menschen hinter dem Tier auf: Der Mensch verbirgt seine Gestalt unter einer Tiermaske, woraus Bataille folgert, dass der damalige Mensch dem Tier in einer Weise gegenübergetreten ist, die der unseren diametral entgegensteht. Die archaische Religion setzte keinen Gegensatz zwischen der Tierheit und der Gottheit, in der archaischen Welt bilden Tierheit und Gottheit zusammen die religiöse Welt, die der profanen Welt gegenübersteht, während in der christlichen Neuzeit Menscheit und Gottheit eine Welt bilden, die einer Tierheit gegenübersteht, der jede religiöse Bedeutung abgesprochen wird. Vgl. Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 223. 3
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Schlusswort
dem Aufkommen des Christentums, welche den Menschen zum Herrn der Erde macht und damit aus aller Verbundenheit mit der Natur herauslöst, setzt nach Bataille der Niedergang der Tier-Religion und des Heiligen und mit ihm die Naturverwüstung ein: Mit dem Verschwinden der archaischen Religion geht jedoch nicht nur die intime Verbindung zwischen dem Menschen und dem Tier verloren, sondern mit dem Verlust dieser Intimität verschwindet auch das Göttliche selbst aus der Welt – sofern die archaische Tierverwandtschaft ihrer Bedeutung nach als ein Index der göttlichen Immanenz, d. h. der archaischen Religion als einer Religion der Weltimmanenz genommen werden kann. 6 Bataille bestimmt das Wesen der Religion anthropologisch als die Suche des Menschen nach der verlorenen Intimität, die letztlich als ein Innesein der Welt verstanden werden kann, d. h. die Weise, in der der Mensch sich seiner Verbundenheit mit allem Leben und so auch seiner Animalität (wieder) inne wird. 7 Die Intimität wird mit der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins als Herausprägung einer Selbstbewusstseinsstruktur dynamischer Art (dessen Vollendung die hegelsche Dialektik wäre), die für Bataille einen zunehmenden Prozess der Verdinglichung – der Naturentfernung bzw. Selbstentfremdung – darstellt und in den modernen Gesellschaften bis zur totalen Reduktion des Menschen auf den Status eines Dinges reicht, immer weiter zurückgedrängt bis hin zu ihrer vollkommenen Negation. In einem geschichtsphilosophischen und Amplifikationsduktus mit anthropologischen Konsequenzen lässt Bataille diesen Prozess als ein charakteristisches Merkmal der Mensch-Werdung selbst verstehen, d. h., der Zusammenhang von Bewusst-Werdung, Selbst-Bildung und Natur-Entfremdung ist letzten Endes nicht nur und nicht in erster Linie historisch rekonstruierbar, sondern er gehört unumgänglich zur conditio humana. Während der archaische Mensch jedoch noch ein rituelles Regelwerk kannte, um eine Verbindung zur Kontinuität, zur Welt des Heiligen
Vgl. Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 225 f. Vgl. George Bataille: Theorie der Religion, S. 50. »Der Mensch ist das Wesen, das verloren, ja verworfen hat, was es dunkel ist: unterschiedslose Intimität.« George Bataille: Theorie der Religion, S. 49. Nach Bergfleth stimmt der Terminus ›Intimität‹ durchaus mit dem Wortsinn, der die Innigkeit der Verbundenheit meint, überein: ›intimité‹ leitet sich von ›intimus‹ ab, das den Superlativ von ›in‹ bezeichnet. Vgl. Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 227.
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herzustellen, hat der moderne Mensch diese Verbindung weitestgehend verloren. 8 Das Verhältnis des heutigen Menschen zur Natur kann in diesem Sinne als ein tief gespaltenes Verhältnis gesehen werden: Durch den Säkularisierungsprozess ist die Natur auf einen bloßen Stoff reduziert und sind alle Lebewesen verdinglicht worden. 9 Die GesamtNach Bataille würde die Wiedererlangung der Intimität eine Zerstörung der gegebenen Dingwelt erforderlich machen. Batailles Restitution der Religion wäre in diesem Sinne als eine Restitution ihres ursprünglichen Sinnes zu verstehen, nämlich der Zerstörung der gegeben profanen Welt, die zugleich die Eröffnung der ungegebenen heiligen Welt bedeutet, einer Welt, die nicht mehr verstellt wäre von den Dingen und die der Vergegenständlichung und der Subjekt-Objekt-Beziehung entzogen bleibt. Vgl. Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 232. Die Zerstörung der Ökonomie beim archaischen Opfer bietet eine wichtige Grundlage für die Gegenwartskritik von Bataille: Die Zurückgewinnung der Intimität als Möglichkeit des Menschen seiner Verdinglichung zu widerstreben und als Rückgabe und reservelose Verschwendung der Reichtümer. 9 Nach der Dialektik der Aufklärung (vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, Berlin 1988) führte die Befreiung des Menschen vom Naturzwang, die wesentlich darin bestand, dass der Mensch sich zum Beherrscher und Eigentümer der Natur machte, nicht zu dem gewünschten Zustand einer vernünftigen Welt, sondern zu der Ausbildung einer technisch-instrumentellen Rationalität, die verheerende Folgen nach sich zieht. Die so verstandene Vernunft, die sich aus ihrer Verschränkung mit dem Zwang zur Selbsterhaltung und einer permanenten Absicherung gegen Unvorhersehbares – dem Abtrennen des Inkommensurablen – und der Beherrschung aller Dinge durch Berechnung ergibt, bedeutet nicht nur die Form der Herrschaft des Menschen über die innere und äußere Natur, sondern zugleich auch die Herrschaft über andere Menschennaturen. Die sogenannte ›Entzauberung der Welt‹ (vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Grundrisse der verstehenden Soziologie, Tübingen 2002), welche im Übereinkommen mit dem bürgerlichen Glücksversprechen steht, Freiheit und Wohlstand in der Überfülle von Waren zu sehen, führte zu umfassenden Umweltzerstörungen. In der modernen Gesellschaft, welche durch letztlich rein technische Optimierungsstrategien die Naturbeherrschung lediglich zu modernisieren suchte, indem sie negative Folgewirkungen in Form von ökologischen Risiken kalkulierbar machte, bleibt die Natur einem nutzbaren Substrat kapitalistisch betriebener Selbsterhaltung unterworfen. Die Siegeszüge der Gattung Mensch bleiben für Friedrich Engels, welchem das Verdienst zugesprochen werden kann auf die ökologischen Konsequenzen der kapitalistischen Gesellschaft hingewiesen zu haben, daher reine ›Pyrrhussiege‹, für die sich die Natur an dem Menschen rächt. Vgl. Iring Fetscher: Überlebensbedingungen der Menschheit, Zur Dialektik des Fortschritts, München 1980, S. 139. Die Dialektik der Aufklärung macht deutlich, dass die Beherrschung der Natur und die Befreiung oder Emanzipation des Menschen nicht zusammen gehören, wie dies die Aufklärung vorsah, vielmehr bildet die entfesselte Naturbeherrschung, die barbarische Selbsterhaltung und Selbstverhärtung gegenüber der Angst einflößenden Natur gerade das Hindernis für eine wirkliche Mündigkeitserklärung des Geistes. Solange die Natur ein 8
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heit des Seienden ist nicht mehr länger das Lebendige im Sinne eines in sich bewegten und zusammenhängenden Ganzen, von dem sich der Mensch als einen Teil erfährt, sondern als ›Welt‹ das GegenüberSeiende 10, von dem der Mensch getrennt ist. Der Seinsriss manifestiert sich zugleich im Bewusstsein des Menschen als einem gegenstandbezogenen, d. h. verobjektivierenden und verdinglichenden Bewusstsein. 11 Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach bloßer Gegenstand der Nützlichkeit für den Menschen ist, bleibt die Menschheit im Bann der als ›Massenracket der Natur‹ (vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 271) wütenden Gesellschaft stehen. Ohne eine Anerkennung der Eigenbedeutung der Natur scheint ein angemessenes Verständnis gegenüber den ökologischen Schwierigkeiten nicht möglich. Mit Blick auf die Möglichkeit einer vernunftvollen und von Herrschaft befreiten Welt, kann der Mensch nicht weiter damit fortfahren, ein rein instrumentelles Verhältnis zur Natur aufrechtzuerhalten. 10 Durch diesen zunehmend distanzierten Blick, der die Welt als etwas Äußeres und Getrenntes setzt und sie zu bestimmen versucht, verneint sich der Mensch und mit sich die verschiedenen, anderen Lebensformen, ja schlussendlich das Lebendige selbst, sofern er sich nicht mehr als Teil dessen erfährt. Dies führt ihn schlussendlich zu einer Naturvergessenheit, die nicht nur eine Störung des Gleichgewichts der Natur zur Folge hat, sondern zerstörerische Konsequenzen für das dauerhafte Bestehen der verschiedenen Lebensformen auf dieser Erde zeigt, darunter die des Menschen selbst. Einer anthropozentrischen und logozentrischen Sichtweise, welche den Fokus einseitig auf die Überwindung der Natur und die Entstehung der Kultur legt, steht die Kehrseite des mit Naturunterwerfung und Beherrschung einhergehenden Verlustes der Artenvielfalt entgegen, die jedoch zugleich eine kulturelle und geistige Verarmung der Menschheit nach sich zieht. Der egozentrierte Mensch bekämpft die Natur als etwas ihm feindlich gegenüber Stehendem, als eine Bedrohung seines eigenen Bestandes und vergisst darüber, dass sein eigenes Sein nur Dauer haben kann, sofern es durch diese Ganzheit selbst bestimmt ist. Vgl. hierzu: Hans-Peter Dürr, Das Lebende lebendiger werden lassen: Wie uns neues Denken aus der Krise führt, München 2011. 11 Für Bataille würde erst im rückgängigen Prozess der Entdinglichung des Menschen, der eine Enteignung und Entleerung von seiner in die Isolation und Vereinzelung führenden Objektbesessenheit ist, der Kern des Menschen wieder aufscheinen. Insofern würde es Bataille um die Auflösung des Getrenntseins der für ihn verdinglichten Individuen (ein Status, der mit dem prekären Zustand des menschlichen Individuiertseins zusammenhängt) gehen: Erst der Übergang zur Kontinuität würde die Wiederentdeckung von Intimität ermöglichen, die dann eine innere Verbundenheit schafft, die nicht auf Differenz, sondern auf Gemeinschaft (alles Lebendigen) basieren würde. So würde – wie Bergfleth dies in seinem Aufsatz über die Religion der Weltimmanenz im Ausgang von Bataille scheibt – an die Stelle der entdinglichten Welt keine Leere treten, vielmehr wäre sie erfüllt »von der überwältigenden Strömung des Einsseins mit allem Lebendigen, die zwischen Mensch und Baum und Tier und Erde, Meer und Himmel keinen Unterschied mehr macht.« Gerd Bergfleth: Die Religion der Weltimmanenz, S. 232. An dieser Stelle kann jedoch nicht verleugnet werden, dass für Bataille der Durchbruch zu einem Kontinuum des Lebens letztendlich mit dem Tod zusammenhängt, nicht jedoch als einem ›Nicht-Bild des Todes‹, sondern
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den Bedingungen eines anderen und neuen Zuganges zur Natur und zu dem Lebendigen, einem Bewusstseinswandel, der die Möglichkeiten der Erfahrung eines Eingebundenseins des Menschen in ein Kontinuum des Lebens einschließt. Um die Forderung eines Bewusstseinswandels zu erfüllen und eine neue Haltung zu kultivieren, ist es notwendig, eine Zugangsweise zu gewinnen, welche die Parameter eurozentrischen Denkens verlässt. Die Fatalität der modernen Diskriminierung von Mensch und Natur macht letztlich ein neues, kosmozentrischeres Weltverstehen notwendig, einen Blick auf das Ganze, in dem sich der Mensch nicht mehr als Beherrscher und Gegner, sondern als Teil der Natur begreift, der gemäß er zu handeln hat. 12 Es zeigt sich eine gewisse Nähe zwischen der Nachmoderne, die anstelle des in sich selbst verschlossenen Subjekts die Natur in das Zentrum rückt, und einem vor-anthropozentrischen, vor-ökologischen, kosmozentrischen Weltbild, wie es aus dem Yijing – jenseits der Hermeneutik der Macht der Überlieferungen – gewonnen werden kann. 13 Anders als der metakritische Weg der Postmoderne, in deren Mittelpunkt die Dekonstruktion des Subjekts steht, und zwar durch einen Gegenangriff, steht im Zentrum des Yijing die Gestalt der Erde, deren Wirkkraft im Sinne der herausgestellten uneingeschränkten Offenheit als Zugang zu den Wandlungen, d. h. der Mannigfaltigkeit des Lebendigen fungieren kann. Die Möglichkeitsbedingungen für einen Bewusstseinswandel und die Kultivierung einer neuen Haltung hängt wesentlich mit unserem ›Bild‹ von der Erde zusammen, sofern dieses ›Bild‹ aus der Perspektive des Yijing verstanden keine Distanz zur Wirklichkeit schafft, sondern die Wirklichkeit auf eine ganz spezifische Weise erst eröffnet. Daher war eine Dekonstruktion der Hermeneutik der Macht in den Überlieferungen des Yijing notwendig, um das dort angelegte ›Bild‹ von Kūn im Sinne des Sich-Fügens der Erde grundlegend zu korrigieren und damit neue Möglichkeiten des Zuganges zu den Wandlungen, die – wie eingangs gesagt – nicht nur das Yijing als Werk bezeichnen, sondern zugleich das Wandlungsgeschehen der Wirklichkeit, d. h. unseren Zugang zur Wirklichkeit bestimmen. 14 mit der (grausamen) Offenbarung des Lebensexzesses im Nicht-Symbolisierbaren (den Eingeweiden, dem Gestank, den blut-pulsierenden Organen, usw.). 12 Vgl. Günter Wohlfart: Zhuangzi (Dschuang Dsi), Meister der Spiritualität, Freiburg, Basel, Wien 2001, S. 33. 13 Vgl. Günter Wohlfart: Zhuangzi, S. 33. 14 In den Überlieferungen des Yijing, insbesondere in der Großen Überlieferung, wird
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Vor dem Hintergrund der uneingeschränkten Offenheit von Kūn konnte die Erde als eine Gestalt der Ganzheit im Sinne einer die Kontinuität des Lebens und der Wandlungen ermöglichenden Gesamtdynamik des Lebendigen figuriert werden. Dabei hat sich der Gedanke des Flusses als maßgebend erwiesen, der auf die Unmöglichkeit einer diskreten Einheit hinweist, so dass die Möglichkeitsbedingung des Erscheinenden zwar das Ganze umfasst, jedoch nicht im Sinne einer Einheit als Positivum, sondern als Konsistenz, d. h. des EinsWerden im Sinne der Interkonnektivität des Mannigfaltigen. In Bezug auf die Verfügbarkeitsstruktur, die bisher im Verhältnis zwischen der Begriff der Wandlungen nicht nur dazu verwendet, um die Zeichenbilder des Yijing (und die in ihnen konfigurierten Phänomene oder Phänomen-Zusammenhänge) zu beschreiben, sondern auch das konkrete Wirklichkeitsgeschehen selbst. Nicht nur das: Es scheint, als ob die Wandlungen (des Yijing) aus der Perspektive der Metatheorie der Wandlungen im Ausgang von den Überlieferungen nicht nur auf das konkrete Wirklichkeitsgeschehen verweisen, bzw. dieses umfassen, sondern, dass die Wandlungen (des Yijing) als wirklicher angenommen werden als die Wirklichkeit selbst. Dies beinhaltet zugleich die Annahme, dass die Wirklichkeit bzw. das Wirklichkeitsgeschehen selbst durch die Wandlungen (des Yijing) bestimmt werden kann: Dieser Zusammenhang war wichtig für das Verständnis der Reichweite der Hermeneutik der Macht, sofern die Aneignung der Zeichen des Yijing (im Sinne eine spezifischen Hermeneutik in den Überlieferungen) zugleich es vorsieht, eine Bestimmung der konkreten Wirklichkeit, d. h. die Implementierung dieses Systems der Macht auf der Ebene der empirischen und gesellschaftlichen Wirklichkeit zu sein (bzw. diese durch die Zeichen zur rechtfertigen). Die Zeichen sind der Ort der Implementierung der Macht, die gleichzeitig eine Determination der Wirklichkeit bedeutet. Es ist daher mit Bezug auf das Verständnis bzw. die Konstruktion von Wirklichkeit ausschlaggebend, wie die Zeichen im Yijing gedeutet werden, d. h., welcher Zugang zur Wirklichkeit ausgehend von den Zeichen geschaffen werden soll und wie diese Wirklichkeit demzufolge beschaffen ist. Die Zeichen des Yijing werden als machtvoll betrachtet, weil sie eine wirklichkeitsgestaltende Kraft besitzen. Daher zielte die Dekonstruktion der Hermeneutik der Macht auf die Transformation des Verständnisses von Kūn im Sinne des Sich-Fügens der Erde, sofern die Figuration von Kūn im Sinne der uneingeschränkten Offenheit zugleich die Möglichkeit eines anderen Zuganges zur Wirklichkeit und genauer zur Erde ermöglichen kann. Die Zeichen schaffen keine Distanz zur Wirklichkeit, sondern ermöglichen einen tieferen Zugang zu ihr. Kūn vor dem Hintergrund ihrer uneingeschränkten Offenheit und damit verbunden dem Ethos des Unverfügbaren vermag einen anderen Zugang zu der Erde freizulegen. Dieser Zugang hängt zugleich mit einer Erweiterung bzw. Vertiefung der Wahrnehmung zusammen, welche durch die Methode der analogischen Konkretion erzielt werden soll. Dabei geht es nicht um einen bloß passiven Begriff von Wahrnehmung, sondern um eine aktive Form der Gestaltung, d. h., um eine Wahrnehmung, welche einen wirklichkeitsgestaltenden Charakter hat. Zur aktiven Gestaltung der Wirklichkeit bedarf es einer Haltung, die dem Ethos des Unverfügbaren als Form der (Selbst-)Erziehung des Menschen entspricht.
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dem Menschen und der Erde gesetzt war, bedeutet dies umgekehrt, dass die Erde nicht als eine feste Entität betrachtet werden kann, die durch rationale Beobachtung und theoretische Konstrukte zu verstehen ist: Vielmehr bedarf es des Bewusstseins von der Erde und dem Menschen als einem fortwährenden Prozess der Wandlung und Veränderung, des Wachsens und Entwachsens, Aufblühens und Verwelkens – des Werdens und des Vergehens – dem Wandlungscharakter der Erde. Indem wir anfangen, den Menschen und die Erde als sich in einer lebendigen Entfaltung des Seins stets verändernd wahrzunehmen – und darin die Generativität der Erde sehen, die in ihrer uneingeschränkten Offenheit als Voraussetzung für die Mannigfaltigkeit des Lebendigen liegt –, kann ein neues, weniger destruktives Verständnis der Menschheit auf der Erde entstehen. Unter dieser Voraussetzung gilt es, sich von denjenigen traditionellen westlichen Denkformen fortzubewegen, die uns dazu zwingen, das Lebendige als statische und unveränderbare Objekte zu verstehen, anstatt als dynamische Wachstumsprozesse, die sich durch die Zeit hindurch entwickeln und entfalten. 15 Es bedarf eines in der Erde wurzelnden Denkens, eines Denkens, das die Erde re-figuriert, insofern unser ›Bild‹ der Erde unseren Zugang zur Wirklichkeit bestimmt und uns letztlich zu dem macht, was wir sind. 16 Die in Grundzügen dargestellte Phänomenologie der Erde kann als Möglichkeit der Entwicklung eines solchen in der Erde wurzelnden Denkens aufgefasst werden, ein Denken, das durch die Methode der analogischen Konkretion eine Vertiefung der Wahrnehmung ermöglicht, ein Vorgang, der sowohl eine ästhetische als auch eine ethische Dimension umfasst. Durch die Figuration der Dynamik von Kūn – ihrer uneingeschränkten Offenheit – tritt die Fülle und Vielfalt des Lebendigen, das Wachsen und Schwinden, Kommen und Gehen der Lebensformen, die zyklische Bewegung der Erde als Manifestation ihrer unendlich generativen Kraft in den Vorschein. Im Offenen von Kūn kann das Seiende als Mannigfaltigkeit des Lebendigen wiederkehren. Eine Responsivität gegenüber den sich verändernden Gestalten der Erde und in diesem Sinne die Möglichkeit einer anderen Haltung des Men-
Vgl. Kenneth Maly: Earth-Thinking and Transformation, in: Ladelle McWhorther: Heidegger and the Earth. Essays in Environmental Philosophy, 1992, S. 53–68, hier S. 55. 16 Vgl. Kenneth Maly: Earth-Thinking and Transformation, S. 57. 15
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schen gegenüber der Erde kann durch Kūn und dem ihr gemäßen Verständnis des Yijing kultiviert werden. Die Bildhaftigkeit der Zeichen des Yijing eröffnet zugleich die Möglichkeit einer intuitiven Konkretion im Sinne einer Verschränkung von ›Sichtbarem‹ und ›Unsichtbarem‹. Wie kein anderes Werk bringt das Yijing den Zusammenhang zwischen einem lebendigen Reichtum an Bildern und Gestalten (sowie deren dynamischer Struktur) und einem transformativen Erkenntnis- und Erfahrungswert ins Bewusstsein. 17 Im Ausgang von den Gestalten und Bildern des Yijing kann eine Erfahrungsdimension des Lebendigen gezeigt werden, die strukturell und dynamisch zugleich ist. Die Figuration von Kūn im Sinne des uneingeschränkt Offenen mündet daher auch nicht in einen leeren Mystizismus, sondern zu der Öffnung eines Erfahrungsbereiches, zu dem es der Imagination bedarf. Imagination meint hier kein bloß bildhaftes Vorstellen, keine Phantasie oder bloße Fiktion, sondern einen ›imaginalen‹ Blick, der die Schichten der Äußerlichkeiten bis zur Aufhebung der Gegenständlichkeit durchdringt, um Beziehungen hervorbrechen zu lassen und Unsichtbares sichtbar zu machen, um dort eine unentdeckte Fülle zu finden, die es uns erlaubt, unser gewohntes Blickfeld zu erweitern. 18 Die ›Imagination‹ von BilDie Bilder des Yijing bedingen eine Art Imaginationskraft, die als eine Verwandlung des Seienden – des Sichtbaren in das Unsichtbare und vice versa – verstanden werden kann. Mit Rilke gesprochen würde die Verwandlung des Seienden den Einbezug des statischen Gegenstandes in das fluidale Leben bedeuten und damit die Möglichkeit des Bewusstseins einer anderen Art hervorbringen. Das Bewusstsein anderer Art steht in Zusammenhang mit dem Begriff des Offenen, den Rilke ausgehend von den Duineser Elegien entwickelt hat: »Mit allem Augen sieht die Kreatur das Offene. Nur unsere Augen sind wie umgekehrt und ganz um sie gestellt als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.« Rainer Maria Rilke: Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1986, S. 658. Diesem Bewusstsein gibt sich das Leben als eine dynamisch sich fügende Ganzheit. Eine philosophische Poetik der Natur bildet in unserer Zeit ein Desideratum, insbesondere wenn ihr höchstes Ziel darin besteht, die »Erde uns so tief […] einzuprägen, daß ihr Wesen in uns ›unsichtbar‹ wieder aufersteht.« Rainer Maria Rilke: Briefe aus Muzot, S. 373 f. 18 Um die Imagination von bloßer Phantasie zu unterscheiden, spricht Corbin vom ›Imaginalen‹. Für Corbin öffnet die Imagination den Zugang einer Welt, die er als mundus imaginalis definiert: »eine Welt, die nicht mehr die empirische Welt der sinnlichen Wahrnehmung ist, und gleichzeitig ist sie auch (noch) nicht die Welt der intellektiven Intuition der rein intelligiblen Wesen.« Henri Corbin: L’imagination créatrice dans le soufisme d’Ibn Arabi, Paris 2012, S. 18. Genauso wie die sinnliche Welt ein Korrelat der Wahrnehmung ist und die intelligible Welt ein Korrelat des reinen Intellekts, ist der mundus imaginalis ein Korrelat der aktiven Imagination. Nach Corbin ist die Wahrnehmung immer mit Materie verbunden, sobald die Materie 17
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dern und Gestalten im Prozess ließe sich zugleich als eine Form des Einschwingens 19 in die Phänomenalität des Lebendigen verstehen. Der Blick in die Offenheit von Kūn, ein in diesem Sinne wesensmäßig imaginativer Blick, wird sozusagen zu einer Einübung in das Lebendige, sofern das Sehen, Schauen, Mustern (guan) keine ekstatische jedoch als subtil betrachtet wird (was er mit einer Theorie der subtilen Körper verbindet), verändert sich das Zugangsorgan dazu. In Bezug auf das Yijing bzw. den Status der Bilder im Yijing kann die Wahrnehmung nicht von der Imagination getrennt werden. Vielmehr ginge es um eine Form der Vertiefung oder Ausweitung der Wahrnehmung dahingehend, dass die duale Auffassung von sinnlichem Stoff und Empfindung verflüssigt wird. Das Korrelat dieser Wahrnehmung wäre jedoch keine Zwischensphäre im Sinne eines Halb-Intelligiblen (wie bei Corbin), sondern Ausdruck von Kräften, die mit der Erde korrelieren. Im Hinblick auf die Symbole bzw. Embleme des Yijing könnte man von einer Art Ineinanderverschlungensein von Wahrnehmung und Imagination sprechen. Corbin sagt, dass das Organ der Imagination zugleich das Aufbrechen und das Wahrnehmen von Symbolen ermöglicht, so dass es auf der Ebene der Imagination keinen Dualismus von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem gibt und das Wahrgenommene sich in einer permanenten Schöpfungsdynamik befindet. Während der Leser des Yijing glaubt mit einem System aus Zeichen konfrontiert zu sein, befindet sich das Wahrgenommene schon in den Zeichen. Werden die Zeichen des Yijing als Symbole oder Embleme von Naturkräften genommen, betrachtet der Leser keine abstrahierten Zeichen in einem ›Buch‹, sondern tritt in eine Welt ein. Die Symbole bilden in diesem Sinne Türen zur Wirklichkeit. Offenbar sind sie da, weil die Natur (zum Beispiel als einem animistisch verstandenen Kraftfeld) nicht mehr unmittelbar zugänglich wird: Man könnte daher sagen, dass es dieser Art von Vermittlung bedarf, um die Unmittelbarkeit wieder erleben zu können. 19 Der Begriff des Einschwingens bezieht sich hier auf das Abrücken von einem erkenntnistheoretisch geleiteten Muster des ›Erschauens von etwas‹. Mathias Obert hat im Kontext seines Buches zur chinesischen Berg-Wasser-Malerei Welt als Bild darauf hingewiesen, dass es in der vormodernen chinesischen Malerei immer um einen wirklichen Eintritt in das Weltganze, d. h. ein durch das Bild bewirktes lebenspraktisches Eingehen in das Wirkliche geht Vgl. Mathias Obert: Welt als Bild, Die theoretische Grundlegung der Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg, München 2007, S. 45 f. »Über die Bildsemantik und eine eigentümliche ästhetische Praxis läßt sich anhand des für die abendländische Metaphysik zentralen Problems der Anschauung aufzeigen, inwiefern im vormodernen China ein Philosophieren über das Sein auf dem Boden ontischer Präsenz nicht statthat. An seiner Stelle steht die leitende Vorstellung von einem fundamentalen Wirkgeschehen als dem eigentlich Wirklichen. Dieses Geschehen ist weder präsentierbar noch repräsentierbar. Es erfordert viel eher ein menschliches ›Einschwingen‹ in seine […] Bewegtheit. Und gegenüber der ontologisch-metaphysisch begründeten Alternative von Präsentation oder Repräsentation einer erscheinenden Seinswirklichkeit ist es Aufgabe eines solchen […] ›Einschwingens in das Wirkliche‹, der sich das Philosophieren wie nicht minder die Ästhetik im vormodernen China verschrieben hat.« Mathias Obert: Welt als Bild, S. 48.
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und daher entwirklichende Distanz voraussetzt. Die Bilder des Yijing sind nicht als etwas zu betrachten, was eine Distanz zur Wirklichkeit schafft, sondern, die umgekehrt gerade einen anderen, vertieften und gestalterischen Zugang zur Wirklichkeit ermöglicht. Das Denken des Yijing ist den, in Mustern und Gestalten figurierenden Wahrnehmung von lebendigen Erscheinungen der Natur entsprungen und ermöglicht es deswegen, das Seiende nicht als etwas Fremdes und ›Gegenüberstehendes‹ zu betrachten, sondern als einen dynamischen Zusammenhang des Lebens, der sich in Zyklen bewegt, in die der Betrachter selbst eingebunden und von denen er durchwaltet wird. Ethos des Unverfügbaren bedeutet in diesem Sinne die Entschränkung des Blicks auf die Wirkkraft von Kūn und zugleich die Eröffnung einer Erfahrungsdimension, die als ein ›Einüben‹ in das Lebendige verstanden werden kann. Der Mensch übt sich letztlich in die verschiedenen Erscheinungsformen des Lebendigen ein, indem er sich offen auf das Geschehen der Wandlungen der Erde einlässt, in dessen Kern ihm die notwendige Unverfügbarkeit von Kūn einsichtig wird. Der horizontale Weltzugang, welcher durch Kūn eröffnet wird, versteht sich in diesem Sinne als eine Form der metamorphischen Weltoffenheit, deren Konturen und Eigenschaften im aktiven Umgang mit einer Welt in kontinuierlicher Geburt entstehen.
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Das Zeichen Kūn (aus: private Quelle)
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 2: Anordnung der 64 Zeichen des Yijing (aus: private Quelle) Der Himmel Die Erde
Der Wind Der Donner Das Feuer Das Wasser
Der See
Der Berg
☰☷☴☳☲☵☱☶ Abbildung 3: Die acht Grundzeichen (aus: private Quelle)
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Abbildung 4: Das Zeremonialgefäß cong (aus: Berthold Laufer: Jade, S. 132)
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Abbildungsverzeichnis
Abbildung 5: Das Kontinuum von Kūn (aus: private Quelle)
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