Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts 3787344268, 9783787344260

Ein gutes Leben: Das beschäftigt die Denkenden im langen 18. Jahrhundert wie keine andere Frage. Dass dieses Problem nic

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Inhaltsverzeichnis
Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks: Einleitung – Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts
URTEIL – KRITIK – ADRESSE
Rüdiger Campe: Ethik und Ethos – Shaftesburys Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times
Evelyn Dueck: »Alle unser Wissen muß praktisch seyn« – Meiers Philosophische Sittenlehre und ihre Grundlegung in einer Theorie des sinnlichen Menschen
Carolin Rocks und Sebastian Meixner: Fehlerlese – Praktiken der Kritik in Gottscheds Poetik
Frauke Berndt: Praktiken des Heldengedichts – Baumgartens Interventionen in Klopstocks Messias im Kollegium über die Ästhetik
Kathia Kohler: Schöne Geisterjagd – Die Diskurspraktik des Spottens in Groschs Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet
Ralf Simon: »Autorhandlung« – Hamann und Jean Paul über Herder
ERZIEHUNG – BEZIEHUNG – ANZIEHUNG
Daniel Fulda: Praktiken der Aufklärung in der Romandiskussion bei Thomasius – Eine Literaturtheorie stellt sich in den Dienst der politischen Klugheit
Peter Wittemann: Literatur und Luxus – Praktiken erziehenden Erzählens in Wielands Goldnem Spiegel
Marius Reisener: Romanpraktiken – Blanckenburgs Versuch über den Roman
Stefan Matuschek: Praktiken der Höflichkeit – Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen
Christian Metz: Geistesgegenwärtigkeit – Hölderlins epistemische Praxis des Ethos
Gabriel Trop: Praktiken der Anziehung
FORMEN – MEDIEN – DINGE
Stephan Kammer: Praktiken des Epigramms – Scaliger, Lessing, Goethe
Elisabeth Décultot: Was heißt empfinden? – Zur Funktion der Kunst in Du Bos’ und Sulzers Ästhetik
Roland Spalinger: »Prüfe-Stein« – Praktiken der Freundschaft in Baumgartens Ethica philosophica und Philosophischen Brieffen von Aletheophilus
Luca Alexander Arens: Anerkennungspraktiken in Lessings Kriegsdramen
Cornelia Pierstorff: Stoff – Textile Praktiken in Sophie von La Roches Pomona
AFFEKT – KÖRPER – RESONANZ
Nicola Gess: Bewunderung, Verwunderung, Erstaunen? – Praktiken des Staunens in der Tragödientheorie der Frühaufklärung und in Lessings Philotas
Johannes Hees-Pelikan: Genderpraktiken – Zur Praxeologie des Mitleids am Beispiel von Lessings Miß Sara Sampson
Alexander Honold: Gefühls-Transport – Ethik und Ästhetik in literarisch reflektierten Praktiken der Schauspielkunst
Britta Herrmann: Information und Plastisierung – Anthropo-Praktiken der Kunst und Literatur um 1800
Boris Previšic: Akustische Praktiken in der alkäischen Ode der Aufklärung
Fritz Breithaupt: Von der Schwierigkeit auf andere zu hören – Rezeptivität als Praxis in Wilhelm Meisters Lehrjahre
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Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts
 3787344268, 9783787344260

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Z e i t s c h r i f t f ü r Ä s t h e t i k u n d Sonderheft Allgemeine Kunstwissenschaft 24 

Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener, Carolin Rocks (Hg.)

Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts Mit beitr ägen von  Luca Alexander Arens, Frauke Berndt, Fritz Breithaupt, Rüdiger Campe, Elisabeth Décultot, Evelyn Dueck, Daniel Fulda, Nicola Gess, Johannes Hees-Pelikan, Britta Herrmann, Alexander Honold, Stephan Kammer, Kathia Kohler, Stefan Matuschek, Sebastian Meixner, Christian Metz, Cornelia Pierstorff, Boris Previšic´, Marius Reisener, Carolin Rocks, Ralf Simon, Roland Spalinger, Gabriel Trop und Peter Wittemann

Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts • Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft Sonderheft 24

Herausgegeben von

Frauke Berndt, Johannes hees-Pelikan, Marius reisener und

Carolin roCks

FELIX MEINER VERL AG HAMBURG

Die Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft wird herausgegeben von Reinold Schmücker und Philipp Theisohn

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹https://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-4426-0 ISBN eBook 978-3-7873-4427-7 ISSN 1439-5886 (Sonderhefte)

Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2024. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Stückle, Etten­ heim. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werk­d ruck­­papier, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. ©

Inhalt Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks

Einleitung – Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts 7 URTEIL – KRITIK – ADRESSE

Rüdiger Campe

Ethik und Ethos – Shaftesburys Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times 29 Evelyn Dueck

»Alle unser Wissen muß praktisch seyn« – Meiers Philosophische Sittenlehre und ihre Grundlegung in einer Theorie des sinnlichen Menschen .................. 47 Carolin Rocks und Sebastian Meixner

Fehlerlese – Praktiken der Kritik in Gottscheds Poetik ..................................... 63 Frauke Berndt

Praktiken des Heldengedichts – Baumgartens Interventionen in Klopstocks ­Messias im Kollegium über die Ästhetik ................................................................... 83 Kathia Kohler

Schöne Geisterjagd – Die Diskurspraktik des Spottens in Groschs Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet ........................................................ 107 Ralf Simon

»Autorhandlung« – Hamann und Jean Paul über Herder ................................... 127 ER ZIEHUNG – BEZIEHUNG – ANZIEHUNG

Daniel Fulda

Praktiken der Auf klärung in der Romandiskussion bei Thomasius – Eine Literaturtheorie stellt sich in den Dienst der politischen Klugheit ........... 145 Peter Wittemann

Literatur und Luxus – Praktiken erziehenden Erzählens in Wielands ­ Goldnem Spiegel ...................................................................................................... 167 Marius Reisener

Romanpraktiken – Blanckenburgs Versuch über den Roman ................................ 183

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Inhalt

Stefan Matuschek

Praktiken der Höf lichkeit – Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen .......................................................................................................... 201 Christian Metz

Geistesgegenwärtigkeit – Hölderlins epistemische Praxis des Ethos ................ 215 Gabriel Trop

Praktiken der Anziehung .................................................................................... 235 FORMEN – MEDIEN – DINGE

Stephan Kammer

Praktiken des Epigramms – Scaliger, Lessing, Goethe ..................................... 259 Elisabeth Décultot

Was heißt empfinden? – Zur Funktion der Kunst in Du Bos’ und Sulzers Ästhetik ................................................................................................... 279 Roland Spalinger

»Prüfe-Stein« – Praktiken der Freundschaft in Baumgartens Ethica philosophica und Philosophischen Brieffen von Aletheophilus .................................... 297 Luca Alexander Arens

Anerkennungspraktiken in Lessings Kriegsdramen .......................................... 317 Cornelia Pierstorff

Stoff – Textile Praktiken in Sophie von La Roches Pomona ............................. 333 AFFEKT – KÖRPER – RESONANZ

Nicola Gess

Bewunderung, Verwunderung, Erstaunen? – Praktiken des Staunens in der Tragödientheorie der Frühauf klärung und in Lessings Philotas ............ 349 Johannes Hees-Pelikan

Genderpraktiken – Zur Praxeologie des Mitleids am Beispiel von Lessings Miß Sara Sampson .................................................................................................. 367 Alexander Honold

Gefühls-Transport – Ethik und Ästhetik in literarisch reflektierten Praktiken der Schauspielkunst ........................................................................... 383



Inhalt5

Britta Herrmann

Information und Plastisierung – Anthropo-Praktiken der Kunst und Literatur um 1800 ................................................................................................ 399 Boris Previšić

Akustische Praktiken in der alkäischen Ode der Auf klärung .......................... 417 Fritz Breithaupt

Von der Schwierigkeit auf andere zu hören – Rezeptivität als Praxis in Wilhelm Meisters Lehrjahre .................................................................................... 437

Einleitung Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks

D  

ie Beiträge dieses Bandes gehen auf die Abschlusstagung des vom Schweizerischen Nationalfonds von 2017 bis 2022 geförderten Projekts »ETHOS. Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts«1 zurück, die vom 31. März bis 2. April 2022 an der Universität Zürich stattfand. Gegenstand sind deutschsprachige ästhetische Schriften, die sich zwischen Mitte des 17. Jahrhunderts und Anfang des 19. Jahrhunderts deshalb in charakteristischer Weise durch einen poetologischen Zuschnitt auszeichnen, weil sie literarische Texte als Leitmedium für das Denken, Können, Handeln, Sollen und Wollen der Künste verwenden. Diese Schriften offenbaren aber vor allem ein genuin ethisches Interesse an den Künsten. Denn ihre Autor*innen suchen und finden in den Künsten die Spuren von Praktiken, die im Dienst ethischer Vervollkommnung stehen: Wie werde ich durch Kunst zu einem guten bzw. besseren Menschen, um ein gelungenes Leben zu führen? Dabei ist den ästhetischen Schriften wesentlich, dass sie bei der Hervorbringung ihres Sujets – das (Kunst-)Schöne – von ethischen Praktiken abhängen, auf die sie nicht nur referenziell, sondern auch performativ bezogen sind, nämlich dadurch, dass sie die Praktiken mittels rhetorischer Verfahren vergegenwärtigen und vorführen. Im Vorfeld der Diskursivitätsbegründung der philosophischen Ästhetik um 1750 bahnen Darstellung und Reflexion ethischer Praktiken in ästhetischen Schriften gewissermaßen auf unsystematische Art und Weise den Weg für die Aufwertung der Sinnlichkeit in der modernen Episteme. Es ist die damit verbundene Verankerung der Ästhetik in der Ethik, genauer: in der Reflexion ethischer Praktiken, die im 18. Jahrhundert eine alternative Geschichte der ästhetischen Theoriebildung ermöglicht und damit das historische Fundament einer Ästhetik bildet, deren Maßstab das gelungene Leben darstellt. Obwohl in diesen Schriften mitunter durchaus Moral gepredigt wird, darf solch ein ethisches Interesse daher keinesfalls auf eine reine Moraldidaxe reduziert werden. Im Sinn rhetorischer instructiones basieren die ästhetischen Schriften mit ihren Anweisungen und Anleitungen zwar auf Moralvorstellungen, die tief im christlichen, insbesondere im pietistischen Weltbild verankert sind, allerdings »ohne dabei strenge, moralphilosophisch importierte, sitt-

1 Webseite des Forschungsprojekts: https://www.ethos.uzh.ch [09. 09. 2022]; vgl. Konstantin Sturm: Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts (Abschlusstagung des SNFProjekts ETHOS in Zürich, 31.3. – 2.4.2022, in: Zeitschrift für Germanistik 33 (2023), 251–254.

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Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks

liche Prinzipien vermitteln zu wollen oder gar abstrakten Theorien der Moral das Wort zu reden«.2 Aus der Spurensuche nach ethischen Praktiken in den Künsten und vor allem nach ethischen Praktiken der Künste lässt sich nämlich erkennen, dass die Autor*innen der ästhetischen Schriften die Künste nicht nur als Ausdruck der Moral von Künstler*innen behandeln, sondern in den Künsten selbst die Matrix zu identifizieren versuchen, welche die Praktiken der ethischen Vervollkommnung formal prägt. Wenn sich die hier versammelten Beiträge daher dem tiefgreifenden Zusammenhang von Ethik und Ästhetik und d. h. der intrinsischen Struktur des Diskurses der ›Heteronomieästhetik‹ zuwenden, dann erproben sie neue Zugänge zur Geschichte der ästhetischen Theoriebildung. Weil die ästhetischen Schriften vor der europäischen Klassik und Romantik Praktiken einen Stellenwert zuschreiben, wie sie ihn erst im 21. Jahrhundert im Zusammenhang einer Krise der Geistesund Kulturwissenschaften wiedererlangen werden, wird die Feier der autonomen Künste zu einer in der Geschichte der modernen Ästhetik vergleichsweise kurzen Episode. Die ›Autonomieästhetik‹ markiert in dieser historischen Perspektive keinen Fortschritt, sondern einen temporären Einschnitt. Um den systematischen Rahmen der Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Ästhetik abzustecken, werden wir daher im Folgenden die Bedingungen dafür klären, warum die Beiträge dieses Bandes gegen das chronologische Modell einer Vorgeschichte der Ästhetik argumentieren, indem wir uns ethischen Praktiken zuwenden (I.). Methodisch spielt dabei die Praxeologie eine entscheidende Rolle, die für die Theoriegeschichte der Ästhetik fruchtbar gemacht werden soll (II.). Theoretisch setzt die Revision der Geschichte ästhetischer Theoriebildung außerdem einen praxeologisch profilierten Ethikbegriff voraus (III.). Auf dieser Grundlage analysieren die Beiträge den ethisch-ästhetischen Diskurs, der einerseits auf ethische Praktiken referiert, was die Voraussetzung ästhetischer Begriffsarbeit ist. Andererseits analysieren sie die performativen Dimensionen dieses ethisch-ästhetischen Diskurses, der in seinen Darstellungsverfahren nicht selten das ›tut‹, wovon er spricht: ethisch handeln. Es ist innerhalb der ästhetischen Schriften daher die Rhetorik, genauer gesagt: die Figurenlehre der Stilistik, die einem solchen Forschungsvorhaben Kate­ gorien an die Hand gibt (IV.). I. Anleitungen und Anweisungen

Das Fundament der Heteronomieästhetik bildet die Moral: Schön soll sein, was nützt und belehrt. Weil es in der weiteren Verlaufs- und Fortschrittsgeschichte der Ästhetik zu einer zunehmenden Entbindung der Künste von moralischen Normen 2 Carolin Rocks: Ästhetisches ethos – Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und die Literaturwissenschaften, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 66/1 (2021), 69–96, hier 94.



Einleitung9

und sozialen Pflichten kommt, werden die ästhetischen Schriften vor Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft (1790) in Folge nicht selten marginalisiert – gerade so, als ob die eigentlich ernst zu nehmende Geschichte der Ästhetik erst um 1800 begonnen hätte. Im Gegensatz zum Konzept der Autonomieästhetik, das die Künste an dieser magischen Zäsur aus ihrem gesellschaftlichen, kulturellen und historischen Kontext löst, setzt das Konzept der Heteronomieästhetik diesen Kontext der Künste voraus. Als Vertreter*innen einer lebenspraktischen Ästhetik waren die Auf klärer*innen der Meinung, dass weder der freie Wille noch die reine Vernunft, sondern Erziehung, Ausbildung und Übung Menschen zum Guten bewegen. Im weitesten Sinn kann man die Leistungen, für welche die Künste in den Dienst genommen werden, als angewandte Ethik bezeichnen und im Horizont vor Kant spezifischer sogar als Tugendethik verstehen. In den ästhetischen Schriften der frühen und mittleren Auf klärung geht es daher weniger um die Prinzipien und Kriterien der Moral, wie sie insbesondere in der deontologischen Ethik reflektiert werden, als vielmehr um konkrete, nicht selten sogar recht alltagsnahe Anweisungen und Anleitungen. Diese Ausrichtung an Praktiken bildet das Fundament der zeitgenössischen Ethik, z. B. Baumgartens in kurzer Zeit mehrfach aufgelegte und für Kants Ethik maßgebliche Ethica philosophica (1740)3 oder Meiers umfangreiche Philosophische Sittenlehre (1753–1761).4 In den ästhetischen Schriften führen diese ethischen Praktiken zu ästhetischen Begriffen, die nicht deduktiv abgeleitet, sondern induktiv aus den Praktiken ent­ wickelt werden, wie z. B. aus den Praktiken des Urteilens (Rocks u. Meixner), des Erziehens (Matuschek, Pierstorff ), der literarischen Bildung (Metz), des Erzählens (Wittemann), des Spottens (Kohler), des Streitens (Berndt), des Empfindens (Décul­tot), der Vermittlung (­Honold), der (Körper-)Bildung (Herrmann), der Sinnlichkeit (Dueck) der Anziehung (Trop), des Ansprechens (Simon), des Zu­ hörens (Breithaupt) oder des Anerkennens (Arens). Nicht nur während der großen und kleinen ›Dichterkriege‹ zwischen Leipzig ( Johann Christoph Gottsched),5 Halle (Alexander Gottlieb Baumgarten, Georg Friedrich Meier) 6 und Zürich ( Johann Jacob Bodmer, Johann Jacob Breitinger) in den 1740er Jahren,7 sondern auch in den vorangehenden und folgenden Jahrzehnten denken Gelehrte an vielen Orten der deutschsprachigen Territorien mit epistemologischem, psychologischem, rhetorischem, theologischem, historischem, biologischem, vor allem aber mit ethischem Interesse über solche Praktiken nach, die erstens auf ein ›gutes‹ Leben (bíos), zweitens – eng damit verbunden – auf eine ›gute‹ Art der sinnlichen Selbst- und Welterschließung (epistḗ mē) und drittens auf eine ›gute‹ Art und Weise der künstlerischen Bewältigung der Wirklichkeit (téchnē) 3 Vgl.

den Beitrag von Roland Spalinger in diesem Band. den Beitrag von Evelyn Dueck in diesem Band. 5 Vgl. den Beitrag von Carolin Rocks und Sebastian Meixner in diesem Band. 6 Vgl. den Beitrag von Frauke Berndt in diesem Band. 7 Vgl. Johannes Hees-Pelikan: Johann Jakob Bodmers Arbeit an der Ästhetik. Göttingen 2024, [im Erscheinen]. 4 Vgl.

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Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks

abzielen. Diese Praktiken werden als genuin ethische Praktiken konzipiert, die dem ästhetischen Diskurs wichtiges Material an die Hand geben. So formuliert die poeto­logisch zugeschnittene Ästhetik im Nachdenken über die ethischen Praktiken den Wunsch nach Optimierung der Künste im Dienst des gelungenen Lebens: Mit ihrer Ausrichtung am Leitmedium des literarischen Textes sollen epistḗ mē und téchnē die Kehrseiten einer Medaille bilden und beide auf den bíos abzielen. Dementsprechend nehmen die hier versammelten Beiträge die Anweisungen und Anleitungen in den ästhetischen Schriften ernst, wie gut gelebt, erfahren und dargestellt werden kann. Anders gewendet: Indem sich insbesondere die Autor*innen der frühen und mittleren Auf klärung mit den Praktiken des guten Lebens auseinandersetzen, fordern sie eine verstärkte Aufmerksamkeit auf »das In­ein­ ander von lebensweltlich verankerten, moralischen Handlungen und literarischen Darstellungsverfahren«.8 In der für die Ästhetik des 18. Jahrhunderts konstitutiven Doppelung der Ästhetik durch die Ethik sind daher Praktiken ebenso wie die Künste und Künstler*innen Gegenstand eines Diskurses der Heteronomieästhetik, dessen »ästhetisch-ethische Hybridität« unterbewertet,9 wenn nicht sogar gegenüber der Autonomieästhetik abgewertet worden ist. Mit der Frage nach der Funktion von ethischen Praktiken in ästhetischen Schriften kann man darüber hinaus aber vor allem einer vorschnellen Festlegung dieser Schriften auf den Zweck der Moralvermittlung zuvorkommen. Denn der genauere Blick auf das Korpus zeigt, dass es nicht in erster Linie um eine normativ rigide Vermittlung von ethischen Vorschriften geht. Vielmehr spielen die Anweisungen und Anleitungen in vielerlei Hinsicht eine theoretisch komplexe Rolle: Wie wird das Leistungsprofil der Künste bestimmt, wenn etwa Moses Mendelssohn sowohl in wirkungs- als auch in produktionsästhetischer Hinsicht ein Set von Anleitungen zum Maßhalten implementiert? Oder wenn für Johann Jakob Bodmer die Kunst, indem sie Neues und Wunderbares zu erschaffen vermag, ein empathisches Verständnis für die Komplexität der Welt und die Alterität des Menschen aktiviert? Oder wenn Georg Christoph Lichtenberg Instruktionen zur effizienten Führung eines Notizbuches an die Hand gibt, wodurch die Sammlung und Verarbeitung von Informationen für Künstler*innen diätetisch – in Analogie zum menschlichen Verdauungssystem – austariert werden soll? Derartige Praktiken sind für eine ganze Reihe von ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts charakteristisch. Damit kommt die Frage in den Blick, wie sie einen Handlungsspielraum in der menschlichen Lebenswelt strukturieren und wie solche ethisch orientierten Strukturierungsleistungen in den verschiedenen Künsten konkretisiert werden. Einerseits gilt es daher zu hinterfragen, ob die ästhetischen Schriften tatsächlich vordringlich ethische Prinzipien und Kriterien theoretisch ausloten oder gar proÄsthetisches ethos [Anm. 2], 71 Johannes Hees-Pelikan: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Einleitung, in: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan und Carolin Rocks, Göttingen 2022, 7–37, hier 9–17. 8 Rocks: 9



Einleitung11

pagieren, an deren Elle das moralisch richtige, ergo gute, oder moralisch falsche, ergo schlechte, Handeln zu messen wäre. Andererseits sollen in den hier versammelten Beiträgen lebenspraktische Anweisungen und Anleitungen untersucht werden, die auf eine anspruchsvolle Konzeption des gelungenen Lebens abzielen. Es steht also das Profil einer angewandten Ethik zur Diskussion, die übrigens mit Kant gerade nicht endet. Denn auch die autonomieästhetischen Programme der zweiten Jahrhunderthälfte, die gern als ästhetizistische Entwürfe künstlerischer Weltenthobenheit gedeutet werden, kreisen um sehr konkrete, Produzent*innen und Rezipient*innen gleichermaßen betreffende Praktiken eines guten, d. h. gelungenen Lebens. In diesem Sinn beobachtet bereits Julia Schöll in der Episteme um 1800 eben ein Interessiertes Wohlgefallen am Schönen, so dass mit der Heteronomieästhetik von einer Vorgeschichte der Autonomieästhetik keine Rede sein kann.10 Weil die ethischen Praktiken, zu denen auch um 1800 noch angeleitet und angewiesen wird, zur Mündigkeit, ja Freiheit des Menschen führen sollen, hat insbesondere die Berücksichtigung von Praktiken das Potential für eine alternative Ästhetikgeschichte, die den Bogen vom 18. Jahrhundert zu den interessierten bzw.engagierten Theorien des 20. und 21. Jahrhunderts schlägt.11 II. Praktik – Diskurspraktik – Formpraktik

Nachdem der practical turn der Sozialwissenschaften die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften erreicht hat, richtet sich das Interesse der Theorie auf die Praxis.12 Für die Erforschung der Heteronomieästhetik ist dieses Interesse allerdings selbstverständlich. Seit langem hat sich die Forschung zum 18. Jahrhundert etwa auf die Bereiche der Diätetik,13 der Überlieferung,14 der Kommunikation15 Julia Schöll: Interessiertes Wohlgefallen – Ethik und Ästhetik um 1800, Paderborn 2015. Heteronomieästhetik der Moderne, hg. von Irene Albers, Marcus Hahn und Frederic Ponten, Berlin/Boston 2022. 12 Vgl. den umfassenden Forschungsbericht über die vergangenen Jahrzehnte von Carolin Rocks: Ästhetisches ethos [Anm. 2]. Zur praxeologische Forschung vgl. u. a. Praxeologie – Praxistheoretische Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von Friederike Elias et al., Berlin/ Boston 2014; Diskurse – Körper – Artefakte – Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung, hg. von Dagmar Freist, Bielefeld 2015; Historische Praxeologie – Dimensionen vergangenen Handelns, hg. von Constantin Rieske und Lucas Haasis, Paderborn 2015; Materiale Textkulturen – Konzepte – Materialien – Praktiken, hg. von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer, Berlin/ München/Boston 2015; Susanne Knaller: Entwurf für eine praxeologische Literaturwissenschaft – Überlegungen zu einer Reformulierung des Text-Kontext-Problems, in: Komparatistik (2019), 11–25. 13 Vgl. Barbara Thums: Aufmerksamkeit – Wahrnehmung und Selbstbegründung von Brockes bis Nietzsche, München 2008; Anthony Mahler: Writing Regimens – The Dietetics of Literary Authorship in the Late German Enlightenment, Diss. University of Chicago, 2014. 14 Vgl. Stephan Kammer: Überlieferung – Das philologisch-antiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2017. 15 Vgl. Dorothea E. von Mücke: The Practices of the Enlightenment – Aesthetics, Authorship, and the Public, New York 2015; Lesen, Kopieren, Schreiben – Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen 10 Vgl.

11 Vgl.

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Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks

und der Kritik16 gerichtet. Unlängst haben vor allem Steffen Martus und Carlos Spoerhase die Praxis ins literaturwissenschaftliche Spiel gebracht.17 In seiner 2018 erschienenen enzyklopädischen Studie zum Format der Literatur stellt Spoerhase eine »Perspektive« ein, »die materielle Textualität im Rahmen von sozialen Praktiken situiert«.18 Indem er das In-Erscheinung-Treten von Texten, d. h. deren Format, in Abhängigkeit von Schreib-, Druck-, Distributions- und Rezeptionspraktiken untersucht, stellt er die produktions- und rezeptionsästhetische Vernunft vom Kopf auf ihre materialen Füße – ohne dabei eine theoretisch dezidiert begründete Konzeption von ›Praxis‹ oder ›Praktiken‹ zugrunde zu legen. Dabei geht der practical turn mit einem elaborierten theoretischen Anspruch einher: Praxeologie ist die Theorie von der Praxis; ihr Gegenstand sind die Praktiken, die diesen Bereich konstituieren. Zum engeren Kreis der Praxeolog*innen werden u. a. Harold Garfinkel, Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Anthony Giddens, Bruno Latour, Theodore R. Schatzki oder Andreas Reckwitz gezählt. Praktiken werden von Reckwitz als »sich wiederholende und intersubjektiv verstehbare, körperlich verankerte Verhaltensweisen« definiert, »in denen ein implizites Wissen verarbeitet wird und die […] auch die Sinne auf eine bestimmte Weise organisieren«.19 Dabei haben Praktiken sowohl eine kognitive als auch eine körperliche Seite, stellen also ein situiertes und lokalisiertes Wissen dar. Und nicht nur Alltagspraktiken interessieren Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaft, sondern auch »intellektuell ›anspruchsvolle‹ Tätigkeiten wie diejenigen des Lesens, Schreibens oder Sprechens«.20 Obwohl Praktiken Objekte einschließen können,21 stehen nicht diese Objekte, sondern der Umgang des Subjekts mit diesen Objekten im Fokus.

Literatur des 18. Jahrhunderts, hg. von Elisabeth Décultot, Berlin 2014; Schreibekunst und Buchmacherei – Zur Materialität des Schreibens und Publizierens um 1800, hg. von Cornelia Ortlieb und Tobias Fuchs, Hannover 2017; Erika Thomalla: Die Erfindung des Dichterbundes – Die Medienpraktiken des Göttinger Hains, Göttingen 2018. 16 Essen, töten, heilen – Praktiken literaturkritischen Schreibens im 18. Jahrhundert, hg. von Barry Murnane et al., Göttingen 2019; Inga Schürmann: Die Kunst des Richtens und die Richter der Kunst – Die Rolle des Literaturkritikers in der Aufklärung, Göttingen 2022. 17 Vgl. jüngst Steffen Martus und Carlos Spoerhase: Geistesarbeit – Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften, Berlin 2022; Steffen Martus: Literaturwissenschaftliche Kooperativität aus praxeologischer Perspektive – am Beispiel der ›Brüder Grimm‹, in: Symphilologie – Formen der Kooperation in den Geisteswissenschaften, hg. von Vincent Hoppe, Marcel Lepper und Stefanie Stockhorst, Göttingen 2016, 47–72; Steffen Martus und Carlos Spoerhase: Praxeologie der Literaturwissenschaft, in: Geschichte der Germanistik 35/36 (2009), 89–96; Carlos Spoerhase und Steffen Martus: Die Quellen der Praxis – Probleme einer historischen Praxeologie der Philologie – Einleitung, in: Zeitschrift für Germanistik 23/2 (2013), 221–225. 18 Carlos Spoerhase: Das Format der Literatur – Praktiken materieller Textualität zwischen 1730 und 1840, Göttingen 2018, 37. 19 Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität, Berlin 2012, 25. 20 Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301, hier 290. 21 Vgl. ebd., bes. 292.



Einleitung13

Im Horizont ästhetischer Theoriebildung spielt es insbesondere eine wichtige Rolle, dass Reckwitz Praktiken nicht nur auf kognitive, sondern auch auf emotionale Routinen bezieht, nämlich als »bestimmtes Muster des Fühlens oder Formen des Denkens«.22 Die Praktiken, die dabei eine Rolle spielen, führen direkt zu den theoretischen Leitbegriffen des ästhetischen Diskurses, wie z. B. die Praktiken des Empfindens (Décultot), des Staunens (Gess) oder des Mitleidens (Hees-Pelikan). Einerseits macht Reckwitz’ Erweiterung der Praktiken auf kognitive und emotionale Prozesse deutlich, dass mit der Praxeologie mehr zur Diskussion steht als bloße Handlungsroutinen, andererseits kommt damit das für die ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts entscheidende systematische Problem in den Blick: Wie lässt sich der Zusammenhang von Diskurs und Praktik verstehen? Die Praxeologie widmet dieser Frage erheblichen Denk- und Theorieaufwand. Denn Praktiken und Diskurse sind auf äußerst komplexe Art und Weise wechselseitig aufeinander bezogen.23 So ist es einerseits möglich, Diskurse einer praxeologischen Analyse zu unterziehen, indem sie als eine Spielform von Praktiken aufgefasst werden. Andererseits sind Praktiken begriffsaffin, und d. h. diskursabhängig, was die Voraussetzung dafür ist, dass sie als »ein typisiertes, routinisiertes und sozial ›verstehbares‹ Bündel von Aktivitäten« identifiziert werden können.24 Schatzki adressiert diese Kontinuität zwischen Diskurs und Praktik, indem er soziale Praktiken als kleinste Einheiten in einem »temporally unfolding and spatially dispersed nexus of doings and sayings« definiert.25 In Reckwitz’ Formulierung bilden Praktiken und Diskurse »zwei aneinander gekoppelte Aggregatzustände der materialen Existenz von kulturellen Wissensordnungen«.26 Das führt zuletzt zu folgender Verschränkung 27: »Wenn Praktiken insgesamt bestimmte Wissensordnungen implizit sind, dann werden in Diskursen Wissensordnungen gewissermaßen expliziert, sie werden selbst zum Thema der Darstellung, so dass sie auch produziert und vermittelt werden können.« Dieses Modell der impliziten Partizipation der Praktiken an expliziten Diskursen geht Johannes Hees-Pelikan mit Blick auf die ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts nicht weit genug. Um erstmals in der Forschung eine genuin literatur22 Ebd.,

290. ausführlicher dazu Andreas Reckwitz: Praktiken und Diskurse – Eine sozialtheoretische und methodologische Relation, in: Theoretische Empirie – Zur Relevanz qualitativer Forschung, hg. von Herbert Kalthoff, Stefan Hirschauer und Gesa Lindemann, Frankfurt a. M. 2008, 188–209; HeesPelikan: Einleitung [Anm. 9]; Hees-Pelikan: Johann Jakob Bodmers Arbeit an der Ästhetik [Anm. 7]. 24 Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken [Anm. 20], 289. 25 Theodore R. Schatzki: Social Practices – A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, 89; vgl. Theodore R. Schatzki: Sayings, Texts and Discursive Formations, in: The Nexus of Practices – Connections, Constellations, Practitioners, ed. by Allison Hui, Theodore R. Schatzki und Elizabeth Shove, Abington 2017, 126–140. 26 Reckwitz: Praktiken und Diskurse [Anm. 23], 202. 27 Andreas Reckwitz: Auf dem Weg zu einer kultursoziologischen Analytik zwischen Praxeologie und Poststrukturalismus, in: Kultursoziologie – Paradigmen – Methoden – Fragestellungen, hg. von Monika Wohlrab-Sahr, Wiesbaden 2010, 179–205, hier 192. 23 Vgl.

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Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks

wissenschaftliche Praxeologie gegenüber den soziologischen Ansätzen und ihren sozialgeschichtlichen Adaptionen in den Geisteswissenschaften zu profilieren, verbindet er die Referenz auf Praktiken in ästhetischen Schriften mit ihrer Performanz, die mit dieser Bezugnahme einhergeht und die dabei gegenüber der bloßen Referenz einen erheblichen Mehrwert erwirtschaftet. Dafür prägt er den Modellbegriff der »Diskurspraktik«, der sich an den praxeologischen Begriff der diskursiven Praktiken anlehnt, diesen aber entscheidend modifiziert.28 Diskursive Praktiken sind »Praktiken der Repräsentation«,29 d. h. sie sind »selbst (zeichenverwendende) Praktiken, und zwar solche, in denen die Dinge auf bestimmte Art und Weise repräsentiert werden«.30 Dementsprechend hängen diskursive Praktiken von der Wissensordnung ab, innerhalb derer auch Praktiken konzeptualisiert sind, die nicht sprachlich, sondern handelnd vollzogen werden. Doch »[a]nders als beim Begriff der diskursiven Praktik, wo ›diskursiv‹ als Adjektivattribut zu ›Praktik‹ auftritt, erscheint im Fall der Diskurspraktik ›praktisch‹ als Attribut zu ›Diskurs‹«, erläutert Hees-Pelikan.31 »Es geht also darum, von den diskursiven Praktiken der Praxeologie einen praktischen Diskurs abzugrenzen – oder eben die Diskurspraktik.« 32 Diese ist insofern ›handelnd‹, als sie semiotische, rhetorische, narrative und szenische Verfahren verwendet, die Praktiken nicht abbilden, sondern vorführen und erzeugen. Da sich bei einer Diskurspraktik »die praktische Dimension aus ihrer diskursiven Komponente ergibt, ist zu ihrer Untersuchung eine literaturwissenschaftliche Verfahrensanalyse nötig«.33 Oder mit Blick auf die ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts gewendet 34: »Die Diskurspraktik ist das Werkzeug, mit dem Bodmer an seiner Ästhetik arbeitet.« Denn ethische ebenso wie ästhetische Begriffe und Theoreme entwickelt der heteronomieästhetische Diskurs im referenziellen und performativen Bezug auf Praktiken, der auf Darstellungsverfahren angewiesen ist, wie sie vor allem in literarischen Texten verwendet werden. Mit diesen verschwimmen in den ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts »die Grenzen von Meta- und Objektsprache. Begriffe weichen Bildern: Vergleichen, Metaphern, Metonymien, Allegorien und Personifikationen; Beweisführungen treten hinter assoziativen, narrativen und szenischen Verknüpfungen zurück«.35 Die Analyse dieser Schriften setzt also »›sorgfältige‹ Lektüren voraus«.36 Sie müs28 Hees-Pelikan: Johann Jakob Bodmers Arbeit an der Ästhetik [Anm. 7]; ders.: Einleitung [Anm. 9], 9. 29 Reckwitz: Kultursoziologische Analytik [Anm. 27], 192 [Hervorh. im Original]. 30 Andreas Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis – Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, 63. 31 Hees-Pelikan: Johann Jakob Bodmers Arbeit an der Ästhetik [Anm. 7]. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Frauke Berndt: Poema/Gedicht – Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/ Boston 2011, 10. 36 Ebd.



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sen »in weiten Strecken als bzw. wie Literatur gelesen – mit ebenso viel Geduld für ihren propositionalen Gehalt wie für ihre Darstellungsverfahren«.37 Das Begriffsduo Praktik/Diskurspraktik ermöglicht es somit, die bisher unterschätzte Bedeutung spezifischer Handlungsformate für die ästhetische Theoriebildung im 18. Jahrhundert herauszustellen. Entscheidend ist es dabei, die Rolle der Praktiken im und für den heteronomieästhetischen Diskurs präzise zu beschreiben. In diesem Diskurs wird nicht einfach am Rande von Praktiken berichtet, während, unabhängig davon, ästhetische Begriffe und Theoreme profiliert werden. Vielmehr entsteht der heteronomieästhetische Diskurs als Diskurspraktik, d. h. als ein referenziell ebenso wie performativ auf Praktiken bezogener Diskurs. Dabei ermöglichen erst rhetorische, narrative, szenische und semiotische Verfahren den Bezug des Diskurses auf Praktiken. Durch die Berücksichtigung der Darstellungsverfahren in den ästhetischen Theo­ rien treten Bedeutungsdimensionen in Erscheinung, denen kein eindeutiger oder klarer Begriff entspricht. Denn bei den Bildern, Szenen und Narrativen handelt es sich um genuin ästhetische Phänomene – sinnliche Operationen, wie sie die ästhetische Theoriebildung wissenschaftlich oder proto-wissenschaftlich analysiert, um sie der Logik, also der eigentlichen Erkenntnistheorie gleichberechtigt an die Seite zu stellen. Dass Diskurspraktiken im Allgemeinen daher nicht selten Formpraktiken im Besonderen bilden, erweitert die Kritik an der praxeologischen Unterscheidung von Praktik und Diskurs. Den Modellbegriff der Formpraktik verwendet Stephan Kammer in seiner Auseinandersetzung mit den Epigrammen der Frühen Neuzeit und Auf klärung.38 Tatsächlich rücken nämlich in den ästhetischen Schriften gerade aufgrund ihres poetologischen Zuschnitts die generischen Formen immer wieder in das Zentrum der Aufmerksamkeit – und zwar in doppelter Hinsicht: Einer­seits formulieren die Autor*innen in Anweisungen und Anleitungen gewisser­m aßen normativ und vor allem vorab die von einer Form erwarteten Leistungen. Ande­ rerseits werden die Formen insofern selbst zur Theorie, als Epigramm (­K ammer), ­Roman (Breithaupt, Fulda, Reisener, Simon, Wittemann), Versepos (Berndt), Drama (­Honold), Tragödie (Arens, Gess), Bürgerliches Trauerspiel (Arens, Hees-Pelikan), Ode (Previšić), Satire (Kohler), Sittengemälde (Campe) oder Brief (Matuschek, ­Spalinger, Pierstorff ) in ihren Praktiken einen erheblichen Mehrwert für die ästhetische Theoriebildung generieren, so dass die Praktiken selbst wiederum – in rekursiver Schleife – nachträglich in den ästhetischen Schriften reflektiert werden. »Abhandlung ist Theorie«, heißt es in diesem Sinn in Friedrich Gottlieb Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik (1774), »Darstellung hat Theorie«.39 37 Ebd. 38 Vgl.

den Beitrag von Stephan Kammer in diesem Band. Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik – Ihre Einrichtung – Ihre Gesetze – Geschichte des letzten Landtags – Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar – Herausgegeben von Klopstock, in: ders.: Werke und Briefe – Historisch-kritische Ausgabe VII/1, hg. von Rose-Maria Hurlebusch, Berlin/New York 1975, 9 [Hervorh. im Original]. 39

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Formpraktiken – den Modellbegriff wollen wir weiterdenken – hängen von den literarischen Gattungen ab. Reflektiert werden diese in den poetologischen Anleitungen und Anweisungen zur Produktion und Rezeption von literarischen Texten: Welchem Formprinzip folgen Witz oder Fabel, Roman oder Novelle, Tragödie oder Komödie, Ballade oder Lied, und welche Wirkung geht mit diesen Formprinzipien einher? An den practical turn der Sozial- und Kulturwissenschaften schließt daher Rüdiger Zymner die Gattungstheorie an.40 Weil Gattungen ein »Gemachtes und nicht Gegebenes«41 implizieren, handelt es sich bei ihnen um »kommunikativ etablierte und dadurch sozial geteilte Kategorisierungen«.42 Werner Michler führt dafür folgerichtig den Handlungsbegriff ein, indem er eine generische Form als »habitualisierte Klassifikationshandlung« bezeichnet.43 Dementsprechend ist eine Form »keine Eigenschaft, sondern ein Akt, und als solcher Teil von – diesen Akt übersteigenden – historischen Prozessen und Handlungszusammenhängen«.44 Vielleicht ist der Roman das beste Beispiel für ein solches doing genre, weil die Romanpoetik seit 1670 nicht nur Form und Leben verbindet, sondern diese Verbindung auch noch Genderpraktiken einschließt, wie Marius Reisener zeigt.45 Das Verständnis von Gattungen als zur Praktik geronnene Handlungen bahnt den Weg für ein Verständnis von Form, das die Aktivität nun sogar in die Form selbst verlagert; so gesehen wären die historischen Gattungspoetiken der frühen und mittleren Auf klärung sekundäre Übersetzungen dessen, was primär in der literarischen Gestaltung der Gattungen geschieht. In diesem Sinn bietet Caroline Levine der rezenten, eher Dynamisierungs- und Funktionalisierungsprozesse der Form adressierenden Forschung den Begriff der Affordanz aus der Designtheorie an, um die Aktivität der Form theoretisch zu fassen46: »Affordance is a term used to describe the potential uses or actions latent in materials or designs.« Solche Aktio­ nen der Form zeichnet auch für Levine eine Tendenz zur Gattung aus 47: »›form‹ always indicates an arrangement of elements – an ordering, patterning, or shaping«. Es ist diese Aktivität, die in den ästhetischen Schriften der Heteronomieästhetik regelmäßig zu einer Argumentationsstruktur führt, in der Produzent*innen, Artefakte und Rezipient*innen austauschbare Variablen ein und derselben Struktur darstellen. Beispielsweise richten sich Anleitungen und Anweisungen zum guten ›Formprin40 Vgl. Rüdiger Zymner: Gattungstheorie – Probleme und Positionen der Literaturwissenschaft, Paderborn 2003; Rüdiger Zymner: Zur Gattungstheorie des ›Handbuches‹, zur Theorie der Gattungstheorie und zum Handbuch Gattungstheorie – Eine Einführung, in: Handbuch Gattungstheorie, hg. von Rüdiger Zymner, Stuttgart 2010, 1–5. 41 Zymner: Eine Einführung [Anm. 40], 4. 42 Ebd., 3 [Hervorh. im Original]. 43 Werner Michler: Kulturen der Gattung – Poetik im Kontext – 1750–1950, Göttingen 2015, 86. 44 Ebd., 49. 45 Vgl. Marius Reisener: Die Männlichkeit des Romans – Funktionsgeschichtliche Perspektiven auf Leben, Form und Geschlecht in Romantheorien 1670–1916, Freiburg i.Br. 2021. 46 Caroline Levine: Forms – Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton 2015, 6 [Hervorh. im Original]. 47 Ebd., 3 [Hervorh. im Original].



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zip des Witzes‹ (Paul Böckmann), erläutert Kammer, »in der jeweiligen novitas der Wort- und Gedankenkombinationen, namentlich im witzigen acumen« aus.48 Dieser Scharfsinn (acumen) tritt in den rhetorischen Äquivalenzfiguren der Ähnlichkeit und Differenz in Erscheinung, mit denen »prinzipiell immer auch ein Moment von Erkenntnis aufscheint«.49 III. Ethos – ästhetisches Ethos – Figur

Wenn es also um Diskurspraktiken im Allgemeinen bzw. Formpraktiken im Besonderen geht, dann lagern sich bereits in den Strukturen des Leitmediums ›Literatur‹ Anweisungen und Anleitungen ab, die auch andere Künste und deren Formen formulieren müssen. Das gilt insbesondere für diejenigen Praktiken, die hier als ethische Praktiken zur Diskussion stehen. Dabei interessieren sich die ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts sowohl für das soziale ἔθος (éthos: Gewohnheit, Sitte, Brauch) als auch für das personale ἦθος (êthos: Charakter):50 Einerseits zählen bei letzterem »die Art und Weise, wie man sein Leben führt, die Lebensform (griechisch: bíos) und die persönliche Einstellung und Sinnesart, der Charakter. Andererseits ist das persönliche Leben«, erläutert Otfried Höffe, »in das ethos eingebunden, in den Inbegriff von Institutionen wie Familie, Recht und Staat, aber auch in den Inbegriff von Üblichkeiten, den Gewohnheiten und Sitten«:51 êthos hängt also vom sensus communis ab, der éthos reguliert. Aus diesem Kontext wählen die Beiträge dieses Bandes die sozial relevanten, insbesondere die moralischen Handlungen aus, über die ethisch nachgedacht wird. Dies erfolgt im Einklang mit großen Studien wie Paul Rabbows Seelenführung. Methodik der Exerzitien in der Antike (1954), Pierre Hadots Exercices spirituels et philosophie antique (1981/1995) und Foucaults L’usage des plaisirs, Le souci de soi (1984), die gezeigt haben, dass bereits die antike Philosophie nicht auf dogmatischen Theorien basiert, sondern – im Sinn der Eudaimonie-Lehre – auf ethischen Praktiken. Bei diesen ethischen Praktiken handelt es sich um geistige und körperliche Übungen (áskēsis/exercitatio), d. h. um Selbsttechniken, deren disziplinärer Ursprung in der Rhetorik liegt, insbesondere in den so genannten Vorübungen (progymnásmata), in denen Körper und Seele dafür trainiert werden.52 Auch neuere Studien zu diesem Themenkomplex haben gezeigt, dass die rationalistische Philosophie nicht als das Ende dieser Tradition betrachtet werden kann. Denn selbst Schulphilosophen wie

48 Wilfried Barner: Vergnügen, Erkenntnis, Kritik – Zum Epigramm und seiner Tradition in der Neuzeit, in: Gymnasium 92 (1985), 350–371, hier 360 [Hervorh. im Original]. 49 Ebd., 363 f. 50 Vgl. den Beitrag von Rüdiger Campe in diesem Band. 51 Otfried Höffe: Ethik – Eine Einführung, München 2013, 10 [Hervorh. im Original]. 52 Vgl. Ruth Webb: The Progymnasmata as Practice, in: Education in Greek and Roman Antiquity, ed. by Yun Lee Too, Leiden/Boston/Köln 2001, 289–316.

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Christian Wolff haben sowohl ihre Ethik als auch ihre Metaphysik und sogar Mathematik psychagogisch verankert, um eine vita beata zu begünstigen.53 Was diese Modelle jedoch kaum präzise zu fassen vermögen, ist der ethische Gehalt derartiger Praktiken. Dafür ist der Brückenschlag zu Foucaults sog. Spätwerk instruktiv, wie Carolin Rocks vorschlägt 54: »Man kann resümieren, dass Foucault die sozialwissenschaftliche praxeologische Fragestellung in ethischer Direktion überschreitet, wenn er Praktiken nicht bloß als organisierte Handlungsroutinen mit individuellen Ausgestaltungsspielräumen denkt, die teleologisch strukturiert sind und die als latente normative Leitf äden im Alltagsleben fungieren.« Rocks führt aus, dass ethische Praktiken nicht nur im Hinblick auf die Antike, mit der sich Foucault in der Profilierung einer ›Ästhetik der Existenz‹ primär auseinandersetzt, sondern vor allem auf die Moderne zur Handlungsmacht oder mehr noch Freiheit des Subjekts führen.55 Um »die Möglichkeit, innerhalb eines normativen Rahmens ›frei‹ handeln zu können, die Option von ›Praktiken zur Freiheit‹ also, durchaus emphatisch präsent« zu halten,56 geht es auch in den ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts. In ähnlichem Sinn verbindet bereits Reckwitz die Praxeologie mit Foucault 57: »Das Subjekt stellt in der Praktik einen Bezug zu sich selber und einen Effekt in sich selber her, sei es dadurch, dass es seine mentalen Kompetenzen konzentriert, dass es seine Affekte in einem bestimmten Sinne strukturiert etc.«, so führt er aus und schlussfolgert 58: »[I]n diesem Sinne sind Praktiken in unterschiedlicher Gewichtung ›Technologien des Selbst‹.« Reckwitz vermerkt hier im Rekurs auf Foucault den subjektkonstitutiven Charakter von Praktiken, ohne aber die dezi­ diert ethische Wendung Foucaults konzeptuell geltend zu machen. In Ergänzung zur Analyse der repressiven Wahrheits- und Machtpraktiken konturiert Foucault in L’usage des plaisirs, Le souci de soi sowie in einigen Essays der 1980er Jahre dieses Konzept der Selbsttechnologien. Obwohl damit keine Befreiung von den Zwangs- bzw. Disziplinierungspraktiken gemeint ist, geht es bei den Praktiken des Selbst um die Möglichkeit, sich selbst in Auseinandersetzung mit der herrschenden Norm zu verändern, Freiheitsformen zu definieren und Machtbeziehungen zu gestalten. Umrissen wird so das Profil einer angewandten Ethik: In der Selbstsorge steht das êthos des Subjekts auf dem Spiel. Nicht umsonst hat Judith Butler diese ethischen Überlegungen in der Formel »Foucaults Tugend« 53 Vgl. Matthew L. Jones: The Good Life in the Scientific Revolution – Descartes, Pascal, Leibniz, and the Cultivation of Virtue, Chicago 2006; vgl. ferner Olga Katharina Schwarz: Rationalistische Sinnlichkeit – Zur philosophischen Grundlegung der Kunsttheorie 1700 bis 1760 – Leibniz – Wolff – Gottsched – Baumgarten, Berlin/Boston 2022. 54 Rocks: Ästhetisches ethos [Anm. 2], 90. 55 Vgl. Christoph Menke: Zweierlei Übung – Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz, in: Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption – Frankfurter FoucaultKonferenz 2001, hg. von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a. M. 2003, 283–299, hier 289. 56 Rocks: Ästhetisches ethos [Anm. 2], 90. 57 Reckwitz: Kultursoziologische Analytik [Anm. 27], 191. 58 Ebd.



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resümiert.59 Praktiken werden damit nicht bloß als organisierte Handlungsroutinen beschrieben, die – wie etwa bei Schatzki – ein Telos haben und das alltägliche Leben anzuleiten imstande sind. Über diese sozialwissenschaftliche Konzeptualisierung hinaus gewinnt die praxeologische Fragestellung mit Foucault somit eine genuin ethische Dimension. Diese Praktiken der Transformation des Selbst, erläutert Rocks, »bilden den Kern einer tätigen Sorge um sich, die als epimeleia heautou und cura sui in den griechischen und römischen Sittlichkeitstheorien verhandelt wird«.60 Damit »steht das ›ethos‹ auf dem Spiel, im Sinne einer ›Seinsweise des Subjekts‹, verstanden aber auch als nach außen sichtbare Handlungsweise«,61 für oder gegen die sich das Subjekt im Rahmen der Norm entscheiden kann. Freiheit und Norm bilden also die Kehrseiten einer Medaille. Es gibt, so bringt es Foucault auf den Punkt, »keine Konstitution des Moralsubjekts ohne ›Subjektivierungsweisen‹ (›modes de subjectivation‹) und ohne ›Asketik‹ (›ascétique‹) oder ›Selbstpraktiken‹ (›pratiques de soi‹), die sie stützen«.62 Dass das dergestalt erzielte êthos ein ästhetisches Ethos ist, hat damit zu tun, dass Praktiken, wie oben bereits ausgeführt, eine Form haben. Sie sind nicht nur an das Medium der Schrift gebunden, sondern sie haben, wie Foucaults berühmte Analyse der Notizbücher (hypomnḗ mata) zeigt, auch rhetorische, ja sogar generische Formen. »In den ästhetisch-existentiellen Praktiken werden von den Normierungspraktiken unterschiedene Formen aktualisiert, um die Norm zu praktizieren«,63 so dass Menke von einem »Formunterschied« zwischen diesen Praktiken und den Normierungspraktiken spricht.64 Genauer noch verwendet Foucault selbst das Attribut ›ästhetisch‹ zur Bestimmung von Praktiken: Ethische Praktiken sind deshalb ästhetisch, weil Menschen sie vollziehen, um »aus ihrem Leben ein Werk zu machen […], das gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht (et à faire de leur vie une œuvre qui porte certaines valeurs esthétiques et réponde à certains critères de style)«.65 Solche ethischen Praktiken haben also ein ästhetisches Format, das Foucault nicht von ungefähr zur Rhetorik und dort zur Stilistik führt, wie nicht zuletzt seine berühmten Vorlesungen am Collège de France zur ethischen Tugend der Freimütigkeit zeigen, die – von der rhetorischen Gedankenfigur der Parrhesie (parrhēsía/licentia) geprägt – den Mut zur Wahrheit ausdrücken.66 Diese Figur spielt für die Autor*innen 59 Judith Butler: Was ist Kritik? – Ein Essay über Foucaults Tugend, in: Was ist Kritik?, hg. von Rahel Jaeggi und Tilo Wesche, Frankfurt a. M. 2009, 221–246. 60 Rocks: Ästhetisches ethos [Anm. 2], 87 [Hervorh. im Original]. 61 Ebd. 62 Michel Foucault: Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit II, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 62000, 40 [Hervorh. im Original]. 63 Rocks: Ästhetisches ethos [Anm. 2], 87. 64 Menke: Zweierlei Übung [Anm. 55], 295 [Hervorh. im Original]. 65 Foucault: Gebrauch der Lüste [Anm. 62], 18 [Hervorh. im Original]. 66 Vgl. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit – Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84, übers. von Jürgen Schröder, Frankfurt a. M. 2010. Vgl. dazu

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der Heteronomieästhetik, z. B. Baumgarten,67 zwar auch eine wichtige Rolle, zentral sind aber vor allem die Selbstpraktiken, die eine »ethopoetische Funktion« haben;68 diese ethischen Praktiken prägt die rhetorische Gedankenfigur der Ethopoeia.69 Roland Spalinger, der diese Gedankenfigur jüngst überhaupt wieder für die intrinsische Struktur der Heteronomieästhetik geltend macht, führt aus, dass Ethopoeia in der Rhetorik Selbstpraktiken und Charakterdarstellung verbindet. Dazu schließt er ebenfalls an Foucault an, der »in seiner Analyse der Wissensordnungen der Kyniker, Epikureer und Stoiker eine Zäsur innerhalb der philosophischen Tradition fest[hält]«.70 Einerseits folge auf den Kynismus und die Philosophenschulen ein Wissen, heißt es bei Foucault, »das, einmal erlangt, sich nicht auf die Seinsweise des Subjekts auswirkt«.71 Andererseits gebe es ein Wissen, das den Charakter transformiert. »Die zweite Art bestimmt er – in Anlehnung an die Terminologie Plutarchs – als ethopoetisches Wissen«.72 Es kann »ethos machen, ethos hervorbringen, den ethos, die Seinsweise, die Lebensweise eines Individuums verändern«, weil es sich »auf die Handlungsweise, das ethos des Subjekts auswirkt«.73 Neben dem ethopoetischen Wissen bestimmt Foucault die ethopoetischen Praktiken, die eben diesem Transformationsprozess Form geben, indem sie ihn prägen. Dementsprechend spielen ethische Praktiken – und das ist die Pointe für die ästhetischen Schriften des 18. Jahrhunderts – nicht nur als lebenspraktische Handlungen (bíos) eine Rolle, sondern sie figurieren das sinnliche Denken (epistḗ mē) und Darstellen (téchnē) an und für sich. Und wiederum ist es das Leitmedium des literarischen Textes, das hier weder deshalb ins Spiel kommt, weil es Praktiken – Alltagspraktiken wie Wissenspraktiken – abbildet, noch weil es – beispielsweise als Praktik des Roman-Schreibens – eine unter anderen Praktiken ist. Vielmehr lassen sich im u. a. Parrhesia – Foucault und der Mut zur Wahrheit, hg. von Petra Gering und Andreas Gelhard, Zürich 2012. 67 Vgl. Frauke Berndt: Schönes Wollen – A. G. Baumgartens literarische Medienethik, in: Bella Parrhesia – Begriff und Figur der freien Rede in der Frühen Neuzeit, hg. von Rüdiger Campe und Malte Wessels, Freiburg i. Br. 2018, 171–194; Florian Fuchs: Sich des Lügners entzücken – Ästhetische Freiheit und Baumgartens Szene ›schöner‹ Parrhesie, in: Bella Parrhesia [Anm. 67], 195–214; Frauke Berndt: Parrhesia, in: dies.: Facing Poetry – Alexander Gottlieb Baumgarten’s Theory of Literature, Berlin/Boston 2020, 200–208. 68 Michel Foucault: L’écriture de soi/Über sich selbst schreiben, in: ders.: Ästhetik der Existenz, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2007, 137–154, hier 140 [Hervorh. im Original]. 69 Vgl. Roland Spalinger: Ethopoeia – Charakterpraktiken zwischen Anthropologie und Rhetorik in J. J. Bodmers ›Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter‹ (1741), in: Johann Jakob Bodmers Praktiken [Anm. 9], 113–133. 70 Ebd., 115. 71 Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts – Vorlesungen am Collège de France (1981/82), übers. von Ulrike Bokelmann, Frankfurt a. M. 42019, 297. 72 Spalinger: Ethopoeia [Anm. 69], 115. 73 Foucault: Hermeneutik des Subjekts [Anm. 71], 297 [Hervorh. im Original].



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lite­rarischen Text Figuren, wie eben Parrhesie oder Ethopoeia, identifizieren, deren Form – gerade auch im rhetorischen Sinne – handlungsleitend ist. Das gilt insbesondere für dubitatio, correctio oder andere Gedankenfiguren.74 Praktiken inhärieren, so lässt sich zusammenfassen, der literarischen Form selbst.75 Daher kommt der Literatur aus diskursanalytischer Perspektive eine Sonderrolle zu, wenn etwa Butler in Anschluss an Foucault das ethische Potential literarischer Texte in der Lesehaltung sieht, die diese zu evozieren in der Lage sind. Losgetreten wird darin ein Prozess, den Butler ›Rechenschaft von sich geben‹ (giving an account of oneself ) nennt und dem ein doppelläufiges Verständnis von Handlung zugrunde liegt 76: »›Rechenschaft von sich geben‹ ist nicht nur die Preisgabe von Informationen; es ist ein Akt, den man für einen Anderen vollzieht, eine allokutionäre Handlung, ein Tun für und angesichts des Anderen. Wie man spricht und wie man lebt, das ist nicht […] radikal geschieden«. Sprechen und Leben, folgt daraus, treffen sich im Bereich der Praxis. Und ethisch ist eine solche Praxis, weil sie impliziert, dass »wir uns dort aufs Spiel setzen, in diesem Moment des Unwissens, wo das, was uns bedingt und vorausliegt, voneinander abweicht, wo in unserer Bereitschaft, anders zu werden, als dieses Subjekt zugrunde zu gehen, unsere Chance liegt, menschlich zu werden, ein Werden, dessen Notwendigkeit kein Ende kennt«.77 So sind es vor allem literarische Texte, die eine Reflexion über Abweichungen von solchen Notwendigkeiten provozieren und entsprechend den Prozess des ›Rechenschaft von sich geben‹ zum Laufen bringen. Gerade Literatur hält sich als Möglichkeitsraum bereit, damit sich das Subjekt qua doppelter Handlung kritisch zu den Wahrheitsregimes in ein Verhältnis setzen kann, die es konstituieren. Entsprechend rückt das Verhältnis von Kunstwerken, deren Rezeption und den Anleitungen in den Fokus, die das zentrale Interesse von ästhetischen Theorien gerade des 18. Jahrhunderts sind und die sich allesamt in einem Bereich kreuzen, in dem êthos gemacht wird. So sind Kunst im Allgemeinen und Literatur im Besonderen sowie die Anleitungen und Anweisungen zu deren Produktion und Rezeption besonders vor dem Hintergrund ihrer Überstrukturiertheit, soll heißen: aufgrund ihrer Form von Interesse. Für dieses Praktiken-Bündel findet Julia Kristeva den Begriff der ›aesthetic practices‹. Kunst wird gemacht, ihre praktische Verfertigung und ihre Wahrnehmung haben einen beinahe religiös-habitualisierten Status erlangt – und diese Praktiken »are undoubtedly nothing other than the modern reply to the eternal question of morality. At least, this is how we might understand an ethics which […] reserves part of the burden for each of its adherents, therefore declaring them guilty while immediately affording them the possibility for jouissance, for various productions, for a life made up of both challenges and differences«.78 Die Begegnung mit Vgl. Frauke Berndt: Traces, in: dies.: Facing Poetry [Anm. 67], 194–213. Rocks: Ästhetisches ethos [Anm. 2], 94. 76 Judith Butler: Kritik der ethischen Gewalt – Adorno-Vorlesungen 2022, übers. von Reiner Ansén, Frankfurt a. M. 2003, 140. 77 Ebd., 144. 78 Julia Kristeva: Women’s Time, in: The Feminist Reader – Essays in Gender and the Politics of 74

75 Vgl.

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Kunstwerken ist mit ethischer Arbeit verbunden, und der Ausgang dieser Arbeit ist ungewiss; der Arbeitsauftrag besteht vor allem darin, den status quo solcher Regime zu befragen, die den Umgang mit Kunst steuern. Über ethische Praktiken in ästhetischen Theorien und ihren Gegenständen nachzudenken, heißt daher auch, sich mit den Effekten auseinanderzusetzen, welche die in ästhetische Formen eingelassenen ethischen Imperative zeitigen. Auf diese Weise werden dann die Brüche und Diskontinuitäten sichtbar, die Praktiken der Freiheit allererst ermöglichen. IV. Exemplarische Analysen

In den vergangenen fünf Jahren hat das SNF-Projekt ETHOS die spezifischen rhetorischen und ästhetischen Formen ethischer Praktiken erforscht und in ihrer enormen Breite und Vielfalt erkundet. Immer wieder zutage getreten ist dabei, dass sich die ästhetische Form ethischer Praktiken in rhetorischer (1.), in gattungstheoretischer (2.) sowie in rezeptions- und produktionsästhetischer Hinsicht (3.) untersuchen lässt: 1. Aus rhetorischer Perspektive liefern Gedankenfiguren die sprachlichen Formate ethischer Praktiken. So verpflichtet sich etwa Gotthold Ephraim Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) und mit ihm eine Reihe anderer namhafter Auf klärer auf die ethische Praktik der Kritik. Dabei lässt sich untersuchen, welche rhetorischen Formate – etwa der Ironie, der Resignation oder der Emphase – für die kritische Schreibpraxis konstitutiv sind. Der Sammelband möchte in diesem Sinn die rhetorischen Formate verschiedener ethischer Praktiken in den Blick nehmen, u. a. Praktiken des Urteilens, des Streitens, des Erziehens, des Empfindens, des Mitleidens, des Anerkennens usw. 2. Solche ethischen Praktiken haben generische Formen. So bindet beispielsweise Bodmer in seinen Poetischen Gemählden (1741) Praktiken der Empathie an das Theophrast und Sallust beerbende Genre der Charakterschilderung und differenziert in den Critischen Briefen (1746) wiederum gattungsspezifisch, wenn dort die dramatische Charakterschilderung zum paradigmatischen Verfahren einer empathischen Charaktererkenntnis wird. Fortgeführt wird diese Diskussion im Briefwechsel über das Trauerspiel (1755–1757) zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai, der das anthropologische Wissen um ›den Menschen‹ in einer gattungsspezifischen Ethik auffängt. Fabeln, Gleichnisse, Satiren, Polemiken, Totengespräche, Briefe, Tagebücher oder lyrische Formate wie Ode oder Elegie: Die Liste der Gattungen des ›guten‹ Denkens, Handelns und Empfindens ist lang.

Literary Criticism, hg. von Catherine Belsey und Jane Moore, Houndsmills u. a. 1989, 197–217, hier 216 [Hervorh. im Original].



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3. Schließlich werden auch ästhetische Rezeption und Produktion selbst als ethische Praktiken entworfen, zumal die Künste im 18. Jahrhundert allesamt affektrhetorisch grundiert sind. So modelliert Johann Georg Sulzer die Kunst als eine Seelenpraxis des ›guten‹ Empfindens. Denn als ästhetisch wertvoll gelten Verfahren der Evidenz, welche die Tugend fühlbar machen. Darüber hinaus können aus dieser Perspektive die unter dem Terminus der Autonomieästhetik versammelten Kunstmodelle eine Relektüre erfahren. Beispielhaft anzuführen ist hier Karl Philipp Moritz, der den Nachahmungsbegriff in seiner Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) jenseits von Naturnachahmung (imitatio naturae) oder Nachahmung ›alter Meister‹ (imitatio veterum) dezidiert auf den praktischen Tugenderwerb und auf eine generationenübergreifende Bildungspraxis hin ausrichtet. Zwischen Christian Thomasius und Novalis hat die Abschlusstagung des ETHOS Projekts für dieses Forschungsprofil vier Schwerpunkte des ethisch-ästhetischen Diskurses gebildet: Urteil – Kritik – Adresse versammelt Beiträge, die zum theoretischen Fundament der Heteronomieästhetik beitragen, indem sie die theoretische Verbindung von Ethik, Poetik, Ästhetik und Kritik ausloten: Rüdiger Campe wendet sich auf der Grundlage der Nikomachischen Ethik der Kluft zwischen Erkennen und Handeln zu, die sich bereits bei Aristoteles’ Kritik der Polis auftut. Zur Überbrückung dieser Kluft dient das rhetorische ›Toolkit‹ êthos (griech. ἦθος: Charakter), das Redner*innen zur Selbstdarstellung vor einem Publikum dient; neben logos und pathos ist êthos also eine Art und Weise der Rede bzw. ein Darstellungsverfahren, das durch die Erregung sanfter Affekte schön überzeugt. In den Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711) des Earl of Shaftesbury beobachtet er sowohl das ›êthos der Ethik‹ als auch die ›Ethisierung des êthos‹ – und zwar auf der Grundlage einer ästhetischen Kritik der Urteilskraft, die dort avant la lettre umrissen wird. Während Shaftesburys Ethik insofern ästhetisch ist, als sie von der Form des Essays abhängt, legt Meier eine fünf bändige Philosophische Sittenlehre vor, die auf Baumgartens Ethica Philosophica basiert. Evelyn Dueck zeigt, dass Meier seine Ethik – Systemphilosophie hin oder her – radikal an ein tacit knowledge bindet 79: »Alle unser Wissen muß praktisch seyn«, so fordert er. Mit diesem Praxisbezug schlägt Meier die Brücke zu den wiederum an Baumgartens Aesthetica (1750/58) angelehnten Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften (1748– 1750) sowie der Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744); ihren gemeinsamen anthropologischen Nenner bildet die Sinnlichkeit des Menschen. Damit stehen der freie Willen des Menschen als ethisches und die unteren Erkenntnisvermögen als ästhetisches Konzept im Zentrum. In einer lebenslangen Übung der freien Willensaktivität konvergieren Ethik und Ästhetik. Dieser Verbindung von Ethik und Ästhetik gehen auch Carolin Rocks und Sebastian Meixner in Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen (1729/41751) nach. Seine Poetik 79 Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre I, Hildesheim/Zürich/New York 2007, 322 [§ 139].

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versteht auch Gottsched als kritisch-philosophisches Projekt und spurt damit die Bahn für die Diskursivitätsbegründung der Ästhetik. Doch nicht nur die Theorie, sondern vor allem auch der praktische Vollzug in der Analyse literarischer Texte und deren (Fehl-)Leistungen sind die Aufgaben des Kritikers. Proto-ästhetisch ist Gottscheds Poetik insofern, als die kritischen Praktiken, wie z. B. alle Urteilspraktiken, insbesondere das Geschmacksurteil, ebenso wie die Wahrscheinlichkeitsprüfung im ethisch-ästhetischen Diskurs dynamisiert werden. Die kritischen Praktiken setzen eben nicht in vermeintlich normpoetischer Starrheit eine schlichte Beurteilung poetischer Texte ins Werk. Das philosophische System Baumgartens steht bei Frauke Berndt auf dem Prüfstand. Doch nicht die Aesthetica, sondern die Kollegnachschrift um 1750/51 ist die Grundlage der Argumentation, die zeigt, dass Baumgarten seine zentralen ästhetischen Kategorien in der Analyse der ersten drei Gesänge von Klopstocks Versepos Der Messias (1748) gewinnt. Von deren rhetorischen und narrativen Verfahren leitet er die Anweisungen und Anleitung zum schönen Denken und Darstellen ab und gerät dabei zwischen die Fronten des ›kleinen Dichterkriegs‹ zwischen Gottsched und Meier. Auch Kathia Kohler macht auf die performative Dimension des ethisch-ästhetischen Diskurses aufmerksam, wenn sie Johann Andreas Groschs Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet (1750) neu bewertet. Denn Grosch referiert nicht nur auf die Satire und ihre moralkritischen Aufgaben, sondern er verfährt selbst satirisch, indem seine Satiretheorie einerseits Wolffs Ethik, andererseits die ersten beiden Bände von Meiers Anfangsgründen kritisiert. Denn trotz allen Spotts gegen ›ästhetisierende‹ philosophische Schriften lässt sich Groschs eigene Diskurspraktik insofern als ästhetische beschreiben, als er aufführt (Performanz), was er ausführt (Referenz). Die dialektische Konfiguration, die sich zwischen Johann Georg Hamann, Jean Paul und Johann Gottfried Herder auftut, untersucht Ralf Simon. Dabei profiliert er den von Hamann ins Spiel gebrachten Begriff der ›Autorhandlung‹ als Praktik, genauer gesagt: als eine Intervention zur epistemologischen Komplexitätsreduktion, die vor allem Herder gegen leerlaufende Selbstreferenz auf bietet. Die performative Gedankenfigur ( figura sententiae) der Apostrophe verbindet die drei Autoren in einem Wechselspiel aufeinander bezogener epistemologischer und ethischer Kritik in der selbst wiederum dialogischen Gattung der Vorlesung; es ist also diese Gedankenfigur, die der Autorhandlung sinnliche Anschauung verleiht. Der zweite Schwerpunkt Erziehung – Beziehung – Anziehung versammelt Beiträge, die zum pädagogisch-programmatischen Fundament der Heteronomie­ ästhetik beitragen, indem sie die Rolle der Literatur, insbesondere des Romans in den Blick nehmen: Daniel Fulda erinnert daran, dass ausgerechnet der Jurist Thomasius dem Roman Großes zutraut, wenn es um Politik geht – sowohl um Staatsangelegenheiten als auch um die Selbstbehauptung einzelner Personen in der Gesellschaft, insbesondere in Konkurrenzsituationen. Damit wertet er den Roman auf, dessen Ruf um 1700 unwiderruflich ruiniert zu sein scheint. Romane machen ein ethisches Angebot: An den Romanfiguren lasse sich nämlich das Zusammenspiel von Charakter



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(êthos), Affekt und Handlung beobachten – eine Beobachtung zweiter Ordnung, mit welcher der ›auf klärerische‹ Habitus eingeübt werden kann. Dennoch steht der Roman nicht im Dienst des Lebens oder der Moral, sondern behauptet sein Recht als proto-autonome Kunstform. Genau dieses ethische Angebot wird in Christoph Martin Wielands Der goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte (1772) im Erzählen sowohl thematisch als auch performativ, wie Peter Wittemann in seiner Romanlektüre ausführt. Luxus stellt die zentrale Herausforderung des Romans dar, die weder satirisch noch utopisch, sondern realitätsgerecht durch Lebens- und Regierungspraktiken bewältigt wird. Dabei rückt die Praktik des Erzählens ins selbstreflexive Zentrum des Romans. Denn Wieland glaubt nicht an die Möglichkeit, von der Erziehung eines ›guten‹ Herrschers zu erzählen, sondern das Erzählen der Unmöglichkeit wird zur Voraussetzung dieses erziehenden Erzählens. Die theoretische Rehabilitierung des Romans erfolgt kurz darauf durch Friedrich Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774), den Marius Reisener praxeologisch bewertet. Denn Romantheorien sind keine Poetiken, die auf ihre Gegenstände deskriptiv oder gar präskriptiv zugreifen können, sondern sie müssen den Gegenstand ›Roman‹ fortlaufend sichern, indem sie die Gattung herstellen. Dementsprechend ist der Roman nicht ›das Objekt einer poíēsis‹, sondern einer ­prâxis, so dass die Romantheorie sich als Romanpraktik erweist. Diese Romanpraktik steht in einem Wechselverhältnis von Referenz auf die (inneren) Handlungen der Helden (sic) und performativer Selbstreflexion; paradigmatisch dafür ist die Praktik des Verhörs in Blanckenburgs Versuch. Wiederum um die Praktik des Erziehens geht es Stefan Matuschek , wenn er sich mit Friedrich Schillers Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) auseinandersetzt, die er als ›Urschrift des dialektischen Moderneverständnisses und der Kunst- als Freiheitstheorie‹ begreift. Sie basiert einerseits auf einer leeren Rhetorik der Verheißung, andererseits konzipiert und vollzieht sie Anweisungen und Anleitungen zur Höflichkeit. In diesen ethischen Praktiken der Höflichkeit nistet das Freiheitspotential des Menschen – eine Pointe, die Schiller aber durch sein Interesse an der Kunstschönheit verpasst. Für die ethische Vervollkommnung des Menschen im politischen Horizont – genauer gesagt: zur Ausbildung der Schriftsteller*innen zu Nationaldichter*innen – verwendet Friedrich Hölderlin den Begriff der ›Geistesgegenwart‹ und bezeichnet damit eine nationale Bildung, die er als dezidiert literarische Bildung versteht. Die dafür nötigen epistemischen Praktiken, die für die Produktion von Literatur unabdingbar sind, rekonstruiert Christian Metz vor dem Hintergrund einer ›radikalen Neukodierung der deutschsprachigen Literatur‹ zum Leitmedium des Erkennens und Begehrens. Diese literarische Bildung findet im kulturellen Spannungsfeld von Eigenem und Fremdem statt. Gabriel Trop schließlich entwirft die Grundlage für eine metaphysisch verankerte Ontologie der Anziehung in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts, indem er sich mit im weitesten Sinn sozialen Praktiken – öffentlichen wie privaten – ausein­andersetzt. Die Künste fungieren dabei als ›Medium der ontologischen Wahrheit und der ethischen Praktiken‹. Dergestalt eröffnet das Modell der Anziehung einen Rahmen, in dem eine Reihe ethischer Praktiken neu,

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nämlich metaphysisch, semantisiert werden: François Hemsterhuis konzeptualisiert Anziehung ontologisch, Herder ästhetisch, Schiller theosophisch, und Novalis und Karoline von Günderrode werten ›die atypischen und abweichenden Individua­ tionsformen als potentiell vitale und ethische Lebensformen‹ um. Der dritte Schwerpunkt Formen – Medien – Dinge versammelt Beiträge, die zum non-diskursiven Fundament der Heteronomieästhetik beitragen, indem sie den Stellenwert von materialen Agenten in den Konzeptionen ethischer Praktiken berücksichtigen: Dass mit den Darstellungsverfahren von Epigrammen ästhetische, nämlich ›sinnliche Formpraktiken‹ bzw. ›Praktiken der Versinnlichung‹ zur Diskussion stehen, ist Stephan Kammers Argument. Seine Auseinandersetzung mit diesen kurzen Gedichten sowie ihrer Poetik bei Julius Caesar Scaliger, Lessing und Johann Wolfgang Goethe folgt der Faustformel: ›Das Epigramm lockt, zielt und trifft‹, die im Spannungsfeld von Materialität (Schrift) und Form operiert. Die epigrammatische Praktik einer lockenden, zielenden, treffenden persuasio avanciert im 18. Jahrhundert zum Microdouble der Auf klärung: einerseits der sinnlichen Erkenntnis (aísthēsis), andererseits der Dialogizität, die Produzent*innen und Rezipient*innen dialektisch aufeinander bezieht. Den Dialog zwischen den Künsten und den sich ausdifferenzierenden Diskursen der Kunsttheorie, Kunstkritik und Ästhetik beleuchtet E­ lisabeth Décultot anhand von Jean-Baptiste Du Bos’ Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719) und Sulzers Lexikon Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771–1774) in anthropologischer und kunsttheoretischer Hinsicht. Dabei stellt sie dar, wie sich das Verhältnis von Kunstpraxis und ästhetischer Theorie gestaltet und welche praktische, d. h. moralische oder erzieherische Funktion der Kunst in der Bildung des Menschen zugeschrieben wird. Die Kunstbetrachtung avanciert dabei zu einer Praktik, die insbesondere das menschliche Empfindungsvermögen trainiert. Die Metapher des Prüfsteins (lapis lydius) dient der Bewertung der Praktiken, die freundschaftliche Verbindungen herstellen, argumentiert Roland Spalinger. Die Kraft des Prüfsteins hängt bei Baumgarten wiederum von den medialen Bedingungen der Gattung der Moralischen Wochenschrift Philosophische Brieffe von Aletheophilus (1741) ab, in dem die Prinzipien der Ethica in zeichenförmige Handlungen übersetzt und dem ästhetischen Urteil anheimgestellt werden. In den Brieffen sind es die beiden rhetorischen Gedankenfiguren der Ethopoeia und – noch einmal – der Apostrophe, mittels deren Aletheophilus ein freundschaftliches Band mit seinen Leser*innen knüpft und vice versa. Um die mediale Vermittlung von Anerkennung geht es Luca Alexander Arens, der die Funktion ›realer‹ Dinge in Lessings Kriegsdramen analysiert. Dinge sind nämlich nicht nur theatrale Requisiten, sondern haben eine eigene agency: das Schwert im Philotas (1759), Brief und Schuldschein in Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767) und natürlich der Ring in Nathan der Weise (1779). Besondere Aufmerksamkeit widmet er der metadramatischen Anlage der Ring­parabel im Nathan, weil das ›dramatische Gedicht‹ die Möglichkeit eröffnet, die Anerkennungspraktiken aus der fiktionalen Welt in die Welt der Rezipient*innen zu übertragen. Cornelia Pierstorff führt aus, wie in



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den beiden Jahrgängen 1783 und 1784 von Sophie von La Roches Frauenzeitschrift Pomona für Teutschlands Töchter über die semantische Ambiguität von Stoff – als gedanklicher ›Stoff‹ und als Textil – zwei Bündel von Praktiken miteinander verflochten werden. Gemeint sind textile Praktiken auf der einen Seite wie etwa die von La Roche ausführlich thematisierte weibliche Handarbeit und mediale Praktiken auf der anderen Seite. Der literarische Text wird dadurch als Erkenntnismedium profiliert, das von den Praktiken abhängt. Über die Praktiken des Stoffes wird in der Pomona so Wissen als mediales Wissen erkennbar. Der vierte Schwerpunkt Affekt – Körper – Resonanz schließlich versammelt Beiträge, die zum psychophysischen Fundament der Heteronomieästhetik beitragen, indem sie die Affizierung, Codierung und Modellierung des Körpers in den Mittelpunkt stellen: Der Ethik des Staunens gilt Nicola Gess’ Interesse. Denn es ist der überwältigende Affekt, der in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts in der so zentralen ethischen Praktik des Staunens sublimiert und dadurch kultiviert wird. Gess untersucht neben den einschlägigen Schriften und Briefwechseln der 1730er und 1750er Jahre im Horizont der Tragödientheorien auch Lessings Philotas. Den Einakter liest sie als Affektstudie, in der verschiedene Konzepte der Staunensethik reflektiert werden, u. a. wird das neoklassizistische Konzept der Bewunderungsdramaturgie ins Verhältnis zur Begeisterung, zum Mitleid und zum Erstaunen/Schrecken gesetzt. Am Ende macht Philotas die Probe aufs Exempel einer ›Ethik der irritierenden Verwunderung‹. Um eine Praxeologie des Mitleids in Lessings Dramaturgie geht es Johannes Hees-Pelikan, der auf das Gendering dieses für Lessings Dramaturgie so relevanten Mitleidskonzepts hinweist. Dabei fokussiert er die Geschlechterrollen und die mit ihnen einhergehenden Genderpraktiken, die er auf der Grundlage Foucaults anhand von Miß Sara Sampson (1755) analysiert. Für dieses erste Bürgerliche Trauerspiel ist weibliches und männliches Rollenhandeln konstitutiv und zugleich der Gegenstand von Kritik. So werden weibliche Genderpraktiken einerseits im Rahmen der Mitleidsdramaturgie instrumentalisiert, das Mitleid wird so zum Mitleid mit Miss Sara Sampson. Andererseits affirmiert Lessing diese Genderpraktiken nicht, sondern problematisiert und kritisiert sie genau dadurch, dass er sie mittels der Verfahren des Dramas verhandelt und performativ vorführt. Alexander Honold setzt in seiner Auseinandersetzung mit dem Drama bei der Aufführungspraxis an – genauer gesagt: bei den Schauspielpraktiken, die u. a. Jean-Jacques Rousseau im Lettre sur les spectacles (1758) an Jean Le Rond d’Alembert, Adam Smith in Theory of Moral Sentiments (1759) und Denis Diderot in De la poésie dramatique (1758) kritisieren. Einerseits etabliert sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Beruf der Schauspieler*in, andererseits erobern Schauspieler*innen die Literatur. Weil sie in der Verkörperung ihrer Rollen nicht nur Stücke auf der Bühne verkörpern, sondern auch ›Akteur*innen‹ eines riskanten emotionalen Transports sind, wird die ›dramatische Verstellungskunst‹ Gegenstand selbstreflexiver und metafiktionaler Inszenierung. Den Praktiken der Selbstoptimierung des Körpers widmet sich Britta Herrmann. Aus der Einsicht um die kulturelle Formbarkeit der biologischen

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Struktur (›Natur‹) leitet der anthropologische Diskurs um 1800 den ›Auftrag zum Eingriff in die (eigene) Natur‹ ab. Praktiken des doing human treten an die Stelle einer natürlichen Verfügung über Seele und Körper. Literatur und bildende Künste spielen dabei nicht nur eine entscheidende, sondern u. a. bei Herder, Moritz oder Novalis eine auf den Körper bezogene, mimetisch konzeptualisierte Rolle. Buchstäblich als Rollenmodelle machen Literatur und bildende Künste Angebote für die Selbstoptimierung und strukturieren deren Handlungen: ›Bildung ist unter dieser Prämisse auch Bodybuilding‹. Vom Körper zu ›akustischer Körperlichkeit‹ führen die Einlassungen von Boris Previšić zur alkäischen Ode, deren Formpraktiken er im Horizont potentieller Freiheit und Selbstsorge ethisch perspektiviert: Ein Formbewusstsein, das zeitliche Strukturen gegenüber räumlichen favorisiert, einerseits sowie die Reflexion der gegenüber der visuellen aufgewerteten akustischen Wahrnehmung andererseits bilden für diese Analyse den Bezugsrahmen. Sie zielt auf die Praktiken der ›Triangulierung von Wahrnehmung, Affektion und Artikulation‹ ab. In der Eröffnungsode Chiron von Friedrich Hölderlins Nachtgesängen (1805) werden diese Praktiken analysiert. Fritz Breithaupt fokussiert in seiner Lektüre von Goethes Theaterroman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) die ›Verfahren zur Ausbildung von Rezeptivität‹. Dabei setzt jede Form von Moralität in einer Gemeinschaft Praktiken des Zuhörens voraus, welche die ›innere Stimme‹ als Instanz der Moral ablösen. Eine Szene der Rezeptivität findet sich im metafiktionalen, der HamletAufführung gewidmeten fünften Buch. Ästhetische Verfahren der Einfühlung, Empathie oder Einbildungskraft bewirken die Verdoppelung der eigenen Position gegenüber den anderen, so dass Wilhelm die Stimme der anderen als eigene wahrnimmt und dadurch für diese erreichbar wird. Für die Einrichtung des Bandes bedanken wir uns bei Alexandra Lüthi und ­Dominik Spalinger.

URTEIL – KRITIK – ADRESSE

Ethik und Ethos Shaftesburys Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times Rüdiger Campe Wenn ich höre, dass man die Menschen abholen muss, wo sie sind, kann ich aus der Geschichte meiner Familie heraus nur sehr skeptisch sein.1

I. Einleitung

Akzeptanz übersetzt in unseren Tagen die theoretische Frage und die politische Herausforderung, um die es im ›und‹ zwischen Ethik und Ethos geht. Die erste Ethik-Vorlesung, die wir nachlesen können – die Nikomachische Ethik des Aristoteles –, hat die Frage an ihrem Ende gestellt 2: Dürfen wir nun, nachdem diese Dinge und die Wesensvorzüge des Menschen, ferner Freundschaft und Lust im Umriß hinreichend dargestellt sind, unsere Aufgabe als beendet ansehen? Ist es nicht bekanntlich so, daß beim menschlichen Handeln das Ziel nicht darin besteht, die einzelnen Dinge zu betrachten und zu erkennen, sondern vielmehr sie handelnd zu verwirklichen? Und auch bei den ethischen Werten reicht es nicht aus, von ihnen zu wissen, sondern man muß versuchen sie zu haben und in die Tat umzusetzen oder auf irgendeine Weise ein trefflicher Mensch zu werden.

Die Kluft zwischen Handeln und Erkennen ist nach Aristoteles auch ein Riss im Sozialen und in der Bildung – ein Riss, der sich durch die Einheit des Politischen hindurchzieht, wie sie von Aristoteles bis hin zu Hannah Arendt im Bild der Polis beschworen worden ist. Das Wort einer philosophischen Vorlesung, sagt Aristoteles nämlich, habe zwar die Kraft, »junge Leute von freiem Wesen anzuregen«, aber »die Vielen zu edler Wesensbildung anzuregen, dazu scheint es nicht imstande zu sein«.3 Die Kluft, die die Ethik als Lehrvortrag nur reproduzieren kann, ist nach Aristoteles auf dreierlei Weise zu überbrücken. Die erste Brücke ist die individuelle Naturanlage, die zweite ist Habitualisierung und die dritte Erziehung. Zwei 1 Gedächtnisprotokoll einer Äußerung von Robert Menasse während einer Podiumsdiskussion vor der Bundespräsidentenwahl in Österreich 2017. 2 Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. von Franz Dirlmeier, in: ders.: Werke in deutscher Übersetzung VI, hg. von Hellmut Flashar, Berlin 1974, 236 [IX 10, 1179 b6–1179 b9]. 3 Ebd. [IX 10, 1179 b12–1179 b13].

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staatliche Modelle nennt der Philosoph dafür, wie in unterschiedlicher Weise an diesen drei Brücken gebaut werden kann. Das eine Modell ist Sparta, dessen Interventionen bis in die Selektion seiner Bürger hinreichen; das andere ist Athen, das auf Bildung setzt. Man kann vermuten, dass das Überzeugungsmittel des äthos in Aristoteles’ Rhetorik ein weiteres, technisches Mittel ist, den Riss fallweise zu überbrücken. Besonders in der politischen Rede (dem deliberativen Genus) bringt der Redner Hinweise auf seine charakterlichen Eigenschaften ins Spiel, und er verweist indirekt in den Charakterbildern anderer auf Wertungen, die er zu Grund legt. Diese Anteile in der Rede fasst Aristoteles unter dem Begriff des äthos zusammen. Im historischen Sprung ist im Folgenden der Versuch unternommen, Shaftesburys große Essaysammlung von 1711 in diesen Zusammenhang zu stellen.4 Shaftesbury entwirft – so die Vermutung – unter Einsatz des äthos und das heißt durch Reaktivierung der alten Rhetorik eine Ethik, die sich dem Problem der Kluft zwischen Handeln und Erkennen von vornherein stellt. Sie versucht, dem Riss zwischen Handeln und Erkennen, der zugleich ein sozialer Riss durch die Polis ist, mit dem äthos der Ethik und mit einer Ethik des äthos zu begegnen. Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times – der Titel, unter dem Shaftesbury fünf große Essays zu einem dreibändigen Werk versammelt hat – ist nichts anderes als die umschreibende Übersetzung dessen, was äthos bei Aristoteles meint. Zugleich ist die Sammlung aber auch die Summe von Shaftesburys Ethik und dem, was man eine Ästhetik avant la lettre nennen kann. Wie lässt sich das Aufeinandertreffen von äthos und Ethik bzw. Ästhetik verstehen? Gegenstand und literarische Gattung der Essays spielen zusammen. An Inquiry Concerning Virtue or Merit, das entstehungsgeschichtlich älteste Stück der Sammlung, ist ein philosophischer Traktat. Er behandelt die Naturgeschichte von Pflanzen und Lebewesen in der Welt und das Zusammenleben der Menschen in neuplatonischer Spekulation. Beides wird streng ineinandergefügt und zu systemischen Zusammenhängen entfaltet. Ethik heißt unter dieser Voraussetzung die affektive Wahrnehmung und reflexive Beurteilung der Antriebskräfte und Verhaltensweisen, durch die alle Teile im Kosmos der natürlichen Ordnung und besonders die menschlichen Akteure im Ganzen der Gesellschaft in ihren Teilsystemen zusammenwirken. Durch Wahrnehmung und Reflexion bauen die menschlichen Bewusstseine mit am 4 Im Folgenden benutzte Literatur, zum weiteren Kontext: Jerome B. Schneewind: Introduction, in: Moral Philosophy from Montaigne to Kant – An Anthology I, ed. by J. B. Schneewind, Cambridge 1990, 1–34; Stephen Darwall: The British Moralists and the Internal ›Ought‹ – 1640–1740, Cambridge 1995; Dirk Schuck: Verinnerlichung der sozialen Natur – Zum Verhältnis von Freiheit und Einfühlung in der Sozialpsychologie des frühen Liberalismus bei John Locke, Shaftesbury, Hume and Smith, Hamburg 2019; zu Shaftesbury: Ernst Cassirer: Shaftesbury und die Renaissance des Platonismus in England, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1930/31, Leipzig 1932, 136–155; Stanley Green: Shaftesbury’s Philosophy of Religion and Ethic – A Study in Enthusiasm, Athens 1967; Lawrence E. Klein: Shaftesbury and the Culture of Politeness – Moral Discourse and Cultural Politics in Early Eighteenth-Century England, Cambridge 1994; Mark-Georg Dehrmann: Das ›Orakel der Deisten‹ – Shaftesbury und die deutsche Aufklärung, Göttingen 2008.



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System der Systeme. Systemzusammenhänge werden dabei zu normativen Gehalten und normative Gehalte zu Beständen des Systems. Die objektivistischen Zumutungen einer solchen Ethik liegen auf der Hand. Von wo aus und mit welchem Recht lässt sich ein solches Einschwingen in die Systematizität von Welt und Gesellschaft behaupten? Wie in Antwort auf diese Frage greifen die anderen Essays von Characteristics Aspekte des rhetorischen äthos auf. Sie beziehen sich dabei von außerhalb des ethischen Systems auf es zurück, und sie tun es in der Form literarischer Gattungen wie Brief, Dialog und Selbstgespräch. Wie bringt sich der Enthusiasmus, dem ein systemwidriges Zuviel eingeschrieben ist, in den aufeinander antwortenden Beiträgen der räumlich und zeitlich getrennten Partner zum Ausdruck? Welchen Anteil an einem ethischen Bewusstsein und seiner Kommunikation hat die gelassen-ironische Darstellung der eigenen Disposition, der wit, der um Zustimmung der anderen wirbt, sie aber nicht einfordern will und nicht garantieren kann? Wie spiegeln literarische Verfahrensweisen des Selbstgesprächs den grundlegenden Mechanismus der Kritik, den das ethische Bewusstsein in seiner Wahrnehmung und Reflexion auf sich und andere voraussetzt? Schematisch und vorläufig formuliert: die vielfältigen Sprechweisen des äthos umspielen und stützen von außen die Akzeptanz der Normen, die der ethische Traktat aus dem Inneren des Systems in der Form der Thesis behauptet. Shaftesbury komponiert dieses Zusammenspiel aus Ethik und äthos immer noch, möchte man sagen, wie Thomas Hobbes und in ständiger Antwort auf ihn mit Blick auf die Katastro­ phe des Bürgerkriegs. Es geht weiterhin um die Überbrückung des Risses, der durch den body politic ging, als Karl I. enthauptet wurde. Freilich tritt an die Stelle des Befehls als Grundform der Gesellschaft bei Hobbes nun – nach der Glorious Revolution von 1688 – ein mehr oder minder unzerreißbares Netz aus Ethik and äthos. So jedenfalls erhofft es der dritte Earl of Shaftesbury, Enkel des ersten Earl und Gründers der Whigs.5 Das äthos, das zunehmend die Sprechweisen Shaftesburys bestimmt, muss man aus der Vorgeschichte der antiken Rhetorik heraus verstehen. Shaftesbury hat Rhetorik anders als Hobbes und die älteren englischen Humanisten nicht so sehr in Ciceros und Quintilians Fassung,6 sondern im aristotelischen Vorlauf studiert. Drei pisteis – Überzeugungsmittel – nennt Aristoteles in der Rhetorik: den logos, das pathos und das äthos. Will man diese Trias auf Shaftesburys Essays beziehen, dann kann man so sagen: Der logos bezeichnet die Aufmerksamkeit auf das Gesagte bzw. das Zusagende, er ist die Sache und ihre Darstellung im Satz und in den syllogistischen und enthymemischen Verknüpfungen. In seiner reinen Form ist er der Traktat. Dafür steht in Shaftesburys Sammlung An Inquiry. Pathos und äthos sind die Substruktionen von Sache und Satz in der Kommunikation. Das pathos meint den Hinblick und das Einwirken auf die Hörer, das äthos stellt den Redenden und seine Selbst5 Vgl. Anthony Ashly Cooper, First Earl of Shaftesbury – 1621–1683, ed. by John Spurr, Farnham 2011. 6 Vgl. Quentin Skinner: Reason and Rhetoric in the Philosophy of Hobbes, Cambridge 1996.

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darstellung und seine Beziehung zum Publikum ins Zentrum. Dafür stehen in den Characteristics die Essays, die der Form nach Brief, Dialog und Selbstgespräch sind. Auf den ersten Blick hat die rhetorische Tradition seit Aristoteles das pathos, die Erregung der Leidenschaften, in den Vordergrund gerückt. Oftmals erscheint Affekterregung als pars pro toto der rhetorischen Leistung. Der zweite Blick zeigt aber, dass das äthos, die Selbstdarstellung des Redners, die Rede ausgreifender und tiefer prägt. Die Erregung der Affekte im Publikum ist sichtbar und punktuell, sie geschieht an bestimmten Stellen der Rede. Das äthos ist weniger abgrenzbar, aber dafür durchdringt es die Rede in weiterem Umfang. Dieser Unterschied in der Weise, wie pathos und äthos im Redegeschehen wirken, verdeutlicht sich noch, wenn man beachtet, wie beides in den Gegenständen der Rede schon enthalten ist. Affekte sind bei Aristoteles eng mit den Motiven der Handlung verknüpft (mit den Motiven der Tat in der Gerichtsrede); der ›Charakter‹ betrifft dagegen über den Redner oder seinen Klienten hinaus den Ruf aller, die in der zur Verhandlung stehenden Sache gehandelt haben (die Grundlage, auf der Täter, Opfer und Zeugen beurteilt werden).7 Man sieht aus dieser weitergehenden Überlegung aber auch die Gemeinsamkeit von Affekt und ›Charakter‹. Beide beruhen auf einer mehr oder minder verborgenen Verständigung bzw. einem Verständigtsein zwischen Redner und Hörern, zwischen denen also, die ein Urteil herbeiführen wollen, und der politischen Gemeinschaft, in deren Namen das Urteil gefällt werden wird und für die es gelten soll. Um Affekte zu erregen und in ihnen Tatmotive zu identifizieren, müssen Redner und Hörer ein Lexikon der Leidenschaften teilen. Das berühmte zweite Buch der Rhetorik hat Aristoteles weitgehend der Erstellung dieses Lexikons gewidmet. Dasselbe gilt für die Tugenden, die habitualisierten Dispositionen des jeweils bestmöglichen Handelns. In diesem Fall wird es noch deutlicher, dass das Lexikon ein sich stets erneuerndes, sich verfestigendes und wieder wandelndes Reservoir kulturell geteilter Einstellungen sein muss. Hier geht es nicht nur um Fragen der Identifikation (was ist Rache?), sondern auch um Wertfragen (wie das 19. Jahrhundert gesagt hat) bzw. Geltungsfragen (wie man im 20. Jahrhundert gesagt hat). Die Vergleichbarkeit von pathos und äthos liegt, kurz gesagt, in den kulturellen Implikationen. Aus dieser Vergleichbarkeit heraus lässt es sich dann verstehen, dass die hellenistische und römische Rhetorik – nachdem sie die aristotelische Analyse der rhetorischen Situation in logos, pathos und äthos vergessen hatte – das äthos zur sogenannten sanften Form des pathos machte. Pathos und äthos betreffen beide die kommunikativen Substrukturen des Gesagten, und das heißt emotiv wirkende normative Einstellungen. Um diesen weiteren Zusammenhang geht es, wenn hier vom äthos in Shaftes­ burys Essays die Rede ist. Wenn es dabei mehr um die sanfte Leidenschaft des äthos 7 Ich folge hier und in weiteren Einzelheiten der entstehenden Dissertation von Marc Petersdorff zum Ethos in der Geschichte der Rhetorik von Aristoteles bis Adam Müller: Marc Petersdorff: Masks of the Audience – The Problem of Oratorical Self-Representation; grundlegend ist Wilhelm Süss: Ethos – Studien zur älteren griechischen Rhetorik, Leipzig 1910.



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als um die punktuelle Gewalt des pathos geht, dann ist das im Stil des GentlemanPhilosophen ebenso begründet wie im Ordnungsoptimismus des Whig-Politikers.8 Dass aber in Shaftesburys Liberalität die zurückgedrängte Gewaltsamkeit Hobbes’ an vielen Stellen wiederkehrt, ist offensichtlich: Frauen spielen in den Systemwelten seiner Ethik keine tragenden Rollen, über Juden weiß man Bescheid, die kolonisierten Bevölkerungen reichen mit ihren Verhaltensweisen und in ihren Wahrnehmungsfähigkeiten in die ›natürlichen‹ und das heißt sozialen Passionen gar nicht erst hinein. Das Interesse, das Shaftesbury trotzdem zukommt, liegt in der relativen Offenheit im Verhältnis zwischen den Strategien des äthos und dem System der Ethik. Hier ist eine Liberalität zu beobachten, die es zum Beispiel in Hegels System des Ethischen nicht mehr geben wird, von Webers protestantischer Ethik zu schweigen. Die relative Differenz zwischen Ethik und Ethos, der Shaftesbury Raum lässt, ist die Liberalität seines Liberalismus. II. Das Ethos der Ethik I. Adressierungen

Behält man die rhetorische Perspektive für einen Augenblick bei, dann kann man unschwer zwei der späteren Essays mit der Frage von pathos und äthos in Zusammenhang bringen. Gemeint sind A letter Concerning Enthusiasm und Sensus Communis, An Essay on the Freedom of Wit and Humour in a Letter to a Friend. Im Problem des Enthusiasmus kann man die Position des pathos ausmachen. Mit ›wit and humour‹ entwickelt Shaftesbury seine eigene Version eines äthos, das von der Perspektive des Sprechenden aus die ›sanfte Affektivität‹ einer umgreifenden Akzeptanzsorge entwirft. Ihrer späteren Entstehung entgegen leiten die beiden Essays zusammen in das nachträglich komponierte, bewegliche Ganze der Characteristics ein. In der Form des Briefes werden Adressierung durch die Sprechenden und Adressierbarkeit der Angesprochenen in beiden Essays zum Thema der Reflexion und praktisch durchgeführt. Sinnfällig ist sogar noch die unterschiedliche Art und Weise, in der das jeweils geschieht. Im Essay über den Enthusiasmus bestimmt die Briefform sichtbar den Text, und dieser Essay richtet sich als Brief an eine bestimmte Person, einen wichtigen Whig-Politiker der Zeit. Das pathos, kann man verstehen, ist die offene und direkte kommunikative Intervention, die Wirkung im Angesprochenen sucht. Im Fall von Witz und Humor tritt der Charakter des Briefs dagegen nur hin und wieder an die Oberfläche und der Adressat ist verallgemeinert zu ›a friend‹ – das äthos wirkt hier unter der Oberfläche verborgen, aber immer gegenwärtig, vom Sprechenden zum Einsatz gebracht, um Gemeinschaft mit dem Angesprochenen herzustellen und zu sichern. Auch in Themenführung und Argumentationsweise unterscheiden sich die beiden Brief-Essays. Der Brief über Witz und Humor verfährt zwar in der typischen Weise der späteren Essays mäandernd, als verlöre er immer 8 Vgl.

Harry T. Dickinson: Walpole and the Whig Supremacy, London 1973.

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wieder den Fokus. Aber er umkreist doch beständig ein immer deutlich erkennbares Zentrum. Dagegen macht der Enthusiasmus-Brief den Widerstreit zu seiner Vorgehensweise und seinem Thema. Er ist auf der unentwegten Suche nach der Lösung der Zwiespältigkeiten, auf die er trifft. Vereinfacht gesagt: Der sensus communis, von dem der zweite Brief handelt, ist die Lösung der offenen Zwiespältigkeiten im pathos-Brief. Das Ausmaß der Zwiespältigkeiten beim pathos zeigt sich schon daran, dass Shaftes­bury den Brief mit einer scharfen Polemik gegen den religiösen (und politischen) Enthusiasmus einleitet, am Ende aber mit der Rehabilitation, ja der Feier einer aus ästhetischem Erleben abgeleiteten Art von Inspiriertheit wieder in reli­g iöse Gestimmtheit einmündet. Zur disruptiven Art des Enthusiasmus-Briefs gehört es, dass die Polemik gegen den Enthusiasmus einen historisch bestimmten Anlass hat, und mit diesem Verweis in die reale Welt in den Characteristics eine Ausnahme bildet. Bei Gelegenheit dieses Einbruchs der Zeit in die Erörterungen der Essays wird im Übrigen für die Leser der Zeit auch hinter dem fiktiven Adressaten des Briefs, Lord ****, der Whig-Politiker John Somers, First Baron Somers, erkennbar. Zum Anlass, der dem Autor des Briefs als Ausbruch von religiösem Enthusiasmus bzw. Fanatismus erscheint, heißt es9: »There are some, it seems, of our good brethren, the French Protestants, lately come among us, who are mightily taken with this primitive way.« Shaftesbury bezieht sich damit auf eine Gruppe französischer Hugenotten, die nach der Auf hebung des Edikts von Nantes in London Zuflucht suchten und in Shaftesburys Augen Glaubensfanatismus bis zum Wiederausbruch des religiös motivierten Bürgerkriegs betrieben.10 Der ›primitive way‹, von dem er spricht, verweist auf die vorangehende Passage, in der der Adressat des Briefes direkt angesprochen ist. Es heißt da: And as good Protestants, my Lord, as you and I are, we should consider him [einen Christen, der in einem moslemischen Land lebt und dort aus religiösen Überzeugungen Unfrieden stiftet, R. C.] as little better than a rank enthusiast, who, out of hatred to the Romish idolatry, should, in time of High Mass […] interrupt the priest with clamours or fall foul on his images and relics (15).

Die Bedrohung durch den Enthusiasmus liegt im Momenthaften – man kann sagen im strukturellen Präsentismus – seines Pathos. Das ist hier durch die einmalige und dabei so dichte Verflechtung von gegenwärtigem politischem Geschehen und real auflösbarer Adressierung markiert. Vorbereitet war diese Zuspitzung des Präsentismus im Brief durch Shaftesburys berühmte Analyse der Panik als einer kulturhistorisch belegten religiös-politischen Form der Massenbewegung. Der momentane 9 Anthony Ashley Cooper [Third Earl of Shaftesbury]: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, ed. by Lawrence E. Klein, Cambridge 1999 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext mit Seitenzahl in Klammern], hier 15. 10 Vgl. Hillel Schwartz: The French Prophets – The History of a Millenarian Group in Eighteenth-Century England, Gainsville 1978.



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Einbruch der Gewalt in die Gegenwart des Briefs bezeichnet thematisch und performativ den Moment des Enthusiasmus im Pathos-Brief. Dem steht am Ende die Unterscheidung zwischen dem Enthusiasmus und seiner religiös wie politisch wahren und guten Grundform gegenüber. Shaftesbury bezeichnet sie als Inspiration in einem zugleich ästhetischen wie moralischen Sinne. »For inspiration is a real feeling of the Divine Presence and enthusiasm a false one« (27). In diesem Sinne von Inspiration kann der Briefeschreiber sich in dem spielerischen und betont konventionellen, die Konventionalität geradezu zele­brierenden Briefende als ein Enthusiast unterzeichnen, der zugleich Freund ist: »You must suppose me (as with truth you may) most passionately yours and, with the kindness which is natural to you on other occasions, you must tolerate your enthusiastic friend« (28). Wie kann der Brief vom Einbruch des enthusiastischen Augenblicks zur Ein­ hegung durch ›your enthusiatic friend‹ kommen, der sich am Briefende unterzeichnet? Die Antwort liegt – um noch einmal auf die schematische Beziehung zwischen Pathos und Ethos zurückzugreifen – in der internen Ethisierung des Pathos. Hier soll nur ein Moment in dieser Umwendung des Enthusiasmus in die Inspiration heraus­gehoben werden. Man kann ihn in der Passage sehen, die der Briefschreiber so einleitet: »To love the public, to study universal good, and to promote the interest of the whole world, as far as lies within our power, is surely the height of goodness and makes the temper which we call ›divine‹« (20). Jedes Wort in diesem Satz ist von großer und festgelegter Bedeutung in Shaftesburys begrifflichem Haushalt. Im vorliegenden Zusammenhang kann man sich auf eine Einzelheit beschränken, den Umbau der Zuordnungen: Während im Enthusiasmus das Göttliche mit dem pathetischen Moment von Erregung und Wirkung verbunden war, wird jetzt ›to love the public‹ – das äthos als Einstellung – mit der Divinität verknüpft. So wird aus Enthusiasmus Inspiriertheit. Der folgende Satz besiegelt den Umbau, wieder mit einer Wendung an den Adressaten. Diesmal ist der Angesprochene aber nicht mit einem Ereignis in der Gegenwart verknüpft, sondern mit der longue durée einer ethischen Einstellung: »In this temper, my Lord (for surely you should know it well), it is natural for us to wish that others should partake with us by being convinced of the sincerity of our example« (ebd.). Eine vergleichbare Dramatik wie beim Enthusiasmus gibt es im Brief über den sensus communis und die Rolle von Witz und Humor nicht. Sicher wird auch da die rechte raillery von einer früheren, exzessiven und verletzenden Form unterschieden. Aber die Unterscheidung ergibt sich einfach aus der Bindung von Witz und Humor an den »freedom of conversation« (31). Der Liberalismus der rechten raillery wird mit der selbstverstärkenden Dynamik des Handels zwischen Staaten verglichen: »wit is its own remedy. Liberty and commerce bring it to its true standard. […] Nothing is so advantageous to it as a free port« (ebd.). Der Vergleich ist zweifellos selbst ein Beispiel des Witzes, der den sensus communis hervorbringen soll. Aber das unterstreicht nur seine produktive Bedeutung im Zusammenhang. Der Vergleich hebt an der Ausübung von Witz und Humor dessen fördernde und selbstverstärkende

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Tendenz hervor, die ihn in den Augen des Whig-Politikers mit dem freien Handel verbindet. Er macht diese Tendenz bewusst und sorgt auf diese Weise dafür, dass sie sich an den ›freedom of conversation‹ anschließen kann und zu seinem Instrument und Mittel wird. Auf dieser Grundlage kann Shaftesbury eine ganze Kulturgeschichte von Witz und Humor als Mittel zur Förderung des common sense erzählen. Sie umfasst die Entwicklung der höfischen Sprech- und Umgangsformen ebenso wie eine kleine – englische – Literaturgeschichte des Witzes von Shakespeare bis zur Gegenwart. Die Frage der Kommunikation von Philosophie und Wissenschaft (vom Dialog zum Traktat und zurück) wird ebenso erörtert wie die Verständigung im Bereich von Religion, policy und Moral über Annahmen, die alle teilen (»there were some [ judgments: R. C.] however in which it was supposed they all agreed and had the same thoughts in common«, 37 f.). Allerdings liegt in der selbstverstärkenden Dynamik von Witz und Humor als Mittel der Verständigung mit ›allen‹ eine tiefe, sich in seinem Inneren vollziehende, Umwendung des äthos. In Anlehnung an Ernst Cassirers Philosophie der Aufklärung (1932) könnte man sagen, dass Witz und Humor als Mittel des ›freedom of conversation‹ die fortschreitende Funktionalisierung des traditionellen äthos sind. Alle bestimmten Inhalte werden nach Möglichkeit verflüssigt. An die Stelle von einzelnen ›Charakteren‹, deren Exemplarität das äthos einmal geprägt hat, tritt die Form des Charakterisierens durch Witz und Humor. Im Witz und im Humor löst sich der Sprechende von der Bindung an bestimmte, festgelegte Inhalte. Es ist die Form dieser Loslösung, in der er sich mit der Tendenz des ›public‹ eins weiß bzw. in durchgehende Verbindung setzt. Das Funktionwerden des äthos ist soweit aber eben im Sinne einer Vorgehensweise – von Seiten des Sprechenden – und einer Tendenz – in seinem Verständigungsprozess mit dem Publikum – zu verstehen. Es ist noch nicht die Eigenschaft eines Systems namens Gesellschaft. Der Brief zum sensus communis geht einen Schritt in die Richtung des Systems Gesellschaft, aber eben nur einen Schritt. Man sieht das an einer Passage zum ›social feeling‹. »A public spirit«, schreibt Shaftesbury da, »can come only from a social feeling or sense of partnership with humankind« (50). Im ›social feeling‹ sind Strategie und Tendenz des funktional gewordenen äthos zu einer Art Begriff geronnen. Aber dieser Begriff bleibt beschreibend und an die Umstände seines Einsatzes gebunden. Shaftesbury leiht ihm Festigkeit nur auf negative Weise. Tyrannische – autoritäre – Staats- und Gesellschaftsformen, in denen Macht als heilig und göttlich gelte, wirkten der Entwicklung des ›social feeling‹ entgegen, weil sich unter ihrer Herrschaft keine Vorstellung vom ›public good‹ entwickeln könne. Mit langer Tradition im Orientalismus Europas sieht Shaftesbury Despotien dieser Art in den »Eastern countries« (ebd.). Aber gerade sie demonstrieren auch das Gegenteil: Der ethische Mechanismus des ›social feeling‹ arbeitet auch in Abwesenheit seiner Bedingungen und erzielt dann entweder Schrumpfformen eines ›public good‹ oder pervertierte Zerrbilder. »If men have really no public parent, no magistrate in common, to cherish and protect them, they will still imagine they have such a one« (ebd. [Hervorh. im Original]). Dem gesellschaftlich-politischen liegt (wohl nach



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stoischer oikeiosis-Lehre) ein psychologisch-sozialer Prozess zu Grunde: »they will still imagine they have such a one [einen Vater: R. C.] and, like new-born creatures who have never seen their dam, will fancy one for themselves and apply (as by nature prompted) to some like form for favour and protection« (ebd.). Man kann im Fortgang des Gedankens noch gerade sehen, wie von diesem negativen Argument für die eigene Kraft des ›social feeling‹ sich der Weg zu einer systemischen Auffassung von Gesellschaft anbahnt. Shaftesbury nimmt die Überlegung zum ›social feeling‹ zum Anlass, den Konstitutionalismus der Naturrechtslehre zu kritisieren (und das heißt für ihn vor allem Hobbes und Locke). Staat und Gesellschaft nach dem Modell eines Vertrags zu erklären, sei eine in sich widersprüchliche Idee, heißt es. Der Vertragsschluss setze dasjenige ›social feeling‹ im Versprechen der Vertragspartner schon voraus, das durch die Gründung von Staat und Gesellschaft möglich gemacht werden solle. »Thus, faith, justice, honesty and virtue must have been as early as the state of nature or they could never have been at all« (51). Die bloße Möglichkeit zu versprechen, sprengt nach dieser Argumentation den Gedanken von Konstitution im Gebiet von Moral und Sozialphilosophie überhaupt. Im Brief zum sensus communis bleibt Shaftesbury bei der rhetorischen Frage stehen: »A man is obliged to keep his word. Why? Because he has given his word to keep it. – Is not this a notable account of the original of moral justice and the rise of civil government and allegiance?« (ebd.). An der Schwelle des äthos als Einstellung und Praktik zur Ethik als System ist die rhetorische Frage anstelle einer Behauptung am Platz. Das äthos bleibt als Funktion von Witz und Humor ein rhetorischer Zug, auch wenn die Schließung zum ethischen System schon naheliegt. Diese innere Differenz in Characteristics nicht nur zu bewahren, sondern hervorzubringen und in der Zusammenstellung der Essays indirekt zum Argument zu machen, unterscheidet die Liberalität Shaftesburys von demjenigen Liberalismus der Whigs, den er mit heraufgebracht hat. III. Ethik als Ethos, Ethos als Ethik. Die Sprache des Systems

Erst als vierter Essay folgt in Characteristics der entstehungsgeschichtlich erste, An Inquiry Concerning Virtue or Merit. Alle Essays in den Characteristics, die Shaftesbury später geschrieben hat und die in der Sammlung vorangehen oder folgen, setzen An Inquiry voraus. Argumentativ können sie ohne ihn nicht bestehen, aber alle streben in ihren Sprechweisen von ihm fort. An Inquiry spricht die Sprache des logos, wenn man noch einmal Aristoteles’ Dreiteilung der Überzeugungsmittel in der Rhetorik (logos, pathos und äthos) bemühen will. In the whole of things, or in the universe, either all is according to a good order and the most agreeable to a general interest, or there is that which is otherwise and might possibly have been better constituted, more wisely contrived and with more advantage to the general interest of beings or of the whole (164).

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So beginnt der Traktat nach einer ersten Einleitung. Aus der Sicht der Komposition von Characteristics ist er der Fremdkörper in ihnen, an den alle anderen Teile doch anschließen, um sich einen Anhalt zu geben. Vor An Inquiry steht zwar ebenso wie vor den anderen Essays ein literarisches Zitat als Motto. Aber es weist in diesem Fall gerade nur auf die Notwendigkeit hin, dass es einen Fremdkörper geben muss: »Putting play aside, let us turn to serious things« (163).11 In einer zu Recht berühmten Randnotiz in seinem Handexemplar der Characteristics, in der er »To this I need only add« zu »To this we need only add« ändert, schreibt Shaftesbury: This treatise being, in respect of style and genius of writing, such as it is characterized in Miscellany V […], where the difference is shown between this didactic, methodic manner and the miscellaneous kind or that of epistle or dialogue, it becomes our author to suppress wholly the word ›I‹ and ›me‹, &c., in this treatise, which is of the former (namely, the didactic, methodic) kind (181, Fußnote).

Unter der Frage nach dem Verhältnis von Ethos und Ethik kann es nicht darum gehen, die anspruchsvolle Theorie von An Inquiry in ihrem spekulativen Reichtum und ihrer Ausarbeitung normativer Prinzipien im Einzelnen nachzuzeichnen. Die folgenden Bemerkungen gelten nur der Frage nach dem äthos im Traktat der Ethik. Die Perspektivierung des Gedankens durch das äthos verschwindet im Text des zusatzlosen logos nicht vollständig. Auch wenn diese Perspektivierung nicht wie in Brief und Dialog in der Weise kommunikativer Form nach Außen tritt, kann man doch danach fragen, wie sich im Innern der Theorie und ihrer Darstellungsweise das System der Ethik zu den Charakteren und charakterisierenden Strategien des äthos verhält. Man kann zwei Perspektivierungen der Theorie unterscheiden, ohne dass sie sich an jeder Stelle voneinander trennen ließen. Die erste Perspektivierung kann man eine ›Ethik als Ethos‹ nennen. Dabei geht es um den Blick der ethischen Subjekte auf das Ganze der Dinge, das entweder nach einer guten Ordnung eingerichtet ist oder nicht. Diese Perspektive herrscht in den ersten Teilen des Traktats vor. Die andere Perspektivierung kann man durch die Formel ›Ethos als Ethik‹ kennzeichnen. Damit ist gemeint, dass die ethischen Haltungen ihrerseits – die einzelnen äthä – zu einem inneren System werden, das sich als weitere Ordnungsform in das Ganze des Systems von Natur und Gesellschaft einfügt. Dem relativen Unterschied zwischen ›Ethik als Ethos‹ und ›Ethos als Ethik‹ im ethischen Traktat gilt es nachzugehen, um das eigene Interesse des ethischen Systems an der Differenz zwischen äthos und Ethik im Ansatz zu verstehen. Nur wenn es dieses Interesse gibt, sind die vorangehenden und folgenden Essays anderes als bloße Zusätze zur Theorie und dem Traktat, der sie ausspricht. Mit der ersten Perspektivierung ist gemeint, was sich später im Begriff des moral sense verdichten wird. Damit von der Welt als einem geordneten Ganzen gesprochen werden kann, muss sie Gegenstand menschlicher Bewusstseine werden 11

»[S]ed tamen amoto quaeramus seria ludo« (Horaz: Satiren 1.1. 27).



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können. Für die Dinge in der Natur erscheint das als eine unproblematische Annahme. Um aber Affekten und Leidenschaften – moralischen Handlungen – einen vergleichbaren Status als Gegenstände zu geben, braucht es eine eigene reflexive Fähigkeit des Bewusstseins. Es braucht ein Sinnesvermögen zweiter Ordnung, durch das Handlungen anderer Bewusstseine Gegenstände der Wahrnehmung werden können. Damit verdoppelt sich in einer manchmal verwirrenden Weise die Rede von Affektionen und Passionen. Zum einen sind sie Momente im Ganzen der Welt: When in general all the affections or passions are suited to the public good or good of the species […] then is the natural temper entirely good. If, on the contrary, any requisite passion be wanting […] then is the natural temper […] in some measure corrupt and ill (172).

›Affections‹ und ›passions‹ bilden in dieser Sicht ein System der Ethik, das im systemischen Ganzen der Welt seinen Platz und in seiner Einbettung in ihm seine Ordnung hat. Das gilt für Lebewesen allgemein. Darüber hinaus muss aber erklärt werden, wie die Affekte und Leidenschaften von Menschen, die bereits seelischer und mentaler Art sind, ihrerseits wieder Gegenstände von Bewusstsein werden können: In a creature capable of forming general notions of things, not only the outward beings which offer themselves to the sense are the objects of the affection, but the very actions themselves and the affections of pity, kindness, gratitude and their contraries, being brought into the mind by reflection, become objects (ebd.).

Die Aufmerksamkeit auf Affektionen und Passionen als Gegenstände des Bewusstseins gibt es erst aus der die Wahrnehmung der Dinge ergänzenden Reflexion auf das System des Ganzen einschließlich der Ordnung der natürlichen Passionen.12 Diese reflexive Aufmerksamkeit kann man als Wahrnehmung im Sinne des äthos bezeichnen. Von ihr heißt es: The mind, which is spectator or auditor of other minds, cannot be without its eye and ear so as to discern proportion, distinguish sound and scan each sentiment or thought which comes before it. It can let nothing escape its censure. It feels the soft and harsh, the agreeable and disagreeable in the affections, and finds a foul and fair, a harmonious and a dissonant, as really and truly here as in any musical numbers or in the outward forms or representations of sensible things (172 f.).

In diesem bemerkenswerten Satz weitet Shaftesbury erstens die Welt des Gesehenen und Gehörten von den Dingen, die wir sinnlich wahrnehmen, aus auf Handlungen und Affektionen, die wir reflexiv auffassen. Zweitens verwandelt er die Handlun12 »In a creature capable of forming general notions of things, not only the outward beings which offer themselves to the sense are the objects of the affection, but the very actions themselves and the affections of pity, kindness, gratitude and their contraries, being brought into the mind by reflection, become objects« (171).

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gen und Affektionen in ihrer reflexiven Darstellung im menschlichen Bewusstsein wieder zurück in eine neue Art sinnlich erfassbarer Welt. Es ist die Welt des affektiven, ethischen und ästhetischen, Urteils – weich oder hart, gut oder schlecht, harmonisch oder dissonant –, in der alle Gegenstandsarten – die der Dinge, der Handlungen und der Affektionen – nun ihren Platz finden. Um ein System der Ethik aufstellen zu können, muss man also ein moralisches Sinnesvermögen annehmen, das nach der Art des alten äthos perspektivisch verfährt. Erst von dieser moralischen, vom äthos geprägten Wahrnehmung eines das System der Ethik integrierenden Ganzen der Welt aus kann Shaftesbury die eigentliche Aufgabe seines Essays angehen und die Tugenden und Verdienste (virtues und merits) erörtern. Das Wesen einer Tugend bestehe nämlich in ›einer bestimmten richtigen Einstellung oder verhältnismäßigen Affektion eines vernünftigen Wesens im Angesicht des moralischen Gegenstandes von Richtig oder Falsch‹ (»in a certain just disposition or proportionable affection of a rational creature towards the moral objects of right or wrong«, 177). Die Untersuchung der Tugenden und Verdienste ist damit grundlegend bestimmt. Sie kann auf diesem Prinzip auf bauend untersuchen, ob jeweils eine Einstellung zu den moralischen Gegenständen richtig ist oder nicht bzw. die Affektion im rechten Verhältnis zu moralischen Tatbeständen steht oder nicht. Und sie kann noch die Bedingungen benennen, unter denen richtige Einstellungen und verhältnismäßige Affektionen erfolgen können. Mit einer ausführlichen Falluntersuchung zu dieser Fragestellung endet das erste Buch von An Inquiry. Das zweite Buch des Traktats beginnt neu, nun als Tugendlehre. Nachdem erwiesen ist, dass und in welcher Weise moralische Handlungen dem Bewusstsein als Teil der gegenständlichen Welt gegeben sind, geht Shaftesbury zurück zu jenen natural affections und passions, die dem menschlichen Zuschauer und Zuhörer sich reflexiv als diese ethischen Gegenstände darstellen. Es geht darum, aus den natürlichen Affektionen und Passionen, wie sie als Teil der systemischen Ordnung der Welt den ethischen Wahrnehmungen vorliegen, moralische Pflichten abzuleiten. Shaftesbury setzt bei den gattungsspezifischen Naturaffektionen an, wie er sie in der Reproduktion der Gattung und in der Selbstbewahrung der Individuen bzw. self-systems findet. Als Beispiele nennt er »parental kindness, zeal for posterity, concern for the propagation and nurture of the young, love of fellowship and company, compassion, mutual succour and the rest of this kind« (192). Die Unabweisbarkeit der Pflichten wird nun nicht mehr über den Umweg über die Zuschauerposition des Bewusstseins nachgewiesen, sondern unmittelbar aus der systemischen Verfassung des ›Ganzen der Dinge‹ abgeleitet. Dabei erhalten Passionen und Affektionen wieder den Status sinnlicher Gegebenheit von Naturgegenständen zweiter Ordnung. Jetzt geschieht das aber nicht durch ästhetisch-ethische Sensibilität und die ihr entsprechenden Urteile, sondern indem die Fähigkeit, bestimmte Leidenschaften zu empfinden, ihrerseits als objektive, in der Natur gegebene Eigenschaft menschlicher Bewusstseine gesetzt wird: »Nor will anyone deny«, fährt Shaftesbury an der zitierten Stelle fort,



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that this affection of a creature towards the good of the species or common nature is as proper and natural to him as it is to any organ, part or member of an animal body, or mere vegetable, to work in its known course and regular way of growth. It is not more natural for the stomach to digest, the lungs to breathe, the glands to separate juices or other entrails to perform their several offices, however they may by particular impediments be sometimes disordered or obstructed in their operations (ebd.).

Die Pflichtenlehre spricht, wie man sieht, unmittelbar aus der objektiven Verfasstheit der systemischen Elemente und Operationen heraus. Dass sie dem Bewusstsein als ethische Gegenstände gegeben sein müssen, war schon vorausgesetzt, damit sie als Tugenden zur Geltung kommen können. Für die Ableitung der Pflichten aus den Tugenden ist aber die systemische Verfasstheit der natürlichen Affektionen ausschlaggebend. Die ethischen Anforderungen, die Shaftesbury nun im Einzelnen entwickelt, ergeben sich in ihrem normativen Charakter aus den möglichen Fällen und Kombinationen der systemischen Verhältnisse. Dabei werden fast unmerkbar die natürlichen Passionen in Sollenssätze umformuliert. Die erste und wichtigste kasuistische Kritik, in der das geschieht, folgt aus der Unterscheidung zwischen natural affections, die sich aus dem Gesamtsystem der Gattung ergeben, self affections, die im Teilsystem des Individuums angelegt sind, und schließlich der Möglichkeit, dass unnatural affections auftreten können, die in gar keinem systemischen Zusammenhang stehen. Natural affections führen zu Pflichten, die immer gelten. Self affections sind legitim, soweit sie den natural affections, die dem Gesamtsystem gelten, nicht widersprechen, andernfalls schlagen sie in Vergehungen (vices) um. Unnatural affections sind immer und unbedingt Vergehungen. An diese erste Unterscheidung schließen sich weitere an, die zu einer hochdifferenzierten Kasuistik der Tugenden und Pflichten führen. Die Ableitung aus den natürlichen Affektionen ist derjenige Teil von An Inquiry und damit der gesamten Characteristics, in dem Shaftesbury am unmittelbarsten und unvermischt die Sprache des logos spricht. Dennoch liegt, wie man gesehen hat, auch hier eine bestimmte Perspektivierung vor. Aus dem bloßen Bestehen des ethischen Systems, das ein Teil des ›Ganzen der Dinge‹ ist, treten die ethischen Forderungen heraus, die ein Sollen ausdrücken. An Inquiry blendet den Sprechenden so weit wie möglich aus, und der Traktat kennt keine Anrede an ein Publikum. Shaftesbury wahrt die randlose Einheit des logos. Aber gerade das führt dazu, dass in der strengen Theorie interne Perspektivierungen sichtbar werden. Die eine Art der Perspektivierung ist die Reflexion, durch die dem Bewusstsein natürliche Passionen als ethische Gegenstände überhaupt erst gegeben werden und die damit eine Ethik und ihr System ermöglicht. Die andere ist die Kritik der Kasuistik, die umgekehrt aus der nun gegebenen Ethik und ihrer Systematizität bestimmte ethische Forderungen – das Sollen der Pflicht – entspringen lässt. Die beiden Perspektivierungen überkreuzen sich in An Inquiry. Ihr Chiasmus im Traktat, der Ethik und Ethos so weit wie möglich gleichschaltet, zeugt für die Dringlichkeit der Frage nach Akzeptanz auch da, wo sie abwesend scheint.

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IV. Die Ethik des Ethos II. Kritik und Autorschaft

Was die Ethik vom aristotelischen Anfang an als den Riss zwischen Wissen und Handeln bzw. als die Kluft zwischen Wissenden und Handelnden kannte, kehrt in unseren Tagen in der Zweideutigkeit der Forderung wieder, auf Akzeptanz zu achten. Die Rolle, die An Inquiry in Shaftesburys Characteristics spielt, zeigt in diesem Gründungsdokument des Liberalismus den Riss und den Versuch, ihn zu schließen, gleichermaßen. Man kann nun nicht nur die Frage stellen, wie der logos der Ethik und ihrer Systemik kommuniziert werden kann. Das war die Frage, der Shaftesbury im Anschluss an An Inquiry die Briefe über den Enthusiasmus und den sensus communis widmete. Sie führte zurück in die rhetorische Tradition, das Verhältnis von pathos und ethos in ihr und schließlich in die rhetorikinterne Ethisierung des Pathos. In den Brief-Essays fügte Shaftesbury dem System der Ethik die Akzeptanzfrage des äthos nicht nur hinzu, sondern er ließ auch erkennen, wie die Äußerlichkeit dieser Zufügung auf das in sich verschlossene System zuhält und es sogar voraussetzt. Man kann aber des Weiteren auch die Frage stellen, wie der Traktat der Ethik die Konzentration auf den logos und seinen – fast – randlos thetischen Text bewerkstelligt. Diese Frage kann an die inneren Perspektivierungen im Text des Systems durch Reflexion und Kritik anschließen. Damit kommt man zu weiteren, nun nicht mehr traditionell rhetorischen Themen und Praktiken in den entstehungsgeschichtlich auf An Inquiry folgenden Essays. Gemeint sind im Besonderen die Praxis der Kritik in der Essaysammlung im Ganzen und die Theorie der Autorschaft als eines Selbstgesprächs in Soliloquy, or Advice to an Author. Man kann auch in diesen Fällen wieder von einem Ethos der Ethik sprechen. Aber damit ist dann nicht die kommunikative Rhetorik des äthos am Rande der Ethik als eines Systems gemeint, sondern ein literarisches Ethos, das den Text der Ethik durchzieht und ihn in seiner textuellen Einheit erst ermöglicht. Ausdrücklich gemacht, zeigt dieses innere – literarische – Ethos, was es braucht, den Text der Ethik zu verfassen. Das literarische Ethos verleiht dem Traktat der Ethik seine Einheit als logos und ist wesentlich für sein Bestehen. Aber es weist auch darauf hin, dass der Text der Ethik der Stütze bedarf. Die Stütze war im logos-Text von An Iquiry dem Blick weitgehend entzogen. Shaftesbury zeigt sie vor in anderen Stücken der Characteristics. Die Praxis der Kritik in Characteristics kann man an zwei Beispielen erläutern, die auf unterschiedlichen Ebenen der Textkonstitution wirksam sind. Zum einen hat Shaftesbury bei der Integration der Essays zu der dreibändigen Sammlung über alle Teilstücke ein Netz von Querverweisen gelegt, das sie untereinander verbindet und wechselseitig aufeinander bezieht. Man kann auf den ersten Blick darin den Versuch nachträglicher Komposition und Einheitsstiftung sehen. Aber die offensichtliche Nachträglichkeit der Sammlung und ihrer Einheit hat auch ihren eigenen Sinn. Shaftesbury hat die Texte der einzelnen Essays für die Komposition der Characteristics bearbeitet. Indem er in den Verweisen als sein eigener kritischer Herausgeber in Erscheinung tritt, stellt er das Zusammenspiel aus Disparatheit der Teile und Einheit



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der Sammlung heraus. Die Einheit besteht, sie braucht aber den sichtbaren Eingriff der kritischen Verweise. Das entspricht der Diagnose, die sich auf das Verhältnis zwischen dem Traktat von An Inquiry und den in der Sammlung vorangehenden und der folgenden Essays bezog. In seiner Systemik braucht und duldet An Inquiry keine Ergänzung und keine An- und Einbindung. Aber die Absolutheit des EthikTextes macht ihn angewiesen nicht nur auf die Texte des rhetorischen äthos, sondern mit gleicher Wichtigkeit auf das kritische Ethos der Textverfassung. Das andere Beispiel der Kritik liegt in den fünf Teilen der Miscellaneous reflections on the preceding treatises and other critical subjects zu Tage, die in der Sammlung den dritten und letzten Band ausmachen. Sie sind nicht nur tatsächlich nachträglich geschrieben, sondern sie sagen auch, dass es so ist. Sie sind zuerst und vor allem ›vermischte Reflexionen‹ über die Themen der ›vorangehenden Abhandlungen‹: »Review of enthusiasm. Its defence, praise.«, liest man in der Titelzeile der zweiten Miscellany (351). Die dritte Miscellany hebt den Charakter des kritischen Kommentars auf die nächste Stufe, wenn sie Betrachtungen über die Komposition der Sammlung ankündigt: »Further remarks on the author of the treatises. His order and design« (395). Die vierte Miscellany schreitet fort zum Metakommentar über die thematische Einheit und die Einheit der Schreibweisen: »Connection and union of the subject-treatises. Philosophy in Form« (419), die fünfte zum noch einmal weitergetriebenen Metakommentar über das Verhältnis zwischen Autor und Leser (und damit, wenn man so will, über das rhetorische äthos der Ethik): »Ceremonial adjusted between author and reader« (434). Die ›vermischten Reflexionen‹ setzen die Arbeit des Netzwerks aus Querverweisen in ausdrücklicher, theoretisch reflektierender Form fort. Dass die Einheitsstiftung gleichzeitig auch eine Öffnung ist – ›vermischte Reflexionen über die vorangehenden Abhandlungen und andere kritische Gegenstände‹ – ist kein Widerspruch. Die durch Verweisung und Kritik gestiftete Einheit ist die Einheit nicht nur der in den ›vorangehenden Essays‹ behandelten Themen, sondern der Einheit der Ethik selbst. Sie schließt notwendigerweise ›andere kritische Gegenstände‹ als die tatsächlich behandelten immer schon mit ein. Es kann auf den ersten Blick unangemessen erscheinen, angesichts dieser Praktiken der Kritik von einem Ethos der Ethik zu sprechen. Ohne Zweifel handelt es sich dabei auch um ein ästhetisches Spiel von Witz und Humor. Dass die Gattung – eigentlich die zur Gattung gemachte Ungattung – der ›Vermischten Reflexionen‹ ein Spielwerk aus Witz und Humor ist, erklärt die erste Miscellany: Peace be with the soul of that charitable and courteous author who, for the common benefit of his fellow authors, introduced the ingenious way of miscellaneous writing! It must be owned that, since this happy method was established, the harvest of wit has been more plentiful, and the labourers more in number than heretofore (339).

Aber man darf nicht vergessen, dass Witz und Humor Shaftesbury zufolge Denkund Ausdrucksweisen des sensus communis sind und damit wesentlich zum äthos in der Kommunikation der Ethik gehören. Die in jedem Sinne des Wortes witzige Bemerkung, mit der Einführung der ›Vermischten Reflexionen‹ habe der Autor

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die Ernte des Witzes bereichert und der Gemeinschaft aller Autoren einen Dienst erwiesen, verdeutlicht, was in diesen Inszenierungen das Ethos der Kritik genannt werden kann. Die Engführung der Kritik auf den Autor hin gibt dem Spiel des Witzes die Bedeutsamkeit eines Ethos. Der Autor ist für Shaftesbury diejenige Figur, an der Literatur sich als eine Sache der Ethik erweist. Und das Verfahren, das den Autor zum Autor macht, kann darum in nachdrücklicher Weise das Ethos dieser Ethik genannt werden. Dieses Verfahren ist nach Shaftesbury das Selbstgespräch. Autoren von Werken der Literatur oder der Philosophie sind die Experten und liefern die ersten Beispiele für das Selbstgespräch. Im Selbstgespräch unterzieht man sich der eigenen Kritik und wird darüber zur Person. Indem sich, wer schreibt, im Selbstgespräch der eigenen Kritik unterzieht, werden er oder sie dadurch zu Autor bzw. Autorin und zur Person. Autoren sind personale Urheber des Werks nur, indem sie im Selbstgespräch des Texts Autor und Person geworden sind. Diese Umkehrfigur macht den Kern von Soliloquy, or advice to an author aus. Aus ihr ergeben sich zwei miteinander verbundene Folgerungen: Das Selbstgespräch ist, erstens, das Medium, in dem Autorschaft und Kritik sich wechselseitig bedingen und verstärken. Indem Autorschaft und Kritik das Medium der wechselseitigen Bedingung und Verstärkung ausbilden, wird, zweitens, das Schreiben von Werken in Literatur oder Philosophie zum Modellfall und Quellpunkt für die Übung des Selbstgesprächs. In ihm bildet sich aus, was es heißt, eine Person und damit ein Subjekt der Ethik zu sein. Es geht um literarische oder philosophische Autorschaft, aber an ihr erkennt man auch mehr als nur literarische oder philosophische Autorschaft. Ohne literarische oder philosophische Autorschaft wüsste man gar nichts von dem, wofür sie exemplarisch einstehen. Man wüsste nicht, dass es im Ethos der Autorschaft um die Ethik der Person geht. »Go to the poets« (72) heißt es gleich auf einer der ersten Seiten des Soliloquy. »Nothing is more common with them than this sort of soliloquy« (ebd.). Damit ist zunächst nur soviel gemeint, als dass das Selbstgespräch eine literarische Form ist. Im ersten Teil des Soliloquy folgt eine Art Geschichte des Selbstgesprächs, die hin und her springt zwischen der Frage, wo Selbstgespräche in der Literatur vorkommen und wie die Form und Idee des Selbstgesprächs durch Literatur geformt worden ist. Man liest zum Beispiel vom Selbstgespräch auf der Bühne, vom Dialog in philosophischen Werken, vom Selbstgespräch, das der Gattung der Memoiren zu Grunde liegt, und von vielem anderen mehr. In diesem Sinne ist die Literatur, die die »gymnastic method of soliloquy« zur Verfügung stellt, die »powerful figure of inward rhetoric«, durch die »the mind apostrophizes its own fancies« (84). Der zweite Teil lenkt dann von der literarischen Form des Selbstgesprächs über zu einer Art Genealogie der Autorschaft selbst, sofern sie durch verschiedene Abschattungen des Selbstgesprächs – die Figur der inneren Rhetorik – geprägt ist. Bei Gelegenheit der Sophisten in Griechenland macht Shaftesbury es vielleicht zum ersten Mal ausdrücklich, worum es in dieser Genealogie letztlich geht: »Hence was the origin of critics, who, as arts and sciences advanced, would necessarily come withal into



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repute and, being heard with satisfaction in their turn, were at length tempted to become authors and appear in public« (108). Die Sophisten sind nur erst in mechanischer Abfolge erst Kritiker und dann Autoren. Aber damit zeigt sich an ihnen die Verbindung von Kritik und Autorschaft, die für Shaftesburys advice to an author bestimmend ist. Die frühesten Dichter Griechenlands verbinden dann, Shaftesbury zufolge, beides im Gegensatz zu den Sophisten in organischer, wenn auch eben nur naturwüchsiger, ihnen selbst unbewusster Weise: »They formed their audience, polished the age, refined the public ear and framed it right, that in return they might be rightly and lastingly applauded« (118). Dieses kulturelle Wechselverhältnis zwischen Kritiker-Autoren und Publikum wird in der Gegenwart durch ein funktionales und ökonomisches abgelöst, das nun nur allzu bewusst arbeitet: »In our days the audience makes the poet, and the bookseller the author« (ebd.). Im dritten und letzten Teil geht Soliloquy schließlich zur philosophischen Autorschaft und zum Selbstgespräch als ihrem wesentlichen Verfahren über. Hier tritt denn auch der Begriff der Person ausdrücklich neben den des Autors, um ihn oftmals ganz abzulösen. [I]t is the known province of philosophy to teach us ourselves, keep us the self-same persons and so regulate our governing fancies, passions and humours as to make us comprehensible to ourselves and knowable by other features than those of a bare countenance (127).

Damit ist erreicht, was man die Selbstexemplifizierung des Schreibenden nennen kann. Hier wird das zu Grunde liegende Wechselverhältnis von Kritik und Autorschaft zur Theorie der Person. Im Kritiker-Autor und seinem Selbstgespräch kommt das Ethos der Ethik zur Erscheinung. In der »method and manner of soliloquy« (152) erweist sich der Autor ebenso als sein eigener Kritiker, wie der Kritiker zum eigentlichen Autor wird. Damit spricht Shaftesbury die Verfahrensweise der Characteristics im Ganzen theoretisch aus. Die Theorie vom Autor als Kritiker und vom Kritiker als Autor verbindet das System der Ethik mit der Möglichkeit seiner eigenen Realisierung als Text, der geschrieben und gelesen werden kann und der Widerspruch oder Zustimmung erfährt. In den drei Teilen des Soliloquy ist selbstverständlich diese Theorie der Kritik als Autorschaft und der Autorschaft als Kritik zugleich als Selbstgespräch des Autors mit sich selbst durchgeführt. Nichts anderes als die theoretisch erforderte Praxis des Selbstgesprächs ist in der Formel vom Autor als Kritiker und vom Kritiker als Autor gemeint. An einzelnen Stellen und im Ganzen des Essays springt der Text immer wieder von einer Theo­ rie über Autorschaft um zur Ausübung der Autorschaft im Augenblick. Ein bemerkenswertes Beispiel ist im dritten Teil eine Passage, die Shaftesbury so einleitet: »While I am thus penning a soliloquy in form, I cannot forbear reflecting on my work« (143). Wenn Shaftesbury dann das Selbstgesprächs eines Autors in direkter Rede folgen lässt, ist es müßig entscheiden zu wollen, ob er ein Beispiel erfindet, sich selbst zum Beispiel nimmt oder einfach direkt über die Characteristics spricht. Ebenso ist es im Ganzen des Essays unmöglich zu entscheiden, ob der ›Rat an ei-

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Rüdiger Campe

nen Autor‹, auf das kritische Selbstgespräch zu setzen, an andere gerichtet ist oder an sich selbst oder ob es die Befolgung des Rats bereits ist. * * *

Hinsichtlich des Autor-Kritikers und Kritiker-Autors von einem Ethos der Ethik zu sprechen, setzt voraus, dass man diese Art der Autorschaft klar von der Werkherrschaft und dem unterscheidet, was Foucault und andere als juridisch-philologische Autorschaft analysiert haben.13 Der Autor-Kritiker ist eine Figur nicht um 1800, sondern um 1700. Zu denken ist nicht an Diderot oder Goethe, sondern an Bayle oder eben Shaftesbury. Der Autor-Kritiker beherrscht sein Werk nicht, er ist vordringlich weder als sein Besitzer gedacht noch als der Name, unter dem Werke ediert werden. Er ist der Schreibende in einer Schreibszene, die ein Arbeits- und Verfahrensensemble ist, an dem verschiedene Faktoren mit unterschiedlichen Möglichkeiten und Verantwortlichkeiten beteiligt sind.14 Die Schreibszene des KritikerAutors stellt nicht ein Dokument in den Mittelpunkt, sondern eine Werkstätte. In ihr werden Formen des Handelns und Erkennens koordiniert und es kommen Mittel und Instrumente zum Einsatz, die erst zusammen die Schreibszene ausmachen und doch in ihren Unterschieden erkennbar bleiben.

13 Vgl. Michel Foucault: Was ist ein Autor?, übers. von Katrin von Hofer und Anneliese Botond, in: ders.: Schriften zur Literatur, München 1974, 7–31; Heinrich Bosse: Autorschaft ist Werkherrschaft – Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 22014. 14 Zur Schreibszene allgemein: Rüdiger Campe: Writing Scenes and the Scene of Writing – A Postscript, in: Modern Language Notes 136/5 (2021), 1114–1133; zur Schreibszene um 1700: Rüdiger Campe: Regelpoetik oder Genie, in: Handbuch Literatur & Philosophie, hg. von Andrea Allerkamp und Sarah Schmidt, Berlin/Boston 2021, 115–124.

»Alle unser Wissen muß praktisch seyn« Meiers Philosophische Sittenlehre und ihre Grundlegung in einer Theorie des sinnlichen Menschen Evelyn Dueck »Es ist ein sehr närrischer Fehler mancher sorgenvollen Leute, daß sie zwar vortref liche Theoretici aber ungemein schlechte Practici sind.«1

I. Einleitung

An kaum einer anderen Stelle scheint die Abhängigkeit der Schriften Georg Friedrich Meiers von dem Werk seines Lehrers und Freundes Alexander Gottlieb Baumgarten so offensichtlich wie in der Philosophischen Sittenlehre, die Meier in fünf umfangreichen Bänden zwischen 1753 und 1761 veröffentlicht.2 Die Publikation dieser Bände geht zurück auf Baumgartens Vorlesungen an der Friedrichs-Universität in Halle, die Meier nach dem Wechsel seines Lehrers nach Frankfurt an der Oder im Jahr 1740 übernimmt. Grundlage der Vorlesung bleibt Baumgartens Ethica philosophica (1740), und Meier unterstreicht in seiner Vorrede3: Ich habe, des Herrn Professor Baumgartens in Franckfurth an der Oder philosophische Sittenlehre, zum Grunde gelegt: und ob ich gleich kein blosser Uebersetzer dieses gründlichen Buchs gewesen bin, so bin ich es doch wohl zufrieden, daß man meine Schrift nur für eine weitere Ausführung der Baumgartischen Sittenlehre hält.

Michael Albrecht erklärt diese Nähe mit dem Argument, dass es den Auf klärern der Leibniz-Wolff’schen Schule nicht um individuelle Originalität, sondern um die Wahrheit gegangen sei.4 Die Tatsache allerdings, dass Meiers Sittenlehre um ein Vielfaches umfangreicher ist als Baumgartens Ethica, lässt sich nicht allein mit dem Hinweis auf die notwendig weniger konzise Popularisierung von Baumgartens Denken erklären, sondern ist Meiers Ziel geschuldet, die praktische Umsetzung 1 Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre II, Hildesheim/Zürich/New York 2007, 664 (§ 518). Der Ausgabe des Georg Olms Verlags liegt die zweite Auflage der Sittenlehre zugrunde, die 1762–1774 in Halle bei Karl Hermann Hemmerde erschien. Das Zitat aus dem Titel stammt aus: Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre I, Hildesheim/Zürich/New York 2007, 322 (§ 139). 2 Vgl. Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – ein intellektuelles Porträt – Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 20–22. 3 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 2 [Vorrede]. 4 Vgl. ebd., 6 [Vorwort]. Der vorliegende Beitrag leistet keinen detaillierten Vergleich der beiden Werke – ein solcher liegt meines Wissens bislang nicht vor.

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der bei Baumgarten knapp formulierten Argumente im Alltag zu erleichtern 5: »Es ist mir vornemlich darum zu thun, die philosophische Sittenlehre für mehrere Menschen brauchbar zu machen.« Besonders die Ethik, die Meier als »vortrefliche[] Wissenschaft« 6 bezeichnet, müsse einem größeren, auch wenig philosophisch gebildeten Publikum zugänglich gemacht und ihre Anwendung im Alltag durch Beispiele veranschaulicht werden. Diese Ausrichtung auf die Praxis macht die Sittenlehre nicht nur zu Meiers umfangreichsten Werk und bestimmt in entscheidendem Maße über die Wahl der deutschen Sprache hinaus dessen sprachliche Gestaltung, sondern sie geht außerdem auf die Überlegungen zu den ›Gemütsbewegungen‹ und der ursprünglichen ›Lebendigkeit‹ der sinnlichen Erkenntnis in Meiers ästhetischen Schriften zurück. Im Folgenden soll dieser Ausrichtung auf die praktische Umsetzung in Meiers Sittenlehre und in seinen drei Jahre zuvor erschienenen Anfangsgründen aller schönen Künste und Wissenschaften (1748–1750) sowie in der frühen Schrift Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) nachgegangen und gezeigt werden, dass sie auf einer Theorie des sinnlichen Menschen beruht, die zwar grundlegend (sowohl formal als auch inhaltlich) auf Baumgartens Schriften zurückgeht, diese aber praktisch deutet. In letzter Konsequenz konterkariert dieser praktische Anspruch sogar den Wahrheitsanspruch des Projekts und macht aus der sinnlichen Empfindung eine allgemeine Pflicht. II. »Wir müssen allemal das Beste thun«. Georg Friedrich Meiers Sittenlehre

Meiers Ethik versteht sich im wörtlichen Sinne als Sittenlehre – eine Schrift also, in der das moralisch gute und das moralisch schlechte menschliche Verhalten und Handeln unterschieden wird, so dass hieraus praktische Anleitungen abgeleitet und an Beispielen veranschaulicht werden können. Ausgangspunkt ist die Beschreibung des Menschen in seinem »natürlichen Zustand[]«7, das heißt unabhängig von seiner gesellschaftlichen Stellung und Rolle (aber auch unbeeinträchtigt von der Erbsünde), mit dem Ziel, seine ›innerlichen‹ und ›natürlichen‹ Pflichten zu bestimmen und zu beschreiben, also diejenigen Pflichten, die nicht von außen aufgezwungen oder von dem Willen eines Anderen abhängig sind 8: 5 Ebd., 2 [Vorrede]. Hierauf hat bereits Nele Schneidereit hingewiesen. Sie sieht Meiers Neuerungen vor allem im Bereich der »Auswahl und Anordnung des Stoffes«. Sie stellt dabei allerdings Meiers Allgemeine practische Weltweisheit von 1764 in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen (vgl. Nele Schneidereit: Unwissenheit, Irrtum und Zweifel in Georg Friedrich Meiers Moralphilosophie, in: Georg Friedrich Meier (1718–1777) – Philosophie als »wahre Weltweisheit«, hg. von Gideon Stiening und Frank Grunert, Berlin/Boston 2015, 211–229, hier 212. 6 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 3 (§ 1). 7 Ebd., 20 (§ 10). Für das Zitat in der Kapitelüberschrift siehe: ebd., 439 (§ 175). 8 Ebd., 9 (§ 5). Vgl. ebd., 5–9 (§§ 3 f.). Die Sittenlehre darf folglich keine »Zwangspflichten« enthalten, die dem Menschen aufgezwungen werden können, die Meier allerdings in anderen Kontexten als der philosophischen Sittenlehre durchaus nicht verwirft (ebd., 5 (§ 3)).



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Ich verstehe durch die philosophische Sittenlehre, welche man auch die philosophische Moral zu nennen pflegt, die Wissenschaft von den innerlichen natürlichen Pflichten eines Menschen, in so ferne derselbe in seinem natürlichen Zustande betrachtet wird.

Meier legt damit ein Menschenbild zugrunde, das von der Bestimmbarkeit einer allgemeinen »menschliche[n] Natur« 9 ausgeht und so die Allgemeingültigkeit der Ethik begründet10: »Der Mensch ist ein vernünftig freyes Wesen«. Von den Tieren unterscheidet er sich durch die Fähigkeit, selbstständig Entscheidungen zu treffen und zu handeln11: Der Mensch ist ein Geschöpf, welches nach eignen Einsichten würken soll. Andere Geschöpfe erreichen die Zwecke, die ihnen der Urheber der Welt gesetzt hat, blindlings, durch einen Zwang der Natur. Allein der Mensch ist zu Absichten erschaffen, die er selbst vor Augen haben soll, und die er mit Ueberlegung erreichen soll.

Nur diese grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, moralische Pflichten zu verstehen und sich frei für oder gegen ihre Einhaltung zu entscheiden, garantiere die »Verbindlichkeit«12 des Einzelnen zu moralischen Handlungen und ermögliche es, ihn für ein unmoralisches Verhalten zu bestrafen13: »Hätten wir keine Freyheit, so wäre keine einzige unserer Handlungen frey, wir könnten so wenig sündigen, als rechtmäßig handeln. Folglich fielen alle Pflichten weg, und die Sittenlehre, samt allen übrigen practischen Wissenschaften, wären abgeschmackte Wissenschaften.« Mag dieses Menschenbild auf den ersten Blick modern wirken, so machen Meiers weitere Erläuterungen über das Ziel der Sittenlehre klar, dass der Mensch hier nicht als ein sich frei entfaltendes Individuum gedacht wird, sondern als Teil eines religiösen und gesellschaftlichen Ganzen14: Und daher müssen wir uns selbst lebendig, von einer doppelten Seite, zu betrachten suchen. Einmal, in so ferne wir in der Kette der erschaffenen Wesen ein Zweck sind, um welches willen eine ganze Welt voll Creaturen um und neben uns sich befindet; zum andern, in so ferne wir in eben dieser Reihe der Dinge ein Mittel sind, welches um tausend anderer Dinge willen vorhanden ist. 20 (§ 10). Vgl. Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 434 f. (§ 422). Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 142 (§ 58). Meier sieht hier den wesentlichen Unterschied seiner Sittenlehre zur Philosophie Spinozas (vgl. ebd., 220 f. (§ 97)). Er versucht so auch zu erklären, warum ein Mensch aktiv nach dem Guten strebt, obgleich sein Schicksal von Gott vorherbestimmt ist (vgl. ebd., 228 (§ 102)). Vgl. Alexander Aichele: ›Der Mensch denkckts, Gott lenckts‹ – Georg Friedrich Meiers Versuch eines kompatibilistischen Freiheitsbegriffs, in: Georg Friedrich Meier (1718–1777) [Anm. 5], 231–243. 11 Georg Friedrich Meier: Philosophische Sittenlehre III, Hildesheim/Zürich/New York 2007, 26 (§ 532). 12 Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 336 (§ 383). Vgl. Schneidereit: Unwissenheit, Irrtum und Zweifel [Anm. 5], 215 f. 13 Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 350 (§ 651). 14 Meier, Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 641 (§ 504). 9 Ebd.,

10 Meier:

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In wesentlichen Teilen entwickelt folglich die Sittenlehre Überlegungen dazu, wie sich der einzelne Mensch in diese ›ganze Welt‹ der göttlichen Schöpfung möglichst konfliktfrei einfügt.15 Die Kapitel zu den »natürlichen Pflichten gegen Gott« und die religiöse Praxis nehmen beinahe die ersten tausend Seiten des Werkes ein. Meier unterstreicht gleich zu Beginn, dass die »Ehre« und der »Dienst Gottes«16 die Grundlage seiner Ethik bilden17: »Wir machen von den Pflichten gegen Gott von Rechtswegen den Anfang, weil sie die allerwichtigsten und grösten unter allen menschlichen Pflichten sind«. Es geht Meier allerdings nicht um die passive Unterwerfung unter geistliche und weltliche Autoritäten, sondern um die Fähigkeit und den Willen jedes Menschen, seinen Platz in der bestehenden, vorherbestimmten Ordnung zu finden und genau hierdurch ›vollkommen‹ und ›glückselig‹ zu werden18: Ein vernünftiges Wesen, welches glückselig seyn will, muß sich durchaus in die Regeln der Ordnung bequemen, in welche es durch die göttliche Vorsehung gesetzt worden. Eine jede Abweichung von einer wahren Regel ist, eine Verirrung von dem Wege zur Vollkommenheit und Glückseligkeit. Und der Mensch, der seine Vollkommenheit erreichen will, muß alle Regeln, denen er von der Natur unterworfen ist, aufs genaueste beobachten. […] Ohne Tugend verwildert die menschliche Natur, und geräth in die äusserste Verwirrung. Ohne Tugend muß der Mensch verderben, und in einen Abgrund der Unglückseligkeit versincken.

15 »Wie vortreflich ist nicht die Religion! Sie macht gehorsame Kinder, gehorsame Eheweiber, gehorsame Bediente, gehorsame Unterthanen« (Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 482 (§ 192)). So geht es auch nicht darum, jegliches Unglück zu vermeiden, sondern den höheren Sinn hinter »Noth, Elend und Unglücksf älle[n]« zu begreifen, die »vortrefliche Mittel [seien], wodurch der moralische Schlaf unterbrochen werden kan« (Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 404 (§ 412)). »Krankheiten, frühzeitiger Tod, Verfolgung, Haß der Menschen scheinen ofte was böses zu seyn, sie sind uns aber in der That sehr vortheilhaft« (ebd., 459 f. (§ 433)). 16 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 75 (§ 34). 17 Ebd., 73 (§ 33). 18 Ebd., 1 f. (§ 1). »Es wird demnach zur Vollkommenheit der Theile erfodert, daß sie dem Ganzen recht angefugt und angepaßt werden, und daß sie sich, als Mittel zu dem Zwecke aller übrigen Theile und des Ganzen, verhalten. Der Mensch ist nicht ein von allen übrigen abgesondertes Ganze, sondern er ist als ein Glied in die Kette aller Wesen geflochten, er ist ein Bürger in der Stadt Gottes, und ein Theil der ganzen Welt« (ebd., 86 f. (§ 40)). Grunert ordnet den »Schlüsselbegriff[]« der Glückseligkeit von Meiers Ethik ausgehend in den größeren Kontext der Auf klärungsphilosophie von Thomasius über Wolff bis zu Kant ein. Meiers Werk spiele, so Grunert, eine wichtige Rolle bei der »Subjektivierung des Glücksbegriffs«, der zu seiner »Dequalifizierung« geführt habe (Frank Grunert: Alles ist gut – Glück, Unglück und Glückseligkeit im Werk von Georg Friedrich Meier, in: Denken und Handeln – Perspektiven der praktischen Philosophie und der Sprachphilosophie, Festschrift für Matthias Kaufmann zum 65. Geburtstag, hg. von Andrej Krause und Danaë Simmermacher, Berlin 2020, 11–29, hier 11 u. 13. Zum »Imperativ der Vervollkommnung«, den Baumgarten von Wolff übernimmt, vgl. Clemens Schwaiger: Baumgartens Ansatz einer philosophischen Ethikbegründung, in: Aufklärung – Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 20 (2008), 219–237, hier 227 f.



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Die Sittenlehre hilft also dem Menschen, ›glückselig‹ zu werden, weil sie ihm erlaubt, sich durch die eigene Vervollkommnung immer besser in die göttliche Schöpfung einzufügen19: »Nemlich die Pflichten gegen uns selbst sind alle Pflichten, wodurch wir uns als Zwecke vollkommener machen […] Oder alle diejenigen freyen Handlungen, wodurch wir unsere eigene Vollkommenheit, nicht als ein Mittel, sondern als einen Zweck zu erreichen suchen.« Die wichtigste Grundlage hierfür ist die Kenntnis der menschlichen Natur sowie des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns20: »Aus dem vorhergehenden erhellet, daß wir, ohne Untersuchung unserer eigenen Vollkommenheiten, unmöglich glückselig werden können.« Das Ziel der Sittenlehre sei, so Meier, die Beförderung der »beste[n] Welt«, die nur verwirklicht werden könne, »wenn ein jeder Theil derselben so vollkommen ist, als möglich«.21 Entscheidend ist dabei zum einen der Gedanke, dass sich der Mensch nicht passiv in bestehende Ordnungen einfügt, sondern das moralische Verhalten und Handeln und damit die eigene Vollkommenheit beständig aktiv anstrebt, weil dies mit einer angenehmen Empfindung einhergeht;22 zum anderen die Annahme, dass der Mensch sich nur graduell der Gott vorbehaltenen vollständigen Vollkommenheit und Erkenntnis anzunähern vermag und damit die Verbesserung der moralischen Tugenden als ein lebenslanger Prozess gedacht wird 23: »Die Tugenden sind Fertigkeiten, und jederman weiß, daß wir die Fertigkeiten durch Uebungen erlangen und vermehren.« Die Beurteilung dieser Fertigkeiten beruht auch in Meiers Sittenlehre auf den Kriterien der Wolff’schen Erkenntnistheorie, die auf die Klarheit, Deutlichkeit, Vollständigkeit, Ausführlichkeit und Lebhaftigkeit jeder Erkenntnis abzielen.24 Wie bereits in den Anfangsgründen tritt Meier auch in der Sittenlehre jedoch entschieden für die Einbindung der ›unteren Erkenntnisvermögen‹ ein und wehrt sich gegen eine rein rationale Einsicht in das moralisch Gute und Schlechte.25 So ermög19 Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 338 (§ 384). Meier entwirft die Vervollkommnung als einen nicht abschließbaren Prozess, den jeder Mensch »nach seinem besten Vermögen« verfolgen solle (Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 192 (§ 85)). Dass es bei den »Pflichten gegen die Seele, gegen den Körper, und gegen den äusserlichen Zustand« nicht um eine im heutigen Sinne verstandene Perfektionierung des Menschen geht, macht insbesondere der Abschnitt Von den natürlichen Pflichten gegen sich selbst deutlich (Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 339 (§ 385); vgl. ebd. 335–668 (§§ 383–521)). 20 Ebd., 477 (§ 440). 21 Ebd., 351 (§ 390). »Gott macht keinen Faullenzer glückselig. Unsere Glückseligkeit beruhet auf unserm eigenen tugendhaften Verhalten« (ebd., 653 (§ 511)). 22 Deutlich wird hier der Unterschied zu Christian Wolffs Ethik, in der dieser den Sinnen vorhält, sie schläferten das Gewissen ein, da sie nur das Gegenwärtige zeigten und so begehrenswert machten (vgl. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, in: ders.: Gesammelte Werke I. Abt., IV, hg. von H. W. Arndt, Hildesheim/New York 1976, 70 f. (§§ 119–121) und 109 f. (§ 180). 23 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 552 (§ 221). 24 Vgl. ebd., 31–33 (§ 16). 25 »Ein Gelehrter, oder auch ein anderer Mensch, kan, durch eine weitläuftige, richtige, klare und gewisse Erkenntniß vortreflicher Sachen und Wahrheiten, seine Erkenntnißkraft ungemein

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lichten beispielsweise die angenehmen Empfindungen der Sinnesorgane, die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung unmittelbar zu fühlen 26: »Und man kan also im eigentlichen Verstande sagen, daß wir schmecken und sehen können, wie freundlich der Herr sey.« Die unteren Erkenntnisvermögen vergleicht Meier mit einem »Fernglaß, durch welches die Seele in der Gottheit vieles und mancherley entdecken kan«, und er nimmt gar an, dass eine von den Sinnen unabhängige Erkenntnis aufgrund der menschlichen Natur gar nicht möglich sei 27: »Allein da wir, ohne dem Gebrauche unserer sinnlichen Erkenntnißvermögen, den Verstand und die Vernunft zu gebrauchen gar nicht im Stande sind; so ist es eine ganz vergebliche Arbeit, wenn man sich bemühen wolte, Gott sich deutlich ohne alle sinnliche Vorstellungen vorzustellen.« Diese These einer onto- wie phylogenetischen und – so zeigt die scharfe Gelehrtenkritik – auch qualitativ wertenden Abhängigkeit der oberen von den unteren Erkenntnisvermögen entwickelt Meier vor allem in seinen ästhetischen Schriften.28 Die unteren Erkenntnisvermögen und die künstlerische Praxis macht er hier zu den unabdingbaren und entwicklungsgeschichtlichen Voraussetzungen des Verstandes und der Kunsttheorie. Die sinnliche Empfindung wird aus dieser Perspektive als ein ursprüngliches und ›natürliches‹ Empfinden gedacht, das an der Intensität der durch die Sinne hervorgerufenen Vorstellungen festzumachen ist.29 Die unteren Erkenntnisvermögen bezeichnet Meier folglich nicht nur als die Schwestern, sondern auch als die »Grosmütter«30 der Logik. Ihre Vernachlässigung in einer Gesellschaft führe zu »barbarischen finstern Zeiten« 31, weil sie die Grundlage nicht nur des menschlichen Empfindens, sondern auch des rationalen Denkens untergrabe32: »Eine geschickte Fabel zu machen, ist vielleicht noch nützlicher für das menschliche verbessern. Allein wenn diese seine Erkenntniß nicht lebendig genung ist, so wird dadurch die Begehrungskraft nicht gebessert, weil sie alsdenn keinen Einfluß in dieselbe hat« (Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 263 (§ 619)). 26 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 253 (§ 114). 27 Ebd., 267 (§ 118). 28 »Es ist demnach eine Sünde, wenn man, in der Selbsterkenntniß, Mücken saugt und Cameele verschluckt; wenn man zwar genung von sich selbst weiß, aber zum Unglück lauter Kleinigkeiten und unerheblichere Dinge, deren Erkenntniß sehr wenigen und geringen Nutzen verursacht, und die wohl gar schädlich ist« (Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 371 (§ 399)). Vgl. ebd., 558 (§ 472). 29 Vgl. Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften II, Hildesheim/New York 1976, 174 f. (§ 341). Auch in der Sittenlehre geht Meier davon aus, dass die »sinnlichen Vorstellungen uns mehrentheils die Sachen zu groß vorstellen. Kein Sittenlehrer kan es tadeln, wenn ein Mensch über gutes Essen und Trinken, und andere dergleichen Güter, ein Vergnügen empfindet. Allein das ist der Fehler der meisten Menschen, daß ihr Vergnügen über die irrdischen wahren Güter zu stark ist« (Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 220 f. (§ 603)). 30 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften I, Hildesheim/New York 1976, 21 (§ 13). Vgl. Evelyn Dueck: Die »krumme Bahn der Sinnlichkeit« – Sehen und Wahrnehmen in Optik, Naturforschung und Ästhetik des 17. und 18. Jahrhunderts, Paderborn 2022, 227 f. 31 Meier: Anfangsgründe I [Anm. 30], 26 (§ 15). 32 Ebd., 33 (§ 20).



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Geschlecht, als den Durchgang des Mercurs durch die Sonne zu berechnen, oder zu finden, wer das Schreiben zuerst erfunden hat.« Formuliert Meier diese Auffassung in den Anfangsgründen schärfer als in der Sittenlehre, so findet sich in beiden Werken keine unkritische Aufwertung der Sinnlichkeit. Vergleicht er den Verstand in den Anfangsgründen mit einem Gärtner, ohne dessen Eingreifen ein Garten verwildere,33 so unterstreicht er auch in der Sittenlehre die Bedeutung des Verstandes für die Beurteilung des moralischen Verhaltens34: So lange wir uns nur dunckele und sehr verworrene Vorstellungen, von unsern Vollkommenheiten und Unvollkommenheiten machen, so lange sind wir nicht im Stande, in einer solchen Finsterniß und schwachen Morgendämmerung, die Scheinvollkommenheiten von den wahren Vollkommenheiten, die Scheinunvollkommenheiten von den wahren Unvollkommenheiten, die Scheingüter von den wahren Gütern, und die Scheinübel von den wahren Uebeln hinlänglich zu unterscheiden.

Die zentrale Gefahr einer nicht angeleiteten sinnlichen Empfindung besteht für Meier in der Beförderung der Schwärmerei, des Anthropomorphismus und des Aberglaubens, und er weist auch in der Sittenlehre der Ästhetik die Aufgabe zu, die unteren Erkenntnisvermögen zu verbessern 35: »Wir müssen unsere untere Erkenntnißkräfte aufs möglichste, nach den Regeln der Aesthetik, zu verbessern suchen, damit wir auf eine desto vollkommenere Art Gott durch dieselben zu verehren im Stande sind.«

33 Vgl. ebd., 19 (§ 12) und 26 f. (§ 15). »Freylich, wenn man, durch das Vergnügen, die fleischliche, grobe, viehische und bloß sinnliche Wollust der säuischen Epicuräer verstehen wolte: so würde man die menschliche Natur beschimpfen, und sie bis zu der Stufe der unvernünftigen Thiere erniedrigen, wenn man ein Prediger der Wollust und eines solchen Vergnügens seyn wolte« (Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 93 (§ 42)). Vgl. ebd., 144 f. (§ 59), 224–226 (§ 101). »Die wenigsten Menschen verbessern, ihre sinnlichen Erkenntniskräfte. Daher muß man leyder freylich zugestehen, daß die sinnliche Erkenntniß Gottes bey den meisten Menschen elend, falsch, grob und sehr gef ährlich ist« (ebd., 267 f. (§ 118)). 34 Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 464 f. (§ 435). Vgl. ebd., 532 (§ 461). 35 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 251 (§ 113). »Da nun die Aesthetik zeigt, wie man die sinnliche Erkenntniß aufs möglichste und vollkommenste auf heitern soll; so muß ein wahrer Verehrer Gottes, nach den Regeln dieser Wissenschaft, Gott und seine Vollkommenheiten zu erkennen suchen« (ebd., 248 (§ 112)). Für Baumgartens Ethica hält Mirbach fest: »Ästhetik und Ethik sind mithin insofern verbunden, als sie sich analog und komplementär ergänzend auf jeweils eines der zwei Vermögen der menschlichen Seele, auf das Erkenntnis- respektive das Begehrungsvermögen beziehen – unterschieden erscheinen sie jedoch in der Hinsicht, als das leitende Paradigma der Ästhetik als Erkenntnis, das der Ethik hingegen als Handeln bestimmt werden kann. Doch Ästhetik und Ethik sind bei Baumgarten auch intrinsisch miteinander verknüpft, da die Paradigmen des (sinnlichen) Erkennens und des Handelns nicht nur für jeweils die eine oder die andere, sondern für beide Disziplinen maßgebend sind« (Dagmar Mirbach: Ingenium venustum und magnitudo pectoris – Ethische Aspekte von Alexander Gottlieb Baumgartens »Aesthetica«, in: Aufklärung 20 [Anm. 18], 199–218, hier 199 f.

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III. Der Mensch als freies begehrendes Wesen

Voraussetzung für dieses beständige Streben nach der Verbesserung der Erkenntnisvermögen und der moralischen Tugenden ist, dass Meier den Wunsch nach Vollkommenheit und das Streben nach Glückseligkeit in der menschlichen Natur, genauer in der ›Begehrungskraft‹ ( facultas appetitiva) begründet sieht, die er Wolff und Baumgarten folgend den Erkenntnisvermögen als »andere Helfte der Seele«36 zur Seite stellt und mit einer moralischen Wertung verbindet 37: »Ja unsere ganze Begehrungskraft ist so eingerichtet, daß wir nur etwas begehren können, in so ferne wir es uns als gut vorstellen; und verabscheuen, in so ferne wir es uns als böse vorstellen.« Das Empfinden des Guten und des Schlechten ebenso wie das Streben nach dem Guten und das Zurückweichen vor dem Schlechten sei dem Menschen gleichsam angeboren und die moralischen Pflichten könnten damit aus dem begehrenden bzw. abwehrenden Verhältnis des Menschen zu sich selbst und seiner Umgebung abgeleitet werden, »denn alle Pflicht ist eine Begierde oder Verabscheuung.«38 Diese »Theorie der Verbindlichkeit« sollte nicht allein als ein »kleine[s] Kabinettstück der Verknüpfung der Theorie sittlicher Handlungen mit einer psychologischen Theorie der Motivation«39 gedeutet, sondern auch in den Kontext der zeitgenössischen Naturforschung eingeordnet werden. Bereits im 17. Jahrhundert geht diese davon aus, dass jedes Lebewesen – der Mensch, aber auch Tiere und Pflanzen – von Natur aus nach angenehmen Empfindungen strebt und unangenehme Empfindungen zu vermeiden sucht. So erkennt beispielsweise René Descartes den Sinnen aufgrund ihrer Täuschungsanfälligkeit zwar jeglichen Erkenntniswert ab, hebt jedoch in den Méditations (1641) die Bedeutung der sinnlichen Empfindung für die Suche nach Nahrung und Schutz hervor.40 Ende des 17. Jahrhunderts findet sich dieses Ein36 Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 205 (§ 598). Zu Baumgartens Theorie des Begehrens vgl. Frauke Berndt: Facing Poetry – Alexander Gottlieb Baumgarten’s Theory of Literature, trans. by Anthony Mahler, Berlin/Boston 2020, 33–41. Vgl. Caroline Torra-Mattenklott: Metaphorologie der Rührung – Ästhetische Theorie und Mechanik im 18. Jahrhundert, München 2002, 209– 225. 37 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 69 (§ 32). Aus diesem Grund argumentiert Meier auch, dass die »Erkenntniskraft […] die Ursach und die Wurzel der Begehrungskraft« sei (Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 206 (§ 598)). Im ersten Teil seiner Sittenlehre geht er davon aus, dass die Erkenntnis Gottes die »Begehrungskraft auf eine gemässe Art in Bewegung setze[n], und daß wir also Handlungen begehren und thun, weil Gott gerecht, heilig u. s. w. ist, und um eben der Ursach willen Handlungen verabscheuen, und unterlassen« (Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 76 (§ 34)). 38 Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 208 (§ 599). 39 Schneidereit: Unwissenheit, Irrtum und Zweifel [Anm. 5], 216 f. Von Baumgarten ausgehend führt Mirbach die Gemütsbewegungen auf Leibniz’ ›Prinzip des Besten‹ zurück: »Dieser Übergang zum Größten, der in nichts anderem als in der höchstmöglichen Annäherung der menschlichen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen an das Göttliche besteht, bildet als Finalgrund den Dreh- und Angelpunkt von Baumgartens philosophischer und so auch seiner ästhetischen Reflexion« (Mirbach: Ingenium venustum [Anm. 35], 216). 40 Vgl. René Descartes: Les Méditations, les objections et les réponses (traduction de l’édition latine



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treten für den alltagspraktischen Nutzen der Sinne auch in den Schriften des empiristischen Naturforschers Robert Hooke und des niederländischen Astronomen Christiaan Huygens.41 Schon hier kommt der Aspekt der Gefühlsqualität ins Spiel, wenn Huygens über den Sehsinn der Tiere schreibt42: »Si nous faisons réflexion sur la faculté que les animaux ont de voir, sans laquelle il n’y auroit pas moyen de paître ny d’éviter les dangers […] rien ne contribuë tant au bonheur de la vie pour la conserver & pour l’embellir.« Besonders augenfällig wird diese Verbindung des alltäglichen Nutzens mit der empfundenen Freude (›pleasure‹, ›convenience‹) Anfang des 18. Jahrhunderts in der sensualistischen Epistemologie, beispielsweise in den Schriften George Berkeleys oder Étienne Bonnot de Condillacs;43 sie findet weitere Verbreitung durch die Einträge in Nachschlagewerken wie Zedlers Universallexikon (1731–1754) oder der Encyclopédie (1751–1765).44 Auch in Meiers Sittenlehre wird die Gefühlsqualität direkt mit der Überlebensfähigkeit verknüpft45: Ein mißvergnügter Zustand des Gemüths verleidet uns alles, wir werden kraftlos, und die Gesundheit so gar, beydes der Seele und des Körpers wird dadurch geschwächt. Wer kan also wohl noch zweifeln, daß wir von der Natur, als einer liebreichen Mutter, zum Vergnügen berufen und verbunden sind? Das wahre Vergnügen entsteht allemal, aus einer wahren Erkenntnis wahrer Vollkommenheit.

In einer gegen Descartes’ Les passions de l’âme (1649) gerichteten Schrift fasst Meier 1744 dieses Vergnügen und Missvergnügen unter dem Oberbegriff der »Gemüthsbewegungen« zusammen und erklärt, warum es sich hierbei nicht um passive Leidenschaften, sondern um eine aktive »Kraft« der Seele handle.46 Ausgehend von angeborenen »nothwendigen«47 Vorstellungen bringe die seelisch-geistige Sinnesde 1641), in: ders.: Œuvres philosophiques II, publ. par Ferdinand Alquié, Paris 1967, 375–890, hier 494–496 und 502 f. 41 Vgl. Robert Hooke: The Posthumous Works of Robert Hooke, London 1971, 8. 42 Christiaan Huygens: La pluralité des mondes, trad. de M. Dufour, Paris 1702, 75 f. 43 Vgl. George Berkeley: An Essay towards a New Theory of Vision, in: Philosophical Works Including the Works on Vision, hg. von Michael R. Ayers, London 1975, 1–59, hier 34 (§ 87). Vgl. Étienne Bonnot de Condillac: Traité des sensations – A Madame la Comtesse de Vassé I, Paris 1754, 6 f. 44 Vgl. Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden XXXVII, hg. von Johann Heinrich Zedler, Leipzig/Halle 1743, 1692. Vgl. Denis Diderot und Jean-Baptiste Le Rond d’Alembert: [Art.] Sens, in: dies.: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers, par une Société de Gens de Lettres XV, Neuchâtel 1765, 26. 45 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 92 f. (§ 42). Vgl. Grunert: Alles ist gut [Anm. 18], 22. 46 »Die Begierden und Verabscheuungen der Seele bestehen demnach in Bemühungen, Neigungen und Anstrengungen ihrer Kraft« (Georg Friedrich Meier: Theoretische Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt, Halle 1759, 31 (§ 19)). In der Sittenlehre werden die Leidenschaften der ›untern Begehrungskraft‹ zugeordnet (vgl. Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 286–332 (§§ 626–644)). 47 Meier: Lehre von den Gemüthsbewegungen [Anm. 46], 32 f. (§ 19). In der Sittenlehre machen

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empfindung – sobald sie mit physischen Eindrücken durch die Sinnesorgane konfrontiert sei – begehrend angenehme Vorstellungen hervor oder versuche ablehnend, unangenehme Vorstellungen zu unterdrücken48: Man stelle sich die Seele allein vor, und da wird man fühlen: daß sie alsdenn begehrt, wenn sie sich bemüht, eine vorhergesehene Vorstellung oder Empfindung in sich hervorzubringen; und daß sie verabscheue, wenn sie sich bemüht das Gegentheil einer vorhergesehenen Vorstellung hervorzubringen, oder eine vorhergesehene Empfindung zu hindern.

Wird das Begehren so selbst bereits als eine aktive Handlung der Seele gedacht,49 mündet es außerdem notwendig in praktisches Verhalten 50: »Eine jedwede Begierde ist ein Bestreben eine Sache würklich zu machen, die wir uns als gut vorstellen.« Um die These weiter zu untermauern, dass es sich hierbei nicht um passive Leidenschaften handelt, bringt Meier das Vorhersehungsvermögen ins Spiel.51 Es geht dabei nicht um Wahrsagerei, sondern um die Fähigkeit, die Folgen des eigenen Handelns und der vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse zu antizipieren 52: »Da wir nun nichts begehren und verabscheuen können, als in so fern wir es als ein Stück unseres zukünftigen Zustandes betrachten, so muß die practische Erkenntniß allemal, eine Vorhersehung des Zukünftigen, in sich enthalten.« Meier leitet hieraus nicht etwa die freie Möglichkeit ab, ›Vergnügen und Mißvergnügen‹ zu empfinden, sondern er macht aus dem Begehren und Verabscheuen eine moralische Pflicht.53 Nicht etwa das ›Mißvergnügen‹ soll vermieden werden, sondern ›Gleichgültigkeit‹ und Langeweile54:

diese angeborenen Vorstellungen neben den Leidenschaften den zweiten Teil der ›unteren Begehrungskraft‹ aus, der jedoch nicht nach moralischen Maßstäben beurteilt werden könne: »Da uns nun die natürlichen Triebe und Verabscheuungen, die blos natürlichen Zuneigungen und Abneigungen, von dem Urheber unserer Natur eingepflanzt sind: so können sie an sich nicht böse seyn« (Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 287 (§ 626)). Meier begründet so auch die Auffassung, der Mensch könne die »natürlichen Neigungen und Abneigungen [nicht] ganz [] unterdrücken und aus[]rotten« (ebd., 292 (§ 627)). Im Paragraphen 629 behandelt er folglich auch die Sexualität als ein natürliches Begehren des Menschen. 48 Meier: Lehre von den Gemüthsbewegungen [Anm. 46], 31 (§ 18). Meier positioniert sich so auch in der Frage des commercium mentis et corporis auf der Seite der Leibniz-Wolff ’schen Idee einer ›prästabilierten Harmonie‹, deren Verteidigung in Meiers Schriften der 1740er Jahre eine entscheidende Rolle spielt (vgl. Falk Wunderlich: Meiers Verteidigung der prästabilierten Harmonie, in: Georg Friedrich Meier (1718–1777) [Anm. 5], 113–122). 49 »Eine jedwede Begierde und Verabscheuung ist eine Handlung der Begehrungskraft« (Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 256 (§ 617)). 50 Ebd., 254 (§ 616). Auch hier schränkt Meier dies auf die vom Menschen erreichbaren »Güter« ein (vgl. ebd., 254 f. (§ 616)). 51 Vgl. Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 221 f. (§ 98) und 259–262 (§ 116). 52 Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 412 f. (§ 415). Vgl. ebd., 414 (§ 416). 53 Vgl. Meier: Philosophische Sittenlehre III [Anm. 11], 208 (§ 599). 54 Ebd., 213 (§ 601). Zur Langeweile vgl. Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 154 (§ 65).



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Denn da wir zum Vergnügen und Mißvergnügen verbunden sind, so müssen wir so viel Vernügen und Mißvergnügen haben, oder wir müssen so viele Güter als gut, und so viele Uebel als was böses anschauend erkennen, als es in unserm Vermögen steht. Alle Gleichgültigkeit demnach, welche in einer Abwesenheit des Vergnügens und Verdrusses besteht, zu welchem wir verbunden sind, ist eine Sünde. Wir sind, zu dem allervollkommensten Vergnügen und Mißvergnügen verbunden.

IV. Der »Gipfel ihrer Vollkommenheit« – die Intensität der Empfindung

Meier stellt dieses Begehren, das im Menschen beständig aktiv sei,55 den »untern Erkenntniskräfte[n]« zur Seite, die er neben der »deutliche[n] und vernünftige[n] Erkenntnis«56 als notwendige Bestandteile der Sittenlehre begreift. Er begründet dies nicht nur mit dem holistischen Argument, dass alle Vermögen des Menschen auf die Vollkommenheit ausgerichtet sein sollen,57 sondern auch mit der Überlegung, dass erst die unteren Erkenntnisvermögen – »[der] Witz, die Scharffsinnigkeit, die Einbildungskraft, und wie sie alle heissen mögen« 58 – die notwendige Motivation zur Handlung mit sich bringen 59: »Eine Erkenntniß mag noch so vollkommen seyn, so lange sie nicht rührend, lebendig und practisch ist, so lange ist sie noch nicht die allervollkommenste Erkenntniß.« Der Mensch ist also nicht nur dazu verbunden, so viel wie möglich zu empfinden und zu begehren bzw. zu verabscheuen, sondern sich auch um eine recht ›lebendige‹ Empfindung zu bemühen60: »Nun kan eine Er55 »Nun kan unsere Seele keinen einzigen Augenblick fortdauern, ohne daß sie begehren solte. Folglich da wir ohne Unterlaß begehren, so müssen wir auch beständig, und ohne Unterlaß, beten. Wenn ein einziger Augenblick unseres Lebens vorbeygeht, in welchem wir gar nicht beten, so haben wir in demselben entweder Begierden, oder wir begehren gar nichts. Das letzte ist unmöglich: denn in den Begierden bestehen alle Handlungen der Seele« (ebd., 531 (§ 214)). 56 Ebd., 250 (§ 113). 57 »Wir müssen demnach, so viel als möglich ist, durch die Vernunftlehre, durch die Aesthetic, durch andere Wissenschaften u s w. auch unter andern deswegen alle unsere Erkenntnißkräfte aufs möglichste verbessern, damit wir ein recht vollkommenes Gewissen bekommen« (Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 586 (§ 482)). 58 Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 250 (§ 113). 59 Ebd., 303 (§ 134). Vgl. ebd., 321 f. (§ 139). 60 Ebd., 304 (§ 134). Der Begriff der ›Rührung‹ wird erst in Sulzers Akademieschriften der 1760er Jahre zentral, weil er hier die Unterscheidung von Empfindungs- und Vorstellungsvermögen begründet (vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie [Anm. 36], 229–246). Vgl. Dueck: Die »krumme Bahn der Sinnlichkeit« [Anm. 30], 244–297. Schwaiger erklärt die theologische Herkunft des Ausdrucks von der ›lebendigen Erkenntnis‹ und ihre Verwendung bei Wolff. Baumgarten übernehme diese Verwendung, gebe ihr aber deutlich mehr Gewicht und wende sie auf die unteren Erkenntnisvermögen an. Bereits Baumgarten habe darauf hingewiesen, dass der Begriff der ›Lebendigkeit‹ nicht mit demjenigen der ›Lebhaftigkeit‹ verwechselt werden dürfe. Vgl. Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten [Anm. 2], 122–126. Mirbach unterstreicht, dass Baumgarten in seiner Aesthetica »[z]ur Ausarbeitung des letzten Kriteriums, des Lebens oder der Lebendigkeit der sinnlichen Erkenntnis (vita), […] nicht mehr gekommen« ist (Mirbach: Ingenium venustum [Anm. 35], 201). Vgl. Torra-Mattenklott: Metaphorologie [Anm. 36], 139–153.

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kenntniß nur in unsern Willen würken, und unsere Handlungen bestimmen, in so ferne sie lebendig ist.« Die Lebendigkeit bildet den »Gipfel [der] Vollkommenheit«, weil durch sie die Erkenntnis einen »merklichen Einfluß in unser Verhalten hat.« 61 Meier erklärt diese These, die ihren Ausgangspunkt letztlich in Descartes’ mechanistischer Erklärung der Vorgänge in den Sehnerven hat, mit der besonderen Stärke einer ›lebendigen‹ Erkenntnis, die auf ›große‹ und ›mannigfaltige‹, also auf besonders viele und vielfältige sowie auf besonders stark auf die Organe wirkende Sinneseindrücke zurückzuführen seien.62 Auf diese Art und Weise begründet er auch den Wahrheitsanspruch von Alltagserfahrungen, die dem rationalen Wissen widersprechen. Meier greift hierfür auf das Beispiel der am Horizont aufsteigenden Sonne zurück. Handelt es sich spätestens seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts um einen Topos für die Tatsache, dass die durch die Sinne vermittelten Vorstellungen nicht immer mit den tatsächlichen Vorgängen in der Natur übereinstimmen, so wird sie bei Meier zu einem zentralen Beispiel für die ›lebendige‹ Erkenntnis aufgewertet, da der Blick über den Horizont besonders viele und vielfältige Sinneseindrücke ermöglicht 63: Wenn ich im Frühlinge auf freyem Felde bin, und ich stelle mich etwa auf einen erhabenen Hügel, was für ein Schauplatz stellt sich nicht meinem Gesichte auf einmal dar? Da sehe ich hundert Aecker, welche grünen und einen reichen Sommer versprechen. Dort weidet eine Heerde Schaafe, dort liegt ein Dorf. Auch werde ich einen Wald gewahr, vor dem ein Strom vorbey fließt. Bald höre ich den Gesang einer Nachtigall, bald das Geschrey eines Rabens. Kurz, tausend Gegenstände malen sich in meiner Seele ab.

Die Erfahrung einer aus dem Horizont aufsteigenden Sonne geht dem astronomischen Wissen in der Entwicklung eines Menschen zudem voraus. Sie sei somit ›natürlicher‹ und werde als besonders intensiv wahrgenommen64: »Wenn also ein Dichter, der nicht weit von einem Meere wohnt, sagt: daß die Morgenröthe aus dem Meer hervorsteige […] oder, daß die untergehende Sonne ins Meer gehe, so ist ohne mein Erinnern klar, daß diese Vorstellung dem Verstande als falsch vorkomt.« Sinnlich und damit ästhetisch sei die Empfindung allerdings wahr65: »Wer das Gegentheil behaupten wolte, der müste […] alle optischen Vorstellungen als falsch verwerfen, und wer würde einen solchen Kunstrichter nicht für unsinnig halten?« 61 Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 438 f. (§ 424). »Folglich müssen wir Gott dergestalt erkennen, daß wir dadurch bewogen werden, zu begehren und zu verabscheuen, zu handeln und nicht zu handeln, wie es den Vollkommenheiten Gottes gemäß ist. Nun kan eine Erkenntniß nur in unsern Willen würken, und unsere Handlungen bestimmen, in so ferne sie lebendig ist. Folglich kan, keine todte Erkenntniß Gottes, zu der Religion zureichend seyn« (Meier: Philosophische Sittenlehre I [Anm. 1], 304 (§ 134)). 62 Vgl. ebd., 305–308 (§ 135). 63 Meier: Anfangsgründe II [Anm. 29], 12 (§ 260). 64 Meier: Anfangsgründe I [Anm. 30], 188 (§ 91). 65 Ebd.



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Meier hält damit fest, dass der Mensch die Welt zwar nicht immer sieht, wie sie ist, wohl aber empfindet, wie sie sich seinen Sinnen darstellt. Gerade diesen lebendigen Vorstellungen muss nicht nur ein ästhetischer, sondern auch ein zentraler ethischer Wert beigemessen werden. Anders als in Johann Christoph Gottscheds berühmtem Frontispiz zum theoretischen Teil seiner Weltweisheit (1733) starrt der Mensch nicht einfach bewundernd in den Himmel, sondern bringt – angeregt durch die ›Lebendigkeit‹ einer solchen Empfindung – die angenehme Vorstellung der Vollkommenheit aktiv hervor und setzt sich damit in ein ›begehrendes Verhältnis‹ zur göttlichen Schöpfung.66 Zwar wertet Meier die Sinnlichkeit dadurch entschieden auf, setzt aber sowohl in den ästhetischen Schriften als auch in der Sittenlehre voraus, dass es ihm nicht um ein ›Viel hilft viel‹ dessen geht, was er die ›natürlichen Triebe‹ nennt 67: Z. E. alle Eltern sündigen, welche ihre Kinder bloß aus dem natürlichen Triebe lieben, und ihnen gutes thun. Oder wenn ich einem Nothleidenden eine wichtige Hülfte leiste, bloß aus dem Affect des Mitleidens, um meines weichherzigen Temperaments willen, so sind solche Werke der Barmherzigkeit keine vollkommen rechtmäßige Handlungen. Eben auf die Art sündiget ein Mensch, wenn er eine Sünde unterläßt, bloß um eines dunkeln und verworrenen Mißvergnügens willen, aus einem natürlichen Abscheu, oder aus Leidenschaften, wenn er sie, um eines klaren und vernünftigen Mißvergnügens willen, und aus einer vernünftigen Verabscheuung hätte unterlassen können, und ihrer Wichtigkeit wegen unterlassen sollen. Z. E. wer aus blosser Blödigkeit, Furchtsamkeit und cholerischem Temperament das Huren, das Stehlen und dergleichen schändliche Sünden unterläßt, der sündiget doch noch, weil er nicht nach einem so lebendigen Gewissen handelt, als er solte.

Dasselbe gilt für verwerfliche Empfindungen, die Meier von »edle[n] und wür­d i­ ge[n]« Empfindungen abgrenzt und sich so auch klar und wortgewaltig im ›kleinen Dichterstreit‹ zwischen Halle und Leipzig auf die Seite seines Lehrers Baumgarten stellt 68: »Alle diejenigen, welche niederträchtige, säuische, unedle Empfindungen haben, die verderben dadurch auf einer Seite ihre Sinne.« Ebenso gehe es »nicht [um] eine jedwede Erkenntnis seiner selbst« 69: Ein jeder Mensch sieht sich selbst, er fühlt und hört sich selbst, er denkt an sich selbst, und es ist natürlicher Weise nothwendig, daß ein Mensch von Kindesbeinen an nach und nach eine Erkenntniß von sich selbst erlange, ob er sich gleich nicht mit Fleiß bemühet, dieselbe zu erlangen. 66 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Theoretischer Teil), in: ders.: Ausgewählte Werke V/1, hg. von P. M. Mitchell, Berlin/New York 1983 [Frontispiz]. 67 Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 629 f. (§ 499). 68 Meier: Anfangsgründe II [Anm. 29], 165 (§ 337). Vgl. Georg Friedrich Meier: Der »kleine Dichterkrieg« zwischen Halle und Leipzig, in: ders.: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen in 3 Teilen II, hg. von Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk, Halle 2000, 20–32. Vgl. den Beitrag von Frauke Berndt in diesem Band. 69 Meier: Philosophische Sittenlehre II [Anm. 1], 353 (§ 391).

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Die ›lebendige‹ und ›begehrende‹ Selbsterkenntnis ist hingegen nur mit »plicht­ mäßige[m] Fleiß«70 und einer beständigen Beobachtung und Beurteilung des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns zu erreichen71: Denn gesetzt, daß wir etwas von uns selbst erkenneten, dergestalt, daß diese Erkenntniß nicht zugleich eine Beurtheilung unserer selbst wäre: so müsten wir uns, in und durch dieselbe, weder etwas als gut noch als böse vorstellen. Folglich könnte eine solche Erkenntniß weder ein Vergnügen noch ein Mißvergnügen über uns selbst, weder eine Begierde noch eine Verabscheuung hervorbringen, und sie wäre also weder lebendig noch practisch.

Das Ziel von Meiers ästhetischen Schriften ebenso wie seiner Sittenlehre ist die von jedem Menschen aktiv angestrebte Verbesserung und lebenslange Übung der sinnlichen Empfindungsfähigkeit und der moralischen Tugenden.72 Sinnlichkeit und Kunst verstärken sich in diesem ständigen Lernprozess wechselseitig 73: »Je mehr wir Erfahrungen erlangt haben, desto stärker wird auch unsere Einbildungs= und Dichtungskraft.« Zwar unterrichtet die Dichtung damit die Lesenden beispielsweise nicht über die tatsächliche Bewegung der Planeten und die Tatsache, dass es sich bei der aus dem Horizont auftauchenden Sonne um eine Illusion handelt. Sie trägt aber dazu bei, das Begehrungs- und Empfindungsvermögen des Menschen zu schulen und so das Fundament für die oberen Erkenntnisvermögen und den sozialen Frieden zu legen – und dies gerade nicht aufgrund einer kathartischen Wirkung, sondern weil der Mensch durch die Kunst empfindsamer für die ihn umgebende Vollkommenheit wird und sie ihn zugleich verwurzelt in einer ursprünglichen, na70 Ebd. Vgl. ebd., 371 (§ 399). Meier rät zum Führen eines Tagebuchs über die eigenen Empfindungen, Begegnungen und Handlungen. Auch dieses Tagebuch dürfe nicht mit »Kleinigkeiten, unnützen Lappalien« angefüllt werden (ebd., 408 (§ 414)). Vgl. ebd., 473 f. (§ 438) Über­ raschend ist in diesem Kontext, dass Meier auch die Frage des commercium mentis et corporis zu den Kleinigkeiten zählt (vgl. ebd., 378 (§ 402)). 71 Ebd., 447 f. (§ 429). 72 Dies zeigt sich auch in Meiers Beschäftigung mit den Grenzen und der Täuschungsanf älligkeit der Sinnesempfindung im Rahmen seiner sechsunddreissig Regeln umfassenden ›Ästhetische Erfahrungs-Kunst‹. Mehrfach verweist er hier auf Francis Bacon und rät seinen Leser*innen, dessen »Rathschlägen zu folgen, so ofte es sich will thun lassen« (Meier: Anfangsgründe II [Anm. 29], 242 f. (§ 366)). Das naturforschende Sehen beschreibt er als eine im sozialen Austausch erworbene Fertigkeit. Hierbei müsse man sowohl die Vertrauenswürdigkeit der zum Vorbild genommenen Forschenden prüfen als auch die Grenzen der eigenen Sinnesempfindung und der verwendeten Instrumente selbstreflexiv in die Beobachtungspraxis einbeziehen. Ungeprüftes Vertrauen auf Autoritäten, Überschätzung der eigenen Fähigkeiten oder Geltungsdrang verleiteten dazu, die Forschungsergebnisse nach den eigenen Wünschen zu deuten: »Was wir wünschen, das sehen und hören wir ofte, und wir werden das nicht gewahr, was wir doch sehen, weil wir es nicht zu sehen verlangen« (ebd., 218 (§ 356)). Die meisten der von Meier angeführten Regeln lassen sich auf Bacons Novum Organum (1620) zurückführen, welches 1764 von Johann Heinrich Lambert ins Deutsche übersetzt wird (vgl. Francis Bacon: Neues Organon oder Gedanken über die Erforschung und Bezeichnung des Wahren und dessen Unterscheidung vom Irrthum und Schein, übers. von Johann Heinrich Lambert, Leipzig 1764. 73 Meier: Anfangsgründe I [Anm. 30], 561 (§ 238).



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türlichen und ›gesunden‹ Sinnlichkeit 74: »Je besser also unsere Empfindungen sind, desto besser kan auch unsere übrige Erkenntniß seyn; und je schlechter jene sind, desto elender muß auch nothwendig diese seyn.« Durch die Tatsache, dass zwischen Körper und Geist, also dem commercium mentis et corporis, auch für Meier kein physischer Einfluss besteht, ergibt sich die gedankliche Möglichkeit, den Bereich der Wahrnehmung als ein auf die physischen Sinneseindrücke aktiv reagierendes und in gewissem Sinne sogar produktives Vermögen zu denken. Begründen bereits Descartes, Hooke oder Condillac die aktive Suche nach Nahrung und Schutz sowie das Vermeiden von Schmerzen und Gefahr mit der von Gott gewollten Überlebensfähigkeit, so sieht Meier in dem aktiven Begehren angenehmer und dem Zurückweichen vor unangenehmen Empfindungen sowie der Suche nach möglichst vielen und vielfältigen ›lebendigen‹ Vorstellungen und Erkenntnissen die Grundlage eines physisch wie geistig gesunden und sittlichen Lebens in einer friedlichen Gesellschaft, deren Verwirklichung er allerdings durch ihre Begründung in einer Theorie des sinnlichen Menschen ebenso wortgewaltig wie wortreich in die Hände Einzelner legt. Weniges sehen oder empfinden wird damit rundheraus zur Sünde erklärt. In Meiers Äußerungen über die Dummheit des »Pöbels« oder den mangelnden Verstand von Kindern, Kranken und »Frauenzimmer[n]«75 wird deutlich, dass seine ästhetischen Schriften wie seine Sittenlehre Grundsätze für das menschliche Verhalten formulieren, die mit einer selbstverständlichen Diskurshoheit einhergehen76: Daraus läßt sich begreifen, warum überhaupt der Pöbel dum und abgeschmackt bleibt, und warum die gar zu frühzeitigen Gelehrten balde sterben, wenigstens ist die Schwächung der Werkzeuge der Sinne in der Kindheit eine von denen Ursachen, woraus sich diese beyden Erscheinungen begreifen lassen.

Mit der Menge, Art und Qualität der Sinnesempfindung, die ein Mensch gemacht bzw. aktiv gesucht hat, und mit dem (scheinbar) freien Willen, diese Empfindungen, die eignen Gefühle und Gedanken nach Maßgabe der Ästhetik und der Sittenlehre zu lenken und zu verbessern, wird bei Meier eine wertende Einordnung von Menschen verbunden, die – nicht überraschend – zugunsten der Gruppe von bürgerlich-protestantischen Intellektuellen ausfällt, zu denen er sich selbst zählt.

74 Meier: Anfangsgründe II [Anm. 29], 169 (§ 339). Vgl. Meier: Anfangsgründe I [Anm. 30], 25 (§ 15). 75 Meier: Anfangsgründe II [Anm. 29], 173 (§ 340). 76 Ebd., 172 (§ 340). Vgl. ebd. 44–46 (§ 281). Nachvollziehen lässt sich diese Entwicklung, die von den sensualistischen Schriften in der Nachfolge John Lockes ausgeht, auch an der Beurteilung des ›naiven‹ Beobachters in der Naturforschung und Epistemologie. Wird diesem im 17.  Jahrhundert noch positiv ein besonders vorurteilsloser Blick zugesprochen, f ällt das Urteil in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend negativ aus – und dies mit dem Argument einer mangelnden Schulung der Sinne (durch Reisen, Kunst, etc.). Vgl. Dueck: Die »krumme Bahn der Sinnlichkeit« [Anm. 30], 161–163.

Fehlerlese Praktiken der Kritik in Gottscheds Poetik Carolin Rocks und Sebastian Meixner

I. Praktiken der Kritik – Dynamisierung der Normpoetik

Dass mit ›Kritik‹ ein Schlüsselbegriff von Johann Christoph Gottscheds Poetik benannt ist, ist bereits durch die Attribuierung im Titel zentral gestellt. Der 1729 erstpublizierte Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen gilt denn auch seit jeher als Initialzündung für ein ganzes »›Zeitalter der Kritik‹«,1 handelt es sich doch um eine Formel, die vor Steffen Martus schon 1932 Ernst Cassirer in seiner Auf klärungsstudie geprägt hat.2 Dass Gottscheds Kritikbegriff in erster Instanz auf den Prinzipien der sogenannten deutschen Systemphilosophie aufruht, ist ebenfalls schon bei Cassirer nachzulesen, wobei die Forschung diesen Befund beständig ausdifferenziert hat.3 Dabei ist es nachgerade entscheidend festzuhalten, dass die fraglos enge Orientierung an Wolffs Logik und Metaphysik sicher nicht bedeutet, der kritische Kern der Gottsched’schen Dichtungstheorie trete zuvorderst in schulmeisterlichen Akten des »Systematisieren[s]«4 hervor. Ganz in diesem Sinne hat die Forschung Abstand genommen von dem Klischee, die deutsche Ästhetik der Frühauf klärung sei aus einer harten Schule der Vernunft – geführt von den beiden Cassirer: Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 2007, 288. Steffen Martus: Werkpolitik – Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 21. Jahrhundert, Berlin/New York 2007, 113. Aufgegriffen wird hier natürlich Kants berühmte Epochencharakteristik aus der 1. Auflage der Kritik der reinen Vernunft (vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, in: ders.: Werke in sechs Bänden II, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1963, A XI). 3 Vgl. Cassirer: Philosophie der Aufklärung [Anm. 1], 346–353. Vgl. für die aktuelle Forschung einschlägig: Johann Christoph Gottsched (1700–1766) – Philosophie, Poetik und Wissenschaft, hg. von Eric Achermann, Berlin 2014. Vgl. darin besonders Eric Achermann: Was Wunder? – Gottscheds Modaltheorie von Fiktion, 147–181; Gideon Stiening: »[D]arinn ich noch nicht völlig seiner Meynung habe beipflichten können.« – Gottsched und Wolff, 39–60. Vgl. Stienings kritische Auseinandersetzung mit der älteren Forschung, die Gottscheds Poetik im großen Stil der Philosophie Christian Wolffs verpflichtet sieht: Gottsched und Wolff [Anm. 3], 57–59. Vgl. weiterführend Dietmar Till: ›Anschauende Erkenntnis‹ – Literatur und Philosophie bei Wolff, Gottsched und Lessing, in: Sentenz in der Literatur – Perspektiven auf das 18. Jahrhundert, hg. von Alice Stašková und Simon Zeisberg, Göttingen 2014, 19–36; Horst-Michael Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand – Zur philosophischen und poetologischen Begründung von Erfahrung und Urteil in der deutschen Aufklärung (Leibniz, Wolff, Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten), München 1982. Vgl. für eine konzise Darstellung von Gottscheds philosophischer Positionierung, welche keineswegs im bloßen Schatten Wolffs bzw. Leibniz’ erfolgt, zuletzt: Eric Achermann: Gottsched und die Philosophie, in: Gottsched-Handbuch – Leben – Werk – Wirkung, hg. von Sebastian Meixner und Carolin Rocks, Stuttgart/Weimar 2023, 177–213. 4 Achermann: Was Wunder? [Anm. 3], 147. 1 Ernst 2 Vgl.

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Oberlehrern Leibniz und Wolff – hervorgegangen.5 Die Liaison von Philosophie und Poetik, mithin jene ›Philosophielastigkeit‹ der Dichtungstheorie bleibt jenseits dessen prägend für Gottscheds kritisches Programm: Dieses beruht auf dem Axiom, seinen Gegenstand philosophisch im Sinne von wissenschaftlich zu behandeln6: Wenn man nun ein gründliches Erkenntniß aller Dinge Philosophie nennet: so sieht ein jeder, daß niemand den rechten Character von einem Poeten wird geben können, als ein Philosoph; […]. Nicht ein jeder hat Zeit und Gelegenheit gehabt, sich mit seinen philosophischen Untersuchungen zu den freyen Künsten zu wenden, und da nachzugrübeln: Woher es komme, daß dieses schön und jenes häßlich ist; dieses wohl, jenes aber übel gefällt? Wer dieses aber weis, der bekömmt einen besondern Namen, und heißt ein Criticus. Dadurch verstehe ich nämlich nichts anders, als einen Gelehrten, der von freyen Künsten philosophiren oder Grund anzeigen kann.

Philosophie ist ›gründliche Erkenntnis‹, sie liefert Einsicht in Genese und Funk­ tionsweisen eines bestimmten Gegenstandes – in Gottscheds Fall: der freien Künste. Denjenigen, der den Künsten dergestalt auf den Grund geht, heißt Gottsched einen ›Criticus‹ und artikuliert im Zuge dessen ebenso sein Selbstverständnis als Kritiker wie er die eigene Poetik als ein entschieden kritisches Projekt kennzeichnet. Auf abstrakter Ebene ist damit zunächst die rationalistische Methode der avisierten Theoriebildung benannt, meint doch das Kritisieren eine auf die Künste konzentrierte Spielart des übergeordneten Philosophierens.7 Jedoch ist an dieser Stelle eine 5 Auch Cassirers Darstellung bedient dieses Klischee, das allerdings nicht Gottsched allein, sondern gleichermaßen seinen vermeintlich so entschiedenen Widersachern in Zürich angeheftet wird. Vgl. Cassirer: Philosophie der Aufklärung [Anm. 1], 347 f. 6 Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst – Erster allgemeiner Theil, in: ders.: Ausgewählte Werke VI/1, hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke, Berlin/New York 1973, 145 [im Folgenden: Zitate aus den Ausgewählten Werken im Lauftext unter der Sigle AW mit Bandziffern und Seitenzahlen in Klammern]. 7 Die von Gottsched forcierte rationalistische Begründung der Poetik gibt Anlass, einmal den durchaus progressiven Impetus seiner Dichtungstheorie zu unterstreichen, wird diese doch nicht selten mit Blick auf die weitere Entwicklung im 18. Jahrhundert (mit den Stichworten ›Genie‹ und ›Phantasie‹ bzw. ›Einbildungskraft‹) als ein regelpoetisches Programm mit konservativer Schlagseite betrachtet. Ändert man die historische Blickrichtung und vergleicht Gottscheds Positionierung etwa mit den Poetiken der Renaissance und des Barocks, lässt sich von einer »Neufundierung« der Regelpoetik und einem »Übergang von den auf Autorität und Mustergültigkeit beruhenden Satzungen der Renaissancepoetiken zum wissenschaftlichen Gesetzesbegriff der rationalistischen Poetik« sprechen (Hans Freier: Kritische Poetik – Legitimation und Kritik der Poesie in Gottscheds Dichtkunst, Stuttgart 1973, 92). Vgl. in ähnlicher Direktion Klaus L. Berghahn: Von der klassizistischen zur klassischen Literaturkritik, in: Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980), hg. von Peter Uwe Hohendahl, Stuttgart 1985, 10–75, hier 21–25. Ebenso spricht Alt von dem »neue[n] wissenschaftlichen Anspruch der Gottsched’schen Poetik« und hält – auch mit Blick auf die sich bei Gottsched immerhin in Teilen abzeichnende Emanzipation der Poetik von der rhetorischen Systematik – fest: »Als rationalistisch fundiertes Unterrichtssystem rückt die Dichtkunst von der humanistisch-barocken Anweisungspoetik ab, deren Ordnungsentwurf rhetorischer Herkunft, nicht aber in einer philosophischen Methodik verankert war.« (Peter-André Alt: Aufklärung – Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 32007, 69).



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für Gottscheds Œuvre charakteristische Doppelfunktion zu bedenken, und zwar diejenige von Theorie und Praxis der Kritik.8 Die theoretische Herleitung der und Einsicht in die Regeln ist stets der erste Schritt jedweder Kritik und obliegt – hier lässt und hinterlässt Gottsched auch aus Sicht der Forschung keinen Zweifel – der Ratio. Aber auch der praktische Vollzug der Kritik am konkreten Kunstgegenstand, das Hauptgeschäft des Kritikers also, habe am strengen Leitfaden der Vernunft zu verfahren.9 Da sich nun Gottscheds Projekt offensichtlich nicht darin erschöpft, Regeln vernünftig herzuleiten, sondern diese in einem zweiten Schritt exemplarisch anzuwenden, stellt sich die Frage, ob kritische Praxis und Theorie kongruieren, mithin ob Gottsched in seiner eigenen kritischen applicatio denn auch nach jenen rationalistischen Grundsätzen verfährt. Diesbezüglich spricht Martus von einem »›ungeregelte[n]‹ Verhältnis zwischen kritischer Theorie und kritischer Praxis«,10 ja einem nur »schmalen Spalt zwischen […] Regelkenntnis und Regelnutzung«.11 Auffällig ist, dass diese Janusköpfigkeit der Kritik an die Unterscheidung zwischen Gottscheds im engeren Sinne dichtungstheoretischer Programmatik einerseits und seiner literaturkritischen Publizistik andererseits geknüpft wird. Martus selbst liest dies nicht als regelrechte Gattungsdifferenz aus und hält gleichwohl fest12: »Die literaturkritische Praxis führt ein eigenständiges Leben neben den Programmschriften.« Tatsächlich finden zuvorderst die publizistischen Beiträge Beachtung, wenn sich die Forschung mit Gottscheds kritischer Praxis beschäftigt.13 Dies legt mindestens nahe, die auf den Status einer Programmschrift festgelegte Critische Dichtkunst sei dasjenige Genre, in dem ›Kritik‹ vor allem als grundlegendes Verfahren der dichtungstheoretischen Normbildung zu Buche schlägt,14 die publizistischen Schriften Martus: Werkpolitik [Anm. 2], 116. die Kritiker gilt der Grundsatz, »von allem, was sie an einem Gedichte loben und schelten, den gehörigen Grund anzuzeigen [zu] wissen« (AW VI/1, 145). Ganz in diesem Sinne heißt es in der Vorrede zur ersten Auflage der Critischen Dichtkunst, die kritische Praxis bestehe darin, Kunstwerke auf Grundlage der eingesehenen Regeln »vernünftig […] zu prüfen und richtig zu beurtheilen« (AW VI/2, 395). 10 Martus: Werkpolitik [Anm. 2], 119. 11 Ebd., 117. 12 Ebd. Ball differenziert zwischen der auf Öffentlichkeitswirkung und Kulturpolitik ausgerichteten publizistischen Praxis (einbezogen wird auch die Korrespondenz) und den »normativ« setzenden »Hauptwerken« Gottscheds (Gabriele Ball: Moralische Küsse – Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler, Göttingen 2000, 17, vgl. insgesamt 14–17). 13 Vgl. grundlegend Ball: Moralische Küsse [Anm. 12]. Vgl. Rüdiger Otto: Ein Leipziger Dichterstreit – Die Auseinandersetzung Gottscheds mit Christian Friedrich Henrici, in: Johann Christoph Gottsched in seiner Zeit – Neue Beiträge zu Leben, Werk und Wirkung, hg. von Manfred Rudersdorf, Berlin 2007, 92–154; Jürgen Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, in: Formen und Formgeschichte des Streitens – Der Literaturstreit, hg. von Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann, Tübingen 1986, 140–151. Vgl. zu den Vernünftigen Tadlerinnen Ekkehard Gühne: Gottscheds Literaturkritik in den »Vernünftigen Tadlerinnen« (1725/26), Stuttgart 1978; und auch Martus: Werkpolitik [Anm. 2], 133 f. Bezeichnend und auch folgerichtig, was den ›werkpolitischen‹ Fokus seiner Studie betrifft, ist, dass Martus neben den publizistischen Schriften schwerpunktmäßig die Para­ texte und nicht die einzelnen Kapitel der Critischen Dichtkunst untersucht. 14 Ganz in diesem Sinne versieht Alt seine für ein Lehrbuch-Format verfassten Überlegungen 8 Vgl. 9 Für

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hingegen seien das bevorzugte Gattungsformat kritischer Praxis. Hier liegt der Einsatzpunkt des im Folgenden geführten Arguments. Um Gottscheds Praktiken der Kritik nachzuvollziehen, kann man mit gutem Recht die Rezensionen, Zeitschriftenbeiträge und sicher auch den Briefverkehr zentral stellen. Allerdings geht damit nicht nur eine zumeist implizit bleibende Trennung zwischen Textformaten kritischer Theorie und Praxis einher. Noch mehr aber wird dergestalt der agonale Zug von Gottscheds kritischen Praktiken allzu sehr betont, wenn diese nicht sogar auf rein polemische Schreibverfahren festgelegt zu werden drohen.15 Dabei wird jene von Martus konstatierte ›Ungeklärtheit‹ des Verhältnisses von Theorie und Praxis der Kritik selten genauer erkundet,16 sondern Gottsched weit häufiger als performativer Selbstwiderspruch zur Last gelegt.17 Im Folgenden soll der Blick dezidiert auf die ganz sicher als ethisch-normatives Programm – zielend auf die Gewinnung theoretischer Normen guten Dichtens – antretende Critische Dichtkunst gerichtet werden. Der umfassendere ethische Gehalt von Gottscheds Poetik ergibt sich aber erst aus einer Verhältnisbestimmung zweier den Text kennzeichnenden Bewegungen: Einerseits versichert sich die Argumentation in der Tat immer wieder der aus kritischer Einsicht gewonnenen poetischen Normen. Andererseits aber werden diese Normen im Anwendungsfall, wenn Gottsched konkret kritisiert, dynamisiert. Dabei werden die Normen – und der zu ihnen führende kritisch-rationale Erkenntnispfad – nicht einfach preisgegeben, sondern diese werden tangiert und gedehnt; man darf sagen: der normative Theorierahmen zur Critischen Dichtkunst mit der Überschrift »Gottscheds Normpoetik« und diskutiert hier eben ausschließlich die theoretische Facette der Kritik, d. h. die aus kritischem Nachdenken gewonnenen poetischen Normen (Alt: Aufklärung [Anm. 7], 68, vgl. 68–79). 15 Vgl. Alexander Nebrig: »Der deutsche Dichterkrieg« und die agonale Selbstreflexion der Literaturkritik im Jahr 1741, in: Gelehrte Polemik – Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700, hg. von Kai Bremer und Carlos Spoerhase, Frankfurt a. M. 2011, 388–403. Nebrig untersucht die vielleicht nicht exzesshafte, wohl aber mitunter aus dem Ruder laufende Polemik zwischen Gottsched und Bodmer sowie Breitinger im publizistisch ausgetragenen Literaturstreit. Wichtig sind hier zweifellos die Überlegungen zum Formenrepertoire des Literaturstreits, dessen mitunter literarischer Kontur. Hees-Pelikan konzentriert sich ebenfalls auf die polemische Kontur der publizistischen Literaturkritik Gottscheds, weist aber die kritischen Praktiken in der Critischen Dichtkunst durchaus als noch zu untersuchendes Forschungsterrain auf (vgl. Johannes Hees-Pelikan: Über Literatur streiten (Literaturkritik), in: Gottsched-Handbuch [Anm. 3], 53–59). 16 Vgl. Martus: Werkpolitik [Anm. 2], 114. Martus resümiert zurückhaltend, »daß die argumentative Geschicklichkeit in der konkreten Urteilsbildung und -begründung nur in Teilen von der Programmatik eingeholt wird« (ebd.). 17 Eine solche genauere Erkundung nimmt Hees-Pelikan vor und gelangt zu dem Schluss, dass »[d]ie Praktik der polemischen Kritik […] die Schattenseite der Poetik, der Punkt, an dem die poetologische und die literaturkritische Auf klärung ihre Dialektik entfaltet«, sei (Hees-Peli­ kan: Über Literatur streiten [Anm. 15], 58). Ganz in diesem Sinne diagnostiziert er einen »performative[n] Widerspruch« (ebd., 55) zwischen polemischer Kritik und der von Gottsched eigentlich in theoretischer wie praktischer Hinsicht eingeforderten rationalistischen Methodik. Wenngleich diese Analyse das Profil der kritischen Praxis, wie es in den publizistischen Schriften zu Tage tritt, luzide herausstellt, kann der Blick darauf, wie Gottsched in der Critischen Dichtkunst praktisch kritisiert, das Bild ergänzen.



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wird bespielt, protoästhetisch ausgefüllt. Gottsched formuliert also in seiner kritischen Praxis zwar noch keine umfassende Ästhetik (als eine umfassende Theorie der sinnlichen Erkenntnis im programmatischen Sinne Baumgartens), allerdings bewegt sich die Normpoetik mit den von ihr ausgebildeten kritischen Praktiken in diese Richtung. Mit jener angespannten Polemik, die in den von Agonalität gezeichneten, publizistischen Gattungsformaten dominiert, haben die kritischen Urteilspraktiken, die Gottsched in der Critischen Dichtkunst durchspielt, wenig gemein. Die hier fokussierten kritischen Praktiken führen zwar auch an die Peripherien der Regelpoetik, sie demonstrieren allerdings, so gilt es zu zeigen, deren moderate Facette und weder systematische Urteilsstrenge noch rein polemische Streitlust. II. Freiheit in der Normpoetik – Gottscheds Urteilspraktiken

Damit ist die Frage gestellt, welche Art von Normativität Gottscheds so konstant als Regel- bzw. Normpoetik klassifiziertes Projekt eigentlich verhandelt. Dem kann man auf die Spur kommen, wenn man die kritischen Praktiken mit dem sogenannten späten Foucault als dezidiert ethische Praktiken versteht. Foucault unterscheidet, darauf macht Christoph Menke aufmerksam,18 zwischen zwei Typen von Praktiken: erstens die in den früheren bis mittleren Schriften fokussierten Wahrheits- und Machtpraktiken, die das Subjekt in repressiver bzw. disziplinierender Weise konstituieren; zweitens die vor allem in L’usage des plaisirs (1984), Le souci de soi (1984), Les Aveux de la chair (2018) sowie in einigen Essays der 1980er Jahre beschriebenen Praktiken des Selbst.19 Menkes Differenzierung oder besser Verhältnisbestimmung von »ästhetisch-existentiellen und disziplinären Übungen« 20 bzw. Praktiken gibt nun in erster Linie Aufschluss über Foucaults Theorie der Subjektivierung, so dass man fragen muss, was damit für ein Verständnis von Gottscheds kritischen Praktiken gewonnen ist. Maßgeblich erscheint, dass Foucaults Typologie einen ethischen Gehalt von Praktiken betont, ja eine für Praktiken charakteristische Interdependenz von Norm und Freiheit herausstellt. Praktiken sind auch in 18 Vgl. Christoph Menke: Zweierlei Übung – Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz, in: Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption – Frankfurter FoucaultKonferenz 2001, hg. von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a. M. 2003, 283–299. 19 Vgl. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit 2, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1986; Michel Foucault: Die Sorge um sich – Sexualität und Wahrheit 3, übers. von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1986; Michel Foucault: Die Geständnisse des Fleisches – Sexualität und Wahrheit 4, hg. von Frédéric Gros, übers. von Andrea Hemminger, Berlin 2019; Michel Foucault: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, in: ders.: Schriften in vier Bänden – Dits et Ecrits IV, hg. von Daniel Delfert und François Ewald, Frankfurt a. M. 2005, 875–902; Michel Foucault: Zur Genealogie der Ethik – Ein Überblick über laufende Arbeiten, in: Michel Foucault – Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel Foucault, hg. von Hubert L. Dreyfus und Paul Rabinow, Frankfurt a. M. 1987, 265–292. 20 Menke: Zweierlei Übung [Anm. 18], 299.

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der soziologischen Theoriebildung als analytische Kategorie konturiert, die eine zwischen agency und structure angesiedelte Ebene von Gesellschaft bzw. Kultur zu beschreiben sucht.21 Während aber die sozialtheoretische Praxeologie Praktiken als ein vermittelndes Handlungsterrain denkt, das beide Ebenen integriert, ist für Foucaults doppelten Praktikenbegriff ein spannungsreiches sowie unauflösliches Ineinander von Norm und Freiheit kennzeichnend.22 In diesem Sinne gereichen die ästhetisch-existentiellen Praktiken, deren früheste Manifestationen Foucault bekanntermaßen in der griechischen Lebenskunst aufsucht, auch nicht einfach zur Freiheit. Die in der Critischen Dichtkunst aktualisierten Praktiken der Kritik lassen sich nun sicher nicht umstandslos mit Foucault als poetologisches Pendant der ästhetischexistentiellen Praktiken beschreiben. Allerdings ist der von Foucault im Rahmen seiner Subjektivierungstheorie eröffnete Horizont, Praktiken im Spannungsfeld von Norm und Freiheit zu untersuchen, aufschlussreich für Gottscheds kritische Praxis. Vor diesem Hintergrund ist zweierlei festzuhalten: Erstens unterlaufen bzw. subvertieren jene kritischen Schreibpraktiken nicht geradewegs die poetischen Normen. Zweitens finden die theoretischen Maximen der kritischen Ratio nicht in klar entsprechenden – mit Foucault gesprochen: disziplinären – bzw. diese rationalen Normen affirmierenden Praktiken Anwendung. Vielmehr demonstrieren unsere Beispiele, dass Gottsched im Vollzug der Kritik andere als beinhart logisch-rationale Formen wählt, um die Norm zu praktizieren oder mehr noch: die Norm in übender Manier gut zu praktizieren. Gottsched beurteilt, er sucht in seiner kritischen applicatio fraglos Fehler auch der großen Dichter auf. Durch eine solche Fehlerlese aber geraten die vermeintlich in Stein gemeißelten poetischen Normen in Bewegung. Zusätzlich gehört, so gilt es aufzuweisen, auch das Loben ganz wesentlich zum Praktikenrepertoire der Critischen Dichtkunst, was wiederum den so oft betonten strengen Normcharakter der poetischen Regeln, ja die vermeintlich so erbarmungslose ›Krittelei‹ des Kritikers in Frage stellt (III.). Schließlich betrifft Gottscheds kritische Praxis auch das Verhältnis von Kritiker und Dichter sowie Rezipient*innen.23 Eine genauere Betrachtung dieser Konstellationen/Verhältnisse kann zeigen, dass 21 Ideengebend für die soziologische Theoriebildung ist hier Anthony Giddens: Central Problems in Social Theory – Action, Structure, and Contradiction in Social Analysis, London 1979; Anthony Giddens: The Constitution of Society – Outline of the Theory of Structuration, Cambridge 1984. Vgl. für einen Überblick zur Praxeologie Jens-Arne Dickmann, Friederike Elias und FriedrichEmanuel Focken: Praxeologie, in: Materiale Textkulturen – Konzepte, Materialien, Praktiken, hg. von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer, Berlin/Boston/München 2015, 135–146. 22 Vgl. für eine Auseinandersetzung mit der sozialtheoretischen Praxeologie sowie mit Foucaults Denkhorizont von Praktiken bzw. Übungen Carolin Rocks: Ästhetisches ›ethos‹ – Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und die Literaturwissenschaften, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 66/1 (2021), 69–95. 23 Da Gottsched durchwegs in der männlichen Form von Poet und Kritiker spricht und auch in seinen Beispielen nur vereinzelt Autorinnen anführt, greifen wir in unserer Analyse auf diese historischen Kategorien zurück. Bei den Rezipient*innen hingegen verwenden wir den Genderstern.



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die dafür maßgebliche Relation von Norm und Freiheit komplexer ist, als es ästhetikgeschichtliche Labels wie ›Normpoetik‹ suggerieren: Der Kritiker erscheint weder als strenger Dozent der philosophischen Regeln guter Dichtkunst noch als derjenige, der im Falle eines ästhetischen ›Versagens‹ den Produzenten oder die Rezipient*innen harsch aburteilen würde. Das rechte Geschmacksurteil, das ein konzeptuelles Zentrum der Critischen Dichtkunst darstellt, formiert sich in einem Bildungsprozess, den die als instructio verstandene Kritik besorgt (IV.). III. Loben und Lesen. An den Grenzen der Wahrscheinlichkeit

»›Literaturpapst‹, […] ›Alleinherrscher‹, ›Tyrann‹ […][,] ›Schulmeister‹, ›Richter‹, ›Apostel der Auf klärung‹ etc.« 24 – Achermann listet sie, jene pejorativen Bezeichnungen, die man Gottsched so persistierend hat angedeihen lassen. Im Grunde seit ihrer Publikation wird die kritisch urteilende Stoßrichtung der Gottsched’schen Poetik ins ihrerseits streng kritische Visier genommen.25 Gerade weil das Idiom ›berühmt wie berüchtigt‹ offenbar unumgänglich in Anschlag gebracht wird,26 gilt es – fairerweise – zu fragen, ob mit derartigen Überzeichnungen alles über die kritische Direktion der Critischen Dichtkunst gesagt ist. Weitestgehend unbeachtet bleibt nämlich, dass Gottsched, wenn er kritisiert, nicht bloß oder einfach tadelt, sondern eben auch häufig und euphorisch lobt. Im Falle etwa der epischen Gattung sind die Laureaten und mustergültig dichtenden Pioniere erwartungsgemäß ›die Alten‹, insbesondere Homer und Vergil. Gottsched widmet ersterem den Auftakt des entsprechenden neunten Kapitels im besonderen Teil der Critischen Dichtkunst. Ein strahlendes »Muster« habe Homer väterlich den wenigen vorgelegt, die sich überhaupt an der Gattung des Heldengedichts versucht hätten – eine Gattung, die Gottsched als »das rechte Hauptwerk und Meisterstück der ganzen Poesie« (AW VI/2, 279) ausweist und dergestalt zur poetischen Nagelprobe stilisiert. Verharrt nun, muss man fragen, jene Homer-Laudatio im Status blanker aemulatio? Empfiehlt Gottsched den zeitgenössischen Poeten geradewegs die imitatio veterum? Damit wäre natürlich das Lob, dessen Funktion im Rahmen der Normpoetik hier zur Debatte steht, den in erkennbar autoritativer Bezugnahme auf die Antike verfahrenden zeitgenössischen Dichtern vorbehalten. So geradlinig auf die antike Tradition gerichtet verf ängt Gottscheds Blick indessen nicht, ist doch im Falle des Heldengedichts die Gattungsnorm mit jener Verbeugung vor Homer zu Beginn des besagten Kapitels ganz sicher nicht einfach ausgerufen. Ohne eine kritische Prüfung selbst ebendieses »Vater[s]« (ebd.) der Gattung geht es nicht und d. h. konkret, dass sich der Kritiker stets auf die Suche nach den »Schönheiten« eines Werks wie auch nach dessen »Fehler[n]« 24 Eric Achermann: Einleitung – Johann Christoph Gottsched – Philosophie, Poetik, Wissenschaft, in: Johann Christoph Gottsched [Anm. 3], 13–23, hier 14. 25 Vgl. dazu Vincenz Pieper: Nachleben (Literaturgeschichtsschreibung), in: Gottsched-Handbuch [Anm. 3], 67–78. 26 Vgl. Achermann: Einleitung [Anm. 24], 13.

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zu begeben hat (AW VI/2, 279 f.). Beide verzeichnet Gottsched auch im Falle der ›Alten‹ nicht einfach, um daraus ein den Zeitgenossen anzuempfehlendes Muster zu extrahieren, das in Form der imitatio bestenfalls anvisiert werden kann. Fehler gilt es erst einmal in der kritischen Lektüre aufzuweisen, Schönheiten aufzulesen, auch und gerade bei den antiken Autoren. Welche Art von poetischer Normativität eignet dieser kritischen Fehlerlese, die das lobende Wort nicht mit strenger Miene vermeidet, die es aber eben auch an Tadel nicht fehlen lässt? Bekanntermaßen ist die von Wolff her gedachte Wahrscheinlichkeit eine Zentralkategorie der Gottsched’schen Poetik. Sie fungiert daher auch als Richtschnur für die korrespondierenden Urteilspraktiken. ›Handgreifliche Verstöße‹ (vgl. AW VI/1, 236) dagegen lauern – auch das ist bekannt –, wenn Figuren bzw. Szenen des Wunderbaren in poetische Texte eingespeist werden oder, wie Gottsched am ›Extremfall‹ Ovid verdeutlicht, wenn nämlich »gar ein ganzes Buch mit solchen poetischen Wundern angefüllet, und die Sache aufs höchste getrieben« (ebd.) wird. Das doch in dieser Hinsicht grundsätzliche ›Problem‹ der Metamorphosen unkommentiert lassend, misst Gottsched im fünften sowie im sechsten Kapitel des allgemeinen Teils der Critischen Dichtkunst (»Von dem Wunderbaren in der Poesie«, »Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie«) göttliche Interventionen in Erzählverläufe an der Elle des Wahrscheinlichen. »Die göttliche Macht«, so heißt es, könne sich zwar »auf alles Mögliche; aber auf nichts Unmögliches« erstrecken (ebd.). Somit sind göttliche Eingriffe in die fiktionale Welt zwar nicht verboten, jedoch darf der Poet dabei eine Grenze nicht überschreiten, die sich eben am Grundsatz modaltheoretischer Wahrscheinlichkeit bemisst. Der Rekurs auf das Mögliche ist hierbei entscheidend, denn »Möglichkeit [ist] für Gottsched eine notwendige Voraussetzung der Wahrscheinlichkeit« 27 – einer, so lässt sich präzisieren, »bedingte[n]« bzw. »hypothetische[n] Wahrscheinlichkeit« (256), wie sie Gottsched als einen tauglichen Maßstab für die Beurteilung poetischer Welten ansetzt, ohne dabei modaltheoretischen Grund zu verlassen.28 Zwar wird eingeräumt, dass die so verstandene »poetische Wahrscheinlichkeit« (ebd.) mitunter ans Irrationale heranreicht.29 Allerdings hält Gottsched an dem auf die Poesie zugeschnittenen Wahrscheinlichkeitspostulat fest, das, verkürzt gesagt, erstens über die »Aehnlichkeit des Erdichteten« (255) mit der Wirklichkeit begründet wird. Zweitens bemisst sich die Wahrscheinlichkeit anhand der systemphilosophischen Grundsätze vom zureichenden Grund und von der Widerspruchsfreiheit, die in einer unter anderen möglichen – hier einer poetischen – Welt (vgl. ebd., 257) gegeben sein müssen.30 Was Wunder? [Anm. 3], 174. kann die bedingte bzw. hypothetische Wahrscheinlichkeit mit Wolff im Rücken bei der kritischen Beurteilung zugrunde legen (vgl. ebd.). 29 So Gottsched im Wahrscheinlichkeitskapitel in Übereinstimmung mit dem Genfer Theologen und Philologen Jean Le Clerc (vgl. AW VI/1, 257 f.). Vgl. dazu genauer Achermann: Was Wunder? [Anm. 3], 174–176. 30 »Die Widerspruchsfreiheit und der zureichende Grund konstituieren […] die Möglichkeit (›possibilitas‹) oder Essenz eines Dinges, die der Wirklichkeit (›existentia‹) des Dinges vorgängig 27 Achermann: 28 Gottsched



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Gegen die so konturierte Wahrscheinlichkeitsnorm haben, so Gottsched, bereits die ›Alten‹ verstoßen. Ein in der Critischen Dichtkunst wiederkehrendes Exempel für ein solches »Wunder«, das »nicht mit genugsamer Wahrscheinlichkeit erdacht« (AW VI/1, 237) ist, ist der »Schild des Achilles« (236); genauer: Homers in den achtzehnten Gesang der Ilias eingepflegte Beschreibung des Schildes, den Hephaistos auf Bitte von Achills Mutter Thetis für ihren Sohn schmiedet;31 und mit dem Achill wieder in den Trojanischen Krieg eintritt. Gottscheds Urteil über diese Textpassage, die als eines der ersten Beispiele literarischer Ekphrasis gilt,32 lautet: »Kurz, Homerus hat sich versehen, und die Wahrscheinlichkeit nicht recht beobachtet« (259). Dass der Poet einen Gegenstand wie etwa den vom Gott des Feuers geschmiedeten Schild fiktionalisiert, liegt, wie schon bemerkt, im Spektrum des modaltheoretisch Wahrscheinlichen. Entsprechend liest sich der Auftakt zu Gottscheds Kritik an der Homer’schen Schildbeschreibung: Ueberhaupt ist von der Wahrscheinlichkeit dieses anzumerken, daß oft eine Sache, die an sich unglaublich und unmöglich aussieht, durch den Zusammenhang mit andern Begebenheiten, und unter gewissen Umständen nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich und glaublich werden könne. Dahin gehören, zum Exempel, viele Fabeln, wo die Götter oder andre Geister darzwischen kommen. Diesen trauet man ja größere Kräfte zu, als bloßen Menschen. Wenn nun dieselben einem Helden, oder sonst einem von ihren Lieblingen zu gefallen, etwas außerordentliches unternehmen, das man sonst nicht glauben würde; so wird dieses eben dadurch wahrscheinlich, wenn es nur nicht an und für sich selbst unmöglich ist. (AW VI/1, 258)

›An und für sich selbst unmöglich‹ sei nun aber der Schild des Achilles, auch wenn man ihn ›nur‹ nach dem Maßstab einer hypothetischen Wahrscheinlichkeit beurteilt: Hierwider hat nun Homer gewiß verstoßen, wenn er den Vulcan solche künstliche Werke verfertigen läßt, die ganz unbegreiflich sind. […] Er macht […] dem Achilles einen Schild, der eine besondere Beschreibung verdient. Erstlich ist er mit einer so großen Menge von Bildern und Historien gezieret, daß er zum wenigsten so groß müßte gewesen seyn, als des Tasso diamantner Schild, aus der himmlischen Rüstkammer, dessen oben gedacht worden. (AW VI/1, 258 f.)

Klar ist nach dem Gesagten, dass der Kritiker die Grenzlinie zum Unwahrschein­ lichen nicht im Rekurs auf die Erfahrungswelt bzw. die Wirklichkeit und deren loist« (Achermann: Was Wunder? [Anm. 3], 171). Vgl. für eine ausführlichere Darlegung von Gottscheds modaltheoretischem Verständnis der Fiktion, mit einer umfassenden Forschungsdiskussion, ebd., 173–181. 31 Vgl. die gesamte Passage inklusive der Schildbeschreibung: Hom., Il., 18, 457–608. Hier zugrunde gelegte Übersetzung: Homer: Ilias, neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M./Leipzig 1975. 32 Vgl. exemplarisch James A. Francis: Metal Maidens, Achilles’ Shield, And Pandora – The Beginnings of »Ekphrasis«, in: American Journal of Philology 130/1 (2009), 1–23.

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gische Gesetzmäßigkeiten zu ziehen hat. So wird die bare ›Menge von Bildern und Historien‹, die Achills Schild zieren, in einem ersten Schritt denn auch nicht mit dem Hinweis auf die divergierenden Größenmaße eines ›tatsächlichen‹ Kriegsschildes kritisiert. Vielmehr bemüht Gottsched für sein kritisches Urteil einen weiteren literarischen Schild, den diamantenen Schild aus Torquato Tassos Kreuzzug-Epos La Gerusalemme liberata (1582). Die Homer-Kritik verharrt also, das ist der entscheidende Punkt, nicht in einer bloßen Schelte des entsprechenden Passus der Ilias. Vielmehr bedient sich Gottsched im Zuge seiner kritischen Fehlerlese eines intertextuellen Vergleichs. Ein Schild, der Homers Bilder- und Geschichtenflut darstellerisch zu tragen in der Lage wäre, ja in den Bereich des literarisch Möglichen rücken würde, müsste zumindest so groß sein wie der diamantene Schild, den Tasso ›auffährt‹, um dem Kreuzritter Rinaldo beizustehen. Näheres zur Größe jenes Schildes führt Gottsched nicht an dieser Stelle, wohl aber im Kapitel zum Wunderbaren aus. Dort heißt es: »Wer merkt die Ausschweifung nicht, wenn des Raimunds Schutzengel im VII. Buche, aus der himmlischen Rüstkammer, einen diamantnen Schild von solcher Breite holet, daß er vom Caucasus, bis an den Atlas, alle Länder und Meere damit bedecken könnte« (AW VI/1, 237 f.). Auch Tassos ›der himmlischen Rüstkammer‹ entstammender Schild ist over the top, bedeutet eine ›Ausschweifung‹ ins allzu Wunderbare. Und so ist unstrittig, dass sowohl Homers als auch Tassos Darstellungen von Gottsched als defizitär ausgewiesen werden, weil sie narrativ überfrachtet sind, die Einbildungskraft überfordern und den normpoetischen Hori­ zont des Wahrscheinlichen überspannen. Hervorzuheben ist indessen, dass in jenem intertextuellen Vergleich von Homer und Tasso auch ein immerhin graduelles Lob steckt: Tasso hat es, folgt man Gottsched, besser oder – je nach Perspektive – weniger schlecht gemacht als Homer. Wenngleich man über die Gründe dafür nur spekulieren muss, weil Gottsched weder im Kapitel zum Wunderbaren noch zum Wahrscheinlichen genauer in Tassos Text selbst einsteigt, liegt es nahe, den entscheidenden Unterschied darin zu sehen, dass Tasso den Schild seinem Krieger nicht direkt in die Hand gibt. Es ist ein Engel, der Völker, Länder, Fürsten, heilige Städte mit jenem Schild beschützt und mit dem im konkreten Fall dem Helden Rinaldo – betontermaßen ohne dessen Wissen – Beistand geleistet wird.33 Der Schild verbleibt gewissermaßen auf der übergeordneten, numinosen Erzählebene, bleibt letztlich in Götterhand, wohingegen Achilles die von Hephaistos geschmiedeten 33 Vgl.

den Wortlaut bei Tasso: Und einen Schild von hellstem Diamant Sieht man hier leuchten unter andern Waffen, Der alle Völker, alle Länder zwischen Dem Kaukasus und Atlas decken könnte. Von diesem werden die gerechten Fürsten Verteidigt und die reinen, heil’gen Städte; Und dieser war es, den der Engel wählte, Mit dem er heimlich seinem Raimund nahte. ( Torquato Tasso: Die Befreiung Jerusalems, in: ders.: Werke und Briefe, übers. u. eingel. von Emil Staiger, München 1978, 181–674, hier 349 (7, 82)).



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Waffen zu Beginn des neunzehnten Gesangs von Thetis ›ausgehändigt‹ werden, er diese bewundert, ergreift und sich schließlich damit rüstet.34 Der göttliche Schild wird demnach bei Homer auf die narrative Ebene der heroischen Kriegshandlung herabgezogen.35 Diesen Schritt hinab von der narrativen Sphäre einer ›himmlischen Rüstkammer‹ hin zum Erzählen von einer veritablen, kriegstauglichen Heldenrüstung kann Gottsched, damit sei die ›Spekulation‹ hier beschlossen, nicht gutheißen. Mit jenem Vergleich von Tasso und Homer gibt Gottsched, so lässt sich resümieren, die modaltheoretischen Maßstäbe keineswegs preis. Diese werden aber eben nicht ›knallhart‹ angewendet, um Homers Darstellung ästhetisch zu disqualifizieren. In jenem ›Tasso hat es besser gemacht‹ steckt erstens ein Lob (einer gleichwohl auch fehlerhaften Darstellung) und zweitens im Grunde auch eine Instruktion, wie ›man‹, d. h. auch die zeitgenössischen Dichter, es noch besser machen könnte. Der skizzierte Akt einer vergleichenden Fehlerlese demonstriert eine durchaus moderate, ja verschiedene Darstellungsformen ins Verhältnis setzende Urteilspraxis, die eben nicht einfach verdammt oder sich in rationalistischem Rigorismus selbst genügt. Einen Schritt weiter und womöglich einen Schritt weiter weg von Wolff geht Gottsched mit seinem zweiten Einspruch gegen Homers Schildbeschreibung. Hier gerät die Figurenzeichnung der Ilias ins kritische Visier: »Fürs andre sind seine [Homers: C. R./S. M.] Figuren auf dem Schilde lebendig, denn sie rühren und bewegen sich, so, daß man sich selbige wie die Mücken vorstellen muß, die rund um den Schild schweben« (AW VI/1, 259). Die Figuren als Mücken, die das Bild wie Insekten umschweben – Gottsched bemüht wiederum einen Vergleich, diesmal allerdings einen, der aus der Vorstellungskraft des Kritikers selbst hervorgeht, wenn er die das Register der Ekphrasis offenbar überspannende Figurationstechnik Homers kritisiert. Die Figuren, diese Einsicht liefert der Vergleich, treten aus dem bildlichen Rahmen, den der Schild in dieser Szene bildet, heraus und mehr noch: Indem Gottsched die Figuren als stechende Insekten liest, kritisiert er ­Homers Darstellungsmodus als eine Inszenierung, welche die Imaginationskapazitäten des Kritikers und weiter auch der Rezipient*innen überreizt. Figuren, die so lebendigdynamisch gezeichnet sind, springen gleichsam aus dem epischen Binnenbild und sprengen so den angestammten Modus der Fiktion, die Welt des literarisch Möglichen. Gottscheds Fehlerlese konzediert aber hier en passant, dass die modaltheoretiHom., Il., 19, 10–27. dritte Einwand, den Gottsched gegen Homers ekphrastische Schildbeschreibung ins Feld führt, lässt sich im Grunde ebenfalls mit der bei Tasso gelungeneren Ebenentrennung verbinden. Die ausladenden, detaillierten Szenen, die Homer den Hephaistos auf jenem Schild einprägen lässt, sind too much: »Fürs dritte, sind zwo verschiedene Städte darauf zu sehen, die zwo verschiedene Sprachen reden, und wo zween Redner sehr nachdrückliche und bewegliche Vorstellungen an das Volk thun. Wie ist es möglich, das alles auf einem Schilde auch durch eine göttliche Macht zuwege zu bringen?« (AW VI/1, 259). Die Szenen entfalten, so lässt sich sagen, eine eigene, neue Erzählebene, die auf keinen Schild passt, der doch in erster Linie der narra­t iven Figurenzeichnung dient, d. h. einen Helden zeigen soll, der mit Waffen göttlicher Provenienz ausgestattet wird. 34 Vgl. 35 Der

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sche Wahrscheinlichkeitsnorm mindestens auf der Ebene der (kritischen) Rezeption längst gedehnt ist. Die Kritik selbst gibt sich als erster Schritt zu einer von Homers Szene evozierten Lektürepraktik zu erkennen, die potentiell in den imaginativen Exzess abdriftet. Gottsched kennzeichnet die Kritik somit als ihrerseits poetisierende Urteilspraktik, die immer wieder vergleichend verfährt und die – analog zur Dichtung – Gefahr läuft, die modaltheoretische Multiplikation und v. a. Trennung von Welten mit je eigenen Wahrscheinlichkeitsregimes nicht aufrecht­erhalten zu können. Die Urteilskraft wird, insofern sie sich kritisierend auf die Poesie richtet, selbst protopoetisch. Und es scheint mit Blick auf jene bildgewaltige Ilias-Passage nicht zu viel gesagt, dass hier eine Szene vorliegt, die einen der Poesie inhärenten Urteilscharakter aufzeigt: Homer hat mit seiner Schildbeschreibung eine Szene gebaut, die ihre eigene Beurteilung mit sich führt, ja nachgerade einfordert. Gottsched kritisiert somit weit weniger, als er die Homer-Szene unter der Hand ästhetisch nobilitiert. Ein solcher wertschätzender Zug von Gottscheds kritischer Praxis durchzieht das für die Critische Dichtkunst so zentrale Wahrscheinlichkeitskapitel. Stets versichert sich die Argumentation der poetischen Norm, und stets gerät diese in Bewegung, wenn das Urteilen einsetzt. In Bewegung geraten meint eine Erweichung, eine Tendenz zum moderaten Urteilen anstelle jener Gottsched so gern attestierten Urteilsstrenge. So wird etwa die Wahrscheinlichkeit mit Blick auf Homer als ein theoretisches Postulat ausgewiesen, das sich im Verweis auf die Historizität aller Poesie relativiert. Der Kritiker urteilt nicht nur basierend auf überzeitlichen, modaltheoretischen Prinzipien, sondern soll dem Grundsatz folgen: »Man muß der alten Zeiten, und ihrer Sitten kundig seyn« (AW VI/1, 260). Gottsched vermerkt hier im Grunde die historischen Bedingungen des Wahrscheinlichen. Gleicher­m aßen ist die Diskussion der causa Homer angereichert mit verzeihlichen Wendungen, wodurch sich die Fehlerlese als eine Haltung zu erkennen gibt, welche die Schönheiten des kritisierten Gegenstandes nie aus dem Auge verliert. »Indessen wäre es sehr gut, wenn man den Homer überall so leicht entschuldigen könnte« (261). In diesem auf den ersten Blick banal anmutenden Satz verdichtet sich die verzeihliche Kontur der Kritik. Der Kritiker bekennt hier in gewisser Weise seine Neigung zur Urteilsmilde, seine Bereitschaft, die – geschätzten – Gegenstände vielleicht bisweilen gar nicht allzu kritisch zu beäugen. Es darf an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass Gottsched die Erzählweise der Ilias im Anschluss an jene verzeihliche Wendung deutlich kritisiert und zu dem Fazit gelangt: »und Homer kann auf keine Weise gerettet werden« (ebd.).36 Gleichwohl macht auch diese Formulierung deut36 Es handelt sich um Passagen, in der die Helden ihre Kriegshandlungen durch ›Zankereien‹ unterbrechen, »als wenn sie weder Spieß noch Schwerdt in Händen hätten« (AW VI/1, 261). Eine solche Unterbrechung der Kriegsdarstellung durch »unnöthige[s] Geplauder […] läuft wider die Natur menschlicher Affecten, die zu allen Zeiten einerley gewesen« (ebd.) – so Gottsched mit Blick auf eine aus seiner Sicht missratene heroische Figurenzeichnung. Die ›Urszene‹ dieser in der Ilias verschiedentlich durchgeführten Erzählweise findet sich bereits zu Beginn des dritten Gesangs, wenn beide Heere aufmarschieren. Man liest hier eine ganze Reihe von Absichtsbekun-



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lich, dass es offenbar durchaus zum Spektrum der Kritik gehört, die betrachteten Autoren nach Möglichkeit zu retten. Als Plädoyer für ein strenges Richten über Literatur lesen sich derartige Wendungen, die in der Critischen Dichtkunst keinesfalls die Ausnahme bilden, sicher nicht. Am Schluss des Wahrscheinlichkeitskapitels leistet Gottsched eine Art professionellen Offenbarungseid: »Zudem habe ich mir ja keine neue Gesetze und Kunst­ regeln ausgesonnen; ich sage nur Anfängern in der Poesie, was ich von den Alten für poetische Regeln gelernet habe, und wie man die Gedichte darnach prüfen müsse« (AW VI/1, 279 f.). Das Tagesgeschäft liege nicht darin, die Dichtkunst endlich mit einem neuen Normenkatalog zu überziehen, sondern in der Schulung des zeitgenössischen kritischen Geistes an der poetischen Praxis der ›Alten‹ – mit der Perspektive, die zeitgenössische Dichtung auf dieser Grundlage zu prüfen. Den Freunden des willkührlichen Geschmacks aber […] gebe ich […] zu bedenken, ob sie auch demjenigen das Wort reden wollen, der in der Unterscheidung der Metalle sich auf den Augenschein allein verlassen, Gold, Messing, Silber und Zinn für einerley halten, und sich über denjenigen erzürnen wollte, der bey dem Einkaufe solcher Waaren sich des Probiersteins bedienete, oder eine Goldwage zur rathe zöge. Meines Erachtens werden sie so billig seyn, und die Behutsamkeit dieses letztern, der Einfalt des erstern vorziehen: weil nicht die Farbe, sondern der innere Gehalt, und die Schwere den wahren Werth der Metalle entdecket. Dasselbe Urtheil nun muß ja billig von dem menschlichen Witze und seinen Früchten gefället werden. Es muß nicht auf den bloßen Glanz und Schimmer feiner Werke ankommen; weil nicht alles Gold ist, was da gleißet. […] Die Regeln der Kunstrichter aber, die gehörig erwiesen worden, sind der poetische Probierstein, der das Zweifelhafte entscheiden, und die wahren Schönheiten so sehr ins Licht setzen, als die falschen Putzwerke und wesentlichen Unrichtigkeiten sinnreicher Schriften beschämen kann. (AW VI/1, 280–282)

Wertmessende ›Materialkunde‹ ist die Maxime, die Gottsched gegen die ›Freunde des willkührlichen Geschmacks‹ ins Feld führt und positiv als Richtschnur formuliert. Eine so verstandene Kritik greife bewusst auf Messinstrumente zurück, wie im Vergleich des Kritikers mit einem Metallhändler illustriert wird. Der mit ›Goldwage‹ und ›Probierstein‹ hantierende Händler habe sich mit Blick auf sein Material die Tugend der ›Behutsamkeit‹ zu eigen gemacht. Seine Überlegenheit gegenüber jenen, die meinen, den Wert eines Gegenstandes allein aus dessen äuße­ rem Erscheinungsbild ablesen zu können, steht für Gottsched außer Frage. Der nun das Material der Kunst mit modaltheoretischen Kriterien auf Herz und Nieren prüfende Kritiker ist befähigt, den inneren und ›wahren Werth‹ von Kunstwerken zu entdecken; analog zum Metallkundigen und in der Gewissheit, dass ›nicht alles Gold ist, was da gleißet‹. Die ›wahren Schönheiten‹ erweisen sich eben dungen, gegenseitigen Schmähungen, strategische Ansprachen – ein, aus Gottscheds Per­spektive, von der Haupthandlung entfernendes Zuviel an Worten (vgl. Hom., Il., 3, 39–323) –, bevor es dann endlich zum Zweikampf zwischen Paris und Menelaos kommt (vgl. ebd., 341).

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am ›poetischen Probierstein‹ – deutlicher könnte man den übenden Charakter der Kritik kaum exponieren. Und wenn Gottsched genau an dieser Stelle Shaftes­burys Bestimmung der Kritik als Kunst – wörtlich: »the criticizing or examining art« (zit. nach AW VI/1, 280) – zentral stellt, ist damit abermals der bereits in der oben besprochenen Homer-Kritik aufgewiesene, poetische Charakter jener kritischen Übungen exponiert. IV. Urteilen und Bilden. Zur Entgrenzung des Geschmacks

Vom poetischen Charakter der kritischen Übungen zum Charakter des Poeten ist es ein kleiner Schritt, wobei für Gottsched mit dem Poeten der Kritiker auf den Plan tritt; ihre Leistungsprofile überlagern sich regelrecht. Sie beide haben die Normen guter Dichtung nicht nur verinnerlicht und verstanden, sondern sie müssen vielmehr die Normen kontinuierlich praktizieren und neu auslegen: Die Perfektion in Gestalt des noch nicht realisierten vollendeten Poeten (oder Kritikers) ist aber keine Zustandsbeschreibung, kein abstraktes Ideal, sondern das Ziel in einem prinzipiell unabschließbaren Prozess, den Gottsched im zweiten und dritten Kapitel der Critischen Dichtkunst – also noch vor der oben analysierten Zentralkategorie der Wahrscheinlichkeit – entwirft: als Prozess der Bildung zum guten Poeten wie auch zum guten Kritiker. Denn obwohl das zweite Kapitel titelgebend den Charakter des Poeten zentral stellt, geht es um mehr: um Kritiker und Rezipient*innen, die genauso am Geschäft des kritischen Urteilens teilhaben und entsprechend gebildet werden müssen, weil nur in dieser kollaborativen Trias der gute Geschmack gebildet und gesichert werden kann. Eine herausgehobene Position für diese Trias hat das Geschmacksurteil, das als undeutlich urteilender Verstand die Erkenntnisvermögen und insbesondere die Urteilskraft komplementiert.37 Bevor Gottsched zum guten Geschmack kommt, dem er das gesamte dritte Kapitel widmet, umreißt er die anderen Vermögen, die ein Poet als »geschickter Nachahmer aller natürlichen Dinge« (AW VI/1, 147) in Abgrenzung zu Geschichtsschreibung, Rhetorik und Philosophie besitzen muss. Dass an die Poetik hier die höchsten Ansprüche gestellt werden, ist Programm. Denn Einbildungskraft, Scharfsinn und Witz finden sich in diesem maximal anspruchsvollen Leistungsprofil genauso wie Gelehrsamkeit, Urteilskraft und nicht zuletzt Tugend. Gemein ist all diesen Vermögen, dass Gottsched sie als zu bildende konfiguriert und diese Bildung sowohl anleitet als auch bis zu einem gewissen Punkt praktisch vorführt: Denn der entscheidende Punkt in diesen bildenden Übungen ist, dass sie nur vermittelt gut funktionieren, wobei auch hier gilt, dass zum Guten Anleiten und gut Anleiten kongruieren. Der Witz etwa wird nicht direkt instruiert 37 Vgl. Sebastian Meixner: Die Ambivalenz des Überflusses – Anmerkungen zu Gottscheds Poetik, in: Aufklärung und Exzess – Epistemologie und Ästhetik des Übermäßigen im 18. Jahrhundert, hg. von Bernadette Gruber und Peter Wittemann, Berlin/New York 2022, 217–243, hier 233–238.



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– es gibt keine Schule des Witzes mit zu vermittelnden Regeln.38 Stattdessen empfiehlt Gottsched mittelbare Übungen wie das Zeichnen, weil so die Aufmerksamkeit trainiert wird. Diese Aufmerksamkeit ist die Voraussetzung des Witzes, weil sie es erlaubt, Scharfsinn zu üben und schließlich Ähnlichkeiten im Verschiedenen zu entdecken. Gottsched bemerkt in diesem Zusammenhang explizit: »Dergleichen Uebungen nun bilden unvermerkt poetische Geister« (AW VI/1, 154 [Hervorh.: C. R./S. M.]). Hier wird also keine explizite Norm rigide proklamiert, sondern ein Vermögen mittelbar angeleitet, trainiert und dergestalt ausgebildet. Damit wird auch die Gefahr des Nachahmens schlechter Vorbilder gebannt, die Gottsched in einer chiastischen Inversion auf den Punkt bringt: Man sagt, die Kinder sind wie Affen; weil sie alles nachmachen, was die Erwachsenen thun. Man möchte aber mit besserm Rechte sprechen, die Affen sind wie Kinder: denn diesen gebührt sonder Zweifel im Nachahmen der Vorzug. Alles, was wir lernen und fassen, das fassen und lernen wir durch die Nachahmung. (AW VI/1, 150)

Das auf diese Stelle folgende Opitz-Zitat verdeutlicht die hier in Stellung gebrachte chiastische Inversion, welche die Kinder zu Bildspendern für eine ›Bildung‹ der Tiere werden lässt. Denn während die Tiere »auch von Natur« (ebd.) ihre Eigenschaften kennen, sei der Mensch auf die Nachahmung angewiesen, die sich gerade in der mittelbaren Ausbildung der verschiedenen Vermögen am besten realisiere. Diese Mittelbarkeit hat im Zusammenspiel der hier Hand in Hand gehenden poetischen Vermögen von Einbildungskraft, Scharfsinn und Witz den nicht unerheblichen Vorteil, dass der Verstand nicht exzessiv in seinem Urteil wird. Genauso wie die Einbildungskraft nämlich »zu hitzig« (AW VI/1, 158) werden kann, denkt Gottsched mit der Übersetzung einer Passage aus Andrew Michael Ramsays moralischer Geschichte Les voyages de Cyrus zumindest die Möglichkeit von »zuviel Sittenlehre« und »zuviel[en] Vernunftschlüsse[n]«, die »Ekel« bzw. »disgust« (ebd.) auslösen und darin abermals auf eine Geschmackskategorie verweisen, obwohl es hier eigentlich um die Einbildungskraft geht.39 38 Zu einer genauen Bestimmung des Verhältnisses der unterschiedlichen Vermögen vgl. unseren Beitrag im Gottsched-Handbuch [Anm. 3]. Insbesondere die Relationierung von Witz und Scharfsinn profiliert den kritischen Poeten vor dem Hintergrund der öfter konstatierten Komplementarität der beiden Vermögen. Vgl. dazu Gottfried Gabriel: Logik und Rhetorik der Erkenntnis, Paderborn 22013, 99–115. Zur kulturpatriotischen Dimension eines spezifisch deutschen Witzes vgl. Gideon Stiening: Aristoteles als Garant des europäischen Ranges deutschsprachiger Dichtung in den Dichtungstheorien der frühen Neuzeit – Opitz – Gottsched – Lessing, in: Europas Sprachenvielfalt und die Einheit seiner Literatur, hg. von Andreas Kablitz, Freiburg i. Br. 2016, 135– 152, hier 139 f. 39 Das ethische Profil des Poeten hat in diesem Kapitel zwei Dimensionen: So hat der Poet seine Vermögen einerseits gut – und das heißt auch ethischen Prinzipien in der Verantwortung eines »Sittenlehrers« (AW VI/1, 148) entsprechend – zu gebrauchen. Andererseits aber hat er auch bestimmte ethische Normen zu verkörpern. Seine »tugendhafte Gemüthsart« (163) muss sich auch in den Inhalten seiner Texte spiegeln. Zur Frage des Rigorismus einer heteronomen Ästhetik vgl. in diesem Zusammenhang Andreas Härter: Digressionen – Studien zum Verhältnis von

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Es steht also eine effektive Balance zur Debatte, wenn das Verhältnis von Einbildungskraft und Urteilskraft angesprochen wird, welches nicht mit harten Regeln letztgültig bestimmt oder in allgemeinen Normen auf den Punkt gebracht werden kann. Stattdessen kann die Balance nur mittelbar durch Übungen erreicht werden. Das entscheidende Vermögen, das diese Balance schafft und das Gottsched in den Ausführungen zu den anderen Vermögen immer mitdenkt, ist der Geschmack bzw. der dezidiert gute Geschmack,40 der die Regeln empfinden kann. Das Ziel des perfekten Poeten oder des perfekten Kritikers besteht also nicht im souveränen Verfügen über ein Set an expliziten Normen und im umständlichen Prüfen anhand dieser Normen, sondern in einem gut funktionierenden Vermögen, das klar und undeutlich urteilt. Klar ist das Geschmacksurteil, weil es – wie im sensorischen Geschmack – eindeutige Urteile f ällt: süß oder bitter, gut oder schlecht, schön oder hässlich. Undeutlich ist es aber, weil das Urteilen nicht regelbasiert erfolgt oder die Regeln zumindest nicht immer expliziert werden – genauso wenig wie jedes Urteil seinen Gegenstand immer umständlich nach allen Regeln der Kunst prüfen muss. Bei der Bildung des guten Geschmacks spielen allfällige Fehler wieder eine erhebliche Rolle, weil die praktische Fähigkeit zum klaren und undeutlichen Urteilen »erweckt, angeführt, von Fehlern gesaubert, und auf dem guten Wege so lange erhalten werden [muss], bis sie ihres Thuns gewiß wird« (AW VI/1, 177).41 Diese Formulierung eröffnet zumindest einen praktischen Spielraum, weil das Urteil nicht auf eine nach stets deutlichen Normen funktionierende Urteilskraft zurückzuführen ist, sondern auf eine Beurteilungskunst, die eingeübt werden kann. Diese Kunst des Urteilens, die im Geschmack gebildet wird, leitet Gottsched abermals über Shaftesbury her, dessen »Labour and Pains of Criticism« (ebd.) er mit der jedem guten Geschmack vorausgehenden »Arbeit der Beurtheilungskunst« (178) übersetzt und dabei ausgerechnet die schmerzhafte Dimension der Kritik unterschlägt. Der Kritiker hat folglich sowohl zu urteilen als auch zu bilden, indem er die »zärtliche Empfindung« (AW VI/1, 183) der Regeln vermitteln soll. Das erfolgt nicht unbedingt mittels Einsicht in die Regeln, sondern ist weniger anspruchsvoll, weil die Prinzipien auch vermittelt werden können, ohne dass sie logisch hergeleitet und angeleitet werden. »Poeten von gutem Geschmack[]« (182) zu lesen und dabei sowohl die guten als auch die schlechten Stellen zu kommentieren – das führt dezidiert »unvermerckt« (ebd.) zur Ausbildung des guten Geschmacks. Und obwohl Ordnung und Abweichung in Rhetorik und Poetik – Quintilian – Opitz – Gottsched – Friedrich Schlegel, München 2000, 113–120. Zur Einbildungskraft vgl. exemplarisch Schmidt: Sinnlichkeit und Verstand [Anm. 3], 96–113. 40 Allgemein zu Gottscheds Geschmacksbegriff vgl. Freier: Kritische Poetik [Anm. 7], 111–130. 41 Vgl. zu der in diesem Zusammenhang wichtigen Differenzierung rhetorischer und philosophischer Deutlichkeit Davide Giuriato: »klar und deutlich« – Ästhetik des Kunstlosen im 18./ 19. Jahrhundert, Freiburg i. Br. 2015, 86–89. Zu den Dimensionen der Geschmacksbildung vgl. Wilhelm Amann: »Die stille Arbeit des Geschmacks« – Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung, Würzburg 1999, 263–265.



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Gottsched eine Übereinstimmung von gutem Geschmack und Regeln (vgl. 176) explizit annimmt und damit das Geschmacksurteil mit dem Verstandesurteil kongruiert, referiert er gerade keine universellen Regeln des guten Geschmacks. Der Maßstab der Bewertung selbst – die ›innere Vollkommenheit‹ – bleibt entsprechend vage; die Bildspender aus der Architektur, Malerei und Musik sprechen die Sprache von »Zahl, Maaß und Gewicht« (183) und verweisen abermals auf das übende Zeichnen, das bereits zur Ausbildung von Scharfsinn und Witz in Dienst genommen wurde. Eine Entgrenzung des Urteilens durch den klaren und undeutlichen Geschmack ist damit zumindest angelegt in den Bemühungen, ein gut funktionierendes Vermögen zu bilden, statt die Normen zu verdeutlichen. Eine auff ällige Asymmetrie in den das Argument ihrerseits verdeutlichenden Beispielen ist hierbei vielsagend: Denn während Gottsched eine narrativ ausgestaltete Belehrungsszene bei der Beurteilung eines architektonischen Entwurfs erzählt, die den dilettantischen schlechten Geschmack eines Bauherrn gegen den ausgebildeten guten Geschmack eines mathematischen Kenners mehrfach ausspielt, unterbleibt eine solche Belehrungsszene bei literarischen Fehlurteilen. Dort ist die Sache auch komplizierter, weil der architektonische Entwurf durch die Regeln der Proportion klar und deutlich zu beurteilen ist und der schlechte Geschmack entsprechend einfach durch den Verweis auf diese Regeln zu korrigieren ist. Für die Literatur sieht das anders aus, weil dort der undeutlich urteilende Geschmack die Prüfung durch das Verstandesurteil zumindest ein Stück weit ersetzt. Statt die Regeln des guten Geschmacks für die Literatur zu explizieren, verschiebt Gottsched also seine Argumentation auf die Bildung desselben. Ein weiterer wichtiger Punkt für diese Bildung ist die Frage nach der historischen Prägung des Geschmacks, die bereits bei unserer Analyse der Wahrscheinlichkeit eine Rolle gespielt hat. Der mit den »fünf Sinne[n]« (AW VI/1, 180) operierenden »gesunden Vernunft« (ebd.) bieten die Griechen ein Vorbild, weil sie »die vernünftigsten Leute von der Welt« (ebd.) gewesen seien. Intrikat für Gottscheds Argument ist die Verbindung von sinnlichem Urteil und der Schulung am antiken Vorbild. Dabei stellt er in mehreren rhetorischen Fragen unmissverständlich klar, dass diese Orientierung an antiken Autoren und vor allem an den Griechen nicht als Ausrichtung an einem veralteten Geschmack zu verstehen ist – und entsprechend auch nicht heteronomieästhetisch: »Was haben wir es nöthig, mit fremden Augen zu sehen, mit fremden Zungen zu schmecken und nach einem fremden Leisten zu denken?« (183). Die Antwort auf diese Frage ist kurz: ja, das – wenngleich metaphorische – Sehen, Schmecken und Denken mit fremden Sinnen ist nötig. Nicht weil die antiken Texte fehlerfrei sind oder es um eine umstandslose imitatio veterum geht, sondern weil die Texte die überzeitlichen Regeln der Literatur empfinden machen. Mit der kritischen Lektüre, die – wie oben an Homer und Tasso gezeigt – Schönheiten aufliest sowie Fehler ausweist und intertextuell relationiert, geht also eine Geschmacksbildung einher, die den prinzipiell überzeitlichen guten Geschmack zu den Regeln der Kunst aktualisierbar macht. Die Regeln, die Gottsched in der Nachahmung der Natur erkennt, werden praktisch veranschaulicht in den Texten der Alten. Deren

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Schönheit manifestiert sich in Dingen, die man – anders als die Bewertung einer mathematisch zu berechnenden Proportion – »weder fühlen noch greifen kann« (AW VI/1, 184). Aber lesend nachzuahmen und so vermittelt einzuüben sind sie, wäre in unserer Perspektive zu ergänzen, auch ohne dass die Regeln immer expliziert werden müssten. Gottsched schlägt also einen Umweg vor, der das wiederholt, was er in der Bildung des guten Geschmacks bereits konstatiert hat. So wie der unwissende Schüler – sei es als Poet, Kritiker oder schlicht Leser*in – die Regeln gar nicht einsehen muss, um den guten Geschmack auszubilden, so expliziert auch Gottsched in diesem Kapitel keineswegs die Regeln poetischer Nachahmung. Stattdessen fokussiert er am Schluss des Kapitels die Rezipient*innen, indem er den (größtenteils verdorbenen) Geschmack des »großen Haufens« (AW VI/1, 186) thematisiert. In diesem Figurengeflecht aus Schülern, Lehrern und Kennern geht es Gottsched nicht nur um die zeitgenössisch verkannten und ex post literaturgeschichtlich rehabilitierten Autoren, die sich gegen den verdorbenen Geschmack durchsetzen konnten. Vielmehr thematisiert er vor allem auch die Gründe für das Verderben. Statt explizite Belehrungsszenen anzuleiten oder gar universelle Regeln für solche Unterweisungen aufzustellen, bleibt es bei Hinweisen auf die Gründe für den verdorbenen Geschmack. Dieser liegt laut Gottsched an der »schlechten Auferziehung«, »[w]eil die Kinder durchgehends nur durch die Nachahmung urtheilen lernen« (191). Nachahmung ist damit nicht nur das Geschäft des Poeten in seiner Definition des ›geschickten Nachahmers aller natürlichen Dinge‹. Sondern das Nachahmen ist eine geschmacksbildende Praktik, die nicht auf Einsicht gegründet ist, sondern abermals betont »unvermerkt eine Richtschnur« (ebd.) für künftige Geschmacksurteile bildet. Die sich so auf die jungen Rezipient*innen und an potentielle Kritiker wie Poeten richtende Geschmacksbildung basiert also in nicht unerheblichem Maß auf der »bloße[n] Empfindung« (192). Eine Probe aufs Exempel für den guten Geschmack bildet nicht das Epos, das an die Grenzen der Wahrscheinlichkeit führt, sondern vor allem der Roman. Erst in der den besonderen Teil stark erweiternden vierten Auflage von 1751 ist ein eigenes Kapitel hinzugefügt, das den milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen gewidmet ist. Dort finden sich die gattungsspezifischen Regeln für den Roman guten Geschmacks, die im allgemeinen Teil noch vage bleiben. Während dieses stark an Pierre Daniel Huet angelehnte Kapitel auf den literaturgeschichtlichen Aufstieg der Gattung zwischen 1729 und 1751 reagiert und dabei auch Wahrscheinlichkeitsfragen verhandelt,42 reguliert der Geschmack als klares und undeutliches Vermögen 42 Vgl. Martus: Werkpolitik [Anm. 2], 120 f.; am Beispiel der Fabel vgl. Kristin Eichhorn: Selektive Lektüren in der »Critischen Dichtkunst« – Zur literaturpolitischen Dimension von Gottscheds Gattungssichtung, in: Johann Christoph Gottscheds »Versuch einer Critischen Dichtkunst« im europäischen Kontext, hg. von Leonie Süwolto und Hendrik Schlieper, Heidelberg 2020, 59–68; zum Profil des Ritterromans und zur Rolle des wahrscheinlichen Wunderbaren im Romankapitel der Critischen Dichtkunst vgl. Hendrik Schlieper: »Ich gedenke dieses trefflichen Buches mit Fleiß allhier« – Cervantes’ »Don Quijote«, der Roman und das Wunderbare in Gottscheds »Critischer Dichtkunst«, in:



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die Kunst des poetischen Urteilens. Den Roman definiert Gottsched nach einem kursorischen Durchgang durch die antike Gattungsgeschichte in Abgrenzung zum Epos weniger durch seine ungebundene Sprache, sondern mehr thematisch: Die Liebe wird zum »Hauptwerk«, die heroischen Taten nur zum »Zierrathe« (AW VI/2, 463), wobei die narrative Struktur der Odyssee das strukturelle Muster bleibt. Was nun einen guten von einem schlechten Roman unterscheidet, ist der Umgang mit der »Einheit der Handlung« (ebd.), von der Gottsched Konsistenz und durchgehende Motivierung ableitet. Die Grenze zu einem schlechten Roman ist damit eine graduelle und eine undeutliche: Zu viele Handlungsstränge, als dass sie noch ein Ganzes bilden, führen dazu, dass der Text »aus dem hundertsten ins tausendste verfällt« (ebd.). Doch anhand welcher Regel diese Grenze zu ermitteln ist, bleibt ebenfalls vage. Für unseren Zusammenhang ist abermals interessant, wie Gottsched diese übergeordnete Norm in der praktischen Beurteilung literarischer Texte aktualisiert. Erst gegen Ende des Kapitels kommt er dabei auf den modernen Roman und auf exemplarisch gute Romane zu sprechen, die er anhand von fünf Regeln beschreibt, die sich alle unter die übergeordnete Norm einer Einheit der Handlung fassen lassen. Neben anderen Texten und Lohensteins Arminius (1689–1690) als einzigem deutschen Roman zählt er auch Ramsays Les voyages de Cyrus (1727) zu diesen guten Romanen, nachdem er ihn bereits bei der Diskussion der Einbildungskraft zum Beispiel einer maßvollen Verwendung von Sentenzen herangezogen hat. Diese vorbildlichen Romane entsprechen den fünf Regeln der Gattung mehr oder weniger: ein nicht notwendig bekannter Held, die ›poetische‹, d. h. nicht chronologische Ordnung des Plots, die Beschränkung auf die wichtigsten Ereignisse, der natürliche, also mittlere Stil und – abermals als letzte Regel – die ethische Grundhaltung, die gerade bei der Darstellung von Liebesdingen angezeigt sei. Die Bewertung der Texte anhand dieser einzelnen Regeln erfolgt allenfalls kursorisch, wobei Konsistenz zum übergeordneten Maßstab gesetzt wird. Auffällig ist der deliberative Gestus, der die Regeln gerade nicht absolut setzt, sondern einen Spielraum eröffnet. Das Urteil ist hier zwar beim Einzeltext immer klar: Ob ein Roman in dem Aspekt zu loben oder zu tadeln ist, ist für Gottsched nicht zweifelhaft. Aber die Gründe auf einer abstrakten Ebene sind dezidiert auch undeutlich. Einen unbekannten oder – wie im Falle des »reisenden Cyrus« (AW VI/2, 475) – einen bekannten Helden als Sujet zu wählen, ist keine Frage der klaren Regelkonformität, sondern eine Frage der relativen Abwägung – und steigert bei Ramsay die Wahrscheinlichkeit nicht modallogisch bzw. fiktionstheoretisch, sondern wiederum im praktischen intertextuellen Vergleich. Regelkonformität wird hier also explizit nicht als rigider Selbstzweck inszeniert, sondern als Mittel zu einem guten Roman, den Gottsched freilich gerade in der deutschen Sprache noch für ein Projekt der Zukunft hält. Ausgerechnet die Gattung, die im allgemeinen Teil als den Geschmack potentiell Johann Christoph Gottscheds »Versuch einer Critischen Dichtkunst« im europäischen Kontext [Anm. 42], 69–87, bes. 72–75 und 81–87.

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verderbend dargestellt wird (vgl. AW VI/1, 213 u. 221), kann damit durchaus zur Geschmacksbildung beitragen. In den Praktiken kritischen Urteilens wird damit deutlich: So anspruchsvoll das normative Leistungsprofil des Poeten und Kritikers bei Gottsched auch ist, so rigide die Sentenzen und die philosophischen Leitbegriffe auch sind, so flexibel und empfindungsbasiert ist die praktische Herausbildung des Geschmacks als ein zentrales Vermögen der Kritik. Ganz besonders aber hat die Kritik – ob nun in Form der modaltheoretisch grundierten Beurteilungskunst oder der Geschmacksbildung – stets den Charakter einer erlernbaren und lehrbaren Übung. Die Normpoetik der Auf klärung, wie sie Gottsched vorlegt, hat darum abseits aller rigider Programmatik in den Praktiken der Kritik, die den Geschmack mit der Wahrscheinlichkeit verbinden, eine bislang zu selten registrierte moderate Facette.

Praktiken des Heldengedichts Baumgartens Interventionen in Klopstocks Messias im Kollegium über die Ästhetik Frauke Berndt Transversale für Anselm Haverkamp

I. Der ›ästhetische Krieg‹: gelehrte Praktiken des Streitens

Ohne Friedrich Gottlieb Klopstocks Versepos Der Messias keine Ästhetik – das ist die These, die ich im Folgenden ausarbeiten möchte, indem ich die Transversale zwischen dem Diskursivitätsbegründer der modernen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, und dem gefeierten jungen Genie rekonstruieren werde. Den Messias zu lesen bedeutet auch bei diesem Projekt, »ihn mit ihm gegen ihn zu lesen«,1 wie Winfried Menninghaus es formuliert – und damit den Nagel auf den Kopf einer historischen Konstellation trifft, in der dieses Lesen noch im Horizont gelehrter Praktiken stattfand. Dabei verstehe ich unter Praktiken mit Andreas Reckwitz »routinisierte Aktivitäten eines menschlichen Subjekts im Umgang mit Objekten«.2 Diese schließen auch »intellektuell ›anspruchsvolle‹ Tätigkeiten wie die des Lesens, Schreibens oder Sprechens«,3 vor allem aber die gelehrte Praktik des Streitens bzw. der Kontroverse ein. Denn das Lesen des Messias führt mitten in den so genannten ›kleinen Dichterkrieg‹, der in den 1740er Jahren zwischen Halle und Leipzig geführt wird;4 er bildet einen Nebenkriegsschauplatz des ›deutschen Dichterkrieges‹ um die Autonomie der Literatur zwischen Johann Christoph Gottscheds Anhänger*innen in Leipzig und denjenigen von Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger in Zürich.5 Mit der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge des 1 Winfried Menninghaus: Klopstocks Poetik der schnellen Bewegung, in: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie – Dichtungstheoretische Schriften, Frankfurt a. M. 1989, 259–361, hier 259. 2 Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), 282–301, hier 292. 3 Ebd., 290. 4 Vgl. Ernst Bergmann: Georg Friedrich Meier als Mitbegründer der deutschen Ästhetik – Unter Benutzung ungedruckter Quellen, Leipzig 1910, 90–109. 5 Den Begriff ›Dichterkrieg‹ für die Kontroverse prägt 1742 in drei Streitschriften Johann Christoph Gottsched: Der deutsche Dichterkrieg – Erstes Buch; Des deutschen Dichterkrieges – Zweytes Buch; Des deutschen Dichterkrieges – Drittes Buch. Vgl. Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts – Neue Untersuchungen zu einem alten Thema, in: Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung, hg. von Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer, Göttingen 2009, 60–104; Christoph Deupmann: Der Leipzig-Zürcher Literaturstreit: G***d, die ›Schweizer‹ und die Dichterkrönung Christoph Otto von Schönaichs, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte, hg. von Christoph Jürgensen und Gerhard Kaiser, Heidelberg 2011, 69–88.

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Klopstock’schen Messias 1748 in den Neuen Beyträgen zum Vergnügen des Verstandes und des Witzes fahren die Gottsched-Gegner*innen ein schweres Geschütz auf. Daraus, dass der Messias ein hochpolitisches Unterfangen ist, macht der 21-jährige Absolvent der fürstlichen Landesschule Pforta bereits 1745 in seiner im Original lateinischen Abschiedsrede keinen Hehl6: »Ein jedes Volk von Europa kann mit dem Verfasser eines Heldengedichts prangen« – mit einem Homer, Vergil, Dante Alighieri, Torquato Tasso oder John Milton, der die Gallionsfigur der beiden Zürcher ist. Nur die »Deutschen« müssen, so klagt er, »wegen der so lange vernachläßigten Ehre des Vaterlands, von edler und heiliger Schamröthe glüh[en]«.7 Und in gekonnter Selbstinszenierung setzt er sich selbst die Krone auf 8: »Wofern aber unter den jezt lebenden Dichtern vielleicht keiner noch gefunden wird, welcher bestimt ist, sein Deutschland mit diesem Ruhme zu schmücken; so werde gebohren, großer Tag! der den Sänger hervorbringen« wird. In Jena arbeitet der Theologiestudent im selben Jahr die ersten drei Gesänge des Messias in Prosa aus, die er 1746 in Leipzig in epische Hexameter umschreibt. Dort schließt er sich auch dem Kreis der ›Bremer Beiträger‹ an – und befindet sich plötzlich mitten im Schlachtgetümmel! In Zürich wird Bodmer sofort auf den Messias und den jungen Autor aufmerksam, dessen Besuch 1750 in Zürich Legende ist. Die erste Rezension schreibt Albrecht Haller am 29. August 1748 in den Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen, für die sich Klopstock in einem Brief vom 17. September 1748 bedankt. Doch der eigentliche Streit um den Messias beginnt mit Georg Friedrich Meier, der an der Front zwischen Leipzig und Halle als Bodmers Generalfeldmarschall auftritt. Nicht zuletzt regt Bodmer Meiers Rezension des Messias an, weil die »Herrn Geistlichen in der Schweiz dieses Gedicht auf der Cancel so gar anpreisen«.9 1749 besorgt Meier dann mit Erlaubnis des Verlegers der Bremer Beyträge Nathanael Sauermann eine separate Buchausgabe der drei Gesänge bei Carl Hermann Hemmerde in Halle,10 der er die Gattungsbezeichnung hinzufügt: Der Meßias. Ein Heldengedicht; diese Ausgabe enthält auch Meiers eigene Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Weil von den Gottschedianer*innen postwendend ausgerechnet in den Hallischen Zeitungen auf Meier geschossen wird, sieht er sich noch im selben Jahr 1749 zu einer Vertheidigung seiner Beurtheilung bemüßigt, die 1752 in zweiter Auflage und um eine Fortsetzung ergänzt in zwei Bänden ebenfalls bei Hemmerde erscheint.11 Dass es freilich nicht nur um die Bewertung des Wunderbaren und den Status von Engeln 6 Carl Friedrich Cramer: Klopstock – Er; und über ihn – Ersther Theil (1724–47), Hamburg 1780, 85. 7 Ebd., 88. 8 Ebd. 9 Georg Friedrich Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias I, Halle 1752 [Gesänge I–III], 6. 10 Vgl. Franz Muncker: Briefwechsel Klopstocks und seiner Eltern mit Karl Hermann Hemmerde und Georg Friedrich Meier, in: Archiv für Literaturgeschichte 12 (1884), 225–288, hier 225. 11 Den ersten direkten Kontakt stellt Klopstock am 23. Dezember 1750 zu Meier her, der die Ausgabe der Gesänge I–V des Messias bei Hemmerde besorgt.



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in der Literatur geht, sondern dass der Messias in seiner »Anlage und Oeconomie«12 zu denken gibt, obwohl diesem Denken noch die angemessenen Begriffe fehlen, motivieren meine Überlegungen, in welchem Verhältnis die Figuration des Textes und die damit einhergehende »Gestalt« und »Kraft«13 zur zeitgenössischen Literaturtheorie steht. Weil sich im ›kleinen Dichterkrieg‹ vor allem zwei Professoren der Weltweisheit – Gottsched in Leipzig, Meier in Halle – hochgerüstet gegenüberstehen,14 eskaliert der poetologische zu einem ›ästhetischen Krieg‹.15 Genau diese Ästhetisierung der Literaturkritik führt zu jener »glückliche[n] Paarung«16 von Klopstock und Baumgarten, um die es mir in diesem Beitrag geht. Denn Klopstock ist Baumgarten »affin«,17 wie es Anselm Haverkamp auf den Punkt bringt, obwohl der Philosoph und der Autor des Messias einander – wie ich andernorts argumentiere – »weder je begegnet« sind »noch der eine zum Werk des anderen Stellung bezogen« hat.18 Tatsächlich kämen »als Kuppler« der Beziehung jedoch Baumgartens Schüler Meier »sowie als Ort der Verkuppelung das kulturelle Zentrum Halle in Frage«.19 Denn der Krieg zwischen Meier und Gottsched hat einen zentralen Gegenstand: Baumgartens Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus (1735), in denen er zum ersten Mal einen systematisch begründeten Literaturbegriff ent­w ickelt, d. h. keinen, der auf Geschmack, Moral oder Nutzen basiert, sondern einen, der Psychologie, Semiotik, Rhetorik/Poetik, Metaphysik und Ethik verbindet. In seiner Rezension von 1745 greift der Gottschedianer Theodor Johann Quistorp die Hallenser Magisterarbeit scharf an, »misunderstanding the latter’s definition of poetry and using the misunderstanding for accusing poetry of subduing reason to passions«.20 In der Verteidigung der Baumgartenschen Erklärung eines Gedichts rettet nun Meier 1746 Baumgarten vor Quistorps Kritik. Auch Gottsched mischt sich in den Schlagabtausch ein, gegen dessen Versuch einer Critischen Dichtkunst (1742) wiederum der Hallenser »Co-founder« 21 der Ästhetik Meier in der noch einmal bei Hemmerde erscheinenden Beurtheilung der Gottschedi12 Georg Friedrich Meier: Vertheidigung seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Messias, wider das 75. Stück der Hallischen Zeitungen, Halle 1749, 11 [Auszüge in: ders.: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen II, hg. von Hans-Joachim Kertscher und Günter Schenk, Halle 2000]. 13 Ebd., 5 und 8. 14 Vgl. Bergmann: Georg Friedrich Meier als Mitbegründer der deutschen Ästhetik [Anm. 4], 128–140. 15 Vgl. ebd., 200–224. 16 Anselm Haverkamp: Klopstock/Milton – Teleskopie der Moderne – Eine Transversale der europäischen Literatur, Stuttgart 2018, 3. 17 Ebd. 18 Frauke Berndt: Poema/Gedicht – Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/ Boston 2011, 1. 19 Ebd. 20 Alessandro Nannini: »Können Sie denn dergleichen schreiben, ohne in Wallung zu gerathen? Ich nicht« – A Commented Edition of an Unknown Letter of Baumgarten to Meier, in: Diciottesimo Secolo 3 (2018), 205–227, hier 221. 21 Ebd., 206.

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schen Dichtkunst (1747–1748) eine Attacke reitet, indem Meier Gottscheds Scheitern an der Elle der Baumgarten’schen Kategorien misst. Es ist genau dieser ›ästhetische Krieg‹, der den Hintergrund für den Separatdruck des Messias sowie Meiers Beur­ thei­lung und Vertheidigung bildet, wie Alessandro Nannini in einem Nebensatz feststellt – und damit das missing link zwischen Klopstock und Baumgarten nachträgt 22: »If we add to these elements the controversy over the Christian épopée, in particular after the publication of the first three cantos of the Messiah by Klopstock (1748), and the controversy over occasional poems, the growing tension between Leipzig and Halle is all but unexpected«. Auch ein jüngst erst edierter Brief vom 25. Oktober 1754 von Baumgarten an Meier dokumentiert »a clear-cut stance on the ›aesthetic war‹ against Gottsched as well as on the reasons of his public silence in the face of the latter’s attacks« 23 gegen Baumgarten selbst – gesundheitliche Gründe seien Ursache seines Schweigens. Klopstock wie Baumgarten stehen also im Zentrum von Schlachten, an denen sie nicht persönlich teilnehmen, sondern für die beide Munition liefern – der eine poetische, der andere ästhetische. Dass Baumgarten den Messias oder wenigstens Meiers Beurtheilung, die sich in seinem Besitz befand, tatsächlich gelesen hat, beweisen drei Referenzen, die sich zwar nicht im philosophischen Hauptwerk, Baumgartens zweibändiger Aesthetica (1750/58), dafür aber in der Nachschrift eines ästhetischen Kollegs finden, das Baumgarten im Sommersemester 1750 oder im Wintersemester 1750/51 an der Academia Viadrina in Frankfurt an der Oder gehalten hat. Hingegen hat Klopstock zwischen 1745, dem Beginn der Arbeit am Messias, und 1748, dem Erstdruck, weder Baumgartens Meditationes rezipiert, noch kann er Meiers Anfangsgründe rezipiert haben, die erst im selben Jahr wie die ersten drei Gesänge erscheinen. Meier und Klopstock stehen dieser Zeit »in keiner nähern Verbindung«, »kennen einander nicht einmal in Person und wechseln auch keine Briefe mit einander«,24 wie Meier betont. Nicht philosophisch, sondern »in einem ›wilden‹ Modus der Theoriebildung« 25 begleitet Klopstock stattdessen seine eigene poetische Produktion. Es regiert also das Serendipitätsprinzip, wie man mit Haverkamp formulieren kann 26: weil Klopstock Baumgarten in eben dem Maße affin ist, wie dieser dem ramistischen, von Milton literarisch ausgeprägten rhetorischen Strang der Tradition, [der] den von Harold Bloom bis in die amerikanische Postmoderne geführten Tropen des ›re-troping‹ entspricht und in der Ästhetik Baumgartens, von Blooms Map of Misreading übersehen (1975), eine späte Frucht der im Deutschland der konfessionellen Bürgerkriege verhinderten Renaissance und ihrer möglichen poetologischen Standards hervorgebracht hat. 22 Ebd.,

220. 206. 24 Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias [Anm. 9], 6. 25 Berndt: Poema/Gedicht [Anm. 18], 7. 26 Haverkamp: Klopstock/Milton [Anm. 16], 2. 23 Ebd.,



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Um der Affinität von Klopstocks Messias und Baumgartens Ästhetik auf die Spur zu kommen, werde ich im Folgenden zunächst Baumgartens so genanntes Kollegium über die Ästhetik im Rahmen seines ästhetischen Projekts einordnen, um daran anschließend zu zeigen, dass Baumgarten das Kolleg am imaginären Fluchtpunkt des »Heldengedicht[s]« ausrichtet,27 wenn er die Ästhetik in Anweisungen und Anleitungen übersetzt – in die »Regeln zum schönen Denken« (§ 1 pass.). Mit den drei Referenzen auf Klopstocks Versepos verbinden sich drei Interventionen mit dem Messias: In Paragraph 158 geht es um rhetorische Praktiken des ›Bereicherns‹, in den Paragraphen 394 und 395 um ethische Praktiken des ›Vergrößerns‹ und in Paragraph 591 um ontologische Praktiken eines ›Wahrheit-ähnlich-Machens‹. II. Baumgartens Diskurspraktik

Baumgartens Kollegien basieren auf der gelehrten Praktik des Vorlesens. Ab 1737 in Halle und ab 1740 in Frankfurt an der Oder hat er Kollegien in verschiedenen Disziplinen abgehalten: Poetik, Theologie und Ästhetik. Wenn Baumgarten dem Ruf an die Viadrina folgt, dann hat er »seinen hier in Halle entworfenen Plan der Aesthetik« im Gepäck, erinnert Meier 28: »Er hat in einem Collegio über die Aesthetik« 1742/43 »die Anfangsgründe des schönen Denkens, in kurzen lateinischen Paragraphen ausgeführt«. »On this manuscript«, führt Nannini aus, »Meier will give his first class of aesthetics in the winter semester 1745/46 and ground his Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748–1750)«.29 Auf diesem Plan basieren außerdem sowohl Baumgartens Aesthetica als eben auch das in Frankfurt an der Oder gehaltene Kolleg, das sowohl einen eigenständigen als vor allem auch einen genau datierbaren Beitrag zu Baumgartens ästhetischem Projekt leistet. Gegenüber der »Wissenschaft des Deutlichen« bringt er hier die »Wissenschaft von allem, was sinnlich ist«, in Stellung, indem er die Ästhetik kurzerhand zur Voraussetzung der Logik erklärt: »Wir wissen jetzt, daß die sinnliche Erkenntnis der Grund der deutlichen ist; soll also der ganze Verstand gebessert werden, so muß die Ästhetik der Logik zu Hilfe kommen« (§ 1). Bernhard Poppe hat die Kollegnachschrift 1907 ediert, deren Autor er noch nicht identifizieren konnte; Nannini weist sie jüngst Baumgartens Schüler Johann Samuel

27 Alexander Gottlieb Baumgarten: Kollegium über die Ästhetik, in: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten – Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant – Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Borna-Leipzig 1907, 65–258, hier § 53 pass. [Die Kollegnachschrift wird im Folgenden im Fließtext mit der Paragraphenzahl zitiert]. 28 Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften I, Halle 1748, [a2]. 29 Nannini: »Können Sie denn dergleichen schreiben, ohne in Wallung zu gerathen? Ich nicht« [Anm. 20], 210.

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Patzke zu.30 Das Manuskript mit der Signatur MS NIC 249 31 beschreibt Poppe folgendermaßen:32 »Die Handschrift ist im Besitze der Königlichen Bibliothek in Berlin. Sie umfaßt 47 Blätter; auf der ersten Seite heißt es: A. G. Baumgarten. Kollegium über die Ästhetik«. In Anmerkung 1 ergänzt er:33 »In der ›Königlichen Bibliothek‹ zu Berlin befinden sich noch folgende unedierte Werke Baumgartens: ›Isagoge Philosophica in Theologiam Theticam‹, eine Kollegnachschrift von Johannes Gottfried Beneke. 1748. 3. Teile ›Zur alten Geschichte des Vaterlandes‹, eine Kollegnachschrift. Ferner zwei Briefe an Wippel«. Die Suche nach dem Verbleib des Manuskripts in der heutigen Staatsbibliothek zu Berlin kam bisher zu dem Ergebnis, dass es als Kriegsverlust gelten muss34: »For over the course of the Second World War, the manuscript […] shared the destiny of Friedrich Nicolai’s estate to which it belonged in Blumenow castle, which burned down in 1946«. Nannini zieht daraus den hoffnungsvollen Schluss35: »The manuscript must therefore be considered as lost, albeit not necessarily destroyed«. In seinem Vorwort zur Veröffentlichung informiert Poppe außerdem 36: Die Nachschrift aber ist im allgemeinen, wie aus der Vergleichung mit Baumgartens ›Aesthetica‹ hervorgeht, sehr genau; Baumgarten legte nämlich die Aesthetica seinen Vorlesungen zugrunde, was die Einleitung § 1, ferner die §§ 302, 305, 306, 462, 476 der Handschrift deutlich beweisen. Übrigens stimmen auch die einzelnen Paragraphen der beiliegenden Handschrift sowohl, was die Zahl als auch was den Inhalt der einzelnen Paragraphen betrifft, mit der ›Aesthetica‹ überein, nur daß die Handschrift ausführlicher ist und gleichsam für viele Stellen der ›Aesthetica‹ einen Kommentar bietet. Die Handschrift enthält den ersten Teil der ›Aesthetica‹, der im März 1750 herausgegeben wurde.

Einigkeit besteht in der Forschung darüber, dass die Kollegnachschrift keine wortgetreue Übersetzung des ersten Teils der Aesthetica ist; ausgebeutet werden gern und oft die Beispiele. Aufgrund ihres mündlichen Stils zeichnet sich die Kollegnach30 Für den Hinweis auf diese Autorschaft danke ich Alessandro Nannini. Er veröffentlicht seine Recherche in Anmerkung 83 zum Aufsatz: Aesthetics as Apolaustic – Baumgarten and the Controversy over Sensitive Pleasures, in: »Preisfragen« in the German Enlightenment, hg. Von Tinca Prunea-Bretonnet and Christian Leduc, [im Erscheinen] London 2023: »In his autobiography, Nicolai claims he had asked for the notes of Baumgarten’s lectures on aesthetics to his friend Patzke (along with the notes on Baumgarten’s lectures on logic and metaphysics). He also claims he had transcribed a great deal of it, see« Friedrich Nicolai: Über meine gelehrte Bildung, Berlin/ Stettin 1799, 27 f. 31 Vgl. Salvatore Tedesco: Avvertenza del curatore, in: Alexander Gottlieb Baumgarten: Lezioni di estetica, hg. von Salvatore Tedesco, Palermo 1998, 21. 32 Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten [Anm. 27], 62. 33 Ebd. 34 Alessandro Nannini: In the Wake of Clio – Alexander G. Baumgarten on History, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 93 (2019), 1–41, hier 22. 35 Ebd., 22, Anm. 166; vgl. Werner Schochow: Bücherschicksale – Die Verlagerungsgeschichte der Preußischen Staatsbibliothek, Berlin 2003, 160–165. 36 Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten [Anm. 27], 62.



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schrift durch eine ganz spezifische »Diskurspraktik« 37 aus, in der Epistemologie als Praxeologie auftritt. Den Fokus verlagert die Kollegnachschrift nämlich von der Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis auf die Anleitungen und Anweisungen zum Dichten, die »der Schöndenkend[e]« zu befolgen hat (§ 13 pass.) – eine schöndenkende Frau ist in dieser Schrift, anders als in Baumgartens Philosophischen Brieffen von Aletheophilus (1741), nicht vorgesehen. Mit der Praxeologie des schönen Denkens steht im Kolleg daher vor allem ein tacit knowledge zur Diskussion, das Baumgarten aus der Antike in die Gegenwart übersetzt. »[D]enn die Gelehrten der folgenden Zeiten haben nach ihnen«, gemeint sind die antiken Dichter, »die Regeln der Poesie festgesetzet« (§ 53). Nicht um Erkenntnisprinzipien geht es daher im Kolleg, sondern um die poetologischen »Regeln zum schönen Denken« (§ 1). Diesen Regeln hat der Dichter zu folgen, um – sollte es besonders gut laufen – sogar ein Heldengedicht zu verfassen, zu dem zwar Homer und Vergil, jedoch nicht Ovid geboren gewesen wären (vgl. § 61). In den deutschsprachigen Territorien war vor Klopstock niemand dazu in der Lage, wie Baumgarten kulturkritisch anmerkt: Wann man über die Regel nachdenkt, so wird man vielleicht einigermaßen die Frage beantworten können, warum die Deutschen noch kein Heldengedicht haben. Sie haben so viel notwendige Geschäfte, die mit so vielen Zerstreuungen verbunden sein, daß der ästhetische Kopf auch bei seinem Reichtum nicht reich genug denken kann, indem er stets in andere Geschäfte eingehen muß, welche, eben so viel Verdrießlichkeiten und Hindernisse für den schönen Geist sein. (§ 155)

Diese Ausrichtung an den Anleitungen und Anweisungen zum Dichten unterscheidet die Kollegnachschrift zwar nicht kategorisch, aber im Zugriff auf den neuzugründenden Diskurs von der Aesthetica. Zu den Referenzen auf antike Klassiker, insbesondere Homer und Vergil, kommen sowohl diejenigen auf zeitgenössische europäische als auch auf empfindsame Autoren hinzu, die im ›kleinen Dichterkrieg‹ eine Rolle spielen: Christian Fürchtegott Gellerts Fabeln, Albrecht Hallers Lyrik, die anakreontischen Oden des Rokokos und eben Klopstocks Messias. Obwohl eigentlich die Meditationes die Keimzelle der Aesthetica bilden, in denen Literatur (poema) den Leitbegriff bildet, und Baumgarten nicht nur in der Kollegnachschrift, sondern auch in diesen beiden systematischen Werken Aristoteles, Cicero, Horaz, Quintilian und Pseudo-Longinos in Sachen Literatur zu Rate zieht, haben die Beispiele im Kolleg einen anderen Stellenwert. Zum Tragen kommen sie freilich nur unter der Voraussetzung, dass die Kollegnachschrift nicht als Paralipomena zur Aesthetica, sondern als eigenständiger Beitrag des ästhetischen Projekts gewürdigt wird. Die Pointe dieses Beitrags besteht darin, dass die Kollegnachschrift die »Poe­ sie« selbst als »schöne[] Wissenschaft[]« sowie »Heldengedicht« und »Heldenode« als die »schwersten Teile[] dieser Wissenschaft« bezeichnet (§ 53), die – an der Elle 37 Johannes Hees-Pelikan: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Einleitung, in: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan und Carolin Rocks, Göttingen 2022, 7–37, hier 9.

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der ›Wahrheit‹ gemessen – grundsätzlich zur »Metaphysik des Schönen« gehören (§ 1). Mit Blick auf die Positionierung des Messias in der Kollegnachschrift dreht sich das Verhältnis von Theorie und Beispiel deshalb im Grunde genommen um, so dass Klopstocks Versepos zu einem Gründungsdokument moderner Theoriebildung avanciert – frei nach dem Motto aus der Deutschen Gelehrtenrepublik: Literarische »Darstellung hat T he o r ie «.38 Wenn Baumgarten diese »mittlere Wissenschaft« reflektiert (§ 586), dann analysiert er sie anhand ihrer Produkte, d. h. er beobachtet »Gedichte[]« (§ 1) – insbesondere die Gattung des »Epischen Gedicht[s]« (§ 61). Doch weniger die Struktur und Funktionen der Gedichte – und ›Gedicht‹ meint hier tatsächlich die literarischen Formen in gebundener Rede –, als vielmehr die Regeln für den Dichter, sie zu verfassen, bilden den Fokus des Kollegs, in dem sechs rhetorische Stilkategorien die Perfektionskategorien der sinnlichen Erkenntnis bilden: »›Reichtum, Adel, Wahrheit, Licht, Gründlichkeit und Leben, / Wer das meiner Einsicht gibt, hat mir viel gegeben‹« (§ 22). Um zu verstehen, »wie das Subjekt beschaffen sein muß, das sie [die Ästhetik: F. B.] treiben soll« (§ 27), führt Baumgarten in den ersten sieben Abteilungen der Kollegnachschrift Argumente aus Ethik und Ästhetik zusammen, um den ›Charakter eines schönen Geistes‹ in allen Facetten zu beleuchten (vgl. §§ 28–176). Dabei fungiert der Begriff des Charakters gewissermaßen als Blaupause für 1) die natürlichen oder angeborenen Anlagen des Dichters, 2) die Anleitungen zu praktischen Übungen und Selbsttechnologien, 3) die Anweisungen zum theoretischen Studium, 4) die Reflexion auf den kreativen Prozess, 5) dessen nachträgliche Korrektur sowie 6) eine Art praxeologische Summa, mit der Baumgarten seine Charakterlehre abschließt. Was dem Dichter gelingt oder misslingt, was er tun oder lassen soll, bemisst sich nämlich einzig und allein am Produkt, und d. h. die Praktiken des schönen Denkens spiegeln sich in den Figuren des schönen Darstellens, mit dem das schöne Denken seine Formen teilt 39: »the practices appear as rhetorical figures that represent the forms of the practices and their traces in literary texts« – als Spuren, die Baumgarten nicht wie die Rhetorik in Wort- und Gedankenfiguren aufteilt, sondern nach seinen Maßgaben folgendermaßen neu systematisiert: Die Figuren teilte man sonst noch nach der gewöhnlichen Leier ein; wir werden sie aber mit Grund nach den sechs Stücken der Erkenntnis einteilen. Wann ich eine besondere Schönheit im Reichtum oder im Adel der Gedanken anbringe, so habe ich figuram copiae oder nobilitatis usw. Die Figuren steigen also auch nach der Ordnung, in welcher die sechs Stücke der Erkenntnis stehen. (§ 26)

38 Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik – Ihre Einrichtung – Ihre Gesetze – Geschichte des letzten Landtags – Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar – Heraus­gegeben von Klopstock, in: ders.: Werke und Briefe – Historisch-kritische Ausgabe VII/1, hg. von Rose-Maria Hurlebusch, Berlin/New York 1975, 9 [Hervorh. im Original]. 39 Frauke Berndt: Facing Poetry – Alexander Gottlieb Baumgarten’s Theory of Literature, übers. von Anthony Mahler, Berlin/Boston 2020, 167 f.



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Doch nicht nur die sieben Abteilungen, die den ›Charakter eines schönen Geistes‹ behandeln, sind in Habitus und Duktus unterweisend, sondern auch die darauf folgenden Abteilungen, in denen Baumgarten im Kolleg drei von sechs Leitbegriffen der ›Einsicht‹ debattiert: ›Reichtum‹, ›Adel‹ und ›Wahrheit‹. An allen drei Systemstellen der Kollegnachschrift interveniert Baumgarten dabei in den Messias. Diese Interventionen bestätigen, dass sich die Begriffe des ästhetischen Diskurses eben gerade nicht über eine ›reine‹ philosophische Begriffsarbeit gewinnen lassen, sondern eine Reihe von Praktiken voraussetzen. III. »Vollständigkeit«: rhetorische Praktiken des Bereicherns

Die erste Intervention führt zu der Forderung nach Vollständigkeit des Gedichts – und zwar in den Abteilungen 8–14 der Kollegnachschrift, in denen es um den ästhetischen Reichtum geht (vgl. §§ 115–167). In der 13. Abteilung »Von der schlechterdings notwendigen Kürze« (vgl. §§ 158–166) heißt es über den Messias: Die Kunstrichter haben immer bisher die Kürze einer Schrift überhaupt mit ihrer Relativkürze verwechselt. Man hat ein Sprichwort: Je reicher, je besser, das aber nicht allgemein wahr ist. Im Reiche des Schönen kann der allzugroße Reichtum nachteilig werden; soll ich schön denken, so muß ich überhaupt kurz denken. […] Aus dem Chaos der Materien muß der schöne Geist so viel herausnehmen, als er zu seinem vollständigen Zwecke braucht. Vollständig nehmen wir hier nicht nach der Strenge der Logik, wo kein Kennzeichen, kein Merkmal fehlen muß, sondern wir meinen hierdurch, was zur Vollständigkeit gehört, die durch die Sinne wahrgenommen wird. […] Die vollständige Denkungsart gehet immer nach dem Zwecke. Ich muß eine andere Vollständigkeit im Messias und eine andere im Aurelius beobachten. Ich untersuche die Zwecke beider Arten von Gedichten, und nach diesen beurteile ich ihre Vollständigkeit. (§ 158)

Die zentrale Spannung beim Begriff der Vollständigkeit entsteht zwischen Reichtum und Kürze, wobei diese Relation metaphysisch dadurch verankert ist, dass es mit der Spannung um diejenige zwischen Teil und »Schönheit des Ganzen« geht (§ 98 pass.). Den Begriff der Vollständigkeit verhandelt Baumgarten sowohl auf der Seite des Objekts als auch auf derjenigen des Subjekts, indem er dem Reichtum der Gegenstände oder Sachen die rhetorischen Praktiken des Bereicherns gegenüberstellt, die das Denken figurieren. Für den »ästhetische[n] Kopf, der reich denken soll« (§ 149), gibt Baumgarten daher Regeln an die Hand, die in eine ›Topik‹ münden (vgl. §§ 130–141). Die Eigenschaft der Vollständigkeit des Denkens stammt aus den Meditationes, in denen Baumgarten das Gedicht als vollständige sinnliche Rede definiert (»Oratio sensitiva perfecta est Poema«40). In dieser Definition markiert 40 Alexander Gottlieb Baumgarten: Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichtes, übers. und hg. von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, § 9 [Hervorh. im Original].

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das Attribut perfectus die Spannung zwischen Rhetorik und Metaphysik, die sich am Begriff der Vollständigkeit auch in der Kollegnachschrift entlädt. Die Gegenstände in ihrer Merkmalsfülle oder Mannigfaltigkeit zu denken, bedeutet, sie sowohl rhetorisch vollständig als auch metaphysisch vollkommen zu denken, damit das Gedicht schön sein kann. Dass angesichts von Vollständigkeit überhaupt von Schönheit gesprochen werden kann, hängt mit der Figuralität des Gedichts zusammen, mit der Baumgarten die Autonomie des Schönen begründet. Schön kann nur sein, was »Figur« ist (§ 145). Nicht Klopstock, sondern Hallers Gedicht Morgen=Gedanken. 21. Mart. 1725 dient Baumgarten zur Veranschaulichung derjenigen Figuren (Argumente), die an der Systemstelle des ästhetischen Reichtums als Spuren des schönen Denkens gelesen werden können. Die so genannten ›bereichernden Argumente‹ basieren auf dem Gesetz: ›Aus eins mach’ zwei‹, wie es Baumgarten an sämtlichen Wortfiguren, insbesondere an den Wiederholungsfiguren, beobachtet (vgl. §§ 142–148); in rhetorischer Tradition werden sie als copia verstanden (vgl. § 26 pass.). Kein Wunder, dass er dem Dichter deshalb den Messias zur Beobachtung von Vollständigkeit empfiehlt, der dem Gesetz: ›Aus eins mach’ zwei‹ vom ersten Vers an folgt41: Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet, Und durch die er Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuem geschenkt hat.

Grundsätzlich basiert Vollständigkeit auf einer Struktur von Spaltung und Verdoppelung: 1) des epischen Sängers (s. Kap. IV. »Großmut«), der seine ›unsterbliche Seele‹ von sich abspaltet und anruft, 2) des Begriffs ›Erlösung‹, den die Periphrase wiederholend veranschaulicht, 3) der Epitheta, die jedes Nomen in verschiedenen grammatischen Formen bereichern, 4) der beiden zweigliedrigen Tropen (›Adams Geschlechte‹ / ›Blute des heiligen Bundes‹), die jeweils einen Begriff durch mindestens zwei Wörter ersetzen, 5) des Homeoteleutons, einer Spielart des Reims (vgl. § 147), durch das die beiden Wörter ›Blut‹ und ›Bund‹ zu einer Figur werden, und 6) des Metrums, dessen Wiederholung den Rhythmus ergibt. In seiner Baumgarten-Verteidigung betont bereits Meier, dass Vollkommenheit – der Wechselbegriff für Vollständigkeit – notwendigerweise »ein Sylbenmaass erfordert«.42 Die Struktur von Spaltung und Verdoppelung organisiert aber vor allem das Verhältnis der Verse, die in einer narrativen Prolepse die gesamte Handlung der ›Versöhnung‹ nicht nur der ersten drei, sondern der geplanten zwanzig Gesänge vorwegnehmen: 41 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias – Gesang I–III – Text des Erstdrucks von 1748 – Studienausgabe, hg. von Elisabeth Höpker-Herberg, 2. bibl. erg. Ausg., Stuttgart 2000 [Der Messias wird im Folgenden im Fließtext mit Gesangs- und Verszahl zitiert], I, 1–4. 42 Georg Friedrich Meier: Verteidigung der Baumgartenschen Erklärung eines Gedichts – Wider das 5. Stück des 1. Bandes des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und Künste, Halle 1746, 7 [in: ders.: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen II [Anm. 12], 101–108].



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Also geschah des Ewigen Wille. Vergebens erhub sich Satan gegen den göttlichen Sohn; umsonst stand Judäa Wider ihn auf: er thats und vollbrachte die große Versöhnung. (I, 5–7)

Diese Figuralität des Messias hat Walter Popp 1923 begonnen zu typologisieren, was weiterzuentwickeln sich sicherlich lohnen würde, weil die Äquivalenzfiguren im Versepos »kein einfaches rhetorisches Stilmittel oder Darstellungsverfahren [sind], sondern Figuralität ist das ästhetische Prinzip des Textes«.43 Während in der Logik die Vollständigkeit sämtliche Merkmale eines Gegenstandes erfasst, wird Vollständigkeit in der Ästhetik jedoch anders bemessen – weder an der Menge der Merkmale des Gegenstandes noch am absoluten Umfang des Textes. Derjenige, der den Reichtum der Gegenstände reich erfassen will, ist deshalb von Anfang an mit einem Dilemma konfrontiert, weil Vollständigkeit nicht identisch mit »allzugroße[m] Reichtum« ist, der die »Schrift« – also den schriftlichen Text – gefährden würde (§ 158). Vollständigkeit ist also nicht quantitativ, sondern qualitativ gedacht, wofür Baumgarten folgendes Beispiel gibt: Man kann eine Bibliothek vollständig nennen, wo alle Schränke voll sind und wo man mit den Sinnen keine Lücke wahrnimmt. Vielleicht fehlet zu einem Werke, das aus 19 Teilen bestehet, der 19. Teil, allein ich werde es mit den Sinnen nicht gewahr. Eine solche Vollständigkeit muß in einem schönen Werke beobachtet werden. (§ 158)

Aus diesem Grund sind die ersten drei Gesänge des Messias eben vollständiger als der (im ersten Teil des 158. Paragraphen) zum Vergleich herangezogene ›Aurelius‹, d. i. der Fürstenspiegel Libro Aureo del Grand Emperador Marco Aurelio, con el Relox de Principes (1529) des Antonio de Guevara.44 Klopstocks Gesänge sind nämlich vollständig, obwohl das Heldengedicht selbst noch unvollständig ist, da 1748 ja erst die drei Gesänge mit dem Vorspiel in Himmel und Hölle erschienen sind. Trotzdem dienen die über 9000 Verse Baumgarten als Beispiel für ein Heldengedicht, das sich an jener »Relativkürze« bemisst, die »[i]m Reiche des Schönen« die Vollständigkeit bestimmt (§ 158). Denn diese Kürze entspricht nicht der absoluten Kürze (oder Länge), sondern einem Umfang, der in relationaler Abhängigkeit zu den lite­ rarischen Gattungen steht, z. B. »in einem Briefe, in einer Rede, in einer Ode, in einem Heldengedichte« (§ 167): »Ein Werk ist kurz, wann es vollständig ist; wann alle Teile das ihrige zur Schönheit des Ganzen beitragen, so ist es kurz, und wenn es auch eine Foliante wäre« (§ 160). Dementsprechend gilt auch für den Messias, dass alles »brevitatem absolutam haben« muss, »allein aus den Umständen und Verhältnissen entstehen wieder besondere Grade der Kürze« (§ 167). Diesem Widerspruch zwischen Merkmalsfülle und Form begegnet Baumgarten – in gut neuplatonischer Tradition mit dem Modell der »Rundung« (§ 166). Für den Dichter gilt es daher, 43 Frauke Berndt: Der Messias, in: Klopstock-Handbuch – Leben – Werk – Wirkung, hg. von Michael Auer und Mario Grizelj, Stuttgart 2023, 17–43, hier 24. 44 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Lezioni di Estetica, trad. è a cura di Salvatore Tedesco, Palermo 1998, 180, Anm. 121.

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»[a]us dem Chaos der Materie« (§ 158), im »Horizonte des Schönen« so viel wie nötig und so wenig wie möglich auszuwählen (§ 120); was damit zur Diskussion steht, wird um 1800 unter dem Stichwort des Symbols diskutiert werden. Diese Rundung des Horizonts gilt auch für die »Wahrheiten der Religion« (§ 122). Manche setzen sogar »die Religion und was sehr nahe zum Christentum gehört ­a llein in das schöne Reich« (§ 197), erörtert Baumgarten. Gegen eine solche Ästhe­ ti­sierung der Religion spricht deshalb nichts, weil er seiner Grundüberzeugung treubleibt, »daß es Gegenstände gibt, die beiden Gesichtskreisen, dem logischen sowie dem ästhetischen, gemein sind« (§ 123), woraus er schließt: »Man kann das Dasein Gottes philosophisch beweisen, man kann es aber auch schön tun« (§ 126). Doch Baumgarten übertrifft seine eigenen philosophischen Prämissen, wenn ein Gegenstand wie die ›Menschwerdung Christi‹ schließlich weder logisch noch ästhetisch prozessiert werden kann, weil diese als ›Geheimnis‹ den begrifflichen wie den sinnlichen Horizont übersteigt: Es gibt auch Sachen, die über den ästhetischen Gesichtskreis erhaben sind. […] D ­ ahin gehören ferner die Sachen, die auch für die Vernunft zu groß sind, wie die Geheimnisse der Religion, insofern man sie als Geheimnisse betrachtet. So könnte z. B. bei der Menschwerdung Christi, von den Umständen bei diesem Geheimnisse viel Schönes gedacht werden. (§ 121)

›Viel Schönes denken‹: Mit dieser Wendung liefert Baumgarten deshalb die Begründung dafür, warum die Arbeit am Messias auf der gelehrten Praktik der Konjektur basiert: Klopstock hat seinen Text nie beenden können, weil ihm das ›Geheimnis der Menschwerdung‹ nicht nur viel, sondern immer mehr Schönes zu denken gegeben hat. Bis zu seinem Tod hat er deshalb an den gedruckten Handexemplaren an dem Text weitergearbeitet, ihn korrigiert, ersetzt und vor allem ergänzt, so dass die Figuration unauf haltsam gewuchert ist. Selbst diese Sisyphusarbeit hat in Baumgartens Kollegnachschrift in der sechsten Abteilung »Die ästhetische Ausbesserung« (vgl. §§ 96–103) ihre Entsprechung: »Wir erfordern endlich noch zu einem schönen Geiste die beständige Neigung, das was er im Ganzen schön gedacht hat, alsdann wieder durchzusehen und es nach den genauesten Regeln der Schönheit auszubessern« (§ 96). Gleichzeitig verschiebt sich mit der Tatsache, dass bei dem ›Geheimnis der Menschwerdung‹ viel Schönes gedacht werden kann, das schöne Denken von den Gegenständen auf die Wörter. Auf keiner einfachen Mimesis basiert das Heldengedicht daher, sondern auf einer Poiesis, mit der sich das schöne Denken auf die literarische Enzyklopädie öffnet. Im 18. Jahrhundert ist wohl kein Text enzyklopädischer angelegt als der Messias, in dem jedes Wort ein Double ist, d. h. in seiner Struktur das Prinzip der Vollständigkeit realisiert: ›aus eins mach’ zwei‹. Bereits mit dem ersten Vers schreibt Klopstock den Messias in die Genealogie der antiken Epen ein: Der Anruf der unsterblichen Seele ersetzt den Musenanruf bei Homer und Vergil; beide sind für Baumgarten die Prototypen des Dichters, zumal ihre »Außenwerke der Sinne« (§ 29) gerade nicht mehr intakt waren. »Die Zärtlichkeit im Urteilen erfordert be-



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sonders das innere Gefühl«, erklärt er, weil »klare und lebhafte Empfindungen« vom »inneren Bewußtsein« abhängen (ebd.). Die Quelle dieser Empfindungen liegt daher nicht in »dieser Welt«, sondern in »anderen möglichen Welten« (§ 441), die nur lesend zugänglich sind. Nicht nur ist der Messias mit Zitaten aus der Lutherbibel gespickt, wie die Historisch-kritische Ausgabe dokumentiert, sondern auch die großen Heldengedichte aus Antike, Mittelalter und Renaissance-Humanismus werden ebenso wie die volkssprachliche und neulateinische Bibelepik zitiert. Über den ­Erfolg begeistert sich Meier45: Wenn der Dichter sein Werck wird zu Ende gebracht haben, so wir die deutsche Nation nicht mehr nöthig haben, ihren Nachbarn den Vorzug in den Werken des Geistes einzuräumen. Wenn ich meinem Geschmacke trauen darf, so wird der Meßias ummittelbar nach der Ilias und Aeneis zu stehen kommen, man müßte dann noch untersuchen, ob das verlorne Paradieß vor ihm den Vorzug verdiene.

Daran, dass Paradise Lost (1667) vom Messias übertroffen worden ist, wird auch Baumgarten keinen Zweifel gehabt haben, obwohl er »Homer und Milton« im gleichen Atemzug nennt (§ 29). Den Vorrang hat Klopstock vor Milton nicht nur deshalb, weil er das erste mit dem zweiten Testament verbindet, sondern weil Klopstock Milton im Bloom’schen Sinn übertrumpft46: »Klopstock naturalisiert Miltons Rhetorik; er schreibt der ›Natur der Poesie‹ zu, was bei Milton ihrer Tradiertheit, dem kulturellen Gedächtnis der Tradition zukommt und den mehr oder minder souveränen Umgang mit ihm ausmacht«. IV. »Großmut«: ethische Praktiken des Vergrößerns

Die zweite Intervention führt zu der Forderung nach Großmut des Dichters – und zwar in demjenigen Teil der Kollegnachschrift, in dem es um die ästhetische Größe geht (§§ 177–422). In der 26. Abteilung »Die höchste ästhetische Großmut« (§§ 394– 398) heißt es über den Messias: Wir haben gesehen, daß ein jeder Schöndenkender ästhetische Großmut haben muß, damit er niemals niederträchtig werde. Diese Großmut hat ihre Grade und kann zuletzt so hoch hinaufsteigen, daß sie nicht ein jeder in einem so hohen Grade besitzet. Wann jemand imstande ist, immer von den wichtigsten Dingen so zu denken, daß sie in seinen Gedanken nichts von ihrer Anmut und Würde verlieren, so hat er die höchste ästhetische Großmut, und so ein Geist wird bis zu himmlischen Dingen aufsteigen, und sie werden in seinen Gedanken nichts von seiner Würde verlieren. (§ 394)

45 Meier:

Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias [Anm. 9], 3 f. Klopstock/Milton [Anm. 16], 159.

46 Haverkamp:

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Wann er über solche Dinge denkt und sie dann mit anderen Dingen vergleicht, die geringer, aber doch auch in ihrer Art schön sind, so werden ihm in diesem Vergleiche die letzten fast verächtlich scheinen. Man nehme den Messias und eine anakreontische Ode z. E.; die letzte ist schön, aber was ist sie gegen den ersten? (§ 395)

Auch der Begriff der Größe wird wie derjenige der Vollkommenheit ebenso auf der Seite des Objekts wie des Subjekts angesiedelt, indem Baumgarten den Gegenständen oder Sachen die Praktiken des Vergrößerns gegenüberstellt, die das Denken figurieren. Sowohl die Gegenstände als auch das Denken können natürlich oder moralisch groß sein; letzteres sind sie, wenn die Größe mit der individuellen Freiheit oder kollektiven Sittlichkeit übereinstimmt.47 Bezieht sich Größe auf Tugenden oder Laster, d. h. auf moralische Kategorien, spricht Baumgarten von Würde; betrifft sie personale Entitäten, ersetzt er außerdem Größe durch Großmut und Würde durch Wichtigkeit.48 Anleitungen und Anweisungen, ja regelrechte »Vorschriften« (§ 182) dominieren die Kollegnachschrift ganz besonders stark, die in diesen Paragraphen noch einmal zum ›Charakter eines schönen Geistes‹ zurückkehrt, der nun im Rückgriff auf die Kategorien der Ethica philosophica (1740) ethisch verankert wird. Dabei dominiert die Anleitungen und Anweisungen das Modalverb ›müssen‹ und mit ihm Aufforderungen bzw. Verbote, die keine Möglichkeit, sondern eine Notwendigkeit zum Ausdruck bringen – entweder in unpersönlicher erster Person formuliert oder direkt an den Dichter gerichtet: »Wer schön denken will, muß notwendig, notwendig groß und würdig denken, dies ist eine allgemeine Hauptregel« (§ 213). Strukturell basieren Baumgartens Überlegungen auf einem Dreier-System: Drei Klassen der Gegenstände – niedrige, mittlere und große – (vgl. § 179) stehen »die Klassen der Denkungsart« als sogenannte genera cogitandi gegenüber (§ 216), die wiederum den niedrigen, mittleren und erhabenen Stilarten der genera dicendi entsprechen. Lose assoziiert sind diese Stilarten außerdem mit den literarischen Gattungen und ihren »Millionen Untereinteilungen« (§ 202): mit den niedrigen Gattungen, wie u. a. der Komödie, mit den mittleren Gattungen, wie u. a. der anakreontischen Ode, und mit den erhabenen Gattungen, wie u. a. dem Heldengedicht. Jeder Gegenstand – das ist die formale Pointe des Systems – lässt sich prinzipiell in jeder Art denken und in jeder generischen Form darstellen – und zwar unabhängig von ethischen Urteilen, so »daß man auch vom Bösen schön denken könne« (§ 204). Abenteuerlich mutet daher auch die Algebra an, die Größe mit Vollständigkeit verbindet und dadurch Grade der metaphysischen Vollkommenheit (Schönheit) berechnet: Gesetzt, ich dächte in der niedrigen Denkungsart = 10° vollkommen gut, in der mittleren = 100°, in der Erhabenen sollte ich 1000° erlangen, ich erlangte sie aber 47 Roland Spalinger danke ich für die Zoom-Gespräche über diesen ethischen Begriffsmix; er arbeitet in seiner Dissertation Rhetorik des Menschen – Vom Charakter zur Gesellschaft (1740–1800) zu Baumgarten, Sulzer und Kant u. a. über Baumgartens ästhetisches Ethos. 48 Vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik – Lateinisch-Deutsch, übers. und hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2009, § 189.



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nur – 100° und – 10°, so hätte ich nur 89[0]° Vollkommenheiten, die aber bei allen ihren Fehlern doch noch größer wären als jene 100 und als jene 10 Vollkommenheiten, die ich ohne Fehler in den anderen Denkungsarten erlanget hätte. (§ 210)

Trotzdem steht fest, dass die »himmlischen Dinge[]« der christlichen Religion die größten von allen sind, die außerdem auch nur erhaben gedacht werden können – und zwar unter der Voraussetzung des »höchste[n] ästhetische[n] Großmut[s]« des Dichters (§ 394) bzw. – als personalen Entitäten – auch der fiktiven Figuren. »Longin als ein Heide erhob den Ausdruck Moses: Es werde Licht, und es ward, als das Erhabenste und Größte« erläutert Baumgarten diesen Gedanken und wechselt vom Pentateuch zum Neuen Testament: »[D]as letzte Wort Christi τετελεσται«: es ist vollbracht,49 »ist gewiß uns Christen noch weit größer, und der letzte Gedanke aus dem Briefe Pauli an die Korinther gehet auf die Ewigkeit. Kann er wohl größer sein?« (§ 300).50 Die Großmut des Dichters bzw. der fiktiven Personen in literarischen Texten führt zu den Figuren der Vergrößerung, bei denen es sich um keine Wortfiguren, sondern um rhetorische Gedankenfiguren handelt. Unter denjenigen Figuren (Argumente), die an der Systemstelle der ästhetischen Größe als Spuren des schönen Denkens gelesen werden können, hebt Baumgarten die bekannte »Parrhesie« für die Wichtigkeit (§ 349) und den eher unbekannten Synathroismus hervor: »Die Wirkung dieser Figur ist, daß daraus eine größere Würde und ein mehrerer Reichtum im Hauptsatze entstehet« (§ 348). Im Text erzeugen solche Gedankenfiguren »ηϑοσ«, das Baumgarten von Aristoteles herleitet und als »die Sitten im Schönen« bezeichnet (§ 484). »An dem Ort, der Stoff, Gedanken und Person zueinander in Beziehung setzt«, erläutert Roland Spalinger das Konzept, »implementiert Baumgarten das ästhetische Ethos. Als primäres Ethos zeigt sich die sittliche Verfasstheit« des Dichters innerhalb des Textes.51 Bei Baumgarten heißt es in diesem Sinn: »Es begreift nicht allein das Tugendhafte unter sich, sondern daß die Sitten so geschildert werden, wie sie durch den Zustand der Objekte nach einer moralischen Möglichkeit bestimmt werden müssen« (§ 193 [Hervorh.: F. B.]). Die ethische Bewertung eines Textes hängt jedoch von allen personalen Entitäten ab, nicht nur vom Dichter. »[A]ls sekundäres Ethos versteht Baumgarten die sittliche Verfasstheit von literarischen Figuren ( fictio personae)«,52 ergänzt Spalinger. Ethos zeichnet daher sowohl den Autor Klopstock aus, der »unter den Poeten [ist] was der Messias unter den Menschen«,53 wie Bodmer am 29. März 1749 an Johann Georg Sulzer schreibt, als auch die fiktive 49 Vgl.

Joh 19,30. den beiden Messias-Paragraphen 394 und 395 spricht Baumgarten nicht von Größe, sondern (korrekterweise) von Großmut; auf die begriffliche Konsistenz kann man in der Kollegnachschrift nicht vertrauen. 51 Roland Spalinger: Rhetorik des Menschen – Vom Charakter zur Gesellschaft (1740–1800) [Diss. Bern, Stand: 2022, Ms.]. 52 Ebd. 53 Johann Georg Sulzer: Gesammelte Schriften X/1, hg. von Elisabeth Décultot und Jana Kittelmann, Basel 2020, 80. 50 In

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Person Jesus, dessen Ethos Meier auf den Punkt bringt 54: »Der Held, der Meßias, ist aus unserer Mitte, er ist unser Bruder«. Der Erfolg des Messias ist deshalb so überwältigend, weil sein Ethos gelesen und verstanden worden ist 55: »Ich bin gleich, bey der ersten Durchlesung, so stark durch die erhabenen und rührenden Gedancken bewegt worden, daß ich mich an diesem Gedicht nicht satt lesen kann«, betont Meier – und unterzieht die ersten drei Gesänge einem intensiven Close-Reading, das in den vielen Textbelegen auf dieses Ethos abfährt. Denn die von Klopstock eingesetzten Gedankenfiguren erzeugen den Effekt der Natürlichkeit, der in der Empfindsamkeit jenes Band zwischen Autor*innen, Text und Leser*innen knüpft, das auch Baumgarten voraussetzt: »Wann ich natürlich denken will, so muß ich auf drei Stücke sehen: 1. auf die natürlichen Kräfte dessen, der auf diese Art denken will, 2. auf die Natur und Beschaffenheit des Objekts, von dem ich denken, und 3. auf die Natur derer, denen zu Gefallen man schön denken will« (§ 104). Klopstocks Messias kann »die Sprache des Herzens reden, das ist rühren« (§ 36). Im pietistischen »Affektarchiv« – August Lange verwaltet es im Wortschatz des deutschen Pietismus (1968) – nutzt eine solche Ethopoeia jedoch nicht nur rhetorische,56 sondern vor allem auch liturgische Formen. Dementsprechend beginnt der Messias mit einem Kyrie, in dem der epische Sänger seine Seele anruft, die bereits erlöst ist und als ›unsterbliche Seele‹ an der göttlichen Gnade teilhat. Deshalb kann das Kyrie ohne eleison gesungen werden: Kyrie Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, […] (I, 1–7)

Formal geht der Anruf der ›unsterblichen Seele‹ mit einem narrativen Ebenenwechsel einher, den die Gedankenfigur der Apostrophe figuriert. »Im Gestus der (fiktionalen) Apostrophe«, erläutert Carlos Spoerhase, »wird erstens eine angerufene Instanz von zweitens einer anrufenden Sprechinstanz adressiert, wobei dabei drittens immer ein kopräsentes Publikum mitadressiert ist«.57 Für Klopstock greift das dabei vorausgesetzte naiv-mimetische Modell »(fiktionaler) Rufnähe« 58 freilich auch im Messias zu kurz. Als Figur des Kontakts vollzieht die Apostrophe nämlich – strukturell – eine Metalepse,59 mit der die ›stille‹ Stimme des Gesangs (vgl. I, 10) die extradiegetische Position des epischen Sängers (anrufende Sprechinstanz) vor dem Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias [Anm. 9], 8. 3. 56 Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck – Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990, 39. 57 Carlos Spoerhase: Die lyrische Apostrophe als triadisches Kommunikationsmodell – Am Beispiel von Klopstocks Ode »Von der Fahrt auf dem Zürcher See«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 87 (2013), 147–185, hier 174 f. [Hervorh. im Original]. 58 Ebd. 59 Vgl. Sebastian Meixner: Narratologie und Epistemologie – Studien zu Goethes frühen Erzählungen, Berlin/Boston 2019, 91–112. 54 Meier: 55 Ebd.,



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inneren Ohr der Leser*innen (kopräsentes Publikum) mit der intradiegetisch verorteten ›unsterblichen Seele‹ (angerufene Instanz) verbindet. Weil die Instanz der ›unsterblichen Seele‹, welche die Stimme vergrößert, jedoch intradiegetisch angesiedelt ist, ist die Beglaubigung der Vergrößerung theologisch nicht mehr wahr; das könnte sie nur sein, wenn sie außerhalb der Textwelt extradiegetisch verankert, d. h. eben nicht körper- und perspektivgebunden wäre. Wenn die Metalepse dann intradiegetisch zur Figur wird, erhält sie durch die liturgische Form des Kyrie ihre Anschauung. An das Kyrie schließen darauf hin zwei weitere Gedankenfiguren an, die eine fictio audientis erzeugen: Interrogatio Sterbliche, kennt ihr die Ehre, die euer Geschlechte verherrlicht, Da der Schöpfer der Welt, als Erlöser, auf Erden gekommen: Imitatio So hört meinen Gesang, ihr besonders, ihr wenigen Edlen, Theure gesellige Freunde des liebenswürdigen Mittlers, Ihr mit der Zukunft des grossen Gerichts vertrauliche Seelen, Hört mich, und singt den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben. (I, 17–22)

Angerufen wird die elitäre Gemeinde der ›Sterblichen‹, die von ›wenigen Edlen‹ gebildet wird und von der Stimme als ›theure gesellige Freunde‹ mit dem semantischen Index der Empfindsamkeit versehen wird. In dieser historischen Aktuali­ sierung werden die gläubigen Christen aufgefordert, der vergrößerten Stimme zuzuhören und diese zu verstärken, indem sie ihr nachfolgen und in ihren Gesang einstimmen. Die Vergrößerung der Stimme führt also von dem Kyrie über die Frage (interrogatio) zur Nachahmung (imitatio) – freilich nicht im Sinn einer imitatio Christi, sondern einer imitatio vocis. Diese Reihe führt über eine weitere Frage (interrogatio) zu der abschließenden, wiederum liturgischen Weihbitte, die verstörend blasphemisch ausfällt: Interrogatio Aber, o Werk, das nur Gott allgegenwärtig erkennet, Darf sich die Dichtkunst auch wohl aus dunkler Ferne Dir nähern? Weihbitte Weihe sie, Geist Schöpfer, vor dem ich im Stillen hier bete; Führe sie mir, als deine Nachahmerin, voller Entzückung, Voll unsterblicher Kraft, in verklärter Schönheit, entgegen. Rüste sie mit jener tiefsinnigen einsamen Weisheit, Mit der du, forschender Geist, die Tiefen Gottes durchschauest; Also werd ich durch sie Licht und Offenbarungen sehen, Und die Erlösung des grossen Messias würdig besingen. (I, 8–16)

In einer zweiten interrogatio adressiert die Stimme das ›Werk‹ – nicht das eigene, sondern die Menschwerdung als Werk Gottes. Ziel dieser captatio benevolentiae ist

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es, die ›Dichtkunst‹ zu legitimieren, die über das Wort ›Werk‹ eine Analogie von Gegenstand (Messias) und Text (Der Messias) stiftet; die Fortsetzung folgt mit den Analogien von ›Geist Schöpfer‹ und ›forschendem Geist‹ sowie von göttlicher ›Offenbarung‹ und Gesang. Eben diesen ›Geist Schöpfer‹ bittet die Stimme nun um die Weihe der ›Dichtkunst‹. Eine solche Weihbitte hat ihren liturgischen Ort in der Eucharistie, was zur Folge hat, dass der Text des Messias durch die Gedankenfigur nun die symbolische Position des corporis Christi einnimmt, der vor der heiligen Kommunion geweiht und verwandelt wird. Doch keine heilige Kommunion, sondern vor dem inneren Auge der Leser*innen vollzieht sich eine unio mystica. Wie eine Braut soll der Vater die ›Dichtkunst‹ als ›Nachahmerin‹ des göttlichen Werks ›in verklärter Schönheit‹ dem Bräutigam zuführen, so dass nun die Stimme in dieser Allegorie an die symbolische Position des Messias rückt. Auf dieser komplexen Figuration basiert also das Ethos von Klopstocks Versepos, in dem die Dreifaltigkeit von Vater, Sohn und Geist die Stimme dergestalt vergrößert, dass sie ›die Erlösung des grossen Messias würdig besingen‹ kann. V. »Wahrscheinlichkeit«: ontologische Praktiken des ›Wahrheit-ähnlich-Machens‹

Die dritte Intervention führt zu der Forderung nach Wahrscheinlichkeit des Gedichts – und zwar in demjenigen Teil der Kollegnachschrift, in dem es um die ästhetische Wahrheit geht (§§ 423–613). In der 36. Abteilung »Von dem poetischen Wahren« (§§ 585–613) heißt es explizit über den Messias: Die Wahrscheinlichkeiten sind verschieden nach den Gegenständen, von denen ich denke. Der Heldendichter und Fabeldichter haben beide eine besondere Art der Wahrscheinlichkeit zu beobachten. Wann ich die Wahrscheinlichkeit im Messias beurteilen will, so muß ich nicht auf die sehen, die ich als ein Lehrer der Theologie beobachten müßte, wann ich die Harmonie der vier Evangelisten untersuchen wollte. (§ 591)

Implizit ist jedoch die gesamte 36. Abteilung am Messias ausgerichtet – am »System seiner Mythologie«,60 das in der »christliche[n] Geisterlehre« gründet (§ 515). Vom »Engel Gabriel« (§ 598) bis zur sittlichen Schönheit von »unserem Heilande« zieht das Versepos alle Register (§ 605), weil »Jesus fabulas primo sensu braucht« (§ 608 und 609). Daraus folgen wiederum eine Reihe von Anleitungen und Anweisungen: »Eben wie ich als ein schöner Geist für Reichtum und Würde sorgte, muß ich es nun auch für die Wahrheit tun« (§ 434), resümiert Baumgarten. Was daher vom Heldendichter wie Fabeldichter, d. h. dem Verfasser von Erzählprosa, gefordert wird, führt zu den ontologischen Praktiken des ›Wahrheit-ähnlich-Machens‹, die das Denken figurieren: »Er muß seinen Satz der Wahrheit ähnlich machen, und dies muß er nach den Regeln des Schönen tun« (§ 572). Baumgartens Ausführungen 60 Meier:

Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias [Anm. 9], 28.



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zur Wahrheit sind komplex, weil er zwischen objektiver und subjektiver Wahrheit unterscheidet, und bei letzterer zwischen logischer und ästhetischer Wahrheit. Weil die objektive »Wahrheit in den Sachen selbst« (§ 423) allein Gott zugänglich ist, kann die subjektive Wahrheit einerseits logisch sein. Andererseits ist die »Wahrheit, die sinnlich bleibt und nie deutlich gemacht wird, […] die ästhetische Wahrheit« (ebd.). Obwohl nicht demonstrativ, ist sie »im Schönen doch wahr, oder der Wahrheit ähnlich« (§ 492). Weil beide Wahrheiten in einem Gegenstand meistens in Mischformen vorliegen – immer noch vor dem Hintergrund der Prämisse, dass die scharfe Trennung von Logik und Ästhetik nicht Baumgartens Anliegen ist –, entscheidet er sich für das Kompositum einer »ästhetisch-logischen Wahrheit« (§ 426). Sie führt in die »Welt der Dichter« (§ 146 pass.), deren Wahrheit Baumgarten als veritas hetero­ cosmica bezeichnet (vgl. § 544). Das metaphysische Fundament der ästhetischen Wahrheit bildet eine Ontologie, die zwar in der rationalistischen Schulphilosophie verankert ist, mit dem Unterschied von Wirklichkeit und Möglichkeit (vgl. § 592) jedoch vor allem auf eine Fiktionstheorie avant la lettre abzielt. In der 32. Abteilung »Die Fabeln« (§§ 526–538) sind die entsprechenden Paragraphen ohne die systematischen Einlassungen der Aesthetica allerdings kaum zu verstehen ist. Sehr gut zu verstehen hingegen ist die kulturelle Rahmung der Wahrheit, weil Baumgarten in der Kollegnachschrift wie gehabt praxeologisch argumentiert. Den Maßstab für die »Wahrheiten der Poeten« (§ 586), von denen der Zugang zur »Welt der Dichter« abhängt (§ 513), bildet einerseits die Erfahrung; diese wiederum duldet keinen Widerspruch zu den allgemeingültigen logischen Prinzipien (vgl. § 302 pass.). Andererseits ist auch ein ›wahr-falsch-Urteil‹ auf die literarische Enzyklopädie angewiesen, die sowohl von der paganen als auch der christlichen Mythologie gespeist wird, weil »jede Nation […] ihre besondere poetische Welt und also auch ihre besondere Mythologie« hat (§ 596). Wahr ist also, was wir immer schon gelesen haben. Dass der Dichter dabei nicht für theologisch Gebildete, sondern für Gläubige schreibt, ist für die Transversale zwischen Baumgarten und Klopstock von großer Bedeutung, dessen Messias von den Zeitgenossen nicht von ungefähr als Erbauungsliteratur rezipiert und für religiöse Praktiken der Andacht verwendet worden ist: »Der unstudierte Christ hat zwar weniger Wissenschaft, aber er lebt nach den Regeln des Christentums« (§ 556). Daher haben in einem Gedicht über Engel Figuren aus der antiken Mythologie auch nichts zu suchen, weil der einfache Christ diesen Bildbruch als falsch bewerten würde: »[I]ch habe den Leser schon zu tief in die christliche Geisterlehre eingeführt, als daß seine Sinnlichkeit schweigen könnte« (§ 516). Auch die »Vermischung beider Geschlechter« sollte der Dichter besser aufgeben, weil die ›Queerness‹ der Engel »auch der Sinnlichkeit solcher Leute, die eben nicht viel aus dem Christentum machen, sehr auffallen« (§ 514). Die Sinnlichkeit triumphiert also »in der Mythologie und in den Sylphen, die Pope in England gemacht hat« (§ 493). Engel, Teufel oder Elementargeister sind keine »Lügen, sondern nur Figuren der Wahrheit«, stellt Baumgarten mit Verweis auf »den S. Augustinus« fest (§ 525), der in De vera religione (390) Platons Höhlengleichnis rezipiert.

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Unter denjenigen Figuren (Argumente), die an der Systemstelle der ästhetischen Wahrheit als Spuren des schönen Denkens gelesen werden können, privilegiert Baumgarten die von allen Rhetorikern ausführlich besprochene Gedankenfigur des ›Vor-Augen-Stellens‹ (evidentia): »Die Erdichtungen haben viel Wahrheit in sich, deshalb hat man auch Gründe, um ihre Wahrheit darzutun, und dies heißt man einer Sache eine Farbe geben« (§ 545). Die »schöne Wahrheit εἴκος« (§ 484) orientiert sich am Referenzmedium des Bildes, so dass diese Wahrheit mit Veranschaulichung (enargeia) und Verlebendigung (energeia) der »poetische[n] Welt« einhergeht: »Die neueren Kunstrichter haben die Regel gegeben, Sentenzen lieber in Sentimens zu verwandeln« (§ 547), resümiert Baumgarten das ›Muss‹ zur Sinnlichkeit. Durchgängig ziehen sich die Vergleiche des Gedichts mit einem Bild, des Dichtens mit dem Malen und des Dichters mit einem Maler durch die Kollegnachschrift, der seinen Gegenständen erst die Abstufungen von Licht, Dunkel und Schatten und dann zusätzlich noch »Farbe« zu geben habe (§ 72 pass.). Bei Klopstock werden diese ontologischen Praktiken des ›World-Making‹ nicht nur erfüllt,61 sondern überfüllt. Gerhard Kaiser weist darauf hin, dass er »seine Bildsprache im Messias mit Vorliebe an der Offenbarung Johannis und den apokalyptischen Prophetien des Alten Testaments orientiert«.62 In »kunstmäßiger Steigerung und Konzentration« enthält das Versepos »die Struktur der gesamten – typologisch verstandenen – biblischen Geschichtsüberlieferung«,63 führt Jörn Dräger zu Klopstocks Textwelt aus, die auf der typologischen Figuration von Prophezeiung und Erfüllung basiert. »Die Überbietungsstruktur«, überlegt Joachim Jacob, (s. Kap. III. »Vollständigkeit«), »die in der literarisch rhetorischen Figur der aemulatio angelegt ist, kehrt in gewisser Weise in der christlich-heilsgeschichtlichen Typologie wieder«.64 Allerdings beobachtet bereits Erich Schmidt 1886, dass der Messias nicht anschaulich ist, sondern in seiner Merkmalsdichte opak wird 65: »Klopstocks Local verschwimmt vor unseren Blicken«. Die ersten drei Gesänge des Messias entwerfen – mit Baumgarten gesprochen – eine »Kosmogonie[]« (§ 513), die naturwissenschaftliche und theologische Modelle verbindet. In einer der neuplatonisch organisierten Aufstiegssymbolik folgenden Topographie bilden Hölle, Erde und Himmel eine »übereinander gestaffelte Simultanbühne«,66 wobei die Orte »in bezug auf das kopernikanische Weltbild überall und nirgends« 67 liegen können68: »Nur der kann sie glauben, der die Frage nach ihrer Topographie als unangemessen erkennt«. 61 Vgl. Cornelia Pierstorff: Ontologische Narratologie – Welt erzählen bei Wilhelm Raabe, Berlin/ Boston 2022. 62 Gerhard Kaiser: Klopstock – Religion und Dichtung, Kronberg i.Ts. 1975, 187 f. 63 Jörn Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks »Messias«, [Diss.] Göttingen 1971, 229. 64 Joachim Jacob: Heilige Poesie – Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland, Tübingen 1997, 126. 65 Erich Schmidt: Klopstock, in: Charakteristiken, Berlin 1886, 119–159, hier 133. 66 August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus, Tübingen 21968, 441. 67 Kaiser: Klopstock – Religion und Dichtung [Anm. 62], 219. 68 Ebd.



Praktiken des Heldengedichts103

Obwohl die Kosmologie ›falsch‹ ist, wie Baumgarten sagen würde, kann man sich jedoch »an den Bildern vergnügen« (§ 452): Denn »[e]s gibt gewisse Falschheiten, darum sich der Ästhetikus nicht bekümmert« (§ 454) – und von denen wimmelt es im Messias, wie z. B. bei der grotesken Veranschaulichung Gottes, nach dem Jesus die Hand ausstreckt: Weiter sagt er und sprach: Ich hebe gen Himmel mein Haupt auf, Meine Hand in die Wolken, und schwöre dir bey mir selber, Der ich Gott bin, wie du: Ich will die Menschen erlösen!

Und Gott antwortet, indem er sich Jesus und den Leser*innen offenbart: Und, unhörbar den Engeln, nur sich und dem Sohne vernommen, Sprach der ewige Vater, und wandte sein ernstes Gesichte Gegen den Messias: Ich breite mein Haupt durch die Himmel, Meinen Arm durch die Unendlichkeit aus, und sag: Ich bin ewig! Sag und schwöre Dir, Sohn: Ich will die Sünde vergeben! (I, 133–141)

Während sich Meier in seiner Beurtheilung darüber freut, wie »majestätisch und unbeschreiblich schön […] die Antwort« ist, »die Gott der Vater gibt«,69 mag sich Baumgarten vielleicht gefragt haben, »wann es nötig ist, eine Gottheit auf den Schauplatz zu bringen« und wann besser nicht (§ 459). Gotthold Ephraim Lessing jedenfalls spottet in den Paralipomena zum Laokoon über die Klopstock’sche Hyper­ bolik70: Ein Haupt, das durch die Himmel ausgebreitet werden kann, ist kein Haupt, und wozu wird es ausgebreitet […]. Ein Haupt, das durch die Himmel; ein Arm, der durch die Unendlichkeit gehet. Sinnlicher konnte der Dichter das ungereimte Ding, eine unendliche Figur, nicht beschreiben, als wenn er die Merkmale selbst sich einander widersprechen läßt.

Im Messias erzielt die Gedankenfigur des ›Vor-Augen-Stellens‹ jedenfalls Effekte, die sowohl als »Parodie der Heilsgeschichte«71 als auch als Ästhetik bewertet werden können, die Negativität, Performativität und Ambiguität verbindet.72 Ihre Spuren hinterlassen die ontologischen Praktiken im Messias nicht nur in figuralen, sondern vor allem auch in narratologischen Strukturen, die zu typologisieren bis heute ein Desiderat darstellt. Die erzählte Zeit der ersten drei Gesänge umfasst ungefähr 48 Stunden, die in über 9000 Versen erzählt werden; »und der erste Gesang enthält aufs höchste gerechnet zwölf Stunden«.73 In dieser Zeit begibt sich ­Jesus zum Ölberg und schickt seinen Engel Gabriel in den Himmel, um Gott ein Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias [Anm. 9], 16. Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden V/2, hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, 245, Anm. 39. 71 Jacob: Heilige Poesie [Anm. 64], 155. 72 Vgl. Berndt: Der Messias [Anm. 43]. 73 Meier: Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias [Anm. 9], 34. 69 Meier: 70

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Frauke Berndt

Gebet zu überbringen. Nach Gottes Antwort kehrt Gabriel auf die Erde zum Ölberg zurück. Dort schläft Jesus, der im zweiten Gesang nach dem Auf­wachen ­Satan bei dem durch den Tod seines Sohnes traumatisierten Samma trifft, dessen Geschichte episodisch in den folgenden Gesängen weitererzählt werden wird. Nachdem Jesus Satan von den Gräbern auf dem Ölberg vertrieben hat, kehrt Satan in die Hölle zurück, wo mit einem Streit die ebenfalls episodisch erzählte Geschichte des reuigen Teufels Abdiel Abbadonas beginnt. Satan und der Teufel Adramelech kehren darauf hin auf den Ölberg zurück, um Jesus zu töten. Im dritten Gesang kündigt Jesus seinen Jüngern, nach »der zweyten Nacht, die in diesem Gedichte vorkomt«,74 die nahende Trennung an. Dass auf mehreren diegetischen Ebenen erzählt wird und dabei außer der vergrößerten Stimme der Gesänge auch Jesus, dessen Jünger sowie Engel und Teufel zu Wort kommen (s. Kap. IV. »Großmut«), führt sowohl zur Multiperspektivität als auch Polyphonie des Versepos, mit der die narratologische Zeitrechnung aussetzt. »Die Gesänge die wir gelesen, sind hauptsächlich mit den Thaten und Gedanken der guten und bösen Engel angefüllt«, erkennt schon Haller in den Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen, und rechtfertigt den doppelt-narrativen Modus des Versepos durch dessen Wirkung 75: »die freylich einen natürlichen Anlaß zu erhabenen Bildern geben«. Doch sowohl Bilder als vor allem auch Klänge erzeugen die Präsenzeffekte der Gesänge, die Handlung nicht repräsentieren, sondern performieren. Berichte und Erzählungen auf Erden, Gesänge, Gebete und Segen im Himmel sowie Streite und Flüche in der Hölle unterbrechen die erzählte Zeit der eigentlichen Handlung nicht, bilden also keine »deskriptiven Pausen«,76 in denen die Zeit stillsteht, sondern das gesprochene, gesäuselte oder gesungene Wort wird ebenso wie das geschriene, tosende oder gebrüllte Wort selbst zur Handlung. Weil jedoch immer die anderen Jünger, Engel oder Teufel anwesend sind, die zuhören, geht das stets gehörte Wort »völlig in Narration auf«.77 Fast zwangsläufig münden diese Überlegungen in eine hochmoderne Naturalisierung der christlichen Mythologie, in der alles, was einst ins christologische Archiv eingespeist worden ist und sich dort, ohne Widersprüche zu erzeugen, unauffällig verhält, wahrscheinlich und damit ästhetisch wahr wird, wie Baumgarten betont: Ich kann vermuten, die Lehre von den Engeln und Teufeln wird auch der Sinnlichkeit eines Naturalisten, der nur ordentlich denken will, nicht ohnmöglich vorkommen, folglich kann ich, wann ich auch für Naturalisten denke, dieses Lehrgebäude brauchen, welches auch sonst meine christliche Vernunft als wahr erkennet. (§ 493)

* * * 74

Ebd., 54 f.

Haller]: Bremen und Leipzig, in: Göttingische Zeitungen von Gelehrten Sachen, 29. August 1748, 757–758, hier 758. 76 Gérard Genette: Die Erzählung, Paderborn 32010, 62. 77 Ebd., 66 75 [Albrecht



Praktiken des Heldengedichts105

Die rhetorischen Praktiken des Bereicherns, die ethischen Praktiken des Vergrößerns und die ontologischen Praktiken des ›Wahrheit-ähnlich-Machens‹, die mit Baumgartens Interventionen in Klopstocks Messias in den Blick kommen, bilden das philologisch belastbare Verbindungsstück zwischen zwei Protagonisten der mittleren Auf klärung, die in ihrem Literaturverständnis enorm viel miteinander zu tun haben, obwohl sie einander weder begegnet noch zum Werk des anderen Stellung bezogen haben. Sie bilden im ›kleinen Dichterkrieg‹ die Achse, die Hetero­ nomie- und Autonomieästhetik auf der Grundlage einer Praxeologie verbindet und dadurch zu einer neuen Bewertung des Verhältnisses zwischen Vormoderne und Moderne beitragen kann. Dass Baumgarten Wesentliches zum Programm einer ›Heiligen Poesie‹ beizutragen hat, wie sie Klopstock 1755 in der Vorrede zum ersten Band des Messias der Kopenhagener Ausgabe propagiert, gilt es in Zukunft vor allem unter Berücksichtigung der noch nicht edierten theologischen – theo­ retischen wie poetischen – Werke und einer weiteren Kollegnachschrift zu zeigen.

Schöne Geisterjagd Die Diskurspraktik des Spottens in Groschs Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet Kathia Kohler I. Einleitung

Die Gattung der Satire wird in der auf klärerischen Poetik wegen ihrer Eignung zur moralischen Belehrung aufgewertet und in der Literatur des 18. Jahrhunderts rege bespielt. In der zeitgenössischen Poetik wird zum einen, etwa bei Johann Christoph Gottsched, historisch über die Gattung nachgedacht, indem ihre Darstellungsverfahren in humanistischer Tradition aus der römischen Verssatire hergeleitet werden.1 Zum andern wird, etwa in den moralischen Wochenschriften, über die Ethik der Satire diskutiert: Was ist und darf ›gute‹ Satire?2 Vor diesem Hintergrund entscheidet sich Johann Andreas Grosch 1750 für einen grundsätzlich anderen Zugang zur Gattung der Satire. Wie der Titel seiner Abhandlung: Die Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet programmatisch ausstellt, will er die Regelpoetik systematisch, d. h. philosophisch verankern.3 Obwohl dieses ambitionierte Projekt eine erste nicht an der antiken Tradition orientierte Satiretheorie versucht, bleibt sie historisch nahezu ohne Resonanz, was sich auch in der Forschungslage widerspiegelt.4 Diese Forschungslücke lohnt es sich allerdings zu schließen, weil Grosch 1 Vgl. zum Einfluss der römischen Verssatire auf die Satiretheorie(n) bis Ende des 18. Jahrhunderts immer noch grundlegend Jürgen Brummack: Zu Begriff und Theorie der Satire, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 45/Supplement 1 (1971), 275–377. 2 Vgl. dazu exemplarisch das 288. Stück, Vom rechten Gebrauch und Mißbrauch der Satyre, in: Der Mensch, eine moralische Wochenschrift VII, hg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, Halle 1754, 297–304. Für den Hinweis auf diesen Beitrag von Meier danke ich Roland Spalinger. 3 Vgl. Johann Andreas Grosch: Die Regeln der Satyre aus ihren Gründen hergeleitet, Jena 1750 [im Folgenden: Zitate nach dem Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek (Sig. 7341719) im Lauftext mit Seitenzahl in Klammern]; bei der Transkription wurden allein die Umlaute der heute gebräuchlichen Form angepasst. 4 1751 wird Groschs Abhandlung in der Moralischen Wochenschrift Der Redliche bei den Lehrbüchern – neben Rollin, Meier, Breitinger und Bodmer – empfohlen (vgl. Der Redliche – Eine Wochenschrift I, Nürnberg 1751, 202). Zwei positive Besprechungen finden sich in: Wöchentliche Nachrichten von gelehrten Sachen – Auf das Jahr 1750 XXIIItes Stück, Regensburg, 154–165, hier 164; sowie in: Christian Ernst von Windheim: Philosophische Bibliothek IV, Hannover 1751, 54–65. Die Abhandlung oder ihr Autor gerieten bisher kaum in den Blick der Forschung. In Monographien und Beiträgen zur Satire im 18. Jahrhundert taucht Groschs Satiretheorie, wenn überhaupt, dann nur am Rande auf. Eine Einordnung und kurze Beschreibung der Abhandlung findet sich in Helmut Arntzen: Die Satiretheorie der Aufklärung, in: Europäische Aufklärung I, hg. von Walter Hinck und Alfred Anger, Frankfurt a. M. 1974, 57–74; Christoph Deupmann kommt in seiner

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Kathia Kohler

die Auseinandersetzung mit der Gattung der Satire dazu nutzt, die »Aesthetick« (6) und Ethik der mittleren Auf klärung in Praktiken zu übersetzen, also in »typisierte, routinisierte und sozial verstehbare Bündel von Aktivitäten«.5 Weil die Regeln der Satyre durch für jede Person anwendbare Praktiken die allgemeine Geselligkeit sowie Selbstvervollkommnung fördern sollen, versteht sich Groschs Abhandlung auch als Beitrag zum auf klärerischen Projekt einer umfassenden »Lebensführung« oder »Lebens-Art«.6 Auf den ersten Blick scheint es allerdings irritierend, dass Grosch für dieses Unterfangen ausgerechnet beim poetischen Diskurs ansetzt – ein ausführliches Nachdenken über ästhetische ›Einf älle‹ sowie ethische ›Ungereimtheiten‹ wäre schließlich auch in anderen Zusammenhängen denkbar. Der gewählte Rahmen der Satiretheorie hat aber, wie ich im Folgenden nachzeichnen möchte, durchaus seine innere Folgerichtigkeit. Denn Grosch geht es, so meine These, mit den Regeln der Satyre um Ergänzung, Präzisierung und Korrektur des ästhetischen Diskurses. Diesen Zusammenhang zeichne ich in vier Abschnitten nach: Zunächst zeige ich, wie Grosch die Schulphilosophie um ein »Quomodo faciendum« (›die Art und Weise, wie etwas zu machen ist‹, 258) ergänzt, indem er im ersten Teil die Praktiken des Spottens theoretisch in Christian Wolffs Ethik (II.) und Georg Friedrich Meiers Ästhetik (III.) verankert. Im zweiten Teil entwirft Grosch gebrauchsfertige Schritt-für-Schritt-Anleitungen für die Praktiken des Spottens: Wie genau lässt sich das Denken und Handeln der Menschen beurteilen? Und wie werden ästhetische Einfälle gemacht? Bemerkenswert ist mit Blick auf die Darstellungsverfahren, die im theoretischen und praktischen Teil zur Anwendung kommen, die Art und Weise, wie die Regeln der Satyre immer wieder vom Ausführen ins Aufführen wechseln. Mit anderen Worten: Groschs Diskurs beschreibt nicht nur, wie Ungereimtheiten gefunden und wie Einfälle gemacht werden, sondern er findet fortlaufend Ungereimtheiten und ›ästhetisiert‹ diese. Diese performative Ebene beschreibe ich als Diskurspraktik und führe daran anschließend (IV.) vor, wie genau Grosch die Praktik des Spottens in eine Diskurspraktik ummünzt und seine Satiretheorie selbst satirisch verfährt. Die Abhandlung wirft nämlich schon im vorangestellten Motto die Frage auf: »Welche Zeiten haben jemahls mehr einen Juvenal, als die unsrigen erfordert?« ([1] 8r) und zeigt dann juvenalisch, dass es angesichts der ›ästhetisierenden‹ Philosophen und Kunstrichter schwierig ist, keine Satire zu schreiben. Schließlich mache ich darauf aufmerksam, dass Groschs Diskurs trotz allen Spottens gegen ›ästhetisierende‹ philosophische Schriften – »flimmernde und flammernde Perioden« (239) – doch immer wieder selbst auf solche zurückgreift (V.). Studie zur literarischen Aggression immer wieder eklektisch auf Groschs Theorie zu sprechen (vgl. Christoph Deupmann: ›Furor satiricus‹ – Verhandlungen über literarische Aggression im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2002). 5 Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, in: ders.: Unscharfe Grenzen – Perspektiven der Kultursoziologie, Berlin/Boston 2008, 97–130, hier 112. 6 Wolfgang Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung – Literarische Kultur im frühmodernen Deutschland, Würzburg 2000, 7.



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Besonders augenfällig geschieht das nicht nur, wenn Groschs Diskurs zur Veranschaulichung der eigenen Theorie ›ästhetisiert‹, sondern insbesondere auch, wenn mit Klavierspielen, Kontor-Aufräumen oder Waage-Bedienen konkrete Praktiken als Bildspender referiert werden, um mit ihnen die gute Anwendung von Witz, Scharfsinn oder Vernunft zu modellieren – damit wird der Bogen zur »Aesthetick« (6) zurückgeschlagen. II. Ungereimtheiten

Die Herleitung der Satire ›aus ihren Gründen‹ erfolgt kumulativ: Grosch erklärt im ersten Hauptstück Von der Natur und der Beschaffenheit der Satyre (9–186) vor dem Hintergrund der Ästhetik, was ›Einfälle‹ sind, und vor dem Hintergrund der Ethik, was ›Ungereimtheiten‹ sind. Ästhetik und Ethik verbindet er im Spotten, das er als die Praktik bestimmt, Einfälle über Ungereimtheiten hervorzubringen (vgl. 114), die Praktik des Spottens prägt zwei Gattungen: Scherz und Satire. Der theoretische Teil nimmt etwas mehr als die Hälfte der ganzen Abhandlung ein und wird durch ein praktisches Hauptstück ergänzt: Von der Art und Weise Satyren zu machen (187–312), in dem es um die Frage geht, wie Ungereimtheiten gefunden, überprüft und schließlich durch Einfälle hervorgebracht werden können. Zu diesem Zweck wird die Praktik des Spottens analytisch in ein Arsenal von Schritt-fürSchritt-Anleitungen zerlegt. Die Bewegung von der Theorie hin zu ihrer konkreten Anwendung prägt aber nicht nur die Makrostruktur von Groschs Diskurs mit seinem theoretischen und praktischen Hauptteil, sondern spiegelt sich auch in der Mikrostruktur der einzelnen Paragraphen. Grosch bricht die eigenen Ausführungen nämlich fortlaufend herunter und übersetzt sie in Darstellungsverfahren, was sich besonders daran zeigt, dass er in bemerkenswertem Ausmaß an der Anschaulichkeit seiner Regeln der Satyre arbeitet. Im Folgenden zeichne ich zuerst anhand von Groschs Auseinandersetzung mit der Ethik nach, wie diese Bewegung von der Theorie zu Anleitungen in der Makrostruktur des Diskurses erfolgt. In einem zweiten Schritt skizziere ich anhand Groschs Diskussion der Ästhetik, wie sich diese Bewegung in den einzelnen Schritten der Argumentationsbildung manifestiert. Die Ethik – im ersten Schritt – dient bei Grosch dem Auffinden und Überprüfen der Ungereimtheiten im Denken und Handeln der Menschen; sie ist also für das Material der Satire und des Scherzes zuständig. Deshalb stellt Grosch ›Suchformeln‹ bereit, die das Finden und systematische Einordnen von Unvollkommenheiten anleiten.7 Diese ethische Topik leitet Grosch im zweiten Teil des theoreti7 Damit unterliegt Groschs Ethik einer logisch-formalen Topik (vgl. Dietmar Till: Nach der Topik – Zur Lehre von der Inventio im 18. Jahrhundert, in: Pithanologie – Exemplarische Studien zum Überzeugenden, hg. von Michael Pietsch und Markus Mülke, Berlin/Boston 2020, 269–284). Zur Konzeption der rhetorischen topoi als ›Such-Formeln‹ vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik – Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, 146 (§ 260).

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schen Hauptstücks als »Wissenschaft von den Ungereimtheiten« aus der Wolff’schen ›Vollkommenheitsethik‹ 8 ab: Zu einem jeden Unternehmen, ist allemal nur eine Straße die richtigste, aber tausend Wege, bey jedesmaliger Absicht, führen uns davon ab. […] Ein jeder Abweg bey einem Vorsaze, ist eine Ungereimtheit. Was vor eine schreckliche Menge Sachen? was vor eine entsezliche Menge Handlung? was vor eine unbeschreibliche Anzahl Entschlüssung giebt es, die nur ein einziger Mensch, Zeit seines Lebens auszuführen fasset? Und bey jeden sind tausenderley Abwege, und nur ein einziger richtiger. Hilf Himmel, was vor eine erstaunliche Menge Ungereimtheiten, muß es also nicht geben in der Welt! (84)

Bei Wolff wird Vollkommenheit graduell gedacht: Die Uhr, die auch Minuten anzeigen kann, ist vollkommener als jene, die nur Stunden anzeigt.9 Grosch vereinfacht das Konzept deutlich, weil es ihm mit seiner ›Wissenschaft von den Ungereimtheiten‹ einerseits darum geht, der satirischen inventio ein möglichst breites Feld zu erschließen: Nur ein Weg ist der ›richtigste‹, alle andern Wege sind Ungereimtheiten und deshalb potentielles Material für die Praktik des Spottens. Weil sie Ungereimtheiten verspottet, folgt die Praktik andererseits dem Wolff’schen Vervollkommnungsgebot10: »Thue was dich und deinen oder anderer Zustand vollkommener machet; unterlaß, was ihn unvollkommener machet«. Freilich hält sich Groschs Diskurs selbst nicht an die statuierte Maxime des ›richtigsten Weges‹, wenn sie im praktischen Hauptstück jeweils bis zu vier alternative Vorgehensweisen für ein und dasselbe Ziel skizziert – was dem Umstand geschuldet scheint, dass sich Groschs ›Wissenschaft von den Ungereimtheiten‹ vor allem als Übertragung der als zu abstrakt kritisierten Wolff’schen Ethik in konkrete Anwendung versteht. Grosch setzt mit seiner Ethik auch just bei dieser Kritik am Wolffianismus an, indem er mit dem Vorwurf einsteigt, dass die Philosophen nur noch Wolffs Schriften »bald unter diesem, bald unter jenem Titel, vnd ein klein wenig verändert herausgeben« und sich dergestalt »die heutigen Philosophen bis über den Wolken-Himmel ab­ strahirt« (89) hätten.

8 Vgl. Heiner F. Klemme: Werde vollkommen! – Christian Wolffs Vollkommenheitsethik in systematischer Perspektive, in: Christian Wolff und die europäische Aufklärung, hg. von Jürgen Stolzenberg und Oliver-Pierre Rudolph, Hildesheim 2007, 163–180. 9 Vgl. v. a. Wolffs Definition der Weisheit als optimaler Zweck-Mittel-Kalkül in der Deutschen Metaphysik (§§ 914–918): Zur Vollkommenheit der Weisheit gehört laut Wolff, »daß man nicht durch Umwege zu erhalten suchet, wozu man auf einem kürtzerem Wege kommen kan. […] Derowegen in soweit man ohne Noth Umwege erwehlet, in soweit ist man nicht weise. Die Weisheit ist demnach vollkommener, wenn man kürtzere Mittel erwehlet und den weitläufftigern vorziehet« (Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen […], Frankfurt a. M./Leipzig 61736, 567 (§ 918)). 10 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, in: ders.: Gesammelte Werke I. Abt., III, hg. und bearb. von J. École et al., Hildesheim/New York 1983, § 12.



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Im Gegensatz zu Wolff geht es Grosch in seiner ›Wissenschaft von den Ungereimtheiten‹ um ein für jede*n anwendbares methodisches Werkzeug, mit dessen Hilfe sich menschliches Denken und Handeln beurteilen lässt. Deshalb beschäftigt sich seine Ethik damit, was Ungereimtheiten sind, wie sie sich logisch (gegründet – ungegründet – wahrscheinlich) beurteilen und nach Modalität (theoretische Pedanterie – praktische Torheit) sowie Bezugssystem (naturgesetzliche Scharla­ tanerie – moralisches Laster) typologisieren lassen. Die Ethik, die Grosch entwirft, orientiert sich dabei nicht mehr an übergeordneten, metaphysisch verankerten Normen, sondern am rationalen Handeln und an der Erfahrung. Falsches Handeln resultiert dementsprechend aus falschem Urteil: »Eine Ungereimtheit erkläre ich durch ein Urtheil, nach welchem man etwas bey einer Sache vor wahr hält, das bey ihr als falsch bekannt ist.« (83) Groschs Formulierung deutet auch die Position an, von der aus beurteilt wird, was richtig oder falsch ist – nämlich auf Grundlage dessen, was als richtig oder falsch ›bekannt ist‹. Darin äußert sich ein spezifisches Verständnis von Gemeinsinn, das im erfahrungsbezogenen ›Hausverstand‹ wurzelt. Die Abhängigkeit ethischer Urteile vom sensus communis wird in der Abhandlung, die ansonsten alle Bestandteile ihrer Definitionen und Erklärungen mit an Pedanterie grenzender Genauigkeit begründet, als solche nicht weiter reflektiert. Es finden sich in den Formulierungen abwechselnd die drei Gradierungen ›als wahr/ falsch bekannt‹, ›als wirklich wahr/falsch bekannt‹ und ›nicht nur als wahr/falsch bekannt, sondern auch wirklich wahr/falsch‹.11 Hinzu tritt das Konzept der »ZeitWahrheiten«, die nur »unter uns auf eine Zeitlang Wahrheiten sind« (96). Die starke Erfahrungsbezogenheit dieses Konsens-Konzepts wird allerdings deutlich, wenn Grosch konkrete Anleitungen entwirft, wie Ungereimtheiten entdeckt werden können. Zuerst skizziert er dafür das allgemeine Vorgehen, das aus zwei Schritten besteht. Im ersten Schritt wird vor allem erklärt, wie man bei einer bestimmten Frage ermitteln kann, was bei ihr als Gemeinsinn vorausgesetzt werden darf. Eine zentrale Rolle spielt die eigene Erfahrung des Satirikers, der sich – sozusagen als ›Investigativsatiriker‹ – unter die Leute mischen und »fleissigen Umgang« (195) mit ihnen pflegen soll. Weil nicht alle die zeitlichen oder kognitiven Kapazitäten für dieses empirische Vorgehen besitzen, kann das nötige Erfahrungswissen auch auf abgekürztem Weg angeeignet werden: indem man in der jeweiligen Frage Experten konsultiert, in den Wissenschaften nachschlägt oder das ›gemeine Leben‹ durch seine literarische Vermittlung – Historien und Lebensbeschreibungen – kennen lernt.12 Durch Er11 Vgl. »das vor wahr angenommen wird« (95); »was unter uns als falsch bekannt ist, ist entweder als würklich falsch oder nur als vermeintlich falsch bekannt« (95 f.); »das als würklich falsch bekannt ist« (98); »alles aber was nur vermeintlich falsch ist, kan würklich falsch oder wahr seyn« (101); »das bey den allermeisten vermeintlich als falsch bekannt ist« (ebd.) und schließlich: »Weil aber bey einer gegründeten Ungereimtheit etwas vor wahr angenommen wird, das nicht nur als falsch bekannt, sondern auch würklich falsch ist bey der Sache« (103). 12 Vgl. »Diese Regel auszuüben, wird freylich nöthig seyn, daß du fleissigen Umgang pflegest mit Leuten selbigen Standes; schriftlich, wo es nicht mündlich geschehen kan, mit ihnen dich

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fahrung oder vermitteltes Erfahrungswissen erhält man die Regeln, nach denen eine Sache als richtig oder falsch beurteilt werden kann. Hat man diese Regeln, dann leitet Grosch im zweiten Schritt dazu an, alle Handlungen mithilfe des durch die ›Wissenschaft von den Ungereimtheiten‹ aufgestellten Rasters zu befragen und zu sortieren: Weicht das zu beurteilende Handeln oder Denken von theoretischen (Pedanterie) oder praktischen Regeln (Torheit) ab? Weicht das zu beurteilende Handeln oder Denken von einer naturgesetzlichen (Scharlatanerie) oder moralischen Regel (Laster) ab? Diese allgemeine Skizze des Vorgehens formuliert Grosch dann für jeden Typus der Ungereimtheiten in detaillierte Schritt-für-SchrittAnleitungen aus. Dafür bietet er jeweils auch mindestens ein oder zwei verkürzte Varianten. Die Regeln der Satyre sollen dergestalt das auf klärerische Anliegen für jedermann zugänglich machen. Beispielsweise gibt es für die Entdeckung der Pedanterie Anleitungen in vier unterschiedlichen Schwierigkeitsstufen. Die erste richtet sich an »Philosophe[n]« (194) und setzt eine souveräne Anwendung präziser Begriffe voraus (»Seze deine Brillen auf, ich meyne alle deine Begriffe«, ebd.). In den alternativen Anleitungen wird dieses Vorgehen durch unterschiedliche Stufen der sozialen Vermittlung vereinfacht. Die zweite Anleitung richtet sich an jene, für welche »die bereits gegebenen Regeln noch so abstract« (197) sind und empfiehlt das anschauliche Vergleichen: Man soll die »weisen Lehrmeister« (198) des zu beurteilenden Standes ausfindig machen und mit den zu beurteilenden Menschen vergleichen. Die dritte Anleitung richtet sich an alle, »die nicht selbst denken können« (199) und geht einen Schritt weiter: Man soll die Personen ausfindig machen, die in zu beurteilender Sache »von jedermann vor vernünftig und gescheid gehalten werden« (ebd.) und diese zum Lästern bringen, »so werden selbige ihnen sattsam zu verstehen geben, wie ungereimt und pedantisch ihre Nachbarn, ihre Mitgenossen ihre Mitgelehrten, und ihre Handwerksgenossen handelten« (200). Die vierte und letzte Anleitung richtet sich an jene, welche die Pedanten lieber »nach und nach mit Spielen kennen lernen« (201), und empfiehlt ihnen, die Streitigkeiten anderer bei der Lektüre von moralischen Wochenschriften, bei den Besuchen von Disputationen auf Universitäten oder in scherzhaften Gesellschaften zu beobachten, »[d]enn so bald zweene worüber streiten, so darf man kühnlich glauben, einer sey wenigstens ein Pedante« (200 f.). Durch diese Anleitungen findet jeder Spötter genügend Material, um »auf ein ganzes Jahr wöchentlich ein oder zweymal in der galanten heutigen Welt, sich als einen ästhetischen Moralisten […] sehen [zu] lassen« (105).

besprichst; Erzehlungen und Historien von solchen Leuten ließest; oder von andern dir erzehlen lässest; und hauptsächlich Lebens-Beschreibungen solcher Leute dir sammelst« (195).



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III. ›Ästhetisieren‹

Die Ästhetik – im zweiten Schritt – bildet bei Grosch die Grundlage, um die Übertragung des ethisch bewerteten Materials in »spöttische Einfälle« (165) zu regeln. Der entsprechende Teil des ersten Hauptstücks gibt sich vor allem als Korrektur und Präzisierung der ersten zwei Bände von Georg Friedrich Meiers Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften (1748 und 1749), die Grosch aufzuräumen vorgibt. Er ersetzt korrigierend nicht nur Meiers Erklärung, was ein Einfall sei, sondern auch die Unterteilung der sinnlichen Vorstellungen und die Definition der ästhetischen Wahrheit.13 Bemerkenswert an den rund siebzig Seiten ästhetischer Theorie ist neben den Sticheleien gegen Meier vor allem, dass sie das, was sie ausführen, fortlaufend auch aufführen – ein Umstand, der sich insbesondere im zweiten Hauptstück immer stärker durchsetzt, wo erklärt wird, wie »lebhafte Vorstellung[en] von etwas ungewöhnlichen bey einer Sache« (10) – mit anderen Worten: Einfälle – gemacht werden. Grosch beschreibt Einfälle-Machen, ähnlich wie das Finden von Ungereimtheiten, als Praktik, zu der Schritt für Schritt angeleitet wird: Wie findet man etwas Ungewöhnliches bei einer Sache? Wie stellt man es sich lebhaft vor? Wie die Inventionspraktik des Ungereimtheiten-Findens geht auch das Einfälle-Machen, das ebenso als Teil der inventio wie der elocutio gedacht wird, der medialen Fixierung, etwa dem sprachlichen Vortrag, voraus.14 Das bedeutet aber nicht, dass das EinfälleMachen unabhängig von spezifischen Darstellungsverfahren wäre. Mit den Tropen sind es für Grosch gerade die tradierten Verfahren rhetorischer Bildlichkeit,15 die zum einen das Generieren von lebhaften Vorstellungen und zum anderen das Übertragen dieser Vorstellungen in ›Zeichen‹ – das eigentliche ›Ästhetisieren‹ – garan­ tieren. So heißt es einerseits mit Blick auf die inventio: »Eine lebhafte Vorstellung einer Sache bey einer andern, bey der man jene nicht empfindet, nennet man einen Tropen. Mithin ist ein jeder Einfall ein Trope« (56). Andererseits bilden Tropen – namentlich Metapher, Ironie, Metonymie und Synekdoche (vgl. ebd.) – auch bei der elocutio die grundlegenden Darstellungsverfahren, um zu ›ästhetisieren‹, denn Grosch betont, »daß der Vortrag eines Einfalls allezeit durch Tropische Worte geschiehet, sie sey von einer Art, von welcher sie wollen« (192). ›Ästhetisieren‹ meint 13 Exemplarisch für den Gestus von Groschs Theorie ist folgende Stelle, in der Meier unterstellt wird, er würde Begriff und Vorstellung nicht trennen: »Die Eintheilung und Erklärungen von den Arten der sinnlichen Vorstellungen, welche der Herr Prof. Meier in ihren Anfangsgründen […] gegeben haben, will mir so wenig gefallen […]. Die schönen Geister würden wohl thun, wenn sie wolten Vorstellung (idea) vom Begriff (notio) unterscheiden und jene vor sich, diesen aber den Philosophen überlassen: weil doch diese einmal mit dem Worte Begriff eine abgezogene Gedanke verknüpft haben.« (27 f.). 14 Hat man nach Groschs Anleitung Einf älle generiert, dann kann man sie »malen, oder in Stein hauen lassen; oder in Kupfer oder Silber oder Holz stechen und abdrucken lassen, oder selbige schriftlich oder mündlich durch Worte andern zu verstehen geben; oder auch durch Mienen und Geberden oder andere Zeichen an den Tag legen« (81). 15 Vgl. Frauke Berndt: Literarische Bildlichkeit und Rhetorik, in: Handbuch Literatur & Visuelle Kultur, hg. von Claudia Benthien und Brigitte Weingart, Berlin/Boston 2014, 48–67.

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also, dass man die lebhaften Vorstellungen, die man zuerst durch die Praktik des Einfälle-Machens sich selber vor Augen gestellt hat, nun anderen mittels Zeichen vor Augen stellt. Der Wechsel vom Ausführen ins Aufführen und ›Ästhetisieren‹ verläuft in G ­ roschs Diskurs meist nahezu übergangslos und mitten in der Argumentation, wie beispielsweise am Anfang des theoretischen Teils zur Ästhetik, wo unterschiedliche Definitionen für ästhetische Einfälle referiert werden. Grosch geht dort unter anderem auf eine Definition aus der moralischen Wochenschrift Der Gesellige ein – jener Zeitschrift, die von Meier mitherausgegeben wurde.16 Darin wird ein Einfall als »Rede« bestimmt, »die nicht vorher zubereitet ist; sondern erst auf der Stelle gebohren wird« (14). Dagegen führt Grosch ins Feld, dass einerseits eine Rede insgesamt kein Einfall sein, sondern höchstens Einf älle enthalten könne, und andererseits auch etwa eine Stehgreifrede (»Extemporan-Predigt«, ebd.) unter die Definition der Wochenschrift fallen würde. Zur Bestärkung führt er in Klammern an: »(Freylich dörfte manchen Prediger die Geburth schwer ankommen, manchen aber eben so leichte, als die Geburt den Egyptischen Weibern, von denen die Wehe-Mütter beym Pharao vorgaben, daß selbige die Kinder so leicht und hurtig zur Welt brächten, ehe sie noch kämen)« (ebd.). Die Fähigkeit der Prediger zur Stehgreifrede wird in diesem Einschub mit der Gebärfähigkeit der Ägypterinnen verglichen. Damit wird weniger ausgeführt, was ein Einfall ist, als einer augenblicklich vorgeführt und damit in Groschs eigenen Worten »ästhetisirt« (vgl. etwa 270). Mit dem Bibelvergleich wechselt der Einschub nämlich vom Argumentieren ins Inszenieren einer Priesterrede ex tempore, die – so die Stichelei gegen einfallslose Prediger – nur fehlerhaft gelingen zu können scheint. Im 2. Buch Moses berichten die Hebammen dem Pharao von der bemerkenswerten Gebärfähigkeit der Hebräerinnen, die sie gerade vor den Ägypterinnen auszeichnen würde – und nicht andersrum.17 Mit dieser demonstrativen schweren ›Geburth‹ wird die Definition aus den Geselligen (›Einfall als eben geborene Rede‹) zugleich ebenso als witziger, aber fehlerhafter Einfall entlarvt wie auch performativ mit einem scharfinnigen ›Einfall über eine Rede‹ korrigiert. Diese performative Wende von Groschs Diskurs bemerken auch schon zeitgenössische Rezensenten18: »Etwas ausschweiffend ist der Herr Verfasser bisweilen in aesthetisiren, wiewohl sie scheinen, gewisse Absichten dabey gehabt zu haben, nach welchen selbige ehe zu entschuldigen als zu tadeln sind.« Um diese ›gewissen Absichten‹ präziser zu beschreiben, möchte ich vorschlagen, die performative Ebene von Groschs Diskurs in Anlehnung an Johannes-Hees Pelikan als ›Diskurspraktik‹ zu beschreiben:19 Die Praktiken des Ungereimtheiten-Findens und Einfälle-­ 16 Vgl. Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift I, hg. von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier, Halle 1748, 344–352. Der mit S** signierte Beitrag wurde, glaubt man den Angaben in Der Gesellige VI (1759), 399 f., allerdings wohl von Lange verfasst. 17 Vgl. Ex 1,19. 18 Wöchentliche Nachrichten von gelehrten Sachen [Anm. 4], XXIIItes Stück, 165. 19 Vgl. Johannes-Hees Pelikan: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Einleitung, in: Johann Jacob



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Machens, die im theoretischen Diskurs zur Ethik und Ästhetik ausgeführt werden, werden von diesem auch – eben als Diskurspraktik – aufgeführt, d. h. in bestimmte Darstellungsverfahren übersetzt. Dergestalt erhalten die Praktiken, die Gegenstand von Groschs Diskurs sind, nicht nur Diskursivität, weil sie expliziert, in Anleitungen strukturiert und ethisch bewertet werden. Sondern sie prägen ihrerseits auch die performative Ebene des Diskurses und verleihen dessen Begriffen Anschauung und mitunter ein ethisches Profil. Diese Diskurspraktik hat bei Grosch also zum einen den Zweck, die Theorie anschaulich zu machen. Daran schließen allerdings, wie ich nun anhand eines Beispiels skizziere, noch zwei weitere Tendenzen. Erstens greift das ›Ästhetisieren‹ in einem solchen Maß auf das ›gemeine Leben‹ als Bildspender zurück, dass damit nicht nur auf für die Zeit durchaus symptomatische Weise am Projekt einer auf klärerischen ›Lebens-Art‹ mitgewirkt wird (vgl. zu diesem Zusammenhang Kap. V.).20 Um etwa zu erklären, weshalb Einfälle ihre Wirkung verlieren, wenn sie zu dicht nacheinander vorgetragen werden, inseriert Grosch eine Imaginationsübung über eine modisch gekleidete Damengesellschaft (vgl. 21). An anderer Stelle werden mit solchen narrativen Szenen nicht nur abstrakte Erklärungen veranschaulicht, sondern dabei auch praktische Tipps für das gesellige Leben eingefügt. Im 17. Para­ graphen geht es beispielsweise um »lebhafte Vorstellungen«, bei denen es »weit hurtiger« zugehe, als wenn man in »abgezogenen Begriffen« denke (34). Daraus lässt sich »manches, so in gemeinen Leben vorfält, erklären« (ebd.), z. B. wieso sinnlich versierte Menschen deutlich schneller sprechen können. Anstatt es bei diesem Hinweis auf das ›gemeine Leben‹ zu belassen, verlässt die Theorie wieder ihr logisches Schlussverfahren und imaginiert eine gesellige Runde, in der erst ein Gelehrter, dann ein unpersönliches ›man‹ und schließlich die personalisierte Aussageinstanz des Diskurses selbst (›unser‹) von einer sinnlich versierten ›Weibes-Person‹ weggeschwatzt werden: Man kan die Probe täglich machen, wenn man will. Und wer ist am sinnlichsten, als die Weibes-Personen. Dahero versuche mans, ob nicht eine Weibes-Person, die sich etwas in schönen Wissenschaften umgesehen, einen Gelehrten, der sich um die schönen Wissenschaften […] nicht so viel eben bekümmert hat, in einer bekannten oder täglich vorkommenden Sache dreymal wegschwazen wird. […] ein sehr sinnlicher junger Herr und ein halb gelehrtes Frauenzimmer sagen einem so viele Einfälle hurtig und so getränge hinter ein ander, daß man mit den seinigen nicht darzwischen kommen kan, welches doch nöthig ist, wenn unsere auf jener ihre passen sollen. In solchen Fällen thut einer der nicht Fertigkeiten genug hat, am besten, er schweiget stille, bis solche eiligen Einfällisten ihre Pauße halten; und bringt so dann nur einen und den andern Einfall hervor, der sich hauptsächlich auf den lezten, und so viel möglich, mit auf vorhergehende schicket, und bezahlt viele Einfälle mit einem, der Bodmers Praktiken – Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Frauke Berndt, Carolin Rocks und Johannes Hees-Pelikan, Göttingen 2022, 7–37. 20 Vgl. Mauser: Konzepte aufgeklärter Lebensführung [Anm. 6].

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aber von grossem Nachdrucke und Scharfsinnigkeit seyn muß; denn so kommt man nicht nur seinem Schaden bey; sondern man nimmt sich auch hernach vor einem in Acht, und ist nicht mehr so verschwenderisch mit seinen Einfällen. (35 f.)

Innerhalb der ästhetischen Theorie wird damit eine Anleitung zu einer galanten Verteidigungsstrategie gegeben, die der Rope-a-dope-Strategie im Boxkampf ähnelt: Man soll so lange stillschweigen und witzige Einfälle einstecken, bis sich die Gegner*innen erschöpft haben, worauf hin diese in der Pause mit einer geballten scharfsinnigen Äußerung außer Gefecht gesetzt werden können. Dass das witzige Personal an dieser Stelle dezidiert unmännlich ausgesucht ist, verweist auf die dritte Funktion des ›Ästhetisierens‹, denn es wird damit eine Hierarchie der beiden ›Seelen-Kräfte‹ Witz und Scharfsinn gefestigt, die Groschs Diskurs immer wieder aufgreift, indem gegen ein quantitativ verfahrendes unreifes und schöngeistiges Ähnlichkeitsvermögen (Witz) ein qualitativ verfahrendes, ›männliches‹ und philosophisches Unterscheidungsvermögen (Scharfsinn) aufgefahren wird.21 Diese Abschweifung ins gemeine Leben veranschaulicht dergestalt nicht nur den Nutzen der Ästhetik für die Geselligkeit, sondern bringt auch das rhetorische Selbstverständnis der Regeln für die Satyre insgesamt auf den Punkt, die Grosch allenthalben als scharfsinniger Gegenschlag der Philosophie gegen die ›Schönen Geister‹, ›Ästheten‹ oder ›Einfällisten‹ inszeniert. Auch die 300 Seiten der Abhandlung führen nämlich insgesamt einen philosophisch-scharfsinnigen Schlag gegen die 1200 Seiten der ersten zwei Bände von Meiers Anfangsgründen aus, in deren Erscheinungspause – vor der Veröffentlichung des dritten Bands – Groschs Schrift publiziert wurde.22 IV. Spotten

Eine Funktion des ›Ästhetisierens‹ ist, wie im Folgenden gezeigt wird, dass auch die Praktik des Spottens zur Diskurspraktik umgemünzt wird. Das beginnt schon bei der Grundlegung der ›Wissenschaft von der Satire‹: Man räumet mir ein, daß die Thoren und Narren in ihren Handlungen so gut nach Gründen und Regeln verfahren, als kluge und vernünftige Leute. Man weiß ferner, oder soll es wenigstens wissen, daß es eine Kunst giebet, die Aesthetick heisset, und 21 Vgl. »Man darf sich über die Seltenheit der scharfsinnigen Einf älle, und über die Menge wiziger Einf älle nicht wundern; denn zu jenen gehöret schon einiger Maaßen ein philosophisch Naturell; das wizige Einf älle eben nicht erfordern. Man höre ein aufgewecktes Frauenzimmer scherzen […]. Hingegen lese man eines Philosophen seine Schriften, der zugleich ästhetisiret, da wird man, wo nicht mehrere, doch eben so viele scharfsinnige Einfälle zehlen können als wizige« (46). 22 Die enge Beziehung von Groschs Schrift zu Meiers Anfangsgründen wurde in der Forschung bereits bemerkt. Dass die Abhandlung aber »[i]m übrigen nichts als eine verworrene Auseinandersetzung mit Meier« sei, wie Ernst Bergmann konstatiert, ist aber angesichts der ethischen und praktischen Teile der Schrift schlichtweg falsch (vgl. Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier, Leipzig 1911, 68 f.).



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deren Regeln so gar in unsern Tagen wissenschaftlich abgehandelt worden sind. Die Regeln wornach sich Thoren und Narren in ihren Handlungen richten, und die Regeln der Aesthetick, sind beysammen möglich, und können bey einander bestehen; und jene können so gut wissenschaftlich abgehandelt werden, als diese. Wie will man aber diese Wissenschaft, in welcher so wohl jene, als diese Regeln zugleich wissenschaftlich vorgetragen werden heissen? Mir stehet es frey, weil sie noch keinen Namen hat, selbige die Wissenschaft von der Satyre zu nennen. (A3v)

Wenn die sinnliche Erkenntnis und das Handeln der Menschen rationalen Regeln folgen, so argumentiert Grosch zuversichtlich, dann muss es auch eine ›Wissenschaft von der Satyre‹ geben. Alles, was regelgeleitet funktioniert, so die Implikation, ist miteinander kompatibel: die Regeln der Narren mit den Regeln der Kunst, die Narrenethik mit der philosophischen Ästhetik. Wie die dergestalt gesetzten ›beysammen‹ und ›bey einander‹ dieser Regelsysteme genau zu denken sein sollen, bleibt allerdings unklar. Der Verdacht liegt nahe, dass durch die prekäre Nachbarschaft, in welche die Regeln der Kunst und die Regeln der Narren hier rücken, die Theorie selbst auch eine Ambivalenz erhält, die durch die ausgestellte Nachlässigkeit in der unterlegten Analogiebildung betont wird. Dass an so prominenter Stelle das Fundament der Argumentation durch Äquivokation des Mittelbegriffs (›Regeln‹) auch ein wenig ›erschlichen‹ wird, ist mit Blick auf den streng logischen Gestus von Groschs Diskurs bedeutsam. Das vitium subpretionis 23 unterstellt Grosch nämlich an anderen Stellen seinen Gegnern (vgl. 121 f., 180 und 191). Vor diesem Hintergrund signalisiert die Analogie, dass nicht nur die Satiretheorie, sondern auch die Satire auf deren »Wissenschaft« bereits begonnen hat. Mit anderen Worten: Groschs ›Wissenschaft von der Satyre‹ verfährt selbst satirisch. Das zeigt sich bereits in der Aussagelogik des Diskurses. In insgesamt 196 Paragraphen setzen die Regeln der Satyre ihren Angriff gegen den sogenannten ›Schönen Geist‹ fort – also die zentrale Figur der ästhetischen Theorie, die ausgehend vom französischen bel esprit bis zu Alexander Gottlieb Baumgartens felix aestheticus im 18. Jahrhundert eine steile Karriere gemacht hat. Bei Grosch treten die »Schönen Geister« (8, 23, 28 passim) allerdings bezeichnenderweise in pejorativem Gebrauch als närrische Ästheten bzw. ästhetische Narren auf. Ihnen gegenüber erhält die personalisierte Aussageinstanz des Diskurses eine Redemaske (persona): Ein ›Philosoph‹ wird in Stellung gebracht, der die ›Schönen Geister‹ wie Fledermäuse und andere lichtscheue Gestalten aufscheucht, virtuelle Lehrgespräche mit ihnen führt oder ihren modus operandi in einem Sisyphos’schen Bergpanorama imaginiert: 23 Ein Vorwurf, der im unspezifischen Gebrauch dann erhoben wird, wenn einem Argument unterstellt werden soll, es nutze die Vagheit seiner (Mittel-)Begriffe oder metaphorische Sprache in den Prämissen um seinen Schluss logisch erscheinen zu lassen; in der Folge der Wolff ’schen Subreptionskritik meint der ›Fehler des Erschleichens‹ im Spezifischen (vitium subreptionis in experiundo), dass in einem Argument eine nicht-empirische (›diskursive‹) Vorstellung für eine empirische (›intuitive‹) gehalten werde, vgl. dazu Zachary Sng: The Rhetoric of Error from Locke to Kleist, Stanford 2010.

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Ich weiß nicht, ob sie [= die ›Schönen Geister‹: K. K.] alle, auf der andern Seite des Musen-Berges herum klettern, oder wie es zugehet. Aber still, jezt will ich auf der scala praedicamentali, das ist auf der philosophischen Leiter in die Höhe steigen, und doch sehen, wie sie auf der Seite ihres Berges herum klettern, und bisweilen ein Purzel-Mänchen machen, und darüber ihre Haber-Röhre zerstauchen, und ihre Flöten und Baßgeigen in Grund-Stücken zerbrechen. (176 f. [Hervorh. im Original])

Mit dieser Inszenierung wird ununterscheidbar, wann – und ob überhaupt – die Geisterjagd der Metasprache erneut Platz macht. Die Vermutung liegt nahe, dass es in einer Abhandlung, die schon in ihrem systematischen Fundament die Regeln der Kunst auf das Engste mit den Regeln der Narren und Toren verbindet, kein Zufall ist, dass mit den ›Schönen Geistern‹ gerade närrische Ästheten zum Ziel der Satire werden. Die Regeln der Satyre sind also auch in dem Sinne ›praktisch‹, als sie die Satire, die sie theoretisch behandeln, fortlaufend inszenieren und, wie Helmut Arntzen feststellt, damit »offenbar de[m] Zusammenhang von Gegenstand und Darstellung für Literaturtheorie und Literaturkritik« Rechnung tragen.24 Dass es Grosch damit auch um die Anschaulichkeit der eigenen Theorie geht, wird bereits auf der Titelseite deutlich. Dort findet sich anstelle eines Druckersignets ein Emblem: Darauf greifen unter dem Motto »Ein ächter Satijricker« Hände aus den Wolken und schleudern flammende Blitze auf drei Gestalten (von rechts nach links: Scharlatan(?), Sünderin und Pedant) hinunter. Die auf den folgenden Seiten in große Typen gesetzte Widmungsallegorie buchstabiert diese Szene wei-

Abb. 1: Kupferstich von Johann Benjamin Brühl auf dem Titelblatt von Grosch: Die Regeln der Satyre [Anm. 3] [Bayerische Staatsbibliothek München, A.lat.a. 1353, o. S., urn:nbn:de:bvb:12-bsb10242329-7]. 24 Arntzen:

Die Satiretheorie der Aufklärung [Anm. 4], 288.



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ter aus. Ein »getreueste[r] Diener« (Bl. [a] 2r), der die Widmung als »Philosophe« ([1] 4v) unterzeichnet, gibt darin vor, sich dem Thron des »Aechte[n] Satyricker[s], Göttlicheyfrige[n] Richter[s] der Welt« (Bl. [a] 2r) zu nähern und ihm »diese[] wenigen Blätter« (Bl. [a] 3v) – also die Abhandlung – zu Füßen zu legen. Auff ällig an diesem Auftakt in die Regeln der Satyre sind neben dem pompösen Gestus der Selbstapotheose zwei Dinge: erstens die Rolle, die der Anschauung zugeschrieben wird, und zweitens die Ambivalenz, die sich in die völlig in den Dienst des ›ächten Satyrickers‹ gestellten Blätter einschreibt. Der ›Satyricker‹ waltet, anders als im Titelemblem gezeigt, in der Widmungsallegorie nämlich nicht mit den Händen, sondern mit den Augen: Die Blize Deiner Augen zerschmelzen zwar lasterhafte Berge, und siegen so gar das große Welt-Meere aus, das voller Thoren dahin rauschet. Aber wie wärmend und auflebend senken sich nicht auch die Stralen Deiner heitern Augen, auf die Verehrer der Weisheit und Tugend herab? Du redest donnernde Worte, aber gegen die, die taub sind. Wie lieblich schallet hingegen nicht Deine mächtige Sprache allen in ihren Ohren, die gerne von Tugend und Weisheit hören. So neige denn nur einen gnädigen Blick auf Deinen und aller Tugenden und Wissenschaften Verehrer, welcher Dir, und diesen gerne dienen will. Der Dienst, den er Dir, gerechtester Richter der Welt, und den Tugenden und Wissenschaften widmen will, stehet auf diesen wenigen Blättern angezeiget, die er vor Deinen ewigen Throne niederleget. (Bl. [a]) (2v–3r)

Die Satire wird in dieser Allegorie als mystische Augengewalt inszeniert, weil der Satiriker als Personalunion von Demokrit und Apollo erscheint, der mit seinem Blick Berge schmilzt und das Meer vaporisiert, in dem das topische Narrenschiff treibt. Durch Blitz und Donner wird eine korrespondierende Sprachgewalt ins Bild gesetzt, mit der freilich gleich doppelt ›klar‹ gemacht wird, um was es bei der Satire geht: um die ›Gewalt‹ des ›Vor-Augen-Stellens‹. Jedoch hat die Widmungs­a llegorie den Nebeneffekt, dass sie die evidentia, die dem ›Satyricker‹ zugeschrieben wird, bereits schon selbst in Anschlag bringt. Wenn also der ›Philosoph‹ sich und seine Blätter ganz in den Dienst der Satire stellt, dann ist dieser Dienst von Anfang an als ein Nacheifern der Darstellungsverfahren zu verstehen, die mehr und anderes bewirken als die bloßen Begriffe. Dass diese evidentia auch auf die Optik ihrer Rezipient*innen wirken soll, wird dort noch einmal betont, wo es um das ethische Profil der Satire geht: Will man aber wissen, wer uns am besten, von den Ungereimtheiten, die wir in allen unsern Verrichtungen begehen, unterrichten kan? so dienet zur Antwort, ein Scherzer, besonders aber ein Satyricker. Diese Art Leute, haben die beste AugenSalbe, die ünsere Blödigkeit des Gesichts vertreiben kan; und die uns scharfsichtig macht, daß wir wahrnehmen, wir handeln, auf diese und jene Art, ungereimt. (85)

Satire zielt laut Grosch auf den Gesichtssinn und korrigiert dessen ›Blödigkeit‹. Das ›Satire-Machen‹ wird in den Regeln der Satyre entsprechend immer wieder mit unterschiedlichen optischen Tätigkeiten konnotiert. Der Satiriker soll seine ›deut­

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lichen‹ Begriffe als ›Brille‹ aufsetzen, um die Welt auf Ungereimtheiten zu untersuchen; bevor man eine Satire schreibt, soll man beten: »Herr öffne mir die Augen, daß ich sehen möge« (108); der Satiriker soll »mit scharfsichtigen Augen die Menschen nach den auf sich habenden Pflichten ansehen« (214); er soll sich des Satzes »alles Ding hat seine Zeit« »als einer Brille« bedienen und »dadurch die Menschen in allen Ständen und in allen Gesellschaften« (104) besehen, usw. Die satirische ›Augenkorrektur‹ wird dabei eng auf die Lichtmetaphorik bezogen, in der Groschs Theorie durchaus topisch die Philosophie mit ihren deutlichen Begriffen – und damit auch die Redemaske des Diskurses (›Philosophe‹) – situiert. Sie kommt vorzugsweise immer dann zum Einsatz, wenn gegen die ›Schönen Geister‹ gestichelt wird: Diese könnten etwa »das philosophische Licht« (48) so wenig vertragen »als die Fleder-Mäuße das helle Tages-Licht, welches die Sonne verursachet« (47 f.), oder: »als die Nacht-Eule das Helle-Tages-Licht: sondern sie fliegen gern in der Dunkelheit, das ist in der Abend-Dämmerung herum« (132). Damit wird schon allein durch die Metaphorik ›klar‹ gemacht, auf was die Satire als dezidierte Augenkur scharf gestellt wird – nämlich auf das, was sich mit Meiers Anfangsgründen bereits abzeichnet: die Aufwertung der unteren Sinnesvermögen zum analogon ratio­ nis. Das befürchtete geistesgeschichtliche Schreckensszenario, das abgewandt werden soll, beschreibt Grosch wie folgt: »Es giebet in unsern Tagen doch gar so viel wizig-scharfsinnige Philosophen, und es dürften ihrer inskünftige noch mehrere geben; wenn, wie es das Ansehen hat, die Aesthetick, die Philosophie unter ihre Herrschaft zwingen solte« (263). Diesen Thronsturz der ›echten‹ Philosophie soll die Satiretheorie vereiteln helfen, indem sie einerseits die Lesenden zur erfahrungsbasierten deutlichen Begriffsbildung und zu rationalem Urteilen anleitet und sie in die Lage versetzt, die mit diesen Instrumenten ausfindig gemachten Ungereimtheiten durch spöttische Einfälle wirksam zu entlarven. Andererseits sind die Regeln der Satyre durch ihre Darstellungsverfahren und durch ihre theoretische Aneignung der ›Aesthetick‹ selbst als Versuch zu betrachten, diese ›Aesthetick‹ unter die Herrschaft der ›guten‹ Philosophie zu zwingen, d. h. den philosophischen Diskurs zu korrigieren. Besonders deutlich wird dieser Gestus, wenn Grosch die Lesenden zum Racheakt gegen die ›witzig-scharfsinnigen‹ Philosophen auf hetzt: je grösser die Beleidigung, je grösser mus auch die Rache seyn; nun wisset ihr ja die Grösse, so wohl der angethanen Beleidigung, als eurer Rache, die ihr nehmen könnet; so bitte ich euch, rächet euch an den Philosophen, aber wisset, an welchen; an den Wizig-Scharfsinnigen, die statt der Erklärungen Einfälle; statt der bestimmten Säze flimmernde und flammernde Perioden haben, in welchen eitel unbestimmte Säze liegen; und statt der Demonstrationen lauter Schwünge machen in ihren Schriften. Die Rache ist edel; sie ist erlaubet; sie ist gerecht. (239)

Dieser Feldzug gegen die ästhetisierenden Philosophen – in dramatischer Zuspitzung der Lichtmetaphorik – wird als Geisterjagd imaginiert, die sich als Nebenspur durch den Diskurs zieht. So sind etwa die Schriften dieser ›witzig-scharfsinnigen‹



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bzw. ›ästhetischen‹ Philosophen voller ›Gespenster‹,25 ebenso wie Einfälle überhaupt den ›Gespenstern‹ verglichen werden können;26 weiter werden die ›Schönen Geister‹ als Fledermäuse, Nachteulen oder »Flatter-Geister« (251) durchwegs in gespenstischer Dunkelheit imaginiert. Zum Schluss der Regeln der Satyre werden diese Gespenster in einer finalen Geste gebannt: »Ich denke hier zwar an das Ende. Allein die Schatten-Geister plagen mich noch etwas. […] Aber ich will sie mir gar bald vom Halse schaffen. Wie, möchte man denken? […] Ich darf nur sagen; ihr seyd Einfälle, so fliegen sie schon auf und davon« (305 f.). Die ›Aesthetick‹ wird am Ende also zum hermeneutischen Mittel der Entlarvung umgedeutet, um Einfälle als das zu erkennen, was sie sind: ästhetische Wahrheiten, die nach Groschs Definition nicht auf logische oder metaphysische Wahrheiten schließen lassen. Dass Grosch genau solche ›ästhetischen Fehlschlüsse‹ in das Zentrum seiner Satiretheorie stellt, wird schon an dem zentralen Beispiel deutlich, das für Ungereimtheiten direkt nach ihrer Definition angeführt wird: Der Bauer glaubet steif und feste; die Sonne laufe herum, und die Erde stehe stille. Was sagen die Gelehrten zu dem Glauben des Bauers; es wäre ungereimt, was der Bauer vor wahr hielte, warum? weil sie es besser wissen, und vor falsch halten. Also ist dieses Urtheil, die Erde stehet stille, und die Sonne lauft herum, eine Ungereimtheit. (83 f.)

Das Beispiel zeigt nicht nur nochmals, dass für Grosch ethische Urteile vom Gemeinsinn abhängen (›richtig ist, was Experten für richtig halten‹), sondern es hat auch einen auffälligen intratextuellen Bezug. Grosch dient nämlich an einer zen­ tralen Stelle des vorangehenden ästhetischen Teils ebenfalls eine Deutung der Himmelsgestirn als Kardinalsbeispiel für eine ästhetische Wahrheit.27 Hier wird die

25 Vgl. »Führt man sich aber als einen bloßen ästhetischen Kunstrichter auf; so hat man entweder von den Schriften der Gelehrten schlafend angenehme Träume; oder man siehet in selbigen wachend lauter Gespenster; und die man nicht darinne sehen solte, die bannet man vollends hinein« (76). 26 Vgl. »Inzwischen kommen mir die Einf älle, in Absicht auf dieses Merkmal, daß man sie nehmlich bey der Sache nicht empfindet, bey welcher man selbige doch hat, vor, wie die Gespenster, die man auch an diesem und jenem Orte siehet, oder vielmehr sich einbildet zu sehen, ob man selbige gleich nicht empfindet. Man könnte dahero die Gespenster Einf älle nennen, wenn sie nur nicht den Menschen Furcht und Schrecken einjagten, statt selbige vergnügt und lustig zu machen« (23). 27 Vgl. »Wer wird behaupten können, daß der Mond ein Licht sey. Er ist so gut ein Cörper als unsere Erde. Heißet er nicht selbst in heil. Schrift ein Licht? Aber warum das? Weil wir keine andere Empfindung von dem Monde haben; als die wir von einem Lichte haben. Das ist weder logisch noch metaphysisch wahr, daß die Sonne stille stehet gegen unsere Erde zu. Gleichwohl spricht Josua: Sonne stehe stille. Wie ist das möglich und wahr? ästhetisch« (71). In Baumgartens Aesthetica findet sich ein ähnliches Beispiel – ein Hirte erklärt eine Sonnenfinsternis seiner Geliebten und seinen Gesellen – just an der Stelle, wo es um die Eigenständigkeit der ästhetischen Wahrheit geht (vgl. Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik – Lateinisch-Deutsch, übers. und hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, § 429).

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ästhetisch verfahrende Deutung nun programmatisch einem Bauern in den Mund gelegt und als Paradebeispiel für eine Ungereimtheit herangezogen.28 V. Referenzpraktiken

Da Grosch mitunter Einfälle auch als Tropen bestimmt (»daß ein Einfall entweder eine Metapher, oder Synecdoche oder Metonymie, oder eine Ironie sey«, 56), äußert er auch ein (man möchte sagen: traditionelles) rationalistisches Misstrauen gegen die Verfahren des ›Vor-Augen-Stellens‹ im philosophischen Diskurs. Erlaubt ist solches ›Ästhetisieren‹ für Grosch eigentlich nur, wenn es entweder die theoretischen Ausführungen in begleitender – und nicht tragender – Funktion veranschaulicht oder dem Spotten dient. Das macht nun diejenigen Passagen besonders verdächtig, in denen Grosch selbst seine Argumentation stärker ›vor-Augen-stellt‹, als sie begrifflich absichert und damit die ›Gespenster‹ herbeiruft, die ja eigentlich aus der philosophischen Schrift verbannt werden sollen. In diesen Passagen spielen gesellschaftliche Praktiken des galanten oder merkantilen bürgerlichen Lebens immer dann eine zentrale Rolle, wenn abstrakte innere Vorgänge, insbesondere die Nutzung der für die Herstellung von Einfällen benötigten Seelenkräfte – Witz, Scharfsinn, Einbildungskraft – veranschaulicht werden sollen. An konkreten Alltagspraktiken wird erklärt, wie das »Quomodo faciendum« (258) der theoretisch erklärten Begriffe genau aussehen soll. Bevor beispielsweise Schritt für Schritt erklärt wird, wie genau man auf Einfälle kommt, wird das Vorgehen erst anhand der Praktik des ›Care­ sirens‹ modelliert und zugleich durch einen Einfall praktisch vorgeführt: Ein Einfall will mit sich umgegangen wissen, als ein Frauenzimmer, er will nicht angefahren, sondern flattirt seyn; er will nicht allenthalben betastet, sondern nur flüchtig geküsset seyn; […] Er will nicht auf beyde Arme genommen seyn; sondern er begnüget sich, wenn er sich an einem, an welchen er will, sich selbst anhalten kan, daß er keinen üblen Tritt oder Fall thue, er will gern begleitet seyn, und nicht allein, und will allezeit von andern erhoben, keinesweges aber niedergeschlagen gemacht seyn. Wer also mit Frauenzimmer wohl umzugehen weiß, der kan auch die Einfälle wohl caresiren. Das waren nun so ästhetische Gedanken und Regeln von Einfällen (248).

Das Beispiel ist mit Blick auf seine implizite Geschlechterordnung alles andere als unschuldig und fügt sich in Groschs Hierarchie der Seelenvermögen, in welcher der männlich-philosophische Scharfsinn dem weiblich-schöngeistigen Witz übergeordnet wird. Während in diesem Beispiel der Praktik, auf die referiert wird, aber 28 Vgl exemplarisch: »Man merke in den philosophischen Schriften auf die Erklärungen und Beweise, wie selbige bisweilen ein Etwas und ein Nichts; und diese entweder ein über den zu erweisenden Saze aufgethürmter oder unter demselben in die Tiefe sich stürzender Hauffe von Worten sey, unter welchen keine Demonstration, sondern eitel ästhetische Schwünge liegen, so trift man auch da wiederum gegründete und scheinbare Ungereimtheiten an« (99).



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vor allem selbst eine demonstrativ-begleitende Funktion zukommt, sind solche Referenzpraktiken an anderen Stellen für die Argumentation unhintergehbar, wenn es darum geht, den Nutzen der Satiretheorie zu veranschaulichen. Dabei wird die Praktik des Klavierspielens auf Witz, Scharfsinn und Einbildungskraft angewendet: Meinen wohl der Hr. Professor [Meier: K. K.], daß ein junger Mensch das Clavier spielen, oder die Orgel werde schlagen lernen, wenn der Organiste zu selbigen blos sagte: tritt, oder seze dich vor das Clavier; brauche deine beyden Hände, besonders die Finger; […]. Der Lehrling wird bey diesem practischen Unterrichte denken, der Organiste sey selbst kein Spieler, sondern er müsse nur, hier und da, vom Claviere etwas gelesen und ins Gedächtnis gefasset haben; […] Er gehet fort und kommt zu einem andern Organisten zu profitiren. Dieser saget ihm auch nach und nach selbige Regeln vor; aber dabey lässet ers nicht bewenden; sondern bey jeder Regel spricht er zum Lehrlinge, siehest du, so wird und müssen die Hände auf dem Claviere gesezt werden; so schläget man das Trillo, so greifet man eine Octave, mit diesem Finger in dieser Lage der Hand, wird die Tertie oder Sechste so gegriffen und so ferner. (285)

Die Passage stellt nicht nur Meier als bloßen Buchgelehrten dar, sondern suggeriert, dass Groschs Diskurs tacit knowledge – ein inkorporiertes Wissen – vermittelt.29 Als Mittel des Unterrichts reicht deshalb die Erklärung nicht aus, sondern es bedarf der Demonstration: ›so wird und müssen die Hände auf dem Claviere gesezt werden‹. Dergestalt wird hier die Explain-and-show-Taktik ins Bild gesetzt, die Groschs Diskurspraktik verfolgt. Allerdings lässt sich die richtige Verwendung der Seelenvermögen beim ›Ästhetisieren‹ anders als die Verwendung der Hände beim Klavierspiel nicht unmittelbar demonstrieren, sondern bedarf der sprachlichen Vermittlung. Für diese Vermittlung nutzt Grosch immer wieder Referenzpraktiken, die metaphorisch für die Anwendung der Seelenvermögen stehen und diese modellieren sollen. Beispielsweise bei der praktischen Anleitung, wie sich überprüfen lässt, ob eine Ungereimtheit gegründet ist oder nicht, führt Grosch aus, dass man die unterschiedlichen Gründe, die für eine Sache angeführt werden können, gegeneinander abwägen muss, um herauszufinden, ob sie ausreichend sind. Dahinter steht das Grundprinzip der Tatsachenwahrheit: das »Principium rationis sufficientis« (97) – jener Satz vom zureichenden Grund –, der vor Leibniz und Wolff noch als unzulässiges »atheistisches Principium« (ebd.) gegolten hat und der bei Grosch auch im Kontext der »ZeitWahrheiten« (96) auftaucht. Dessen Anwendung lasse sich, so Grosch, nicht »ohne viel Weitläuftigkeit« (224) erklären, weil es von den Philosophen erst unzureichend behandelt worden sei: 29 Tacit knowledge zeichnet sich dadurch aus, dass man es nicht (vollständig) explizieren kann, weil es sich nicht um Aussagewissen (knowledge that), sondern um inkorporiertes Durchführungswissen (know how) handelt. Vgl. zum Wissensbegriff der Praxistheorie Reckwitz: Grundelemente [Anm. 5], insb. 114 und 117; vgl. weiter Harry Collins: Tacit and Explicit Knowledge, Chicago 2010.

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Kurz, ich weis den obigen fragenden keinen andern Rath zu geben, als sie lesen, was die Philosophen in der Metaphysick von zureichendem Grunde angeben, mit Bedacht, und wenn sie etwas behaupten oder thun, so thun sie es wissend aus zureichendem Grunde; so werden sie nach und nach endlich erfahren, was darzu gehört, wenn ich sagen will, es ist ein zureichender Grund, und sie werden alsdann meinen vorhergehenden Absaz vollkommen verstehen. (ebd.)

Wie die Gedankenoperation des zureichenden Grundes funktioniert, lässt sich also eigentlich nur unzulänglich explizieren, weil es durch eine Kombination von bedächtiger Lektüre einschlägiger Schriften und eigenen Beobachtungen im Denken und Handeln selbst erfahren werden muss. Damit wird der logischen Operation eine Selbstevidenz zugrunde gelegt, die sich nicht völlig explizieren, sondern nur ›nach und nach endlich erfahren‹ lässt. Diese Selbstevidenz versucht Grosch daher auch gar nicht erst zu erklären, sondern setzt auf eine ›ästhetisierende‹ Vermittlung: Drittens lege man nunmehro die ausgeforschten Gründe in die Wage-Schale der Vernunft, und zwar erstlich einzeln, wenn man viele Gründe hat; sodann alle zusammen genommen; welches Abwiegen so vorgenommen wird; in die eine Schale der Wage der Vernunft lege deine Meinung, in die andere Schale lege einen Grund einzeln nach dem andern; […] du legest noch eine hinein, da fänget dieselbe Schale an sich etwas in die Höhe zu heben; du legest die 3te auch hinein, die ziehet gar im geringsten nicht die andere Schale weiter in die Höhe, daraus erkennest du, sie tauget gar nichts, und schmeisest sie wiederum heraus, und legest die 4te und lezte hinein, so steiget deine andere Schale, darinne deine Meinung lieget, völlig in die Höhe […] daraus erkennest du, deine drey Raisons sind vollwichtig […] und du hast also einen richtigen zureichenden Grund vor selbige Meinung. (224 f.)

Die Praktik des Wiegens wird auf die logische Operation übertragen, die dadurch eine sinnliche Strukturierung erhält.30 Unterschiedliche Gründe sollen gegen eine Meinung abgewogen werden, indem diese nacheinander auf eine körperlich imaginierte ›Wage-Schale der Vernunft‹ gelegt und die Bewegung des ›Züngelchen‹ genau besehen wird (›siehest du‹, ›du siehest aber‹). Dieses Wiegen, das sich als manuelle und optische Praktik inszeniert, bei der ein imaginäres Artefakt einerseits mit den Händen beladen, andererseits aber vor allem mit den Augen besehen wird, dient dazu, die auf andere Art und Weise nicht vollständig zu explizierende Selbstevidenz der logischen Operation zu modellieren. Dies betont Grosch, indem er offen lässt, wie genau die Waage beschaffen sein muss; für die Logik des zureichenden Grundes müsse die ›Metaphysick‹ konsultiert werden. Die Anleitung, wie man das nötige Denkinstrument – die Waagschale der Vernunft – zusammensetzt, erhält man also durch die einschlägigen metaphysischen Schriften. Wie dieses Instrument hingegen genau zu bedienen und interpretieren sei, lässt sich für Grosch 30 Vgl. Andreas Reckwitz: Sinne und Praktiken – Die sinnliche Organisation des Sozialen, in: Die Sinnlichkeit des Sozialen – Wahrnehmung und materielle Kultur, hg. von Hanna Katharina Göbel und Sophia Prinz, Bielefeld 2015, 441–456.



Schöne Geisterjagd125

nur durch die Praktik des Wiegens veranschaulichen. Es gilt folglich, so die Pointe, die durch das Wiegen modellierte Sinnesorganisation auf die logische Operation zu übertragen und sie beim Denken und Handeln einzuüben. Gesellschaftliche Praktiken wie diejenige des Wiegens sind für Grosch also besonders geeignet, um abstrakte Operationen der Seelenvermögen zu veranschaulichen, weil sich mit ihnen ein bestimmter Wahrnehmungsverlauf modellieren lässt, der dann auf das Erfahren der Selbstevidenz bei abstrakten Operationen übertragen werden kann. Dergestalt kann die nicht diskursiv mitteilbare Selbstevidenz der Operation sinnlich vermittelt werden. Darin ist auch das spezifische Leistungsprofil zu sehen, das Groschs Satiretheorie bei aller Kritik an den ›Schönen Geistern‹ dem ›Ästhetisieren‹ in der philosophischen Schrift zuschreibt. ›Ästhetisieren‹ darf die Redemaske des Diskurses – der ›Philosoph‹ – nämlich nicht nur in begleitender und didaktischer Funktion, um Argumente durch Einfälle zu veranschaulichen oder um Satire zu machen. Vielmehr darf – und muss – der Philosoph auch dann ›ästhetisieren‹, wenn sich die Regeln der Satyre nicht begrifflich, sondern nur durch Anschauung vermitteln lassen.

»Autorhandlung« Hamann und Jean Paul über Herder Ralf Simon

I. Einleitung

Johann Georg Hamanns Begriff der Autorhandlung reagiert auf eine epistemische Diffusion. Wenn Hamanns Deutungstätigkeit geschichtlich-genealogisch, theologisch, aisthetisch, sprachphilosophisch und dialogizitätstheoretisch angelegt und also überkomplex geworden ist, dann tritt dezisionistisch die Autorhandlung als ethisch-politische Initiative auf, um Komplexität zu reduzieren. Diese Sachlage einer ethischen Reaktion auf epistemologische Fragen wird zuerst an Hamanns Herder- und Kantkritiken exemplifiziert, wobei besonders der Anredewechsel an den Freund auffällt. In der Apostrophe wird ein Registerwechsel von Epistemologie zu Ethik offensiv inszeniert. Jean Paul nimmt diese literarische Strategie in der Kantate-Vorlesung der Vorschule auf. Herders adrasteaische Meta-Ethik wird dort als Antwort auf die epistemischen Diffusionen gesteigerter Selbstreferenz aufgeboten. Jean Paul kontert Hamanns Autorhandlungen an Herder dadurch, dass er Herders Autorhandlung als Heilung seiner eigenen (i. e.: Jean Pauls) epistemologischen Spaltung versteht. Dieses vertrackte Spiel ist ein mehrfacher Wechsel von epistemischer und ethischer Argumentation. II. Epistemische Komplexität und Dezision

In Situationen gesteigerter epistemischer Unübersichtlichkeit nimmt die Wahrscheinlichkeit dezisionistischer Antworten zu. Die Initiative, in eine Gesamtlage, die mit geregelten Verfahren nicht mehr beherrschbar ist, durch extern verfügte Ordnungsschemata einzugreifen, ist letztlich eine ethische oder, was zu bedenken sein wird, eine politische – beides im positiven oder auch negativen Sinne. Wo Normativitäten ihre strukturierende Kraft verlieren und Erkenntnisprozesse für Praxisabsichten zu komplex werden, gewinnen komplexitätsreduzierende Entscheidungen an Plausibilität. Sie mögen ihren Grund in epistemischer Diffusion haben, sind aber letztlich nicht selbst epistemisch motiviert, sondern ethisch oder politisch. Diese allgemeinen Bemerkungen ließen sich aus einer Gedankenbewegung ableiten, die sich bei Carl Schmitt aus dem Zusammenhang seines Romantikbuches (Politische Romantik, 1919) und seiner kurz darauf folgenden Politischen Theologie (1922) ergeben. Das letzte Wort des Romantikbuches lautet1: »Entscheidung«. Die 1

Carl Schmitt: Politische Romantik, Berlin 61998, 168.

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Modernediagnose, die Carl Schmitt dort gibt, attestiert den Romantikern die umfassende Pathologie des subjektivierten Okkasionalismus.2 Sie nehmen jede Gelegenheit (occasio) wahr, um an erkenntnistheoretische Dispositive bloß subjektive Begriffsverknüpfungen so lange anzuschließen, bis in einer allgemeinen Begriffs­ chemie jede Verknüpfung äquidistant zu jeder anderen steht, keine einzelne Verknüpfung mehr Priorität gegenüber einer anderen besitzt und folglich ein Raum umfassender epistemischer Relativität entsteht. Ist in der Romantik in dieser Weise das Denken vom Grunde her haltlos geworden, dann – so der auf die condition moderne ausgeweitete Verdacht – bedarf es eines Subjekts, welches durch politische Dezision die verloren gegangene Souveränität wiederherstellt. Schmitt erteilt in seiner politischen Theologie eine politisch-ethiktheoretische Antwort nicht nur auf ein staatsrechtliches Problem, sondern auch auf eine geschichtsphilosophische Diagnose.3 Schmitts Überlegungen haben evidente Schwächen, aber sie formulieren ein Deutungsschema, das sich kunstintern auf eine interessante Weise platzieren lässt. Wenn in der sich formierenden ästhetischen Modernität im 18. Jahrhundert die Kunst zunehmend von Mimesis auf ästhetische Autonomie und also auf Selbst­ refe­renz umgestellt wird, und wenn Selbstreferenz komplexitätssteigernde Effekte nach sich zieht, dann kann vermutet werden, dass paradoxerweise gerade im Zuge ästhetischer Autonomie die Position eines nicht-ästhetischen Handlungssubjekts aufgerufen und instituiert wird. Die Autoren, die um 1800 komplexe Dichtung schreiben, treten in der Regel auch als Subjekte der Selbstexegese auf. Etabliert wird das neue Genre der Autorenpoetiken, welches sich erweitert und von dem ausgehend sich die Autoren die Kompetenz zuschreiben, auch über außerästhetische Gegenstände zu verhandeln. Kunstintern, aber doch in deutlicher Spannung zur autonomieästhetischen Selbstbezüglichkeit etabliert sich eine mehrfach zuständige Autorschaft, die sich aus der Kunstkompetenz heraus legitimiert, diese Legitimation aber über die komplex gewordene Kunstsphäre hinausträgt. Goethe äußert sich zur Französischen Revolution, Schlegel zum Republikanismus, Schiller zur Weltgeschichte. Die starke Emergenz einer solchen Autorschaft in einer autonomieästhetischen Gesamtbewegung, die die Kunst zunächst von ihrer ethischen oder politischen Funktionsbestimmung zu befreien versucht, kann als Paradoxie von Modernität beschrieben werden. Ästhetische Komplexität wirkt kunstintern einerseits legitimierend, ermächtigt an2 Vgl.

ebd., 18 und Kap. II/2. Carl Schmitt: Politische Theologie – Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 6 1993. Aus der allgemeinen Bemerkung, dass »jede konkrete juristische Entscheidung […] ein Moment inhaltlicher Indifferenz« (ebd. 36) enthalte, wird in Bezug auf Schmitts Modernediagnose der kulturelle Ausnahmezustand hergeleitet, den der Souverän nutzt, um sich zu etablieren. Dabei übernimmt er zweierlei: die Definition, dass ein Ausnahmezustand vorliege (ein solcher kann objektiv nicht definiert werden; er wird gesetzt, vgl. ebd., 14), und die Definition, wie darauf zu reagieren sei: »Er [Souverän: R. S.] entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen« (ebd.). 3 Vgl.



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dererseits aber zur Ausweitung von Autorschaft auf nichtästhetische Felder. Carl Schmitts Modernediagnose hat insofern einen zentralen Punkt getroffen: Die dezisionistische Drehung ins Politisch-Ethische resultiert durchaus aus einem Mix von Autonomie und Komplexität. Dieser Mix erzeugt Diffusion im Bereich des Praxeo­ logischen und ruft mithin nach Antworten, welche die erreichte Komplexität per definitionem unterbieten müssen. Gibt es in diesem Übergangsfeld von ästhetischer Autonomie und Praxisbezug Positionen, die sich anders darstellen und nicht in die Gefahr geraten, mit einer Schmitt’schen Denkfigur paraphrasiert werden zu können? Sie werden bei Autoren zu finden sein, die das Ästhetische wesentlich als aisthesis denken und damit eine Konkretion schon in der Kunst erreichen, welche den Schritt zu einer ethisch-poli­ tischen Reflexion immer schon gegangen ist. Der Begriff der Autorhandlung wird im Folgenden als ethisches Gegenkonzept zur politischen Dezision (nach Schmitt) zu bedenken sein. III. Hamann, Autorhandlung

Dem griechischen Rhetor Demosthenes wird zugeschrieben, er habe die Verkörperung der Rede im Vortrag (actio) als den wichtigsten Teil der Rhetorik betrachtet, so Johann Georg Hamann in den Kreuzzügen des Philologen (1762)4: »Handlung, sagte Demosthenes, ist die Seele der Beredsamkeit, und auch der Schreibart.« Für sich und seine Schreibart wiederholt Hamann den Sachverhalt in einem Brief an Herder vom 3. April 1774 5: »Und actio, actio, actio ist immer das Heiligtum meiner Kabbala und Philologie seel. Andenkens gewesen.« Nun ist dieses Heraustreten aus der Schrift in die Handlung des Vortragenden, der mit Stimme und Geste agiert, in Hamanns Texten selbst nur eine Figur der Schrift. Sie kann sich im Stil des Geschriebenen äußern. Zu seinen Sokratischen Denkwürdigkeiten (1759) schreibt Hamann am 31. August 1759 an Johann Gotthelf Lindner: »Das ganze Werk ist mimisch« (ZH I, 404). Es ist in sokratischer Manier geschrieben, der Stil vollzieht eine mimische Annäherung an seinen Gegenstand, Hamann handelt durch diesen mimischen Stil als Sokrates.6 Handlung oder actio heißt also, als der zu sprechen, von dem die Rede sein soll. Statt einer Rede-über (Metasprache) findet eine Anverwandlung statt. In den Sokratischen Denkwürdigkeiten ist damit nicht nur ein Maskenwesen gemeint, sondern sogar ein typologisches Verhältnis, in dem Sokrates, gespiegelt über die Mittelachse Christi, 4 Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke – Sechs Bände, hg. von Josef Nadler, Wien 1949– 1957 [Reprint 1999], [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle N mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern], hier N II, 116. 5 Johann Georg Hamann: Briefwechsel – Bd. I–III, hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel, Wiesbaden 1955–1957, [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle ZH mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern], hier ZH III, 76. [Hervorh. im Original]. 6 Zum Begriff des mimischen Stils vgl. Fritz Blanke: Johann Georg Hamanns Hauptschriften erklärt II, Gütersloh 1959, 13–20.

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zum Antitypus von Hamann wird. So bekommt die Maske eine heilsgeschichtliche Fundierung. Der Autor Hamann vollzieht, was der Autor Sokrates, vermittelt durch göttliche Autorschaft, schon angelegt hat. Durch diese Figur wird Autorschaft aus ihrer monologischen Situation der Selbstkundgabe herausgenommen und von vornherein in einen Raum der Interaktion und der Intersubjektivität gestellt. Für Hamann ist dieser Vorgang konkrete Handlung, sie betrifft sehr wesentlich die Verkörperung, durchaus im Sinne von Merleau-Pontys Terminus chair (Fleisch).7 So ist die Missgestalt des Sokrates in Hamanns mimischen Stil hinübergenommen, der Stotterer wiederholt das Schlüsselwort gleich dreimal (›actio, actio, actio‹). Der Begriff der Autorhandlung stammt von Hamann:8 Jede Handlung ist ausser ihrer ursprünglichen, natürlichen, materiellen und mechanischen Bezeichnung noch mancherley figürlicher, förmlicher, tropischer und typischer Bedeutungen fähig, welche zwar eben so wenig, als die Absichten und Gesinnungen des Handelnden, begucket und betastet werden können, aber, wie alle intellectuelle und moralische Eindrücke, ohne sinnlichen Ausdruck, keiner Mittheilung noch Fortpflanzung empfänglich sind: folglich müssen auch die Absichten und Gesinnungen eines Schriftstellers die typische Bedeutung seiner Autorhandlungen seyn, sich durch die Einkleidung und den Ausdruck seiner Gedanken offenbaren, oder wenigstens verrathen. (N III, 366)

Hamann entwickelt den Terminus Autorhandlung einerseits aus dem Kontext der Rhetorik, andererseits aus einer sehr eigentümlichen Anverwandlung theologischer Kategorien. Die Herablassung Gottes (Kondeszendenz) in die fleischliche Existenz (Inkarnation) führt zu der Möglichkeit, eine radikale Philosophie der Endlichkeit, geradezu einen Existentialismus der Leiblichkeit zu denken. Er wird ergänzt mit einer Idee von Dialogizität, die an Levinas9 erinnert und angesichts der Kreatürlichkeit eine Art von soteriologischer Bruderschaft im Zeichen empfindsamer Freundschaft10 instituiert. So beharrt Hamann darauf, dass jeder Gedanke ein mehrfach Vgl. Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 32004, 168 f., 313 f. u. ö. Vgl. Emil Angehrn: Körper, Leib, Fleisch – Von den Inkarnationen der Sprache, in: Leib und Sprache – Zur Reflexivität verkörperter Ausdrucksformen, hg. von Emmanuel Alloa und Miriam Fischer, Weilerswist 2013, 27–44. 8 Vgl. zu diesem Begriff Oswald Bayer: Zeitgenosse im Widerspruch – Johann Georg Hamann als radikaler Aufklärer, München 1988, 41–45; Oswald Bayer: Vernunft ist Sprache – Hamanns Metakritik Kants, Stuttgart- Bad Cannstadt 2002, 9–17. 9 Vgl. Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit – Versuch über die Exteriorität, München 3 2002. Begriffe wie »Das von Angesicht-zu-Angesicht als irreduzible Beziehung« (109–112) oder der Zusammenhang von »Antlitz und Ethik« (277–318) zeigen eine intensive Wahlverwandtschaft mit Hamann auf, der von Levinas allerdings nicht zur Kenntnis genommen wurde. 10 Ich borge den Begriff der soteriologischen Bruderschaft aus der Gnosisstudie von Hans Jonas: Gnosis und spätantiker Geist, Göttingen 41988, 171. Hamanns Freundschaftsdiskurs könnte dazu verleiten, ihn auf die Empfindsamkeit zu beziehen. Jonas aber macht darauf aufmerksam, dass in ganz anderen Zusammenhängen eine vergleichbare Freundschaftsemphase gepflegt wird. Im Leiden an der Endlichkeit und im Willen, ihre Beschränktheiten zu übersteigen, etablieren die Gnostiker eine enge Solidarität im Leiden, die freilich immer nur auf die Erlösung ausge7



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konkreter ist: Er ist geschichtlich geworden (genealogische Dimension), er ist geist­ erfüllt (theologische Kondeszendenz), er ist eingeschlossen in die körperliche Faktizität eines jeden Subjekts (inkarnationstheoretisch-aisthetische Dimension), er ist Rede eines Menschen an einen anderen (dialogische Dimension), er ist sprachgebunden an Überlieferung und Usum (sprachphilosophische Dimension).11 Diese Vielheit von Aspekten wird enggeführt im Begriff der Autorhandlung. Jeder Gedanke entspringt mithin einer konkreten Subjektivität in der mehrfach ausgedeuteten Gebundenheit an historische, theologische, sinnliche, kommunikative und sprachliche Voraussetzungen. Dabei ist insbesondere die theologische Dimension von Wichtigkeit: Die Sprache als Gnadengeschenk Gottes an die Menschen (vgl. N III, 38) öffnet den Raum einer grundsätzlichen Lesbarkeit der Welt,12 der jedoch durch den Sündenfall wiederum limitiert, sodann durch Christi Erlösungstat erneut restituiert wurde. In seinen Betrachtungen zu Kirchenliedern (1758) schreibt Hamann: Ich bin Gottes Bild. Er schuf mich nach seinem Bilde. Dies wurde verloren. Er erneuerte es durch das große Werk der Erlösung. Auch dies löschte die Sünde aus. Der Geist Gottes hat solches durch den Glauben an meinen Heyland und Schöpfer wieder hergestellt. Gott sieht jetzt Sich selbst in meiner Seelen gleichsam im dreyeinigen Glanz seines Wesens. (N I, 250 [Hervorh. im Original])

Das Zitat ist aufschlussreich in seiner prinzipiellen Offenheit: Ist das Bild Gottes, der Mensch, der Schöpfung konkordant gesetzt oder liest er die signatura rerum infolge seines Sündenstandes immer falsch? Eine Antwort ist auf diese Frage nicht zu geben, wohl aber lässt sich das Hamann’sche Exegeseverfahren als die Reflexion dieser Problematik deuten. Wenn er zwischen Sokrates, Christus und sich selbst eine Typologese auf baut, dann wird das theologische Deutungsschema von Typos und Antitypos de facto zu einer wilden Semiose.13 Die Hamann’sche Autorhandlung richtet ist, von daher aber eine emphatische Rhetorik entwickelt. Nun ist Hamann kein Gnostiker. Aber der Begriff der soteriologischen Bruderschaft bleibt dennoch erwägenswert. Wenn Hamann etwa Herder massiv widerspricht, um dann doch die Freundschaft zu betonen (s. u.), dann liegt hier gewiss eine ethische, vielleicht aber auch eine theologisch gemeinte Argumentationsfigur vor. 11 In der Metakritik § 5 findet sich die Formulierung, dass Sprache kein »ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum« habe (N III, 284 [Hervorh. im Original]). 12 »Jede Erscheinung der Natur war ein Wort – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigeren Vereinigung, Mittheilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen« (N III, 32). 13 Der Terminus der wilden Semiose wurde durch Aleida Assmann als Folge eines langen Blickes auf die Zeichen verstanden: Je länger man blickt, desto fremder blicken die Zeichen zurück; sie entwickeln ein Eigenleben und aktivieren gegen ihre primäre Denotation viele Konnotationen (vgl. Aleida Assmann: Im Dickicht der Zeichen, Berlin 2015, 11–27). Umberto Eco hat mit seinem Theorem der hermetischen Abdrift eine ähnliche Figur zur Diskussion gestellt, die er allerdings nicht aus der Langsamkeit, sondern im Gegenteil aus der nervösen Überfülle von Anknüpfungen und Assoziationen ableitet (vgl. Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation, München 1992, Kap. 2 u. Kap. 4.6). Wilde Semiose kann als dysfunktional inflationierender Zeichengebrauch verstanden werden, der semantisch die Konnotationen gegenüber der Deno-

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zitiert die theologischen Schemata und profitiert von ihrem Auslegungsraum, entzieht sich aber ihrer dogmatischen Disziplin. Eben deshalb ist sie einzig und allein Autorhandlung, nämlich eine reine Setzung durch die Dezision eines Subjekts, das sich diesen Immanenzraum durch eine theologische Rahmenbedingung (Kondeszendenz, Gnadengeschenk, Inkarnation) geschaffen hat, ihn dann aber ad libitum ausfüllt. Dass Sprache kein »ander Creditiv als Ueberlieferung und Usum« (N III, 284 [Hervorh. im Original]) haben solle, mag als Theorem philosophisch einleuchten, aber die entscheidende Frage ist die nach dem tatsächlichen Sprachgebrauch Hamanns (›Usum‹) und nach den Schlüsseltraditionen, für die die Überlieferung behauptet wird. Wenn faktisch durch die inkarnationstheoretische Wendung in die Immanenz der Semiose alle Verknüpfungen möglich sind – und Hamanns intensive Intertextualität weist darauf hin –, dann verbleibt als einziger Anker in diesem Raum der Verweisungen allein der Autor selbst, der in jedem Schrifthandeln seine Auslegungsakte steuert. Hamanns Empörung darüber, dass Kant sich anmaße, der reinen Vernunft eine Disziplin, also vor allem: eine Disziplinierung, vorzuschreiben, zeigt diesen Willen zur Autorhandlung als den vermeintlich einzigen Fixpunkt. Es ist entscheidend, dass die Autorhandlung Hamanns primär praxeologisch angelegt ist und also letztlich eine ethische Dimension hat. Man kann Hamanns Strategie, einen Auslegungsraum für wilde Semiosen zu gewinnen, als Analogon zur Autonomieästhetik beschreiben: Je intensiver sich die Zeichenverhältnisse text­ intern vervielfachen, desto selbstbezüglicher werden die Texte und desto stärker etablieren sie einen eigenen ästhetischen Raum. Die Stabilisierung der argumentativen Zusammenhänge geschieht bei Hamann dann aber durch eine ethische Haltung, nämlich durch den Rekurs auf die Autorhandlung und ihre grundlegende dialogische Ausrichtung. In seinen beiden Rezensionen der Herder’schen Sprachursprungsschrift wird ein Vorwurf formuliert: Herder biedere sich dem Herrschaftsdiskurs des autoritären friederizianischen Staates an, wenn er sich im Ernst auf die Akademiefrage nach dem Sprachursprung einlasse. Dass ihm den Preis zugesprochen worden sei, zeige deutlich, dass er den Sündenfall begangen habe, um eines eitlen Erfolges willen mit der korrupten Macht des preußischen Obrigkeitsstaates zu paktieren. Der Vorwurf wiegt schwer: Wenn also der Mensch, dem allgemeinen Zeugnisse und Beyspiele aller Völker, Zeiten und Gegenden zu Folge, nicht imstande ist, von sich selbst und ohne den geselligen Einfluß seiner Wärter und Vormünder, das heißt, gleichsam iussus auf zwey Beinen gehen zu lernen, noch das tägliche Brod ohne Schweiß des Angesichts zu brechen, am allerwenigsten aber das Meisterstück des schöpferischen Pinsels zu treftation betont und ikonisch die Zeichengestalt gegen ihren bloß arbiträren Charakter zum Bedeutungsträger macht. Die wilde Semiose kann Exegeseverfahren wie Typologie oder mehr­ fachen Schriftsinn gegen die theologischen Kodierungen aufrufen und sie so aus der Doktrin entbinden.



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fen: wie kann es jemandem einfallen die Sprache, cet art leger, volage, demoniacle, (mit Montagne aus dem Plato zu reden) als eine selbstständige Erfindung menschlicher Kunst und Weisheit anzusehen? (N III, 30 f. [Hervorh. im Original])

Der komplexe Satz resümiert die vorangegangenen Polemiken in Form einer durchaus schulgerechten conclusio. Er stellt die rhetorische Frage, wie man (also Herder) sich versteigen kann, die Sprache als menschliche Erfindung anzusehen, wenn dreierlei gilt: a. Der Mensch steht unter dem Einfluss seiner Vormünder [i. e.: Ein solcher Mensch – jeder also – kann gar nicht frei denken und erst recht nicht die Autonomie der menschlichen Spracherfindung behaupten, wenn er selbst in jeglicher Hinsicht heteronom bestimmt ist]; b. Der Mensch isst im Schweiße seines Angesichts, d. h. seine Art zu essen hält nicht Leib und Seele zusammen [i. e.: Als nicht-ganzer Mensch hat er nicht die Befähigung, das Ganze der Sprache theoretisieren zu können; ihm fehlt das commercium mentis et corporis]; c. Der Mensch besitzt keine freie Sexualität, er beherrscht seinen Pinsel nicht [i. e.: Die Zeugungskraft ist korrumpiert; falsche Begehren vernebeln die Wahrnehmung]. Wenn diese drei wesentlichen Defekte vorhanden sind, dann wird eine Sprachtheorie, die von vornherein den menschlichen Ursprung unterstellt – so die Fragestellung der Akademie14 und so auch Hamanns problematische Lektüre von Herders erstem Satz15 der Sprachursprungsschrift –, falsch sein müssen, weil sie von einer grundlegend falschen Prämissenlage, letztlich der Unfähigkeit zur Wahrheit, ausgeht. Es handelt sich um ein Argument, das aus heutiger Sicht ideologiekritisch 14 Die Preisfrage lautet: »En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d’inventer le langage? Et par quels moyens parviendront-ils d’eux-mêmes à cette invention? On demande une hypothèse qui explique la chose clairement et qui satisfait à toutes les difficultés« (Gottfried Herder: Werke in 10 Bänden, hg. von Martin Bollacher, Jürgen Brummack, Ulrich Gaier et al., Frankfurt a. M. 1985–2000, [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle Herder W mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern], hier W I, 1274). Übersetzung: Sind die Menschen in der Lage, Sprache zu erfinden, wenn sie annehmen, dass sie ihren natürlichen Fähigkeiten überlassen sind? Und auf welche Weise werden sie von selbst zu dieser Erfindung kommen? Wir bitten um eine Hypothese, die die Sache klar erklärt und alle Schwierigkeiten befriedigt. 15 »Schon als Tier, hat der Mensch Sprache« (Herder W I, 697). Logifiziert dieser Satz die Tiere zu unvollkommenen Menschen oder macht er die Aussage, dass es tierische Vorformen des Menschen gegeben habe, in denen gleichwohl Sprache – oder: Sprachlichkeit im Sinne von Fähigkeit zur Sprache – vorhanden gewesen sei? Hamann kontert diesen Satz mit dem Argument, die Sprache sei weder schon im Tier noch schon im Menschen, sondern sie wäre Gabe Gottes (vgl. N III, 31–33). Aber natürlich lässt sich einwenden, dass Herders erster Satz in dieser Ursprungsfrage gar nicht mitspielt. Woher die Sprache komme, ist in der Sprachursprungsschrift an dieser Stelle nebensächlich. Herder beschreibt auf den ersten Seiten ihr Wirken als Natursprache; er setzt ihr Gegebensein voraus. Daraus leitet Hamann die problematische Unterstellung ab, Herder habe sich nicht für Gottes Gabe entschieden, sondern für eine menschliche Genese.

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im Sinne der kritischen Theorie genannt werden kann. Nämlich: Wenn Denken unter unfreien Verhältnissen stattfindet, wenn der anthropologische status quo im Kern einem Verblendungszusammenhang unterliegt und wenn jegliche Zeugung, intellektuelle wie sexuelle, von falschen Begierden gesteuert ist, dann kann es, nach ­Adorno, inmitten des falschen Lebens kein richtiges geben,16 auch keinen Gedanken, der seine Intaktheit behaupten könne. Von Hamann wird Herder also dies vorgeworfen: unter dem Einfluss von Vormündern zu stehen, eine falsche Art der geistigen Nahrung zu haben und ›am allerwenigsten‹ seine Zeugungskraft gebrauchen zu können. Diese ungeheuerlichen Vorwürfe treffen Herder in seiner physischen wie geistigen Existenz, sie sprechen ihm überhaupt das Recht ab, in der Weise zu denken, wie er es in seiner Sprachphilosophie getan hat. Die Ideologiekritik der Auf klärung war im Vergleich zu diesen Argumenten harmlos. Dass etwa die Religion ein Ergebnis des Betruges der Priesterkaste sei, teilt den Raum der Wahrheit in die Beschreibung ihrer Defekte und in die salvierte Position dessen, der sich dazu ein Urteil erlauben kann. Hamanns Ideologiekritik hingegen ist umfassend, sie behauptet eine Korruptheit des gesamten politischen Systems überhaupt, die so tief geht, dass sie jede Faser menschlichen Daseins erfasst und in Mitleidenschaft zieht. Stimmte dies, dann wäre selbst Hamann noch dieser Kritik unterworfen. Die Paradoxien der kritischen Theorie, infolge der negativen Dialektik der Auf klärung selbst keinen Standpunkt haben zu können, der dem Kritisierten nicht auch unterläge, findet sich schon bei Hamann. Und auch die Antwort ist vergleichbar: Adornos Messianismus ruft eine nicht-immanente Instanz an, so wie Hamann in der ersten Herderrezension die Sprachlichkeit vor dem Sündenfall (vgl. N III, 31–33). In der zweiten Herderrezension entwickelt Hamann den Vorwurf, Herder argumentiere zirkulär, weil er aufgrund des Vorurteils, Sprache sei menschlichen Ursprungs, nur menschliche Ursachen ansetze und folglich das zu Beweisende immer schon supponiere. Erneut wird deutlich, dass Hamann der Ansicht ist, Herders Verrat an der Eigenschaft des Menschen, ein politisches Tier zu sein, resultiere aus seiner Kapitulation vor dem Obrigkeitsstaat und vernichte die herrscherliche Würde des Menschen zur politischen Kritik. Mitten in diesem wiederholt essentiellen Angriff auf seinen Freund hält er aber inne und lüftet sein Inkognito: In Kritik und Politik besteht also der ganze Kanon menschlicher Vollkommenheit, den mein Freund Herder – Vielgeliebter Leser! Ich heiße der Magus in Norden – – und mache es zum Abendfest und zur letzten Pflicht meines Lebens in dem gekrönten pythischen Sieger meinen Freund Herder, gegen den ich bisher mit verbundenen Augen gefochten, eben so öffentlich als feyerlich zu erkennen, zu umarmen und zu segnen (N III, 48 f. [Hervorh. im Original]).

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Vgl. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften IV, Frankfurt a. M. 1997, 43.



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Hamann tritt aus seiner Rolle hervor wie in einer komischen Parekbase, er richtet seine Anrede (Apostrophe) neu aus, indem er sich zu erkennen gibt. Aus der Rezension wird eine andere Textgattung, die bislang kritisierte Sprachursprungsschrift wird in einer Autorhandlung durch ihren Autor Herder ersetzt, der nun angeredet wird. Infolge dieser Autorhandlung entsteht überraschenderweise ein neues Argument, also eine neue epistemische Konstellation infolge einer ethischen Initiative, die sich maßgeblich aus der Apostrophe ergibt. Hamann erwägt, dass Herder seinerseits eine Maskenrede führt, »als ein Satyr« (N III, 31) schreibt und der Akademie mit dem Anfang und dem Ende seiner Sprachursprungsschrift eine Zustimmung zu ihrer Fragestellung vorgaukelt, die vom tatsächlichen Argumentationsgang der Preisschrift her nicht gerechtfertigt ist. Herder spricht also seinerseits indirekt, in Hieroglyphen, und schmuggelt hinter der Oberfläche einer vermeintlichen Zustimmung ein theologisches Kassiber zum Sprachursprung mitten in den zugesprochenen Preis ein. Dies erkennen zu können, ist Hamann nur durch die ethische Praktik einer an der Freundschaft orientierten konkreten Dialogizität mit Herder möglich: Die Abwendung (wörtlich: Apostrophe) von der Sprachursprungsschrift und dem Diskurs der Akademie hin zum Freund, der Wechsel der Anrede also mit der dadurch notwendig werdenden Parekbase ist es, die Hamann nach so viel scharfer Kritik dann doch zu einer substantiellen Erkenntnis von Herders Schrift führt. Man kann die Position Hamanns als eine Ethik der Dialogizität beschreiben, die sich mit dem Problem einer diskursiven Kultur auseinandersetzt, der jegliche Normativität abhandengekommen ist. Vormoderne Diskursdispositive waren reguliert, die Moderne aber hat diese Regeln hinterfragt: Nach dem Abschied normativ geprägter Mimesiskonzepte etablieren sich in der Kunst ästhetische Selbst­referenzen, die gegenüber den alten ästhetischen Regularitäten gleichgültig bleiben. Indem Hamanns Herderkritik vielleicht zum ersten Mal in der deutschen Literatur radikal ideologiekritisch vorgeht, manövriert sich Hamann selbst in eine aporetische Situation, auf die er so überraschend wie konsequent reagiert, nämlich ethisch. Ein analoges Manöver der ethischen Apostrophe findet sich auch am Ende der zweiten, Kants Kritik der reinen Vernunft (1781) gewidmeten Metakritik. Der letzte Satz17 lautet: Was die Transcendentalphilosophie metagrabolisiert, habe ich um der schwachen Leser willen, auf das Sacrament der Sprache, den Buchstaben ihrer Elemente, den Geist ihrer Einsetzung gedeutet, und überlasse es einem jeden, die geballte Faust in eine flache Hand zu entfalten. (N III, 289)

Kant wird die flache Hand geboten, zum freundschaftlichen Handschlag. Aber der Satz hat es in sich. Die Formulierung vom Sakrament ist terminologisch präzis: Im Sakrament wird eine Materie (hier: Elemente) durch ein verbum institutionis 17 In der Ausgabe Nadler folgt noch ein Satz (vgl. N III, 289). Oswald Bayer führt textkritisch valide Argumente dafür an, diesen Satz zu streichen (vgl. Bayer: Vernunft ist Sprache [Anm. 8], 39 f. und 422).

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eingesetzt (hier: ›Geist ihrer Einsetzung‹),18 und Hamann deutet die Tatsache, dass mit der Sprache jeder Geist immer durch Wort und Buchstaben materialisiert ist, als Unmöglichkeit, eine reine Vernunft behaupten zu können. Indem die Sprache Sakra­ment ist und die Kritik der reinen Vernunft notwendigerweise in Sprache formuliert sein muss, folgt sie dieser Struktur des Sakramentalen (der Materie wird Geist ›eingesetzt‹) und ist deshalb nicht in der Lage, reine, materiefreie Vernunft artikulieren zu können. Schwache Leser werden diesem Argument folgen können, so Hamann ironisch. Gemeint ist jeder normale Kirchgänger, der sonntäglich den Sakramenten beiwohnt. Und so wie jeder Hamanns These immer schon zugestimmt haben wird, wird auch Kant, dem anderen Freund, nach der recht massiven Faust der zwei Rezensionen die flache Hand geboten. Die beschriebene Konstellation von epistemischer Offenheit und ethisch motivierter Reaktion ist für die Frage nach den ethischen Praktiken im Kontext modernitätsbeschleunigter Autopoiesis auch der ästhetischen und intellektuellen Subsysteme im 18. Jahrhundert aufschlussreich. Hamann etabliert nur vordergründig eine theologische Rahmensetzung, deren Immanenzraum sich dann jedoch als Ermöglichung einer wilden Semiose erweist, in der idiosynkratische Typologesen Argumentationsstatus gewinnen, etwa wenn die Gehaltskürzung, die Hamann als Mitarbeiter der Königsberger Zollverwaltung akzeptieren musste, mit der Bevorzugung des Zöllners in der entsprechenden Gleichnisrede Christi typologisch verschmolzen wird.19 Indem er eine radikale Kondeszendenz Gottes denkt, kann Hamann seine höchsteigenen Leidenschaften und Eigentümlichkeiten zu gerechtfertigten Positionen promovieren. Dieser epistemische Deutungsraum wird erst wieder durch die Freundschaft, also durch eine ethische Praktik der konkreten Intersubjektivität gebändigt, wobei Hamann diesen Einschnitt des Ethischen in eine Situation offener Semiose durchaus dramatisch inszeniert: als parekbatischen Textbruch, als neu orientierende Apostrophe, als Unterbrechung und Rücknahme einer vorher radikalen Kritik, die als Ideologiekritik umfassend und disqualifizierend gewesen ist. IV. Jean Paul

Hamann wirft Herder vor, er argumentiere platonisch. Ein Vorwurf ist es, weil Hamann den Platonismus mit dem Tatbestand einer falschen Purifizierung verbindet, einer Reinigung von Erfahrung, Sprache und Überlieferung. Aber Hamanns Vorwurf trifft nur halb – und im intellektuellen Leben ist ein halber Treffer gar keiner. Denn Herders Platonismus ist ein sensualistischer,20 bei dem die Wiedererinnerung Bayer: Vernunft ist Sprache [Anm. 8], 420–422. Vgl. Lk 18,9–14. 20 Im Nachlass Herders findet sich eine Studie zur platonischen Wiedererinnerung (Zum Sinn des Gefühls), in der Herder das Erinnerungsvermögen des Blinden, der durch keine Schau beeinträchtigt ist, zum Angelpunkt seines sensualistischen Arguments macht (vgl. Herder W IV, 233–242). Zum grundsätzlichen Sensualismus Herders, dem auch seine Überlegungen zu Plato 18 Vgl. 19



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nicht das Reich der Ideen adressiert, sondern pränatale und früheste Erfahrungen der Kindheit, die in den fundus animae abgesunken sind, dort aber ein Netz von Korrespondenzen zu gegenwärtigen Erfahrungen etabliert haben. Der in der zweiten Herder-Rezension erhobene zentrale Vorwurf Hamanns erweist sich als argumentativer Fehlgriff. Weder kann Herder des Platonismus bezichtigt werden, noch ist die Argumentation der Sprachursprungsschrift zirkulär zu nennen, weil Herder eben nicht metaphysische Annahmen supponiert, sondern vielmehr genealogisch argumentiert. Diese Ungerechtigkeit des Urteils erkannt zu haben, kommt Jean Paul zu. Seine Autorhandlungen, Herder betreffend, korrigieren Hamann – und zwar in der charakteristischen Verbindung von Epistemologie und Ethik. Hamann, Jacobi, Herder und Jean Paul sind die vier Autoren, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine kantkritische Position im Namen einer Ethik der konkreten Intersubjektivität ausformulieren und dies in ästhetikrelevanten Kontexten tun. Zugleich entsteht hier eine antiklassizistische Opposition, die aber durchaus nicht eine vordergründige Rücknahme ästhetischer Autonomie propagiert. So steht von vornherein Jean Pauls Korrektur des Herderbildes nicht in Opposition zu Hamann, sie befindet sich vielmehr in freundlicher Distanz. Jean Paul lässt in seinen Flegeljahren (1804) einen blinden Weisen auftreten,21 den man unschwer als Hommage an Herder deuten kann. Blindheit wird traditionell nicht mit dem Platonismus und seiner Ideenschau verbunden, wohl aber bei Herders sensualistischer Wende des Platonischen Gedankens. In seinen frühen Fragmenten formuliert Herder seine Theorie des Tastsinns.22 Ihr zufolge ist Welterfahrung zuerst ein Innewerden des Seins, realisiert durch den Tastsinn als Berührung des eigenen Körpers mit den Körperdingen der Welt. Diese allererste basale Erfahrung schafft das Wissen davon, in einer dreidimensionalen Körperwelt zu leben. Wenn später der Sehsinn hinzukommt, sehen wir nach Herder als solches nur eine Fläche, die auf der Retina liegt, aber von uns wegprojiziert erscheint. Dass es sich dabei um eine tiefengestaffelte Dingwelt handelt und wir Körper zu sehen haben, ist schon das Ergebnis eines sensuellen Schlussfolgerungsverfahrens, durch welches das Urteil des Tastsinns dem Urteil des Sehsinns verliehen wird. Schon diese gegenseitige Übertragung (metaphérein) eines Sinns in den anderen ist kulturell geprägt, durch Klima und Habitus schematisiert und durchaus variabel. Nach Herder besteht nun Wiedererinnerung darin, einer ehemaligen Regung dieses dunklen Tastsinns mit seinem Gefühl für das Sein erneut innezuwerden. Deshalb wäre ein Blinder der eingeschrieben werden, vgl. Marion Heinz: Sensualistischer Idealismus – Untersuchungen zur Erkenntnistheorie und Metaphysik des jungen Herder (1763–1778), Hamburg 1994. 21 Vgl. Jean Paul: Sämtliche Werke – 10 Bände, hg. von Norbert Miller, Darmstadt 2000, [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle JP mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern], hier JP I/2, 625 f. 22 Herders Theorie des Tastsinns ist von der Forschung intensiv aufgearbeitet worden. Vgl. stellvertretend Ulrike Zeuch: Umkehr der Sinneshierarchie – Herder und die Aufwertung des Tastsinns seit der frühen Neuzeit, Tübingen 2000. Hierfür sind die zentralen Texte Herders: die Sprach­ ursprungsschrift, das Vierte Kritische Wäldchen, Plastik, Zum Sinn des Gefühls u. a.

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beste Platoniker, er erinnerte sich, unabgelenkt durch das wegprojizierende Sehen, der eigentlichen Genese des Gemüts. Wenn Jean Paul nun Herder als blinden Weisen auftreten lässt, dann emphatisch als platonischen Philosophen und zugleich gegen Hamanns negative Wertung. Die kurze Passage in den Flegeljahren ist insofern eine späte Zurechtweisung Hamanns, als sie den zentralen Kritikpunkt von dessen zweiter Herderrezension korrigiert: Herder ist Platoniker, aber ein sensualistischer, also just das Gegenteil von dem, was Hamann ihm andichtete. Diese Richtigstellung ist in der Sache epistemischer Art, vom grundlegenden Impuls her aber ethisch zu nennen. Herder wird in seiner kontrafaktisch vorgestellten Blindheit in den Flegeljahren zum Leitstern einer ästhetischen Theorie, die sich gegen den Klassizismus von Goethe und Schiller, gegen die Romantik und gegen den Kantianismus in Stellung bringt, also gegen die Hauptakteure der Auto­ nomieästhetik. Zugleich aber ist Jean Pauls eigene Ästhetik deshalb keinesfalls eine der ästhetischen Heteronomie, wohl aber eine der ethischen Entschiedenheit. Interessanterweise stellt sie sich damit in eine Konstellation, die derjenigen Hamanns vergleichbar ist: Erneut etabliert sich ein sympathetischer Streit zwischen Freunden, der auf eine tiefer liegende Konvergenz schließen lässt, in der epistemische Entscheidungen aus ethischen Gründen getroffen werden. Wie dies zu denken ist, sei Gegenstand der folgenden Überlegungen zur Vorschule der Ästhetik (1804). Dort hat Herder einen prominenten Auftritt. Nach den beiden ersten Teilen der Vorschule folgt eine selten gelesene dritte Abteilung, die aus zwei umfangreicheren und zueinander antithetisch angelegten Vorlesungen besteht, welche in einer dritten Vorlesung, der Kantate-Vorlesung über die poetische Poesie, in eine höhere Synthese aufgehoben werden. Dort hält der Autor der Vorschule, ein gewisser ›Jean Paul‹, seine Vorlesung, deren einziger Zuhörer ein schöner Jüngling ist. Gegenstand ist, wie sich später zeigen wird, Herder, der als platonische Vollendung von Jacobis metaphysischem Realismus gefeiert wird, nämlich als Verkörperung der höchsten Poesie, die eben deshalb nicht mehr geschrieben werden kann, weil sie als reiner Geist erscheint und sich nur in der Gesamtbewegung einer kompletten Existenz darstellen kann. Herder wird als derjenige charakterisiert, der das philosophische und insbesondere frühromantische Denken des Denkens aus seinen haltlosen Selbstbezüglichkeiten befreit (»wir sind nicht gemacht, alles gemacht zu haben«, JP I/5, 445) und auf einen Seinsgrund abzielt: »Ewig dringen wir – als auf das Ur-Letzte und Ur-Erste – auf etwas Reales, das wir nicht schaffen« (444 f.). Diese basale Gründung wird »sittlicher Realismus« (445) genannt. Solche Formulierungen liegen auf der Linie der Überlegungen von Hamann, Herder und Jacobi; vor allem der Letztere wird für den Begriff des sittlichen Realismus Pate stehen.23 Gemäß Jean Paul bringt Herder nun zu diesem Modell eines letztlich sittlich formierten Seins ein eigenes Philosophem hinzu. Noch bevor die Maske gelüftet 23 Zur immensen Bedeutung der Philosophie Jacobis für Jean Paul vgl. Oliver Koch: Individualität als Fundamentalgefühl – Zur Metaphysik der Person bei Jacobi und Jean Paul, Hamburg 2013.



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wird und Herder als hinter diesen Formulierungen stehend hervortritt, formuliert der Vorleser ›Jean Paul‹: »Was wir aber ewig fodern, ist weniger die Gleichung der Realität und unsers Denkens als die Ausgleichung« ( JP I/5, 446). Es geht also nicht um einen simplen philosophischen Realismus und auch nicht um ein adaequatioModell von Realität und Denken. Der Terminus Ausgleichung verweist auf Herders Adrastea-Projekt,24 also auf das unter dem Namen der Göttin der Gerechtigkeit und der abwägenden Schätzung stehende Modell einer Kritik, die nicht primär negiert und Grenzen zieht, sondern anerkennt (dazu s. auch unten). Wenn Hamann in der Aesthetica in nuce die Aufgabe der Dichtkunst darin sah, die Turbatverse der Schöpfung als disiecti membra poetae zu sammeln und in Geschick zu bringen,25 dann bestimmt Jean Paul analog die Dichtkunst als »Zauberspiegel der Zeit, welche nicht ist« (447), also als solche ausgleichende Darstellung der Dinge, dass ihnen ihr rechter Platz angewiesen werde. Das ist der Hamann’sche Dichtungsbegriff, der nach Jean Pauls Überzeugung in Herders Schriften sich erfüllt habe, eben weil Herder als sensualistischer Platoniker die Fähigkeit besitze, die Ordnung des Seins (Realismus) zu denken. Es ist, nebenbei, auch deutlich, dass dieser Begriff von Dichtung kein poetisches Schrifttum meint, sondern einen Geist der Darstellung, der sich gerade bei Herder, dessen wenige poetische Texte inferior sind, realisiert. Diese Dichtkunst, die »singen [darf ], was niemand zu sagen wagt«, kann »eine andere Welt zeigen in der hiesigen« (448). So weit geht die Vorlesung, die vom einzigen Hörer, dem schönen Jüngling, skeptisch aufgenommen wird. Die beiden Akteure des akademischen Rituals kommen nach Beendigung der Vorlesung gleichwohl ins Gespräch, die Monologsituation wird in einen Dialog, in die Rede und Widerrede von Angesicht zu Angesicht überführt. Zuerst dreht sich das Gespräch über Anonymität: »Anonymität bleibt, solange man existiert, wegen der Individuation fast unmöglich« (449). Auf diesen Gedanken hin, der zweifelsohne Hamanns Impuls von der unhintergehbaren Fleischgebundenheit (s. o.) jeglichen Gedankens aufnimmt, passiert im Text eine ähnliche Wendung zu der, die Hamann in der zweiten Herderrezension mit dem Nennen des Namens von Herder und von ihm selbst aufführte: so stand der schöne Jüngling wieder vor mir, den ich vielleicht im untergehenden Glanze nicht bemerken können. – Er sagte bloß ernst, ohne Zorn und ohne Scherz: er nenne sich überall gerne, wo man etwas gegen ihn habe; – Namenlosigkeit gezieme keinem Gegner – wiewohl er dies kaum sei, da er Herder in seinen frühern 24 Adrastea ist die Göttin der Gerechtigkeit. Herders letztes, durchaus ambitioniertes Zeitschriftenprojekt firmiert unter dem Titel Adrastea (1801–1803) und versucht sich, zu Beginn des neuen Jahrhunderts, an einer gerechten Würdigung des 18. Jahrhunderts. Herders Spätwerk ist kaum erforscht; vgl. aber Ralf Simon: Apokalyptische Hermeneutik – Johann Gottfried Herder: ­»Maran Atha«, Geschichtsphilosophie, »Adrastea«, in: Herder Jahrbuch/Herder Yearbook (1998), 27–52. 25 »Die Schuld mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Theil« (N II, 198 f. [Hervorh. im Original]).

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Werken, eh’ Ihn die Erde aus einem freien Kometen zu ihrem sanften Monde gemacht, genug verehre. »Mein Name«, sagt er, »ist *****.« – »Der *** in meinem Romane?« fragt’ ich erstaunt – Er war es; aber man vergeb’ es, wenn ich aus wichtigen Gründen den wahren Namen dem leichten Erraten überlasse. ( JP I/5, 450)

Der schöne Jüngling ist Albano, die Hauptfigur aus Jean Pauls Staats- und Weimarroman Titan (1800–1803); er nimmt hier mit der Bemerkung zur Gegnerschaft Bezug darauf, dass er eine gegen Herder gerichtete und von ihm selbst verfasste Schrift mit sich führt. Erst aber mit dieser Parekbase wendet sich der Text und lässt hinter den anonymen Gedanken die Personen, also den konkret verkörperten Dialog hervortreten. ›Jean Paul‹, der Vorleser, »hatte unter der ganzen Vorlesung an Herder gedacht« ( JP I/5, 449); der Jüngling Albano entpuppt sich als Jean Pauls Romanfigur und verehrt Herder, wenngleich er romantisch angekränkelt ist und auch gegen Herder schreibt; Herder selbst wird dann mit Namennennung im zweiten Teil charakterisiert und zwar im expliziten Bezug auf Hamann, dessen Name viermal genannt wird (vgl. ebd., 452–454). Diese verwirrenden Manöver, die inmitten eines ästhetiktheoretischen Diskurses eine Wendung der Anrede (Apostrophe) einer fiktionalen Figur (Albano) auf einen inszenierten ›Jean Paul‹ vollziehen und also, indem die Masken fallen und Herder als ethische – oder besser: als meta-ethische (s. u.) – Position der Vorschule genannt wird, eine erneute und komplexe Maskerade in Gang setzen, wollen ausgedeutet werden. Sie führen in das Zentrum der verwickelten Beziehung von ästhetischer Epistemologie und Ethik. Man wird zurückgehen müssen auf Jean Pauls so interessante wie abgründige Definition des literarischen Charakters. Das X. Programm der Vorschule lautet lapidar: Über Charaktere. Tatsächlich ist eine ästhetiktheoretisch oder poetologisch anspruchsvolle Theorie literarischer Charaktere eines der schwierigsten und von der Auf klärungspoetik kaum je befriedigend gelösten Probleme. Solange die Autoren im Rahmen des Mimesisparadigmas argumentierten, kamen die Charakterentwürfe über die Nachahmung von in der Wirklichkeit vorfindlichen Charakterdispositiven zustande. Theophrasts Charakterstudien, 1688 durch Jean de La Bruyères Les Caractères de Théophraste ins breite Bewusstsein zurückgeholt,26 haben die Denkform der Charaktertypologie geschärft, welche, verbunden mit der didaktisierenden Moralistik der Auf klärungsphilosophie, das stille Hintergrundwissen für die Konstruktion literarischer Charaktere bildete. Derart als gepflegtes Weltwissen im Diskurs der Zeit vorhanden, konnte sich die literarische Mimesis der Charakter­typologie relativ selbstverständlich und ohne größeren Theoriebedarf bedienen. Jean Pauls Ästhetik ist aber den Schritt von der Nachahmung zur Darstellung von poetischer Selbstreferenz gegangen.27 Sein Charakterkapitel realisiert sich 26 Vgl. Jean de La Bruyère: Les Caractères de Théophraste, traduits du grec, avec les caractères ou les mœurs de ce siècle, Paris 1688. 27 Lapidar nennt Jean Paul diesen Schritt am Anfang seiner Vorschule: »Wir kommen zum



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deshalb nicht über Weltwissen, sondern findet einen Konstruktionspunkt, einen »geheime[n], organische[n] Seelen-Punkt«, der vorausgesetzt ist und »um welchen sich alles erzeugt« ( JP I/5, 208). Ein jeweiliger Charakter ist ihm eine »unbegreif­ liche Schöpfung-Wahl einer Welt unter der Unendlichkeit von Welten, der Übergang der unendlichen Freiheit in die endliche Erscheinung« (208 f. [Hervorh. im Original]). Dieser intelligible Stiftungsakt liegt vor aller empirischen Charakterkunde, also auch vor allem mimetisch erreichbaren Weltwissen. Die Charaktere, über die ein Autor verfügen kann, werden nun aus dieser aprio­ rischen Bestimmung zur Endlichkeit hergeleitet, nämlich durch die Kontrastierung einer idealen und einer negativistischen Variante der anf änglichen ›SchöpfungWahl‹: Die bestimmtesten besten Charaktere eines Dichters sind daher zwei alte, lang gepflegte, mit seinem Ich geborne Ideale, die beiden idealen Pole seiner wollenden Natur, die vertiefte und die erhabne Seite seiner Menschheit. Jeder Dichter gebiert seinen besondern Engel und seinen besondern Teufel; der dazwischenfallende Reichtum von Geschöpfen oder die Armut daran sprechen ihm seine Größe ent­ weder zu oder ab. ( JP I/5, 212)

Im Falle von Jean Pauls Titan dürfte Albano der besondere Engel sein, Roquairol der besondere Teufel, das restliche Romanpersonal besteht aus Varianten im Zwischenraum dieser beiden Extrempole. Diese überraschend kohärente Theorie des literarischen Charakters benutzt Mimesis und Weltbezug nur noch zur Ausschmückung der Charaktereigenschaften, während die Charakterkonstitution offenkundig der Umstellung von Mimesis auf Selbstreferenz, der Heteronomie- auf Autonomieästhetik folgt. Aus dieser Situation ergibt sich eine notwendige und zugleich zutiefst problematische Schlussfolgerung: Letztlich ist ein Roman wie der Titan nichts anderes als ein hoch elaboriertes Gespräch Jean Pauls mit sich selbst, nämlich mit lauter partialisierten Ichvarianten der eigenen unvordenklichen ›Schöpfung-Wahl‹. Wenn in der Kantate-Vorlesung ein inszenierter ›Jean Paul‹ mit seiner Romanfigur Albano über Herder und dessen Wertschätzung Hamanns debattiert, so handelt es sich letztlich um ein Selbstgespräch zwischen den Instanzen des Autorichs. Die so ostentativ inszenierte Umschaltung von der Vorlesungssituation auf die Gesprächs­ situation, das parekbatische Heraustreten aus den Masken der Anonymität und der Grundsatze der poetischen Nachahmung zurück. Wenn in dieser das Abbild mehr als das Urbild enthält, ja sogar das Widerspiel gewährt – z. B. ein gedichtetes Leiden Lust –: so entsteht dies, weil eine doppelte Natur zugleich nachgeahmt wird, die äußere und die innere, beide ihre Wechselspiegel. Man kann dieses mit einem scharfsinnigen Kunstrichter sehr gut ›Darstellung der Ideen durch Naturnachahmung‹ nennen« ( JP I/5, 43 – der scharfsinnige Kunstrichter ist ausweislich einer Fußnote Jean Pauls der Rezensent der Vorschule in der Jenaer Literaturzeitung). – Es geht also um Darstellung der Ideen, Nachahmung wird zu einem ausschmückenden Mittel degradiert. Die Ideen ihrerseits sind diejenigen, die sich in der poetischen Einbildungskraft bilden und dort wiederum aus anthropologischen Formationen der Selbstbezüglichkeit entspringen.

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Anredewechsel: Dies alles sind nur interne Verschiebungen in dem hochkomplexen ›System Jean Paul‹, also monadische Aushandlungen von energetischen Positionen der eigenen Ichkonstitution. Hamanns Philosophie der Freundschaft, sein Wille zu einer rückhaltlosen Öffnung wird bei Jean Paul zu einer Inszenierung der Ichtopographie ohne Fremdbezug. Diese Situation birgt das Problem haltlos werdender Selbstreferentialität, es findet bei Jean Paul Ausdruck in Figuren wie Schoppe, Giannozzo oder auch Roquairol (um beim Werkkomplex des Titan zu bleiben). Die Frage ist, welche Funktion in diesem Zusammenhang epistemischer Unübersichtlichkeit das Auftreten Herders hat. Es lohnt sich, die Charakterisierungen, die Herder vor und nach seiner Nennung in der Kantate-Vorlesung zuteilwerden, noch einmal aufzurufen und durchzuarbeiten. »Er ist wie ein Brahmine mit dem hohen Spinozismus des Herzens« ( JP I/5, 450); in seiner schönen Seele floss alles, wie in einem Gedicht, zusammen (452); ihn zeichnete eine »griechische Achtung für alle Leben-Stufen« aus (ebd.); trotz seiner äußerlichen Duldung und Allseitigkeit richtete er innerlich viel schärfer über die Zeit, als es den Anschein hatte (vgl. ebd., 454); er nimmt nur das Wichtige, »die großen Ströme, aber aller Wissenschaften, in sein himmelspiegelndes Meer auf« (453); er spricht aus dem Wissen vom Ur-Letzten und Ur-Ersten (vgl. ebd., 444). Diese Bestimmungen zielen auf den platonischen Weisen ab, der die Fähigkeit zur ausgleichenden Schätzung der Dinge besitzt. Herders letztes Projekt war, wie schon betont, das Adrastea-Projekt (1801–1803): eine als Zeitschrift periodisch erscheinende Abhandlung zum 18. Jahrhundert, welches aus dem Rückblick der Jahrhundertwende kritisch bewertet wird. Dabei schreibt Herder die Rachegöttin Nemesis bzw. Adrastea in eine Göttin um, deren Aufgabe der Ausgleich und die Anerkennung ist. Die durchaus hybride Beobachterposition, die er sich dabei zuschreibt, ist die einer sub specie aeternitatis einordnenden Wertschätzung eines jeden geistigen Phänomens in seiner bestimmten Geltung, – nicht unähnlich der Phänomenbestimmungen, die Hegel wenig später in seiner Phänomenologie des Geistes (1807) durch das Wir 28 des Phänomenologen vornehmen lässt. Man kann daher eher vom Versuch einer Meta-Ethik sprechen: Herder unternimmt keine moralische oder ethische Bewertung des 18. Jahrhunderts, sondern seinem Selbstverständnis nach eine meta-ethische Anerkennung im Zeichen der Gerechtigkeit, der hermeneutischen Billigkeit (aequitas).29 Jean Paul übernimmt diese Selbstdeutung Herders, wendet sie auf dessen ganzes Werk an und zielt offenkundig genau auf diese hermeneutische Billigkeit ab: Es ist, als ob in Herder der Weltgeist selbst die Dinge ordnete, mit klarem Urteil, aber nicht verurteilend, immanent und zugleich göttlich (im Sinne Spinozas), alle Stufen in ihrer Art anerkennend, als Spiegel des Ganzen. Es wird eine Art von 28 Vgl. zur Analyse dieses ›Wir‹ Werner Marx: Hegels »Phänomenologie des Geistes« – Die Bestimmung ihrer Idee in Vorrede und Einleitung, Frankfurt a. M. 32006. 29 Zum Begriff der ›aequitas‹ vgl. Recht und Billigkeit, hg. von Matthias Armgardt und Hubertus Busche, Tübingen 2021.



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hermeneutischer Metaregel etabliert, als ob ein liebender Gott Billigkeit, aequitas hermeneutica walten ließe. – Wie gesagt, dieser Anspruch ist hybrid, er ignoriert alle erkenntniskritischen Limitationen. Aber Jean Pauls Kantate-Vorlesung mit ihrer offenkundig utopisch-eschatologischen Rahmenkonstruktion affirmiert diese Idee einer meta-ethischen Position gegenüber allen ethischen Positionen. Aber warum braucht Jean Paul diese Huldigung? Die Antwort auf die Frage kann nur lauten: Indem Herder die alles ausgleichenden Bestimmungen findet, sollte er die partialisierten Selbstreferenzen Jean Pauls befrieden können. Er müsste auch die wild werdende Semiose von Hamanns hybrider Typologese integrieren können, gerade weil er als genealogischer Denker sensualistischer Platoniker ist und also die unregulierten Clusterbildungen des fundus animae30 erinnern kann und durch Erinnerung schätzend anerkennt. Herders adrasteische Meta-Ethik wird also in Jean Pauls Vorschule als Antwort auf die epistemischen Diffusionen gesteigerter Selbstreferenz aufgeboten. Zwischen dem inszenierten ›Jean Paul‹ und seiner Romanfigur Albano gibt es offenkundig Reibungsflächen; es sind nach Lage der Dinge solche in seiner ›Autorhandlung‹. Aber die beiden (also Jean Paul im Gespräch mit sich selbst) kommen mit der Namennennung Herders in Freundschaft überein. Jean Pauls Herder also therapiert den inszenierten ›Jean Paul‹ in seinem Disput mit dem der Frühromantik fälschlich zugeneigten Albano. Mit seinem Herder wünscht sich Jean Paul eine seine ästhetische Epistemologie kurierende Maßstäblichkeit, die nicht mehr in die Immanenzen immer weiter laufender Rekursionen zurückfällt. Dies nennt er im Untertitel der Kantate-Vorlesung ›poetische Poesie‹, also eine Dichtung, die nicht mehr als Dichtung im herkömmlichen Sinne erscheint, sondern die Vollzugsform eines Denkens ist, das die Dinge an ihren gerechten Ort stellt. V. Conclusio

Wenn der Terminus der Autorhandlung an der Schnittstelle von epistemischer Komplexität und ethischer Praxis steht und bei Hamann und in der Sache ebenso bei Jean Paul antritt, um die innere Haltlosigkeit ästhetischer Selbstreferenzen stabilisierend auszugleichen, dann ist er ebenfalls zentral für den Übergang zur sogenannten Autonomieästhetik. Genauer wird man wohl davon sprechen müssen, Autorhandlung als (meta-)ethisches Verfahren im inneren Raum autonom gewordener Dichtkunst zu denken. Hamann entwirft in den Sokratischen Denkwürdigkeiten seine Autorschaft gegen die beiden Freunde Berens und Kant, indem er sich typologisch zu Sokrates (vermittelt über die Achse Christi) ins Verhältnis setzt. Dieser Akt ist 30 Zur Theorie des fundus animae vgl. Hans Adler: Fundus animae – der Grund der Seele – Zur Gnoseologie des Dunklen in der Aufklärung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), 197–220. Zur These, dass im 18. Jahrhundert der fundus animae zum Ort einer unreglementierten Sinnlichkeit wird, die durch ästhetische Form bewältigt werden soll, vgl. Ralf Simon: Petites perceptions und ästhetische Form, in: Leibniz in Philosophie und Literatur um 1800, hg. von Wenchao Li und Monika Meier, Hildesheim/Zürich/New York 2016, 203–229.

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so fromm wie frech, er vollzieht das göttliche Gnadengeschenk der Sprache, ist aber zugleich eine Hybris, die unter Luther’schen Prämissen Sünde genannt werden kann. Innerhalb einer solchen Typologese gibt es keine Stoppregel, jedenfalls nicht auf epistemischer Ebene. Deshalb kennen viele der Hamann’schen Texte das parekbatische Heraustreten, verbunden mit der apostrophierenden Wendung vom Text weg, hin zu den scharf kritisierten Freunden Herder oder Kant. Diese Stoppregel vollzieht eine ethische Praxis. Jean Paul übernimmt das Manöver, aber intri­ katerweise zwischen sich selbst als inszeniertem Partial-Jean-Paul und sich selbst als Idealcharakter seines Romans (Albano). So bleibt die Wendung doch immanent, die Parekbase befreit nicht, sondern verstrickt sich humoristisch. Auf das derart geschaffene, gegenüber Hamann größere Problem reagiert er mit einem HerderKonstrukt, welches eine hermeneutische Meta-Ethik instituiert. Auch dies ist eine Autorhandlung, sie platziert dort, wo immanent die Selbstverhältnisse weitergespielt werden müssten, eine Situation der Angesichtigkeit des Anderen.31 Im Werk von Jean Paul gibt es für eine derart affirmative Darstellung eines regulierenden Prinzips nur zwei Stellen, die Kantate-Vorlesung und die vier Nach-Kapitel zum Leben Fibels (1812), die Max Kommerell einmal als Mystik bezeichnet hat.32 Die beschriebene Situation ist modernitätstheoretisch von hoher Signifikanz. Gegenüber der dezisionistischen Initiative von Carl Schmitt zeigt sich, dass Autorhandlung eben nicht zu einem recht kurzschlüssigen und zudem putschistischen Politikverständnis führen muss. Autorhandlung, verstanden im Sinne von Merleau-Pontys chair und Levinas’ Dialogizität, kann vielmehr (meta-)ethisch im Sinne einer Ethik der konkreten Angesichtigkeit des Anderen verstanden werden. Das Politische ist eine falsche Abstraktion, Carl Schmitts Dezisionismusargument lässt die ethische Initiative der Apostrophe vermissen. Hamanns Ideologiekritik war politisch, aber seine parekbatische Gegenwendung adressierte Herder, den Freund oder für Kant die von der Faust zur flachen Hand gebotene Freundschaftsgeste. Die Funktion Autorschaft ist, wird sie einmal von Mimesis auf Selbstreferenz umgestellt, immanent nicht mehr zu bändigen. Ästhetisch mündet sie in wilde Semiosen. Statt diese dezisionistisch regulieren zu wollen, wussten Hamann und auf anderem Komplexitätsniveau Jean Paul, dass sie aus sich heraustreten müssen, um die Ansprache des konkreten Anderen zu finden. Ethische Praktiken wie die beschriebenen sind ein Implikat gerade der fortgeschrittenen Moderne.

31 Der Unter-Untertitel der Kantate-Vorlesung lautet: »(Personalien der Vorlesung)«. Mit dem Terminus der Person wird die ethikrelevante Dialogizität explizit als Thema des Textes markiert. 32 Vgl. Max Kommerell: Jean Paul, Frankfurt a. M. 51977, 292.

ER ZIEHUNG – BEZIEHUNG – ANZIEHUNG

Praktiken der Aufklärung in der Romandiskussion bei Thomasius Eine Literaturtheorie stellt sich in den Dienst der politischen Klugheit Daniel Fulda Dem Andenken von Manfred Beetz († 2021)

I. Einleitung

Die Theorie des Romans, die um 1700 dieser Gattung am meisten zutraute, stammt weder von einem Poetiker noch von einem Romanautor – also weder von einem fachlich zuständigen Theoretiker noch von einem Praktiker der Literatur –, sondern von einem Juristen, der neben seinem universitären Lehramt sowie politisch brisanter Gutachtertätigkeit nun auch als Journalist hervortrat. Christian Thomasius, der wenig später noch dazu die Gründung einer neuen Universität betrieb, die maßgeblich beitrug zur Formierung der deutschen Frühauf klärung, eröffnete 1688 gleich das erste Heft seiner Zeitschrift Schertz- und Ernsthaffte / Vernünfftige und Einfältige Gedancken / über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen mit einer Diskussion über Romane.1 Den großen »Nutzen« 2 begründete er mit einem seinerzeit »neuen Argument« der Romanlektüre:3 »denen Lesenden« geben gut ge1 Wilhelm Voßkamp sieht bei Thomasius die damals »weitreichendsten Aspekte für die zukünftige Entwicklung der Romantheorie und die vollständigste Klassifizierung aller Romanformen« (Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland – Von Martin Opitz bis Friedrich von Blanckenburg, Stuttgart 1973, 103). Auf weitaus schmalerer Grundlage urteilt Bruno Hillebrand dagegen, Thomasius bringe »nichts wesentlich Neues zum Roman« (Bruno Hillebrand: Theorie des Romans – Erzählstrategien der Neuzeit, Stuttgart/Weimar 31993, 77), verglichen mit Christian Weise. Hillebrand erkennt lediglich Thomasius’ Lob der faktualitätsüberschreitenden Kreativität des Romanautors als »vorausweisend« an (ebd.). Voßkamp (Romantheorie in Deutschland, [Anm. 1], 103–120 u. 234–237) bietet die ausführlichste und poetologisch eindringlichste Darstellung von Thomasius’ Romantheorie. Breiten Raum nimmt dabei Thomasius’ Klassifikation verschiedener Romantypen ein. Auf das Verhaltensleitbild des Politicus, das, wie im vorliegenden Aufsatz gezeigt werden soll, Thomasius’ Romantheorie disponiert, geht Voßkamp nicht ein. 2 Christian Thomasius: Schertz- und Ernsthaffte / Vernünfftige und Einfältige Gedancken / über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen Erster Monath oder Januarius, in: Romantheorie 1620–1880 – Dokumentation ihrer Geschichte in Deutschland, hg. von Eberhard Lämmert et al., Frankfurt a. M. 21988, 39–46, hier 42, Anm. 8. 3 Christian Thomasius: Ausgewählte Werke V/1, hg. und mit einem Vorwort versehen von Herbert Jaumann, Hildesheim/Zürich/New York 2015 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle AW mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern], 49.

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machte Romane »Gelegenheit[,] die Kunst derer Leute Gemüther zu erforschen, […] gleichsam spielende und in Müßiggang zu lernen«. So der Diskussionsteilnehmer, der vorzüglich die Ansichten des Autors vorzutragen hat. Die Kunst der Gemüter-Erkenntnis aber ist »[s]eines erachtens vor den Grund der wahren Politic zu halten« (AW V/1, 50). ›Politic‹ und das dazugehörige Adjektiv beziehen sich hier nicht allein, wie heute, auf Staatsangelegenheiten, sondern bezeichnen die taktisch geschickte Selbstbehauptung in jeder Art von Konkurrenzsituation. Demnach sollte die Kunst der Gemüter-Erkenntnis nichts Geringeres als die Lebensfähigkeit des Einzelnen in der Gesellschaft und zugleich Koexistenz und Kooperation der Menschen sichern. Schulen lasse sie sich, wenn der Leser ein Interesse an den Figuren eines Romans nimmt, das über die emotionale Anteilnahme hinaus den Konnex zwischen Charakter, Affekten und Aktionen zu begreifen versucht. Wer an Romanfiguren beobachtet hat, wie sich ein Charakter in bestimmten Situationen durch eine spezifische Affektkombination auszeichnet, wie unterschiedliche Charaktere auf diese oder jene Situation je spezifisch reagieren und welche Handlungen daraus folgen, könne das Wissen davon in seiner Lebenspraxis nutzen, um andere Menschen und wechselnde Interaktionssituationen besser einschätzen zu können. Es ist demnach ein Ethos-Angebot, das Thomasius seinen Lesern macht, indem er die Romanlektüre loben lässt. Um analytische und praktische Kompetenzen im gesellschaftlichen Umgang zu stärken, preist er die unkanonische Gattung des Romans und begibt sich somit auf das für ihn fachfremde Feld der Literaturtheorie. Seine Romantheorie impliziert bestimmte anthropologische und gesellschaftstheoretische Prämissen sowie eine darauf abgestimmte Verhaltenslehre und leitet davon die Hochschätzung der um 1700 noch hochumstrittenen Gattung ab. Sein entscheidendes literatur­ theo­retisches Argument bezieht sich auf eine Fähigkeit, die der Leser nicht allein bei der Lektüre von Romanen oder anderen literarisch-fiktionalen Texten brauche und zugleich schulen könne; vielmehr sei diese Fähigkeit in der praktischen Lebensführung ubiquitär relevant. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, geht die Ausrichtung auf die Lebenspraxis gleichwohl mit einer – vorderhand gegenläufigen – Betonung des Kunstcharakters romanhaft erzählter Geschichten und ihrer Unabhängigkeit sowohl von Faktualitäts- als auch von Moralitätskriterien einher. Zu fragen ist, in welchem Verhältnis diese beiden Orientierungen – die exo- und die esoterische, die lebenspraktische und die binnenfiktionale – zueinander stehen: ob sie sich Konkurrenz machen oder ob sie zusammenwirken und gegebenenfalls, wie sie dies tun (II.). Ein nächster Abschnitt (III.) nimmt die Praktiken, die gesellschaftlichen Interaktionsweisen, näher in den Blick, an der bzw. denen teilzuhaben die Leser der von Thomasius empfohlenen Romantypen befähigt werden sollen. Welche Strukturen prägen die Gesellschaft, in der vorzüglich ›politische‹ Verhaltenskompetenzen gefordert sind? Und wie stehen dieses Gesellschaftsbild sowie die daran orientierte Romantheorie zur Auf klärung, als deren Initiator in Deutschland Thomasius gilt? Wie im letzten Abschnitt (IV.) gezeigt werden soll, ist der Praxisbezug, der Thomasius’ Roman-



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theorie auszeichnet, charakteristisch für die Anfänge der Auf klärung in Deutschland. Bemerkenswert ist dabei nicht zuletzt, was Thomasius dem apragmatischen Sprachgebrauch bzw. der bild- und modellhaften Sprache zutraut: sowohl die Einübung in gesellschaftliches Verhalten – nämlich durch Romanlektüre – als auch die Anregung zu einem ›auf klärerischen‹ Habitus durch eine bestimmte Metaphorik oder manifeste Bildlichkeit. Warum hat Thomasius’ Romantheorie mehr Substanz als andere in diesem Zeitraum? Gleich vorweg sei eine doppelte These gewagt: zum einen, weil er gerade kein Poetiker war und weil er mit den Augen eines Lesers und nicht des Autors auf die Gattung schaute. Und zwar eines Lesers, der sich für die ›Welt‹ und die öffentlichen Dinge interessiert und über die Grenzen seines Fachs hinausschaut. Zum anderen ist es Thomasius’ Rolle als Vorkämpfer der Auf klärung, die sein Interesse für Romane prägte. Diese Rolle disponierte ihn, dem Roman nicht nur eine gesellschaftliche Praktiken einübende Funktionalität, sondern ein reflexives Durchschauen gesellschaftlicher Strukturen und Muster zuzutrauen. II. Der Roman zwischen der Orientierung auf Praxis und künstlerischer Distanznahme

Aus Sicht der frühneuzeitlichen Poetiker ist der literarische Status des Romans prekär, da es sich nicht um Dichtung – die sich durch Versrede auszeichnet –, sondern um eine Prosaerzählung handelt. Legitimationsbedarf hat der Roman im Vergleich sowohl mit dem Epos – der neben der Tragödie höchstrangigen Gattung – als auch mit faktualen, historischen Erzählungen, die nicht zur Dichtung rechnen. Ein nach beiden Seiten hin einsetzbares Argument für den Roman ist die Kunstleistung, die in der Erfindung und Disposition der erzählten Handlung stecke. Im Vergleich mit dem Epos lässt sich dadurch das traditionelle Dichtungskriterium der Verssprache zurückdrängen.4 Gegenüber faktualen Erzählungen ist die Betonung des künstlichen Gemachtseins geeignet, den Vorwurf täuschender Realitätsreferenzbehauptungen oder gar des »Lügen[s]« zurückzuweisen.5 Gerade Thomasius geht in diesem Punkt in die Offensive – und setzt damit einen ersten eigenen und neuen Akzent. Während Eberhard Werner Happels Übersetzung der im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts einflussreichen Romangeschichte und -theorie des späteren Bischofs Pierre Daniel Huet noch einräumt, Romane seien zwar »in gewissen Theilen wahr«, jedoch »im gantzen oder in Genere falsch«,6 4 Vgl. Pierre Daniel Huet: Traité de l’Origine des Romans – Faksimiledrucke nach der Erstausgabe von 1670 und der Happelschen Übersetzung von 1682, mit einem Nachwort von Hans Hinterhäuser, Stuttgart 1966, 104. 5 So der reformierte Theologe und Romankritiker Gotthart Heidegger: Mythoscopia romantica – Oder Discours Von den so benannten Romas, in: Romantheorie 1620–1880 [Anm. 2], 52– 56, hier 55. 6 Huet: Traité de l’Origine des Romans [Anm. 4], 106.

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stellt Thomasius die fürs Romaneschreiben erforderliche »Kunst etwas zu erfinden« als produktionsästhetische Stärke dar, die auch rezeptionsästhetisch wertvoll sei: [E]s muß auch ein Mensche der solche erdichtete Historien lieset, in welchen viel Kunst angewendet worden, auch dieselbe Kunst nach und nach, und fast unvermercket begreiffen, und folgends, weil wie erwehnet, in den Romanen mehr Kunst steckt, als in denen wahrhafftigen Historien, mehr Nutzen aus Lesung dergleichen Liebes-Geschichte, als aus andern, davon tragen. (AW V/1, 44 f.)

Demnach soll der Leser die Konstruktionsleistung, welche Romanhandlungen und die daran beteiligten Figuren plausibel macht, durchaus als solche durchschauen. Der Romanautor hat der von ihm erzählten Geschichte zwar Wahrscheinlichkeit zu verleihen – damit der Roman vor Aristoteles’ Poetik legitimiert ist –, doch ist deren Ziel nicht die »möglichst vollkommene Illusionierung des Lesers«,7 sondern dessen Bef ähigung, literarisches Gemachtsein zu erkennen und es zu genießen, wenn der Roman gut – und das heißt: einerseits lebensnah, andererseits erfindungsreich – gemacht ist. So erklärt der Hauptfürsprecher der Romane, dem Thomasius seine Argumente in den Mund legt, gleich im Eröffnungsheft der Monatsgespräche (1688–1690): »[I]ch finde mein Vergnügen in denen artigen inventionen / die von denen Authoren in dergleichen Geschichten mit guter Manier eingemischet seyn / wenn solche etwas sonderbahres und ungemeines mit sich führen / und doch zugleich einige Wahrscheinlichkeit bey sich haben« (AW V/1, 25). So viel Lob des Analytischen – im Erzählen wie beim Lesen – und damit des Durchschauens ist in der Romantheorie des ausgehenden 17. Jahrhunderts keineswegs Standard, sondern zeichnet speziell Thomasius’ Argumentation aus. Üblicherweise steht ein anderes Argument im Vordergrund: Romane seien geeignet, bei vergnüglicher Lektüre zugleich zu belehren, und zwar sowohl durch die materiale Inkorporierung von Wissensbeständen aller Art als auch durch die Bekräftigung von Moralprinzipien, sei es durch die erzählerseitige Kommentierung des Verhaltens von Romanfiguren, sei es durch dessen implizite Bewertung durch die sogenannte ›poetische Gerechtigkeit‹. So schreibt Happel nach Huet 8: »Den vornehmsten Zweck der Romanen / oder welches zum wenigsten derselbe sein solte / und welches ihnen die Lesere allemahl vorstellen mussen / ist die Unterrichtung in einigen Dingen oder Wissenschafften / da man dan allemahl die Tugent rühmen und das Laster straffen muß.« In der Substanz übereinstimmend dekretiert Albrecht Christian Rotth in seiner Poetik, die im selben Jahr wie Thomasius’ Zeitschrift herauskam9: »Der Endzweck solcher Romaine ist / daß man dem Leser mit der Lust zugleich allerhand nützliche Sachen beybringe. Daher kann man / zum Exempel / aus des klugen Barclai Argenide ersehen / was bey Hofe passiret; Aus der Englischen Arcaaber Voßkamp: Romantheorie in Deutschland [Anm. 1], 111. Traité de l’Origine des Romans [Anm. 4], 104. 9 Albrecht Christian Rotth: Vollständige Deutsche Poesie […], in: Romantheorie 1620–1880 [Anm. 2], 34–37, hier 35; »zu dem Ende / daß er durch Anlaß dieser anmuthigen Geschichte etwas nütz­ liches lehre und liebe zur Tugend erwecke« (ebd.). 7 So

8 Huet:



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dia, worinne die wahre Tugend bestehe«. Ähnlich, wenn auch knapper heißt es bei Christian Weise in der Lese- und Schreibanleitung, die er seinen eigenen Romanen hinterherschickte10: »der Leser sol etliche kluge und wolanständige Lebens-Regeln daraus zu mercken haben«. Roman-Welt und Lebenswelt werden in solcher Argumentation für den ›Nutzen‹ der Romane umstandslos kurzgeschlossen. Dass Dichtung moralische Lehren enthalte, war eine weitverbreitete Auslegung des horazischen Verses »aut prodesse volunt aut delectare poetae«.11 Spezifisch für den spätbarocken Roman ist die erklärte Erweiterung des Lernpensums um Bildungs- und Weltwissen: Wissen von fernen Ländern und vergangenen Zeiten, vom Staat und Hof, von Berufen und Ständen, von den Geschlechtern und Lebensaltern usw. Was schließlich charakteristisch für die Zeit um 1700 und die damaligen Erwartungen an den lebenspraktischen Nutzen von Romanen ist: Eine zentrale Rolle spielt dabei das Wissen des sogenannten Politicus, der sich in der Welt zu behaupten weiß, weil er die Menschen und die Mechanismen des gesellschaftlichen Konkurrenzkampfs kennt.12 Gerade auch Thomasius argumentiert so. Sein vornehmliches Sprachrohr, der vielseitig interessierte Kaufmann Christoph, ist sich sicher, »es muß bey vielfältiger Lesung der gleichen Bücher [Staatsromane oder kurze französische Liebesromane: D. F.] etwas kleben bleiben, so man zu seiner Zeit im gemeinen Leben und Wandel wieder anbringen, und sich öffters zu Nutze machen könne« (AW V/1, 43). Sei es, weil »kurtze und geschickte Lebens-Regeln, oder Politische Anmerckungen« eingestreut oder ausführlichere »Politische, Moralische, ja auch sonsten Philosophische und Theologische Discurse gar vielfältig mit eingebracht« werden oder weil sich anhand der Plotkonstruktion – angeführt werden die »Verwirrung unzehlich vieler Umstände und Geschichten« sowie die »zu Ende erfolgete noch künstlichere Auflösung« – »der Welt Lauff als in einem Spiegel ohne Verdruß erlerne[n]« lässt (ebd., 45 f.). In seiner ausführlichen Besprechung von Daniel Caspars von Lohenstein Arminius (1689/1690) geht Thomasius sogar so weit, wenngleich wohl in rhetorischem Überschwang, die Lektüre eines Staatsromans über das Studium der ethischen und politischen Schriften des Aristo­ teles zu stellen, weil ein Leser »daraus tausendmahl mehr Nutzen haben sollte / als wenn er alle libros ad Nicomachum nebst denen magnis moralibus und libris Politicorum außwendig könnte«.13 10 Christian Weise: Kurtzer Bericht vom Politischen Näscher – wie nehmlich Dergleichen Bücher sollen gelesen / und Von andern aus gewissen Kunst-Regeln nachgemachet werden, in: ders.: Sämtliche Werke XIX, bearb. von Hans-Gert Roloff und Gerd-Hermann Susen, Berlin/New York 2004, 335 [Hervorh. im Original]. 11 Horaz: De arte poetica, V. 333. 12 Als prägnante Zusammenfassung dazu vgl. Dietmar Till: [Art.] Politicus, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik VI, hg. von Gert Ueding, Darmstadt 2003, 1423–1445; zu Thomasius 1438–1440; sowie Christian Thomasius: Cautelen zur Erlernung der Rechtsgelehrtheit, in: AW XX, 409–413. 13 Christian Thomasius: Rez. von Daniel Casper von Lohenstein: Großmüthiger Feld-Herr Arminius […], in: AW VI/2, 646–686, hier 659. Zu dieser Rezension vgl. Dirk Niefanger: Über »Speisen« und »Artzeneyen« – Ansätze einer kulinarischen Literaturtheorie in der Lohenstein-Kritik von Chris-

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Der so postulierte lebenspraktische Nutzen der Romanlektüre besteht zum einen darin, dass anschaulich erzählte Geschichten lehrreicher als abstrakte Regeln seien (»Nichts imprimiret sich besser / als was einem vor Augen geleget wird«14). Zum anderen böten Romane die elaboriertere ›politische‹ Psychologie verglichen mit der Philosophie15: »Absonderlich was die Lehre von affecten betrifft / die / wie ich schon öffters geklaget / zwar die nöthigste ist / aber nirgends gebührend tractiret wird.« Bündig auf das Selbstbehauptungswissen der politischen Klugheit gemünzt, heißt es noch in Thomasius’ Hodegetik für seine Studenten von 1713, welche die »Summe seiner Philosophie«16 enthält17: »Es bestehet aber der Nutzen / den ein Liebhaber der Weißheit aus Lesung der Romanen hat / darinnen / daß er die unterschiedene Neigungen und Arten der Menschlichen Natur daraus erkennen lernet / seinen Verstand schärffet / und zu der Klugheit sich behutsam auffzuführen / Anleitung bekommt.« Was speziell Erzählungen vom »Hoff-Leben« angehe, so könne man daraus nicht allein für diese soziale Sphäre lernen, sondern einen allgemeineren »unterricht« ziehen, »wie man vor Betrug und Hinterlist sich in acht nehmen solle« (AW XX, 160 f.). Dass man aus der Romanlektüre fürs Leben lernen kann, ist die Überzeugung bzw. das Argument aller, die sich um 1700 für diese unkanonische Gattung aussprechen.18 Welcher Art solches Lernen ist, wird hingegen unterschiedlich beschrieben. Zu unterscheiden ist zunächst zwischen (a.) einem materialen Lernen und (b.) ­einem Lernen als Erwerb oder genauer Selbstausbildung von Kompetenzen.

tian Thomasius, in: Thomasius im literarischen Feld – Neue Beiträge zur Erforschung seines Werkes im historischen Kontext, hg. von Manfred Beetz und Herbert Jaumann, Tübingen 2003, 117–130. Ähnlich die Polemik bei Thomasius: »junge Leute die noch nicht in der Welt gewesen seyn / darinnen [durch Romane: D. F.] ohne ihren mercklichen Schaden ein klein wenig die Welt kennen lernen können / welche / obwohl wenige Wissenschafft ich mit Erlaubniß der Herren Metaphysicorum viel höher achte / als alle ihre distinctiones« (Christian Thomasius: Freymüthige Jedoch Vernunfft- und Gesetzmäßige Gedancken Über allerhand / fürnehmlich aber Neue Bücher –­ Januar–Juni 1689, in: AW VI/1, 3–34, hier 100). In seiner Ethik verweist Thomasius tatsächlich auf französische Romane als Quelle für die Affektphänomenologie (vgl. Christian Thomasius: Ausübung der Sittenlehre, in: AW XI, 240). 14 Thomasius: Rez. von Daniel Casper von Lohenstein [Anm. 13], 659. 15 Ebd. 16 Merio Scattola und Friedrich Vollhardt: ›Historia litteraria‹, Geschichte und Kritik – Das Projekt der ›Cautelen‹ im literarischen Feld, in: Thomasius im literarischen Feld [Anm. 13], 159–186, hier 162. Wie Scattola und Vollhardt betonen, richten sich die Cautelen trotz ihrem enger gefassten Titel an Studenten aller Fakultäten. 17 Ebd. 18 Bei Thomasius, der auch dadurch zwischen den Romantheoretikern seiner Zeit hervorragt, dass er eine vergleichsweise feingliedrige Unterteilung in verschiedene Romantypen vornimmt, gilt dies wohlgemerkt allerdings nicht für alle Typen gleichermaßen. Schäfer- und vor allem Ritterromane wertet er ab, weil sie wegen meist krasser Unwahrscheinlichkeit wenig zum Lernen fürs Leben bieten (vgl. Thomasius: Rez. von Daniel Casper von Lohenstein [Anm. 13], 654 f.).



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a. Materiales Lernen nimmt im Romantext propositional dargebotenes Wissen auf und an. Dazu gehören das Beherzigen ausformulierter moralischer oder anderweitiger Verhaltensregeln sowie die Gewinnung von Kenntnissen über Orte, historische Personen, gesellschaftliche Strukturen, Lehrgebäude und Debatten, von denen in einem Roman die Rede ist. Auch das für den Politicus, den Meister der politischen Klugheit, zentrale Wissen über verschiedene Charaktertypen, ihre Neigungen und Affekte fällt in den Bereich des materialen Wissens, wenn es im Romantext expliziert wird. b. Thomasius allerdings setzt vor allem darauf, dass Romanleser einschließlich der Leserinnen sich selbständig und selbsttätig um ein affektpsychologisches Verstehen – oder sagen wir besser: Durchschauen – der Figuren bemühen, herausgefordert durch die kunstvolle Konstruktion der jeweiligen Geschichte. Deswegen lobt er ausdrücklich auch die französischen Kurzromane mit Liebeshandlung (›nouvelles‹ oder ›nouvelles galantes‹), die ohne gelehrt beschriebenes historisches Setting auskommen und auf Exkurse oder ausgedehnte Gespräche über dieses oder jenes Wissenswerte verzichten (vgl. AW V/1, 43).19 Was ein Leser solcher Romane lernt, bekommt er beim psychologischen Verstehen der Figuren und ihrer Interaktionen nicht direkt, propositional, lehrhaft dargeboten. Vielmehr gibt der jeweilige Roman ihm lediglich Anstöße zum Selberlernen, indem er ihm Material bietet, an dem man seine Analyse-, Beurteilungs- und Durchschauensfähigkeiten üben kann.20 Auch hinsichtlich der in Romanen diskutierten Sachfragen lobt es Thomasius, wenn textintern keine Entscheidung fällt, sondern dem Leser die »Freiheit zum eigenen Überlegen« gelassen wird.21 Denn er setzt auf das iudicium und dessen Schärfung, nicht auf Befüllung der memoria. Ebenso verhält es sich mit dem Durchschauen der dichterischen Konstruktionsleistung des Autors, das sich Thomasius erhofft (wie vorhin dargelegt; dementsprechend findet der diskutierende Kaufmann Christoph darin sein eigentliches Vergnügen bei der Romanlektüre).22 Eine formund konstruktionsbewusste Rezeptionshaltung kann und sollte der Leser im Vollzug seiner Lektüre sowie in der Reflexion darauf ausbilden und einüben; sie wird ihm im Roman aber nicht vorexerziert. In den Cautelen (1713) ergänzt Thomasius im selben Sinne, bei Dialogen mehrerer Diskutanten sei es dem Leser aufgegeben, »durch fleißiges Nachdencken die Person herauszusuchen / unter welcher der Autor sich hat verbergen wollen« (AW XX, 157). Einen Anwendungsfall für diese Rezeptionsregel stellt bereits die Romandiskussion in den Monatsgesprächen dar.23 Auch Ausführlich dazu Voßkamp: Romantheorie in Deutschland [Anm. 1], 112–116. Das gilt auch für die Beurteilung der in den Romangesprächen geäußerten Argumente im Bereich des material interessanten Wissens (vgl. ebd., 117). 21 Ebd. 22 Vgl. Thomasius: »[I]ch suche bloß meine Belustigung in des Autoris Klugheit / die er in verfertigung des Wercks hat spüren lassen« (AW V/1, 26) – nämlich statt moralisch zu werten. 23 Vgl. Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland – Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung, Tübingen 1983, 420. 19 20

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Thomasius’ Romantheorie – und nicht nur ein dieser entsprechender Romantext – ermöglicht mithin ein Lernen als Durchschauenskompetenzübung, denn die Theorie wird im fiktionalen Setting einer Diskussion unter einer Postkutschenbesatzung aus vier unterschiedlichen Berufen vorgetragen.24 Dass es den Lesern aufgegeben ist, sich ein eigenes Urteil zu bilden, macht nicht zuletzt der abrupte Schluss des Dialogs deutlich: Die Kutsche hat einen Unfall und die vier Diskutanten landen im Schnee, so dass die vorgetragenen Argumente ohne Resümee bleiben. Halten wir also fest: Obwohl Thomasius’ Akzent auf der künstlerischen Kon­ struktionsleitung des Romanautors vorderhand in Richtung literarischer Autonomie geht, steht diese Kunstleistung ebenso im Dienst eines auf die Lebenspraxis ausgerichteten Lernens. Denn das Durchschauen der künstlerischen Komposition eines Romans stellt sich im Kontext der politischen Klugheit als eine Variante der überall in der Gesellschaft nötigen Durchschauenskompetenz dar. Der Mehrwert der ästhetischen Form soll kunstverständig genossen und alltagspraktisch genutzt werden. Die von Thomasius geforderte ästhetisch-formale Reflexivität in der Romanlektüre stärkt nicht allein eine literaturspezifische Kompetenz, sondern sie trainiert zugleich lebenspraktisch erforderliche Kompetenzen. Den Roman konzipiert er demnach als ›Formpraktik‹.25 So sehr sich seine Romantheorie durch die Betonung der künstlerischen Konstruktionsleistung auszeichnet, die auch in der prosaischen, vordergründig der Historie nahen Gattung des Romans »steckt« (AW V/1, 44), und so sehr er dem Leser empfiehlt, sich diese Artifizialität bewusst zu machen, so wenig zielt dies auf eine kategoriale Trennung zwischen Roman- und Lebenswelt, zwischen Romanlektüre und dem Blick, der sich auf die Mitmenschen und die gesellschaftlichen Interaktionen empfiehlt. Um Charakteranalyse, Affektkalkulation, Durch- und Vorausschauen geht es vielmehr in der Literatur ebenso wie in der Lebenspraxis. Dass Thomasius dabei auf die Stärkung des eigenen Nachdenkens und der analytischen Abstandnahme zielt, bildet das Hervorstechende seiner Romantheorie im zeitgenössischen Kontext. Die funktionale Ausrichtung auf die Verhaltenskompetenz des Policitus findet sich dagegen auch bei anderen Romantheoretikern, vor Thomasius insbesondere bei Christian Weise, dem Direktor des Zittauer Gymnasiums und Verfasser von drei satirischen Romanen und noch viel mehr Schuldramen, danach bei Erdmann Neumeister, der in Leipzig Poetikvorlesungen gehalten hatte, im Hauptberuf hingegen Oberhofprediger in Sorau und später Hauptpastor in Hamburg war. Diese Autoren konzipieren die politische Klugheit jedoch enger und affirmativer, nämlich als Anpassung des eigenen Verhaltens an gegebene Situa24 Ausführlich zum Kommunikationsangebot der Monatsgespräche vgl. Manfred Beetz: Konversationskultur und Gesprächsregie in den Monatsgesprächen, in: Thomasius im literarischen Feld [Anm. 13], 35–60. Die für Thomasius’ Romantheorie ebenfalls wichtigen Besprechungen von Lohensteins Arminius in späteren Heften der Monatsgespräche sind allerdings nicht mehr in Dialogform gehalten. 25 Den Begriff der ›Formpraktik‹ übernehme ich von Stephan Kammer (vgl. seinen Beitrag in diesem Band).



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tionen und Verhältnisse, abstrahiert: als Einfügung in die Gesellschaft, wie sie ist.26 Zur Durchschauenskompetenz des Politicus gehört dort nicht auch die Einsicht, dass die Verhältnisse bloß kontingenterweise so sind und sich ändern ließen. Was sich nach Weise aus der Romanlektüre lernen lässt, nennt Hillebrand daher »eine Art Anbiederungspsychologie«.27 Beispielsweise schreibt Weise28: Drum ist auch so viel daran gelegen / daß ein Politicus sich umb die unterschiedenen Gemüther bekümmert / was zum Exempel / ein Fürst / ein Staatsmann / ein Gelehrter / ein Soldat / ein Kauffmann / ein Bauer vor bewegungen an Haß und Freundschafft bey sich fühlet; indem er also leicht etwas lustiges / nach eines jedweden Humor daher schwatzen / und alle Welt mit leichter Mühe zu Freunden behalten kan.

Soziale Anpassung favorisiert auch Neumeister. Bereits im neuen Jahrhundert rechnet er die Romane deshalb »unter die allernützlichsten Bücher«, weil »alle Prudentia Civilis dahinaus läufft / daß man sich in dem gemeinen Leben so auffführen soll / daß man von niemanden ausgelacht werde / das allerhöchste Stück aber derselbigen ist: Sich nach eines ieden humeur also zu accomodiren wissen / daß man sich bey allen angenehm / und niemanden zuwider macht«.29 Wenn das Lernziel darin besteht zu erkennen, woran man sich jeweils anzupassen hat, dann bedarf es aber auch keiner Erziehung zu einem systemreflexiven, potentiell kritischen Betrachten aller Dinge. Zwar beruft sich Neumeister ausdrücklich auf Thomasius und favo­risiert ebenfalls ein am Politicus-Ideal orientiertes Kompetenz-Lernen statt des materialen Lernens.30 Nicht übernommen hat er jedoch den Thomasius’schen Impetus, das Warum-so-Sein komplexer Verhältnisse zu durchschauen und sie der Kritik auszusetzen, sei es die Machart eines Romans, seien es die Durchsetzungsstrategien eines Religionsstifters, wie sie der 1689 in deutscher Übersetzung erschienene utopische Roman über das fiktive Südkontinent-Volk der Sevarambes offenlegt, den Thomasius in einer weiteren großen Monatsgespräch-Besprechung gegen den Atheismus-Vorwurf des Poetikers Daniel Georg Morhof verteidigt.31 Die Historie der Neu-gefundenen Völcker SEVARAMBES genannt (1689) berichtet von 26 Zu Weise vgl. Grimm: Literatur und Gelehrtentum [Anm. 23], 316 f., im Vergleich mit Thomasius vgl. ebd. 348. 27 Hillebrand: Theorie des Romans [Anm. 1], 74. 28 Weise: Kurtzer Bericht vom politischen Näscher [Anm. 10], 294. 29 Erdmann Neumeister: Raisonnement über die Romanen, in: Romantheorie 1620–1880 [Anm. 2], 62–68, hier 68. Zu Neumeisters Romantheorie vgl. Dirk Niefanger: Romane als Verhaltenslehren – Zur galanten Poetik von Christian Thomasius und Erdmann Neumeister, in: Die Kunst der Galanterie – Facetten eines Verhaltensmodells in der Literatur der Frühen Neuzeit, hg. von Ruth Florack und Rüdiger Singer, Berlin/Boston 2012, 341–353, hier 350–353. 30 Vgl. Neumeister: Raisonnement über die Romanen [Anm. 29], in: Romantheorie 1620–1880 [Anm. 2], 64 f. 31 Vgl. Denis Veiras [Vairasse]: Eine Historie der Neu-gefundenen Völcker SEVARAMBES ­genannt – 1689, hg. von Wolfgang Braungart und Jutta Golawski-Braungart, Tübingen 1990, 76–118, hier 111–118; mit Abdruck der Rez. aus AW VI/2, 949–1005, hier 995–1005.

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einem betrügerischen Religionsstifter, der unverkennbare Ähnlichkeit mit Moses hat, was Morhof moniert hatte, Thomasius hingegen für unbedenklich erklärt, mit wenig überzeugenden Argumenten.32 Als Rezensenten und Theoretiker war es ihm offensichtlich wichtiger, die analytische Reflexion gesellschaftlicher Autoritätskonstrukte, welche der Roman ermögliche und befördere, zu verteidigen als eben solche Autoritätskonstrukte, selbst wenn es sich um ein Element der eigenen Religion handelte. III. Politische Klugheit als Praxiskompetenz und Ferment der Romantheorie in der sich funktional ausdifferenzierenden Gesellschaft

Ziehen wir erste Ergebnisse zusammen: Dass eine Romantheorie vor allem daran interessiert ist, wie die behandelte Gattung ihre Leser in deren Lebensführung unterstützt, entspricht den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen der Vormoderne und genauer der damaligen funktionalen Unselbständigkeit der Literatur ebenso wie der anderen Künste. Ungewöhnlicherweise dachte Thomasius dabei jedoch weniger an normative Orientierung, gleich ob religiös oder moralisch, und auch nur in zweiter Linie an Wissensvermittlung, sondern an interaktionspraktische Kompetenzen. Ebenso bemerkenswert ist, dass die Interaktionskompetenz des Politicus nicht allein durch das lesende ›Miterleben‹ von Verhaltensroutinen erworben werden, sondern auf analytischer Abstandnahme basieren sollte. Reflexive Dis­t anz steigert, so Thomasius’ gleichsam dialektischer Gedanke, die Chancen auf ein erfolgreiches Eingreifen in die gesellschaftliche Praxis. Durch Abstandnahme konnte sich die Analyse der Affekte, Charaktere und gesellschaftlichen Positionen – zunächst von Romanfiguren und übertragen dann in der eigenen Lebenswelt – überdies zur Regel- und sogar Systemreflexion auswachsen. Über den Zweck, das jeweils konkrete Gegenüber zu durchschauen, reichte sie potentiell weit hinaus und erstreckte sich auf komplexe gesellschaftliche Funktionszusammenhänge. Oder wird der ›politischen‹ Analyse mit einer solchen Interpretation mehr zugetraut, als im Horizont der Zeit um 1700 von ihr erwartet wurde? Um ermessen zu können, welchen Rang, welche Reichweite und welche Funktionen das Kompetenzideal der politischen Klugheit bzw. das Akteursleitbild des Politicus in der Gesellschaft hatte, ist es nötig, ein bisschen weiter auszuholen. Ursprünglich waren die Kompetenzen des Politicus auf den in Machtkämpfe verstrickten Fürsten oder den in seiner Position stets bedrohten Höfling berechnet. Niccolò Machiavellis Il Principe (1532) und Baltasar Graciáns Oráculo manual (1647) sind die enorm einflussreichen Hauptschriften dieser Tradition.33 Um 1700 hingegen galt ›jedermann‹ als potentieller Nutznießer des ›politischen‹ Wissens über die Möglichkeiten, die Ab32 Vgl.

Veiras [Vairasse]: Eine Historie der Neu-gefundenen Völcker [Anm. 31], 111 f.; AW VI/2,

996. 33 Vgl.

Till: [Art.] Politicus [Anm. 12], 1425–1427.



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sichten der Mitmenschen zu durchschauen, deren Affekte zu kalkulieren, Konkurrenzsituationen zu überblicken und die Zukunft zu antizipieren, auch wenn nicht tatsächlich alle Bevölkerungsschichten angesprochen waren, sondern nur diejenigen, die über eine gewisse Selbstbestimmung und Handlungsmächtigkeit verfügten. »Der ungemeine Nutzen« der politischen Klugheit soll Thomasius zufolge seinen Studenten, akademischen Staatsdienern und Hofleuten ebenso zugute kommen wie denjenigen, die »vom Degen / von der Kauffmannschafft / Haußwirthschafft u. d. g. Profession machen«, ebenso den »Medicos«, die eine »Kranckheit recht zu erkennen und zu beurtheilen« haben und »künfftigen Kranckheiten vorbauen wollen«, »ja auch dem Frauenzimmer / als welches doch die meisten Maximes mit denen Männern gemein hat / oder haben soll«.34 Sozialgeschichtlich basierten die Hochkonjunktur der Prudentia politica um 1700 und ihre soziale Ausweitung zur Jedermannsklugheit wesentlich auf dem erhöhten Bedarf an fürstlichen oder ständischen Beamten und Räten, den der Ausbau und die Verrechtlichung der Verwaltung in der langen Wiederauf bauphase nach dem Dreißigjährigen Krieg mit sich brachten.35 Ebenso ist die parallele Belebung der Wirtschaft als Faktor zu rechnen, der weit zahlreicheren Menschen als zuvor politische Interaktionskompetenzen nahelegte. Unter den bürgerlichen Berufen wurde zumal Kaufleuten ein überdurchschnittliches Maß an politischer Klugheit zugeschrieben, weil sie sich auf ihre Kunden und wechselnde Marktlagen einzustellen hatten und als welterfahren galten (vgl. AW XVI, 211). So erklärt sich, dass es in der Romandiskussion der Monatsgespräche ein »Handels-Herr« ist (AW V/1, 2), der den Roman zur Einübung ›politischer‹ Kompetenzen empfiehlt. Für ihn ist das Vergnügen am Wissen-wie weit wichtiger als Fragen der moralischen Bewertung, gleich ob es um das Verhalten in der Gesellschaft oder die künstlerische Leistung des Autors geht. Vollends zeichnet sich die historische Signifikanz der ›jedermann‹ empfohlenen politischen Klugheit allerdings erst ab, wenn man das veränderte Bild von der Gesellschaft in den Blick nimmt, das die, wie Thomasius und andere behaupten, ubiquitäre Funktionalität der politischen Klugheit implizierte. Nicolaus Hieronymus Gundling sah »iede Privat-Person« vor die Anforderung gestellt sei, »nach allen Respectibus ein Genügen [zu] leisten«.36 Man darf dies so verstehen, dass politisches Wissen dazu befähigen sollte, mit komplexen und uneinheitlichen Anforderungen zurechtzukommen. Und zwar nicht nur in konkreten Situationen mit mehreThomasius: Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit, in: AW XVI, 3r, 55 und 70. Ähnlich Nicolaus Hieronymus Gundling: Ausführlicher und mit Illustren Exempeln aus der Historie und Staaten Notiz erläuterter Discovrs über […] Io. Franc. Bvddei […] Philosophiæ Practicæ Part. III – Die Politic [...], Frankfurt a. M./Leipzig 1733, 5. 35 Vgl. Christof Dipper: Deutsche Geschichte 1648–1789, Frankfurt a. M. 1991, 210–213. 36 Nicolaus Hieronymus Gundling: Einleitung zur wahren Staatsklugheit – Aus desselben mündlichen Vortrag aufgezeichnet, itzo aber aus zuverläßigen Handschriften zusammen getragen, Frankfurt a. M./Leipzig 1751, 4 u. 3. Es handelt sich bei diesem Werk um eine postume Edition von Vorlesungsmitschriften; Gundling starb 1729. 34 Christian

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ren Konkurrenten, deren Absichten kaum zu durchschauen sind. Als intransparent scheint nun vielmehr die Gesellschaft als solche wahrgenommen worden zu sein, eben weil so viele und unterschiedliche Rücksichten (lat. respectus) zu nehmen seien. Man darf darin den Beginn jener epochalen Umstellung im Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft sehen, die Niklas Luhmann als Umstellung von der Inklusion zur Exklusion beschreibt, konkret etwa von der festen Zugehörigkeit zu einem Stand oder einer Konfession zur Freisetzung des selbstbestimmten Individuums.37 In der Wahrnehmung des Individuums schlug sich diese Umstellung als Gezwungensein zu immer wieder anderen kommunikativen Anschlüssen nieder. Um 1700 politisches Wissen zu kultivieren wäre also als Versuch zu verstehen, die Durchschauenskompetenz des Subjekts weniger gegenüber konkreten Intrigen als angesichts einer sich pluralisierenden, sich in Funktionssysteme ausdifferenzierenden und dadurch unübersichtlicher werdenden Gesellschaft zu stärken.38 Das wäre nach wie vor ein elementarer Praxisbezug, zusätzlich aber ein von konkreten Praxisfällen wie List, Täuschung und Intrige abstrahierender. Kam der Einübung politischer Kompetenz eine so grundlegende Bedeutung für die Praxisfähigkeit in der sich strukturell verändernden (sich ›modernisierenden‹) Gesellschaft zu, so wäre Thomasius dem kaum gerecht geworden, hätte er sich allein in einem romantheoretischen Dialog, einigen Romanbesprechungen sowie ein paar poetologischen Bemerkungen in seinen Cautelen damit beschäftigt. In der Tat dauerte es nach den Monatsgesprächen nicht lange, bis er dem Kurfürsten von Brandenburg, seinem nach seiner Flucht aus Leipzig neuen Dienstherrn, das Programm einer ganzen Wissenschafft unterbreitete, die Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen / aus der täglichen Conversation zuerkennen ermöglichen sollte.39 Was er als Leistung eines guten Romanautors für den Leser gelobt hatte, stellt er hier als auf gelehrter Grundlage zu lösende Aufgabe dar. Den Bedarf an einer solchen Wissenschaft der Gemüter-Erkenntnis aus der Konversation beschreibt er als elementar für den Einzelnen wie für die Gesellschaft – was indirekt auch noch einmal die Relevanz guter Romane unterstreicht40: »so nützlich und nothwendig ist dieselbe auch dem menschlichen Geschlechte / so gar daß ein Mensche ohne dieselbige ohnmöglich in der Welt fortkommen kan. Und würde ich gewißlich ein grosses Buch vollfüllen können / wenn ich deren unschätzbaren Nutzen nach allen Ständen ausführlich beschreiben wolte.« Tatsächlich dominierten 37 Vgl. Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik – Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft III, Frankfurt a. M. 1989, 149–258. 38 Vgl. Dirk Baecker: Themen und Konzepte einer Klugheitslehre, in: Klugheitslehre – militia contra malicia, mit Beiträgen von Dirk Baecker, Berlin 1995, 54–74 (mit Bezug auf Gracián); Ingo Stöckmann: Vor der Literatur – Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas, Tübingen 2001, 157 f. 39 Vgl. Christian Thomasius: […] Neue Erfindung einer wohlgegründeten und für das gemeine Wesen höchstnöthigen Wissenschafft / Das Verborgene des Hertzens anderer Menschen auch wider ihren Willen / aus der täglichen Conversation zuerkennen, Halle [1691]. 40 Ebd., 4 r [Hervorh. im Original].



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das Politicus-Ideal und seine auf das Durchschauen des Gegenübers zielenden Analysekompetenzen in den folgenden Jahrzehnten die gesellschaftlichen Verhaltensregeln, wie zahlreiche Lehrbücher von Thomasius’ Kurtzem Entwurff der Politischen Klugheit (1707 und weitere Aufl., lat. schon 1705) über Christoph August Heumanns Politischen Philosophus, das ist / Vernunftmäßige Anweisung Zur Klugheit Im gemeinen Leben (drei Auflagen von 1714 bis 1724) bis zu Julius Bernhard von Rohrs Unterricht Von der Kunst der Menschen Gemüther zu erforschen (vier Auflagen von 1714 bis 1732) belegen.41 Erst nach dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts wurde politisches Verhaltenswissen allmählich ins Subkutane verdrängt, als die moraldidaktisch orien­ tierte, von Gottsched repräsentierte sowie etwas später die empfindsame Auf klärung nach Aufrichtigkeit (statt Misstrauen und Verstellung) und Geselligkeit (statt Konkurrenz) verlangten.42 Jedoch erhielt sich der Grundgedanke interaktioneller Vorsicht mit der Konsequenz steter Beachtung und Beobachtung des jeweiligen Gegenübers. In Adolph von Knigges Verhaltenslehre Über den Umgang mit Menschen von 1788 fand er am Ende des Jahrhunderts noch einmal elaboriertesten Ausdruck. Auch in der Romantheorie zeigen die Grundmotive der politischen Klugheit Kontinuität bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts. Die poetologische Anerkennung, die der deutsche Roman nun auf breiter Front gewann, war untrennbar damit verbunden, dass er auf das ›politische‹ Wissen der ( jetzt psychologisch verstandenen) charakterologischen Ursachenanalyse auf baute: Wir »müssen«, heißt es in Friedrich von Blanckenburgs bahnbrechendem Versuch über den Roman von 1774, bei jeder »Begebenheit, das ganze innre Seyn der handelnden Personen, mit all’ den sie in Bewegung setzenden Ursachen in dem Werk des Dichters sehen«.43 Denn erst dadurch würden die Figuren plastisch und werde ihre Geschichte plausibel, so dass das Erdichtete wie (potentielle) Realität erscheine und sich dem Vorwurf der Phantasterei entziehe.44 Die ursprüngliche Funktion der politischen Klugheit, nämlich Schutz gegen die Gefahren im Umgang mit anderen zu verschaffen, ist hier in den Hintergrund gerückt. Gleichwohl ist sie noch erkennbar45: Wenn wir es einsehen gelernt haben, auf welche Art, und durch welche Mittel eine Begebenheit so erfolgt ist, wie sie erfolgte; – wenn wir das, was gewisse Ursachen und gewissen Umständen wirken und hervorbringen können, richtig zu beurtheilen, und jede Wirkung gegen ihre Ursache abzuwiegen wissen; so werden wir uns, wenn gewisse Ursachen in uns zutreffen, uns gegen sie in Schutz zu setzen vermögen.

41 Zur historischen Einordnung vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung – Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992. 42 Vgl. Karl Heinz Göttert: Kommunikationsideale – Untersuchungen zur europäischen Konversationstheorie, München 1988, 115–124. 43 Friedrich von Blanckenburg: Versuch über den Roman – Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774, mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965, 265 [Hervorh. im Original]. 44 Vgl. Voßkamp: Romantheorie in Deutschland [Anm. 1], 186 f. 45 Blanckenburg: Versuch über den Roman [Anm. 43], 293 [Hervorh. im Original].

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Im Vordergrund steht bei Blanckenburg der poetologische Zweck: Eine detailgenaue und dem psychologischen Wissen der Zeit entsprechende Darstellung ›äußerer‹ Handlungen und ›innerer Triebfedern‹ in deren Bedingungszusammenhang soll das Erzählte wahrscheinlich erscheinen lassen und dadurch die Gattung Roman legitimieren. Ansätze zu solcher Betonung des Kunstcharakters des Romans fanden wir aber auch schon bei Thomasius. IV. Ist das Aufklärung? Und wenn ja: welcher Art?

Wenn die analytischen und lebenspraktischen Kompetenzen des Politicus so weit ins 18. Jahrhundert hinein Geltung behielten oder jedenfalls untergründig wirksam blieben: Wie verhalten sich dann die von Thomasius in der Romantheorie gesetzten Akzente zur Auf klärung als der im Verlauf des Jahrhunderts anwachsenden Reformbewegung, die als der maßgebliche progressive Faktor der Epoche gilt? In der Forschung gehen die Positionen dazu recht weit auseinander. Ich gehe die entschiedensten durch, versuche eine Antwort jedoch mit einem methodisch neuen Ansatz. Thomasius’ Sprachgebrauch und Bildeinsatz untersuche ich auf Anzeichen dafür, ob er selbst die Vorstellung hegte, ›Auf klärung‹ zu betreiben, und zwar speziell mit seiner Werbung für (bestimmte) Romane. Finden sich solche Anzeichen, so stellt sich weiterhin die Frage, welches Konzept von Auf klärung seine die Einübung politischer Klugheit herausstellende Romantheorie impliziert. In seiner 2015 erschienenen großen Geschichte der deutschen Auf klärung stuft Steffen Martus die von Thomasius betriebene Umstellung des gelehrten Habitus nach höfischem Vorbild vorbehaltlos als »akademische Auf klärung« ein.46 Die höfische Herkunft des neuen Ideals spricht für ihn keineswegs dagegen. Thomasius’ Strategie bringt er so auf den Punkt47: »Die Auf klärung sollte aus dem Bündnis von Hof und Universität, von Politik und Gelehrsamkeit erwachsen.« Damit ist viel nicht nur über Thomasius und das Politicus-Ideal, sondern auch über den zugrundeliegenden Begriff von Auf klärung gesagt: Die deutsche Auf klärung porträtiert Martus vornehmlich als Reformprojekt ›von oben‹ im Interesse staatlicher Steuerung der Gesellschaft bzw. als dessen Unterstützung ›von unten‹,48 wenn auch eingeschränkt durch die These, dass ein gegenläufiges Charakteristikum der Epoche in der wachsenden Einsicht in die Grenzen einer solchen Steuerung bestanden habe. Insgesamt überschreibt Martus die Epoche mit einer negativen Kant-Anspielung – »Die Entdeckung der Unmündigkeit«49 – und sieht eben darin auch den Aktualitätskern seines historischen Gegenstands50: »Die Bedeutung der Auf klärung für uns liegt daher weniger im Aufruf zur rationalen Ermächtigung als vielmehr darin, Martus: Aufklärung – Das deutsche 18. Jahrhundert – ein Epochenbild, Berlin 2015, 103. 98. 48 Vgl. ebd., 69. 49 Ebd., 17. 50 Ebd., 19. 46 Steffen 47 Ebd.,



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uns unsere Unmündigkeit einzugestehen und mit ihr produktiv umzugehen.« Zu Thomasius’ vernunftskeptischer Anthropologie sowie zum Verhaltensleitbild der politischen Klugheit passt das sehr gut. Schlüssig ist daher, dass Martus die deutsche Auf klärung mit Thomasius einsetzen sieht – dies in Übereinstimmung mit dessen traditioneller Apostrophierung als »Vater der Auf klärung«, jedoch mit ganz anderer Begründung.51 Ebenfalls für eine Zurechnung zur Auf klärung spricht für Martus das »krawallige« Auftreten von Thomasius,52 wie es nicht zuletzt in seiner streitlustigen Zeitschrift zum Ausdruck kam 53: »Wie alle guten Auf klärer war auch Thomasius ein begnadeter Werbetexter, der auf ebenso geistreiche wie polemische, auf ebenso witzige wie ambitionierte Art und Weise Selbstmarketing betrieb, Versprechungen machte, Projekte entwarf.« Von anderen Bestimmungen der Auf klärung ausgehend, hatten Forscher in der alten Bundesrepublik mehr Vorbehalte. Galt hinsichtlich der Auf klärung die Prämisse, dass es sich um eine Bewegung distinkt bürgerlicher Bewusstseinsbildung handelt, so wurden die Hochkonjunktur der politischen Klugheit um 1700 im Allgemeinen sowie deren Adaption für Verhaltenslehre und Romantheorie durch Thomasius im Besonderen desto entschiedener als bloße Zwischenstufen gekennzeichnet, je stärker die Herkunft des Politicus-Ideals aus der höfischen Gesellschaft betont wurde. So etwa 1983 von Gunter E. Grimm 54: Die Lehre von der Politik und deren Vertreter sind noch nicht per se auf klärerisch. Die ›politische Lehre‹ als Pragmatisierung wissenschaftlichen Denkens [gemeint ist die von Thomasius etwa in seiner Gracián-Vorlesung betriebene, im vorliegenden Aufsatz nicht behandelte Ausrichtung akademischer Gelehrsamkeit auf gesellschaftliche Relevanz:55 D. F.] und Ethisierung gesellschaftlichen Handelns leitet praktischpädagogisch zur Auf klärung über, ohne bereits deren Ethos, den menschheitsumspannenden Impetus zu besitzen.

Grimms Absetzung der prudentialistischen Selbstbehauptung – und sei diese ein Angebot für einen gegenüber den Politici am Hof deutlich erweiterten Adressatenkreis – von der eudämonistischen, ›menschheitsumspannenden‹ Fortschritts­ 51 Ebd., 95. Um genau zu sein: Martus stellt Thomasius’ Leipziger Aktivitäten der späten 1680er Jahre als Anfang der deutschen Auf klärung dar, beginnt sein Buch aber mit einem Kapitel über den Brandenburgischen Kurfürsten, der sich 1701 zum König in Preußen krönte. Die von der Zeitfolge abweichende Kapitelordnung akzentuiert die Interpretation der Auf klärung als Projekt obrigkeitlicher Steuerung. 52 Ebd., 97. 53 Ebd., 98. Gar von »Thomasius’ speziellem Projekt der Auf klärung« spricht Martin Mulsow, aber ohne diese Charakterisierung zu begründen (Martin Mulsow: Literarisches Feld und philosophisches Feld – Einsätze, Verschleierung, Umbesetzungen, in: Thomasius im literarischen Feld [Anm. 13], 103–115, hier 115). 54 Grimm: Literatur und Gelehrtentum [Anm. 23], 349. 55 Vgl. dazu Daniel Fulda: Von der Polyhistorie zur modernen Wissenschaft – Zum politisch-galanten Gelehrtenideal der Frühaufklärung, in: Kulturen des Wissens im 18. Jahrhundert, hg. von Ulrich Johannes Schneider, Berlin/New York 2008, 281–288.

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emphase beispielsweise eines Gottsched ist für sich genommen gut nachvollziehbar. Doch kann man die Nachfrage stellen, ob ›Auf klärung‹ nicht zu eng gefasst wird, wenn man ein ›menschheitsumspannendes‹ Ethos als Kriterium der Zugehörigkeit zu ihr voraussetzt. Als seit geraumer Zeit überholt zu gelten hat vor allem aber die exklusive Bindung der Auf klärung an ›das Bürgertum‹,56 denn dessen historischer Subjektstatus wurde von der sozialgeschichtlichen Forschung gründlich unterminiert. Die Frage nach dem gesellschaftsstrukturgeschichtlichen Ort des ubiquitär gewordenen Politicus-Ideals habe ich vorhin daher nicht von einer Basisunterscheidung zwischen Adel und Hof einerseits, Bürgertum und etwa Kaufmannschaft andererseits aus gestellt, sondern im Ausgang von der Luhmann’schen These der damals beginnenden Umstellung von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung als primärem Strukturierungsfaktor der Gesellschaft. Spezifischer auf die Romantheorie von Thomasius bezogen, ging Voßkamp 1973 ebenfalls von einem Verständnis der Auf klärung als Prozess der »Herausbildung bürgerlichen Bewußtseins« aus.57 Trotzdem ordnete er Thomasius’ Romantheorie der Auf klärung zu, indem er weniger die höfische Herkunft der politischen Klugheit als dessen avancierte Erwartungen an die Leistungen des Romans herausstellte. Für Thomasius sei der Roman »ein Vergnügen und Nutzen verbindendes Instrument von Auf klärung als literarische Form der Wissensvermittlung und Aktivierung des menschlichen Selbstdenkens«.58 In der Tat lassen sich die in Abschnitt I. herausgearbeiteten ›Lerninhalte‹ der kritischen Analyse persönlicher Dispositionen und gesellschaftlicher Interaktionen sowie des systemisch-kritischen Blicks und der reflexiven Abstandnahme als auf klärerisch verstehen. Dasselbe gilt für das Prinzip des Selbstdenkens, wenn es nicht nur im eigenen Interesse von ›politischer‹ Selbstbehauptung oder gar Vorteilsnahme, sondern als Beitrag zu einer allgemeinen Emanzipation ausgeübt wird. Hingegen scheint der Einsatz der Kategorie ›Bürgerlichkeit‹ bei Voßkamp ähnlich wie bei Grimm als zu grob. Wenn er schreibt 59: »das Insistieren auf dem notwendigen Nutzen kennzeichnet den Pragmatismus praxisbezogenen bürgerlichen Denkens«, so soll damit der auf klärerische Gehalt von Thomasius’ Romantheorie untermauert werden. Auf Praxis und Nützlichkeit zielt politische Klugheit allerdings unabhängig davon, ob sie für ›bürgerliche‹ Zwecke bzw. unter ›auf klärerischen‹ Vorzeichen angeeignet wird. Praxis- und Nutzen­ orien­t ierung allein sichert noch keinen auf klärerischen Gehalt. Ganz überzeugend scheint weder die ältere ›Verpflichtung‹ der Auf klärung auf emanzipatorische Bürgerlichkeit noch die Verbindung mit den Steuerungsinten56 Vgl. die Teleologisierung der Literaturtheoriegeschichte im späten 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf ›das Bürgertum‹, die Grimm vornimmt: »Die thomasische Poesie­ konzeption ist in sich noch keine ›bürgerliche‹ Konzeption, enthält aber verschiedene Tendenzen, die in der frühbürgerlichen Theorie Gottscheds wirksam werden sollten« (Grimm: Lite­ratur und Gelehrtentum [Anm. 23], 423). 57 Voßkamp: Romantheorie in Deutschland [Anm. 1], 104. 58 Ebd., 103. 59 Ebd., 104.



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tionen des Fürstenstaats, die neuerdings provokativ dagegengesetzt wird. Umso mehr könnte es sich daher lohnen zu prüfen, ob Thomasius seine Romantheorie sowie seine Werbung für politische Klugheit selbst als auf klärerisch begriff. Schaut man dazu auf seinen Sprachgebrauch, so reicht es allerdings nicht, nach den heute geläufigen Begriffen zu suchen. Thomasius hat das Substantiv Aufklärung in keiner seiner Schriften verwendet, ebenso wenig das zugrundeliegende Verb aufklären oder das aus dessen Partizip Perfekt abgeleitete Adjektiv aufgeklärt.60 Das ist, wie kurz dargelegt sei, jedoch nicht als Entscheidung gegen diese Wortgruppe zu verstehen oder als programmatische Zurückhaltung demgegenüber, was heute Auf klärung genannt wird. Denn die Wortbedeutungen ›Verbesserung der Verstandestätigkeit‹, ›kritische Prüfung‹, ›Bekämpfung von Irrtümern‹ oder gar ›gesellschaftliche Reformen‹ nahm die Wortgruppe in der Zeit um 1700 erst allmählich an. Zwar ist das Prozessnomen Aufklärung in der meteorologischen Bedeutung des Hellwerdens des Himmels durch Schwinden der Wolken seit dem frühen 17. Jahrhundert belegt, und das zugrunde liegende Verb ist noch ein bisschen älter.61 Die Ausbildung von auf den Menschen übertragenen Bedeutungen – zunächst für seinen Gesichtsausdruck, dann für seine Gefühlsstimmung und schließlich verstandesbezogen – zog sich jedoch über viele Jahrzehnte hin. Die beiden Erstbelege (nach derzeitigem Erkenntnisstand) für die kognitive Bedeutung finden sich 1673 und 1695 in einem Briefsteller bzw. in der Zeitungslehre des Juristen, Literaten und Lexikographen Kaspar Stieler. Öfter als nur ganz vereinzelt sind aufklären, aufgeklärt und Aufklärung (mit kognitiver Bedeutung) erst seit den 1720er Jahren nachgewiesen, und erst durch wiederholte Verwendung in einschlägigen Kontexten gewann die Wortgruppe Signalqualität. Es ist deshalb nicht signifikant, dass Thomasius dieses Vokabular nicht benutzte. Vielmehr handelt es sich sogar um eine vergleichsweise frühe Aneignung des Worts in dessen neuer Bedeutung, wenn Thomasius’ Schüler Ephraim Gerhard 1709 in der Vorrede zu seiner Übersetzung der Institutiones jurisprudentiae divinae vom »aufgeklährtern Verstand« seiner Zeitgenossen und dem »aufgeklährten Nachdencken zu unserer Zeit« spricht.62 Mit dem ausdrücklichen Verweis auf »die Lichter welche […] Grotius, Pufendorf, Thomasius und andere« angesteckt hätten, stellt Gerhard dabei eine direkte Verbindung zwischen seinem Lehrer und dem ›Auf klären‹ her.63 Zudem bediente sich schon Thomasius gerne einer Wettermetaphorik, die auf eben das Vertreiben von Nebeln oder dunklen Wolken – gemeint sind Irrtümer, Vorurteile und illegitime Geltungsansprüche – abhebt, welches das Wort Aufklärung 60 Vgl. Werner Schneiders: Vernunft und Freiheit – Thomasius als Aufklärer, in: Studia Leibnitiana 11 (1979), 3–21, hier 9–11. 61 Vgl. dazu meinen Beitrag: Die Erfindung der Aufklärung – Eine Begriffs-, Bild- und Metapherngeschichte aus der ›Sattelzeit‹ um 1700, in: Archiv für Begriffsgeschichte 64/1 (2022), 4–98 mit zahlreichen Belegen, auch für die im Folgenden genannten Stieler-Stellen. 62 Ephraim Gerhard: Von denen Hindernüssen der Auffnahm der natürlichen RechtsGelahrheit, in: Christian Thomasius: Göttliche Rechtsgelahrheit, in: AW IV, [a 3r, c [1]r]. 63 Ebd. [a 3r].

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in seiner ursprünglichen Bedeutung bezeichnet. So heißt es in der Widmung zum zweiten Band der Monatsgespräche, »die heutige kluge Welt« habe »durch das Liecht der wahren Vernunfft den Nebel der eitelen Ehren-Titel vertrieben und die Thorheit derer falschen Tugend-Nahmen öffentlich gemacht«.64 Über die ›Auf klärung‹ seiner eigenen Vorurteile schreibt Thomasius im selben Jahr65: »Incipiebam fere eodem tempore dispellere nebulas quasdam, quæ hactenus intellectum meum obfuscaverant.« Wenig später ist in seiner Einleitung zu der Vernunfft-Lehre (1691) zu lesen66: »Wenn er [der Mensch: D. F.] durch gute Auferziehung / conversation mit andern Leuten / Lesung guter Bücher / eigne Erfahrung / und reiffes Nachsinnen / zuvörderst aber durch die Gnade Gottes die Wolcken seiner Unwissenheit vertreibet / kann er endlich zu dem hohen Grad der Weißheit / der in diesem Leben erhalten werden kan / gelangen«. Der Hinweis auf die unentbehrliche Gnade Gottes und die Relativierung durch den Nebensatz am Ende sollen diesen Erkenntnisoptimismus gegen theologische Einwände abschirmen und entsprechen zugleich Thomasius’ Überzeugungen. Sie ändern nichts am human-säkularen Selbstvertrauen seines Programms, das hier sehr knapp formuliert ist, jedoch eine komplexe Vorstellung von ›Auf klärung‹ (in moderner Terminologie) durch bestimmte Praktiken enthält. Festhalten können wir daher: Mit jener Wolken- oder Nebelmetaphorik veranschaulicht und dramatisiert der junge Thomasius sein weitreichendes Bildungs- und Reformprogramm als etwas, das man sich wetteranalog, nämlich wie eine Aufklärung im meteorologischen Sinne, vorstellen kann. Lediglich als Wort und erst recht als Terminus mit kognitiver Bedeutung findet sich Aufklärung noch nicht in seinen Texten. Lichtmetaphorik nutzte Thomasius aber durchaus, z. B. um die Poetik seiner Zeitschrift und überhaupt seiner Schriften zu charakterisieren: »Die Lehren von der wahren Tugend und von rechtschaffener Gelahrheit« wolle er »dem von der Pedanterey und Gleißnerey guten Theils verblendeten menschlichen Geschlechte« in didaktischer Dosierung und Indirektheit darbieten, weil »nichts schädlichers sey / als wenn man einem geblendeten Menschen ein starckes Licht für die Augen hält« (AW VI/1, 14). Entsprechend dem grammatischen Status des Wortes Aufklärung als Prozessnomen, versteht er die intendierte Wirkung als einen Vorgang, der sich »nach und nach« vollzieht (ebd.). Eine Formel, die dem später sich etablierenden Begriff Aufklärung funktional entspricht, semantisch und vor allem bildlich aber blasser ist, stellt die »Ausbesserung des Menschlichen Verstandes und Willens« dar (AW VI/2, 1144; vgl. ebd. 1153).67 In seiner Besprechung des zweiten Bandes von Lohensteins Arminius-­Roman verwendet Thomasius sie, um die Absicht und Leistung dieses Romantyps zu kenn64 Christian Thomasius: Schertz- und Ernsthaffte / Vernünfftige und Einfältige Gedancken / über allerhand Lustige und nützliche Bücher und Fragen – Juli–Dezember 1688, in: AW V/2 [[o] 6r]. 65 Christian Thomasius: Institutiones jurisprudentiae divinae, Frankfurt a. M./Leipzig 1688, 7 (im Rückblick auf seine Studienzeit und ein durch Pufendorfs Natur- und Völkerrecht bewirktes ›Erweckungserlebnis‹). 66 Christian Thomasius: Einleitung zur Vernunftlehre, in: AW VIII, 77 [Hervorh. im Original]. 67 Vgl. auch Christian Thomasius: Ausübung der Vernunftlehre, in: AW IX [Vorrede].



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zeichnen, der »die Belustigung« der Leser nicht als »Hauptzweck«, sondern bloß zur Aufmerksamkeitsgewinnung betreibt und deswegen für den »vortrefflichsten« zu halten sei (AW VI/1, 14). Die Zuordnung des Romans und seiner Theorie zu einem als ›Auf klärung‹ intendierten, wenn auch noch nicht so genannten Reformund Bildungsprogramm finden wir demnach bei Thomasius selbst. Beachtung verdient in diesem Zusammenhang auch das Frontispiz zum ersten Sammelband der Monatsgespräche, denn es zeigt eine Situation, in der sich ›Auf klärung‹ im Sinne eines Sichtbarwerdens (wie beim SichVerziehen von Wolken oder Nebel) und daraus sich ergebender Erkenntnisgewinnung (wie bei ›Auf klärung‹ im übertragenen Sinne) einstellt. Was signalisiert dieses Bild, wenn wir davon ausgehen, dass Frontispize dazu dienten, Leser anzulocken und ihnen eine prägnante Idee vom Profil des folgenden Druckwerkes zu vermitteln? Es handelt sich um eine Szene aus ­Molières Komödie Le Tartuffe ou L’Imposteur (Erstaufführung 1664/1669, Druck 1669/1682), genauer um die fünfte Szene des vierten Akts: Ein Mann – der betont fromme Tartuffe – bedrängt eine Frau – die Hausherrin Elmire – und wird sexuell übergriffig, beobachtet von einem Dritten, Elmires Gatten Orgon, der sich unter ­einem Tisch versteckt hat. Nun endlich erkennt Orgon, der bisher blindes Vertrauen in Tartuffe hatte, dass dieser ein Heuchler und Betrüger ist – ein ›Gleisner‹ in Thomasius’ eben zitierter Dik­ tion  –, der ihm Besitz und Familie zu rauben im Begriff ist. Wie Manfred Beetz erläutert, ist diese Situation auf das Angebot zu beziehen, das Thomasius den Le- Abb. 1: Christian Thomasius: Freymüthige Lustige und Ernst­ haffte iedoch Vernunfft- und Gesetz-Mässige Gedan­cken Oder sern seiner Zeitschrift macht 68: »Orgon als Monaths-Gespräche über allerhand / fürnehmlich aber Neue stummer Zuschauer des Geschehens figu- Bücher Durch alle zwölff Monate des 1688. und 1689. Jahres riert als Bild des impliziten Rezipienten, durchgeführet I, Halle 1690, [Frontispiz] (­Digitalisat der der Auf klärung sucht« – oder jedenfalls SUB Göttingen) 68 Beetz:

Konversationskultur und Gesprächsregie in den Monatsgesprächen [Anm. 24], hier 41.

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erhält. Der spielerischen, quasi anschaulichen Präsentation von Themen und Büchern in den fingierten Gesprächen der Monatsgespräche entspricht wiederum die Inszenierung, die Elmire sich überlegt hat, um ihren Gatten von seinen Irrtümern zu befreien. Auch der satirische Zug, der sich besonders gegen theologische Maßgeblichkeits- und Machtansprüche richtet, verbindet Molières Komödie und Thomasius’ Zeitschrift.69 Indessen kennzeichnet die Situation einer Interaktion mit einem Beobachter, der den Blicken der Beobachteten entzogen ist, ebenso die Art der Romanlektüre, die Thomasius empfiehlt, auf dass sich der Leser in der Analyse der Affekte, der verborgenen Absichten und der gesellschaftlichen Positionen übe. ›Auf klärung‹ ist hier als Ermöglichen von unverstelltem Sehen konzipiert, aus dem ein klares Erkennen folgt;70 das gilt nicht allein für die verbildlichte Tartuffe-Szene, nämlich im wörtlichen Sinne, sondern auch für die privilegierte Beobachter­posi­ tion des Romanlesers im übertragenen. Stellt das Frontispiz der Monatsgespräche eine Auf klärungssituation dar, so schließt das davon ausgesandte programmatische Signal gerade auch die Romantheorie ein, die in der Zeitschrift vom ersten Heft an propagiert wird. Die von Thomasius intendierte, wenn auch noch nicht so genannte ›Auf klärung‹ ist, wie wir resümieren können, keine bloße »Verbesserung des Verstandes«71 – denn diese würde gegenüber dem Willen kraftlos bleiben –, sondern ein eminent praxisorientiertes Unternehmen. Das ist sowohl von seiner vorhin zitierten Verwendung meteorologischer Metaphern als auch vom soeben analysierten Beobachter-Modell her zu konstatieren. Durchweg geht es um die Einübung von Kompetenzen, aber auch einer analytischen sowie auf (Selbst-)Verbesserung eingestellten Haltung, eines Ethos. Gerade darin stimmen die Appellstruktur der Monatsgespräche, die Funk­ tions­bestimmung der Gattung in der dort vorgetragenen Romantheorie sowie die übergreifenden Reformziele des Autors überein: Weniger Informationen als ein Angebot zur Beteiligung an Diskussionen und zur eigenen Urteilsbildung offeriert die Zeitschrift; weniger Wissensvermittlung oder normative Belehrung als die Einübung von lebenspraktisch nützlichen Kompetenzen macht, so Thomasius, die Lektüre von Romanen attraktiv und ertragreich; und nicht eine Wahrheiten demonstrierende Philosophie ist sein zentrales Anliegen, sondern die Anregung zum eigenen Denken und die auf Praxis zielende Hinwendung der Gelehrten zur ›Welt‹. 69 Vgl.

dazu auch Thomasius’ »Erklärung des Kupfer-Titels« (AW V/1, [5r]). In der Figurenrede des Tartuffe wird dieser Zusammenhang in der vorangehenden 3. Szene des 4. Akts explizit gemacht: »ELMIRE Mais quoi? si je trouvois manière / De vous le faire voir avec pleine lumière? ORGON Contes en l’air. / ELMIRE […] Mais supposons ici que, d’un lieu qu’on peut prendre, / On vous fît clairement tout voir et tout entendre, / Que diriez-vous alors de votre homme de bien?« (Molière: Le tartuffe, ou L‹imposteur, Paris 1669, 67 f.). Mit ›lumière‹ findet sich hier sogar ein künftiges Schlüsselwort der französischen Auf klärung, allerdings noch in seiner konkreten Bedeutung (Licht). 71 Zur Abhängigkeit des Verstandes vom »Willen und seinen Affecten« vgl. Christian Thomasius: Erörterung Der Juristischen Frage: Ob Ketzerey ein straffbares Verbrechen sey, in: AW XXIII, 210–307, hier 242. 70



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Mit den etwa gleichzeitigen ersten Verwendungen des Verbalabstraktums Aufklärung mit kognitiver Bedeutung stimmt der starke Praxisakzent bei Thomasius im Kern überein. Denn diese ersten Verwendungen beziehen sich zwar auf die »Aufklärung und Vollkommenheit des Verstandes«, wie es in einem von der Begriffsforschung bisher übersehenen Musterbrief in Stielers Sekretariat-Kunst (1673) heißt, doch ist hier eine Schärfung des »Urteils« gemeint, die man durch Reisen in fremde Länder und Beobachtung der dortigen Sitten erlangen könne.72 Das Motiv der Beobachtung anderer, mit der man die eigene Urteilsfähigkeit üben kann, verbindet Stielers Gebrauch von Aufklärung mit dem, was Thomasius an der Romanlektüre preist, ohne das Wort zu verwenden. In seiner Zeitungstheorie berührt Stieler die Analyse- und Beurteilungskompetenzen des Politicus, auf die Thomasius zielt, noch stärker, wenn er die »Auf klär- und Verbesserung des Verstandes« in einem Atemzug mit den sowohl für die Lektüre von Zeitungen erforderlichen als auch dadurch geförderten Denkfähigkeiten empfiehlt.73 Ähnlich wie dem Romantheoretiker Thomasius geht es Stieler dabei weniger um ein materiales Lernen oder möglichst große Informationsaufnahme, sondern um analytische und reflexive Kompetenzen. Was sich aus der Zeitungslektüre lernen lasse, sei der souveräne Umgang mit einer Fülle von Informationen. Der aufmerksame Zeitungsleser gewöhnt sich, so Stieler, an einen methodischen Zweifel an unbewiesenen Behauptungen, er übt sich im Ordnen und Beurteilen von Informationen und lässt sich nicht mehr so leicht täuschen.74 Was Zeitungen und Romane zu bieten haben, unterscheidet sich zwar deutlich in der Subtilität, mit der sie Affektdispositionen, Handlungsmotive und Inter­ aktionsketten darstellen. Was beide Medienformate verbindet in Stielers bzw. Thomasius’ Perspektive, sind gleichwohl das Interesse an der ›Welt‹ und der ›politische‹ Blick darauf. Durch Medien gleichsam Erfahrungen zu machen, um sich in einer komplexer werdenden Welt zurechtzufinden, ist ein vermittelter Zugang zur Praxis, der es erleichtert – so beide Autoren übereinstimmend –, reflexiven Abstand zu halten und die nötigen Analysekompetenzen auszubilden, die Voraussetzung sind für ein erfolgreiches Agieren in der Welt. Der Frühgeschichte der Aufklärung (als Wort mit auf den Verstand bezogener Bedeutung) steht Thomasius nicht allein durch seine meteorologische Metaphorik nahe, sondern auch konzeptionell, zumal mit seiner Romantheorie. Bei der ›Formpraktik‹ des von ihm theoretisierten Romans haben es mit einem der frühesten Entwürfe von Auf klärung in Deutschland zu tun. von Stieler]: Teutsche Sekretariat-Kunst […] II, Nürnberg 1673, 335. [Kaspar von Stieler]: Zeitungs Lust und Nutz – Oder: derer so genanten Novellen oder Zeitungen / wirckende Ergetzlichkeit / Anmut / Notwendigkeit und Frommen; Auch / was bey deren Lesung zu lernen / zu beobachten und zu bedencken sey? Samt einem Anhang / Bestehend – In Erklärung derer in den Zeitungen vorkomenden fremden Wörtern [...], Hamburg 1695, 337. 74 Vgl. ebd., 350, 347 u. 337 sowie Daniel Fulda: Neue periodische Schriftmedien, das Medium Bild und die Programmatik der Aufklärung, in: Medien der Aufklärung – Aufklärung der Medien – Die baltische Aufklärung im europäischen Kontext, hg. von Liina Lukas et al., Berlin/Boston 2021, 21–47, hier 21–23. 72 [Kaspar 73

Literatur und Luxus Praktiken erziehenden Erzählens in Wielands Goldnem Spiegel Peter Wittemann

I. Einleitung

In einer Rezension seines Werks Der goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte von 1772, die er selbst verfasst hat, schreibt Christoph Martin Wieland1: »Der Prinzenmentor lerne daraus die wichtigen Kapitel der Staatskunst vom Ursprung der Reiche, vom Luxus, von der Tyranney, von der Religion, von der öffentlichen Erziehung, von der Gesetzgebung u. s. f. deren er keines übergangen finden wird […] aus allgemeinen Spekulationen in praktische Wahrheiten verwandeln«. Dieses Zitat hebt zwei zentrale Aspekte des Romans hervor, von denen ausgehend der Goldne Spiegel in diesem Beitrag als Reflexion ethischer Praktiken des Herrschens, Erziehens und Erzählens verstanden werden soll. Die Prädikatsklammer im zitierten Passus – ›lerne allgemeine Spekulationen in praktische Wahrheiten zu verwandeln‹ – bezeichnet das Erlernen einer Technik, vorhandenes abstraktes Wissen zur Anschauung (und Wirksamkeit) zu bringen; der Fürstenspiegel ist also nicht nur ein Mittel der Erziehung, sondern eignet sich auch dazu, die Kunst des Erziehens selbst zu erlernen – gerade in dieser Hinsicht will sich Wieland von seinen namhaften literarischen Vorgängern absetzen.2 Seine Selbstaussage gibt also einen Hinweis darauf, dass bestimmte Passagen des Romans eher als didaktische Techniken zu verstehen sind und nicht als politisches Bekenntnis.3 Es gibt daher mindestens zwei Adressaten: Richtete sich François Fénelons Télémaque (1699) an den zu erziehenden Prinzen, so spricht Wieland explizit auch den 1 Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte – Aus dem Scheschianischen übersetzt, in: ders.: Wielands Werke X/1, hg. von Klaus Manger und Jan Philipp Reemtsma, bearb. von Hans-Peter Nowitzki und Tina Hartmann, Berlin/New York 2009, 1–325 [aus diesem Band wird im Folgenden mit Seitenangabe im Fließtext zitiert; Wielands Werke werden nach dieser Ausgabe mit der Sigle OA (Oßmannstedter Ausgabe) mit Bandangabe und Seitenzahl zitiert], hier 327. Die Rezension ist zuerst erschienen in der Erfur­ tischen gelehrten Zeitung vom Juni 1772. 2 Wieland selbst nennt Les Aventures de Télémaque (1699) den großen Bestseller Fénelons; ferner wären neben Xenophons Kyrupädie vor allem Marmontels Bélisaire (1764), Hallers Usong (1771) und Justis Psammitichus (1759/60) anzuführen. Zur Geschichte und Einordnung der Gattung (sowie zu wichtigen Deutungsansätzen) vgl. Christopher Meid: Der politische Roman im 18. Jahrhundert – Systementwurf und Aufklärungserzählung, Berlin/Boston 2021, bes. 1–17 und 227– 419; Helge Jordheim: Der Staatsroman im Werk Wielands und Jean Pauls – Gattungsverhandlungen zwischen Poetologie und Politik, Tübingen 2007, bes. 1–27 und zum Goldnen Spiegel bes. 147–198. 3 Vgl. dazu bereits Uve Fischer: Lusso e vallata felice – Lo specchio d’oro di C. M. Wieland, in: ders.: Il monde come letteratura – Da Wieland a Thomas Mann, Catania 1980, 65–216, hier 76 f.

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Erzieher an. Dies schlägt sich in einer Reflexion des Erzählens als Praxis des Erziehens nieder. Die eigentlichen politischen ›Inhalte‹ werden auf einer metadiegetischen Ebene präsentiert – erzählt werden sie von der Figur Danischmend, einem Hofphilosophen, der seinen Fürsten, den Schah Gebal, durch Erzählung zu bessern versucht, damit aber scheitert. Der Text selbst scheint der erziehenden Funktion des Erzählens, die er sich zur Aufgabe macht, also skeptisch gegenüberzustehen – dies ist die vielzitierte ironische Grundkonstellation des Romans. Der zweite und, wie zu zeigen ist, eng mit der Problematik der Erziehung verbundene Aspekt ist mit dem Wort ›Luxus‹ bezeichnet, dessen Nennung in der Selbstrezension aus heutiger Perspektive irritiert: Als ›wichtige Kapitel der Staatskunst‹ erscheinen ›Ursprung der Reiche‹, ›Tyranney‹, ›Religion‹ und ›öffentliche Erziehung‹ einleuchtender. Die prominente Positionierung verdankt sich zunächst dem Auf bau von Wielands Werk, dem auch die Aufzählung der Rezension folgt. Die Binnenhandlung ist die Geschichte eines fiktiven Reiches, von seinen rauen Ursprüngen über die Kultivierung und damit einhergehende Korrumpierung des Einzelnen und der Gesellschaft durch den Luxus bis zu seinem Untergang durch Tyrannei und fehlerhafte religiöse Institutionen; er schließt mit der Rettung des Staates durch den guten Fürsten Tifan und einer Reflexion der Staatswissenschaften.4 Innerhalb eben dieser Staatswissenschaften (der ›Policey‹, der Kameralistik und der Statistik) und der Anthropologie ist Luxus aber auch ein gewichtiges Thema europäischer Debatten des 18. Jahrhunderts – oder präziser: luxury und luxe sind im englisch- und französischsprachigen Raum zentrale Themen anthropologischer und staatswissenschaftlicher Texte, an die Wieland (als einziger namhafter deutschsprachiger Autor seiner Zeit) anschließt.5 In diesem Beitrag sollen drei Thesen entwickelt werden, um zu zeigen, wie Wieland anstelle theoretischer oder systematischer Abhandlungen Praktiken des Erzählens und Regierens zur Lösung des ›Luxusproblems‹ entwirft, die sich nicht in der resignativ-ironischen Darstellung des Erziehungsproblems erschöpfen. Erstens: Luxus findet zunächst im Zusammenhang der Erörterung anthropologischer Problemstellungen Eingang in den Goldnen Spiegel; er ist Motor sozialer Dynami4 Zur Übereinstimmung vor allem des letzten Teils des Romans (›Tifan-Handlung‹) mit den Elementen der zeitgenössischen Staatswissenschaft vgl. Merio Scattola: Politisches Wissen und literarische Form im ›Goldnen Spiegel‹ Christoph Martin Wielands, in: Scientia Poetica – Jahrbuch für Geschichte der Literatur und Wissenschaften 5 (2001), 90–122, hier 99 f. – Die Gegenläufigkeit der gelingenden Fürstenerziehung als Bedingung staatlicher Wohlfahrt in der Binnenerzählung und dem Scheitern der Fürstenerziehung in der Rahmenhandlung identifiziert Christopher Meid als das »zentrale Interpretationsproblem« des Romans (Meid: Der politische Roman [Anm. 2], 337). 5 Die prägenden Arbeiten der europäischen Luxusdiskussion kommen aus Frankreich (Féne­ lon, Montesquieu u. a.), England und Schottland (Mandeville, Hume u. a.) und der Republik Genf (Rousseau). Zu den wesentlichen Texten des Diskurses vgl. Joseph Vogl: [Art.] Luxus, in: Ästhetische Grundbegriffe III, hg. von Karl-Heinz Barck, Stuttgart/Weimar 2001, 694–708 sowie Christine Weder und Maximilian Bergengruen: Einleitung, in: Luxus – Die Ambivalenz des Überflüssigen in der Moderne, hg. von Christine Weder und Maximilian Bergengruen, Göttingen 2011, 7–31.



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ken, deren Steuerung von da an als zentrale Herausforderung politischer Systeme behandelt wird – dies ist die Problemexposition des ersten Buchs (II.).6 Zweitens: Der Roman bietet als Fürstenspiegel zwar einen Lösungsvorschlag gemäß der Tradition der Gattung, nämlich in Form einer in die Erzählung eingebetteten Utopie, in der eine politische und soziale Ordnung geschildert wird, die den fatalen Konsequenzen des Luxus dauerhaft widersteht. Der Kontrast zwischen der statischen Ordnung, die in der Utopie geschildert wird, und der sozialen Dynamik, die die vom Luxus betroffene Gesellschaft ausmacht, weist diese Lösung jedoch als nicht realisierbar aus (III.). Es wird also – drittens – keine ›Einhegung‹ des gesellschaftlichen Phänomens Luxus durch ein ›von oben‹ entworfenes System angestrebt. An die Stelle systematischer Lösungen tritt die ethische Lebenspraxis des Souveräns, die zugleich Regierungspraxis ist. In diesem Zusammenhang werden schließlich verschiedene Praktiken des Erzählens reflektiert, die die Erziehung des Souveräns ermöglichen. Auch hier wird nicht eine gelingende Methode propagiert; vielmehr ist es die Schilderung der Schwierigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten der praktischen Erziehungsarbeit, das Erzählen vom Unmöglichen und vom Scheitern, das zur Möglichkeit der Existenz des guten Herrschers beizutragen vermag (IV.). II. Luxus als anthropologische und politische Problematik

So oft der Begriff Luxus im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts verwendet wird, so unklar ist sein eigentlicher Inhalt.7 Wenn in diesem Kapitel gezeigt werden soll, dass ›Luxus‹ für Wielands Roman einen zentralen Problemgehalt zunächst im Kontext der Konstitution des Einzelnen (Anthropologie) und in der Folge auch hinsichtlich der Organisation des Staates (polity und policy) darstellt, dann muss dabei mitbedacht werden, dass mit den jeweils unterschiedlichen Kontexten sich überschneidende, aber nicht identische Begriffsinhalte verbunden sind. Damit steht 6 Zur Stellung des Luxus im Roman siehe Fischer, der zwischen Luxus als politisch-ökonomischer und Luxus als moralischer Kategorie differenziert (vgl. Fischer: Lusso e vallata felice [Anm. 3]); Scattola, der betont, dass die »Luxus-Thematik« keinesfalls »moralisierende Randerscheinung« sei, sondern den »Kern der politischen Lehre« betreffe (Scattola: Politisches Wissen und literarische Form [Anm. 4], 118–120); Christine Weder, die die Verknüpfung von Luxus und Sexualität ins Zentrum stellt (vgl. Christine Weder: Poesie als / statt Polizei – Zum Verhältnis von Sexualität und Gesetz in Wielands ›Goldenem Spiegel‹ und im polizeiwissenschaftlichen Kontext, in: Sexualität – Recht – Leben – Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, hg. von Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann und Hubert Thüring, München 2005, 217–235); und zuletzt Meid, der feststellt, dass Wieland mit Rekurs auf die breite Luxusdiskussion des 18. Jahrhunderts für eine differenzierte Betrachtungsweise plädiert und in seinem polyphonen Roman die Vorteile des Luxus (kulturelle Verfeinerung) gegen seine Nachteile (Dekadenzerscheinungen) abwägt (vgl. Meid: Der politische Roman [Anm. 2], 362–381). 7 Vgl. zur Begriffsgeschichte des Luxus Dorit Grugel-Pannier: Luxus – Eine begriffs- und ideengeschichtliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Bernard Mandeville, Frankfurt a. M. 1996.

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Wieland ganz in der Tradition einer vor allem im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts geführten Diskussion, für die ›Luxus‹ einen Schnittpunkt verschiedener Diskurse darstellt, um den sich je nach Ausgangsinteresse (etwa Anthropologie, Wirtschaftspolitik, Republikanismus, Sozialtheorie) unterschiedliche Topoi anlagern.8 Im Goldnen Spiegel wird Luxus im ersten der vier Bücher zunächst als Gegenstand der Staatsgeschichte profiliert. Anschließend an die Schilderung vom Ursprung des Reiches wird beschrieben, wie Lili, die Favoritin eines Königs, dessen Name vergessen ist, eine neue Wirtschaftsordnung etabliert, in der Geld in Umlauf gebracht statt am Hofe konzentriert wird. Es entwickelt sich ein florierendes Staatswesen. Der »Luxus, den die Sultanin Lili in Scheschian einführte« (73), bestand in der Förderung »alle[r] Arten von Manufacturen« – namentlich des »Seidenbau[s]« – sowie der Künste, vornehmlich durch die Anwerbung ausländischer Künstler; »Bequemlichkeiten und Wollüste […], von welchen die Meisten noch keinen Begriff gehabt hatten« (39) und eine Verfeinerung der Sitten sind die Folge (»So wie sich das Gefühl der Scheschianer verfeinerte, so verschönerten sich auch zusehends ihre Sitten. Man wurde geselliger, sanfter, geschmeidiger«, 40). Der »ganze Staat« wurde »in eine so lebhafte als heilsame Thätigkeit« versetzt, »denn Erfindsamkeit und Fleiß war der gerade Weg zu Überfluß und Gemächlichkeit, und wer wünscht sich nicht so angenehm zu leben als möglich?« (ebd.) Dieser kausale Bezug, in dem der Genuss von ›Bequemlichkeiten und Wollüsten‹ und das florierende Staatswesen stehen, ist die Grundthese desjenigen Buches, das die moderne Luxusdebatte eröffnet hatte:9 Bernard Mandevilles The Fable of the Bees. Or, Private Vices, Publick Benefits (1705–1732), zuerst unter dem Titel The Grumbling Hive erschienen. Der Ehrgeiz des Einzelnen führe, so Mandeville, zu Erfindungen, die für alle von Nutzen seien, und wo sich Menschen etwa in Hinblick auf »Buildings, Furniture, Equipages and Cloths«,10 also den primären Artikeln des Luxus, gegenseitig zu übertreffen suchten, werde es auch immer Beschäftigung für diejenigen geben, die an der Herstellung und Verbesserung dieser Produkte beteiligt seien11: »[T]he Wishes of the most Luxurious […] are to appear handsomely, and excel each other in Finery of Equipage, Politeness of Entertainments, and the Reputation of a judicious Fancy in every thing about them.« Die suggestive Kraft seiner Argumentation beruht nicht zuletzt auf sehr konkreten Schilderungen – die im Titel genannten ›Vices‹, etwa ›Pride‹, ›Envy‹ und ›Vanity‹, werden typisierten 8 Vgl. dazu grundlegend Vogl: [Art.] Luxus [Anm. 5], 698–702, der den »Bedeutungsraum des Luxus« nun nicht mehr durch »moralische[] und theologische[] Fassungen« (die aber freilich weiterhin bestehen), sondern durch die Dimensionen »ökonomische[r] Funktionsbegriff«, Bedingung der »Vitalität des ökonomischen Verkehrs« sowie die »anthropologische Diskussion« abgesteckt sieht. 9 Dies bereits in der Wahrnehmung der Zeitgenossen (vgl. François-André-Adrien Pluquet: Traité philosophique et politique sur le luxe I, Paris 1786, 15). 10 Bernard Mandeville: The Fable of the Bees, or: Private Vices, Publick Benefits, London 1705– 1732, zitiert nach Frederick Benjamin Kaye: Mandeville’s Fable of the Bees I, Oxford 1924, 119. 11 Ebd., 122.



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Figuren des täglichen Lebens (»The ordinary Retailer«, »The Merchant’s Lady«, 129) zugeschrieben und in ihrer positiven Auswirkung auf die gesamte Gesellschaft geschildert (das »continual striving to out-do one another« ist es »that sets the Poor to Work, adds Spurs to Industry, and encourages the skilful Artificer to search after further Improvements«, 130). Die Rückbeziehung des Luxus auf die ›Begehrensstruktur‹ des Menschen ist spätestens seit Mandeville fester Bestandteil der Luxusdebatte. Es liegt auf der Hand, dass auch die in Wielands Goldnem Spiegel verhandelten ökonomischen und politischen Phänomene auf anthropologischen Prinzipien beruhen. Diese Denkbewegung betrifft nicht nur den Luxus, sondern liegt dem Roman – wie Hans-Jürgen Schings gezeigt hat – insgesamt zugrunde;12 sie ist, so auch Jürgen Fohrmann in seiner Analyse des Romans, die Basis politischen Denkens, denn für Wieland sei »[d] ie gesellschaftliche Organisation […] in der Ethik fundiert. Die Ethik wiederum findet ihre Fundierung in der Anthropologie«.13 So beruht die Verbreitung des Luxus in der Episode von der schönen Lili auf dem Streben nach »Bequemlichkeiten und Wollüsten« sowie »Erfindsamkeit und Fleiß« (40) einerseits, andererseits auf dem Mechanismus »unkontrollierter sozialer Ansteckung«:14 Das »Beyspiel« Lilis »reizte die Großen und Begüterten zur Nachahmung« (39). Letztlich ist es »die Natur selbst«, die den Menschen von einem Grade der Entwicklung zum anderen fortführt, und, indem sie durch die Bedürfnisse seine Einbildungskraft und durch die Einbildungskraft seine Leidenschaften spielen macht, diese vermehrte Geselligkeit, dieses verfeinerte Gefühl, diese Erhöhung seiner empfindenden und thätigen Kräfte hervorbringt, wodurch der Kreis seiner Vergnügungen erweitert, und seine Fähigkeit des Daseyns froh zu werden mit seinen Begierden zugleich vermehrt wird. (41) 12 Für den zeitgenössischen anthropologischen Diskurs interessiert sich Wieland von Anfang an. Schings hat gezeigt, dass seine dichterische Produktion bis in die 1770er Jahre eng mit der Reflexion des commercium mentis et corporis und seinen Konsequenzen verbunden war, der zen­t ra­ len Problemstellung der Anthropologie also: Wie kann es sein, dass Geist – nicht-materielle res cogitans – und Körper – materielle res extensa – zusammenspielen und aufeinander einwirken? Ausgehend von der Prädominanz des Geistigen näherte sich Wieland zunehmend einem materialistischen Standpunkt, der Determiniertheit des Menschen durch die Sinnlichkeit, an (vgl. Hans-Jürgen Schings: Der anthropologische Roman – Seine Entstehung und Krise im Zeitalter der Spätaufklärung, in: Deutschlands kulturelle Entfaltung – Die Neubestimmung des Menschen, hg. von Bernhard Fabian, Wilhelm Schmidt-Biggemann und Rudolf Vierhaus, München 1980, 247–275, zu Wieland 247–256). Im anthropologischen Fokus macht Christopher Meid auch das Spezifikum der deutschsprachigen Aneignung des politischen Romans überhaupt aus (vgl. Meid: Der politische Roman [Anm. 2], 15). Vgl. auch ebd. 333, wo gezeigt wird, dass Wielands »Geschichtsphilosophie […] auf anthropologischen Prämissen basiert«. 13 Jürgen Fohrmann: Utopie, Reflexion, Erzählung – Wielands Goldener Spiegel, in: Utopieforschung – Interdisziplinäre Forschungen zur neuzeitlichen Utopie III, hg. von Wilhelm Voßkamp, Stuttgart 1982, 30; vgl. 24–49. 14 Dies macht Vogl generell als Dimension des Luxusbegriffs in Analogie zur Mode aus (vgl. Vogl: [Art.] Luxus [Anm. 5], 703); auch Wieland spricht später von den »ansteckenden Sitten« (54).

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Für diesen anthropologisch begründeten Prozess des Fortschritts15 menschlicher Gesellschaften stellt also ›Luxus‹ und das Streben danach den wesentlichen Motor dar – die wichtigsten Referenzen aus der Luxusdebatte sind hier neben Mandeville David Hume,16 Montesquieu und natürlich Jean-Jacques Rousseau, mit dessen Werk sich Wieland intensiv auseinandersetzte.17 Rousseaus Erzählung vom Entstehen der Ungleichheit übernimmt zwar Mandevilles These vom Egoismus als alleiniger Triebfeder des menschlichen Fortschritts, setzt an die Stelle der ›public benefits‹ aber die Verluste, die durch die Entfernung vom Naturzustand entstehen. In seinen beiden Discours wird der Luxus zum Symptom der Kultur als verlorener Unschuld, aus dem wiederum sowohl das Unglück der Vermögenden (die vom Luxus beherrscht sind) als auch das der Armen (die vom Luxus ausgeschlossen sind) resultiere.18 Wieland legt genau diese Position einigen »milzsüchtige[n] und zur Freude untüchtig gewordene[n]« Kritikern der ›schönen Lili‹ in den Mund, die »ihre übelgekämmten Köpfe mit unglück-weissagender Miene schüttelten« und sowohl den finanziellen (»Üppige Feyertage werden den Gewinn der arbeitsamen Tage, und üppiger Aufwand den Überfluß der sparsamen Mäßigkeit verzehren«) als auch den moralischen Bankrott des Reichs (»die Wollust wird den Müßiggang, und der Müßiggang die ganze verderbliche Brut der Laster herbeyziehen«) vorhersagen; am Ende stehen »Ungeheuer von Lastern, unnatürliche Ausschweifungen, Verrätherey, Giftmischerey und Vatermord« (40). Am Beginn der Geschichte des Reiches stehen sich also zwei Positionen gegen­ über, die ihre Wurzel im Luxus-Diskurs des 18. Jahrhunderts haben: Die Propagierung des unregulierten Materialismus, wie sie Mandeville vertrat, und die­ jenige des geschichtsphilosophischen Pessimismus, wie Wieland sie von Rousseau vertreten sah19 – eine Opposition, die im Verlauf des Romans noch öfter erwähnt 15 ›Fortschritt‹ ist hier wertungsfrei zu verstehen. Wieland spricht etwa von der »höhere[n] Staffel« (in späteren Ausgaben: »Stufe«), »welche der Mensch betritt« (41); s. Kap. III. 16 Vgl. dessen Essay On Luxury (1752), später unter dem Titel Of Refinement in the Arts, in: Essays Moral, Political, and Literary, ed. by Eugene F. Miller, Indianapolis 1987, 269–280. Schon der Vergleich der beiden Titel verdeutlicht den Zusammenhang von Luxus und kulturellem Fortschritt in der Auf klärungsdebatte. 17 Vgl. dazu Andreas Mielke: Wieland contra Swift und Rousseau – und Wezel, in: Colloquia Germanica 20/1 (1987), 15–37; sowie Meid: Der politische Roman [Anm.  2], 373–381. Aus dem Umfeld des Goldnen Spiegels wäre noch ein Abschnitt aus den Beyträgen zur geheimen Geschichte der Menschheit zu nennen, in dem Wieland dafür argumentiert, dass das Denkmodell des vorgesellschaftlichen Menschen nicht nur unerreichbar, sondern auch unsinnig sei (vgl. OA IX/1, bes. 219–304). 18 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, publ. par Blaise Bachofen und Bruno Bernardi, Paris 2008, bes. 109–148; sowie JeanJacques Rousseau: Discours sur les sciences et les arts, publ. par Francois Bouchardy, Paris 1997. Vgl. dazu Ruth Signer: Die Relationalität des Luxus bei Jean-Jacques Rousseau, in: Aufklärung und Exzess – Epistemologie und Ästhetik des Übermäßigen im 18. Jahrhundert, hg. von Bernadette Grubner und Peter Wittemann, Berlin 2022, 181–196. 19 Zur Problematik dieses Einwands gegen Rousseau vgl. Roger Bruyeron: Einleitung, in:



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wird.20 Beide gehen von Egoismus bzw. Eigenliebe als prinzipiellem Antrieb des Handelns des Menschen innerhalb der Gesellschaft aus, die dann auch der Antrieb geschichtlicher Entwicklung sind. Wieland positioniert sich zwar gegen die negative Anthropologie von »Doktor Mandevil / Und Freund Hanß Jack« (OA XI/1, 518 [Hervorh. im Original]);21 Begehren nach Wollust und Genuss seien zwar natürlich, doch habe die »Natur« dem Menschen auch »Warnungen« (40) an die Hand gegeben, deren Befolgen ihm den rechten Weg zwischen asketischem Genussverzicht und wollüstigen Exzessen weisen könnten. Die Pointe der Erzählung ist aber, dass die Pessimisten à la Rousseau recht behalten; die Vorhersage von der Zersetzung des Gemeinwesens durch die Begierden der Einzelnen tritt ein – sie ist Gegenstand des dritten Buches. Die Frage, wie die verderblichen Wirkungen des Luxus als Quelle aller Übel hätten unterbunden werden können, stellt sich also im Irrealis: »Sire, die Rede war von einer gewissen Policey, welche vonnöthen gewesen wäre, damit der Luxus, den die Sultanin Lili in Scheschian einführte, keinen sonderlichen Schaden thun könnte« (73 [Hervorh. im Original]). Danischmend beantwortet die Frage, indem er die berühmte Episode von den ›Kindern der Natur‹ erzählt: Einer utopischen Gesellschaft, die im Einklang mit der Natur ein Leben in glücklicher Selbstbeschränkung führt. Dies ist offensichtlich ein Gegenbild, aber keine in der empirischen Realität anwendbare Lösung für die Problemkonstellation, um die es geht. Im Kontext der Luxusdebatte, die den Roman grundiert, erfüllt sie aber mehr als nur die Funktion einer ironischen Verabschiedung der Utopie:22 Sie lenkt den Blick auf das Erzählen von Utopie – auf den konkreten Akt des Erzählens, der im Gegensatz zu seinem Gegenstand als zeitenthobene Praxis dem ›Luxusproblem‹ entgegengesetzt werden kann. Dies soll im folgenden Abschnitt näher erläutert werden. III. Luxus und Gattungsproblematik in der ›Talutopie‹

In dieser bekanntesten Episode des Romans verschlägt es einen Emir, der vom ›Gift‹ des ›Luxus‹ derart geschädigt ist, dass er zum Genuss – kulinarisch wie sexuell – unfähig ist, in ein idyllisches Tal, das von den sogenannten ›Kindern der Natur‹ bewohnt wird. Dieses Volk führt nach den Sittenlehren des weisen Psammis ein in jeder Hinsicht maßvolles und glückliches Dasein. Es handelt sich um »ein kleines Jean-Jacques Rousseau: Faut-il aller vivre dans les bois? Lettre de J.-J. Rousseau à M. Philopolis, Paris 2012, 7–105. 20 An anderer Stelle werden die jeweils extremen Ausprägungen dieser Art von Philosophie als »zwo Gattungen« von »Moralischen Giftmischer[n]« bestimmt; nämlich einerseits diejenige, die, »wenn sie« im Hinblick auf ihre Potenz »den Maulwürfen und Meerschweinchen keinen Vorzug eingestehen müßten«, »das höchste Gut gefunden zu haben glaubten« – Materialisten also – und die »gravitätischen Zwitter von Schwärmerei und Heuchelei«, also die religiösen Eiferer (79 [Hervorh. im Original]). 21 In An Psyche (1744) heißt es dezidiert, »der Menschenstand« habe entgegen der Annahme dieser beiden »seinen Werth« (OA XI/1, 518). 22 Vgl. Fohrmann: Utopie, Reflexion, Erzählung [Anm. 13].

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Völkchen von vier oder fünf Hundert Familien, welche […] sich gute Tage machen, gut essen und trinken, sich von schönen Mädchen in den Schlaf singen lassen, und bey allem die unschuldigsten und glücklichsten Leute von der Welt sind« (ebd.). Damit wird aber kein außerhalb der Geschichte liegendes ›goldenes Zeitalter‹ als Kontrast zur Gegenwart etabliert. Die Talutopie ist vielmehr eine – mit Schillers Begriff – ›sentimentalische‹ Rekonstruktion: Der Weise Psammis, Begründer und spiritus rector der geschilderten Gemeinschaft, entstammte einer kulturell fortgeschrittenen Gesellschaft und versah die ›Kinder der Natur‹ mit einem strengen Reglement, das sie zu ihrem eigenen Besten unwissend und glücklich erhält; das natürliche Glück wird durch höchst künstliche Maßnahmen am Leben erhalten. So wird etwa die schulische Ausbildung beschränkt, die Grundlage einer Weiterentwicklung der Gesellschaft ist: Der »Unterricht« dauert vom achten bis zum zwölften Lebensjahr und umfasst so viel, wie die Kinder »vonnöthen haben, um als Mitglieder unserer Gesellschaft glücklich zu seyn. Wenn sie richtig genug empfinden und denken, um unsre Verfassung für die beste aller möglichen zu halten, so sind sie gelehrt genug« (64). Eine bevölkerungspolitische Maßnahme verhindert schließlich das Auf kommen weiterer Potentiale sozialer Dynamiken. Psammis verordnete […], von Zeit zu Zeit eine Prüfung mit unsern Jünglingen vorzunehmen, und diejenigen, an denen sich ungewöhnliche Fähigkeiten, ein unruhiger Geist, eine Anlage zu Ruhmbegierde, oder auch nur ein bloßes Verlangen die Welt zu sehen, äußern würde, von uns zu thun, und jenseits der Gebürge in irgend eine Hauptstadt von Ägypten, Syrien, Yemen oder Persien zu schicken, wo sie leicht Gelegenheit finden würden, ihre Talente zu entwickeln und ihr Glück zu machen, wie man bey diesen Völkern zu reden pflegt. (ebd.)

Die Entstehung von Ungleichheit unter den Menschen wird also durch Exilierung verhindert; das richtige Maß als Grundlage des guten Lebens ist nicht mehr naturgegeben, sondern Erfahrungswert.23 Wer durch überdurchschnittliche Fähigkeiten oder Interessen Neuerungen – Innovationen – innerhalb der Gesellschaft etablieren und damit eine Spirale der Begehrlichkeiten in Gang setzen könnte, muss gehen. Wie viele Jünglinge betroffen sind, wird nicht gesagt; aus einer späteren Bemerkung, dass die verbleibende Bevölkerung zu drei Vierteln aus Frauen besteht, lässt sich aber schließen, dass es sich immerhin um die Hälfte der männlichen ›Kinder der Natur‹ handelt. Wenn der Natur also ein Telos des glücklichen Lebens zugeschrieben wird, dann kann unter den Bedingungen der Gesellschaft nur die Hälfte der (männlichen) Bevölkerung dessen teilhaftig werden, und auch dies nur in intellektueller wie materieller Selbstbeschränkung.24 Regelmäßiger brain drain und Reflexion über zur Geschichte des Maßes Ralf Konersmann: Welt ohne Maß, Frankfurt a. M. 2021. Darlegungen, die der Emir aus dem Mund eines Ältesten erhält, klingen allerdings etwas gelehrter, als dies nach fünf Jahren Schulunterricht (bei welchen Lehrern?) möglich scheint; ähnliches gilt schon für die philosophischen Positionen, die vorher in der Epoche der 23 Vgl.

24 Die



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den Verzicht auf Reflexion als Quelle allen Glücks – diese paradoxale erzählerische Konstruktion weist die Geschichte deutlich als gedankliches Modell aus, zudem als ein gedankliches Modell, das seinem Inhalt widersprechend in einer höchst selbstreflexiven Textkonstellation dargeboten wird. Die Talutopie ist als Antwort auf die Frage nach der richtigen Luxus-Polizei eingeführt worden; sie antwortet aber nicht direkt auf diese Frage. Denn die darin vorgestellte ›Polizei‹ ist nur als Gedankenexperiment tauglich, selbstwidersprüchlich und zumal (wie Danischmend dem Sultan umstandslos zugibt) in einem größeren Volk unmöglich umzusetzen, in dem »Freyheit und allgemeine Sicherheit unverträgliche Dinge« seien und »Leidenschaften vonnöthen« (74), um den Staat am Leben zu erhalten. Als einigermaßen selbstständiger Textabschnitt in den Roman eingefügt, weist sie die traditionellen Merkmale einer Utopie auf, vergleichbar dem Boetica-­ Abschnitt in Fénelons Télémaque: Es wird von einer geographisch relativ abgeschlossenen, idealen Gesellschaft erzählt, wobei der Fokus des Erzählens auf dem Beschreiben der (statischen, geschichtslosen) Ordnung des sozialen und politischen Lebens liegt. Traditionsgemäß ist diese Ordnung auch nicht als auf die empirische Wirklichkeit übertragbar und umsetzbar gedacht; sie scheitert vielmehr schon an dem Ausgangsproblem, auf das sie antworten soll, nämlich eben der anthropologisch bedingten, durch Luxus in Gang gesetzten Tendenz menschlicher Gesellschaften zu historischer Entwicklung. Die Talutopie ist auf die Nivellierung von Unterschieden, von Potentialen der Ungleichheit aus, um ein friedliches Zusammenleben eben ohne Anpassung der »Lebensordnung« gemäß der jeweiligen kulturellen »Staffel« (41) zu ermöglichen – mit einer Formulierung aus Wielands Roman Sokratés mainomenos oder die Dialogen des Diogenes von Sinope (1770) geht es darum, die »unendliche[] Mannichfaltigkeit« der Menschen mit ihren »dreyeckichten, viereckichten, runden und eyförmigen Köpfen« zu normalisieren (OA IX/1, 104). Staatliche Organisation, die sich an einem normativen Konzept des Individuums orientiert, ist aber in der empirischen Wirklichkeit nicht umsetzbar. Jürgen Fohrmann hat dies anhand der Talutopie aus dem Goldnen Spiegel als zentrales Para­ dox von Raumutopien ausgemacht: Ordnung einerseits sei mit einem modernen Subjektbegriff unvereinbar, Entwicklung andererseits entziehe sich der literarischen Darstellbarkeit im Rahmen der traditionellen Utopie. Diesen Widerspruch von Bedürfnissen der Einzelnen, die »Motoren des Geschichtsprozesses« seien,25 und dem statischen System habe Wieland erkannt. Er antworte auf der Ebene der Darstellung mit Ironie, mit der ›Verabschiedung‹ der Idee der Utopie 26: »Wieland behauptet, daß die Utopie nicht von Dauer sein könne, da normatives Konzept (Idee der Menschheit) und empirische Faktizität (Mannigfaltigkeit der Menschen/ ›schönen Lili‹ zur Sprache kommen – unter den dort geschilderten Zuständen könnte es die Philosophen gar nicht geben, die die zitierten Positionen äußern. 25 Fohrmann: Utopie, Reflexion, Erzählung [Anm. 13], 39. 26 Ebd., 43. Zur Anthropologie als Element der Utopie, aber ohne Fokus auf Luxus vgl. Matthias Löwe: Idealstaat und Anthropologie – Problemgeschichte der literarischen Utopie im späten 18. Jahrhundert, Berlin/Boston 2012.

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Dominanzen innerhalb des psychischen Apparates) nicht kongruent sind«. Denn genau aus diesen ›Dominanzen innerhalb des psychischen Apparates‹, die Wieland als »ungewöhnliche Fähigkeiten«, »unruhige[n] Geist«, »Ruhmbegierde« und »Verlangen die Welt zu sehen« (64) bezeichnet hatte, entsteht Luxus und aus Luxus soziale Ungleichheit, die nach jeweils neuen ›Policeyen‹ verlangt, um der sozialen ›Staffel‹ gerecht zu werden. Damit wird Gesellschaft aber historisch und kann in einem literarischen Paradigma wie dem der Utopie, das Historizität nicht vorsieht, nicht dargestellt werden. Ist die Episode also »[leeres] Bild einer doch immer noch erhofften Utopie« 27 oder hat sie, wie Scattola schreibt, lediglich die Funktion eines poetischen Korrektivs, das Missstände realer Gesellschaften stärker hervortreten lassen kann? Letzteres auf jeden Fall nicht durch ihre vermeintliche historische Bedeutung; sie ist eine selbstwidersprüchliche Rekonstruktion ex post und eben nicht »die erste Stufe der menschlichen Geschichte«.28 Gerade diese Konstellation lenkt den Blick überdeutlich auf den Vorgang des Erzählens – einerseits durch die paradoxalen Konstruktionen, die auf den fiktionalen Status des Erzählten verweisen, andererseits durch dessen Rahmung. Die Einrichtung des Staates wird als Gesprächsbericht eines Ältesten aus der Gemeinde der ›Kinder der Natur‹ mit einem Emir wiedergegeben, der am Ende als religiöser Eiferer zugrunde geht (vgl. 67; s. dazu Kap. IV.). Und SchahGebal, der Rezipient der Rahmenhandlung, schläft über eben derselben Erzählung ein (vgl. 63). An die Stelle einer ›systematischen‹ Lösung, einer ›Policey‹, rückt die Reflexion über die Praktik des Erzählens von dieser Lösung in den Fokus – wie Christine Weder herausgearbeitet hat, wird die Regulierung der Begehren im Goldnen Spiegel eine Sache staatsdichterischer Intervention.29 Politische Programme (wie die Utopie) haben einen historisch begrenzten Geltungsanspruch, sie müssen immer der jeweiligen Gegenwart angepasst werden; von ihnen zu erzählen ist hingegen unbegrenzt wiederholbar und führt im besten Fall zu einer Verbesserung des Staatswesens, und zwar über die Erziehung des Fürsten. IV. Regieren und Erzählen als ethische Praktiken

Nicht umsonst schreibt Wieland also in der eingangs zitierten Selbstrezension nicht, dass der Prinzenerzieher »die wichtigen Kapitel der Staatskunst« selbst erlernen soll, sondern dass er lernen soll, sie »aus allgemeinen Spekulationen in praktische Wahrheiten [zu] verwandeln« (327). Der hier am Rande erwähnte Begriff des Praktischen verweist darauf, dass zu den ›Kapiteln der Staatskunst‹ zwar ›spekulative‹, das heißt abstrakte Positionen bestehen, die aber nicht allein zum Besten des Staates führen. Sie müssen vielmehr in handlungsorientierte Wahrheiten umgesetzt werden. Die Utopie, Reflexion, Erzählung [Anm. 13], 46. Politisches Wissen und literarische Form [Anm. 4], 105. 29 Vgl. Weder: Poesie als / statt Polizei [Anm. 6]. 27 Fohrmann: 28 Scattola:



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Bedeutung des Praktischen hebt bereits das Motto der ersten beiden Bücher hervor: »Rex eris si recte facies« – »König wirst du sein, wenn du richtig handelst« (1). Ethische (recte) Praktiken sind also Bedingung des König-Seins; der ›Gehalt‹ des recte bleibt dabei aber implizit, er ist nicht als ausformuliertes Wissen etwa in Form systematischer Abhandlungen verfügbar, sondern nur aus der Interpretation der jeweiligen Handlung abzulesen. Eine solche interpretatorische Leistung verlangen nun das dritte und vierte Buch den lesenden Herrschern und Erziehern ab; diese Forderung impliziert das von Hesiod stammende Motto des dritten Buches: »Νῦν δ’ αἶνον βασιλεῦσιν ἐρέω φρονέουσι καὶ αὐτοῖς« (161) (»Jetzt erzähl ich ein Gleichnis den [Herrschern: P. W.], die selber es einsehen«).30 Der Inhalt des Gleichnisses ist die Rettung des Reiches Scheschian durch einen perfekten Herrscher. Es wird also davon erzählt, wie ein richtig erzogener Fürst positiv auf den Staat einzuwirken vermag, es werden aber auch die Rolle des Erzählens und des Verstehens des Erzählten als Bedingung der Formung dieses Fürsten thematisiert. Deshalb sind auch die hier geschilderten Vorgehensweisen des Herrschers, etwa die Gestaltung der Verfassung oder die Einrichtung staatlicher Institutionen, keine direkten Handlungsanweisungen. Ihre Lektüre verlangt vielmehr die intellektuelle Mitarbeit (›die selber es einsehen‹) dessen, dem sie erzählt werden, um ihn zu einem Herrscher zu erziehen, der auf gleiche – aber nicht identische – Weise ›recht‹ zu handeln vermag. Zunächst zum Inhalt des Gleichnisses, das davon handelt, wie der zum ethisch perfekten Menschen erzogene Herrscher den Problemen des Luxus begegnen kann. Die übelgekämmten, milzsüchtigen Pessimisten behalten also recht: Durch die Politik der ›schönen Lili‹ gerät Scheschian in nur wenigen Jahren an den Rand des Ruins. Mit fortschreitender, unregulierter Kultur gehen alle nützlichen Künste zugrunde, das Volk wird durch Hunger zum Betreiben der nicht nützlichen Künste angehalten und der Staat krankt am Überfluss: Der Luxus hatte die ganze Masse dieses unglücklichen Reiches mit einem so würksamen Gift angesteckt, daß der Kopf und das Herz, der Geschmack und die Sitten, die Leiber und die Seelen seiner Einwohner, gleich ungesund, und (da das Übel seiner Natur nach langwierig ist) durch die Länge der Zeit so daran gewöhnt waren, daß dieser abscheuliche Zustand ihnen zur andern Natur geworden war. (203)

Die Lösung dieses Luxus-Problems, von der Danischmend seinem Schah erzählt, ist wenig originell:31 Tifan, legitimer Thronfolger des Reiches, wird von einem Philosophen namens Dschengis32 zunächst in Unkenntnis seiner Abstammung in einer idyllischen Kolonie erzogen, die der Talutopie sehr ähnlich ist, unternimmt 30 Zitiert nach Hesiod: Theogonie – Werke und Tage, hg. und übers. von Albert von Schirnding, Berlin 52012, 96 f. (»βασιλεύς« dort mit »Herren« übersetzt, 97). 31 Der ›Plot‹ vom verkommenen und dann durch einen Prinzen und seinen Mentor reformierten Reich findet sich schon im Télémaque; dort heißt das Reich Salentum. 32 Natürlich handelt es sich bei der Konstellation der Binnenerzählung (Dschengis – Tifan) um eine Spiegelung der Konstellation der Rahmenerzählung (Danischmend – Schah Gebal); ebenso evident ist die Verbindung zu Wielands Karriere, der sich mit dem Roman möglicher-

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mit dem Erzieher eine Bildungsreise, wird zur idealen Herrscherpersönlichkeit, rettet das Reich aus den Tiefen des Bürgerkriegs und wird schließlich qua Geburt und qua Akklamation durch das Volk zum König erhoben; durch das Vorbild seiner Persönlichkeit, aber auch durch seine und Dschengis’ Gesetzgebung wird das Reich zum »Gipfel der Nationalglückseligkeit« (269) geführt. Es ist dies dezidiert kein Verdienst der Nation, wie es noch in der ›Talutopie‹ teilweise der Fall gewesen war (»Die Scheschianer waren weder lenksamer noch besser als irgendein anderes Volk in der Welt«; 265 f.), sondern verdankt sich der weisen Gesetzgebung und vor allem der Handlungen und Vorbildfunktion des Prinzen, die beide wiederum von seiner Erziehung abhängen. Mit Blick auf diese beiden Aspekte kann das Erziehungsprogramm des allegorischen Prinzen weiter profiliert werden. Denn was Wieland hier lanciert, ließe sich als Erzähl-Praktik beschreiben, die zur souveränen Selbst-Technik anleitet.33 Den ersten Aspekt, also die Gesetzgebung betreffend beugt Tifan den verderblichen Wirkungen des Luxus vor allem durch Einsetzung einer Ständegesellschaft, die Stärkung der Provinzen gegenüber der Hauptstadt und die Vermehrung der Bevölkerung vor – ein mehr oder weniger physiokratisches Programm.34 Aber auch diese Einrichtung des Staates unterliegt dem dynamischen Prozess des historischen Wandels, sie lässt sich durch ein statisches Recht nicht auf Dauer stellen; so unverzichtbar gute Gesetze auch sind, die notwendige Regulation der Gesellschaft entsteht durch das Eingreifen des Herrschers, das als ethisches Handeln dargestellt wird. Tifans Regierungshandlungen waren »der Würksamkeit Gottes ähnlich, welche ohne Geräusch und unsichtbar uns mit den Würkungen überrascht, ohne daß wir die Kräfte, wodurch sie hervorgebracht wurden, gewahr werden« (260). Durch »stille Größe«, Ethos also, nicht durch Pathos führt er sein Reich 35 – er ist keiner der »Helden und Eroberer, unter deren Größe die Welt gleichsam eingesunken ist« (ebd. [Hervorh. im Original]). Dem entspricht auch seine Lebensweise, die ebenso wie die Handlungen selbst entscheidend für das Gemeinwohl ist: Der Hof müsse ein leuchtendes Beispiel »einförmige[r] […] Lebensart« abgeben, dem die Stände in absteigender Reihe sich anschlössen, damit »das Volk desto weniger der Gefahr ausgesetzt« sei, »den Geist seines Standes und den Geschmack an der Einfalt seiner eigenen Lebensart zu verlieren« (287). Die Geschichte des Prinzen liest sich als die genaue Umkehrung der Episode der ›schönen Lili‹, die ja durch ihr Vorbild zu Luweise als Erzieher Josephs II. von Österreich qualifizieren wollte und den Posten des Prinzen­ erziehers dann in Weimar übernahm. 33 Vgl. zu diesem Begriff Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit II, übers. von Ulrich Rauff und Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1989. 34 Vgl. dazu ausführlich Scattola: Politisches Wissen und literarische Form [Anm. 4] und Fischer: Lusso e vallata felice [Anm. 3]. 35 ›Ethos‹ hier im Sinne der Rhetorik verstanden als durch die Rede hervorgerufener »ver­ trauenswürdige[r] Charakter des Redners«, dem ›mittleren‹ rhetorischen Stil zugeordnetes Überzeugungsmittel im Gegensatz zum Pathos, der Erregung der Leidenschaften des Zuhörers und dem ›hohen‹ Stil zugehörig (Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik – Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart 42008, 193).



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xuskonsum animiert hatte (vgl. 266, vgl. auch 273). Herrschaft ist in diesem Sinne profiliert als Praxis, die von der ethischen Perfektion des Herrschers abhängt; die ethische Lebensweise selbst wird so zur Regierungspraxis. Ihre Voraussetzung ist ein »Grad von Tugend, der selten das Loos eines Sterblichen ist«, nur eine vollständige Freiheit von »Schwachheit« und »Laster« (266) ermöglichen sie. Weisheit und Selbstbeherrschung des Herrschers werden also zur Voraussetzung des funktionierenden Staatswesens erklärt:36 »Der Natur hatte er ein Herz zu danken, das im Wohlthun und in der Freundschaft sein höchstes Vergnügen fand, und seiner Erziehung den unschätzbaren Vortheil, wenig Bedürfnisse zu haben« (ebd.), und »er war zu sehr Meister von sich selbst, um sich durch den Schein einnehmen zu lassen« (267). Die eigentliche Ordnung, die Tifan und Dschengis dem Staat durch Verfassung und Institutionen geben, ist also auch hier nur von historisch begrenzter Bedeutung (und geht nach Tifans Tod auch bald wieder unter); sie setzt ein überzeitliches – aus der griechischen Antike stammendes – Ideal des Herrschers, der zuerst sich selbst beherrscht, voraus.37 Doch auch dieses Ideal wird im Goldnen Spiegel nicht einfach ›vorgestellt‹, sondern mit relativierenden Aspekten inhaltlicher Natur und Kommentaren im Haupt- und Peritext versehen,38 die nach Deutung verlangen. Schon die Erziehung Tifans in der Binnenerzählung ist mit höchstem Aufwand verbunden: Dschengis hatte ihn nur unter Aufopferung seines eigenen Sohnes retten können, und die zu Erziehungszwecken eigens gegründete Kolonie formte er aus von ihm gekauften und freigelassenen Sklavinnen und Sklaven. Nur indem Tifan innerhalb dieses anspruchslosen Völkchens erzogen wird, erwächst ihm der ›unschätzbare Vortheil‹ der Bedürfnislosigkeit; nur, indem sein Charakter unter den bereits in der ›Talutopie‹ als paradox dargestellten Bedingungen der Geselligkeit und gleichzeitigen Freiheit von Luxus geformt wird, wird er selbst zu einer Lebensführung fähig, die als Regierungspraxis den schädlichen Folgen des Luxus entgegenzuwirken vermag. Und während Tifans Erziehung dank glücklicher Umstände ein Erfolg ist, misslingt die Belehrung in der Rahmenerzählung; im Gegensatz zu 36 Eine zweite Möglichkeit ist die Unwissenheit als Voraussetzung der Zufriedenheit, die in der ahistorischen Talutopie durch eine Beschränkung des Schulunterrichts erreicht wird. Im historischen Scheschian ist ›Unwissenheit für alle‹ nicht möglich, denn die Einsicht in die Notwendigkeit der Unwissenheit ist erst von einer fortgeschrittenen Stufe der Geschichte, aus dem Standpunkt des Wissens heraus möglich. Sie kann also nur nachträglich, eben als ›sentimentalische Setzung‹, einem Teil der Untertanen zugedacht werden – in Scheschian den Bauern: »Ihre Unwissenheit selbst ist für sie ein Gut« (315; vgl. auch 220), »gegen die Folgen des Luxus« sei schon »viel« erreicht, »wenn wir fünf Millionen von Sechsen vor der Ansteckung verwahrt haben« (78). Die Unwissenheit der einfachen Bevölkerung setzt aber wiederum einen weisen Herrscher voraus, der diese nicht missbraucht. 37 Die antike Provenienz des Gedankens der Selbstbeherrschung des Herrschers auch in Wielands Texten der 1770er Jahre wird im Diogenes deutlich. 38 Der Goldne Spiegel wird als Übersetzung der Übersetzung eines chinesischen Textes ausgegeben und ist von kommentierenden und ironisierenden Fußnoten der jeweiligen Bearbeitungsinstanzen durchsetzt.

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den von ihm erfundenen reüssierenden Philosophen Psammis und Dschengis scheitert Danischmend selbst an dem Versuch, seinen Schah zu bessern.39 Die Relativierung beschränkt sich aber nicht auf die Darstellung der mit dem Erziehungsvorgang verbundenen Schwierigkeiten. Es wird vom Text auch die Frage aufgeworfen, ob denn ein weiser Herrscher überhaupt etwas am Weltenlauf ändern würde. Denn auch wenn ein »Epictet«, ein stoischer Philosoph also, inkarniert als Antoninus oder Thomas Morus, auf den Thron gelange oder Kanzler werde, so lehre die Erfahrung, daß […] die Sachen in der Welt gleichwohl nicht merklich besser gehen als unter den gewöhnlichen Imperatorn und Groß-Kanzlern: zum offenbaren Beweise, daß eine gewisse Fatalität, welche aller menschlichen Weisheit zu stark ist, die Umstände und mitwürkenden Ursachen so fein zu verbinden weiß, daß die Weisheit der besagten Epiktete immer, oder doch meistens […] wenige Schritte von dem Ziele matt und unwirksam zu Boden sinkt. (300 [Hervorh. im Original])

Auf der ersten diegetischen Ebene bleibt ›Fatalität‹ das letzte Wort – und auch in der Selbstrezension ist abschließend die Rede davon, dass die Leser*innen »[m]ehr traurig als vergnügt […] von dieser Lektüre zurückkommen über die Schwierigkeiten der Regierungskunst« (328).40 Das Berichten von den ›Schwierigkeiten‹ gehört zum Erziehungskonzept des Romans, der eine Fülle an misslungenen Erziehungs- oder Besserungsvorgängen darstellt. Es ist schon erwähnt worden, dass der Emir nach seinem Aufenthalt bei den Kindern der Natur in Verzweiflung verfällt, da ihm der Kontrast des glücklichen Lebens nach natürlichen Maßgaben mit seiner eigenen verdorbenen Lebensführung bewusst wird. Am Ende verkehrt sich seine fehlgeleitete Sinnlichkeit ins andere Extrem und er wird zum religiösen Eiferer, der das Wesen des Schöpfers, der den Menschen der Sinnlichkeit aussetzt, »als einen grämischen Dämon« auffasst (67 [Hervorh. im Original]).41 Weitere Beispiele solcher missratenen Lebensweisen sind die beiden Sultane, die der schönen Lili nachfolgen und das Reich in den Ruin führen. So wird Lilis Sohn Azor von einem »schönen Geist« erzogen, »der nichts vergaß um seinen Witz zu schärfen und seinen Geschmack zu verfeinern«, ihm aber keinen Begriff von herrscherlichen Pflichten vermittelte (85 [Hervorh. im 39 Die Reaktion des Schahs auf moralisierende Passagen wird wiederholt für ironische Effekte genutzt, ob er nun Danischmend Nieswurz verordnet (235) oder einschläft (etwa 62 oder 223). 40 Dies ist nicht die einzige ›wirkungsästhetische‹ Äußerung. In einer längeren Anrede des »Herausgeber[s] an den Leser« zu Beginn des dritten Buchs schreibt Wieland seinem eigenen Werk eine recht simple poetologische Konzeption zu: Nicht durch den Vortrag »[a]llgemeine[r] Theorien«, sondern durch »Inductionen«, also Darstellung konkreter »Beyspiele«, wolle er »unterrichten und bessern«; diese »Bilder« sollen »auf unser Herz würken, und uns für die Tugend Liebe und Hochachtung, für die Schwachheiten der Menschheit Mitleiden, für verdienstlose Große Verachtung und für boshafte Übelthäter Abscheu« einflößen (163–168). Die Passage wird der Komplexität der Erzählkonstruktion nicht ganz gerecht; ihr Fokus liegt auch eher darauf, das Werk gegen den Vorwurf abzusichern, Satire der gegenwärtigen Verhältnisse zu sein. 41 Eine ähnliche Gegenüberstellung ist diejenige der ›schönen Lili‹ und der milzsüchtigen Lustfeinde; s. Kap. II. sowie auch das Beispiel in Anm. 20.



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Original]). Auf den bloß schwachen König Azor folgt der Tyrann Isfandiar, dem sein Erzieher zwar »in wohlgedrehten Perioden oder durch rührend ausgemahlte Beyspiele[] Gerechtigkeit und Wohlthätigkeit als die höchsten Tugenden eines Fürsten« geschildert, sie aber als Verdienste und nicht als Pflichten dargestellt hatte; so glaubt der Fürst, »die Ausübung dieser Tugenden hange bloß von seiner Willkühr ab« (171 [Hervorh. im Original]). Noch schlimmer ist sein Geschichtslehrer, dessen »Amt […] das feinste sittliche Gefühl« und die »scharfsinnigste Urtheilskraft« (172) verlangt, um zu einer angemessenen »Beurtheilung der Handlungen« (173) zu gelangen. Diese kritische Fähigkeit mangelt dem Erzieher: »Jeder Eroberer hieß ihm ein Held, jeder freygebige Fürst großmüthig, jeder schwache Fürst gut« (174). Die gefährlichen Neigungen des Fürsten zur Willkürherrschaft sind eine direkte Folge »der verkehrten Weise, wie ihm die Geschichte beygebracht wurde« (175). Die ›Geschichte der Könige von Scheschian‹ wird folglich auf eine andere Art und Weise dargestellt. Indem die Utopie und die Geschichte vom tugendhaften Tifan nicht einfach erzählt werden, sondern in der Erzählung auch ihre Begrenztheit reflektiert wird, fordern sie die Urteilskraft der Leser*innen heraus. Realgeschichtliche Wirksamkeit der Fiktion als Mittel der Erziehung des Fürsten wird von Wieland also keineswegs ausgeschlossen; die Erzählung »beteiligt« sich vielmehr »am Geschäft der Regulierung und Disziplinierung«,42 und zwar gerade nicht durch eindeutige, vereinnahmende Botschaften oder Systeme ›von oben‹, sondern durch Polyphonie, Ambiguität und Komplexität.43 Ihre Wirksamkeit als Korrektiv des Charakters, als Medium der Erziehung und als Mittel der Überzeugung entfalten die utopischen Passagen des Romans – die Episode von den ›Kindern der Natur‹ und von Tifan – gerade dadurch, dass sie nicht als optimistisches Programm präsentiert werden. Sie sollen wirken, aber nicht, indem sie tel quel umgesetzt werden, sondern indem sie etwa die Frage herausfordern, wie Verbesserungen hätten herbeigeführt werden können. Danischmend formuliert diesen Anspruch der Fiktion in einer etwas kryptischen, für die Poetik des Romans aber wesentlichen Replik auf ästhetische Zweifel seitens Schah Gebals, dem die Figur des Tifan etwas zu märchenhaft vorgekommen war: »Tifan ist kein Geschöpfe der Phantasie; es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er keines sey. Entweder ist er schon gewesen, oder, wenn er (wie ich denke) nicht unter den Itztlebenden ist, wird er ganz gewiß künftig einmal seyn« (252 [Hervorh. im Original]; vgl. ähnlich auch 235). Vor dem Hintergrund seines Erziehungsmodells wird der Roman hier zur selbsterfüllenden Prophezeiung: Von Tifan muss erzählt werden, damit es ihn künftig einmal geben kann. Aber eben nicht auf eine den Herrscher einseitig vereinnahmende oder ihn zu falschen Vorstellungen verleitende Weise, durch die Fiktion zu etwas würde, das die Rezipierenden beherrscht; sondern suggestiv, indem unmögliche Dinge erzählt werden, die zur Reflexion über das Mögliche anregen.

Poesie als / statt Polizei [Anm. 6], 229. ebd., 229 f.

42 Weder: 43 Vgl.

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Tifans Maximen selbst lässt sich Shah Gebal mit goldenen Lettern in ein Buch schreiben, das anschließend in die Kunstkammer gelegt und dort vergessen wird (vgl. 270), und ein in vergoldetes Leder gebundener Entwurf Danischmends zur Versöhnung von Vernunft und Religion bleibt ungelesen (310). Diese luxuriösen Buchprojekte sind ebenso verloren wie der »Telemach«, an dem »bald die Vergoldung mehr wert als der Spiegel« war (327); für die Leser*innen des Goldnen Spiegels dagegen ist die Geschichte von Tifan gerade deshalb nicht verloren, weil die Maximen und Entwürfe fehlen und weil die guten Herrscher und wohleingerichteten Reiche, von denen berichtet wird, voller Selbstwidersprüche und Paradoxien sind. Die Geschichte der Könige wird so zum Gegenstand der Schulung der Urteilskraft. Der Goldne Spiegel selbst führt also vor, wie nicht durch konkrete Anleitungen, sondern durch deren Relativierung in der Fiktion auf ethisch verantwortungsvolle (und bestenfalls real wirksame) Weise ›allgemeine Spekulationen‹ in ›praktische Wahrheiten‹ zu verwandeln sind.

Romanpraktiken Blanckenburgs Versuch über den Roman Marius Reisener

I. Einleitung

Als der Bischof Pierre Daniel Huet 1670 mit seinem Traité de l’Origine des ­Romans eine avancierte Poetik des Romans vorlegt und damit den Startpunkt einer enga­ gierten frühneuzeitlichen Auseinandersetzung mit der neuen Literaturgattung ­m arkiert, beginnt auch ein Prozess, dem Roman darüber zu eigenen Würden zu verhelfen, dass sein praxis-Vermögen aufgewertet wird. Gemeint ist, dass es sich zwar bei der seit den ersten Systematisierungsbemühungen dieser Art verbreiteten Annahme, der Roman habe einen Hang zu Handlung, um einen Gemeinplatz handelt. Indem sich der Roman aber die Konzeption ›seiner‹ Darstellungsweisen vom Drama leiht,1 ist damit zugleich das Problem der Anschaulichkeit verbunden, das diese neue Gattung nicht ohne Weiteres lösen kann. Das weiß auch Friedrich von Blanckenburg, der in seinem 1774 erschienenen Versuch über den Roman festhält 2: »Im Roman besonders kann nie die Illusion so weit gehen, (wie auf dem Theater vielleicht) daß wir das wirklich sehen, was uns der Dichter vorhält«.3 Was die Handlung (histoire/fabula) des Romans von nun an anschaulich machen wird, sind innere Handlungen der Helden, deren Darstellung dem Roman Form geben. Diese inneren Handlungen, die (kontraintuitiv zur Gattungsvorlage des Dramas) gerade nicht zu äußeren Handlungen führen, sollen dann gleichsam anschaulich und damit zu solchen Erzählelementen werden, die der Darstellung Plausibilität verleihen. Dass mit einem solchen Handlungsverständnis zugleich die Tatsache verbunden ist, dass sich der Roman nicht mehr durch Poetiken erfassen lässt, ist Ausgangspunkt der andauernden Auseinandersetzungen um den Roman, dessen Form und ethischen Potenziale Der Umstand, dass die neue Gattung ihre Form stets neu hervorbringt, trägt wesentlich dazu bei, dass auch der Vorgang der Gattungskonstitution nie abgeschlossen ist.4 Denn Gattungszugehörigkeit ist »keine Eigenschaft, sondern 1 Vgl. Yulia Mevissen: Für sich selbst sprechen – Die ›dramatischen Romane‹ des 18. Jahrhunderts, Heidelberg 2020. 2 Friedrich Freiherr von Blanckenburg: Versuch über den Roman – Faksimiledruck der Originalausgabe von 1774 – Mit einem Nachwort von Eberhard Lämmert, Stuttgart 1965 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle BV mit Seitenzahl in Klammern], 27. 3 Für Begriffe wird in diesem Aufsatz das generische Maskulinum verwendet, insofern Blanckenburg dezidiert männliche Autoren und Leser adressiert hat. Akteur*innen im historischen Kontext werden gegendert. 4 Vgl. Rüdiger Zymner: Zur Gattungstheorie des ›Handbuches‹, zur Theorie der Gattungstheorie und zum »Handbuch Gattungstheorie« – Eine Einführung, in: Handbuch Gattungstheorie, hg. von Rüdiger Zymner, Stuttgart/Weimar 2010, 1–5, hier 4.

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ein Akt, und als solcher Teil von – diesen Akt übersteigenden – historischen Prozessen und Handlungszusammenhängen«.5 Gerade im Fall des bisher unregulierten Roman-Genres wird seit Beginn der Auseinandersetzungen die Aufmerksamkeit auf den Aufwand gelenkt, der mit seiner Genese verbunden ist. Romantheorien seit der Neuzeit wissen, dass sie ihren Gegenstand ›machen‹ müssen und dass dieses ›Machen‹ zugleich ein dynamischer Prozess ist. Anders gewendet: Weil sie keine Poetiken sind, können Romantheorien ihre Gegenstände nie gesichert fertigstellen; weil sie Theorien sind, müssen sie fortlaufend an der Gattung arbeiten. Mit Romantheo­ rien geht es also um ihre Praktiken – mit weitreichenden Konsequenzen: Da es sich gerade nicht mehr um Poetiken handelt, die sui generis ihren Gegenstand deskriptiv und somit präskriptiv festschreiben,6 sind Gattungspoetiken und später Romantheorien darauf angewiesen, ihre Praktiken an sich selbst zu begründen. Anders ausgedrückt geht es Blanckenburg darum, den Roman als Gattung zu konzipieren, die nicht das Objekt einer poiesis, sondern nur das einer Praktik (praxis) sein kann. Statt von Romantheorien ließe sich besser von Romanpraktiken sprechen. Zugleich werden die gattungspoetologischen Überlegungen von einer dem Handlungs-Imperativ vermeintlich diametral gegenüberstehenden Tendenz zur Innerlichkeit flankiert: »Gefühle und Handlungen des Menschen [sind] der eigentliche Innhalt der Romane,« (BV, 19) heißt es eingangs im Versuch. Blanckenburgs Programmtext muss als qualitativer Sprung innerhalb der europäischen Gattungstheoriegeschichte verstanden werden. Denn zwar heißt es bereits in der Poetik des Aristoteles, dass der Gegenstand dichterischer Nachahmung »handelnde Menschen« sind;7 gemeint sind damit aber – so differenziert stellt es sich dann wiederum zu Zeiten Blanckenburgs dar – recht eigentlich Taten des Bürgers. Blanckenburg sieht den Hauptunterschied zwischen Epos und Roman darin, dass »das Heldengedicht [das Epos: M.R.] öffentliche Thaten und Begebenheiten, das ist, Handlungen des Bürgers […] besingt«; der Roman hingegen beschäftigt sich »mit den Handlungen und Empfindungen des Menschen« (BV, 20). Der Begriff des Bürgers spielt auf das vorherrschende nationale und soziale Bewusstsein in der Antike an, in dessen Zentrum der Bewohner [sic] einer polis steht, wohingegen der Begriff des Menschen den isolierten Zustand neuzeitlichen Daseins zu fassen bemüht ist.8 Der Bürger des griechischen Epos ist immer schon vollendet gewesen, der moderne Mensch muss sich über sein Handeln erst noch und immer wieder begründen, genau wie diejenige Gattung, die diesen Prozess vor Augen führt. Ob allerdings Epos oder Roman, ob Taten oder Handlungen – wenn es darum geht, Werner Michler: Kulturen der Gattung – Poetik im Kontext 1750–1950, Göttingen 2015, 49. Eva Geulen: Form-of-Life, Forma-di-vita – Distinction in Agamben, in: Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, hg. von Eva Horn, Bettine Menke und Christoph Menke, München 2006, 363–374, hier 365. 7 Aristoteles: Poetik, übers. u. erl. v. Arbogast Schmitt, in: ders.: Werke in deutscher Übersetzung V, hg. von Hellmut Flashar, Berlin 1991, 4 [Kap. 2, 1448a1]. 8 Vgl. Robert Ellis Dye: Friedrich von Blanckenburg’s Theory of the Novel, in: Monatshefte 60/2 (1968), 113–140, hier 120 f. 5

6 Vgl.



Romanpraktiken185

für epische Gattungen konstitutive Handlungen zu bestimmen, öffnet sich in Blanckenburgs Versuch gerade kein Nexus zu Praktiken: Taten sowie Handlungen sind zielgerichtet; Praktiken im Sinne von alltäglichen Handlungsroutinen spielen darin, wie Blanckenburg das Personal seines Idealromans skizziert, keine Rolle. Praxeologische Interessen lassen sich mit dem Versuch dennoch verbinden. Denn um nun dem Roman im Spannungsfeld von ›Roman-Machen‹ und ›Roman-Formung‹ ein dynamisches Gepräge zu geben, bedarf es einer nicht auf inhaltlicher Ebene vorfindlichen, stets sich aktualisierenden Praktik, die das Verfahren permanenten und unabschließbaren Hervorbringens beider Gegenstände – Roman und Theorie – lizensieren soll. Die Anweisung des Versuchs liegt darin, dass alle am Romanprojekt beteiligten Akteure den Romanhandlungen auf Ebene der Rezeption sowie Produktion im Modus der spezifischen Praktik des Verhörs begegnen müssen.9 Mit dem Verhör geht es Blanckenburg um zweierlei: um das Gemacht-Werden des Romans als Gattung und darum, wie das Gemacht-Werden des Menschen in ihm zur Darstellung kommt. Denn mit dem Roman taucht eine neue Form seines Gemacht-Werdens – seine Metaphysik – auf, ohne das der Roman gar nicht mehr auskommt.10 Dass die neue Gattung des Romans in ihren Theorien Ergebnis von Praktiken ist, muss daher zur Verfahrensweise der Theoriebildung erhoben werden. Das Verhör lässt den Roman zu einem Ort besonderer Selbsttechniken werden, die Autoren, Protagonisten und Leser gleichermaßen betrifft. Auf diese Weise wird ein Dispositiv des identifikatorischen Nachvollzugs im Bereich der Gattungspoetiken installiert,11 das wesentlich – so das Ziel der Untersuchung – zur Produktion eines gegenderten Subjekts beiträgt. Ich möchte daher drei auf den ersten Blick nicht unmittelbar zusammenhängende Praktiken untersuchen, die sich im Versuch über den Roman kreuzen und in der Zusammenschau die Romantheorien bestimmt. In einem ersten Schritt möchte ich zunächst grundlegend klären, inwiefern das Verfassen von Gattungstheorien als Praktik begriffen werden kann, welche Spezifika sich insbesondere mit dem Machen der Gattung des Romans verbinden und inwiefern der Versuch selbst darum weiß. Zweitens geht es mir darum, den subjektpolitischen Implikationen zu folgen, die sich dort ergeben, wo dem Roman und seiner Form eine bestimmte Biographie und entsprechend ein gewisser Typus Mensch zugrunde gelegt werden, die sich einer am Konzept der agency orientierten Selbstführung verpflichtet sieht.

9 Wohl erstmals wurde dieser Aspekt des Versuchs von Rüdiger Campe herausgearbeitet (vgl. Rüdiger Campe: Das Bild und die Folter – Robert Musils ›Törleß‹ und die Form des Romans, in: Weiterlesen – Literatur und Wissen – Festschrift für Marianne Schuller, hg. von Ulrike Bergermann und Elisabeth Strowick, Bielefeld 2007, 121–147). 10 Vgl. Malte Wessels: Metaphysik des Romans – Blanckenburgs zweiter Vorbericht und Thomas Abbt – Mit einer Transkription des Vorberichts zu einer geplanten Neuausgabe des »Versuchs über den Roman«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 39/1 (2015), 11–25, hier 19. 11 Vgl. Erich Kleinschmidt: Fiktion und Identifikation – Zur Ästhetik der Leserrolle im deutschen Roman zwischen 1750 und 1780, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 53 (1979), 49–73.

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Und drittens möchte ich die bei Blanckenburg prominent auftauchende und für sein Projekt so entscheidende Praktik des Verhörs untersuchen. II. Roman-Machen. Gattungspoetik

Obwohl Blanckenburg im Vorbericht seines Versuchs eingesteht, dass er »[n]icht einmal die Schrift des Huet, de l’origine des Romans«, gelesen habe, ob er »gleich sie habhaft werden zu können, gewünscht hätte« (BV, XI), ist er sich der Wichtigkeit einer ersten Systematisierung ungebundener Prosaformen bewusst. Es mögen wohl diese kleinen Widersprüche sein, die auszuhalten es Blanckenburg dann ermöglicht, eine »Art von Theorie für die Romane [zu] schreiben« (III). Eine vollumfängliche Erkundung dieser relativ neuen Gattung hält er zwar für notwendig, aber zugleich auch für kaum möglich – und dennoch geht es ihm damit um ein Unterfangen, für das er sich als qualifiziert erachtet. Dass es überhaupt zu dieser Schwierigkeit kommen kann, ist mitunter der performativen Leistung des Versuchs geschuldet, in dessen Vorbericht Blanckenburg den Roman im Handumdrehen zur Dichtungsart erhebt und ihn damit neben Epos, Drama und Lyrik in das Pantheon derjenigen Gattungen einreiht, die »Sitten« und »Geschmack« der »Menge« (VI f.) prägen können. Eine gattungstypologische Seinsgleichheit wird schon behauptet; dass der Roman aber noch eine Theorie (aber keine Poetik) braucht, wird bereits gespürt. Um nun sein Vorhaben, sich an der unterbestimmten Gattung des Romans theoretisch zu versuchen, mit Notwendigkeit zu versehen, lanciert Blanckenburg zunächst zwei Argumente, ein genealogisch-pädagogisches und ein strukturelles, die beide kurze Zeit später miteinander zur Deckung gebracht werden. Zum einen präludiert er seinen Versuch mit einem Epigramm Abraham Gotthelf Kästners: »Mit kühnen, treuen, frommen Rittern, / Verdarb sich der Geschmack von unsern guten Müttern; / Mit feinerm Witz, empfindungsvollen Scherzen, / Verdirbt man unsrer Töchter Herzen« (BV, V). Dieses pädagogische Argument bekommt seinen Drall durch das genealogische Moment, das sich nicht nur über das Tempus sowie die in der Kontiguität angezeigte Transformation der ›Mütter‹ in ›Töchter‹ ergibt. Denn auch ein Handlungsappell wird an gegenwärtige Autoren gerichtet, wenn in dem Parallelismus des dritten Verses das Reflexivpronomen des ersten Verses ›sich‹ ausgespart wird und damit die Interventionsmöglichkeiten in Bezug auf gegenwärtige Zustände gegen die Machtlosigkeit in Bezug auf Vergangenes stark gemacht werden: Die Mütter sind verloren, die Töchter aber können noch gerettet werden. Zum anderen führt Blanckenburg ein inhaltlich-strukturelles Argument an, wenn er die Verkürzung des Romans auf Liebes- und Abenteuergeschichten polemisch zusammenfasst:12

12 In diesem Vorbericht seines Versuchs führt Blanckenburg die Rezension Abraham Gotthelf Kästners zu Heinrich Anselm von Ziegler und Kliphausens Roman Die Asiatische Banise (1689)



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Was läßt sich von einer Schrift erwarten, ›in welcher gewöhnlich die Heldin ein Frauenzimmer ist, das der Verfasser durch allerhand Gef ährlichkeiten zu Wasser und Lande herum führt, tausend Versuchungen, zuweilen gar gewaltthätigen Unternehmungen, aussetzt, und am Ende durch diese oder jene Peripetie krönt? Das Mädchen muß Schiff bruch leiden, um zur Sclavin gemacht zu werden; ihre Tugend wird auf die Probe gesetzt, entweder von einem Bassa oder Thersander, oder einem jungen Liebesritter in Paris, London, oder wo es ist. – Die Romanen aller Nationen scheinen dies mit einander gemein zu haben: – daß Männer ihre Zeit, ihre Ruhe, ihre höhere Bestimmung, zuweilen ihre Gesundheit, oder so gar das Leben dem anderen Geschlecht aufopfern‹ – was, sag ich, läßt sich von solch einer Schrift, charakterisirt durch einen Romanschreiber selbst, wenigstens durch einen Romanübersetzer, für die Bildung des guten Geschmacks, für die Ausbreitung guter Sitten erwarten? (BV, V f.)

Nicht nur der Inhalt, sondern auch die Produktion bisheriger und kommender Romane wird mithilfe solcher Aufopferungspraktiken beschrieben, die Blanckenburg als spezifisch männlich gelten. Damit ist zugleich der Bereich der Gattungsklassifizierung umfasst, wie er sie betreibt bzw. zu betreiben für notwendig erklärt hat. Die Beliebigkeit, Häufung und Wiederholbarkeit der Struktureigenschaften (›allerhand‹, ›tausend‹, ›diese oder jene‹, ›oder‹, ›oder‹, ›oder wo es ist‹) gepaart mit der übermäßigen Exotik der Erzählelemente (›Schiff bruch‹, ›Sclavin‹, die Namen ›Bassa oder Thersander‹13) sollen den thematisch-topischen Schematismus von Romanen vor Augen führen, durch den sich die prototypischen Exemplare der Gattung bisher ausgezeichnet haben. Auch fehlen die geschlechtlichen Implikationen nicht, sodass die Lektüre der pejorativen ›Mädchen‹ in Opposition zu den Produkten der gereiften Männer und ihrer ›höheren Bestimmung‹ steht. Auf Basis dieser beiden eröffnenden Argument, dem genealogischen sowie dem strukturellen, wird das Romanschreiben von Blanckenburg zu einer Praktik aufgewertet, die fortdauernd betrieben werden muss (weshalb sie gerade keiner Poe­ tik mehr gehorchen kann) und welcher der männliche Initiationsritus als Muster zugrunde gelegt wird. Die Produkte aber dieses repetitiven und gleichzeitig unabschließbaren Vorgangs, das verdeutlicht die anschließende rhetorische Frage, genügen kaum den Maßgaben moralischer Erziehung. So ist die Ausgangslage zur Umwertung des Romans, in der sich Blanckenburg befindet, eine denkbar ungünstige. Sein Erkundungsversuch beginnt da, wo ein solcher Ritus als Strukturvorlage erkennbar und das heißt analogisierbar schon geworden ist. Damit (so lässt sich der lakonische Nachsatz lesen, der nach dem Bildungszweck des Romans fragt) hat der Ritus eigentlich bereits ausgedient. Doch belässt es Blanckenburg nicht dabei, den Grund zum ›Machen‹ der Gattung im Modus der Analogiebildung in solchen an, der stellvertretend für diejenigen Texte ist, die zu Zeiten Blanckenburgs unter der Gattungsbezeichnung ›Roman‹ firmieren. 13 »Bassa« ist die ehemals fränkische Bezeichnung für einen türkischen Pascha; ein »Thersander« ist eine Figur der griechischen Mythologie.

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Abläufen, die gegendert sind, zu suchen und zu finden. Das lässt sich an Praktiken anderen Zuschnitts beobachten, die im Versuch gebraucht werden, um die Erzählanlage der Romane Blanckenburg’schen Profils zu konfigurieren. III. Roman-Formung. Handlung vs. Praktik

Trotz der Orientierung am Drama zeichnen sich Blanckenburgs Romanpraktiken bemerkenswerterweise gerade dadurch aus, auf Ebene der Charakterisierung seines Personals zwar Handlungen, aber keine Praktiken zum Gattungskonstituens zu erklären. Denn unter Handlungen lassen sich zielgerichtet Abläufe mit intendiertem Effekt beschreiben; sie sind rational motiviert und zweckorientiert. Praktiken folgen dagegen einem nur impliziten, nicht-propositionalen, körperlichen usw. Wissen; sie sind zu begreifen als »routinisierte Aktivitäten eines menschlichen Subjekts«.14 Die frappante Abwesenheit jedweder dem Roman und seiner Theorie Anschauung gebenden Praktiken, die etwa das Romanpersonal auszuführen hätte, ist mehr als auffällig; es scheint geradezu, als ob Blanckenburg alles unternehmen würde, um die Operationalisierbarkeit von Praktiken für die Theorie unterschlagen zu wollen.15 Letztlich ist mit dieser Pointe des Blanckenburg’schen Modells aber genau die Voraussetzung für dessen praxeologische Potential verbunden. Eine Erkundung des impliziten Handlungs-Imperativs des Romans ist deshalb aufschlussreich. Weil Blanckenburg den Roman neben Drama, Epos und Lyrik stellen will, nimmt er zur Beurteilung des neuen Genres auf traditionelle Regelpoetiken und deren Bewertungskategorien Bezug. Eine positive Wertung der pädagogischen Qualitäten der Form sind die erklärten Ziele von Blanckenburgs Versuch, in dem er die Gattung des Romans geschlechtlich codiert. Dem unterlegt sind Blanckenburgs Überlegungen zu der Leitdifferenz ›Frau‹ (= Unterhaltung/Freude/Dummheit) vs. ›Mann‹ (= Erziehung/Nutzen/Intelligenz):16 »Ich gesteh’ es sehr aufrichtig, daß ich glaube, ein Roman könne zu seinem sehr angenehmen, und sehr lehrreichen Zeitvertreibe gemacht werden; und nicht etwan für müssiges Frauenzimmer, sondern auch für den denkenden Kopf« (BV, VII).17 Blanckenburg modifiziert hierbei das 14 Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken – Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301, hier 292. 15 Entgegen eben derjenigen Tendenzen, von denen die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beredt Zeugnis ablegen. 16 Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch – Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910, Frankfurt a. M. 1970, bes. 36–39; auch Albrecht Koschorke: Geschlechterpolitik und Zeichenökonomie – Zur Geschichte der deutschen Klassik vor ihrer Entstehung, in: Kanon Macht Kultur – Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildung, hg. von Renate von Heydebrand, Stuttgart/Weimar 1998, 581–599, bes. 593 und pass. 17 Immer wieder zieht Blanckenburg Wielands Agathon und Fieldings Tom Jones exemplarisch heran (vgl. BV, VII u. IX). Diese Formulierung kann zudem als Anspielung auf sein Vorbild Lessing gelesen werden (vgl. Bruno Hillebrand: Theorie des Romans – Erzählstrategien der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1996, 118).



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Horazische prodesse et delectare18: »Weil der Roman unterhält, vermag er lehrreich zu sein.« Durch dieses recht simple Manöver, diese »poetologische Rehabili[ti]erung des Romans für den denkenden Kopf«,19 gelingt Blanckenburg jedoch Beachtliches: Indem er die Relata vertauscht, kann er den Fokus der Lehrhaftigkeit des Romans in dessen Form verlagern und ihn zugleich vor einer Abwertung bewahren. Denn er geht davon aus, »daß der Dichter auf eine andre Art füglich Lehrer seyn könne, als indem er unsre denkende Kraft und Empfindungsvermögen durch die Kunst in der Anordnung und Ausbildung seines Werks beschäftigt« (BV, 253). Mit der Formulierung von der Ausbildung des Werkes beschreibt Blanckenburg bereits ein wesentliches Charakteristikum desjenigen Paradigmas der Form, das um 1800 prominent auftreten wird und das sich mit David E. Wellbery als endogenes beschreiben ließe.20 Es geht um eine Form, die ihr Sich-Herausbilden als Formung veranschaulicht und die gegenüber einem eidetischen Formenverständnis privilegiert wird, bei dem sich ganz im platonischen Sinne die Idee in der Form abdrückt. Damit ist für Blanckenburg ein entscheidendes Differenzkriterium zu anderen Gattungen im Allgemeinen und zu den Vorformen des epischen Erzählens im Besonderen verbunden, so dass sich an den gattungspoetologischen auch die epistemologischen Qualitäten des Versuchs ablesen lassen. Hierzu zwei Aspekte: Erstens will Blanckenburg den Roman so weit aufwerten, dass er gleichberechtigt neben der antiken Gattungstrias rangiert; diejenige seiner Qualität, die Form als Formung bestimmt, sondert den Roman zugleich von Epos, Drama und Lyrik ab. Indem Blanckenburg auf das Nebeneinander der Gattungen besteht, behauptet er gleichzeitig ihr Nacheinander. Dies ist einer der Gründe, warum der Versuch – in Zusammenschau mit Blanckenburgs Werther-Rezension (s. u.) – als Übergangstext zu modernen Gattungstheorien taxiert wird, in dem »sich Fragestellungen an[kündigen], die ein neues Kapitel in der Geschichte der deutschen Romantheorie eröffnen«.21 Zur Sache der Formung wird die Form deshalb, weil sie an der vita des Protagonisten und dessen Darstellung Maß nehmen muss. Es geht darum – so paradox es zunächst klingen man –, dass der Autor sein auskonzipiertes Personal »in einem gewissen, schon fertigen Zustande« (BV, 398) und zugleich werdend anschaulich zu machen habe. »Die Person muß schon geschaffen, muß schon da seyn; ihr Entstehn, ihr Werden muß sich nicht von ihm [dem Autor: M. R.] herschreiben, wenn er in diesem Falle sich nicht immer noch jenen Vorwurf, umsonst geschaffen 18 Nikolas Immer: Friedrich von Blanckenburg und der Roman der Spätaufklärung, in: Aufklärung – Epoche – Autoren – Werke, hg. von Michael Hofmann und Arnd Beise, Darmstadt 2013, 170–190, hier 182 [Hervorh. im Original]. 19 Jutta Heinz: Wissen vom Menschen und Erzählen vom Einzelfall – Untersuchungen zum anthropologischen Roman der Spätaufklärung, Berlin/New York 1996, 136. 20 Vgl. David E. Wellbery: Form und Idee – Skizze eines Begriffsfeldes um 1800, in: Morphologie und Moderne – Goethes ›anschauliches Denken‹ in den Geistes- und Kulturwissenschaften seit 1800, hg. von Jonas Maatsch, Berlin/Boston 2014, 17–42, bes. 19. 21 Wilhelm Voßkamp: Romantheorie in Deutschland – Von Martin Opitz bis Friedrich von Blan­ ckenburg, Stuttgart 1973, 202.

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zu haben, zuziehen will. — « (BV, 399 [Hervorh. im Original]). Das Werden des Protagonisten ist Blanckenburg bemüht zu plausibilisieren, indem es ihm dort um die Handlungen des Menschen geht, die der Roman im Gegensatz zu den Taten des epischen Helden darstellen soll. Handlungen aber sind weniger als aktive Betätigungen gedacht; vielmehr stößt Blanckenburg damit die Tendenz zur Verinner­ lichung im Rahmen moderner Erzählweisen an. »Das Innre der Personen ist es, das wir in Handlung, in Bewegung sehen wollen, wenn wir bewegt werden wollen« (BV, 58). Die inneren Beweggründe für die Handlungen sind ausschlaggebend dafür, dass der Roman im Sinne dramatischen Geschehens eine Illusion zu stiften in der Lage ist, sodass es dadurch zu einer Art eigentümlicher Selbstverwechslung kommen kann. Denn Innerlichkeit bezeichnet das, was im späten 18. Jahrhundert tugendhaft heißen wird; im Zuge des paneuropäischen Sensualismus spricht etwa D ­ enis Diderot in seiner Éloge de Richardson (1762) auch von der »agitation perpetuelle« 22 und bezeichnet damit die Selbsterfahrung der Ereignisse, die sich aus der identifikatorischen Lektüre ergibt: Das ›Innre der Person‹ – gemeint sind die Empfindungen – soll dynamisiert werden, damit es zur Handlung wird. Zweitens ist mit ›Innerlichkeit‹ aus diskursanalytischer Perspektive und das heißt vor dem Hintergrund der polar organisierten Geschlechterwelt ein vermeintlich weibliches Charakteristikum bezeichnet, dessen Semantik Implikationen sowohl für eine topographische (die Frau als Verwalterin des Heims, der Familie und der Privatsphäre) als auch eine psychologische (die Frau als ›Empfindliche‹, später dann ›Hysterische‹ etc.) Lesart bereithält. Blanckenburgs Konzeption des Protagonisten verlangt das Paradoxon eines nach der zeitgenössischen Lesart quasi-verweiblichten Heros.23 Gemeint ist ein sensibler, nicht »fühllos« agierender Romanheld (BV, 445), der dem Handlungsverlauf passiv-reflexiv gegenübersteht, der die Gegebenheiten eher erleidet und dessen Rolle somit die der verarbeitenden Instanz der Geschehnisse ist.24 Auf diese Weise sollen die schlecht beleumdeten, also die ›weiblichen‹ Eigenschaften in solche umgewertet werden, die der Gattung zuträglich sind, also in ›männliche‹. Eine praxeologische Lektüre kann diesen Befund unter Einbezug von Blanckenburgs Werther-Rezension (1775) erweitern. In diesem Text, der etwa ein Jahr nach dem Versuch erscheint und gemeinhin als Addendum der Romantheorie gelesen wird, fokussiert der Autor die endgültige Aufwertung der Form. Er räumt darin zugleich das Stigma der Unwahrhaftigkeit vom Tisch – das der moralischen Verunklärung sowie der daraus resultierenden Unproduktivität und Zeitverschwen22 Denis Diderot: Éloge de Richardson – Auteur des Romans de Paméla, de Clarisse et de Grandisson, in: ders.: Œuvres complètes V, publ. par Jules Assézat und Mauricee Tourneux, Paris 1875, 212–227, hier 213. 23 Zu den geschlechtlichen Implikationen des Helden-Begriffs vgl. Bettina Plett: Problematische Naturen? – Held und Heroismus im realistischen Erzählen, München/Paderborn 2002, bes. 39 ff. 24 Vgl. Angelika Schlimmer: Der Roman als Erziehungsanstalt für Leser – Zur Affinität von Gattung und Geschlecht in Friedrich von Blanckenburgs Versuch über den Roman (1774), in: Das achtzehnte Jahrhundert 29/2 (2005), 209–222, hier 216.



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dung –, das den Roman noch immer begleitet.25 An diesem »außerordentlich rührenden Roman« expliziert Blanckenburg,26 inwiefern Form letztlich gegenüber dem moralisierenden Inhalt aufzuwerten ist, um die Form den ethischen Qualitäten von Literatur gleichzusetzen. Die Gattung muss nicht mehr die Funktion einer Morallehre erfüllen, da sie bereits aufgrund ihrer formalen Vollkommenheit im Prozess der moralischen Perfektibilisierung wirksam wird,27 indem sie das »Gefühl des Mitleids in uns zeugt, belebt, nähret«.28 Bei Blanckenburg verschmelzen in der Form Ästhetik und Ethik des Romans.29 Angesichts von Werthers Freitod nämlich bleibt Blanckenburg nichts anderes übrig, als die Form des Briefromans aufzuwerten, die deshalb Gestalt des Inneren des Protagonisten ist, weil der Autor ja gar keine andere Wahl habe, als diesen Vorgängen zu folgen 30: »Insofern hat also der Dichter, bloß als Dichter betrachtet, nur seiner Obliegenheit ein Genüge getan, und ein vollkommen dichterisches Ideal, das heißt, ein richtig ineinander gegründetes werdendes Ganze in dieser Geschichte geliefert.« Der Roman wird zur Registratur kausallogischen Erzählens, das an der Form sich kristallisiert. Letztlich sind es somit auf Inhaltsebene gar keine Praktiken mehr, durch deren Darstellung der Roman ethisch wertvoll werden kann. Das Praktische, heißt das anders formuliert, ist nur noch dann interessant, weil anschaulich, wenn es zur Innerlichen des Protagonisten transformiert wird, wie weitere Erläuterungen aus der Werther-Rezension zeigen 31: Und wie konnte der Dichter den Mann, der nichts war und sein sollte, als Gefühl, besser in Handlung setzen, das heißt, wann konnten alle seine Eigenschaften tätiger sein, und uns also anschauender dargelegt werden, als wann dieser Mann sein Herz reden und sich ergießen läßt?

Handlungs- und Bildungsdynamiken übersetzen sich für Blanckenburg dann in Evidenz, wenn sie als Weisen der Innerlichkeitsschilderungen fungieren. Für eine praxeologische Untersuchung folgt daraus einerseits, dass es Blanckenburg entgegen seiner Ausgangsbeobachtung nicht mehr um die Hervorbringung von Handlung geht, sondern dass diese Handlung schon vorgeformt ist. So gesehen ist die Differenzierung zwischen Taten des Bürgers und solchen des Menschen, wie sie im Vorbericht des Versuchs vorgenommen wird, tatsächlich eine qualitative und beschreibt keine Kontiguität. Andererseits verweist das an zentraler Stelle im Versuch monierte Immer: Friedrich von Blanckenburg [Anm. 18], 171. Freiherr Friedrich von Blanckenburg [zuerst anonym ersch.]: Die Leiden des jungen Werthers [Rezension], in: Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste XVIII, St. 1, Leip­ zig 1775, 46–95, hier 46. 27 Vgl. Martin Huber: Der Text als Bühne – Theatralisches Erzählen um 1800, Göttingen 2003, 96. 28 Zit. nach ebd. 29 Damit ist jüngeren Forschungspositionen zugearbeitet, die die behauptete Trennung von Ethik und Ästhetik in der Auf klärung anfechten. Vgl. etwa Julia Schöll: Interessiertes Wohlgefallen – Ethik und Ästhetik um 1800, München 2015, 12 f. 30 Blanckenburg: Werther [Anm. 26], 80 [Hervorh. im Original]. 31 Ebd., 67. 25 Vgl. 26

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Verfahren der Charakterisierung unter der Voraussetzung der inneren Handlung auch auf psychologische Vorgänge, die entscheidend für das Gelingen der Gattung sind. Gerade dieser Hang zur Innerlichkeit ist es, durch die der Roman von (dem späten) Blanckenburg seine ethische Wertigkeit zugesprochen bekommt und die anschaulich wird an der Form des Romans, die nur das abbildet, was als Stoff immer schon vorbereitet ist. Dieses neue Genre wird zum Ort der Subjektivierung par excellence: Sowohl Autor, Romanheld als auch Leser müssen durch permanente Reflexion ratifizieren, ob die vorgeformte Heldenvita mit den inneren Handlungen (also der Formung) im Einklang ist. Denn weil es nicht mehr der immer schon zur Individualität gelangte Held des Epos ist, der im Roman mit seinen Handlungen im Zentrum steht, sondern sich der Romanheld handelnd hervorbringt, könnte sich im Spannungsfeld zwischen Heldenvita und Formung eigentlich ein Möglichkeitsraum für agency eröffnen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Vielmehr wird der Roman mit Blanckenburg für alle drei genannten Akteure, so möchte ich im Folgenden argumentieren, eigentlich zum ethisch-ästhetischen Medium einer, so ließe sich in diskursanalytischem Vokabular sagen, spezifischer Selbstführung – doch dazu später mehr. Der Grund dafür liegt zunächst darin, dass die auf Darstellungsebene des Romans gerade abwesenden Handlungen durch eine andere kompensiert werden soll, die vor allem eine produktions- und rezeptionsästhetische ist. Denn wichtig ist Folgendes: Weil sich die vita des Romanhelden in Blanckenburgs Modell nicht erst herausbilden muss, mithin schon geformt ist, sodass die Narration nur dem Ausdruck der vorgeformten Heldenvita dient,32 ist damit ein Problem für praxeologische Untersuchungen markiert 33: Die Geschichte des Romans (die Erfindung seiner res) ist ›innere Geschichte‹, weil nicht die Handlungsweisen des Helden und die Geschehnisse um ihn der eigentliche Gegenstand des Romans sind, sondern die Wahrnehmungen, Empfindungen und Dispositionen der Personen, als deren Ausdruck die Geschehnisse erscheinen.

Wenn nicht gehandelt wird, wird eine Analyse der Handlungen, wie sie Blanckenburg vorschwebt, scheinbar überflüssig. Denn auch hier ist Blanckenburg der Paradoxie nicht abgeneigt: Gerade weil Handlung als res des Romans recht eigentlich suspendiert ist, bedarf es anderer, lebensweltlicher und nicht im Roman aktu­ alisierter Praktiken, um den Roman legitimer Weise zur literarischen Gattung zu erheben.

32 Vgl. Rüdiger Campe: Form und Leben in der Theorie des Romans, in: Vita aesthetica – Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, hg. von Armen Avanessian, Winfried Menninghaus und Jan Völker, Zürich/Berlin 2009, 193–211, hier 200. 33 Ebd.



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IV. Zeugen-Schaffen. Die Praktik des Verhörs

Bei der Theorie des Romans geht es seit dem Versuch um ein Projekt, das sich die Form des Romans herbeischreibt, indem es dessen Formlosigkeit durch andere Formen kompensiert. Im späten 18. Jahrhundert wird im Leben ein Modell für das schön Geformte gefunden, das auch für den Roman zum Vorbild wird.34 Indem es den ästhetischen Theorien der Zeit daran gelegen ist, ihre Gegenstände auf Ebene der eigenen Verfahrensweisen zu verdoppeln, ist auch mit dem Programm moderner Romantheorien der Anspruch verbunden, ihre Objekte – Form des Lebens und Form des Romans – nicht nur in den Theorien zusammenfallen zu lassen, sondern beiden auch zur lebendigen Anschauung zu verhelfen. Das Programm der evidentia, das zum Darstellungsmaßstab der Theorien wird, sodass bereits dort den Formen des Lebens und denen des Romans auf Theorieebene zu ihrem Recht verholfen wird – Präzedenzfall ist Friedrich Schlegels Wilhelm-Meister-Kritik (1798)35 –, wird bei Blanckenburg zumindest für die Darstellungsebene präferiert. Hier ist zwar noch nicht das Paradigma der endogenen Form um 1800 artikuliert, dennoch muss das bereits Geformte (Handlung) vor den Augen der Leser lebendig vergegenwärtigt werden. Dass von der fabula – Handlung im emphatischen Sinne – aber noch nicht gefordert wird, sie habe sich durch Handlungen lebendig hervorzubringen, ist der entscheidende Unterschied in der Konzeption des Romans zu Schlegel. Dass die Veranschaulichung des Geschehens für den Roman im Versuch entscheidend ist, ist die Konsequenz zweier Voraussetzungen, die Blanckenburg macht. Erstens liegt dem Roman inhaltlich die bereits geformte vita des Helden zugrunde. Das Ende eines Romans nämlich, so schreibt er, kann die Vollendung einer Begebenheit, so daß wir uns haben beruhigen können, oder die Vollendung eines Charakters seyn, so daß dieser im Lauf des Werks entstandene und ausgebildete Charakter jetzt so weit ist, als er der Absicht des Dichters zufolge seyn soll, und wir nun nichts mehr wissen dürfen, um uns zu befriedigen. (BV, 254)

Liegt dem Charakterentwurf die Absicht des Dichters zugrunde, ist mit Handlung nicht Herausbildung und Anschaulichkeit des Wesens des Helden gemeint, sondern Nachvollzug seiner Beweggründe. Und zweitens ist der »Romanmensch[]«36 – so 34 Vgl. Gottfried Willems: [Art.] Form/Struktur/Gattung, in: Fischer Lexikon Literatur I, hg. von Ulfert Ricklefs, Frankfurt a. M. 1996, 680–703, hier 682. 35 Schlegel verdoppelt dort die von ihm selbst an den Roman gestellten Evidenz-Kriterien auf zwei Ebenen: Einerseits geht es um die dynamische Verlebendigung durch narratio, sodass sich das Dargestellte in der Imagination des*der Lesers*in verlebendigt (energeia); und andererseits um die detaillierte und rhetorisch intensivierte descriptio (enargeia) – zu dem Begriffspaar vgl. Hans Jürgen Scheuer: Cerebrale Räume – Internalisierte Topographien in der Literatur und Kartographie des 12./13. Jahrhunderts (Hereford-Karte, ›Straßburg Alexander‹), in: Topographien der Literatur – DFG Symposion 2004, hg. von Hartmut Böhme, Stuttgart/Weimar 2005, 12–36, hier 13. 36 Georg Lukács: Die Theorie des Romans – Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik – Mit einem Vorwort von 1962, Berlin 1971, 60 [62]; der Hinweis dazu bei Rüdiger

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wird ihn etwa 150 Jahre später Georg Lukács nennen – im Gegensatz zur Fabelperson noch nicht ausgebildet. Wenn dort [in der Fabel: M. R.] das anschauende Beispiel nicht lehrreich werden konnte, weil man erst dem Beyspiele ähnlich seyn muss, wenn man es nachahmen will: so lassen sich hier [im Roman: M. R.] die Moralen nicht so bestimmt aus der Begebenheit folgern, wie sie es müssen, wenn sie richtig und leicht, und nützlich angewandt werden sollen. (BV, 366)

Durch seine Eigenschaft, Handlungen zu plausibilisieren, indem sie das Innere der Helden in Bewegung zeigt und damit auf das Innere des Lesers wirken, stiftet der Roman im Gegensatz zur Fabel ausdrücklich zum Nachvollzug seiner Handlungen an.37 Der Roman wird für den ›denkenden Kopf‹ nur brauchbar, weil er Bildung durch einen spezifischen Verarbeitungsmodus seiner Handlungen provoziert. Es geht um die Frage, wie der Inhalt wahrscheinlich sein kann, und die Antwort findet Blanckenburg in der Praktik des Verhörs. Im wirklichen Leben ist die bloße Erzehlung der sich zugetragenen Sachen so sehr selten genug, daß wir all’ Augenblick einmal die Frage: ›Wie ist das möglich? Wie hat sich das zutragen können?‹ hören, und selber thun. So gar, wenn wir Augenzeugen eines Vorfalls sind, worinn ein bekannter Mann nur nicht nach unsrer Einbildung verfährt: so ist diese Frage auf unsrer Zunge. (BV, 260 [Hervorh. im Original])

Weil schon im ›wirklichen Leben‹ unwahrscheinliche Vorfälle und Erzählungen sich Befragungen nach Art der Praktik »Zeugenverhör« (BV, 264) aussetzen müssen, um nachvollzogen werden zu können, trifft das auch auf den Roman zu. Dieser muss einer Befragung gleich zweifach standhalten, nämlich auf formaler und narrativer Ebene. Erfüllt der Roman die Ansprüche an sein Verhört-Werden auf beiden Ebenen, ist das zugleich die Voraussetzung dafür, dass er seinen Inhalt so darstellen kann, als ob er vor den Augen des Lesers geschieht. Nicht ideelles Nachvollziehen der Handlung, wie es die Lehrhaftigkeit der Fabel verlangt, sondern praktischer Nachvollzug durch Handlung (Verhör) ist die Form des Romans. Der Romanheld ist schon fertig gebildet; durch die anschauliche Darstellung dessen Gebildet-Worden-Seins, das sich dem ständigen Verhör aussetzen muss, wird nun wiederum der Leser gebildet, mithin geformt, der es noch nicht ist.38 Campe: Die Form der Person im Roman – Poetologie nach der Poetik mit Georg Lukács, Clemens L ­ ugowski und Käte Hamburger, in: Poetik – Historische Narrative und aktuelle Positionen, hg. von Armen Avanessian und Jan Niklas Howe, Berlin 2014, 165–195, hier 172. 37 Vgl. Karin Kukonnen: [Art.] Handlung und Handlungslogik – Frühe Neuzeit, in: Handbuch Historische Narratologie, hg. von Eva von Contzen und Stefan Tilg, Stuttgart 2019, 262–271, hier 267. 38 Gemeint ist die permanente Befragung der Person und ihrer Handlung im Roman aus den Zuschauerrängen des Lebens, wie es Rüdiger Campe formuliert: »Die Rhetorik des Verhörs und im Verhör, und sie allein, fasst in Worte, was und wie wir beobachten, wenn wir das Drama auf der Bühne verfolgen. Das Verhör als Tiefenstruktur der Rede im Roman erlegt dem Leben Form auf« (Campe: Das Bild und die Folter [Anm. 9], 143 f.).



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Die Deutungshoheit darüber, ob das Gebildet-Worden-Sein wahrscheinlich dargestellt ist, wird in letzter Instanz somit dem Rezipienten zugeschrieben. Das gelingt, indem Blanckenburg eine dem Drama wesentliche Eigenschaft in den Roman (und dessen Theorie) importiert. Denn dem Autor ist in Blanckenburgs Roman das »Vordociren« (BV, 253) untersagt, er tritt nicht als Komponente der Erzählung in Erscheinung. Jedoch verlebendigt er das Dargestellte in seinem Kommentar durch Mitleiden und Teilnahme; anstatt zu lehren, stiftet der Autor zur Ausbildung eines »Empfindungsvermögen[s]« an (ebd.). So schließe die Form des Romans dann gelungen ab, wenn »wir [die Leser: M. R.] uns haben beruhigen können« bzw. »wir nun nichts mehr wissen dürfen, um uns befriedigen zu können« (254). Mit dieser in die Leser ausgelagerten Deutungskompetenz ist zugleich eine Legitimierungsstrategie verbunden. Denn nur durch das Hinzuziehen der Leser, dem nun notwendigen tertium comparationis, stabilisiert sich Blanckenburgs Modell, dessen Effektivität elementar auf seine praktische Validierung angewiesen ist. Mehr noch, wird es zu einem der Reziprozität, insofern das Ziel des Romans auch die Bildung des Lesers ist, der wiederum über den gelungenen Abschluss qua Befriedigung befindet. Was der Romanheld als Brennpunkt der Erzählung virtuell verdoppelt – d. i. die Entwicklung der Handlung (als vita) und deren Reflexion –,39 wird im Gleichschritt von dem Leser wiederholt und damit ratifiziert. Insofern der Roman mit der Epoche der literarischen Frühromantik zu seiner eigenen Theorie wird, ist damit ein erster Schritt in diese Richtung unternommen: Blanckenburgs Versuch parallelisiert die Reflexion der Handlung und der Rezeption. Was sich an der inneren Handlung des Romanheld kristallisiert und was die Leser dieses Romans nachvollziehen, soll anwendbar sein auch auf den Versuch, der seinerseits dazu anstiften soll, das von Blanckenburg in Bezug auf den Roman Gesagte ebenso nachzuvollziehen und zu valideren, ja zu imitieren.40 Der Versuch dupliziert seine eigene Plausibilisierung: Er wird poetogen,41 sofern er diejenigen Dispositionen bereitstellt, derer es laut Blanckenburg zur Produktion von Romanen sowie der Gattung des Romans bedarf; zugleich setzt sein Text diese Forderungen um und lizensiert sie auf diese Weise. Ein solches das Romanprojekt umstellende Identifikations-Dispositiv, das alle beteiligten Akteure umfasst und das mit der frühromantischen Auffassung vom Leben als Roman seinen End- und zugleich Wendepunkt findet, ist nur möglich, eben weil Praktiken in den Poetiken und Theorien semantisch operationalisiert werden. Das geschieht nicht zuletzt deshalb, weil Erzählästhetik und praktisches Leseverhalten sich miteinander verschränken.42 Campe: Form und Leben [Anm. 32], 200. geht mithin um die »potentielle Autorenf ähigkeit des Lesers« (Kleinschmidt: Fiktion und Identifikation [Anm. 11], 56). 41 Rüdiger Zymner versteht darunter ontogenetische, biologische oder kognitive Disposition, auf denen Gattungen basieren (Rüdiger Zymner: ›Naturformen‹, ›Regeln der Seele‹? – Poetogene Dispositionen und literaturwissenschaftliche Gattungstheorie, in: Heuristiken der Literaturwissenschaft – Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, hg. von Uta Klein u. a., Paderborn 2006, 293–317). 42 Vgl. Kleinschmidt: Fiktion und Identifikation [Anm. 11], 63. 39 Vgl. 40 Es

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Entsprechend öffnet sich mit Blick auf die Schreibweise von Romanen und deren Theorien ein weiterer praxeologischer Horizont. So ist es nur diejenige (Theoretisierungs- und) Erzählinstanz, die sich, dem Redner in der antiken Rhetorik gleich, das Geschehen im Modus des durch Verhör provozierten Augenzeugenberichts vorstellen kann, die es auch glaubwürdig zu vermitteln in der Lage ist.43 Romanheld, Leser und Autor treffen sich im Bereich der gleichsam bis zur juristischen Belastbarkeit strapazierten Einfühlung in ihren Gegenstand. Mit dieser der Blanckenburg’schen Romanpraktik integrierten Augenzeugenschaft kommt den jeweiligen Zeugen eine Doppelrolle zu: Da es sich bei einem Zeugen sowohl um Medium als auch Person handelt, ist der Zeuge Träger (vermeintlich) objektiven Wissens und ethisch-politischer Akteur zugleich.44 Zeugenschaft hat in Hinblick auf seine Wissensgenese und die daran beteiligten Akteure eine doppelte Funktion. Denn verlangt wird eine die Handlung, die Lektüre und die Produktion des Romans bestimmende Neugierde (Objekt), die zugleich den Zeugen konstituiert (Subjekt). Was dann mit dem Begriff einer doppelläufigen curiositas bezeichnet werden könnte, lenkt den Blick vor dem Hintergrund seiner Ideengeschichte auf die geschlechterpolitischen Implikationen. Denn seit den frühneuzeitlichen Bemühungen, Wissen generieren und das heißt aus dem Gegenstand extrahieren zu wollen, ist diese Extraktion motivierungsbedürftig. Die Begründungsfigur einer solch missbräuchlichen Handhabung des Objekts – wenn etwa Natur zur bloß gefügigen Wissensspenderin degradiert wird –, das auch das Verhältnis von Betrachter und Objekt bestimmt, wird dort in der Naturalisierung des Geschlechterverhältnisses gesucht und gefunden. Wo das Sprechen-Machen der Natur als Paradegegenstand der Wissensgewinnung erst noch begründet werden musste – René Descartes und Francis Bacon sind die beiden Pioniere dieser neuzeitlichen Praktik –, konnten die Männer der neuen Wissenschaften im naturalisierten Geschlechterverhältnis eine für ihre Zwecke dankbare Strukturvorlage für solche Objektivierungen finden. Dominante Praktiken des Wissens- und Erkenntnisgewinns sind strukturell abhängig von der Dominanz der Männer über die Frauen und vice versa.45 Ihre Schatten wirft diese strukturelle Abhängigkeit bis auf die Auf klärung: Auch Blanckenburgs epistemologische Praktik des Verhörs ist nämlich männlich kodiert. Das Verhör wird damit Teil des Arsenals derjenigen Praktiken, die männliche Hege­monie sichern sollen, die ihre Herrschafts- und Unterdrückungstechniken verschleiert. So verwundert es kaum, dass die Zeugenschaft ihre Effekte

43 Vgl. Ansgar Kemmann: [Art.] Evidentia, Evidenz, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik III, hg. von Gregor Kalivoda et al., Berlin/Boston 2012, 33–47, hier 40. 44 Vgl. Sibylle Schmidt und Ramon Voges: Einleitung, in: Politik der Zeugenschaft – Zur Kritik einer Wissenspraxis, hg. von Sibylle Schmidt, Ramon Voges und Sybille Krämer, Bielefeld 2011, 7–20, hier 11. 45 Vgl. etwa Susan Bordo: The Cartesian Masculinization of Thought, in: Signs 11/3 (1986), 439–456; Evelyn Fox Keller: Reflections on Gender and Science, New Haven 1995.



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unter dem Firnis der Kunstlosigkeit verbirgt.46 Der eigentliche Einsatz zielt darauf ab, reine Evidenz zu erzeugen; mit ihrem tatsächlichen Einsatz ist hingegen ein machtpolitischer Schachzug verbunden: Im Pathos der Authentizität verbirgt sie ihre Strategie.47 Bei näherer Betrachtung ist das Zeugnis also weder inhaltlich noch (geschlechter-)politisch objektiv. Das So-Sein von Lebensläufen (Inhalt) wie von Befragungen (Verhör) wird behauptet, muss sich aber dem Verdacht stellen, ideologische Spuren ihres strategischen Einsatzes zu tragen, insofern Blanckenburgs Versuch als Anleitung zur Einübung dieser Produktions- und Rezeptionsweisen zu lesen ist: Die Theorie führt vor, wie das Verhör durchzuführen ist, sodass der Leser qua Identifikation sich darin selbst üben kann. Mit der Integration der VerhörsPraktik geht es vor diesem Hintergrund um nicht weniger als um die Funktionalisierung des Romans und seiner Theorien für Selbsttechniken. Der Sinn solch praktischer Übungen, wie sie das Verhör darstellt, besteht neben der Ausbildung immer auch darin, »sich selbst führen zu können«,48 erläutert Christoph Menke49: Ein Verständnis von Subjektivität das, wie übereinstimmend das disziplinäre und das ästhetisch-existenzielle, von der Praxis der Übung ausgeht, sieht darin ihre grundlegende Bestimmung: Subjektivität ist das praktische Selbstverhältnis des Sich-Führens, das seinen Ort im Etwas-Aufführen hat. Ein Subjekt zu sein und (in dem erläuterten Doppelsinn) etwas zu können ist daher dasselbe. Eine andere Formulierung dafür ist, daß Subjektivität Macht, nämlich Handlungsmacht oder -fähigkeit (agency) ist. Subjektsein heißt Machthaben – im genannten Doppelsinn: das Gut einer Tätigkeit oder Praxis erwirken zu können, weil man seine eigenen Bewegungen entsprechend zu führen vermag.

Wo es Menke mit Rekurs auf Michel Foucault mit dieser Konzeption um eine Ästhetik der Existenz geht, muss die ideologisierte, d. i. gegenderte Selbsttechnik bei Blanckenburg etwas anders gewertet werden. Die ethischen Praktiken seines Versuchs haben ein besonderes Profil, weil sie Teil einer Anleitung zu männlicher bzw. vermännlichter Selbstführung sind. Dieses Modell des von männlicher curiositas gesteuerten Verhörs hat weitreichende Konsequenzen, weil es sich um die Methode handelt, mit der dispositio und verba des Romans herausgefunden werden soll. Denn die leitende Frage bei Blanckenburg lautet 50: »[W]arum ist eine Handlung vielmehr so, als anders erfolgt?« Man könnte auch sagen: Weil das Verhör zwischen 46 So kategorisiert Aristoteles die Zeugenschaft als »kunstloses Überzeugungsmittel«; zit. nach Schmidt und Voges: Einleitung [Anm. 44], 13. 47 Vgl. ebd., 14. 48 Christoph Menke: Zweierlei Übung – Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz, in: Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption – Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, hg. von Axel Honneth und Martin Saar, Frankfurt a. M. 2003, 283–299, hier 286 [Hervorh. im Original]. Mit Bezug auf Harry Frankfurt setzt Menke im Übrigen Praxis und Handlung gleich (vgl. ebd., Anm. 6). 49 Ebd., 286. 50 Campe: Form und Leben [Anm. 32], 201.

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Stoff und Form, zwischen res und verba vermittelt, ist diese externe und vom Autor antizipierte Praktik dafür verantwortlich, dass der Roman ethisch-ästhetisch wird. V. Fazit

Blanckenburg wirft Probleme auf, welche die Debatten um die Prosagattung in den kommenden 150 Jahren prägen: Der Roman hat erstens Formlosigkeit zur Form und zweitens kennt er keine Vorformen, aus denen heraus er sich entwickeln kann.51 Gerade deshalb muss der Roman im Medium der Theorie ›gemacht‹ werden; der Versuch ist eine der ersten »Gattungs-Handlungen« in Bezug auf den Roman.52 Grundsätzlich sind Gattungsklassifikationen in diesem Sinne als Praktiken zu begreifen 53: Da allerdings Gattungen, Gattungssysteme und Gattungstheorien zwar einerseits erstaunliche Flexibilität, andererseits eine ebenso erstaunliche Trägheit zeigen und z. B. mit historischen Makroprozessen nicht oder nur lose reagieren, zeichnet sich ab, dass man es mit stabilisierten und habitualisierten […] Klassifikationen zu tun hat, kurz: mit Klassifikationen, die wie Bourdieus Habitus als konventionalisierte Handlungs- und Wahrnehmungsdispositionen einen ›Trägheits-Effekt‹ hervorrufen.

Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stützen sich Romantheorien auf fremde Tropen und Figuren, um ihren primären Gegenstand zu beschreiben, so dass sie in der Folge diese Mittel und ihre Herkünfte essenzialisieren. Trägheit ist dann nicht mehr nur Eigenschaft der Gattungsklassifikationen und -theorien, sondern auch ihrer Hilfstropen. Denn Theorien können sich nicht ohne Anschauung oder Konzep­ tionen von dem, worum es geht, bilden. Der Blick auf das Objekt am Horizont – gr.  θεωρία (theōria) – ist nicht denkbar ohne Bezug auf das sinnlich Wahrnehmbare  – gr. αἴσθησις (aísthēsis). Theorie und Ästhetik sind aneinandergebunden. Entsprechend gibt es, wie auch schon die antike Rhetorik wusste, keinen Text, keine überzeugende Rede und keine theoretische Diskussion ohne künstliche Gestaltung, ohne den gewollten oder ungewollten Einsatz von Stilmitteln, ohne eine τέχνη (technē), die den Bereich des Sinnlichen zugleich einbezieht und unterläuft. Dieser Kunstgriff erschöpft sich nicht in dem Zweck, das Schwächere zum Stärkeren zu machen. Vielmehr wird das Argument im Vollzug allererst hervorgebracht.54 Die Tropen, die Blanckenburg in seinem Versuch verwendet, um Romanpraktiken zu plausibilisieren, kommen aus dem Bereich vergeschlechtlichter Praktiken. Sofern beide, Tropen und Romanpraktiken, zueinander in einem Stabilisierungsverhältnis stehen, geht es um ihre wechselseitig potenzierte Trägheit. 51

Er kann nur alte heranziehen und sie in sich integrieren. Kulturen der Gattung [Anm. 5], 47. 53 Ebd. 54 Vgl. Dieter Mersch, Sylvia Sasse und Sandro Zanetti: Einleitung, in: Ästhetische Theorie, hg. von Dieter Mersch, Sylvia Sasse und Sandro Zanetti, Zürich/Berlin 2019, 7–20. 52 Michler:



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Mit diesen voneinander abhängigen Praktiken ist das Eingeständnis verbunden, dass im Bereich der Gattungsklassifikation generische Formen an ihr Ende gekommen sind.55 Das stimmt zum Teil. Denn da gerade die Gattung des Romans, so ließe sich abschließend festhalten, ohne Halt und Rückversicherung auf Vorformen auskommen muss, ja der Roman beinahe sinnlich abwesend und »nur indirekt durch seine Wirkungen erfassbar ist«,56 werden diese vergeschlechtlichten Praktiken und mit ihnen die Kategorie Geschlecht zum Substitut eines Urgrundes der Gattung. Die vermeintlich generische Form der Männlichkeit soll es nun sein, die den Roman generiert und vice versa. Weil sowohl Primär- als auch Sekundärobjekt (Roman und Männlichkeit) gleichzeitig und im Modus gegenseitiger Anhängigkeit hervorgebracht werden, hat Blanckenburgs Versuch selbst Anteil an den Praktiken hegemonialer Männlichkeit. Eine solche Männlichkeit, erklärt die Soziologin und Begründerin der critical masculinities Raewyn W. Connell 57: ist kein starr, über Zeit und Raum unveränderlicher Charakter. Es ist vielmehr jene Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt, eine Position allerdings, die jederzeit in Frage gestellt werden kann. […] Hegemoniale Männlichkeit kann man als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frau gewährleistet.

Da Literatur im ausgehenden 18. Jahrhundert ihren Ort unter den Künsten dadurch findet, dass sie ihre Autonomie als »Stätte des Schönen, und das wiederum heißt: als Form« unter Beweis stellt,58 kommen die Praktiken des Romans in den Blick. Denn seine Formung, so ließe sich zusammenfassen, ist nicht nur ein im genuinen Bereich des Schönen verbleibender Prozess, sondern Effekt und Ursache ethischer Praktiken. Form wird in die tendenziell formlose Gattung des Romans auf eine Weise induziert, dass die Form schließlich die Antwort auf die Frage geben soll, wie sich die Romanhandlung hat zutragen können: Blanckenburgs Versuch markiert den Beginn einer auf das (vergeschlechtlichte) moderne Subjekt gerichteten und angewiesenen Gattungspoetik. Durch diese Implementur wird der Roman, so ließe sich mit Foucault schließen, zum Instrument ethischer Selbsttechniken. Das bedeutet, dass alle am Romanprojekt beteiligten Texte – Romane wie Roman­theo­ rien – nun zur Grundversicherung dafür werden, dass die ethische »Verhandlung des Verhältnisses zwischen ›sollen‹ und ›sein‹« im Umgang mit diesen Texten vermittelt werden kann.59 Die Form des Romans als Ausdruck der medialen und soziaMichler: Kulturen der Gattung [Anm. 5], 44. Metaphysik des Romans [Anm. 10], 19. 57 Raewyn W. Connell: Der gemachte Mann – Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, ­O pladen 2000, 97 f. [Hervorhebung: M. R.]. 58 Willems: [Art.] Form/Struktur/Gattung [Anm. 34], 682. 59 Claudia Öhlschläger: Narration und Ethik – Vorbemerkung, in: Narration und Ethik, hg. von Claudia Öhlschläger, München 2009, 9–21, hier 11. 55 Vgl.

56 Wessels:

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len Umfassung seiner Inhalte (Verpackung, Container, Fassung, Milieu, Institution etc.)60 ist dann wesentlich Effekt des Umgangs mit ihr; ein Umgang, der dezidiert vergeschlechtlicht ist. Literatur im Allgemeinen und der Roman im Besonderen werden zu Austragungsorten und Resultaten ethischer Praktiken, und wie gezeigt werden konnte, von solchen, die Teil männlicher Hegemonie sind. Romanpraktiken sind seit Blanckenburg Männlichkeits-Praktik.

60 Das erläutert Friedrich Balke mit Bezug auf das mit Verpackung, Container, Fassung, Milieu, Institution betitelte Kapitel in Walter Seitters Monografie Physik der Medien (2001). Seitter bezieht sich dort wiederum auf Foucault, für den Denken auf Präsentierung und auf etwas, das es enthält, angewiesen ist (vgl. Friedrich Balke: Tychonta, Zusöße – Walter Seitters surrealistische Entgründung der Politik und ihrer Wissenschaft, in: Walter Seitter – Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, Weilerswist 2012, 269–295, hier 269, Anm. 1).

Praktiken der Höflichkeit Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen Stefan Matuschek

I. Einleitung

Friedrich Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) sind ein spannungsreicher Text, inhaltlich wie stilistisch. Sie vertreten die These, dass die Betrachtung der Natur- oder Kunstschönheit die individuelle Freiheitserfahrung der modernen Menschen sei, aus der allein die politische Freiheit in Form der Republik hervorgehen könne. Und sie entwickeln diese These in einer Sprache, die zwischen mechanisch schematisierender Dialektik und poetischem Enthusiasmus hin und her wechselt. Der Grundgedanke ist einfach. Er beruht auf der hergebrachten dualistischen Anthropologie. Der Mensch wird als Doppelwesen aus Sinnlichkeit und Intellekt verstanden, was Schiller als einen fortwährenden wechselseitigen Unterwerfungskampf interpretiert. Allein die Betrachtung der Schönheit, so Schiller weiter, lasse den Menschen seine sinnlich-intellektuelle Doppelnatur harmonisch erleben. Sie löse den Zwang, den der innere Dualismus in allen anderen Lebenslagen bedeute, und vermittle genau dadurch die Erfahrung von Freiheit. Diesen Gedanken übernimmt Schiller aus Kants Kritik der Urteilskraft (1790). Anders als Kant aber will er aus diesem individuell-inneren Erleben der Freiheit auch die Fähigkeit zur politischen Freiheit ableiten, und zwar exklusiv. Nur das individuellinnere Erleben der Freiheit im Angesicht der Schönheit befähige die Menschen, sich zu einer freien Gemeinschaft in Form der Republik zusammenzuschließen. Eine starke These, mit der Schiller den Umschlag der Französischen Revolution in Terror zu erklären versucht. Den Revolutionären sei diese individuelle Freiheits­ erfah­r ung verwehrt geblieben, so dass ihr gewaltsamer politischer Befreiungsversuch den alten nur durch neuen Zwang habe ersetzen können. ›Stark‹ ist diese These allein in ihrem Anspruch, nicht durch ihre Begründung. Die fällt nicht einmal schwach aus, sondern fehlt völlig. Schiller bietet nicht mehr als eine Analogie. Er denkt sich die staatliche nach dem Modell der individuellinneren Freiheit: Harmonie als wechselseitig belebendes Gleichgewicht der gegensätzlichen Kräfte. So wie sich Sinnlichkeit und Intellekt im menschlichen Individuum ausgleichen, so sollen es auch die Privat-, Partei- und Allgemeininteressen im Staat. Wenn dieser Ausgleich angesichts der Schönheit im Individuum gelinge, dann folge er auf staatlicher Ebene wie von selbst. Das ist keine nachvollziehbare Argumentation, sondern eben nur eine Analogie und ein frommer Wunsch. Politisch denkt und argumentiert Schiller dort, wo er die Missstände seiner Zeit und das Scheitern der Revolution reflektiert. Beachtlich ist etwa sein Urteil, dass der jakobinische Terror das Ancien Régime im Nachhinein legitimiert habe, da

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es – wenn auch als willkürliche Herrschaft – immerhin den Massenausbruch von Gewalt verhindert habe (»Seine [d. h. des alten Staats: S. M.] Auflösung enthält seine Rechtfertigung«1). Auch spricht er die Form des Staatsverfalls an, »wo die öffentliche Macht nur eine Partei mehr ist« ( VI, 26 [Hervorh. im Original]), anstatt im Sinne des Gemeinwohls zu handeln. Alle Kleptokratien und Diktaturen sind mit dieser nüchternen Formel gut getroffen. So beredt Schillers politische Krisendiagnose damit sein kann, so wortlos bleibt er im Blick auf die Lösungen. Beurteilt man die Ästhetische Erziehung nach ihrem selbstgesteckten Ziel, »sich mit dem vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen« (II, 11), dann muss man sie für gescheitert halten. Ihr Lösungsansatz erreicht die gesellschaftliche und auch die staatliche Wirklichkeit nicht, sondern bleibt in der transzendentalphilosophischen Modellierung der Gemüts- und Erkenntniskräfte stecken. Friedrich Schlegels Spott, Schiller habe »den Kant nicht verdaut« und leide deshalb in den ästhetischen Briefen »an Indigestion und Kolik«,2 ist frech, trifft aber etwas Wahres. Schillers Argumentation wendet den ›ästhetischen Zustand‹ als individuellen Freiheitsmoment um und gelangt auch mit den Anleihen bei Fichtes Trieblehre in der Trias ›Stoff-, Form- und Spieltrieb‹ zu keiner Brücke, die vom Bewusstseinsinnenraum in die politische Realität und die dort einschlägigen Begriffe ›Macht‹, ›Gesetz‹ und ›Recht‹ führte. Wie aber soll man ohne diese Begriffe vom »Bau einer wahren politischen Freiheit« (ebd.) sprechen? Doch auch wenn Schiller sein selbstgestecktes Ziel verfehlt, sind seine Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen wohl sein erfolgreichstes und nachhaltig wirksamstes Werk. Denn es hat zwei Vorstellungen in die Welt gebracht, die seitdem und bis heute in weitesten Kreisen geteilt werden: die Entfremdung der modernen Individuen und die Freiheitsverheißung der Kunst. Die Ästhetische Erziehung ist die Urschrift des dialektischen Moderneverständnisses und der Kunst- als Freiheitstheo­ rie. Schiller ist im deutschen Kontext der erste, der den Gewinn des arbeitsteiligen Fortschritts als Einschränkung und Entfremdung der Individuen bedenkt, und er ist ebenso der erste, der die Kunst zu einem Freiheitsversprechen macht, das diesen Schaden kompensieren könne. Man muss hier im Zusammenhang von Kunst und Freiheit die Worte ›Verheißung‹ und ›Versprechen‹ verwenden, denn mehr ist es tatsächlich nicht. Schiller bleibt vage. Doch, meine ich, macht gerade diese Vagheit die Wirkung seiner Ästhetischen Erziehung aus. Fragt man nach der ethischen Praxis, die man mit Schillers Ästhetischer Erziehung verbinden kann, gibt es zwei Antworten. Die eine handelt von der bis heute wirksamen Verheißung, die sie in die Welt gesetzt hat, die andere von den konkreten Prak1 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Kommentar von Stefan Matuschek, Frankfurt a. M. 2009 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Fließtext mit Brief- und Seitenzahl], hier V, 21. 2 Friedrich Schlegel: Friedrich an August Wilhelm Schlegel am 17. August 1795, in: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe XXIII, mit Einleitung und Kommentar hg. von Ernst Behler, Paderborn u. a. 1987, 248.



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tiken, die in ihr konzipiert und von ihr vollzogen werden. Ich will hier beide Antworten zu geben versuchen, wobei die erste viel bewegender ausfällt als die zweite. II. Ästhetische Erziehung als ethische Verheißung

Im Jahr 2017, also genau 222 Jahre nach ihrem Erscheinen, ist das Freiheits- und Glücksversprechen von Schillers Ästhetischer Erziehung so lebendig wie am ersten Tag. Im 21. Jahrhundert klingt es so3: Vielleicht ist die Zeit […] reif dazu, ohne Gewaltexzesse die Realisierung von Ideen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit anzustreben, in Formen von Spiel und Schein im Sinne Schillers, die belebend und bewegend auf eine Gegenwart einwirken, die in der zukunftslosen Bewältigung der aktuellen Probleme und Zwänge gefangen und verkrampft zu sein scheint.

Warum die Zeit gerade jetzt, nach gut zwei Jahrhunderten reif sein soll für Schillers Lösung und wie ›Spiel und Schein im Sinne Schillers‹ überhaupt gesellschaftlich und politisch wirksam werden sollen, lässt uns der Autor, der Philosoph Gerhard Stamer, nicht wissen. In der akademischen Schiller-Literatur, um die es sich hier handelt, ist das kein auffälliger Befund. In ihr wird Schillers Konzept immer wieder rekonstruiert und recht häufig auch für wertvoll erachtet, ohne dass es konkrete Überlegungen zur Umsetzung gäbe. Es kann nur in diesem besonderen Fall Gerhard Stamers verwundern, weil er einige Jahre der Vizepräsident der ›Internationalen Gesellschaft für Philosophische Praxis‹ war und 1994 unter dem Namen ›Reflex‹ in Hannover einen Verein zur lebensnahen Vermittlung der praktischen Philosophie gegründet hat, in dem er bis heute in leitender Position engagiert ist. Ein Philosoph, dessen Berufsethos sich auf Lebensnähe und Praxis ausrichtet und der ausdrücklich vom »Realitätsgehalt«4 von Schillers Ästhetik handeln will, ist frei von aller Skepsis, ob diese Ästhetik die politische Praxis überhaupt erreicht. Stamer macht Schillers Verheißung sogar noch expliziter als dieser selbst, wenn er das politische Ziel mit der Losung der Französischen Revolution formuliert. Schiller knüpft diesen Zusammenhang nur implizit. Nach 222 Jahren artikuliert sich das Freiheitsund Glücksversprechen der ästhetischen Erziehung noch ungehemmter als im Jahr 1795. Neue Argumente, dass sie es auch einlösen kann, gibt es dabei nicht. Gerhard Stamers Beitrag ist repräsentativ für die affirmative Rezeption der ästhetischen Briefe. Um wenigstens anzudeuten, in welcher langen und großen Tradition das kleine Zeugnis von 2017 steht, will ich nur zwei weitere, markante Zeugnisse nennen. Das eine ist das Buch Triebstruktur und Gesellschaft (1955), mit dem Herbert 3 Gerhard Stamer: Schillers »ästhetische Erziehung« – Gedanken zum Realitätsgehalt der Ästhetik, in: Bildungsphilosophie – Disziplin – Gegenstandsbereich – Politische Bedeutung, hg. von Michael Spieker und Krassimir Stojanov, Baden Baden 2017, 229–241, hier 239. 4 Laut Titel von Stamer: Schillers »ästhetische Erziehung« [Anm. 3].

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Marcuse seit Beginn der 1960er Jahre mehrere Studierendengenerationen fasziniert hat. Es wiederholt Schillers Verheißung, ohne sich wie Stamer nach deren realer Umsetzbarkeit zu fragen. Das schöne Ausmalen der ästhetischen Erlösung setzt sich wortreich über ihren bloß utopischen Charakter hinweg5: Der Spieltrieb könnte, würde er tatsächlich als Kulturprinzip Geltung gewinnen, die Realität im wahrsten Sinne des Wortes umgestalten. Die Natur, die objektive Welt, würde dann nicht mehr in erster Linie als den Menschen beherrschend erfahren (wie in der primitiven Gesellschaft) noch als etwas, das vom Menschen beherrscht wird (wie in unserer Welt), sondern vielmehr als ein Gegenstand der ›Betrachtung, der Reflexion‹. […] befreit von gewaltsamer Herrschaft und Ausnutzung, geformt stattdessen vom Spieltrieb, wäre die Natur auch ihrer eigenen Roheit [sic] ledig und frei, die Fülle ihrer zwecklosen Formen spielerisch darzustellen, die das ›innere Leben‹ ihres Gegenstandes ausdrücken. Auch in der subjektiven Welt würde sich ein entsprechender Wandel vollziehen. Auch hier würde das ästhetische Erlebnis die gewalttätige und ausbeuterische Produktivität beenden, die den Menschen zum Arbeitsinstrument erniedrigt.

Der erste, der Schillers Verheißung aufnahm, ist Friedrich Hölderlin. Er baute die Idee der ästhetischen Erziehung in seinen Hyperion-Roman ein. Sie wird dort zu einem neuen Evangelium, die Titelfigur Hyperion zu ihrem Messias. So jedenfalls prophezeit es die Romanfigur Diotima, indem sie ihrem Geliebten Hyperion seine menschheitserlösende Sendung zuspricht: Weil er »das Gleichgewicht der schönen Menschheit so rein erkannt« habe,6 sei er der auserwählte Erlöser. Der Zustand der gedrückten, unerlösten Menschen wird dabei ganz nach Schillers Vorlage so bestimmt, dass sie keine ganzen, sondern »nur Teile sind des Menschen«,7 denen Hyperion als ganzer Mensch die Befreiung bringe. Auf diese Weise soll er, ganz in Schillers Sinne, als »Künstler« zum »Erzieher unseres Volks« werden.8 Der Roman blieb Fragment und Hyperions Sendung unerfüllt. Was Hölderlin davon noch ausgearbeitet hat, endet mit der Beschwörung der »Schönheit« als »Versöhnung« und den erwartungsvollen Worten »Nächstens mehr«.9 Mehr hat es, wenngleich nicht in Hölderlins Roman, so doch zu Schillers ästhetisch-ethischer Botschaft gegeben. Sie ist auf fruchtbarsten Boden gefallen und wirkt selbst dort, wo der Name Schiller vergessen oder sogar verfemt ist. Der bedeutendste Beleg dafür ist Theodor W. Adorno, einer der einflussreichsten Kunstphilosophen des 20. Jahrhunderts. Er ist ein leidenschaftlicher Schiller-Verächter und wird nicht 5 Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft – Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, übers. von Marianne von Eckardt-Jaffe, Frankfurt a. M. 161990, 187 f.; Originalausgabe: Herbert Marcuse: Eros and Civilisation, London 1955. 6 Friedrich Hölderlin: Hyperion, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden II, hg. von Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1994, 9–175, hier 99. 7 Ebd., 100. 8 Ebd. 9 Ebd., 174 f.



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müde, dessen sentenzenhaften Stil als kleinbürgerlich-großmäulige Sprücheklopferei zu schmähen.10 Dennoch bleibt er der Schiller’schen Ästhetik darin verbunden, dass er in der künstlerischen Form die einzige Repräsentation von Freiheit und damit die einzige Befreiungshoffnung aus den Entfremdungs- und Zwangsverhältnissen der Moderne sieht. Als Form, und nicht durch ihr inhaltliches moralisches Engagement führe die Kunst zu einer »menschenwürdigeren Gesellschaft«.11 Das entspricht Schillers ästhetischer Erziehung, auch wenn Adorno dabei nicht mehr von ›Schönheit‹ und ›Harmonie‹ spricht, sondern von der »gewaltlosen Synthesis des Zerstreuten«.12 So sind die altbacken wirkenden, von Ganzheitsvorstellungen getragenen Hochwertworte vermieden, im Grunde aber ist dasselbe gemeint. Schillers Freiheitsversprechen durch Kunst ist damit in dem höchsten Maße klassisch geworden, dass es selbst dort verkündet wird, wo man von dem Urheber nichts, oder wenigstens nichts Gutes mehr wissen will. Es ist ein Versprechen, das – soweit ich sehe – immer ein Versprechen blieb und bleibt, weil es nie mehr als eine bloße Analogie zwischen Ästhetik und Politik ist. Warum aber war und ist Schiller bis heute damit so resonanzstark? Es liegt, meine ich, an der Verbindung von eindringlicher Krisenbeschreibung und -diagnose einerseits und einer Rhetorik andererseits, die einen Überschuss zur Gesellschaftsutopie hat. Die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen haben ihre größte Klarheit und Überzeugungskraft dort, wo sie nicht von dieser potentiellen Erziehung handeln, sondern von der Situation, aus der sie herausführen soll. Insbesondere der fünfte und der sechste Brief zeichnen ein scharfes Bild des gesellschaftlichen Zustands, das die etablierte Rousseau’sche Zivilisationskritik hinter sich lässt. Denn Schiller verurteilt die kulturelle Entwicklung nicht pauschal, sondern unterscheidet zwischen deren Gewinnen und Verlusten, wobei er weiterhin – in dieser Differenzierung wohl als erster – vermeidbare und unvermeidbare Verluste sieht. Er begründet damit, wie gesagt, das dialektische Moderneverständnis, das später den Titel ›Dialektik der Aufklärung‹ tragen wird. Schiller formuliert es als eine Dialektik von Leistungszuwachs der ganzen Gesellschaft und Teilhabeverlust der Individuen. Er sagt das allerdings nicht so akademisch, sondern stellt es so anschaulich wie spannungsvoll in Parallelismen und Gegensätzen vor: Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. (VI, 25)

10 Vgl. z. B. den Absatz »Schwabenstreiche« in Theodor W. Adorno: Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a. M. 211993, 110 f. 11 Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1973, 344. 12 Ebd., 216.

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Eine Formulierung von Edmund Burke mag hier wohl die Inspiration gegeben haben. Burke spricht in seinen Betrachtungen über die Französische Revolution (1790) von der mangelnden Eignung des dritten Standes zu politischen Ämtern und begründet diese durch die einschränkende Wirkung der zum Lebensunterhalt notwendigen Arbeit. In der 1793 erschienenen deutschen Übersetzung von Friedrich Gentz wird dies als das Schicksal derjenigen Menschen bezeichnet, »die zu sehr auf die Geschäfte eines gewissen Standes oder einer gewissen Lebensart eingeschränkt und an das kleine Rad einer immer wiederkehrenden Berufsarbeit geschmiedet sind«.13 Das ist so nah an dem Gedanken und dem Wortlaut des Burke-Lesers Schiller, dass es wohl kein Zufall ist. Doch gibt Schiller dieser Bemerkung einen ganz anderen Sinn. Burke bringt ein konservatives Aristokratenargument: Wer zur Erwerbsarbeit genötigt sei, der könne mangels Horizonts und Menschenkenntnis kein zureichendes politisches Denken entwickeln. Schiller macht daraus die universelle Dialektik der arbeitsteiligen Gesellschaft. Scharf ist Schillers Gesellschaftsdiagnose nicht nur durch ihre kritische Eindringlichkeit. Sie ist es auch in kommunikativer Hinsicht. Die größte Intensität erreicht dabei wohl seine neue Deutung des Begriffs ›Barbar‹ (vgl. IV, 19). Schiller versteht darunter nicht den kultur- und wissenschaftsfernen Grobian, sondern genau im Gegenteil den durch Intellekt und kulturelle Verfeinerung verdorbenen Charakter. Das führt ihn zu dem sehr einschneidenden Urteil, dass die Gewalt der entfesselten Volksmassen (etwa auf den Pariser und anderen französischen Straßen) das geringere Übel sei als die Verkommenheit innerhalb der Aristokratie: In den niedern und zahlreichern Klassen stellen sich uns rohe gesetzlose Triebe dar, die sich nach aufgelöstem Band der bürgerlichen Ordnung entfesseln, und mit unlenksamer Wut zu ihrer tierischen Befriedigung eilen. […] Auf der anderen Seite geben uns die zivilisierten Klassen den noch widrigern Anblick der Schlaff heit und einer Depravation des Charakters, die desto mehr empört, weil die Kultur selbst ihre Quelle ist. (V, 20 f.)

Dieses diagnostisch und kommunikativ scharfe Gesellschaftsbild gibt dann den Hintergrund für die Heilsbotschaft der Kunst. Schiller formuliert sie so anschaulich und mitreißend, dass man sich als Spielverderber vorkommen muss, wenn man an ihre mangelnde Begründung erinnert: Mitten im furchtbaren Reich der Kräfte und mitten im heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten fröhlichen Reiche des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet. (XXVII, 121)

13 Edmund Burke: Betrachtungen über die Französische Revolution, übers. von Friedrich Gentz, hg. von Ulrich Frank-Planitz, Zürich 1986, 105.



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Kurzum: Die große Resonanz von Schillers Freiheitsversprechen durch Kunst verdankt sich seiner rhetorischen, nicht seiner sachlich argumentativen Kraft. Sie liegt sowohl in der affektischen Wirkung von Schillers Sprache als auch in der Disposition des gesamten Textes. Denn die scharfe Gesellschaftsdiagnose schafft einen so düsteren Hintergrund, dass die Freiheit der schönen Kunst viel heller strahlt, als sie es für sich besehen täte. Dieses Kontrastarrangement verleiht der ästhetischen Versöhnung einen utopischen Überschuss, der sich verliert, sobald man nach deren praktischer Umsetzbarkeit fragt. Dann zeigt sich eine überraschende Spannung in den ästhetischen Briefen. Ihr enthusiastischer Stil passt so gar nicht zu den nüchternen, bescheidenen Ansätzen, mit denen der gesuchte Weg von der Schönheit zur Freiheit konkret eröffnet wird. Man kann sich die Diskrepanz zwischen Enthusiasmus und Nüchternheit schon mit dem bekanntesten Satz aus der Ästhetischen Erziehung vergegenwärtigen: »Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt« ( XV, 64 [Hervorh. im Original]). Das klingt nach einer feierlichen Beschwörung des ganzen als des vollkommen glückseligen Menschen. Emotional schwingt sich dieser Satz zum einen durch die Ankündigung auf, dass nun mit einem Mal die ganze Wahrheit herauskomme, zum anderen durch den Chiasmus, der den ganzen Menschen schwungvoll ins Verb ›spielen‹ einschließt. Viele haben in dieser pointiertesten Sentenz der Ästhetischen Erziehung den utopischen Überschuss wahrgenommen und sie als Hohelied des menschlichen ›Idealzustands‹ verstanden.14 Man kann sie an den Beginn des ersten Briefes zurückbinden, der den Inhalt der ganzen Abhandlung als einen Gegenstand ankündigt, »der mit dem besten Teil unsrer Glückseligkeit in einer unmittelbaren […] Verbindung steht« (I, 9). Mit der Spiel-Sentenz ist diese Glückseligkeit gedanklich erreicht und originell definiert. Die diffuse, doch für die meisten anregende und positiv konnotierte Bedeutungs- und Assoziationsweite des Wortes ›Spiel‹ trägt das Ihre zur Wirkung bei. Schillers Spiel-Sentenz klingt damit deutlich nach Fest- und Sonntagsrede, doch wird sie bis heute auch im akademischen Arbeitskontext immer wieder zustimmend zitiert. Bedenkt man indes nicht nur, was Schiller als Ganzheitserfahrung des Menschen bestimmt, sondern auch, was er daraus ausschließt, dann wird seine Sentenz zu einer ganz anderen Botschaft. ›Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt‹. Sobald es ernst wird, heißt das, ist die Ganzheit verloren; ist jeder Mensch nur ein Bruchstück seiner Möglichkeiten. Schiller singt nicht das Hohelied der menschlichen Ganzheit, er weist vielmehr darauf hin, dass aller menschliche Ernst mit unvermeidlicher und unauf hebbarer Partialität zu tun hat. Menschliche Ganzheit ist ein Ausnahme­ zustand im Leben, ein Sonderfall des Kunst-Glücks. Den Menschen bleibt die freie, umfassende Selbsterfahrung verwehrt, bis auf die speziellen Momente, die sie der Betrachtung der Schönheit widmen. Wer nicht Schillers rhetorische Energie hat, 14 Repräsentativ und einflussreich dafür Dieter Borchmeyer: Weimarer Klassik – Portrait einer Epoche, Weinheim 1998, 294.

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könnte die berühmte Sentenz in folgende Worte fassen: Die Menschen sind in all ihren Lebenssituationen deformiert und sich selbst entfremdet, nur wenn sie sich aus allem herausnehmen und kontemplativ der Schönheit zuwenden, erfahren sie sich uneingeschränkt. Das können niemals geflügelte Worte werden. Doch entsprechen sie inhaltlich der Spiel-Sentenz. Das verheißungsvoll Utopische der Ästhetischen Erziehung zeigt sich auch hier als rhetorischer Effekt. Schillers Stil versieht mit idealem Glanz, was genau betrachtet sehr viel bescheidener und durchaus auch bitterer ist. Schillers Ästhetik, so kann man seinen materialistischen Kritikern entgegenhalten, verflüchtigt sich nicht in ein idealistisches Wolkenkuckucksheim. Sie ist als ethische Praxis konkret nachvollziehbar. Doch bleibt sie dabei, muss man hinzusagen, sehr viel bescheidener, als ihre enthusiastische Rhetorik erwarten lässt. III. Ästhetische Erziehung als ethische Praxis

Wenn man sie auf konkreteste Weise als ethische Praxis verstehen will, ist die Ästhe­ tische Erziehung eine Anleitung zur Höf lichkeit. Das mag überraschend läppisch klingen, ist aber, meine ich, das Genaueste, was man hier an Praxis aus­m achen kann. Das heißt nun nicht, dass es auf Benimm-Unterricht hinausliefe. Denn Schiller bietet eine bemerkenswerte Definition der Höf lichkeit, die sie ganz überzeugend als ein Erlebnis von Freiheit erweist. Alltagssprachlich naheliegend spricht er von ihr als »schönem Schein« ( XXVI, 112) oder auch »schönem Umgang« (113) der Menschen miteinander, von dem jeder weiß oder immerhin wissen müsste, dass er nicht authentisch ist. Anstatt dies als Verstellung zu tadeln und zu beklagen, entdeckt Schiller darin etwas Befreiendes. Und zwar dadurch, dass er den »schönen« als »aufrichtigen Schein« (112) definiert, also einen solchen, der als Schein bewusst und keine Täuschung ist. Wer Höf lichkeitsformen in diesem Sinne versteht, kann das Freiheitspotential erkennen, das darin liegt, nicht immerzu ungefilterter emotionaler Aufrichtigkeit ausgesetzt zu sein. Das ständige Verlangen nach Authentizität und Offenheit oder umgekehrt die ständige Konfrontation mit authentischen, ungefilterten Affekten, Gefühlen und Ansichten der Mitmenschen kann dem­gegenüber als viel unfreier erfahren werden. In Zeiten der Internet-Shitstorms gilt das wohl noch nachdrücklicher als im 18. Jahrhundert. Wer die Höf lichkeit mit Schiller als aufrichtigen Schein versteht, gewinnt eine klügere Einsicht in den Wert von Konventionen als derjenige, der sie als Betrug verurteilt oder durch Authentizitätsverlangen überfordert. Mit Schillers Worten: »Nur ein Fremdling im schönen Umgang wird Versicherungen der Höf lichkeit, die eine allgemeine Form ist, als Merkmale persönlicher Zuneigung aufnehmen, und wenn er getäuscht wird, über Verstellung klagen« (113). Schillers Vorstellung vom ›schönen Umgang‹ führt aus der Alternative des entweder wahrhaftigen oder betrügerischen Umgangs hinaus und lässt erkennen, inwiefern Konventionen den Einzelnen in der Gesellschaft entlasten und ihm Freiheit verschaffen können.



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Im Jahr 1795 den Terror der Französischen Revolution mit der Forderung von Höf lichkeit zu beantworten, klingt restaurativ-aristokratisch. Denn zu dieser Zeit konnotiert dieser Begriff noch viel stärker als heute seine soziale Herkunft vom Höfischen. In dem zeitgenössischen Erfolgsbuch des Freiherrn von Knigge, Über den Umgang mit Menschen (1788), gilt die Höf lichkeit zwar auch als ein Verhaltensrepertoire der bürgerlichen Schicht. Die niederen Schichten, die Bauern etwa, schließt Knigge jedoch kategorisch aus der Sphäre der Höf lichkeit aus.15 Sein Buch behandelt die Höf lichkeit in einem weiten Spektrum, das vom ethischen Ideal der Anständigkeit und Wahrhaftigkeit bis hin zu herablassender, auch heimtückischer Maskerade reicht. Das ergibt im Ganzen eine Überfülle an verschiedenen Typen und Beispielen, durch die jedoch ein für Deutschland ganz zeitgemäßer roter Faden führt: das pragmatische und opportunistische Arrangement des Bürgertums mit dem Adel.16 Damit kam Knigge sehr gut an. Sein Buch erreichte 1790 die dritte Auflage. Schiller versteht die Höf lichkeit menschlich-universell und abstrahiert von der Ständegesellschaft. Er lässt damit seine eigene Adelskritik aus der Zeit des bürgerlichen Theaters hinter sich. Insbesondere Kabale und Liebe hatte die geschliffenen Formen der Aristokraten als Masken vor ihrer sittlichen Verrottung gezeigt. Das war 1784. Gut zehn Jahre später, nach den Nachrichten über die Revolutionsgräuel ändert Schiller seine Position. Anstatt den Ständekonflikt anzusprechen, denkt er anthropologisch über ihn hinweg. Man kann das als eine ›Flucht ins AllgemeinMenschliche‹ beurteilen, die sich dem eigentlichen politischen Problem entziehe.17 Doch geht dieses Urteil darüber hinweg, dass die Rede vom Allgemein-Menschlichen unter den Bedingungen der Ständegesellschaft schon etwas Politisches hat. Die beiden wichtigsten, zukunftsträchtigsten politischen Dokumente der Zeit, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789, beginnen beide programmatisch mit dem Allgemein-Menschlichen, aus dem sie dann die Überwindung des Ständestaats ableiten. Vor diesem Hintergrund erscheint Schillers Rede vom Allgemein-Menschlichen nicht als unpolitischer Eskapismus. Gewiss ist sie nicht in dem Sinne politisch wie die beiden Rechtsdokumente. Doch vollzieht sie auf dem Gebiet des Sozialverhaltens nach, was die beiden revolutionären Erklärungen auf dem Gebiet des Rechts vorgemacht haben: Sie versetzt auf eine egalitär menschliche Ebene, was zuvor nur 15 »[I]hnen [den Bauern: S. M.] die Augen über ihren armseligen Zustand zu öffnen, den man nun einmal nicht verbessern kann, […] ihren Sitten Geschmeidigkeit und den Anstrich der feinen Höf lichkeit zu geben – das taugt wahrlich nicht« (Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, hg. von Gert Ueding mit Illustrationen von Chodowiecki et al., Frankfurt a. M. 1977, 381). 16 Knigge formuliert die Regel, dass man, »soviel es ohne Verleugnung des Charakters geschehen kann, mit den Wölfen heult« (ebd., 314). 17 Der fachgeschichtliche Klassiker dafür: Die Klassik-Legende, hg. von Reinhold Grimm und Jost Hermand, Frankfurt a. M. 1971; Vorwort der Herausgeber: »Es gehört nun einmal zum Wesen der Weimarer Hof klassik, daß hier zwei hochbedeutende Dichter die Forderung des Tages bewußt ignorieren und sich nach oben flüchten: ins Allgemein-Menschliche« (ebd., 11).

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nach den Differenzen der Stände zu denken war. In Knigges Erfolgsbuch wird die Höf lichkeit durchweg unter den Voraussetzungen der Ständegesellschaft behandelt. Die Standesgrenzen setzen hier die selbstverständlichen, gar nicht anders vorstellbaren Rahmenbedingungen. Im Vergleich dazu steckt in Schillers Ansatz tatsächlich etwas von dem amerikanischen und französischen Egalitätsimpuls. »In dem ästhetischen Staate«, heißt es im letzten Brief, »ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat« ( XXVII, 123). Der Ton der beiden Revolutionsdokumente ist hier unverkennbar. Dass Schiller ihn auf den ›ästhetischen Staat‹ einschränkt, belegt die Bescheidenheit seines Ansatzes. Der ›ästhetische Staat‹ ist in seiner Argumentation nichts anderes als der ›schöne Umgang‹ der Menschen miteinander, nichts anderes als die Höf lichkeit. Die Ästhetische Erziehung, so kann man sie zusammenfassen, lenkt den revolutionären Egalitätsimpuls aus Amerika und Frankreich in die Formen des geselligen Verhaltens um. Bevor das Recht und die Staatsform geändert werden können, meint Schiller, müssen sich erst die Konventionen des sozialen Umgangs ändern. Nicht im Schiller’schen Sinne des Spiels, sondern im Sinne des ›So-tun-als-ob‹ lautet seine Botschaft: Man muss Egalität im höf lichen Verhalten erst spielen, bevor man mit ihr juristisch und staatsförmlich Ernst machen kann. Genau dorthin gelangt man, wenn man sich die ästhetische Erziehung als ethische Praxis vorstellt: an einen Herrn etwa, der seinem Diener Leistungen nicht befiehlt, sondern ihn darum bittet und sich für deren Erbringung bedankt. Er schafft so, wie es bei Schiller heißt, ein »liebliches Blendwerk der Freiheit« (ebd.), von dem beide wissen, dass es nur ein Blendwerk, dass es ›aufrichtiger Schein‹ ist. Wer so tut, als ob der Diener in seinem Dienst frei wäre, übt spielerisch das bessere Freiheitsverständnis ein, das schon Schiller in die Rosa-Luxemburg-Formel fasst. Es bestehe darin, dass keiner »nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten« ( XXVII, 124). Das Diener-Beispiel erscheint weniger abseitig, wenn man an die ursprüngliche Adressierung der ästhetischen Briefe denkt. Sie gilt dem Prinzen Friedrich Christian von Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg, der Schiller ein fünfjähriges Stipendium zahlte und ihm so die philosophischen Studien und Abhandlungen ermöglichte. Die erste Textfassung bestand ja tatsächlich aus Briefen an diesen Aristokraten, die Horen-Fassung erhält diese Adressierung in den ersten Briefen rhetorisch aufrecht. Schillers Abhandlung bewahrt sich dadurch den Charakter eines Fürstenspiegels,18 einer Erziehungsschrift für den regierenden Adel. An ihn wendet sich die ästhetische Erziehung. Der zweite Brief markiert den Unterschied zwischen dem bürgerlichen Autor und dem aristokratischen Adressaten ausdrück18 Von den ästhetischen Briefen als »Fürstenspiegel« spricht Balasundaram Subramanian, doch geht er dabei gar nicht auf die Adressierung ein. Er leitet diese Bezeichnung aus kompositorischzahlensymbolischen Bezügen zu Machiavellis Il Principe ab, was ich weniger überzeugend finde (vgl. Balasundaram Subramanian: Die ›Ästhetischen Briefe‹ als ›Fürstenspiegel‹ der politischen Moderne – Zum Einfluß Edmund Burkes auf Schiller, in: Friedrich Schiller – Der unterschätzte Theoretiker, hg. von Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich, Köln/Weimar/Wien 2007, 87–121, hier 120 f.)



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lich als »große Verschiedenheit des Standorts« und »weiten Abstand, den die Verhältnisse in der wirklichen Welt nötig machen« (II, 13). Die gemeinsame aufgeklärte, liberal-weltbürgerliche Gesinnung soll dies überwinden, hofft Schiller; mit gutem Grund. Denn das Stipendium war ja ein materiell-sichtbarer Ausdruck dieser Gemeinsamkeit. Denkt man an den Fürstenspiegel-Charakter, dann erscheint das egalitäre Höflichkeitskonzept als eine listige Herausforderung. Es verlangt, das Ideal einer aufge­ klärt liberal-weltbürgerlichen Gesinnung als bewusstes Spiel in der Ständegesellschaft aufzuführen. Benimm dich so, dass die Überzeugung von der Gleichheit und den gleichen Freiheitsansprüchen aller Menschen zum Ausdruck kommt; auch wenn alle wissen, dass es nur zum Schein ist: So lautet hier die Erziehungsmethode. Das ist tatsächliche eine ästhetische Erziehung: die sinnlich wahrnehmbare und erlebte Simulation eines auf klärerischen Gesellschaftsziels. »Hier also in dem Reiche des ästhetischen Scheins«, heißt es am Ende der Briefe, »wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwärmer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte« ( XXVII, 123 f.). Das klingt kleinmütig und resignativ, ein abschließender Kontrapunkt zu der sonstigen mitreißenden Rhetorik. In Deutschland um 1795 ist das aber auch ganz realistisch gesehen und gesagt. Zwischen der Resignation in die ständischen Verhältnisse und der Hoffnung, an ihnen etwas zu ändern, bleibt Schillers Text insgesamt ambivalent. Es gibt Stellen, an denen der Schein von Gleichheit und Freiheit als ein am Ende auch politisch wirksames Erziehungsmittel gelten soll, und es gibt andere, an denen dieser Schein als kompensatorischer Trost über die reale Ungleichheit und Unfreiheit dasteht. Die Perspektive auf reale Wirkung eröffnet sich dort, wo Schiller von der »Charakter«-Bildung und der »Ausbildung des Empfindungsvermögens« ( VIII, 34) spricht. Diese Forderung stellt er am Anfang auf und versucht sie am Ende durch das Argument einzulösen, dass »allein« der schöne Umgang, die Höf lichkeit, den »geselligen Charakter« (XXVII, 122) erteile, der für die Bildung einer freien Gesellschaft nötig sei. Vom kompensatorischen Trost zeugt der allerletzte Satz des Textes. In ihm spricht Schiller von der »gütigen Schickung […], die den Menschen nur deswegen in der Wirklichkeit einzuschränken scheint, um ihn in eine idealische Welt zu treiben« (124). Wer das ›gütig‹ nennt, tröstet sich über die schlechte Wirklichkeit hinweg. Der Streit um die ästhetische Erziehung hat also seinen Grund in der Sache selbst. Nicht zu bestreiten ist allerdings, dass sie in der positiven, auf Wirksamkeit setzenden Interpretation sehr bescheiden und indirekt bleibt. Sie wird in der Horen-Publikation sogar noch indirekter als in den ursprünglich real adressierten Briefen. Denn in den Horen bleibt der Fürstenspiegelcharakter nur rhetorisch präsent. Er wechselt von der Realität zu einer Art Schauspiel, indem er die »bürgerlichen Leser«, wie Alice Stašková treffend sagt, zu »Zuschauern«19 seiner nurmehr literarisch inszenier-

19 Alice Stašková: Friedrich Schillers philosophischer Stil – Logik – Rhetorik – Ästhetik, Leiden/ Boston/Paderborn 2021, 293.

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ten Fürstenerziehung macht. Damit verliert das egalitäre Höf lichkeitskonzept die Schärfe, die es bei der tatsächlichen Adressierung an einen realen Thronfolger hätte. IV. Coda: und die Kunst?

›Was aber ist mit der Kunst?‹, werden nun manche fragen. Hat sie keine Funktion in der ästhetischen Erziehung? Meine Antwort: Sie hat keine real vorstellbare Funktion. Es bleibt bei der utopischen Verheißung und der enthusiastischen Rhetorik. Das liegt, meine ich, an zweierlei: an einer abwegigen Analogie und dem Purismus des rein Ästhetischen. Zum ersten. Im Begriff des ›aufrichtigen Scheins‹ sieht Schiller die Höf lichkeit mit der Schönen Kunst verbunden. Das ist analytisch richtig und überzeugend. Ein freundlicher Gruß, der nicht so gemeint ist; eine schöne menschliche Gestalt, die aus Marmor oder Gips ist; eine erhebende Geschichte, die bloß erfunden ist: in allen drei Fällen schöner, aufrichtiger Schein. So weit kann man Schiller folgen. Nicht mehr folgen kann man ihm dann, wenn er die Erfahrungssituation in allen drei Fällen mit dem Begriff des ›ästhetischen Zustands‹ oder des ›Spiels‹ als dieselbe harmonisch-befreiende Selbsterfahrung des Menschen deutet. Der höf liche Umgang und die Betrachtung einer Skulptur oder die Lektüre eines Epos sind zu unterschiedlich, als dass man sie zu ein und derselben Erfahrungsqualität zusammenfassen könnte. Der Höf lichkeit etwa fehlt das Kontemplative, auf das es bei der Kunstbetrachtung ankommt. Das Epos lässt eine ganz eigene, fiktionale Welt wahrnehmen, was im höf lichen Umgang und auch in der Betrachtung einer Skulptur keine Entsprechung hat. Schillers Begriff des ›ästhetischen Zustands‹ ist zu einfach, abstrakt und schematisch von Kants Bewusstseinsmodellierung hergeleitet, so dass seine Anwendung auf empirische Situationen unkontrollierbar und beliebig wird. Sie bildet Analogien, anstatt sachliche Zusammenhänge aufweisen zu können. Und die Analogie zur Schönen Kunst ist es schließlich auch, die das in seinem Ansatz praxisorientierte egalitäre Höf lichkeitskonzept in seinen Ansätzen stecken bleiben lässt. Denn anstatt von hier aus weiter nach dem realen Sozialverhalten zu fragen, biegt Schillers Argumentation in die bloßen Analogien zur Schönen Kunst ab, ohne das eine mit dem anderen in der Sache weiter verbinden zu können. Man kann es auch so sagen: Das Interesse an der Schönen Kunst vereitelt hier das weitere Nachdenken über Höf lichkeit als ethische Praxis. Zum zweiten, dem Purismus des rein Ästhetischen. Er ist signifikant für Schillers Briefe und er ist der Grund, warum die Verbindung von Kunst und Ethik dort nur rhetorisch und nicht sachlich gelingt. Unter der ›rein ästhetischen‹ versteht Schiller diejenige Wirkung der Kunst, die ihr kategorial, also allein durch ihren Status als Kunst zukommt. Mit Kant erklärt er diese Wirkung anthropologisch als ›freies Spiel der Erkenntniskräfte‹; anders als Kant aber versucht er diese Wirkung zugleich auf objektive Eigenschaften der Kunstwerke zurückzuführen. Das bringt ihn zu der schematisch konsequenten, der Sache nach aber ganz kuriosen Behaup-



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tung, diejenige Kunst sei die beste, deren Wirkung sich auf das ›rein Ästhetische‹, also den menschlichen Selbstgenuss beschränke. Kunst sei insofern, man muss noch deutlicher sagen: ausschließlich insofern gelungen, als sie die innere Ausgeglichenheit des Menschen stimuliere. »Die Vortrefflichkeit eines Kunstwerks«, heißt es im 22. Brief, liege »in seiner größeren Annäherung zu jenem Ideale ästhetischer Reinigkeit« ( XXII, 89). Das sei zwar niemals ganz zu erreichen, markiert jedoch das Ziel und setzt so das Bewertungskriterium aller Kunstwerke. Sie sind, nach dieser Theo­r ie, in dem Maße gelungen, wie sie alle dargestellten Inhalte vergessen lassen und die allgemeinste Stimmung innerer Ausgeglichenheit erregen. Ganz folgerichtig schließt Schiller daraus, dass sich die vollendeten Kunstwerke welcher Gattung auch immer, »in ihrer Wirkung auf das Gemüt einander immer ähnlicher werden« (90, Hervorh. im Original). Für die Literatur läge dieses Ideal in einer bedeutungsfreien, a-semantischen Sprache, deren Wörter wie Musik ein inhaltsloses Kunsterlebnis vermitteln. Einzelne romantische und auch modernere Dichter wie Paul Verlaine oder der mit bedeutungsfreien Kunstsprachen experimentierende Stefan George haben gelegentlich in diese Richtung gedacht. Doch führen solche Ideen aus der Wirklichkeit der Literatur, auch aus den Werken von Verlaine und George hinaus. Das Bedeutungsfreie ist vom Bedeutungslosen nicht zu unterscheiden. Und auch die Überlegung, dass etwa Goethes Maifest (1775) und Kertész’ Roman eines Schicksallosen (1975) sich dadurch als literarische Kunst erweisen, dass sie die dargestellten Inhalte vergessen lassen und ihre Leser in dieselbe allgemeine Stimmung versetzten, erscheint abwegig. Das Ideal des ›rein Ästhetischen‹ schränkt die Kunst auf ihre kategorische Selbstbehauptung ein. ›Schau mich an/ hör mich an, ich bin Kunst‹: Das ist das einzige, was die Kunst laut Schiller zur ästhetischen Erziehung mitzuteilen hat. Dass sie noch etwas anderes zum Ausdruck bringen könnte, gilt dabei nur als zu unterdrückender Störfaktor. Diese inhaltsleere, kategoriale Selbstdarstellung als verlässlichste Freiheitsbotschaft auszurufen, ist eine hinreißende Rhetorik, die man gern gehört hat und noch immer gern hört. Dass die geschichtliche Erfahrung oft das Gegenteil lehrt, weiß und erwähnt Schiller selbst, und zwar mit pessimistischer Eindeutigkeit. Man könne »auch nicht ein einziges Beispiel aufweisen […], daß ein hoher Grad und eine große Allgemeinheit ästhetischer Kultur bei einem Volke mit politischer Freiheit […] Hand in Hand gegangen wäre« (X, 41). Das ist für Schiller allerdings kein Gegenargument, sondern spricht nur gegen die Empirie. Man müsse deshalb von aller Erfahrung absehen und stattdessen den »reinen Vernunftbegriff der Schönheit« (43) ergründen, um die prinzipielle Verbindung von Freiheit und Kunst zu erkennen. Dieser Vernunftbegriff und das Ästhetische sind in Schillers Briefen tatsächlich so ›rein‹, dass sie die reale Kunst und Kunsterfahrung und deren ethische Praxis hinter sich lassen.

Geistesgegenwärtigkeit Hölderlins epistemische Praxis des Ethos Christian Metz

I. Hölderlins homerische Geistesgegenwart und die deutschsprachige Literatur

Bei Friedrich Hölderlin fällt der Begriff der Geistesgegenwart nur an einer einzigen Stelle: im Brief vom 4. Dezember 1801 an Casimir Ulrich Böhlendorff. Hölderlin wendet sich unmittelbar vor seinem Auf bruch von Nürtingen aus nach Bordeaux an seinen Freund, um diesem – die Fremde im Sinn – ein Modell nationaler Bildung vor Augen zu stellen. Die Geistesgegenwart erhält in diesem Konzept einer dezidiert literarischen Bildung eine kardinale Funktion. Diese Aufwertung vollzieht sich, indem Hölderlin die Maßstäbe zur Bewertung einer dezidiert deutschsprachigen Literatur ebenso wie Eigenschaften literarischer Texte und die Produktionspraktiken neu besetzt und priorisiert.1 Seine radikale Neu­kodie­r ung der deutschsprachigen Literatur entfaltet der Dichter aus Anlass seiner Lektüre von Böhlendorffs Drama Fernando. Hölderlin hat es gelesen und lobt 2: Mein Lieber! du hast an Präzision und tüchtiger Gelenksamkeit so sehr gewonnen und nichts an Wärme verloren, im Gegentheil, wie eine gute Klinge, hat sich die Elastizität deines Geistes in der beugenden Schule nur um so kräftiger erwiesen.

Der Freund nimmt für einen Moment die Rolle des Literaturkritikers ein. Gleichzeitig verleiht er der höchstpersönlichen Brief kommunikation den Charakter einer ästhetischen Schrift. Wer sollte diese Transformation präziser gestalten können als der Briefroman-Autor Hölderlin? Und zugleich dient Hölderlin der literarische Text seines Freundes wie die kritische Reflexion der Produktionsbedingungen »als Leitmedium für das Denken, Können, Handeln, Sollen und Wollen«,3 und zwar über das Feld der Ästhetik hinaus. Hölderlin sieht sowohl Böhlendorff als auch sich selbst auf dem Weg, literarisch schreibend Praktiken zur Vervollkommnung zu etablieren, wobei die künstlerische Kompetenz darin besteht, im Schreiben über das propositionale Wissen hinaus jenes praktische Wissen zu integrieren, das sich »kon­stitutiv dem Handeln einverleibt« und »in der individuellen Aneignung einer 1 Die Radikalität von Hölderlins Umbesetzung wird im Kontrast rezeptionstheoretischer Neuformierung von ästhetischer Wertarbeit deutlich: Sianne Ngai: Our Aesthetic Categories – Zany, Cute, Interesting, Cambridge 2012. 2 Friedrich Hölderlin: Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff – Abschrift Sinclairs, Nürtingen bei Stutgard d. 4. Dez. 1801, in: ders.: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge IX, hg. von D. E. Sattler, Bremer Ausgabe, München 2004, 183–185, hier 183. 3 Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan, Marius Reisener und Carolin Rocks: Einleitung, in diesem Band 7–28, hier 7.

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kollektiven Praxis erworben« wird.4 Ausdrücklich konstituiert er sich und Böhlendorff in diesem Sinne als Teil einer literarischen Freundschafts-, Fortschritts- und Schicksalsgemeinschaft 5: »Dein Fernando hat mir die Brust um ein gutes erleichtert. Der Fortschritt meiner Freunde ist mir so ein gutes Zeichen. Wir haben ein Schicksaal. Gehet es mit dem einen vorwärts, so wird auch der andere nicht liegen bleiben.« Mag die Metaphorik von Vorwärtsgang und Liegenbleiben dem bevorstehenden Auf bruch zu Hölderlins Reise geschuldet sein, das Bildfeld eines vermeintlich linearen Bildungsweges konturiert besonders klar, um was es in der Ausbildung des Literaten zum potentiellen Nationaldichter geht: in den Verfahrensarten literarischer Produktion, jenseits von Moraldidaxe spezifische Vermögen zu Fertigkeiten zu schulen.6 Was ist das für ein praxeologisches Programm? Hölderlins Lob unterliegt als Praxis der Fremd- und Selbstbestätigung die stoizistische Denkfigur der probatio,7 nach der sich die wahre (Charakter-)Stärke in Form der Standhaftigkeit (continuatio) erst erweist und zeigt, wenn sie auf die Probe gestellt wird. Hölderlin konkretisiert diese Denkfigur als Grundlage der Geistesarbeit. Seine Betonung liegt – an dieser Stelle überlagern sich die protestantische Kultur und neo-stoizistische Praktiken wie sie Justus Lipsius entworfen hat – auf der Arbeit. Diese sei notwendig, um sich wider die ›beugende Schule‹, wider die Last, die auf der Brust lag (s. o.), bevor sie durch die Fernando-Lektüre erleichtert wurde, zu stärken und zu behaupten. ›Präzision‹, ›tüchtige Gelenksamkeit‹ und ›Elastizität‹ – nein, das ist kein Lob des Yogas. Vielmehr greift Hölderlin gezielt auf drei Kriterien zurück, die um 1800 eine Konjunktur erleben. Er verwendet für seine literaturkritische Wertarbeit am Text gezielt neue, noch unverbrauchte Kategorien. Mit der Genauigkeit (Präzision) bringt er eine jener epistemischen Tugenden auf, die sich zeitgenössisch, aus dem Handwerk und der sich formierenden Wissenschaft kommend, in der Ästhetik etablieren.8 Die Elastizität ist schon aufgrund ihres Wortmaterials in diesem 4 Claudia Dürr: Lesekreise als Orte des Wissens, in: Über Bücher Reden – Literaturrezeption in Lesegemeinschaften, hg. von Doris Moser und Claudia Dürr, Göttingen 2021, 67–86, hier 68. Zur wissenstheoretisch fundierten Untersuchung der Praxis literarischen Schreibens: Claudia Dürr und Taos Zembylas: Wissen, Können und literarisches Schreiben – Eine Epistemologie der künstlerischen Praxis, Wien 2009. Systematisch pointierter: Claudia Dürr: Schreiben lernen können aus Sicht des Feuilletons – Eine wissenstheoretische Analyse, in: Institutsprosa – Literaturwissenschaftliche Perspektiven auf akademisches Schreiben, hg. von Kevin Kempke, Lena Vöcklinghausen und Miriam Zeh, Leipzig 2019, 30–56, hier 33. 5 Hölderlin: 4. Dezember 1801 [Anm. 2], 183. 6 Zur »Verfahrensart« und zu Hölderlins Begriff des Geistes im Kontrast zu Schillers Entwurf des »lebendigen Geistes« vgl. Gerhard Kurz: Poetische Logik – Zu Hölderlins ›Anmerkungen‹ zu ›Ödipus‹ und ›Antigone‹, in: Jenseits des Idealismus – Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804–1806), hg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Bonn 1988, 83–102, hier 84 und 91. 7 Vgl. Justus Lipsius: Von der Bestendigkeit [de Constantia] – Faksimiledruck der deutschen Übersetzung des Andreas Virtius nach der zweiten Auflage von 1601, hg. von Leonard Forster, Stuttgart 1965, 10. 8 Vgl. zum Auf kommen der Genauigkeit als epistemische Tugend um 1800: Markus K ­ rajewski: Geisteswissenschaftliche Genauigkeit – Zwischen epistemischer Tugend und medialer Praktik, in: Episte-



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Kontext am richtigen Platz, weil sie die zuvor aufgerufene ›Last‹ in sich trägt und (als elastisch) in das Flexible wandelt.9 Aus dem »physikalisch-technischen Bereich zur Charakterisierung fester und gasförmiger Materie und Materialien in der Bed. ›(aus-)dehnbar, nachgebend, biegsam, weich; federnd, prall‹«10 kommend, wird es seit »dem späten 18. Jahrhundert verwendet«, und zwar »bes. im politischen, wirtschaftlichen und soziologischen Bereich für (geistige) Beweglichkeit, Offenheit, Nachgiebigkeit, Veränderlichkeit, Anpassungsvermögen, auch auf Sprache bezogen […], z. B. Elastizität des menschlichen Geistes/Charakters«.11 Während ›Gelenkigkeit‹ als drittes Element nach dem Grimm’schen Wörterbuch unmittelbar und ausschließlich auf die Sprache bezogen ist12: »Gelenkigkeit, f. (die sprache) zu dieser materie gleichsam die fugen ihrer gelenkigkeit gebildet hat«. Allen drei Elementen ist eine fein ausnuancierte Beweglichkeit zu eigen, die sich am Widerstand (im Abarbeiten) am Festen, Starren konstituiert. Hölderlin legt nahe, die gemäßigte und damit fließende Bewegung mit der Praxis des (flüssigen) Schreibens auf Papier und der geistigen Tätigkeit des schreibenden Denkens in direkte Beziehung zu bringen. Diese geistige Praxis soll, auch das ist ein wesentlicher Aspekt dieses Programms, an einen spezifischen Affekthaushalt gekoppelt sein, den Hölderlin an dieser Stelle als emotionalen Wärmeerhalt metaphorisiert (›und nichts an Wärme verloren‹). Im Kontrast zum Pathos der Hitze und zur Starre der Kälte handelt es sich auch mit der gemäßigten Temperatur um ein Bild der wohltemperierten Balance und – im Sinne der continuatio – des Energieerhalts. Für das Gelingen dieses Sowohl-als-auch von Geisteskraft-Zunahme und Balanceerhalt spricht Hölderlin seinem Schicksalsgenossen seinen Glückwunsch aus13: »Diß ists wozu ich dir vorzüglich Glück wünsche.« Eine Formulierung, die sich sowohl auf das Geleistete als auch auf das zukünftig noch zu Leistende – und damit die noch bestehende Lücke zum Glück – bezieht, während Hölderlin mit dieser Wendung eben auch eine spezifische Gegenwärtigkeit aufruft. Sie besteht in der räumlichen Nähe, den Freund im Modus der (gelesenen) Schrift bei sich zu haben; wie in der zeitlichen Gegenwart, die sich zwischen dem Glückwunsch für das Vergangene und das Zukünftige auftut.14 Hölmische Tugenden – Zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts, hg. von Andreas Gelhard, Ruben Hackler und Sandro Zanetti, Tübingen 2019, 217–239. 9 Breitinger bestimmt die Elastizität in seinem zweiten Band der Dichtkunst als Charakteristikum der Luft, das gleichsam als das Medium des Flexiblen firmiert. Johann Jacob Breitinger: Fortsetzung der critischen Dichtkunst, Zürich 1740, 86. Digital einsehbar unter: https://www.digitale-bibliothek-mv.de/viewer/image/PPN610586920/114/ [31. 08. 2023]. 10 [Art.] Elastisch, in: Deutsches Fremdwörterbuch V, begonnen mit Hans Schulz, fortgeführt von Otto Basler, Berlin/New York 2004, 52–57, hier 53. 11 Ebd., 54. 12 [Art.] Gelenkigkeit, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center of Digital Humanities, Version 01/23: ­https://www.woerterbuchnetz.de/DWB [28. 08. 2023]. 13 Hölderlin: 4. Dezember 1801 [Anm. 2], 183. 14 Zur Verzeitlichung der Gegenwart als Neukodierung eines zuvor (ausschließlich) räumlichen Konzepts im Zeichen der »Geistes-Gegenwart« in der Reflexion von Rede bei Adam

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derlin schafft diese Gegenwart schreibend und füllt sie, indem er seinen Brief mit der Formel eröffnet15: »Mein theurer Böhlendorf! Deine gütigen Worte, und deine Gegenwart in ihnen haben mich sehr gefreut.« Der Freund ist, so die Figuration, in den Worten präsent, im räumlichen wie zeitlichen Sinne. Und diese räumliche wie zeitliche Gegenwart bildet den Raum möglicher, gemeinsamer Wesens-Umbildung.16 Dieses Gegenwärtige bildet den Ort wie den Zeitpunkt und damit die Bedingung der Möglichkeit, um ethisch-ästhetische Praktiken auszubilden. Böhlendorffs Worte mögen in dieser Konstellation Hölderlin ›sehr gefreut‹ haben. Sie sind aber zudem auch Impuls, um von der geistigen Gegenwart des Freundes in dessen Worten eine weitgreifende Theorie zu entfalten. Schon im nächsten Moment vollzieht Hölderlin eine Wende in seiner Argumentation hin zur Ausbildung des Literaten17: »Wir lernen nichts schwerer als das Nationelle frei gebrauchen. Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel.« Das sei die Kunst, die ein deutscher Schriftsteller zu erbringen habe. Damit ist die basale Polarität des Modells auch schon erstellt; ebenso wie das Schreiben als epistemische Praxis, als ein Umgang mit einem in den Körper eingeschriebenen situativen Wissen – über das man nur zum Teil willentlich verfügt – entworfen ist. Diese Polarität führt Hölderlin in einen Kontrast zwischen Griechen und Deutschen ein, indem er eine chiastische Denkfigur etabliert: In der nationalen Bildung werde nicht das national Eigene, sondern das fremd Angenommene bevorzugt ausgeprägt. Eine schlichte, kontraintuitive, einflusstheoretisch fundierte Vertauschung, aus der folgt18: Deßwegen sind die Griechen des heiligen Pathos weniger Meister, weil es ihnen angeboren war, hingegen sind sie vorzüglich in Darstellungsgaabe, von Homer an, weil dieser außerordentliche Mensch seelenvoll genug war, um die abendländische Ju n o n i s ch e Nü ch t e r n h e it für sein Apollonsreich zu erbeuten, und so wahrhaft das fremde sich anzueignen. Bei uns ists umgekehrt.

Den Griechen ist das heilige Pathos angeboren. Meister wird aber, wer sich (seelenvoll) das Fremde aneignet. Im griechischen Musterfall Homer ist das die kühle Nüchternheit der Darstellungsgabe. Den Deutschen, so Hölderlins Umkehrschluss, Müller 1807 vgl. Peter Schnyder: Geistes-Gegenwart – Rede und Vorlesung bei Adam Müller, in: Über Wissenschaft reden. Studien zu Sprachgebrauch, Darstellung und Adressierung in der deutschsprachigen Wissenschaftsprosa um 1800, hg. von Claude Haas und Daniel Weidner, Berlin 2019, 125–143, hier 125 f. 15 Hölderlin: 4. Dezember 1801 [Anm. 2], 183. 16 Vgl. zu dieser Arbeit mit und an der Gegenwart: Johannes F. Lehmann: »Ändert sich nicht alles um uns herum? Ändern wir uns nicht selbst?« – Zum Verhältnis von Leben, Zeit und Gegenwart um 1770, in: Lebenswissen – Poetologien des Lebendigen im langen 19. Jahrhundert, hg. von Benjamin Brückner, Judith Preiß und Peter Schnyder, Freiburg i.Br. 2016, 51–73, hier 55. 17 Hölderlin: 4. Dezember 1801 [Anm. 2], 183. 18 Ebd.



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ist die Nüchternheit und Darstellungsgabe angeboren. Wollen sie Meisterschaft erreichen, müssen sie sich das heilige Pathos als das fremde Andere (seelenvoll und wahrhaft) aneignen. Das Seelenvolle wie das Wahrhafte dienen als Garanten der Evidenz wie für das Gemäßigte des Ethos gleichermaßen. Böhlendorff sei dies in seinem Fernando gelungen. Daher das Lob. So die erste Folge. Und die zweite Folgerung: Was für die Griechen gut und erstrebenswert war, ist es für die Deutschen aufgrund der elementar verschiedenen Ausgangs- und Geburtssituation gerade nicht. Die direkte Nachahmung der Griechen und des Griechischen ist ausdrücklich zu vermeiden. Daher kommt Hölderlin zu dem Schluss19: Und wie ich glaube, ist gerade die Klarheit der Darstellung uns ursprünglich so natürlich wie den Griechen das Feuer vom Himmel. Eben deßwegen werden diese eher in schöner Leidenschaft […] als in jener homerischen Geistesgegenwart und Darstellungsgaabe zu ü b e r t r e f f e n seyn.

Darstellungsgabe und Geistesgegenwart gehören mit zum Angeborenen der Deutschen. Zur Meisterschaft zu schulen, um das Griechische vielleicht sogar zu übertreffen, wäre das griechische Pathos. Darin bestünde das Fremde, das man sich als wahrer Meister zu eigen machen habe. Denn in Kombination mit dem Eigenen ergibt sich dann erst das, wofür Hölderlin seinen Freund lobt, das wohltemperierte, warme, bewegliche Ethos der Darstellung und Geistesgegenwart. Dass dieses Duett zu den genuinen Eigenschaften des Deutschen gehört, ist bislang noch nie hinterfragt worden. Zur Darstellungspraxis gibt es Forschung.20 Die Geistesgegenwart hingegen führt bislang ein Schattendasein. Das Grimm’sche Wörterbuch leitet den Begriff aus der Übersetzung vom Französischen »présence d’esprit« ab und zitiert Johann Gottfried Herder als Gewährsmann mit dem Satz21: »[D]a war ein weites Feld eröffnet, die Sprache, die Geistesgegenwart, den Witz und Scharfsinn gelehrter Streiter zu üben und zu schärfen«. Umrahmt von der Sprachfertigkeit einerseits, den geistigen Vermögen, das Unverbundene zu kombinieren (Witz) und das Vorgefundene zu unterscheiden (Scharfsinn), bleibt ihr Charakter dennoch unbestimmt. Das Wörterbuch betont zudem, dass sie als ein Phänomen der Konzentration, als Steigerung und Bündelung geistiger Kräfte, im Kontrast zur »Geistesabwesenheit, f. höchste zerstreuung« stehe.22 ›L’absence d’esprit‹ führt zum Nachlassen der Aufmerksamkeit, zu Fokusverlust und schließlich distractio. Das kann als erster Hinweis darauf gelten, dass die Geistesgegenwart nicht einfach so besteht, sondern erst aktiv hergestellt werden muss. Von Hölderlins Verwendung der Geistesgegenwart oder gar einer ›homerischen‹ Variante findet sich indes keine Spur. Halten wir also zu19 Ebd. 20 Vgl. zu ihrer grundlegenden Performativität: Christiaan L. Hart Nibbrig: Was heißt ›Darstellen‹?, Frankfurt a. M. 1994. 21 [Art.] Geistesgegenwart, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/23: https://www.woerterbuchnetz.de/DWB [25. 06. 2023]. 22 Ebd.

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nächst nur fest: In der umfassenden praxeologischen Umkodierung, die Hölderlin hier als Technologien des Selbst, als nationale Bildungsfragen sowie als praktische Verfahrensweise des Dichtens einführt, tritt die ›homerische Geistesgegenwart‹ an entscheidender Stelle in Erscheinung. Und zwar exakt an jener Funktionsstelle, welche die Praxeologie besonders umtreibt: wenn der Umgang mit Wissen in eine Handlung und das Wissen in Macht umschlägt. Hölderlin stellt hierfür einen besonderen Fall dar, weil er seine eigenen Lebensplanungen mit diesen Möglichkeiten zur Selbstgestaltung verwebt. Daher gehört auch der Brief an Immanuel Niethammer vom 23. Juni 1801 in das Bezugsfeld epistemischer Praktiken, die Hölderlin entfaltet.23 Dort kündigt der Dichter an, nach Jena ziehen zu wollen, um dort als Dozent für griechische Literatur zu arbeiten 24: Ich habe im Sinne, nach Jena zu gehen und möchte mich dort auf dem Gebiete der griechischen Literatur, die in den vergangenen Jahren der Haupttheil meiner Beschäfftigung gewesen ist, mit Vorlesungen nüzlich machen, indem ich Jünglingen, die sich dafür interessiren, die Karaktere der großen Dichtungen zeige und ihnen erkläre, was für ein Geist es war, der den Stoff zu organisieren und darin das poetische Leben zu befreien vermochte.

Das ›nützlich machen‹ an dieser Stelle korrespondiert direkt mit der Formel »[a]ber sie können mich nicht brauchen« 25 aus dem Böhlendorff-Brief vom 4. Dezember. Beide gemeinsam machen klar: Hölderlins Praxeologie homerischer Geistesgegenwart schließt eine funktionale Komponente ein. Er versucht, sich in der gegenwärtigen Gesellschaft eine Position zu erarbeiten, aus der er schreiben, dichten, lehren kann. Zugleich bestätigt dieser Brief noch einmal: Wenn man aus den Schriften zeigen kann, ›was für ein Geist es war, der den Stoff zu organisieren und darin das poetische Leben zu befreien vermochte‹, dann ist dieser Geist im Geschriebenen gegenwärtig.26 Im Sinne dieser Vergegenwärtigung des Geistes geht es ihm dezidiert um die Vermittlung jener epistemischen Praktiken sowohl der Helden (in) der Literatur als auch der großen Dichter, die für Hölderlin ebenfalls als Helden firmieren, im Literarischen wie weit über das Literarische hinaus.

23 Vgl. Friedrich Hölderlin: Brief an Niethammer vom 23. Juni 1801, in: ders.: Sämtliche Werke IX [Anm. 2], 168–179, hier 169 f. 24 Ebd. 25 Hölderlin: 4. Dezember 1801 [Anm. 2], 185. 26 Zur metaphysischen und nationalen Anlage dieser Gegenwärtigkeit des Geistes in der Schrift, die bei Adam Müller nach 1806 durch die Rede verlebendigt wird, vgl. Peter Schnyder: Geistes-Gegenwart [Anm. 14], 139.



Geistesgegenwärtigkeit221

II. Homers Geistesgegenwart des Gesprächs: Odysseus und Athene

Hölderlins Anspielung auf die ›homerische Geistesgegenwart‹ bezieht sich, so zeigt die zweifache Wiederholung, auf die ›Darstellungsgabe‹ und damit auf die (epistemische) Erzählpraxis. Diese lebt ihrerseits ja davon (im Wortsinn der von Hölderlin beschworenen ›Lebendigkeit‹), dass sie auf spezifisches Erfahrungswissen zurückgreift, um es – erzählend, handelnd – in Narration umzusetzen. Um das Erzählen als Praxis zu inszenieren, gibt die Odyssee ihrem Helden vier Gesänge (9–12) Raum. Dort schildert der Held nach seiner Landung bei den Phäakern vor der versammelten Gesellschaft seine Abenteuer.27 Der erzählerische Rückblick fungiert als spezifische Fertigkeit, dem fremden Publikum ethische wie ästhetische Praktiken zu vermitteln. In dieser spezifischen Umgangsform mit Wissen überlagern sich der Autor (Homer) und der Held, intradiegetischer und extradiegetischer Erzähler der Odyssee. Beide Erzählmomente haben im Lichte von Hölderlins Diktum als Probe auf ein neues Tugendexempel, auf Darstellungsgabe und Geistesgegenwart zu gelten. Direkt nachdem Odysseus seine Darstellungsgabe in der Rede erwiesen hat, kommt der Held zu Beginn des 13. Gesanges – die Abenteuer der Irrfahrt hat der Protagonist da bereits im Zuge seines Erinnerungsparcours verarbeitet – endlich auf Ithaka an. Bei der Ankunft ist Odysseus seines Geistes gerade nicht gegenwärtig. Vielmehr schläft er so fest während der Überfahrt, dass die Phäaker den Bewusstlosen auf seiner Heimatinsel absetzen, unterdessen er friedlich schlummert. An dieser Kardinalstelle trifft die Erzählung in der Gegenwart ihres Erzählens ein. Alles andere war bislang seinerseits ein Rückblick. Kaum erwacht,28 trifft Odysseus auf Athene, die nicht einfach nur ein Gespräch initiiert, sondern einen Wettstreit der Verstellung beginnt: Sie tritt zuerst als »Hüter[] der Schafe« auf,29 um dann plötzlich »an Gestalt einem Weibe, / Einem schönen und großen, geschickt in glänzenden Werken« 30 zu gleichen. So gibt auch Odysseus sich als ein anderer aus. Wörtlich heißt es von diesem Vermögen 31: »Aber er sagte nichts Wahres, sondern hemmte die Rede, / Allzeit in seiner Brust einen schlauen Gedanken bewegend«. Schon zu Hölderlins Zeiten würde man keine Gedanken mehr in der Brust verorten. Man würde aber noch, in Fortschreibung an die antiken Vorstellungen, wie Hölderlin so schön schreibt, die ›Brust erleichtert fühlen‹ (s. o.). Lang vor der gehirnpsychologischen Wende bei René Descartes indes fungiert die Brust in der Odyssee, eng verwandt zu den damaligen Vorstellungen des Zwerchfells, als jener Ort, an dem Körper und Geist sowie Affekte und Denken miteinander interagieren. Im Zuge der absichtlich verlangsamten, weil damit kontrollier- und manipulierbaren Rede, kann Odysseus daher durchaus ›Gedanken in seiner Brust bewegen‹. Ein Bild, das zeigt, woher Hölderlin sein Ideal der ElasHomer: Odyssee, übersetzt von Roland Hampe, Stuttgart 1979, 134–208. ebd., 215 [V. 188]. 29 Ebd., 216 [V. 222]. 30 Ebd., 218 [V. 288 f.]. 31 Ebd., 217 [V. 254 f.]. 27 Vgl.

28 Vgl.

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tizität und Beweglichkeit adaptiert. Und bei dem es sich – Affekt- und Redekontrolle legen dafür Zeugnis ab – eindeutig um eine (Selbst-)Darstellungsgabe in der Affektstufe ›Ethos‹ handelt, die hier dem Helden auf den Leib geschrieben wird. Als Kontrastfolie unterliegt dieser Szene die Vorstellung eines Brustraums, in dem Gedanken und Affekte unkontrollierbar umherschwirren und zu einer entsprechenden Sprachäußerung in der Form des Pathos führen würden. In diesem Modus wäre es dann unmöglich, Herr der eigenen Gedanken zu sein; geschweige denn, sich als ein anderer darzustellen. Der überhastet sprechende Mund würde (in sich überschlagender Rede) unvorsichtig die Wahrheit kundgeben. Vielleicht darf man daran erinnern, dass es bei Aristoteles ein bereits routiniertes Wissen über einen solchen Moment gibt, in dem man die Macht über die eigenen Gedanken in der Brust und die eigene Sprache verliert: und zwar im Moment des Kitzelns, das nach Aristoteles’ Körperverständnis das Zwerchfell in Schwingung bringt,32 und damit direkt zu einer Verwirrung des Geistes führt. Das gilt auch und besonders unmittelbar für den Moment, in dem man gekitzelt wird 33: Wer nämlich gekitzelt wird, lacht schnell, weil die Bewegung schnell zu diesem Ort [dem Zwerchfell, C. M.] gelangt und, obschon nur wenig wärmend, sie dennoch deutlich macht und das Denken gegen den Willen bewegt. [...] Kitzlig sein ist Lachen infolge einer derartigen Erregung in der Gegend der Achselhöhle.

Odysseus tritt in diesem Fall also als Held auf, der sich gegenüber dem Übergriff gut gerüstet weder kitzeln noch sonst in einer Weise von außen irritieren lässt. Jederzeit aber droht die Gefahr, mit nur einem Schritt zu weit, die Balance und die Kontrolle an die Affekte zu verlieren. In diesem beweglichen Wechsel des Gesprächs – nicht in der dauerhaft sich entfaltenden Rede (von den eigenen Abenteuern) – verortet Homer die Geistesgegenwart. Prompt lobt Athene – das entspricht ja auch Hölder­ lins Instruktionspraxis gegenüber dem Freund –, indem sie sich ihrem Schutz­ befohlenen zu Erkennen gibt (Anagnorisis)34: ›Schlau und verschlagen müßte der sein, der dich überholen Wollte in sämtlichen Listen, und träte ein Gott dir entgegen. Schlimmer, Erfindungsreicher und unersättlich an Listen, Solltest du nicht im eigenen Land Schluß machen mit Täuschung Und mit Lug und Trug, die dir von Grund auf vertraut sind? Reden wir nicht mehr darüber, denn Nützliches wissen wir beide; 32 Zur elementaren Funktion des Zwerchfells für die antike Anthropologie, Philosophie und Medizin vgl. Esther Fischer-Homberger: Zwerchfellverletzung und psychische Störung, in: Gesnerus, Vierteljahreszeitschrift für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 35 (1978), 3–35. Dorothee Kimmich: Das Zwerchfell – Der Sitz des Lebens, in: ›Ze hove und an der strâzen‹ – Die deutsche Literatur des Mittelalters und ihr »Sitz im Leben«. Festschrift für Volker Schupp zum 65. Geburtstag, hg. von Anna Keck und Theodor Nolte, Stuttgart/Leipzig 1999, 125–133. 33 Aristoteles: Über die Teile der Lebewesen, in: Aristoteles Werke XVII, übersetzt und erläutert von Wolfgang Kullmann, Berlin 2007, 81 [673a]. 34 Homer: Odyssee [Anm. 27], 218 [V. 290–301].



Geistesgegenwärtigkeit223

Du bist ja von den Sterblichen allen an Rat und Worten Weitaus der beste, doch ich bin berühmt unter allen den Göttern Durch meine Einsicht und kluge Gedanken. Und du erkanntest Pallas Athene, die Tochter des Zeus, nicht, die ich doch immer Bei dir stehe in all deinen Nöten und dich behüte[.]‹

Odysseus gesteht: Er habe sie tatsächlich nicht erkannt und auch an ihrem Beistand gezweifelt. Ungläubig fragt er, ob er tatsächlich in Ithaka angekommen sei. Und Athene wiederholt noch einmal, an welchem Ort er aus ihrer Sicht seine Gedanken zu hegen hat 35: ›Immer ist dir doch in der Brust ein solcher Gedanke; Drum vermag ich dich auch im Unglück nicht zu verlassen, weil du besonnen bist, und schnell von Verstand, und voll Einsicht. Sehnlichst würde ein anderer Mann nach solch einer Irrfahrt Eilen, um in den Hallen zu sehen Kinder und Gattin; Dir aber ist es nicht lieb, zu erfahren und zu erfragen, Ehe du nicht deine Gattin geprüft hast[.]‹

Suspension der Sehnsucht, Triebaufschub, die Fähigkeit, wie Athene direkt anfügt, abzuwarten und das Leid zu dulden 36: »›Dulde die Leiden, und nimm auf dich der Männer Gewalttat‹«, um zugleich mit Besonnenheit (sophrosyne), Einsicht und schnellem Verstand zu handeln. Diese dritte, und – nach Athenes Konzeption – ebenso epistemische wie ethische Praxis, die innerhalb der gemäßigten Affektstufe anzusiedeln ist, ist von Homer an dieser Stelle explizit mit dem Begriff ἀγχίνοος, respektive ἀγχίνοια belegt. Er ist mit »Scharfsinn, Gewandtheit des Geistes, schnell und leicht etwas aufzufassen und zu beurteilen; Geistesgegenwart«37 zu übersetzen (und wird in dieser Form etwa auch von Plutarch verwendet). In Homers Odyssee kommt er nur an dieser einen, dafür aber strukturell entscheidenden Stelle vor. Wenn zudem ausgerechnet Athene den Begriff im Munde führt, um die entscheidenden Charaktereigenschaften ihres Helden hervorzuheben, lobt sie – wie Hölderlin an seinem Freund – an ihrem Schützling ihre eigene Fertigkeit. Die Geistesgegenwart wird in der Szene umgehend für den weiteren Verlauf der Gesänge funktionalisiert. Athene und ihr Held planen das weitere Geschehen und Schicksal in den jetzt noch folgenden 11 (von insgesamt 24) Gesängen. Athene macht zugleich den gemeinsamen Gestaltungsraum als auch die Grenzen von Odysseus’ menschlicher Planung klar 38:

35 Ebd.,

219 [V. 330–336]. [V. 310]. 37 Franz Passow: Historisches Wörterbuch der griechischen Sprache I, neu bearbeitet und zeitgemäß umgestaltet von Friedrich Palm, Leipzig 1841, 25. 38 Homer: Odyssee [Anm. 27], 218 [V. 297–299]. 36 Ebd.,

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›Du bist ja von den Sterblichen allen an Rat und an Worten Weitaus der beste, doch ich bin berühmt unter allen den Göttern Durch meine Einsicht und kluge Gedanken.‹

Jeder von beiden ist in seiner Lebens- bzw. Sterblichkeits-, respektive Unsterblichkeitssphäre der herausragende Denker, das ist die Grundlage des weiteren Vorgehens39: ›Und nun kam ich hierher, mit dir einen Plan zu ersinnen Und die Schätze zu bergen, die dir die erlauchten Phäaken Schenkten, als du nach Hause fuhrst, wie ich ihnen anriet, Und dir zu sagen, wieviel dir an Leid noch zu tragen bestimmt ist In den gebauten Häusern; du trage es, wenn auch gezwungen.‹

Gemeinsames Ersinnen klingt nach Kooperation auf Augenhöhe. Gemeinsames Bergen der Schätze, um die ökonomische Basis des Lebens zu sichern, ruft auf, dass die Göttin ihrem Gegenüber (in dessen Sinne) zur Hilfe kommen will. Die Wendung schließt sogar eine befristete Unterordnung und Dienstbarkeit ein, die aber durch die Aussicht, Auskunft zu geben in einen Lebensbereich, in den nicht einmal der Klügste unter den Menschen Einsicht hat, in die göttliche Überlegenheit zurückgewendet wird. Auch indem die Göttin Menschen direkte Handlungsanweisungen erteilt, bestimmt sie die Grenzen der menschlichen Kapazitäten klar. So gibt Athene die angemessene ethische Praxis auch umgehend vor40: ›Und du sage es keinem, weder an Männern noch Frauen, Allen, weswegen du kamst von der Irrfahrt, sondern mit Schweigen Dulde dein Leiden, und nimm auf dich der Männer Gewalttat.‹

Gefordert ist die Kunst der Verstellung, deren sine qua non die geistesgegenwärtige Auffassung der Situation einerseits, die adäquate Affekt- und Redekontrolle andererseits darstellt. Hier besteht das Geistesgegenwärtige im duldenden Schweigen und der tröpfchenweise dosierten Informationspreisgabe, welche der authentischen Rede vorzuziehen ist. Ethik und Ethos von Rede und Affekt fallen in Folge der Geistesgegenwärtigkeit in eins. Denn dies erst erlaubt die Wandelbarkeit, eröffnet die Möglichkeit, nicht erkannt zu werden, und erweitert den eigenen Schicksalsraum. Das also sind die entscheidenden, geistigen Fertigkeiten ihres Schützlings und ihrer selbst: präzise, gelenkig, elastisch im Geist, sich an den Herausforderungen des Augenblicks und den Widerständen stärkend. Athene formuliert, was Hölderlin später für das Literarisch-Deutsche adaptiert. Sie vollzieht dies in einem Moment, in dem es – performativ – um die Darstellungsgabe der beiden geht. Von der dargestellten Selbstdarstellung dieser beiden Hauptfiguren, die sich beratschlagen, lässt sich die Forderung nach der Geistesgegenwärtigkeit auch auf die homerische Darstellung selbst übertragen. Der Schluss lautet schlicht: Odysseus hat sie, 39 Ebd., 40 Ebd.,

[V. 303–307]. 218 f. [V. 308–310].



Geistesgegenwärtigkeit225

Athene und Homer haben sie eben auch: die Geistesgegenwart und Darstellungsgabe. Wenn Geistesgegenwart nun bedeutet, sich der eigenen Gedankenbewegungen (in der Brust) bewusst zu sein, so dass man kontrollieren kann, was spontan zu fühlen und zu sagen ist und was nicht, dann formuliert die Odyssee in den kommenden zehn Kapiteln übergenau aus, wie ihr Held am eigenen Hofe die eigenen Maßgaben in Praxis umsetzt. Bis das Wissen zuletzt in (die wieder errungene) Macht umschlägt: gegenüber den Freiern, seiner Frau und – ja sogar gegenüber seiner Amme. Nur eine Narbe, die aus der Vergangenheit in die Geistesgegenwart hineinreicht, zerreißt diese, und verrät ihn. Folgt man der Hölderlinforschung, spielte Homers Odyssee im Gegensatz zur ­I liade (und zur Achill-Figur) für den Dichter nur eine nachgeordnete Rolle.41 Doch Hölderlin arbeitet, nachdem das Studium griechischer Literatur ein »Haupttheil [s] einer Beschäfftigung gewesen«42 ist und er »lange daran laborirt« hat,43 anhand der Schlüsselstelle von Homers Epos die epistemische Praktik der Geistesgegenwart sowohl des irdischen Helden als auch der himmlischen Schutzgöttin und nicht zuletzt jenes Geistes heraus, »der den Stoff zu organisiren und darin das poetische Leben zu befreien vermochte.«44 Tatsächlich handelt es sich – nach Jahren, in denen Odysseus sich dem Joch seines Schicksals beugen musste – um jenen Moment der Freiheit, in dem er gemeinsam mit Athene, wenn auch nicht auf Augenhöhe mit ihr, die Zukunft geistesgegenwärtig gestalten kann. Dass es sich gleichzeitig um einen Moment der Gefahr handelt, steht dabei außer Frage. Die Begegnung mit einem Unbekannten, am Strand eines unbekannten Landes, der schnell blitzartig seine Gestalt ändert, bevor er schließlich die Erscheinung einer Frau annimmt, verkörpert jene Aneignung des Fremden (in das Eigene), welche die Geistesgegenwart fordert. Auffällig korreliert sie mit Hölderlins Beschreibung, mit welchen Maß­ gaben er selbst in die Fremde auf brechen will45: »Ich werde den Kopf ziemlich beisammen halten müssen, in Frankreich, in Paris; auf den Anblick des Meeres, auf die Sonne der Provence freue ich mich auch.« Den Kopf beisammen halten zu müssen, 41 Die Odyssee findet im Handbuch nur an drei einzelnen, marginalen Stellen Erwähnung. Vgl. Hölderlin-Handbuch – Leben – Werk – Wirkung, hg. von Johann Kreuzer, Stuttgart 2020, 137, 277 und 384. Grundlegend für diese Beurteilung bereits: Robert Kerber: Hölderlins Verhältnis zu Homer, in: Philologus 80/1 (1924), 1–66, hier 28: Dessen Urteil f ällt dann aber doch merkwürdig ambivalent aus: »Hölderlins Hauptanteil gehört der Ilias. Odysseus der Vielkluge wird in den Prosaentwürfen hart abgeurteilt. Immerhin mußte gerade der Odysseus der Odyssee, der Dulder und Ringer, besonders wieder in gewissen Situationen ihm starken Eindruck machen.« Kerber benennt das Ende des Hyperion, An die Unerkannte, Die Mutter Erde und Unter den Alpen gesungen als direkte identifikatorische Auseinandersetzung mit Odysseus (vgl. ebd., 28). Als Jugendereignis gilt Uvo Hölscher Hölderlins Homer-Lektüre: Uvo Hölscher: Hölderlins Umgang mit den Griechen, in: Jenseits des Idealismus – Hölderlins letzte Homburger Jahre (1804–1806), hg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Bonn 1988, 319–337, hier 334. 42 Hölderlin: 23. Juni 1801 [Anm. 23], 170. 43 Hölderlin: 4. Dezember 1801 [Anm. 2], 183. 44 Hölderlin: 23. Juni 1801 [Anm. 23], 170. 45 Hölderlin: 4. Dezember 1801 [Anm. 2], 184.

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impliziert ein Bild der distractio, der Zerstreuung. Die Formulierung erscheint als Periphrase der Geistesgegenwart, samt Vorfreude auf den gleichsam umgekehrten Homer-Blick: auf den ›Anblick des Meeres‹ vom Strand aus würde Odysseus wohl kaum noch vorfreudig hoffen. III. Spinoza, Gracián, Kant: Facetten der Geistesgegenwart

Zwar liegt der Schluss nahe, dass Hölderlin die Geistesgegenwart als epistemische Praxis direkt in Homers Odyssee erkennt und umgehend adaptiert. Aber seine Betonung, dass es stets auf die Unterschiede zu den Griechen ankomme, sein Wissen über die entscheidenden (auch anthropologischen) Umbesetzungen im Verständnis menschlicher Affektation macht klar, dass es mit Blick auf Hölderlin auch darum geht, die historische Variabilität der Geistesgegenwärtigkeit im Blick zu haben. Hölderlin hat einen Sinn – so die These – für Ausfächerung des Phänomens, seiner Konnotationen und Affektbesetzung, die sich pointiert etwa bei Baruch de Spinoza, Baltasar Gracián und Immanuel Kant festmachen lassen. Ändern wir daher noch einmal den Duktus der Untersuchung. Nehmen wir in einem genealogischen Dreischritt zumindest diese Positionen der Geistesgegenwart in den Blick, ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Eine Philosophiegeschichte der Geistesgegenwart müsste erst noch geschrieben werden. Stattdessen halten wir gezielt Ausschau nach jenen Ingredienzen, die in Hölderlins praxeologischer Umbesetzung in das Konzept und semantische Feld der Geistesgegenwart hineinspielen. Mit einem Blick auf den III. Teil von Spinozas Ethik zeigt sich, dass die Geistesgegenwart eine Rolle spielt, wenn (spätestens nach Descartes) statt der Brust längst das Gehirn als Verarbeitungszentrum äußerer Reize wie geistiger Impulse anerkannt ist.46 Zugleich eröffnet Spinoza in seinen Überlegungen Vom Ursprung und der Natur der Affekte, dass Geistesgegenwart nicht einfach (passiv) gegeben, sondern dass sie in jeder neuen Situation aktiv hergestellt werden muss. Immerhin betrachtet er an dieser Stelle den ›tätigen Geist und seine Affekte‹47 im Wechselspiel der drei Grundaffekte: Lust, Unlust und Begierde, wobei die Unlust das Denkvermögen vermindert und einschränkt, die Begierde es unterhält und die Lust es von den Einschränkungen zu befreien hat. In der Anmerkung zu Lehrsatz 59 »Unter allen Affekten, die sich auf den Geist, sofern er tätig ist, beziehen«, fügt Spinoza dann hinzu48: »Alle Taten, die aus Affekten erfolgen, die auf den Geist als erkennenden beziehen, rechne ich zur Tatkraft, die ich Seelenstärke und Edelsinn teile.« Die beiden letzteren differenziert Spinoza dadurch, dass sich die Seelenstärke auf den 46 Vgl. Baruch de Spinoza: Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt – Lateinisch–Deutsch, neu übersetzt, hg. und mit einer Einleitung versehen von Wolfgang Bartuschat, Hamburg 2010, 332 f. 47 Im Gegensatz zu den Leidenschaften, die auf die äußeren Reize reagieren, ist in diesem Fall der Geist selbst tätig. 48 Spinoza: Ethik [Anm. 46], 333.



Geistesgegenwärtigkeit227

Erhalt des Selbst richtet, während der Edelsinn sich auf die Verbindung mit anderen beziehe49: Unter Seelenstärke verstehe ich die Begierde, zufolge derer jeder strebt sein Sein nach dem bloßen Gebote der Vernunft zu erhalten. Unter Edelsinn aber verstehe ich die Begierde, deren zufolge jeder strebt, nach dem bloßen Gebote der Vernunft die übrigen Menschen zu unterstützen und sich durch Freundschaft zu verbinden. Die Taten also, die nur den Nutzen des Handelnden bezwecken, rechne ich zur Seelenstärke, und die, welche auch den Nutzen eines anderen bezwecken, zum Edelsinn. Mäßigkeit also, Nüchternheit und Geistesgegenart in Gefahren usw. sind Arten der Seelenstärke, aber Bescheidenheit, Milde usw. sind Arten des Edelsinns.

Als spezifische Ethos-Formeln treten Geistesgegenwart und Nüchternheit wie bei Hölderlin in engster Nachbarschaft auf.50 Als wäre Spinozas Einschätzung an Odysseus’ Ethos der Geistesgegenwart im Augenblick akuter Gefahr geschult, lässt sich jetzt zudem im Rückblick von Spinoza aus sagen: dass es dem Helden in der äußerst bedrohlichen Situation ständiger Wandlungen am Strand von Ithaka im Sinne der Geistesgegenwart tatsächlich um den bloßen Selbsterhalt geht.51 Die Seelenstärke – als epistemische Praxis der Geistesgegenwart – wäre indes Athene zuzuschreiben. Und auch bei Hölderlins Entwurf gewinnt Spinozas Konzept des Selbsterhalts im Zeichen der Geistesgegenwart an Profil, geht es doch für Hölderlin – die gefährliche Reise nach Frankreich vor Augen –, um den Kampf, doch noch eine funktionale Position als Dichter im deutschsprachigen Raum zu finden, von der aus sich Schreiben lässt. Rücken wir eine zweite historische Facette der Geistesgegenwart in den Fokus, indem wir von Spinoza aus noch einmal dreißig Jahre zurück gehen, um den frühneuzeitlichen Fundus der geistesgegenwärtigen Topoi zu verbreitern, und zwar mit dem Blick auf Graciáns wirkmächtiges Handorakel und Kunst der Weltklugheit, mit der gebotenen Einschränkung, dass die Übersetzung in andere Sprachen nicht vorbehaltlos zu vollziehen ist. Wenn man aber dafür argumentiert, dass Geistesgegenwart nicht nur eine Vokabel ist, sondern das ganze semantische Feld einer oder mehrerer sehr artverwandter Fragen besetzt, ist es möglich, diese Schrift oder auch andere 49 Ebd. »Temperantia igitur, sobrietas et animi in periculis praesentia etc, animositas sunt species; modestia autem, clementia etc. species generositates sunt« (ebd., 332). 50 Adelung vermerkt zur Gegenwart des Geistes späterhin (allerdings ohne eigenes Lemma): »die Fertigkeit, sich bey allen Veränderungen seiner selbst bewußt zu seyn, und sich zum Gebrauche der Kräfte seines Geistes im Stande zu befinden«, und verweist auf die Bedeutung der Nüchternheit ( Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch II, Wien 1811, 488). 51 Francis Amann listet die Geistesgegenwart immerhin als »Charakterstärke, die Macht des Geistes ausdrücken« auf (Francis Amann: Wahrheit und Erkennen bei Spinoza, Würzburg 2000, hier 177). Ebenso: Pierre-François Moreau: Imitation der Affekte und zwischenmenschliche Beziehungen, in: Baruch de Spinoza – Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, hg. von Michael Hampe und Robert Schnepf, Wien 2006, 183–195, hier 190. Dasselbe gilt für Wolfgang Bartuschat: Spinozas Theorie des Menschen, Hamburg 1992, hier 158 und 300.

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Schriften, die das Wort nicht direkt verwenden, in das Kalkül zu ziehen. Vom semantischen Feld aus kann man nach der Virulenz der Frage, nach Denkformen des Geistesgegenwärtigen an historischen Sattelpunkten fragen. Gracián erkennt in der Geistesgegenwart eine epistemische Tugend des Strategen und Taktikers. Geistesgegenwart hat einen Nutzen. Das Handorakel ist ja u. a. als Lebenshilfe und pädagogisches Instrument gedacht, vor allem für Menschen mit höherer Verantwortung (vom Klerus über Beamte bis zum Hof ). Gracián beschreibt Welt ausdrücklich als eine »Welt des Wissens« 52: »Einige kommen klug auf die Welt: mit diesem Vorteil der angeborenen Vernunft treten sie in die Welt des Wissens ein und sind schon den halben Weg zum Gelingen gegangen.« Die einzuübenden epistemischen Praktiken erweisen sich dezidiert als Technologien des Wissens. Diese organisieren den Umgang auch mit dem praktischen Wissen und steigern die Produktivität im Umgang mit Wissenserzeugung und -verarbeitung. Es handelt sich also nicht ausschließlich um eine Welt der Ressentiments und (metaphysisch) delegierten Verantwortung. Sondern auch – zumindest für den Kreis der Entscheidungsträger – um eine Wissensgesellschaft, in der sich der einzelne doppelt bestimmt: im Rückgriff auf das Archiv des Wissens (und den spezifischen Zugriff darauf ) sowie in der Aktualität der jeweiligen Situation. Damit setzt ein, was späterhin als Grundlage von ›The Network Society‹ erkannt wird. Daher lautet der Leitspruch der Überlegungen 53: »Die Kraft des Geistes übertrifft die körperliche Kraft; sie ist wie ein Schwert, das wir immer für den richtigen Moment in der Scheide der Klugheit halten.« Wie bei Hölderlin geht es darum, die geistigen Techniken zu schulen, damit diese im entscheidenden Moment (Kairos) vom Wissen in Macht umschlagen. In diesem Kontext gewinnt die Geistesgegenwart Kontur, wenn es heißt 54: 56. Geistesgegenwart haben. Sie entsteht aus glücklicher Schnelligkeit. Aufgrund ihrer Lebendigkeit und Direktheit gibt es für sie weder Druck noch Zufall. Manche denken sehr viel nach, und dann ganz falschzuliegen; und andere gehen immer richtig, ohne vorher nachzudenken. Es gibt antiparastatische Genies, die unter Herausforderungen besser handeln, sie sind Ungeheuer, weil sie beim Improvisieren immer richtig – und beim Denken immer falsch liegen. Man spendet den Geistesgegenwärtigen Beifall, weil sie eine wunderbare Fähigkeit zeigen: Differenziertheit im Denken, Klugheit im Handeln.

Schon von ihrer Mittelposition zwischen den Nachdenklichen und den ›antipara­ statischen Ungeheuern‹ stehen die Geistesgegenwärtigen in einer Position des Ethos. Plausibilität erzeugend, erhalten sie Applaus. Gracián nimmt die begrenzte 52 Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, übersetzt und hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Stuttgart 2021, 42. 53 Ebd., 40. 54 Ebd., 39. Im Original: »tener buenos repentes«, eine Wendung, die eine enge Verwandtschaft zur Schlagfertigkeit aufruft, die allerdings eine Defensivstrategie darstellt, weil sie stets auf einen Schlag (einen Impuls) eines anderen wartet und reagiert.



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Handlungs-, Entscheidungs- und Denkfähigkeit des Einzelnen, der stets an sein situatives Wissen gebunden ist, um sie in eigener Weise zu gestalten:55 Der einzelne hat – im Vokabular von Athene gegenüber Odysseus – die Situation zu erdulden, ohne dem Druck (auf der Brust) nachzugeben. Erst das Warten eröffnet den Raum, um zu gestalten 56: 55. Warten können. Spricht für ein großes Herz, das durch Leiden breiter geworden ist. Sich nie unter Druck setzen oder den Leidenschaften nachgeben. Man sollte zuerst Herr über sich selbst sein, und dann wird man Herr über andere werden. Durch die Zeit zum Mittelpunkt der Gelegenheit wandern.

Präzise die Gelegenheit auf den Punkt treffen ist das eine. Das andere: zugleich einen spezifischen zeitlichen Rahmen zu akzeptieren, indem überhaupt eine Entscheidung möglich ist. Sollte dieser Rahmen überschritten sein, f ällt zwar der Druck ab, aber die Entscheidung ist auch hinf ällig. Zur Geistesgegenwärtigkeit gehört nach Gracián auch eine hohe und zugleich glückende Denkgeschwindigkeit.57 Denjenigen, der sich dem Takt der Ereignisse anschmiegt und im Rhythmus der Herausforderung agiert. Geistesgegenwärtig, aber ohne überhaupt noch nachdenken zu können. Diesem Entscheider spricht Gracián eine eigene Qualität zu. Auch hier spielt die Affektkontrolle eine entscheidende Rolle, um im entscheidenden Moment, im Takt der Ereignisse, die angemessene Entscheidung zu fällen. Damit ist man zwar der Geistesgegenwärtigste, aber sicher nicht der Nachdenklichste und Besonnenste unter den Menschen. Und doch fällt auf, dass der strategische Entscheidungsraum des Geistesgegenwärtigen in der Wissensgesellschaft, im Rhythmus der Ereignisse und der Funktionalität des Entscheidens, im Vergleich zum Zwiegespräch mit Athene sich enorm vergrößert hat. Hölderlins Konzept lässt sich in historischer Konstellation mit Kants Überlegungen zur Geistesgegenwart am Ende seiner Schrift Der Streit der Fakultäten lesen. Dort versinkt Kant über ein erhellendes Nachdenken über den Denkprozess selbst,58 um

55 Arnau und Arregui weisen – allerdings nur in einer Fußnote – darauf hin, dass bei Gracián die Geistesgegenwärtigkeit ausdrücklich nicht für die Kunst geeignet sei. Man könnte dieses Argument insofern für Hölderlin adaptieren, als er in der Kunst geistesgegenwärtig und beweglich umsetzt, was für Gracián im Künstlerischen noch als undenkbar galt (Pau Arnau und Jorge V. Arregui: Bases antropológicas de la estética de Gracián: naturaleza, cultura y gusto, in: Thémata 16 (1996), 45–64, hier 58). 56 Gracián: Handorakel [Anm. 52], 38. 57 Zur Geschwindigkeit im vorliegenden Aphorismus: Jorge Checa: Oráculo manual – Gracián y el ejercicio de la lectura, in: Hispanic Review 59/3 (1991), 263–280, hier 272. 58 Birgit Erdle hat mit ihren Ausführungen zu Kants Sätzen die bislang wichtigste Studie zur Geschichte und zum Konzept der Geistesgegenwärtigkeit geleistet: Birgit R. Erdle: Vor der Lite­ ratur ankommen – Kant und die Geistesgegenwart, in: Literarische Epistemologie der Zeit – Lektüren zu Kant, Kleist, Heine und Kafka, Paderborn 2015, 23–48. Ausführlich zu Kants Geistesgegenwart und der Fortschreibung über Clausewitz bis zu Benjamins ›leibhaftiger Gegenwart‹ vgl. Christian Metz: Geistesgegenwart, jetzt, in: Zeitschrift für philosophische Anthropologie 2 (2023), 10–26.

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schließlich anhand des Redens zu erörtern, und zwar wie Hölderlin ebenfalls im Rückgriff auf eine Rhetorik der Begegnung 59: Daher begegnet es mir: daß, wenn ich, wie es in jeder Rede jederzeit geschieht, zuerst zu dem, was ich sagen will, (den Hörer oder Leser) vorbereite, ihm den Gegenstand, wohin ich gehen will, in der Aussicht, dann ihn auch auf das, wovon ich ausgegangen bin zurückgewiesen habe (ohne welche zwei Hinweisungen kein Zusammenhang der Rede Statt findet) und ich nun das letztere mit dem ersteren verknüpfen soll, ich auf einmal meinen Zuhörer (oder stillschweigen mich selbst) fragen muß: wo war ich doch? Wovon ging ich aus= welcher Fehler nicht sowohl ein Fehler des Geists, noch nicht des Gedächtnisses allein, sondern der Geistesgegenwart (im Verknüpfen), d. i. unwillkürliche Zerstreuung und ein sehr peiniginder Fehler ist; dem man zwar in Schriften (zumal den philosophischen; weil man da nicht immer so leicht zurücksehen kann, von wo man ausging) mühsam vorbeigen, ob zwar mit aller Mühe nie völlig verhüten kann.

Geistesgegenwart ist bei Kant die Fertigkeit, im Zuge der spontanen Entstehung der Gedanken beim Reden zu verknüpfen, was man als Ausgangs- und Zielpunkt der Rede vor- und festgelegt hatte, (als wäre man auf dem Weg gemeinsam mit Hölderlins Genius,) um im selben Moment das jetzt Gesprochene exakt in den durch den Rück- und Vorgriff (erst) entstandenen Zwischenraum einzupassen: den Weg durch den Garten nehmen. Die Geistesgegenwart wird sichtbar im Moment der Störung, wenn sich die Jonglage der verschiedenen Zeitmomente im Moment der Gleichzeitigkeit nicht aufrechterhalten lässt, etwa weil der Geist die spezifische Stelle des Ausgangsortes nicht wiederfinden kann. Alles andere als zufällig unterliegt diesem Modell die Topologie der traditionsreichen (rhetorischen) Mnemotechnik, ohne – wie Kant betont – darin aufzugehen. Einer solchen poetischen Inszenierung unterliegt die vorherige Umstellung der Vortragskunst (actio) auf die Descartes’sche Subjektkonstitution und mentis, nach der es in erster Linie nicht länger um das movere im Hinblick auf die Affektation ging, sondern das Wiederholen der inventio im Zuge der actio im Hinblick auf die Urteilskraft (iudicium) der Zuhörer durchgeführt wurde. Vor diesem Hintergrund geht es dann auch nicht länger um Ansteckung qua Affektation, sondern um das Mitdenken und das Miteinander denken. IV. Hölderlins Geistesgegenwärtigkeit der Poesie

Selbstverständlich ist mit diesen Ansätzen einer Genealogie der Geistesgegenwart nur eine Trias erster Bezugspunkte aufgezeigt, auf die Hölderlins ›homerische Geistesgegenwart‹ sich in ihrer Praktikabilität zugleich mit bezieht. Aber die drei textuellen Resonanzen zeigen doch, in welcher Konstellation Hölderlin sich mit seinem 59 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, Dritter Abschnitt, in: ders.: Werkausgabe in 12 Bän­ den XI, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 2020, 260–392, hier 390.



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Entwurf einer ethischen Praxis bewegt, die zugleich die Art literarischer Darstellung bestimmen soll. So eröffnet sich ein poetischer Raum, in dem Hölderlin seine geistesgegenwärtige Praxis im Poetischen selbst ausbuchstabiert; nicht nur auf der Seite der poetischen Produktion, sondern zugleich auch auf der Rezeptionsebene. Der einsame Menon in seiner Höhle, der in Menons Klagelied an Diotima seiner im Wald zerstreuten Sinne nicht mehr mächtig ist, lässt sich ebenso als Figuration der Geistesgegenwart (ex negativo) lesen wie die Performativität von »[w]enn der Dichter einmal des Geistes mächtig«,60 die in ihrem ersten Satz mit ihren verschachtelten Kausalketten eine spezifische Lektüreform der Geistesgegenwart einfordert. Aber auch die berühmten Anfangsverse von Patmos61: »Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch« lässt sich in seiner spezifischen Form von – elastischer – räumlicher Anwesenheit als Figuration des Geistesgegenwärtigen deuten. Und nicht zuletzt reiht sich auch das Gedicht Blödigkeit in diesen Zusammenhang ein. Lesen wir vor dem Hintergrund der bislang vorgestellten Entwürfe zuletzt nur ein paar Verse, um die präzise Gelenkigkeit aufzurufen, die vom mitdenkenden Lesen allein durch die hölderlintypischen Inversionen gefordert wird. Schon vom Titel an erweisen sich diese Zeilen als familienähnlich zu Kants Geistesgegenwart-Miniatur: Blödigkeit beschreibt den Zusammenhangsverlust, den Kant beklagt, äußerst zutreffend, bevor im direkten Kontrast der ›Genius‹ angesprochen wird, als die Kraft, die den wahren Zusammenhang wie einen Teppich knüpfen soll. Wobei schon mit der Apostrophe deutlich wird: Auch bei Hölderlin herrscht die Gesprächsform, im Wechsel der Anreden und Stimmen, vor. Man möchte im Rückgriff auf Graciáns Begriff von Takt sagen – im Rhythmus der Verse, mit denen man als Leser mitzudenken hat 62: Sind denn dir nicht bekannt viele Lebendigen? Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? Drum, mein Genius! tritt nur Baar in’s Leben, und sorge nicht! Was geschiehet, es sei alles gelegen dir! Sei zur Freude gereimt, oder was könnte denn Dich belaidigen, Herz, was Da begegnen, wohin du sollst?

Wie auf gut geknüpften Teppichen gehen Gedanken des angesprochenen, eigenen (›mein‹) Genius auf den Verknüpfungen des wahren Zusammenhangs. Keine Sorge, nirgends. So lange wie bei Kant einem alles als schon gelegen vorkommt, hat der Geist das Gedachte schon zum abgeschlossenen Gegenstand verfertigt und 60 Friedrich Hölderlin: Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes, in: ders.: Werke IV.1, hg. von Friedrich Beissner, grosse Stuttgarter Ausgabe, Stuttgart 1961, 241–265, hier 241. 61 Friedrich Hölderlin: Patmos, in: ders.: Werke II, hg. von Friedrich Beissner, grosse Stuttgarter Ausgabe, Stuttgart 1951, 165–172, hier 165. 62 Friedrich Hölderlin: Blödigkeit, in: ders.: Werke II [Anm. 61], 66.

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kann sich – Orientierung, Hinweis – einen Reim auf die Sache machen. Bis zu jenem Vers, in dem höchste Geistesgegenwart gefordert ist, weil ›was da begegnen, wohin du sollst?‹ der Bedeutungskonstitution im Syntagma der Lektüre von einem Wort(punkt) auf den nächsten den (verknüpften) Boden unter den Füßen wegzieht. Das Gelesene erweist sich als ein ›garden path sentence‹ als ein ›Holzweg-Satz‹. Der Vers regt die Selbstbeobachtung an, ruft die Tätigkeit des Geistes ins Bewusstsein, lässt sie präsent werden. In der Störung, im Versuch, sie zu beheben, konstituiert sich eine Geistesgegenwart. Sie hält nur für einen Augenblick an: für den Nu des ›Aha-Moments‹, in welcher die Bedeutung überraschend eintritt. Bei Hölderlin ist dieses Aufeinandertreffen als Moment der Begegnung inszeniert: das, ›was da begegnen kann‹ auf dem Weg zum Vers- und Satzende. Die Störung dieser Gesprächsform selbst führt zur Freude (und Überraschung) im Modus des Geistes­gegenwärtigen. In diesem Sinne könnte man sich mit seinem Genius in seiner hellsichtigen Blödigkeit auch selbst überraschen. Bei diesem Kippmoment handelt es sich um eine phänomenale Qualität, eine epistemische Praxis, die sich nicht operationalisieren lässt. Das ist bis heute, was Programmierer von Parsern weiterhin vor Rätsel stellt. Das ist, was die Sprachtheorie an Holzweg-Sätzen fasziniert (›the horse r­ aced past the born fell‹) und vielleicht auch an Hölderlins Oden: eine Figuration der Geistesgegenwärtigkeit, welche den Begriff selbst nicht einmal aufrufen muss, die aktiv hergestellt wird, eine Schnelligkeit der Gedanken fordert, aber auch: sich auf den Rhythmus der sprachlichen Ereignisse in ihrer Beweglichkeit und Elastizität einzulassen. Hölderlin, so ließe sich von dieser Inszenierung aus folgern, intendiert das Entscheidende auf subreflexivem Niveau, jenseits des Konnotativen selbst 63: »Im Gegenwärtigen schon, wo es schön ist, ahnen wir das Seyn.« Wo führt eine solche Konzeption einer epistemischen Praxis des Ethos literaturgeschichtlich hin? Im längeren historischen Ausblick zu Walter Benjamins ›leibhaftiger Geistesgegenwart‹. Unmittelbar indes zu Novalis’ Konzeption einer ›geistigen Gegenwart‹, in welcher sich Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft zum poetischen Medium vermischen64: Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft Vergangenheit [Erinnerung: C. M.] und Zukunft [Ahnung: C. M.] durch Beschränkung. Es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung, Krystallization. Es giebt aber eine geistige Gegenwart, die beyde durch Auflösung identifiziert, und die Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters.

Die gewöhnliche Gegenwart besteht aus der Verknüpfung von Zukunft und Erinnerung durch Beschränkung, Erstarrung, Kristallisation. Wenn Zukunft und Vergangenheit durch Auflösung ineinander verschränkt werden, wenn sie ein Hybrid bilden, dann figurieren sie eine (andere), geistige Gegenwart. Wenn diese Atmo63 Wolfram Hogrebe: Ahnung und Erkenntnis – Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, Frankfurt a. M. 1967, 122; vgl. Friedrich Hölderlin: Hyperion – Die vorletzte Fassung, in: ders.: Werke III, hg. von Friedrich Beissner, grosse Stuttgarter Ausgabe, Stuttgart 1957, 235–252. 64 Novalis: Blüthenstaubfragment 109, in: ders.: Schriften II, hg. von Paul Kluckhohn und ­R ichard Samuel, Stuttgart 1981, 461.



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sphäre von Novalis dem Dichter zugeschrieben wird, dann steht sie in engster Verwandtschaft zur von Hölderlin angestrebten luftigen Elastizität. Sich wie ein Fisch im Wasser in diesem Element bewegen zu können, bildet allerdings bei Novalis wie bei Hölderlin erst die Voraussetzung für die Fertigkeit der Geistesgegenwart, die jederzeit wieder neu erstellt werden muss, um sich in ihrer Beweglichkeit als lebendig zu erweisen.

Praktiken der Anziehung Gabriel Trop

I. Einleitung

Bedeutende Tendenzen in den philosophischen Diskursen des 18. Jahrhunderts begreifen die Anziehung als eine ontologische, das heißt materielle und immaterielle Struktur des Seienden. Dieser Beitrag untersucht, wie der ontologische Begriff der Anziehung Gedankenexperimente ermöglicht, die mit Individuation und Relationalität operieren, und zwar vor allem in ästhetischen und philosophischen Ansätzen, die das Ästhetische als fundamentalen Rahmen der menschlichen Selbstverwirklichung verstehen. Ontologien der Anziehung, die sich mit dem Ästhetischen auseinandersetzen, decken einen imaginären Raum auf, in dem ethische und politische Ideen und Grundhaltungen revidiert werden können. In einem ersten Schritt lege ich im Folgenden einige Grundlagen diskursiver Möglichkeiten in der Metaphysik der Anziehung dar. In einem zweiten Schritt untersuche ich eine Reihe von philosophischen und ästhetischen Fallbeispielen, die sich auf die Semantik und Metaphysik der Anziehung berufen, um ethische Praktiken neu zu konzeptualisieren: Hemsterhuis’ Theorie der Schönheit und seine Entwicklung eines moralischen Organs; Herders Begriff der Anziehung als kreativer Impuls, der in einer Politik der Freundschaft gipfelt; Schillers Semiotik der Anziehung, die Kategorien sozialer und politischer Unterscheidung (Geschlecht, Klasse, Nation) außer Kraft setzt; schließlich romantische Physiologien und Ontologien der Anziehung bei Novalis und Günderrode, die atypische und abweichende Individuationsformen als potentiell vitale und ethische Lebensformen umwerten. II. Die Metaphysik der Anziehung

Idee – Liebe – Aufopferung – Gott. Ich – Natur – Gott – Zukunft. Die Logik solcher Begriffskonstellationen weist eine Neigung zum Klischeehaften auf: Eine Zweiheit ist antagonistisch und oppositionell; eine Dreiheit synthetisch und göttlich; eine Vierheit elementar und archaisch. Eine doppelte Vierheit ist aber eine Seltenheit: Zwei Ketten von vier Begriffen (Idee – Liebe – Aufopferung – Gott / Ich – Natur – Gott – Zukunft), die ein Spiel von Resonanzen und Differenzen erzeugen, bringen elementare Verhältnisse ins Wanken. Es ist die Struktur einer asymmetrischen und ungenauen Spiegelung, die droht, den strukturellen Grund vom vermeintlichen Archaischen der Vierheit in reine Multiplizitäten aufzulösen. Die Produktion solcher Begriffsketten deutet auf fast unendliche Möglichkeiten der Kombination und Rekombination von verschiedenen Elementen.

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Eine ebensolche doppelte Vierheit findet sich in Schillers Philosophischen Briefen (1786) als Teil einer Theosophie (Theosophie des Julius), die sich auf das physische, mystische und neuplatonische Gedankengut des theosophischen Diskurses von Para­celsus, Jakob Böhme und Friedrich Christian Oetinger bezieht.1 Solche Begriffskonstellationen sind aber auch physisch und physiologisch als Reize, als Energiekanäle zu betrachten. Schiller nennt die Kraft, aus der Elemente und Prozesse der Differenzierung und Entdifferenzierung entstehen, Anziehungskraft. Schillers Philosophische Briefe erfassen das spekulative Potential der Anziehung in einem entscheidenden Moment in der Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts. Das kosmologische Gedankenexperiment einer Theosophie, in der eine Ontologie der Anziehung als Grund aller Erscheinung vorausgesetzt wird, gilt im Rahmen des Textes als schon überholt, als Rest eines früheren, nicht mehr mit den normativen Ansprüchen der Vernunft vereinbaren Weltbildes. Diese Kosmologie wird trotzdem bewahrt und übernommen, wie eine ungelöste Frage oder eine Irri­ tation, die nicht ganz verdrängt werden kann und auf eine Aktualisierung wartet. Die Anziehung in diesem Text lässt sich auch auf sprachlicher Ebene erfassen: Jeder Begriff, jedes Wort, jedes Element produziert eine Anziehung, die andere Begriffe, Wörter, oder Elemente in Bewegung setzt und sie zugleich in einem gewissen Abstand hält. Damit werden Zeichensysteme zu symbolischen Trägern für Praktiken, die Verhältnisse erzeugen und vermehren, Grenzen ziehen und auflösen. Die Anziehung bringt Gott in die Welt des Sinnlichen, vollzieht also einen theogonischen Prozess, der mit Differenzierung anfängt (»Natur ist ein unendlich geteilter Gott« 2) und in Entdifferenzierung gipfelt 3: Die Anziehung der Elemente brachte die körperliche Form der Natur zu Stande. Die Anziehung der Geister in’s Unendliche vervielfältigt und fortgesezt, müßte endlich zu Auf hebung jener Trennung führen, oder (darf ich es aussprechen, Raphael?) Gott hervorbringen. Eine solche Anziehung ist die Liebe.

Die Anziehung produziert paradoxe Wirkungen und ist vielleicht genauso paradox wie Gott selbst, den Nikolaus von Kues durch die Figur einer coincidentia oppositorum beschrieben hat: Formerzeugung (Vervielfältigung) und Formauflösung (Auf hebung jener Trennung) zugleich. Anziehende Kräfte reizen zur Analogiebildung, die solche Oppositionen verschärft und letztendlich auf hebt. Die Anziehung ist transzendentale Bedingung der wissenschaftlichen Naturerkenntnis (Newton und Kant) und Indiz eines persönlichen, erotischen, und phänomenologisch begründe1 Der Text könnte genauso gut von einer Fünf heit oder Sechsheit von philosophischen Begriffen handeln; aber die erste Abteilung, Die Welt und das denkende Wesen, weist eher eine vorbereitende Funktion auf und die eigentliche Begriffskette könnte also mit der ›Idee‹ anfangen. Die Wahrscheinlichkeit von multiplen Begriffskonstellationen kann aber nicht ausgeschlossen werden. 2 Friedrich Schiller: Philosophische Briefe, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden VIII, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992, 208–233, hier 227. 3 Ebd.



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ten Verlangens. Als physikalische Bedingung der Materie bezeichnet sie eine unpersönliche Kraft, die sich auf alles Seiende erstreckt und die Seienden verbindet: den Menschen und das Nichtmenschliche (das Tier, die Pflanze, das Anorganische). Als geistige Kraft erscheint die Anziehung als erotisch, personalisiert, intentional (im phänomenologischen Sinne). Die Anziehung gehört also keinem einzelnen Diskurs an; sie bezeichnet vielmehr eine transdiskursive und metadiskursive Operation. Carl Theodor von Dalberg beschreibt eine diskursive ›Ähnlichwerdung‹, die der Anziehung zugrunde liegt, folgendermaßen4: »Theologie, Physik, Metaphysik, Chemie, Mathesis, Moral, Politik, schöne Künste, alle von einem Punkt ausgehend auf einen Punkt zurückgehend.« Damit schafft die Anziehung einen diskursiven Spielraum und erschließt ein Experimentierfeld, das den Menschen einschließt und erhebliche Folgen haben kann. Wenn Schiller (bzw. Julius in der Theosophie des Julius) sich weigert, die Anziehung mit der zeittypischen dyadischen Struktur (Anziehung-Abstoßung) zu versehen, wie andere zu der Zeit es tun (zum Beispiel Kant und Herder), lädt er den Begriff mit einem erotischen und politischen Potential auf: Liebe als metaphysische und anthropologische Grundtendenz, die zur Auf hebung der Trennung zwischen sich und anderen führt. Weil die Anziehung die Subjektivität begründet und über sie hinausgeht, wird sie als angemessene vermittelnde Form für ein (oft unheimliches) Unbedingtes unter bedingten Wesen behandelt; Schelling, Baader, und andere Naturphilosophen machen deshalb das Spiel der Kräfte (Anziehung mit Abstoßung, Schwere, Reiz usw.) zu einem physischen und metaphysischen Apriori der Erscheinungen. Im Menschen zeigt sich die Anziehungskraft als etwas zugleich Intimes und Fremdes, sich dem annähernd, was Lacan später als »Extimität« bezeichnen wird,5 aber auf eine Art und Weise, die vom Individuum bis hin zu verschiedenen kollektiven Formen skalierbar ist. Schon Platon hat die Bedeutung der Anziehung als protoästhetisches Paradigma zur Kollektivbildung angedeutet: Im Ion magnetisiert die poetische Begeisterung alle, die sie berührt; durch den Sänger (den Rhapsoden) wird der Gott vermittelt und Menschen werden miteinander durch eine Kette der Anziehungen verbunden. Eine solche von einem gemeinsamen Affekt oder von einem poetischen Ereignis produzierte kollektive Form erweist sich bei Platon als höchst problematisch, weil sie über kein erkenntniskritisches Fundament verfügt. Die Anziehung bleibt dennoch vorhanden im Menschen: Der Drang nach der Idealität der Form muss also mit dem Triebhaften anfangen. Dadurch können das Ideale und das Sinnliche in Übereinstimmung gebracht werden, was Platon mit der Lehre vom Eros im Gastmahl erreichen wollte. Der Kreislauf zwischen dem Sinnlichen und dem Idealen – der von einer sinnlichen Anziehung ausgeht, bis hin zum Idealen steigt und dann zurück in die erlebte 4 Carl

Theodor von Dalberg: Betrachtungen über das Universum, Erfurt 1777, 147. Lacan: The Seminar of Jacques Lacan VII, ed. by Jacques-Alain Miller, New York

5 Jacques

1992, 139.

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Welt der Praktiken fließen kann – etabliert ein philosophisches Paradigma, das die Metaphysik (Philosophie als Erfassung des Wahren) und die Ethik (Philosophie als Lebensform) koppelt. Elemente dieser Anziehung der Idee finden sich bei Jakob Böhme, wenn auch auf eine Art und Weise, die den Wissenstrieb und die dunklen Kräfte der Begierde auf eine gemeinsame Wurzel zurückführt; die erhellende Idee und das Chaos der Begierden werden nicht bloß entgegengesetzt (obwohl sie ein Spannungsverhältnis bilden), sondern entstehen aus einer einzigen Logik der Emergenz und bedingen einander wechselseitig. Sich auf die Lehre der sympathischen Zeichen in der Natursprache berufend, bezieht Böhme das Wesen der Scienz (Wissenschaft) auf Kräfte, die eine magnetische Anziehung ausüben (Ziehen)6: »Verstehet: Die Kräfte zum Wort sind Gott, und die Scienz, als das magnetische Ziehen, ist der Anfang der Natur; nun möchten die Kräfte nicht offenbar werden ohne diese Begierde des Ziehens.« Das Ziehen der Scienz vollzieht einen Individuationsprozess als Bedingung der Offenbarung; Damit wird der Eintritt ins Symbolische, ins Geflecht der Signifikanten, als Ursprung eines traumatischen (und letztendlich erlösenden) Prozesses bezeichnet, dem alles Werdende unterliegt (diese christliche Logik wird bei Lacan und Žižek unter anderen zu einer Grundoperation der psychologischen und kulturanalytischen Semiotik). Wo aber Semiotiker wie Roland Barthes zwischen dem Symbolischen (studium) und dem Bruch mit dem Symbolischen (punctum) unterscheiden, fügt Böhme Wissensdiskurse (scienz, studium) und die Figur des Bruchs (ein Stachel des Ziehens als punctum) zusammen7: »Scienz oder der bittere Stachel der Findlichkeit oder Empfindlichkeit.« Das Ziehen einer Anziehung, die einen Indifferenzpunkt zwischen dem Wissen und der Begierde etabliert, zeigt sich als ein Reiz zur »Regung, Beweglichkeit«,8 die alle Erscheinung mit einer unvertilgbaren Zweideutigkeit versieht.9 Ethische Praktiken müssen sich in dieser ursprünglichen Zweideutigkeit der Anziehung (das Ziehen der Szienz) orientieren. Die Anziehung, auch wenn sie auf eine Vereinigung zielt, stellt eine Hauptoperation der Individuationsphilosophie dar; laut Böhme erklärt die scienz / ziehen, »wie die Vielfältigung entstehe.«10 Die Metaphysik der Anziehung – in den Anziehungs- und Abstoßungskräften der Newton’schen Physik und in der theosophischen Auffassung von Anziehung als Individuationsdynamik, die das Wissen und die Begierde zum gleichursprünglichen Bewegungsgrund macht – bildet die Grundlage für eine Transformation der Kunst als Medium der ontologischen Wahrheit und der ethischen Praktiken, die 6 Jakob Böhme: De Electione Gratiae, in: ders.: Sämmtliche Werke IV, hg. von K. W. Schiebler, Leipzig 1842, 463–634, hier 476. 7 Jakob Böhme: Schlüssel, in: ders.: Sämmtliche Werke VI, hg. von K. W. Schiebler, Leipzig 1846, 657–699, hier 690. 8 Böhme: De triplici vita hominis, in: ders.: Sämmtliche Werke IV [Anm. 6], 3–268, hier 14. 9 Vgl. Frauke Berndt und Klaus Sachs-Hombach: Dimensions of Constitutive Ambiguity, in: Ambiguity – Language and Communication, ed. by Susanne Winkler, Berlin/München/Boston 2015, 271–282. 10 Böhme: De Electione Gratiae [Anm. 6], 483.



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sich im spekulativen Spiegelbild des Kunstwerks vollzieht. 1750 hat Baumgarten in seiner Aesthetica das Kunstwerk zum sinnlichen Analogon der metaphysischen Wahrheit (analogon rationis) gemacht. Die Schönheit des Kunstwerks, als sinnliches analogon, konkretisiert und vermittelt diese metaphysische Wahrheit in den Praktiken des Subjekts; Baumgarten beschreibt die Schönheit der sinnlichen Erkenntnis als »eine Wirkung des schön Denkenden und weder größer noch edler als dessen lebendige Kräfte (viribus vivis)«.11 Wenn der Grund des Kunstwerks nicht mehr als Analogon einer vernünftigen Ordnung, sondern als Erscheinungsform eines freien Spiels der Kräfte (e. g. Anziehung oder Anziehung und Abstoßung) erfasst werden kann, dann ändert sich dementsprechend das spekulative Spiegelbild des Kunstwerks und dessen ethisches Potential. Die Ontologie der Anziehung, die im 18. Jahrhundert durch ästhetische Praktiken vermittelt wird, wird zur kulturellen Ressource, die einen Experimentierraum eröffnet, um Selbstverhältnisse und Verhältnisse mit anderen neu zu konzeptuali­ sieren. Ziel dieses Beitrags ist es, die Veränderungen in der Funktion der Kunst als Medium einer Kraft der Anziehung aufzuzeichnen; mit Blick auf die erotischen und verbindenden Kräfte der Anziehung wird auf diese besonderes Gewicht gelegt und nicht auf Abstoßung oder Polarität (Anziehung-Abstoßung). Gewiss hat die Abstoßung als Zentrifugalkraft eine eigene Energie und Dynamik, die in philosophischen Diskursen in eine ethische Semantik übergehen kann: Schelling stellt in seiner spekulativen Physik die Abstoßung als eine Grundtendenz in der Materie dar, die sich in die subjektive Dynamik einer expansiven und Grenzen überschreitenden Selbsttranszendenz und Selbstbehauptung potenziert: Die »nach aussen gehende, die expansive« Kraft bezeichnet »an und für sich betrachtet [...] ein reines Produciren.«12 Operationen der Anziehung schaffen andere Möglichkeiten der Individuation und Beziehung. Die spezifisch ästhetischen Folgen von Ontologien der Anziehung finden sich aber oft in Texten, die sich nicht explizit mit dem Kunstwerk als Refle­ xionsmedium befassen, so zum Beispiel in Hemsterhuis’ Lettre sur l’homme (1772), in Herders Liebe und Selbstheit (1785), in Schillers Philosophischen Briefe, in Günderrodes Idee der Erde. Dieser Beitrag widmet sich der Aufgabe, einige diskursive und imaginäre Operationen der Anziehung und deren Folgen für Praktiken der Subjektivierung und Kollektivformen des Lebens freizulegen: eine Anziehung, die die Kunst und die Lebenskunst als Beziehungskunst zur Folge hat (Hemsterhuis); Anziehung als Trieb zur Vereinigung und zum Verlust der Individualität, der in stabile Formen der Selbstheit – durch eine Umkodierung von Anziehung in Beziehung – sublimiert werden muss (Herder); Anziehung als Begründung einer semiotischen Wahrheit der Fiktionalität, die von der Referentialität befreit ist, die eine emanzipatorische 11 Alexander Baumgarten: Ästhetik – Lateinisch-Deutsch, übers. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, § 27. 12 Friedrich Schelling: Allgemeine Deduction des dynamischen Processes oder der Categorieen der Physik, in: Zeitschrift für spekulative Physik 1 (1800), 100–136, hier 103 [Hervorh. im Original].

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Kraft der Unzeitgemäßheit auslöst (Schiller). Die ästhetischen Folgen der Anziehung als materielle und semiotische Tendenz werden von den Romantikern, z. B. in den Werken von Novalis und Günderrode, entfaltet, in denen Operationen der Anziehung einen Spielraum eröffnen, der die Erforschung von Individuationsformen und von transgressiven und dennoch ethischen Praktiken fördert. III. Hemsterhuis als Denker der Beziehungskunst

In der Lettre sur les désires (1770) unternimmt François Hemsterhuis ein Gedankenexperiment, in dem er der Geselligkeit das Prinzip einer anziehenden Kraft zugrunde legt13: Man trete in den Kreis einiger, uns gleich sehr unbekannter Personen; gemeiniglich ist es bloß Eine, an die man sich wendet, an deren Seite man sich hält mit der man sich, vor allen übrigen, ins Gespräch einläßt. Die Ursache, warum Wir diese Person wählen, liegt in den [sic] Principium, daß die Seele immer nach der größten Anzahl von Ideen in den kleinsten Zeitraum strebt; die Ursache von der Vertraulichkeit mit ihr liegt im Principium der anziehenden Kraft.

Warum zeichnet sich eine unbekannte Person, die der Aufmerksamkeit würdig ist, vor anderen aus, die in den Hintergrund treten? Der Grund dafür weist auf eine sowohl in der Seele als auch im Leib erscheinende Dynamik, die ihrerseits auf eine gemeinsame Wurzel von Begierde und Wissen verweist: auf die Anziehung als Trieb nach der Vervielfältigung von Ideen. Wenn Hemsterhuis schreibt, dass wir eine bestimmte Person auswählen, weil sie im Autor oder Leser die größte Anzahl von Ideen im kleinsten Zeitraum verursacht, heißt das, dass man sie wählt, weil sie schön ist. In der Lettre sur la sculpture (1769) definiert Hemsterhuis die Schönheit mit den Begriffen des Optimums und des Maximums14: »die möglichst größte Anzahl von Ideen, in der möglichst kürzesten Zeit.« Das Qualitative des Schönen entsteht aus dem Drang nach einer unendlichen Quantität: Die Multiplikation der Beziehungen der Ideen in der eigenen Seele ist die eigentliche Quelle erotischen und ästhetischen Verlangens. Als Effekt eines quantitativen Prozesses in der Seele scheint das Schöne zunächst bloß dem Reich des Subjektiven anzugehören. Laut Hemsterhuis hat »das Schöne in sich selbst keine Realität«;15 das Schöne ist nichts anderes als Beziehungen (rapports) zwischen Dingen und Organen. Gerade dieser ontologische Status des Schönen entspricht dem, was der Materie innewohnt, nämlich der anziehenden Kraft, die nur durch ständig sich ändernde Beziehungen erscheint. Die Anziehung zeichnet 13 François Hemsterhuis: Lettre sur les désirs, in: ders.: Œuvres philosophiques, publ. par Jacob van Sluis, Leiden 2015, 150–179, hier 163–165 [Hervorh. im Original]. 14 Ebd., 153 [Hervorh. im Original]. 15 Hemsterhuis: Lettre sur la sculpture, in: ders.: Œuvres philosophiques [Anm. 13], 88–149, hier 113.



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eine Matrix von möglichen Beziehungen und deren kontingentem Entwicklungspotential, einschließlich der Beziehungen zwischen Menschen und nicht-menschlichen anderen. Die Wirkung des Schönen, die unbewussten Triebe der erotischen Anziehung und die bindende Kraft des Sozialen und Außersozialen (Beziehungen zwischen Menschen und Tieren, Menschen und anorganischen Wesen) werden als strukturanalog behandelt. Damit entwickelt Hemsterhuis eine Ästhetik der Existenz, in der das Optimum der Ideen simultan als Erklärungsmodell und als normatives Modell für mögliche Beziehungen – so etwa Formen von sozialer und politischer Ordnung und Unordnung – funktionieren kann. Als Erscheinungsformen der Anziehung, zielen Begierden auf eine vollständige und unmittelbare Vereinigung mit ihren Objekten, die tatsächlich nur in der Welt erscheinen können, weil diese Begierden nie befriedigt werden. Wenn die Vereinigung mit einem Objekt fehlschlägt, wie es bei Sterblichen oft der Fall sein wird, strebt die Anziehung nach weiteren Vereinigungsmöglichkeiten; die anziehende Kraft erschöpft sich, wenn sie zu lange in den gleichen Beziehungen verweilt und der Mensch sich seiner Zeitlichkeit bewusst wird16: Betrachte ich etwas Schönes – sey, was es wolle – eine schöne Statue, z. B., so suche ich in der That nichts, als mein Wesen, mein Ich, mit diesem so ungleichartigen Gegenstande zu vereinen; nach öfterer Beschauung erweckt die Statue endlich Ueber­ druß in mir, und dieser Ueberdruß entspringt lediglich aus der geheimen Empfindung, daß eine völlige Vereinigung zwischen uns unmöglich ist.

Die Beziehung zum Kunstwerk ist also eine erotische; diese Beziehung verwirklicht sich aber nur in einer besonderen Mischung von Erfüllung und Enttäuschung, Belebung und Langeweile. Das Optimum, das dem Erlebnis des Schönen zugrunde liegt – das aber zugleich für die Unterbrechung dieses Erlebnisses sorgt –, wird zum Paradigma sozialer und ethischer Praktiken, das in der Form eines affektiven und kognitiven Imperativs zusammengefasst werden kann: Man muss die Anzahl der Beziehungen maximieren, in denen die virtuelle Koexistenz der durch Organe vermittelten Ideen auf eine plötzliche und unmittelbare Art und Weise verwirklicht werden kann. Wenn jedes Objekt eine Unendlichkeit von internen und externen Beziehungen in sich birgt, strebt das Subjekt danach, sich nicht nur mit dem Objekt zu vereinigen, sondern auch mit der Unendlichkeit im Objekt. Es entstehen dadurch multiple Versuche, sich mit dem Absoluten im alltäglichen Leben zu vereinen; ja, das alltägliche Leben ist nichts anderes als dieser unbefriedigte Drang der Anziehung. Diese Dynamik führt bei Hemsterhuis zu einem expansiven Begriff des Subjekts. Das begehrende und erkennende Subjekt kann seine Anziehungen nur in unendlichen Annäherungsversuchen verwirklichen, wie im Beispiel der »Hyperbel mit ihrer Asymptote«,17 die später zur Grundfigur postkantischen und romantischen 16 17

Hemsterhuis: Lettre sur les désires [Anm. 13], 157 [Hervorh. im Original]. Ebd., 179.

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Denkens wird.18 Die wesenhafte Heterogenität des Kosmos verursacht außerdem eine Blockade des Subjekts. Alles Seiende hat diskrete Teile, die in Beziehungen zu anderen Objekten Grade von Homogenität und Heterogenität teilen. Laut Hemsterhuis steht »der Grad von Anziehungskraft der Seele immer im Verhältniß mit der Gleichartigkeit des verlangten Gegenstandes.«19 Die Idee einer Anziehungskraft setzt aber voraus, dass kein Gegenstand ganz homogen (›gleichartig‹) mit einem anderen Gegenstand sein kann. Eine perfekte Homogenität oder Gleichartigkeit führte zur völligen Verschmelzung mit dem Gegenstand und dadurch zum Identitätsverlust. Anziehungen werden zu Beziehungen durch Grade oder Intensitäten der Gleichartigkeit, die einen Möglichkeitsraum eröffnen 20: »[D]ieser Grad der Gleichartigkeit ist wieder nichts, als Grade der Möglichkeit ihrer vollkommenen Vereinigung.« Der Rest einer durch nicht gleichartige Organe produzierten Heterogenität hemmt den Vereinigungsdrang, und damit geht das Sehnen des Subjekts ins Unendliche – zusammen mit dem Imperativ, die Produktion der Ideen zu optimieren. Diese Anthropologie des Optimums scheint zunächst von einer sich totalisierenden Anziehungskraft abgeleitet, die keine Ausnahme und keine Steuerungsmöglichkeiten duldet. Hemsterhuis stellt aber eine Gegentendenz in der Anziehungskraft fest 21: »die Trägheit in dem, was wir Materie nennen, […] [oder] die innre Freyheit, die, in gewisser Art, die Anziehungskraft der Seele selbst beherrscht.« Hemsterhuis versteht die Trägheit als ein Individuationsprinzip, »la force avec laquelle une chose est ce qu’elle est.« 22 Die Trägheit ergibt sich aus dem internen Auf bau eines Seienden, aus der Zusammensetzung von dessen Organen, die die Besonderheit jedes Seienden ausmacht. Die Trägheit wird nicht der Anziehungskraft entgegengesetzt, sondern sie bezeichnet einen über die Anziehungskraft hinausgehenden Rest, der sich aus der Heterogenität der Teile – und nicht aus der Entgegensetzung der Kräfte – ergibt. Die Trägheit als individuierende Kraft produziert die Multiplizität des Universums und zeigt sich im Menschen als das Vermögen, Anziehungskräfte zu steuern 23: »Die Trägheit thut noch mehr, als allen Anziehungskräften des sinnlichen Weltalls Gegengewicht leisten; denn eben das Uebergewicht ihrer Kräfte über jene Anziehung hinaus, ist das Erzeugungsprincipium des Universums. Eben das Uebergewicht der Kraft in der Fähigkeit der Seele sich zurückzuhalten, und selbst zu leiten, über ihre Anziehungskräfte macht moralische Wesen, Sittenlehre, Tugend.« Nur durch die Einübung dieses Vermögens der Trägheit kann der Drang nach der Optimierung der Beziehungen in lokalen oder kosmischen Vereinigungsversuchen in Einklang mit der Ethik gebracht werden. 18 Vgl. Manfred Frank: Unendliche Annäherung – Die Anfänge der philosophischen Frühromantik, Frankfurt a. M. 1997. 19 Hemsterhuis: Lettre sur les désires [Anm. 13], 155. 20 Ebd. 21 Ebd., 173. 22 Hemsterhuis: Lettre sur l’homme et ses rapports, in: ders.: Œuvres philosophiques [Anm. 13], 180–317, hier 309. 23 Hemsterhuis: Lettre sur les désires [Anm. 13], 161.



Praktiken der Anziehung243

Die Anziehungskraft erfordert ein Organ, um in der sinnlichen Welt zu erscheinen und Beziehungen zu produzieren; genauso wie sichtbare Beziehungen nur durch den Gesichtssinn vermittelt werden können, so können moralische Beziehungen nur mit Hilfe eines moralischen Organs (also durch die Bildung eines moralischen Sinnes) wahrgenommen werden.24 Das moralische Organ leitet die Anziehungskraft des Optimums zum internen und ewigen Reich des Sittlichen; das moralische Organ, als Organ der Seele, wendet sich sowohl zu sich selber – ist also sein eigenes Objekt – als auch zum kosmologischen Ganzen außerhalb des Subjekts, zum Göttlichen. Durch das moralische Organ wird die Ethik als Frage des Reizes behandelt, als Seelenerregung: je feiner das Organ, desto größer der moralische Sinn, der moralische Beziehungen erzeugt. Während das moralische Organ ein seelisches und ethisches Wahrnehmungsvermögen ermöglichen, ethische Praktiken verfeinern und stabilisieren soll, kann dieses Organ auch zum Bruch mit dem Symbolischen führen. Hemsterhuis beschreibt die kohärente und tiefgreifende kulturelle Logik einer Epoche – eine Episteme der Wissenschaften und Praktiken – wie die »exzentrische Lauf bahn« eines Kometen,25 die zwischen Momenten des Auf blühens (Perihelien) und des Verfalls (Aphelien) wechselt. Das moralische Organ kann in bestimmten Fällen durch die Macht der Trägheit einen Menschen aus den Grundtendenzen seines Zeitalters schleudern (was Hölderlin später als ›ein hyperbolisches Verfahren‹ bezeichnen wird). Das Potential eines Bruchs mit einer symbolischen Ordnung leitet sich von der Reizbarkeit des moralischen Organs, vom Vermögen, moralische Beziehungen wahrzunehmen, ab26: »Es gibt Menschen, deren moralischer Sinn so reizbar ist, und deren Gewissen so entfernte Beziehungen wahrnimmt, daß sie, so zu sagen, nicht Mitglieder der gegenwärtigen Gesellschaft seyn können.« Dank dieser Feinheit des Organs kann ein doppeltes und zerrissenes Bewusstsein entstehen, bei dem der Mensch sich im Einklang mit sich selbst und dem Kosmos, aber im Konflikt mit seiner Epoche befindet. Hemsterhuis erwähnt Brutus als Beispiel dieses Phänomens27: »Brutus, indem er Cäsar ermordete, beging, in den Augen des Volkes, und vielleicht auch in Rücksicht auf die Gesellschaft, ein Verbrechen; aber in der Seele des Brutus war diese Handlung, zweifelsohne, der ewigen Ordnung gemäß.« Hemsterhuis fordert die Verfeinerung des moralischen Organs als eine seinen Mitbürgern bevorstehende Kulturaufgabe. Durch die Ausbildung eines (immateriellen) Organs wird dabei die Ethik in die Semantik einer ästhetischen Übung eingebunden, die den Menschen von der Abhängigkeit von kulturell kontingenten Normen zu befreien verspricht. Dieses Organ hat paradoxerweise eine ästhetische, nämlich zugleich anarchische und moralische Energie, die die Romantiker (Novalis, Günderrode) angesprochen hat. Letztendlich wendet sich das moralische Organ gegen die Gewalt des Gesetzes Leif Weatherby: Transplanting the Metaphysical Organ, New York 2016. Lettre sur l’homme et ses rapports [Anm. 22], 293. 26 Ebd., 257. 27 Ebd., 255. 24 Vgl.

25 Hemsterhuis:

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eines Staates, weil der moralische Sinn, der mannigfache Beziehungen und Vereinigungsversuche produzieren sollte, in Spannung zur Gesetzgebung gerät 28: »Der Mensch, frey geboren, wurde Sclave der Gesetzgebung.« Die Ausbildung des moralischen Organs zielt auf eine soziale Ordnung, die nur durch reine Beziehungen zusammengehalten wird, was so viel heißt wie die Auf hebung des Gesetzes selbst. IV. Von Anziehung zu Beziehung (Herder)

Herder, der Hemsterhuis’ Lettres sur les désires übersetzt hat, entwickelt wie Hemsterhuis eine Ontologie der Kraft (Anziehung und Abstoßung), die die Bildung von naturphilosophischen Analogien zwischen Menschlichem und Nichtmenschlichem, Organischem und Anorganischem ermöglicht. Die Erforschung solcher Analogien generiert eine eigene Ästhetik der Anziehung, die es zu präzisieren gilt. Laut Christoph Menke hängt die ästhetische Anthropologie Herders von einer dunklen, nicht mechanischen, »vor-, ja gegensubjektive[n] Kraft« ab.29 Das Ästhetische wird demzufolge zum Ort der Freiheit, Indiz eines Bereichs vor der Subjektivierung des Menschen. Die Kraft des Ästhetischen verwirklicht sich in Ausdrucksformen, die Spannungen aufzeigen; jeder Ausdruck des schon im Bereich des Symbolischen stehenden Menschen ist ein doppelter, weil sich jeder Ausdruck einem subjektiven und einem vorsubjektiven Entstehungsgrund verdankt. Die Kraft bringt das Besondere des Individuums und den Rest eines Unpersönlichen im Indi­ viduum zum Vorschein. Allerdings führen bei Herder Ausdrucksformen der Kraft nicht nur zur Dunkelheit des eigenen psychologischen Seelengrundes zurück, sondern sie verteilen sich in Operationen, die sich über alle möglichen Erscheinungsfelder erstrecken. Diese Felder, die oft eigene Wissensformen fordern, um erforscht zu werden – zum Beispiel, das Anorganische (die Mechanik), das Belebte, das Begehren, und das Erkennen – teilen eine gemeinsame Struktur und werden zur Quelle von imaginären und semiotischen Funktionen, die diskursive Grenzen überschreiten. Ein anderes Paradigma ästhetischer Kraft zeigt sich in solchen Verbindungsmöglichkeiten. Es handelt sich um eine Ästhetik, die nicht auf eine verborgene Quelle zurückgeführt wird, die nicht bloß eine (im Kant’schen Sinne) deduktive Ästhetik wäre, sondern eine generative Ästhetik, die Verbindungsmöglichkeiten zwischen disparaten Bereichen schafft und sich in analogen Operationen von materiellen und geistigen Tendenzen äußert. Eine solche Ästhetik der Kraft als Spiel der entgegengesetzten Kräfte der Anziehung und der Abstoßung gipfelt in einer Kunst der Verbindungen und Trennungen, in einer Beziehungskunst.

28 Ebd.,

261.

29 Christoph

65.

Menke: Kraft – Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2017,



Praktiken der Anziehung245

In Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) hebt Herder mechanische Operationen hervor – »Schwere, Stoß, Fall, Bewegung, Ruhe, Kraft, sogar Kraft der Trägheit« 30 –, die eine isomorphische Struktur in den Bewegungen der Seele erkennen lassen. Solche Analogien machen mechanische Operationen kommensurabel mit phänomenologischen Selbstbeschreibungen 31: »Schwere scheint uns ein Sehnen zum Mittelpunkte, zum Ziel und Ort der Ruhe: Trägheit die kleine Teilruhe auf seinem eignen Mittelpunkte, durch Zusammenhang mit sich selbst.« Bei Herder finden sich Impulse zur Poetisierung der Kraft, die nicht nur auf eine vorsubjektive psychologische Quelle der Ausdrücke und Darstelllungen weist, sondern auf Wissensformen und diverse semiotische Bereiche mit eigenen Spannungen, Tendenzen, Geschwindigkeiten und Potentialitäten. Gemäß Herder sollte die Philosophie eine diskursive Beweglichkeit, ein Spiel der Kräfte im Diskurs selber aufzeigen; in Bezug auf die ewige philosophische Oszillation zwischen einem innerlichen (rein seelischen) und einem äußerlichen (materiellen) Entstehungsgrund der Seelenlehre schreibt Herder in seinem Nachlass32: »[D]ie gesunde Philosophie schwebt, so wie wir doch offenbar vermischte Wesen sind, zwischen beiden.« Diese schwebende Bewegung des philosophischen Diskurses wird zur Ästhetik des Lebens: Wir sind ›offenbar vermischte Wesen‹, die auch schweben sollten. Das schwebende Denken produziert den Menschen als Quelle von Bildern, Darstellungen und Theorien. Er ist »der empfindende Mensch.« 33 Dieser spezifische menschliche Typus besitzt eine Eigendynamik. Zunächst verwirklicht der empfindende Mensch eine chiasmatische Verbindung zwischen dem Innerlichen und dem Äußerlichen, indem er die Spur des Äußerlichen im Innerlichen registriert und diese Verzahnung der zwei Bereiche als individuierenden Darstellungsimpuls benutzt 34: »[D]er empfindende Mensch fühlt sich in Alles, fühlt Alles aus sich heraus, und druckt darauf sein Bild, sein Gepräge.« Das Bild, das der empfindende Mensch auf Alles druckt, ist also keine rein interne oder narzisstische Projektion, sondern schließt in sich das äußerliche ›Alles‹ als Teil seines Selbstgefühls ein. Zweitens offenbart diese Einbindung und Spiegelung des Äußerlichen im Innerlichen eine gespaltene Ontologie: Die Selbstproduktion – der ästhetische Mensch als Wesen, das Bilder aus sich selbst produziert – setzt kein rein harmonisches kosmologisches System voraus, sondern legt die Natur (physis) in deren Selbstentzweiung bloß. Herder beschreibt »das große Geheimnis der Fortbildung, Verjüngung, Verfeinerung aller Wesen« als einen »Abgrund von Haß und Liebe, Anziehung und Verwandlung in sich und aus sich.«35 Dieser abgründige, in sich gespaltene Entstehungsprozess, 30 Johann Gottfried Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, in: ders.: Werke in zehn Bänden IV, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, 327–394, hier 329 [Hervorh. im Original]. 31 Ebd. [Hervorh. im Original]. 32 Herder: Auszug aus dem Nachlass, in: ders.: Werke in zehn Bänden IV [Anm. 30], 1086. 33 Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele [Anm. 30], 330. 34 Ebd. 35 Ebd.

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durchdringt alle Individuationsvorgänge, produziert eine Signatur des Seienden, die ihren Abdruck in allen Erscheinungsformen hinterlässt. Während Analogisierungen zunächst auf eine Einheit der Phänomene hinzudeuten scheinen – Anziehung-Abstoßung in der Seele und Anziehung-Abstoßung in der Materie als eine verschiedene Bereiche zusammenfügende Dynamik –, hat diese Einheit die paradoxe Wirkung, den Streit als Individuationsmuster zu verallgemeinern. Herder schreibt 36: »Eben die Kontrarietät im Menschen ist das Siegel Gottes in unsrer Natur, der Baum, der Erkenntnis Guts und Böses in einen ewigen Baum des Lebens verwandelt.« Die Gewalt zeigt sich als Struktur des Seienden (»im Universum ist Alles Anziehung und Zurückstoßung und Also Gewaltsamkeit«37). Wenn die Entgegensetzung der Kräfte die Gewalt als ontologische Struktur mit sich bringt, kann es keine symbolischen Akte, keine Individuationsversuche, keine diskursiven Formen geben, die nicht von dieser ursprünglichen Gewalt markiert werden. Dichter oder Wissenschaftler sein – wie Newton, der eine formelle und mathematische Grammatik der Kräfte der Anziehung und Abstoßung entdeckt und darstellt –, heißt, diese Gewalt in einer symbolischen Form zu verdichten und sie zum Ausdruck zu bringen. Diese Folge bleibt oft implizit in Herders Darstellung von Philosophen oder Wissenschaftlern, die zugleich als Dichter der Natur erscheinen 38: So ward Newton in seinem Weltgebäude wider Willen ein Dichter, wie Buffon in seiner Kosmogonie, und Leibniz in seiner prästabilierten Harmonie und Monadenlehre. Wie unsre ganze Psychologie aus Bildwörtern bestehet, so wars meistens Ein neues Bild, Eine Analogie, Ein auffallendes Gleichnis, das die größten und kühnsten Theorien geboren.

Herder entwickelt eine doppelte Hermeneutik, vermittels derer man theoretische Erfindungen deuten kann: Sogar der abstrakteste Wissensdiskurs kann als Manifes­ tation einer gespaltenen Ontologie fungieren, die zugleich erotische und de­struk­ tive Tendenzen ausdrückt. Komplizierte kognitive Leistungen und alltägliche Lebenspraktiken und Selbstverhältnisse teilen eine gemeinsame Wurzel, aber eben deswegen können solche Theorien die Welt der Praktiken verklären und deren implizite Logik zum Vorschein bringen. Wenn die Signatur des Seienden und die Bedingung der Individuation in den Kräften der Anziehung und Abstoßung bestehen, müssen Selbstverhältnisse und Verhältnisse mit anderen auch diesen Abdruck tragen. Im Text Liebe und Selbstheit, der Hemsterhuis’ Lettre sur les désirs kritisch kommentiert, versucht Herder die erotischen und destruktiven Dynamiken der Anziehung – eine starke Anziehung kann 36 Herder: [Über die dem Menschen angeborene Lüge], in: ders.: Werke in zehn Bänden IV [Anm. 30], 397–403, hier 403. 37 Herder: Zum Sinn des Gefühls, in: ders.: Werke in zehn Bänden IV [Anm. 30], 235–243, hier 239. 38 Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele [Anm. 30], 330 [Hervorh. im Original].



Praktiken der Anziehung247

auch destruktiv sein, wenn sie einen zum Identitätsverlust verleitet – mit Formen der Selbstheit zu versöhnen, die mit sozialen und symbolischen Ordnungen übereinstimmen. Der Titel des Aufsatzes deutet auf eine Gegensätzlichkeit oder eine Dualität hin (Liebe und Selbstheit); die Liebe wiederum birgt in sich eine weitere Dualität zwischen einer destruktiven Trieberfüllung und einer positiven Sublimierung der Triebe, die aber nach wie vor in eine Semantik der Anziehung eingebunden werden kann. Das Triebhafte der Anziehung, die bei Hemsterhuis auf eine Vereinigung mit dem begehrten Objekt zielt, wird von einer anderen ethischen Praxis der Beziehung (bzw. einer anziehenden Beziehung), einem Paradigma der sozialen und politischen Ordnung ersetzt. Herder behandelt in der Liebe zwei Erscheinungsformen von Anziehung: Anziehung als Drang nach Genuss, der die Integrität des begehrten Objekts vernichtet, und Anziehung als Bejahung von Multiplizität, die die Entfernung des begehrten Objekts als notwendig anerkennt. Die Anziehung als Vereinigungsdrang im Genuss mündet in die Negation 39: »[D]er Genuß ist auch hier Vereinigung d. i. Auflösung der feinsten Säfte, er ist aber auch eben damit geendet: denn nun ist der Gegenstand verschlungen, zerstöret.« Wo die Anziehung hingegen nicht auf das Objekt selber, sondern auf die Entfernung vom Objekt als Begehrungsphänomen zweiter Ordnung zielt, wird die Anziehung zur materiellen und geistigen Bedingung der Individuation. Nur durch diese zweite Art Anziehung, eine von einer Entfernung bedingte Anziehung, wird die Selbstheit als selbsterhaltende Erscheinungsform sichergestellt. Herder erklärt diese zweite Anziehung als das ursprüngliche metaphysische Ordnungsprinzip: Anziehung als Genuss und Trieberfüllung wird zugunsten einer Anziehung als Bedingung der Differenzierung (Grade, Typen, Multiplizitäten) ontologisch verdrängt40: [Die Gottheit: G. T.] hat die Menge anziehender Gegenstände, die sie um uns legte, in so mancherlei Entfernungen gesetzt, mit so verschiedenen Graden und Arten der Anziehungskraft begabt, daß eben hiedurch ein reiches und zartes Saitenspiel der Empfindungen von vielerlei Tönen und Modis in uns möglich ward und unser Herz und Leben gleichsam eine Harmonie des Verlangens, einer immer reinern, unersätt­ lichen, ewigen Sehnsucht würde.

Die sinnliche Bejahung einer von Graden der Entfernung konstituierten Anziehung ersetzt den Begriff einer negierenden, verschlingenden oder das Individuum auflösenden Anziehungskraft; die Anziehungskraft wird damit zur Bedingung der Emergenz der Formen. Diese Art Anziehungskraft schlägt sich auch in ästhetischen Kontexten nieder, wo ästhetische Erfahrungen, die die Wahrnehmung interner Strukturen ermöglichen, vor ästhetischen Erfahrungen, die eine Sehnsucht nach ekstatischer Ver39 Herder: Liebe und Selbstheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden IV [Anm. 30], 405–425, hier 409 [Hervorh. im Original]. 40 Ebd., 408 [Hervorh. im Original].

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schmelzung mit dem Gegenstand erwecken, bevorzugt werden. Das Erlebnis einer Entfernung oder einer Nicht-Identität mit dem ästhetischen Gegenstand – zum Beispiel, in der Harmonie der Musik – gibt den Menschen Anreiz zu einer ethisch gesicherten Lebensform. Solche ästhetischen Erlebnisse integrieren die Bejahung einer Entfernung in eine Begehrensdynamik, und modellieren dadurch mögliche soziale Beziehungen im Licht dieser Einsicht: Solche Kunstformen inszenieren ein »milderes Nebeneinandersein vieler Geschöpfe.«41 Die verschlingende Kraft der Anziehung wird relativiert, bzw. die Anziehungskraft generiert Beziehungen durch die Modulationen der Differenz 42: Sobald mehrere Geschöpfe milde neben einander sind, und sich einander wechselseitig genießen wollen: so folgt, daß keins auf den alleinigen, also auch nicht auf den höchsten Genuß ausgehn müsse, oder es zerstört um sich her. Es muß geben und nehmen, leiden und tun, an sich ziehn und sanft aus sich mitteilen. Dies macht zwar allen Genuß unvollständig, es ist aber der wahre Takt und Pulsschlag des Lebens, die Modulation und Haushaltung des Verlangens, der Liebe und aller Süßigkeiten der Sehnsucht.

Ein absoluter Trieb nach Genuss zerstört nicht nur den Gegenstand, sondern auch das eigene Selbst, weil er die Desindividuation zum impliziten (oder, in mystischen Praktiken, expliziten) Telos macht. Die Semantik der Anziehung oszilliert zwischen diesen zwei Polen (Anziehung als Selbstverlust oder Anziehung als Individuationsprozess) im philosophischen und literarischen Diskurs des 18. Jahrhunderts. Goethes Werther, zum Beispiel, wird zur Chiffre einer absoluten Anziehung in der Form einer reinen, vorsozialen Trieberfüllung: Er lehnt die Modulation ab und verliert sich in Vereinigungsversuchen. Ethische Praktiken der Anziehung bei Herder erkennen das Individuum (»isoliertes einzelnes Dasein«43) als ontologisches Grundelement an, dessen Integrität gewährleistet wird, indem das Individuum die Modulation der Anziehung variiert. Das Begehren muss ökonomisch reguliert werden (Haushaltung des Verlangens), damit ein sozial gesichertes ›Nebeneinandersein‹ möglich wird. Die unerwünschte Alternative wäre, die Vormacht der hierarchischen oder tyrannischen Verhältnisse der Herrschaft zu fördern, die den sozialen Körper infizieren könnten. Obwohl Herders Ontologie der Anziehung die Gewalt, die der Entgegensetzung der Kräfte innewohnt, als ontologische Struktur naturalisiert, werden ethische Beziehung der Gewaltlosigkeit ermöglicht, indem eine Substitution in der Opposition zwischen Anziehung und Abstoßung bewirkt wird. Die Anziehung und die Abstoßung werden in Operationen der Geselligkeit und Kommunikation übersetzt44: »an sich ziehen« und »aus sich mitteilen.« Die Modulation der Anziehung gipfelt in eine Politik der Freundschaft; durch die Freundschaft 41

Ebd., 420 [Hervorh. im Original]. [Hervorh. im Original]. 43 Ebd., 419 [Hervorh. im Original]. 44 Ebd., 420. 42 Ebd.



Praktiken der Anziehung249

wird die Anziehungskraft potenziert, sie schafft diversere Beziehungen, indem sie eine Verwandlung von Eros in Philia vollzieht.45 Die Kraft als entscheidende Eigenschaft des Ästhetischen wird damit zum grundlegenden Horizont von ethischen Praktiken. Den Tendenzen der Anziehungskraft zum Selbstverlust begegnet eine Gegentendenz zur Modulation, die Differenzen und Entfernungen multipliziert. Der Gefahr einer absoluten Ekstase oder eines vollständigen Selbstverlusts, die in bestimmten ästhetischen Erfahrungen (vor allem in der nicht harmonischen Musik) lauert, entspricht eine ethische und politische Krankheitsform: die Tyrannei des Einzelnen, der versucht, sich als absoluter Souverän zu behaupten und dadurch andere und schließlich sich selbst zu vernichten. Die Freiheit der ästhetischen Kraft löst Mechanismen der Kontrolle aus: Die Modulation der Anziehung ist Bedingung der Möglichkeit einer demokratischen Politik, eines nicht hierarchischen Nebeneinanderseins. V. Die ästhetische Potenzierung der Anziehung (Schiller)

Herders Begriff der Anziehung versucht, das Begehren zu modulieren, damit Indi­ viduationsformen erhalten werden können und die Bedrohung einer ontologisch begründeten Gewalt abgewehrt werden kann: Die Anziehung sollte ein Nebeneinander von diversen anderen produzieren. Gegen Hemsterhuis behauptet Herder, die Anziehung ziele nicht auf die Vereinigung mit dem Gegenstand, sondern auf die Entfernung, die dieses Begehren erst möglich macht. Das Ziel von Anziehungsvorgängen ist demzufolge die eigene Enttäuschung; die Enttäuschung wird zur Anziehung zweiter Ordnung, die eine ökonomisch gesicherte soziale Ordnung begründet. Eine andere Entwicklung in der Semantik der Anziehung findet sich in Gedankenexperimenten oder Kosmologien, die ein emanzipatorisches oder ethisches Potential in Tendenzen zum Selbstverlust aufdecken. In den Betrachtungen über das Universum (1777) beschreibt Carl Theodor von Dalberg einen Prozess von ›Ähnlichwerdung‹ als innere Triebkraft einer Ontologie der Anziehung46: »Man vergleiche Attraktion mit geistiger Verbindung, Affinität mit Sympathei, physische Impulsion mit moralischer Impulsion, Aehnlichwerdung physischer Eigenschaften und moralische Aehnlichwerdung!« Die Ähnlichwerdung bei Dalberg bringt die Selbstorganisation des Werdens in Einklang mit einer mimetisch begründeten moralischen und religiösen Anthropologie. Die Eschatologie vollzieht sich durch die anziehenden Kräfte der Ähnlichwerdung, die die Kreatur in eine transzendente Weltordnung einbetten und einen Kreislauf der Imitation zwischen dem 45 Vgl. Daniel Whistler: The Discipline of Pious Reason – Goethe, Herder, Kant, in: Moral Powers, Fragile Beliefs – Essays in Moral and Religious Philosophy, ed. by Joseph Carlisle, James Carter und Daniel Whistler, New York 2011, 53–80. 46 von Dalberg: Betrachtungen über das Universum [Anm. 4], 65.

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Göttlichen und dem Kreatürlichen in Gang setzen: Das Göttliche personalisiert sich in Christus als Vollzug einer Tendenz zur Ähnlichwerdung, und der Mensch versucht wiederum, Christus ähnlich zu werden. Dalberg weigert sich, das Prinzip der Ähnlichwerdung zu seinem logischen Schluss zu führen: zur Infragestellung von Segregationsformen und zur möglichen Eliminierung von Differenzen in der unendlichen Aufgabe eines Prozesses der Ähnlichwerdung. Wie Hemsterhuis, den er in einer Anzeige als Inspirationsquelle erwähnt, begreift Dalberg die Trägheit als das, was die Individualität erhält, wobei er die Trägheit mit der Gewohnheit gleichsetzt47: »Gewohnheit ist für organisierte Körper, was Vis Inertiae für Materie überhaupt ist.« Die Gewohnheit, als vis inertiae, erklärt die Neigung von Individuen, innerhalb einer bestimmten Logik der Identifikation mit gleichartigen Menschen zu verbleiben und führt zu einer Naturalisierung von Unterschieden, die sonst infrage gestellt werden könnten48: »Classe, Geschlecht, Gattung, anhaltend die nemliche! Nach Jahrtausenden die nemliche.« Ähnlichwerdung löst einen imaginären Möglichkeitsraum aus, der dank einem sinnentleerten Formalismus – alle können anderen auf irgendeine Art und Weise ähnlich werden – die Kontingenz der Kate­ gorien der sozialen Intelligibilität bloßlegen, aber ebenso gut verfestigen kann. Diese letztere Möglichkeit bedenkt Dalberg. Es war Schiller in einem frühen Gedankenexperiment vorbehalten, die Folgen dieser Idee zu Ende zu denken. Schillers Philosophische Briefe, die wahrscheinlich von Dalbergs Betrachtungen inspiriert wurden (drei Jahre nach der Veröffentlichung dieser Briefe bittet Schiller Dalberg um Unterstützung), bringen erkenntniskritische, erotische, ethische, und politische Begriffsverlagerungen ins Spiel, die sich von einer Semiotik der Anziehung ableiten lassen. Die Wiederbelebung der Theosophie als Quelle dieser Semiotik verleiht dem Unzeitgemäßen eine ästhetische Gültigkeit; mit der Theosophie des Julius leistet Schiller der Teleologie von Bildungsvorgängen Widerstand. Schiller beginnt diesen Text mit einer Vorerinnerung, die die Formen der Intelligibilität eines, wenn nicht ganz vergangenen, so doch marginalisierten, Diskurses im kulturellen Umfeld der Auf klärung animiert und das Wertesystem einer anscheinend schon überholten Bildungsstufe des Schreibers artikuliert. Dadurch erhält der Text eine Ausdrucksform, die sich dem annähert, was Deleuze später als die ›Mächte des Falschen‹ beschreibt: ein Falsches, das die Normen einer Epoche der destabilisierenden Macht von ästhetischem Experimentieren aussetzt, das den Begriff des Wahren (und den Unterschied wahr/falsch) außer Kraft setzt.49 In der Vorerinnerung liest man, man müsse »den Irrtum – und oft den Unsinn – zuvor erschöpfen, ehe wir uns zu dem schönen Ziele der ruhigen Weisheit hinauf 47 Ebd.,

27. 29. 49 »It is a power of the false which replaces and supersedes the form of the true, because it poses the simultaneity of incompossible presents, or the coexistence of not-necesssarily true pasts« (Gilles Deleuze: Cinema 2 – The Time-Image, trans. by Hugh Tomlinson und Robert Galeta, Minneapolis 1989, 131). 48 Ebd.,



Praktiken der Anziehung251

arbeiten.« 50 Die Theosophie des Julius ist demnach ein Versuch, den Unsinn zu erschöpfen; gerade in diesem Erschöpfungsversuch werden Kräfte freigelegt, die das ›Hinaufarbeiten‹ zur ruhigen Weisheit unterbrechen und andere spekulative Wege möglich machen. Die Erschöpfung des Unsinns weist dem Unsinn wesentliche imaginative Operationen zu; es bleibt nun die Aufgabe, diese Operationen nachzuvollziehen. Der Unsinn der Theosophie bewahrt eine ästhetische Wahrheit, die sich in den anziehenden Dynamiken eines von einem Weltbezug abgelösten Zeichensystems ereignet. Demgemäß behauptet der Schreiber ( Julius) eine Kompatibilität zwischen dem Falschen und dem Wahren durch die Errichtung eines Zeichenzusammenhangs51: Übrigens könnte meine Darstellung durchaus verfehlt, durchaus unecht sein – noch mehr, ich bin überzeugt, daß sie es notwendig sein muß, und dennoch ist es möglich, daß alle Resultate daraus eintreffen. Unser ganzes Wissen läuft endlich, wie alle Weltweisen übereinkommen, auf eine konventionelle Täuschung hinaus, mit welcher jedoch die strengste Wahrheit bestehen kann. Unsre reinsten Begriffe sind keineswegs Bilder der Dinge, sondern bloß ihre notwendig bestimmten und koexistierenden Zeichen.

Der Wert von Darstellungen wird in Bezug auf ein Zeichensystem anstatt eines Bildsystems bestimmt. Die Autonomie von Zeichensystemen, die von der Referentialität befreit sind, erschließt eine andere Ordnung der Wahrheit: die Wahrheit von Begriffen ohne offensichtliche Weltbezüge. Das Prinzip der Koexistenz, dem Dalberg in seinen Betrachtungen eine verbindende Funktion zuschreibt (eine »Verbindungskraft« 52), macht die Wahrheit eines symbolischen Systems abhängig von den Beziehungen, die sie erzeugen. Reine Begriffsbeziehungen sind auch Beziehungen und haben eine eigene Wahrheit. »Die Anziehung der Elemente,«53 die Julius als kosmogenetisches Individuationsprinzip erstellt, deutet auf die materielle Bedingung einer Theorie des Zeichens als anziehendes Element. Diese Theorie ist auch zugleich eine intradiegetische Fiktion, die fast den Effekt einer Mise en abyme hat: eine Fiktion, die die eigene Theorie der Individuation als Fiktion beschreibt, nur um die Wahrheit dieser Fiktionalität (des Unsinns) zu behaupten. Was bleibt, ist die Anziehungskraft des Zeichens selbst als textueller Effekt: eine Anziehung, die eine Beziehung zum Text erzeugt. Auch bei Schiller wird die Anziehungskraft zu einer (ästhetischen) Beziehungskunst. Die Beziehungskunst des Textes zeigt sich in den spezifischen Begriffskonstellationen der Theosophie: Idee, Liebe, Aufopferung, Gott. Jeder Begriff beschreibt eine besondere Art Anziehung, die in eine verallgemeinernde Stufenfolge von Philosophische Briefe [Anm. 2], 209. Ebd., 230 [Hervorh. im Original]. 52 von Dalberg: Betrachtungen über das Universum [Anm. 4], 29. 53 Schiller: Philosophische Briefe [Anm. 2], 227. 50 Schiller: 51

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Anziehungen integriert wird: zwischen dem Ich und der Idee; zwischen einem Menschen und einem besonderen anderen (Liebe); zwischen einem Menschen und dem Menschengeschlecht als Genus aller Menschen (Aufopferung); zwischen einem Menschen und dem Ganzen (Gott). Jedes Element in dieser Stufenfolge zieht das angesprochene Ich zu immer heterodoxeren Beziehungen hin: zum Selbst, zum anderen, zu allen anderen, zum Ganzen. Die Idee wird zum Beispiel nicht als reine Idealität oder allgemeine Form verstanden, sondern als ein Anziehungseffekt. Die Vollkommenheit der Idee beruht auf deren anziehender Kraft 54: »Alle Geister werden angezogen von Vollkommenheit.« Der Vollzug dieser Anziehung der Idee gipfelt in der Verwirklichung eines Identifikationsprozesses55: »Wir selber werden das empfundene Objekt.« Die Idee ist also eine reine und transparente Selbstbeziehung: eine Vereinigung mit der Vollkommenheit im eigenen Ich. Sie scheint die Struktur eines primären Narzissmus aufzuweisen, die als erotische Identifikation mit dem eigenen Ich anfängt und nach außen projiziert wird 56: »[I]ch begehre [ jede Vollkommenheit: G. T.], weil ich mich selbst liebe.« Die nächsten Schritte in der Stufenfolge erweitern Anziehungsprozesse, die sich schließlich in radikale ethische und politische Praktiken verzweigen; anders als bei Herder werden Begierden und deren Vereinigungsversuche in eine Stufenfolge von ethischen Praktiken der Anziehung geleitet. Wenn die Idee die Begierde nach der Vollkommenheit im Ich ausdrückt, wird die Liebe als Anziehung zum anderen behandelt, die mit der Semantik des Mangels (als Hass) oder des Überschusses (Liebe) beschrieben wird 57: »Wenn ich hasse, so nehme ich mir etwas, wenn ich liebe, so werde ich um das reicher, was ich liebe.« Der dritte Begriff, die Aufopfe­ rung, scheint zunächst nichts mit Anziehungsprozessen zu tun zu haben. Auch hier kann man des geheimnisvollen Wirkens eines Anziehungsprozesses gewahr werden. In der Aufopferung gibt man das eigene Ich auf, damit das Leben eines anderen oder vieler anderen erlöst werden kann. Das Ich löst sich von seiner Selbstheit ab, um sich mit dem universellen generischen Begriff ›Menschengeschlecht‹ zu identifizieren; man opfert sich auf, nicht nur um des Menschengeschlechts willen, sondern um das Allgemeine zu werden 58: »Das Menschengeschlecht, das er jetzt sich denket, ist Er selbst.« Die Anziehung zum Selbstverlust birgt in sich eine Operation der Verallgemeinerung des Ichs, die auf eine Art und Weise die Theorie des tragischen Opfers vorwegnimmt, die Hölderlins Empedokles (1846) zugrunde legt: die Auf ­lösung des Individuums als Bedingung einer neuen kulturellen Form des Menschengeschlechts. Schließlich bezieht sich der vierte Begriff, Gott, auf die Totalität des natürlichen Systems: Ursprung und Ende, die Zeitlichkeit und die Ewigkeit, individuelle Seiende und sich entfaltendes Werden. Anziehungsprozesse werden 54 Ebd.,

219.

55 Ebd. 56 Ebd.,

222.

57 Ebd. 58 Ebd.,

226 [Hervorh. im Original].



Praktiken der Anziehung253

ins Unendliche gesteigert, um in einer utopischen Vision zu gipfeln, die Beziehungen so multiplizieren, dass der Begriff der Beziehungen selbst aufgehoben werden müsste; die Anziehung, die sich als die Erzeugung von Gott selbst im Vollzug eines theogonischen Prozesses zeigt, hebt alle Unterschiede auf.59 Gott entwickelt sich durch die Anziehungen zwischen den Menschen, die letztendlich die Kontingenz – ja, die Inkompatibilität mit der Produktion des Göttlichen – von Formen sozialer und politischer Differenzierung (Klasse, Geschlecht, Gattung) aufzeigen. Schiller schließt die Philosophischen Briefe mit einer Reflexion über vier Elemente 60: »Vier Elemente sind es, woraus alle Geister schöpfen, ihr Ich, die Natur, Gott und die Zukunft.« Die Beziehung zwischen den ersten drei Elementen ist isomorphisch, weil jedes Element hilft, die dynamische Stufenfolge der Anziehung zu realisieren: die Idee als die Anziehung der Vollkommenheit im Ich; die Liebe als die Anziehung in Bezug auf andere, die entweder Mangel oder Überschuss generiert; die Aufopferung als die Anziehung des Menschengeschlechts; und Gott als Vollzug eines sich multiplizierenden Anziehungsprozesses hin zu einer utopischen Vision, in der sich alle Unterschiede als radikal kontingent erweisen. Warum aber erscheint in diesem Kontext als viertes Element die Zukunft? Die Zukunft weist auch die Dynamik einer Anziehung auf: eine Anziehung zum reinen Möglichkeitsraum, zu einer dauernden Uneigentlichkeit in der Gegenwart. Die Theosophie, die einer Semiotik der Anziehung Form gibt, gehört einer Gegenwart an, die, wie Hannah Arendt schreibt, zwischen Vergangenheit und Zukunft liegt. Die Theosophie vollzieht durch ein autonomes Zeichensystem der Anziehung eine ästhetische Erziehung, die aber nicht danach strebt, eine Versöhnung mit der Gegenwart auszulösen, sondern einen Möglichkeitssinn anzuregen. Idee, Liebe, Aufopferung, Gott sind selbst anziehende Elemente, die den Menschen von den Gegenanziehungen (Unwissenheit, Haß, Egoismus, Trennung) einer problematischen sozialen Realität befreien. Im Zuge seiner späteren Begegnung mit Kant hat sich Schiller gegen die ausschweifende Imagination solcher Utopien der Anziehung gewendet; die Romantiker aber haben die Herausforderung angenommen, das Potential einer Ontologie der Anziehung in ethischer und politischer Hinsicht zu entwickeln.

59 Die relevante Stelle wurde am Anfang dieses Beitrags zitiert: »Die Anziehung der Geister in’s Unendliche vervielf ältigt und fortgesezt müßte endlich zu Auf hebung jener Trennung führen oder (darf ich es aussprechen, Raphael?) Gott hervorbringen« (ebd., 227). 60 Ebd., 233 [Hervorh. im Original].

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VI. Romantische Anziehung als Bejahungsstrategie atypischer und abweichender Lebensformen (Novalis und Günderrode)

In einem Fragment des Allgemeinen Brouillons (1798/1799) unternimmt Novalis den Versuch zu einer »Poetik des Übels.« 61 Er schreibt 62: »Fängt nicht das Beste mit Kranckheit an?« und zieht die Aufmerksamkeit auf »die anziehende Kraft des Übels.« Die Krankheit, wie das Böse – Novalis behandelt die zwei als analoge Phänomene –, verursacht eine Erregung, die sich mit dem Grad der normativen Abweichung intensiviert 63: »Alle Anziehung geschieht durch Reitz. Alles zieht uns an, was uns erregt.« Die Funktion der Anziehung in physiologischen Prozessen als Effekt eines Reizphänomens, wird mit einem erheblichen außermoralischen Potential versehen. Die Abweichung von einer Norm (der Gesundheit, dem Guten) setzt Kräfte frei, die einen vitalisierenden Entwicklungsgang in Bewegung setzen, um das zerstörte Gleichgewicht wiederherzustellen. Genau diese Funktion hat auch die Poesie: nicht die Wiederherstellung der Norm, sondern das Beleben eines physiologischen Systems durch eine ständige Oszillation zwischen normstörenden und normwiederherstellenden Prozessen. Demgemäß beschreibt Novalis »die tugendhaften Dichter« (»nach Gesetzen d[er] Moral und Poësie«) als diejenigen,64 die versuchen, das Böse und die Krankheit auszutilgen; aber dafür benötigen solche Dichter die Krankheit und das Böse – daher die Notwendigkeit einer ›Poetik des Übels‹. Das Übel wird mit einer erhöhten Anziehungskraft aufgeladen, um letztendlich transgressive Individuationsformen in einen physiologischen Funktionszusammenhang einzubeziehen, d. h. sie ästhetisch – auch als romantische Lebenskunst – produktiv zu machen. Diese Rechtfertigung einer von der Norm abweichenden Lebensform als Effekt einer Anziehungskraft findet sich auch in Karoline von Günderrodes naturphilosophischem Fragment Idee der Erde. Dieses Fragment definiert das Leben als die »innigste Vermischung verschiedener Elemente mit dem höchsten Grad der Berührung und Anziehung.« 65 Alle Lebewesen sind Formen, die aus einer ursprünglichen, vorindividuellen Erdsubtanz entstehen und sich durch Anziehungen und Berührungen – Reibungsprozesse, die Energie generieren, speichern, und weiterleiten – weiter individuieren. Die Erde ist eine zur Verwirklichung dringende Idee, deren Ziel es ist, einen »unsterblichen Jdeelen [sic] Leib hervor zu bringen,« einen »gemeinschaftlichen Organismus« zu schaffen;66 Individuen sind nichts anderes als Problemlösungen dieser ursprünglichen Substanz, Auslöser eines Übergangs von 61 Novalis: Das Allgemeine Brouillon, in: ders.: Schriften III, hg. von Richard Samuel, HansJoachim Mähl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1983, 207–478, hier 389 [Hervorh. im Original]. 62 Ebd. [Hervorh. im Original]. 63 Novalis: Fragmente und Studien 1799–1800, in: ders.: Schriften III [Anm. 61], 527–694, hier 631 [Hervorh. im Original]. 64 Novalis: Das Allgemeine Brouillon [Anm. 61], 390 [Hervorh. im Original]. 65 Karoline von Günderrode: Idee der Erde, in: dies.: Sämtliche Werke und ausgewählte Studien I, hg. von Walther Morgenthaler, Basel 1990, 446–449, hier 446. 66 Ebd., 448.



Praktiken der Anziehung255

Potentialität zu Aktualität. Die Idee der Erde kann aber ihre ideale Form nicht ohne eine erhebliche Energieaufladung realisieren: Die Erde individuiert sich in Einzelwesen, die dann eine durch Anziehungen und Berührungen heilende oder hemmende Energie generieren und speichern, und sterbend diese Energie zurück in die Erdsubstanz leiten67: »So giebt jeder Sterbende der Erde ein erhöteres, entwikleteres Elementarleben zurück welches sie in aufsteigenden Formen fort bildet.« Günderrodes spekulative Naturphilosophie kodiert Operationen der Anziehung und Berührung als ethische Praktiken um, die diese Energieübertragung in die Erdsubstanz hemmt oder fördert.68 Je mehr sich ein Mensch als Einzelwesen der Struktur dieses idealen Leibs annähert und sie selber verkörpert – »sich selbst gleich, mit sich harmonisch, nicht in die Einzelheit zerrissen« – desto wirkungsmächtiger ist die Energie, die der Erdsubstanz hilft, ihre Idee zu realisieren, »wo aller Leib auch zugleich Gedanke, alles Denken zugleich Leib wäre, und ein wahrhafter verklärter Leib, ohne Fehl und Krankheit und unsterblich.« 69 Wahrheit, Gerechtigkeit, Liebe und Güte sind folglich nichts anderes als Ergebnisse eines Realisierungsversuchs der Idee der Erde, die sich nur durch die Produktion von Anziehungen und Berührungen – Prozesse der Energieaufladung, Speicherung, und Weiterleitung – verwirklichen kann. Umgekehrt wird »durch jede That der Ungerechtigkeit, Unwahrheit und Selbstsucht [...] jener Zustand entfernt und der Gott der Erde in Fesseln geschlagen.«70 Demgemäß sind Individuierungsprozesse, die durch Anziehung und Berührung potenziert werden, zugleich vitalisierende ethische Praktiken. Wichtig ist, dass die Selbstauflösung nicht nur notwendig ist, um die Idee der Erde zu realisieren, sondern dass Prozesse der Selbstauflösung als Strategien der Energiesteigerung funktionieren können; diese Ontologie versieht die romantische Sehnsucht nach dem Tode, ja den Todestrieb selbst, mit einer ethischen Aufgabe, indem Selbstverlust (oder Aufopferung) die Dynamik des idealen Leibs verkörpert und damit die Idee der Erde zur Verwirklichung bringen kann.71 Zwei Folgen ergeben sich aus dieser ethischen Dynamik der Anziehung. Erstens, wenn die Idee der Erde sich durch Individuation und Selbstverlust realisiert, dann legitimiert diese Idee atypische oder abweichende Individuationsformen, die Prozesse auslösen, welche intensive Energie vermitteln. Die literarischen Figuren der Günderrode sind Archive solcher atypischen und abweichenden Individuationsformen: die Hauptfigur des Gedichts Piedro (1805), dessen homosexuelle Begierden ihn drängen, sich mit seinem erotischen Objekt im flüssigen Element zu vereinen und sich dabei in der generativen Matrix des Ozeans (als Ort des Unbewussten und 67 Ebd.,

447. Vgl. Dalia Nassar: The Human Vocation and the Question of the Earth – Karoline von Günderrode’s Reading of Fichte, in: Archiv für Geschichte der Philosophie [im Erscheinen]. 69 Karoline von Günderrode: Idee der Erde [Anm. 65], 448. 70 Ebd., 449. 71 Vgl. Jason Yonover: Spinozism around 1800, in: The Oxford Handbook of Women Philosophers in the Nineteenth Century, ed. by Kristin Gjesdal und Dalia Nassar [im Erscheinen]. 68

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der Entdifferenzierung) aufzulösen; im Gedicht Brutus (1803), der Mann, der sich für die Freiheit aufopfert, der aber – wie Hemsterhuis es beschreibt – den ethischen Praktiken seiner Zeit zuwiderhandelt; die Protagonistin in Hildgund (1805), die sich bereit erklärt, einen Tyrannenmord zu begehen und dadurch den Möglichkeitsraum der weiblichen Machtstrategien zu erweitern.72 In ästhetischen Kontexten erzeugen Praktiken der Anziehung Lebensformen, die auf das hindeuten, was Nietzsche später als Umwertung der Werte bezeichnen wird. Zweitens sind Anziehungsprozesse, die im Selbstverlust oder in der Selbstauflösung gipfeln, nicht bloß Erscheinungsformen von problematischen Trieben, sondern stellen Versuche dar, durch ethische Praktiken ontologische Probleme zu lösen. Die genauen Formen solcher ethischen Praktiken sind konstitutiv offen und experimentell im ästhetischen Feld zu präzisieren. Dies unternimmt Günderrode in ihrem literarischen Schaffen. Ihre Hauptoperation besteht darin, das Ethische mit einer vitalisierenden, anziehenden Kraft zu versöhnen. Romantiker wie Novalis und Günderrode rufen eine Semantik der Anziehung auf den Plan, um der transformativen Kraft von philosophischen und ästhetischen Operationen auf den Grund zu gehen: Praktiken der Anziehung werden zur Quelle einer Erweiterung oder einer Erschütterung des symbolischen Raums, einer Auf­ lockerung der Verzahnung zwischen System und Subjekt. In Übereinstimmung mit Schillers Anrufung der Zukunft als Grundelement einer Hoffnung auf Besseres, wird der Mensch damit zum Experimentierfeld. Schon Jakob Böhme hat die Anziehung in ihrer ganzen Zweideutigkeit erfasst, als normschaffende und normübertretende Kraft zugleich. Im 18. Jahrhundert entwickelt sich dann ein ästhetisches Denken, das sich mit den Zweideutigkeiten und den ethischen und politischen Folgen dieser ontologischen Anziehung auseinandersetzt. Hemsterhuis entwickelt eine Idee der Kunst als Multiplikation von Beziehungen im kleinsten möglichen Zeitraum (die Anziehungskraft wird zur Beziehungskunst). Diese Logik zeigt sich auch in sozialen und politischen Kontexten, wo Hemsterhuis das stark atrophierte moralische Organ seines Zeitalters wieder zu beleben und zu verfeinern versucht; die Beziehungskunst wird damit zur Lebenskunst. Herder versucht, das destruktive Potential der anziehenden Kräfte in sich selbst erhaltende Formen der Individuation zu leiten, und macht dadurch die Entfernung zwischen Seienden zum Objekt der Begierde zweiter Ordnung, was eine Politik der Freundschaft – als Bejahung einer Entfernung und Förderung eines sozialen und politischen Nebenanderseins – ermöglicht. Schiller betrachtet ästhetische und semiotische Operationen der Anziehung als Erscheinungsformen eines theogonischen Prozesses, der das faktische sozial-symbolische System der Unterschiede als kontingent und mangelhaft erscheinen lässt. In ihren Fragmenten und ästhetischen Experimenten weisen Romantiker wie Novalis und Günderrode abweichenden und atypischen Lebensformen eine gesteigerte und belebende Anziehungskraft zu. Die Signatur der Seienden als Träger 72 Vgl. Anna Ezekiel: Metamorphosis, Personhood, and Power in Karoline von Günderrode, in: European Romantic Review 25/6 (2014), 773–791, hier 782.



Praktiken der Anziehung257

einer anziehenden Kraft wird damit zur entscheidenden imaginären und ästhetischen Ressource, um sich die Gestalt der Lebensformen und die Totalität menschlicher und nichtmenschlicher Beziehungen neu und anders vorzustellen: nicht nur als das, was sie sind, sondern als das, was sie eines Tages sein könnten.

FORMEN – MEDIEN – DINGE

Praktiken des Epigramms Scaliger, Lessing, Goethe Stephan Kammer

I. Einleitung

»Epigramme sind eben keine Lectüre für Töchterschulen«, erläutert der Herausgeber einer populären Sammlung des 19. Jahrhunderts seine Entscheidung, in seiner »Sammlung von Epigrammen […] selbstverständlich auch das Derbe nicht ausgeschlossen« zu haben.1 Auch wenn Roderich Benedix’ Sammlung deutscher Epigramme (1861) in dieser Beziehung wohl kaum hält, was sie verspricht: Ganz unerwartet kommt eine derartige Triggerwarnung avant la lettre gerade bei diesem Genre keineswegs. Die kleine Form hat ein Problem mit ihrer literarischen agency, die sich nicht ohne Weiteres von den gebräuchlichen ästhetischen Regulierungsmaximen des Wahren, Guten, Schönen bemeistern lässt. Die Geschichte des Epigramms weiß eine Fülle von grober Polemik und sexuellen Anzüglichkeiten zu verzeichnen, die nicht etwa bloß Stilblüten des Bösen bildet, sondern einer eigenen Spielart der poetischen Form zuzurechnen ist. Dieser Befund betrifft keinesfalls nur Inhalte und Leser oder – wie im Eingangszitat im Speziellen adressiert – Leserinnen dieser Texte. Er scheint sich aus einer ganz bestimmten Dynamik abzuleiten, die den eigensten Formkriterien des Epigramms aufruht. Das Epigramm lockt, zielt und trifft. Die positiv gewendete, strukturale und auf diese Eigenart selber zielende Kehrseite der Folgeabschätzung, die der Schauspieler und Komödiendichter Benedix als inhaltliche Warnung für »das größere Publicum« mit auf den Weg gibt,2 findet man in der definitorischen Beschreibung von Johann Christoph Adelungs Wörterbuch (1774– 1786), derzufolge »kurz[e] Gedicht[e]« dieser Art »einen anziehenden Gedanken« enthielten, »der glücklich und in wenig Worten vorgetragen« werde.3 Wiederum circa 60 Jahre zuvor schließlich findet man eine Definition, in der die Pragma­ grammatik des Epigramms an der Form eines Adressatenbezugs entfaltet wird4: 1 Sammlung

deutscher Epigramme, hg. von Roderich Benedix, Leipzig 1861, v–vi. v. 3 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen I, Leipzig 21793, 1846. 4 Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden VIII, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle/ Leipzig 1734, 1341. 2 Ebd.,

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Stephan Kammer

»Epigramma, ist eine kurtze und scharffsinnige Ueberschrifft über oder auf etwas, so ordentlicher Weise in Versen entfasset wird, und unter den Titeln mit IN, AD, und DE auf alle und jede Dinge und Begebenheiten kan gemacht werden«, liest man in Johann Heinrich Zedlers Großem Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste (1731–1754); der betreffende Band ist im Jahr 1734 und somit gewissermaßen am Vorabend jener theoretischen, aber eben nicht nur theoretischen Bemühungen um das Epigramm erschienen, die im Fokus der folgenden Ausführungen stehen. Der polemische, satirische, gelegentlich obszöne Zuschnitt der Formtradition prägt auch die Epigrammdebatten der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Dort wird nicht zuletzt die Frage aufgeworfen, ob »etwas ästhetisch schön sein könne, wenn es nicht auch moralisch gut ist«5; sie provoziert Ausschluss- und Disziplinierungsmaßnahmen. Es geht mir im Folgenden weniger um diese thematisch-inhaltliche Seite des Epigramms als um dessen formdynamische Grundlagen; dazu tritt der Befund, dass das Epigramm die vielleicht traditionsreichste medial, ja material bestimmte literarische Form darstellt. Als Auf- oder Inschrift ist das Epigramm zum einen Teil einer Tradition dinglicher Literatur, deren Materialbedingungen Wahrnehmung, Entzifferung und Verständnis solcher Schrift-Stücke konstituieren. Die Poetik des Epigramms hat zum anderen aus diesen Materialbedingungen Formmerkmale und stilistische Eigenarten, die ein Gedächtnis der Materialbezogenheit semantisch und/oder formal bewahren, zugleich gewonnen und entrissen: ersteres im Lapidarstil, scriptura lapidaria, letzteres in den poetischen Figurationen von Kürze und Zuspitzung (argutia). In den Epigramm-Diskussionen hält sich damit der Anspruch des Materials im Modus des Ästhetischen. Das Epigramm lockt, zielt, trifft: Es schreibt sich, in feindlicher, freundlicher oder einfach deiktischer Absicht, auf jemanden oder etwas hin (in, ad) oder davon her (de). Es figuriert dabei so etwas wie einen Kondensationskern rhetorischen Wirkvermögens: glückende Anziehung (persuasio) durch einen prägnant geformten, also dem Kriterium der brevitas genügenden Gedankenausdruck – selbst wenn dieser bisweilen in schlagender Gestalt daherkommt und deswegen dann mit dem Hori­ zont verfeinerter Leser*innenerwartungen in Konflikt geraten kann.6 Das ist ein eigentümliches Genreprofil, und nicht weniger eigentümlich mutet die Karriere dieser kleinen Form im 18. Jahrhundert an – insbesondere deren bemerkenswerte Stabilität gerade in einer historischen Phase, die im übrigen mit den literarischen und poetologischen Traditionsbeständen nicht eben zimperlich umgeht.7 In die lite­ raturästhetische Landschaft dieser Jahrzehnte und auch zu deren dominanten hete5 Gotthold Ephraim Lessing: Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, und einige der vornehmsten Epigrammatisten, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden VII, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 2000, 179–290 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle ZAE mit Seitenzahl in Klammern], hier 233. 6 Das Grimm’sche Wörterbuch bietet »solidus, gravis, vehemens« als definitorische Paraphrasen für ›derb‹ an und unterstreicht, dass das Synonym »grob« in diesem Fall verwendet würde, »ohne damit zu tadeln« (Deutsches Wörterbuch II, hg. von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig 1860, 1012). 7 Wilfried Barner zufolge gibt es »kaum eine nähere Parallele zur strikten Gattungsgebun-



Praktiken des Epigramms261

ronomen Hegungen scheint dieses von sich aus aktive bis aktivistische Format, das seine maßgeblichen Eigenschaften einem entschieden und gleichsam ursprünglich rhetorischen Sprachverständnis verdankt,8 jedenfalls ebenso schlecht zu passen wie zu den prominenten Stilprämissen der Zeit.9 II. Gedichtete Schlüsse: Praktik sinnlicher Form (Scaliger)

Bestimmend für die frühneuzeitliche Auseinandersetzung mit dem Epigramm ist das 125. Kapitel des dritten Buches von Julius Caesar Scaligers Poetik (1561) gewesen.10 Man findet dort die beiden hauptsächlichen qualitativen Erfordernisse, ja »Tugenden« (P, 207) des Genres beinahe zum Merksatz verdichtet11: »Brevitas proprium quiddam est, argutia anima ac quasi forma« – »Die Kürze ist ein wesentliches Merkmal des Epigramms, während die geistreiche Zuspitzung seine Seele und gewissermaßen seine Form ist« (204 f.). Scaliger unterscheidet außerdem zwischen der einfachen Form des Epigramms und einer zusammengesetzten (complexum). Erstere leitet er aus einer inschriftenbasierten Logik des Bezeichnens ab, die er – nicht ohne Raffinesse – eine seit dem Hellenismus gebräuchliche Tradition aufgreifend in das Differenzspiel zwischen den traditionellen epigrammatischen Medien Stein und Buch überführt.12 Letztere, die zusammengesetzten Epigramme also, zeichnen denheit« der epigrammatischen Form (Wilfried Barner: Vergnügen, Erkenntnis, Kritik – Zum Epigramm und seiner Tradition in der Neuzeit, in: Gymnasium 92 (1985), 350–371, hier 352). 8 Vgl. zur agency des frühen rhetorischen Sprachdenkens Stephan Kammer: Rhetoric’s Active Matter, in: Active Materials, ed. by Peter Fratzl, Michael Friedman, Karin Krauthausen und Wolfgang Schäffner, Berlin/Boston 2021, 313–338. 9 Vgl. das konzise Resümee bei Barner: Vergnügen, Erkenntnis, Kritik [Anm. 7], 354 f. 10 Vgl. Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem – Sieben Bücher über die Dichtkunst III, unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hg. von Luc Deitz und Georg Vogt-Spira, Stuttgart-Bad Cannstatt 1995, [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle P mit Seitenzahl in Klammern] 202/203–216/217. 11 Wie in der rhetorischen Tradition üblich, zielt die Definition mit brevitas nicht auf eine (numerisch anschreibbare) quantitative Beschränkung, eine »brevitas definita« (P, 204), sondern auf ein Korrespondenzverhältnis von res und verba: »Kürze ist nach dem Grundsatz des aptum der dem Gegenstand angemessene kleinstmögliche Textumfang« (Peter Hess: Epigramm, Stuttgart 1989, 11). 12 Dazu Timo Christians: »Ein Epigramm ist der Wortbedeutung nach eine ›Aufschrift‹, also für den ›Stein‹ verfasst (d. h. einen in der Regel ortsfesten, aus dauerhaftem Material gefertigten Träger, etwa eine Statuenbasis oder einen Grabstein), wird aber spätestens seit Beginn des Hellenismus auch fürs ›Buch‹ gedichtet (also einen mobilen, aus weniger haltbarem Material gemachten Träger wie Papyrusrolle oder Wachstafel). Diese eigentümliche Stellung zwischen zwei Trägermedien ist nun nicht nur eine Frage der Überlieferung, sondern betrifft gerade die Gattungspoetik des Epigramms: Bereits die ältesten Inschriften verweisen regelmäßig auf den materiellen Träger, auf dem sie stehen, und es existieren zahlreiche literarische Epigramme, die primär fürs Buch gedichtet wurden, aber dennoch mit der Möglichkeit einer Inskription auf Stein spielen« (Timo Christians: Gebildete Steine – Zur Rezeption literarischer Techniken in den Versinschriften seit dem Hellenismus, Göttingen 2015, 17).

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sich zunächst nicht so sehr durch mediale oder medienreflexive Eigenheiten aus, sondern durch die ihnen immanente, den Schein der Logik figurierende Form. Sie sind gedichtete Schlüsse: Aus Prämissen/»Vorgaben« leiten sie ab (»deducunt ex propositis«, P, 204), was »entweder größer oder kleiner oder gleich oder verschieden oder entgegengesetzt ist« (205). Dass das Epigramm dennoch nicht in den Zuständigkeitsbereich der Dialektik fällt, sondern dank seiner »enthymematische[n] Einrichtung« (ZAE, 219 [Hervorh. im Original]) – wie das Gotthold Ephraim Lessing trefflich genannt hat – auf dem Terrain der Poetik bzw. Rhetorik spielt, machen Scaligers Ausführungsbestimmungen und Beispiele allerdings unmissverständlich deutlich. Zum einen sind es »unerwartete oder […] der Erwartung zuwiderlaufende« (P, 207) Schlüsse, die das Epigramm (ver)dichtet – Schlüsse also, die gerade nicht restlos im Bereich geteilter Erwartungen aufgehen, den die dialektische Endoxa für gewöhnlich umreißt, oder gar gegen solche Erwartungshorizonte gezielt verstoßen. Zum anderen scheint für Scaliger die Möglichkeit des Epigramms geradezu koextensiv mit den Möglichkeiten und Dynamiken sprachlicher Darstellung zu sein13: Das Epigramm lässt jede Dichtart zu: diejenige in Wechsel- oder Figurenrede [διαλογικόν sive δραματικόν], die erzählende [διηγηματικόν] und die aus beiden zusammengesetzte. Es gibt so viele Gattungen des Epigramms, wie es Sachverhalte [rerum] gibt; sie entfalten sich in so vielen Versgattungen, wie es Versgattungen gibt; sie setzen sich aus ebenso vielen Wörtern und Wortgattungen, -arten, -formen, -figuren und -modi zusammen, wie es in jedem Einzugsbereich einer Sprache – sei’s die­jenige einer Nation, eines Volks oder eines Stammes – Gattungen, Arten, Formen, Figuren und Modi der Wörter gibt. Ja es ist nicht nur erlaubt, Neues zu formen, sondern bisweilen auch Solöozismen oder Barbarismen zuzulassen. Jene Neuheit, die noch unverbraucht oder bisweilen gar unschicklich ist, erregt Lachen oder Bewunderung. (P, 204/206)

Die Grenzen der Sprache, genauerhin: des Sprachmöglichen sind die Grenzen des Epigramms. Dieses Sprachmögliche beschränkt sich allerdings im epigrammatischen Kontext keineswegs auf die Strukturimplikationen einer langue oder die Pragmasystematik einer Kulturtechnik namens Rhetorik. Zum konzisen Zuschnitt der sprachlichrhetorischen Aktivität des Epigramms tritt nämlich auch bei Scaliger schon eine zweite Einhegung der Form, die ein beträchtliches Konfliktpotential zu den dominierenden Prämissen eines neuzeitlichen Poetologieverständnisses erwarten lässt. Das Anziehende und Treffende des Epigramms verführt Scaliger dazu, dem Kapitel einen Anhang hinzuzufügen, der die Typologie der Form seinerseits mit einer scharfsinnigen Pointe fassen will (argutia, vgl. P, 210). Quer zu den traditionellen Stilniveaus der Rhetorik und vergleichbar asymmetrisch wie in der Differenzierung zwischen einfachen und zusammengesetzten Epigrammen nämlich unterscheidet er das catullische Genus, das er mit der kulinarisch-sensorischen Lockmetapher des 13 Diese

Passage des Texts in meiner Übersetzung.



Praktiken des Epigramms263

Honigs (mel, vgl. P, 212) kennzeichnet, von der Traditionslinie Martials, in der er vier Prinzipien ausmacht. Die erste von ihnen, foeditas (vgl. ebd.), scheint das abjekte Gegenprinzip zur lockenden Süße des Honigs anzuzeigen. Machwerke, die dieser Kategorie zuzurechnen wären, sähe Scaliger am liebsten »mitsamt ihren Urhebern« (213) vom Erdenrund getilgt, und so findet man das argute Komplement zum Honig dann in den drei folgenden Klassen; auf sie treffen auch die am Anfang dieses Absatzes unterstrichenen ›aktivistischen‹ Grund- und Wirkprinzipien (vivida, vegeta, acria, vgl. P, 212) wieder besser zu. Die Merkmale dieser drei Epigrammklassen fasst Scaliger ebenfalls mit sensorischen Metaphern. Sie unterstehen im Unterschied zum Honig allerdings wohl eher dem Prinzip des Treffens als dem des Lockens: Galle, Essig, Salz ( fel, acetum, sal). Allesamt aber sind es Kategorien des Geschmacks, den Scaligers Poetik bei ihrer arguten Sortierung epigrammatischer Lock- und Treffprinzipien als Adressateninstanz erscheinen lässt – eines Vermögens also, das sich, wie die inschriftenbezogene Primärmaterialität der Form ohnehin, längst noch nicht von seinem materialen bzw. in diesem Fall physiologischen Bezugsfeld gelöst hat.14 Auch wenn der übergeordnete Begriff des Geschmacks im Kapitel nirgends anzutreffen ist: Im Appendix jedenfalls läuft dessen physiologisch-kulinarische Grundlegung semantisch durchgehend mit, wenn Scaliger, der ja das argute Prinzip seines Gegenstands auf dessen Darstellung übertragen will, diesen Anhang bereits im ersten Satz mit einer »Soße« (embamma, 210 f.) vergleicht. So ist es möglicherweise kein Zufall, dass das Epigramm immer wieder als diejenige poetische Form angetroffen werden kann, die den viel diskutierten Trend des 18. Jahrhunderts zur ›Entsinnlichung‹, zur Bannung und Transzendierung des Medial-Materialen im Zuständigkeitsbereich der Literatur konterkariert. Bernhard Jahn hat auf die herausragende Rolle hingewiesen, die dem Wahrnehmungs- und Erkenntnispotential der Sinnlichkeit dann in den Epigramm-Theorien der zweiten Jahrhunderthälfte zukommen wird. Die »Sinnlichkeit des Epigramms« beschränkt sich, so seine Diagnose, keineswegs auf die Rolle, die man entweder der »Wahrneh14 Noch bei Thomasius, dessen Rolle man für die Etablierung des Geschmacksbegriffs im Deutschen herauszustellen pflegt, laufen die beiden Bezugsfelder explizit parallel: »Le bon gout, gleichwie es eigentlich einen guten und subtilen Geschmack bedeutet / und dannenhero von solchen Leuten gebraucht wird / die nicht alleine das was gut schmeckt von andern gemeinen Speisen wol zu unterscheiden wissen / sondern auch geschwinde durch ihren scharffsinnigen Geschmack urtheilen können / woran es einem essen mangele; Also haben die Frantzosen nicht uneben dies Wort hernach figürliche Weise von allen denen zubrauchen angefangen / die wohl und vernünfftig das Gute von den Bösen oder das artige von dem unartigen unterscheiden« – der Begriff betrifft also die »Sinnen« so gut wie den »Verstand« (Christian Thomasius: ›Discours‹, Welcher Gestalt man Denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle?, in: ders.: Ausgewählte Werke XXII, hg. von Werner Schneiders, Hildesheim/Zürich/New York 1994, 13 f. [Hervorh. im Original]). – Auf die umfangreiche Forschungsliteratur zur Begriffsgeschichte kann ich an dieser Stelle nicht näher eingehen. Vgl. zuletzt die ausführliche, Wort- und Begriffsgeschichte korrelierende Untersuchung von Dominik Brückner: Geschmack – Untersuchungen zu Wortsemantik und Begriff im 18. und 19. Jahrhundert – Gleichzeitig ein Beitrag zur Lexikographie von Begriffswörtern, Berlin/New York 2003.

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mungsleistung der äußeren Sinne« zu überantworten pflegt oder aber der »Tätigkeit sogenannter ›innerer‹ Sinne vorbehält, wie sie etwa das ›Gedächtnis‹, die ›Einbildungskraft‹, oder das ›Urteilsvermögen‹ darstellen.«15 Ganz im Gegenteil bestimme sie zumal in Lessings einschlägiger Epigrammtheorie von Grund auf die konzeptuelle Dynamik der Form; dieser Spur will ich im nächsten Abschnitt ausführlicher nachgehen. Aber auch die poetische Verfahrensweise des Epigramms selber trage dieser Konstitutionsleistung des ›Sinnlichen‹ Rechnung. Jahn nennt drei Spielformen einer epigrammatischen »Versinnlichung«: den »Einsatz deiktischer Partikel«,16 die den Praktiken des Lockens, Zielens, Treffens Anschauung geben; die etablierten rhetorischen Verfahren der evidentia; schließlich »ein Bündel von Verfahren, die alle darauf abzielen, die Materialität der Schrift herauszustellen.«17 Die erste dieser Versinnlichungsstrategien liegt angesichts der Sach- und Begriffsgeschichte nahe. Als Inschrift meist monumentalen Zuschnitts unterliegt das Epigramm solcher Deixis geradezu konstitutiv; und sie figuriert dabei gerne die ›normabweichenden‹ Ambiguierungen einer (mündlichen, schriftlichen) Kommunikationsstruktur, die sich aus der »ursprüngliche[n] Bezogenheit auf ein Grab bzw. auf die dort begrabene Person« herleitet.18 So beispielsweise Lessings Grabschrift des Nitulus (1771), die dieses epigrammatische Versinnlichungsdispositiv für eine so bösartige wie raffinierte (De-)Materialisierungspointe nutzt19: Grabschrift des Nitulus Hier modert Nitulus, jungfräulichen Gesichts, Der durch den Tod gewann: er wurde Staub aus Nichts.

Auch für die zweite Strategie, die Praktik epigrammatischer Hypotypose, die den gedichteten Schlüssen des Epigramms die Figuration sinnlicher Anschauung unter­ legt, braucht man nicht lange nach Belegen zu suchen. Dass dies bei der wahrscheinlich reflexivsten aller literarischen Formen mit einer Verständigung über die bzw. Kritik an der epigrammatische(n) Persuasionskraft einhergehen kann, lässt sich wiederum mit Lessing zeigen; sein poetologisches Epigramm versteht es dabei sogar, die versinnlichende Figuration der Treffsicherheit gedichteter Schlüsse kontrastiv zuzuspitzen, wenn er das noch im 18. Jahrhundert nicht unübliche Form­ synonym ›Stachelreim‹ in dessen poetische (Reim) und persuasive (Stachel) Kompo­ nente zerlegt und die beiden einander gegenüberstellt:

15 Bernhard Jahn: Simulierte Sinnlichkeit – Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für die Theorie und Praxis des frühneuzeitlichen Epigramms, in: Chloe 39 (2006), 103–123, hier 103 f. 16 Ebd., 117. 17 Ebd., 119; vgl. ebd., 117–120. 18 Hess: Epigramm [Anm. 11], 4. 19 Hier zit. nach Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften I, hg. von Karl Lachmann, hg. von Franz Muncker, Stuttgart 31886, [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle LM mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern], hier 14.



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Der Stachelreim Erast, der gern so neu als eigenthümlich spricht, Nennt einen Stachelreim sein leidig Sinngedicht. Die Reime hör’ ich wohl; den Stachel fühl’ ich nicht. (LM I, 3)

Dass bisweilen ausgerechnet das Insistieren auf der eigenen (Schrift-)Materialität, jene literaturgeschichtlich nächstliegende und in den Jahrzehnten um 1800 umstrittenste Versinnlichungsstrategie literarischer Texte, als umständlichstes und aufwendigstes Manöver dieser Art erscheint, mag ein dritter Beleg aus Lessings epigrammatischer Praxis illustrieren: In ein Stammbuch, in welchem die bereits verstorbenen mit einem † bezeichnet waren. 1779. Hier will ich liegen! denn hier bekomm’ ich doch Wenn keinen Leichenstein, ein Kreuzchen noch. (LM I, 48)

So prekär diese epigrammatische Inszenierung wird, wenn sie vom Eintragungskontext des singulären Stammbuchs ins unveränderlich Vervielfachte von Musen­ almanachen und Werkausgaben disloziert, so raffiniert setzt sie an ihrem angestammten Ort die Versinnlichungsprinzipien der Form ins Werk. Streng genommen findet man dort sogar alle der von Jahn unterschiedenen Praktiken in diesen beiden Versen versammelt und mit einander verschränkt: Deixis der Inschrift (›hier will ich liegen!‹), Materialität der Inskription (›†‹) und den gedichteten Schluss evidenter Bildgebung (›Leichenstein‹, ›Kreuzchen‹). III. Erwartung/Aufschluss: Formdynamik des Epigramms (Lessing)

Auch wenn Lessing in seinen Epigrammen die Praktik sinnlicher Form meisterlich und ganz gemäß dem gewählten Traditionsbezug anzubringen versteht, hat man seinen »eigentliche[n] Beitrag […] zur Epigrammatik« sicher nicht zu Unrecht in der theoretischen Fassung der Form sehen wollen.20 Diese Fassung beruht, wie man weiß, auf einer dynamischen Zweiteilung der Form in »Erwartung und Aufschluß« (ZAE, 188 [Hervorh. im Original]). Die 1771 erschienene Abhandlung Zerstreute Anmerkungen über das Epigramm, und einige der vornehmsten Epigrammatisten stapelt in ihrer nonchalanten Titelgestaltung gewiss tief: Auch wenn der Eindruck einer »gleichermaßen dogmatisch wie unsystematisch« gehaltenen Darstellung nicht von der Hand zu weisen ist,21 man auch die Diskrepanz zwischen dem System­ anspruch des ersten Teils und den doch in jeder Hinsicht heterogen anmutenden Ausführungen zu den römischen und griechischen Bezugscorpora kaum übersehen Epigramm [Anm. 11], 47. Klaus Bohnen in seinem Kommentar zur verwendeten Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden VII, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 2000, 741. 20 Hess: 21 So

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kann – der erste, systematische Teil der Abhandlung umreißt doch eine Theorie des Epigramms, die diese »rhetorische Gattung« in die Epistemik der zeitgenössischen Ästhetik zu überführen scheint.22 Wilfried Barner und neuerdings – in generalisierender Absicht – Frieder von Ammon haben diese Rekonfiguration des Epigramms in ihren wesentlichen Zügen dargestellt. Lessing habe, so Barner, das argute ›Formprinzip des Witzes‹ (Paul Böckmann) »für die nationalpädagogischen Ziele des siècle des lumières« 23 zu aktualisieren und zu remodellieren verstanden und dabei an eine bereits vorhandene Debatte zur »Erkenntnisqualität« 24 epigrammatischer Darstellung anschließen können 25: »[I]n der ungeheuren Beliebtheit der Epigrammgattung und des darüber weit hinausgreifenden argutia-Prinzips (nicht nur) während der Barockzeit« habe sich bereits die »Grundüberzeugung« Ausdruck verschafft, der zufolge »in der jeweiligen novitas der Wort- und Gedankenkombinationen, namentlich im witzigen acumen prinzipiell immer auch ein Moment von Erkenntnis aufscheint.« Lessing überführe nun dieses topische Argument in eine ästhetische Formdynamik, indem er es »an die wirkungsästhetisch neu begriffene dramatische Struktur des Epigramms« kopple.26 Und in der Tat lassen die Ausführungen der Zerstreuten Anmerkungen wenig Zweifel daran, dass in dieser Überblendung der argumentative Kern von Lessings Bestimmungsversuch des Epigramms liegt. Zu dem, »[w]as die lateinischen Kunstrichter ›acumina‹, und die französischen ›pointes‹ nennen« (ZAE, 213), führt Lessing im letzten Abschnitt des ersten, theoretischen Teils der Abhandlung aus: Wenn indes unter diesen Worten nichts anders verstanden werden soll, als derjenige Gedanke, um dessen willen die Erwartung erregt wird, der also natürlicher Weise nach der Erwartung, am Ende des Ganzen, stehen muß, und sich von allen übrigen Gedanken, als die nur seinetwegen da sind, nicht anders als auszeichnen kann: so ist es wohl klar, daß das Sinngedicht ohne dergleichen ›acumen‹ oder ›pointe‹ schlechterdings nicht sein kann. Es bleibt vielmehr, dieses ›acumen‹ das wahre allgemeine Kennzeichen desselben, und man hat Recht, allen kleinen Gedichten, denen es mangelt, den Namen des Sinngedichts zu versagen; wenn sie auch sonst noch so viel Schönheit haben, die man ihnen auf keine Weise darum zugleich streitig macht. (Ebd.)

Frieder von Ammon hat diesem strukturbezogenen Argument eine sehr weitgehende, rezeptionsästhetische, ja literatursoziologische Pointe gegeben, die sich keineswegs mehr auf Lessings poetologische Diskussion des Epigramms beschränkt, sondern diese Form gleichsam als Modellfall eines auf klärerischen Leseerziehungsprogramms erscheinen lässt. Anhand der Rezeption der von den epigrammtheoretischen Kontrahenten Lessing und Johann Gottfried Herder gleichermaßen geVergnügen, Erkenntnis, Kritik [Anm. 7], 356. 360 [Hervorh. im Original]. 24 Ebd., 363. 25 Ebd., 364 [Hervorh. im Original]. 26 Ebd., 365. 22 Barner: 23 Ebd.,



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schätzten Sinngedichte Friedrich von Logaus werde einsichtig, dass und wie am Epigramm »ein dialektisch-kritisches Verhältnis zwischen Autor und Leser« Gestalt gewinnen könne:27 In dem unter anderem auf dem Titelblatt von Herders erstem Kritischen Wäldchen (1769) prominent platzierten Motto28: An den Leser Leser / wie gefall ich dir? – Leser / wie gefällst du mir?

werde diese Neubestimmung modellhaft verdichtet. Es artikuliere exemplarisch »eine tieferliegende strukturelle Analogie zwischen [Logaus: S. K.] Epigrammatik und dem auf klärerischen Diskurs«, indem es die epigrammatische Praktik einer lockenden, zielenden, treffenden persuasio bereits in jene »offene Sinnstruktur« eines dialogischen Verhältnisses überführe, dank dem die Aufmerksamkeit des Lesers durch Adressierung angezogen werde und diesem nicht nur die Ausdeutung, sondern auch die aktive, selbständige Weiterführung des zugespitzten Gedankens angetragen werde.29 Mit dieser »lektorzentrisch[en]« Ausformung ihrer sinnlichen Formpraktik fänden die Epigramme eine neue Bestimmung als »Medien der Mäeutik«;30 an diesem lektürepädagogischem Horizont zeichne sich dann, explizit etwa in Friedrich Gottlieb Klopstocks Gelehrtenrepublik (1774), die »Dependenz des freien Autors von der Instanz des freien Lesers sowie das wechselseitige Aufeinander-Angewiesen-Sein beider Seiten« ab31 – und mithin eine zentrale Voraussetzung in der Konfiguration des neuen Funktionssystems Literatur ›um 1800‹. Damit wären, könnte man wohl sagen, der philologisch-minimalistische und der systemisch-maximalistische Pol von Lessings Reformulierung der Epigrammpoetik ausgemacht: eine spezifische Form ästhetischer Erkenntnis einerseits, die Erweiterung des Bezugshorizonts von Produktions- auf Produktions- und Rezeptionsorientierung andererseits. Am Epigramm wiederholte sich somit einerseits die epistemologisch-anthropologische Auf- und Umwertung des rhetorischen Systems, wie es maßgeblich etwa bei Baumgarten zur Grundlegung der Ästhetik beigetragen hat,32 in ihm käme andererseits und formgemäß pointiert der für alle 27 Frieder von Ammon: »Leser / wie gefall ich dir?« – Zu einer Strukturanalogie zwischen der Epigrammatik Friedrich von Logaus und dem aufklärerischen Diskurs, in: Chloe 39 (2006), 379–394, hier 380. 28 Friedrich von Logau: Sinngedichte – Zwölf Bücher, hg. von Karl Wilhelm Ramler und Gotthold Ephraim Lessing, Leipzig 1759, 312 [X/120]. 29 von Ammon: »Leser / wie gefall ich dir?« [Anm. 27], 382. 30 Ebd., 383 f. 31 Ebd., 391. Dort findet sich auch der Hinweis auf die erste der in der Einrichtung der Republik erteilten »Belonungen«: die »Freylassung«, bei der der betroffene »Scribent« vom Aldermann Logaus Epigramm als »Pfeil« eingehändigt wird – um anzuzeigen, dass er von der »Fessel der Nachahmung« gelöst sei (Friedrich Gottlieb Klopstock: Die deutsche Gelehrtenrepublik, in: ders.: Werke und Briefe – Historisch-kritische Ausgabe VII/1, hg. von Rose-Maria Hurlebusch, Berlin/ New York 1975, 13 f.). 32 Vgl. die konzise Bündelung der Argumente bei Frauke Berndt: Poema/Gedicht – Die episte­

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poetischen Texte seit der Mitte des Jahrhunderts geltende Doppelcharakter zum Ausdruck, »sowohl Produkt des Schreibers als auch zugleich Objekt des Lesers« zu sein.33 Beide Perspektiven aber verklammert die hauptsächlich wirkungsästhetische Neuausrichtung und Reformulierung einer vormals als persuasiv-argut verstandenen Textstrategie. Von der bemerkenswerten Resilienz der rhetorischen Form, auf die Epigrammhistoriker immer wieder hingewiesen haben, scheint so tatsächlich kaum etwas übrigzubleiben; reibungslos scheint sich das Epigramm seiner poetischen Neubestimmung und systemischen Einbindung zu fügen. Ich will angesichts dieser Komplikation meine ja eher an der Widerspenstigkeit des Epigramms interessierte Relektüre des ersten Teils von Lessings Zerstreuten Anmerkungen mit einer Beobachtung zur maximalistischen der eben genannten Thesen beginnen. Lessing beschließt ihn mit einer Anmerkung zu »zwei Gattungen von Sinngedichten« (ZAE, 214), die das Programm auf klärungspädagogischer Denkaktivierung qua Lektüre auf die Spitze zu treiben scheinen: »Unter der ersten Gattung verstehe ich die, welche uns mit ihrer Erwartung hintergehen: und unter der andern die, deren Aufschluß in einer Zweideutigkeit bestehet« (ebd. [Hervorh. im Original]). Die beiden Varianten setzen also an den formdynamischen Systemstellen des Epigramms an. Entweder will dieses »durch eine Art von Betrug« den Leser dazu verführen, »etwas ganz anders voraus zu sehen, als [es] ihm endlich gibt« (ebd.). Lessings Beispiel dafür ist Martials Epigramm auf den Santra, den wir über zweiundzwanzig Verse auf dem Gastmahl wahllos Delikatessen und vor allem ihre Reste zusammenklauben sehen und der sich damit im vorletzten Vers in seiner Kammer einschließt – um all dies am nächsten Tag zu verkaufen (vgl. ZAE, 215).34 Bei dieser performativen Zuspitzung epigrammatischer Formdynamik fallen Zielen und Treffen in eins und entlarven dabei das zuvor scheinbar avisierte Ziel (in diesem Fall der gefräßige Santra) als Täuschungsmanöver oder doch zumindest Ablenkung (denn San[c]tra wird im ersten Vers gleichermaßen als erbärmlich bezeichnet 35: »Nihil est miserius neque gulosius Sanctra«). Wir glauben einen unersättlichen Schlemmer vor Augen gestellt zu bekommen, der noch die Austernbärte und Apfelkerne zusammenrafft und sich mit den Hunden um die Reste zu balgen scheint, aber mit dem letzten Wort des Epigramms präsentiert dieses uns sein Ziel als »arme[n] Teufel« (ebd.), der seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf solch zweideutiger Leckerbissen bestreiten muss. Oder das Epigramm figuriert seinen Aufschluss als Ambiguität, zum Zweisinngedicht gewissermaßen, und gestaltet diesen damit zur selbstähnlichen Wiederholung des übergeordneten formdynamischen Spannungsverhältnisses: Dass es doppelt trifft, erneuert die erwartungsstiftende Lockung des Epigramms im Moment des Aufschlusses. Die Zerstreuten Anmerkungen versagen uns zu diesem Fall mische Konfiguration der Literatur um 1750, Berlin/Boston 2011, 126 f. 33 Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, München 1989, 65 f. 34 M. Valerius Martialis: Epigramme – Lateinisch-deutsch, hg. und übers. von Paul Barié und Winfried Schindler, Berlin 32013, VII.20, 464–467. 35 Ebd., VII.20, 1.



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Beispiele, versäumen es allerdings nicht, mit dem ersten Ambiguitätstheoretiker Cicero auf das generelle Aktivierungspotential solcher Zweisinnigkeit hinzuweisen:36 [D]ie Zweideutigkeit ist nicht bloß gut zum Lachen, zum bloßen ›risu diducere rictum‹: sie kann sehr oft die Seele des feinsten Scherzes sein, und dem Ernste selbst Anmut erteilen. ›Ex ambiguo dicta‹, sagt ebenfalls Cicero, ›vel argutissima putantur, sed non semper in jocom saepe etiam in gravitate versantur‹. Denn wenn die Zweideutigkeit etwas mehr als ein kahles Wortspiel ist, so ist von dem doppelten Sinne, den sie hat, der eine wenigstens wahr, und der andere, wenn er falsch ist, diente bloß zum Übergange auf jenen. Und was dienet uns in der Folge unserer Ideen nicht alles, um von einer auf die andere überzugehen! (ZAE, 216)

Als wirkungsbezogenes Argument im strengen Sinne einer Ansteuerung ästhetischer Wahrnehmungsvermögen scheint dies kaum gedacht. Im Gegenteil steuert das Ende dieses systematischen ersten Teils von Lessings Zerstreuten Anmerkungen auf eine Rehabilitierung des ›Witzes‹ zu, der weniger vermögenspsychologisch gedacht als struktural bestimmt wird, weniger anthropologisch grundiert als in die persuasive Formdynamik des Epigramms selbst eingelassen ist. Lessings Epigrammverständnis beruht (weiterhin? wieder?) auf einem ›aktivistischen‹ rhetorischen Sprachverständnis, für das aus Struktur und Gebrauch der Sprache erst die Ordnungsgefüge emergieren, die das Schöne vom Hässlichen, das Wahre vom Falschen und das Gute vom Schlechten unterscheidbar machen – wenn überhaupt. Wenn Epigramme ›wirken‹, dann weil sie als gleichsam psychoaktive Substanz epistemische und ästhetische Effekte erzeugen. Das tun sie, die beiden genannten Epigramm-›Gattungen‹ machen es deutlich, auf gelegentlich durchaus zweideutige Weise; so aber jedenfalls, dass die formdynamische Strukturierungsleistung allemal auf Seiten des Schrift-Dings bleibt. Lessing findet für die eben explizierten reflexiven Variationen des Epigramms die schöne Allegorie der sogenannten »paduanische[n] Münzen«, frühneuzeitlicher Nach- und Neuschöpfungen römischer Münzen: diese Sinngedichte entsprächen »dergleichen weder ganz falschen, noch ganz echten Münzen, die, wenn sie schon nicht im Handel und Wandel gelten können, doch immer schöne Spielmarken abgeben« (ZAE, 214 [Hervorh. im Original]). Diese Verlagerung zum, oder vielleicht besser: Insistenz des Schrift-Ding(s) in Lessings Epigrammtheorie wird noch deutlicher, wenn man sich der ersten oben referierten These zuwendet und damit konkret die Formbestimmung fokussiert, mit der Lessing seine Anmerkungen beginnen lässt. Sie beruht auf zwei ineinander verschränkten konzeptuellen Strängen. Einerseits wiederholt Lessing die philologische Ursprungslegende des Epigramms als Inschrift, andererseits entwirft er die Dynamik einer gleichermaßen strukturalen wie performativen Form des Epigramms. Kaum eine Epigramm-Poetik versäumt, ihre Ausführungen bei der materialmonumentalen Dinggeschichte der Inschrift zu beginnen. Als Auf- oder Inschrift ist 36 Die Bezugsstelle: Cicero: De orat. II.61.250. Für das erste Zitat aus Horaz siehe den Stellenkommentar zu 216,20 (vgl. ZAE, 789).

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das Epigramm Teil einer Tradition dinglicher Literatur, deren Materialbedingungen Wahrnehmung, Entzifferung und Verständnis solcher Schrift-Stücke konstituieren. Die Memorialfunktion, hält etwa Zedlers Universal-Lexicon fest, stehe bei diesen Inskriptionen, »die auf Denckmale, Denckmüntzen, Kirchen und andere gemeine, oder ansehnliche Gebäude, u[nd] d[ergleichen] zu gewissen Andencken gesetzt« werden,37 im Vordergrund. Aus diesen Materialbedingungen gewonnen und entrissen zugleich hat die Poetik des Epigramms Merkmale und stilistische Eigenarten der Gattung, die nun ihrerseits ein Gedächtnis der Materialbezogenheit semantisch und/oder formal bewahren: ersteres im Lapidarstil, scriptura lapidaria, letzteres in den poeti­schen Refigurationen von Kürze (brevitas) und Zuspitzung (argutia). Die gattungsbestimmenden Diskussionen des 18. Jahrhunderts liegen dabei vor der wissenstechnischen Ausdifferenzierung von (ästhetisch-poetischer) Epigrammatik und (antiqua­r isch-philologischer) Epigraphik. Dementsprechend bleibt der Widerstreit zwischen den beiden benannten Sachverhalten gerade für sie aktuell. Die »eigent­ lich[e] Aufschrift« (ZAE, 185) bildet den Ausgangspunkt ihrer Gattungsbestimmungen. So auch in Lessings Anmerkungen: »Aufschrift und Inschrift müssen sich begnügen, das zu bedeuten, was das Epigramm in seinem Ursprunge war, das, woraus die so genannte Dichtungsart nach und nach entstanden ist« (181), heißt es ganz zu Beginn der Abhandlung bezogen auf die Wort- und Begriffsgeschichte der Form. Nur dass dabei aus einer antiquarischen Traditionsgeschichte ein funktionales Argument wird: Die Definition nämlich, die Lessing liefert, nutzt deren Charakteristika in einer ganz spezifischen Weise. Es sei »das Sinngedicht […] ein Gedicht, in welchem, nach Art der eigentlichen Aufschrift, unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf irgend einen einzeln Gegenstand erregt, und mehr oder weniger hingehalten werden, um sie mit eins zu befriedigen« (185). Die antiquarische Sachkunde scheint überdies für die Argumentation der Zerstreuten Anmerkungen den Anlass zu einer kleinen und wiederum funktionsbezogenen Ursprungsfabel zu bieten: Wenn uns unvermutet ein beträchtliches Denkmal aufstößt, so vermenget sich mit der angenehmen Überraschung, in welche wir durch die Größe und Schönheit des Denkmals geraten, sogleich eine Art von Verlegenheit über die noch unbewußte Bestimmung desselben, welche so lange anhält, bis wir uns dem Denkmale genugsam genähert haben, und durch seine Aufschrift aus unserer Ungewißheit gesetzt worden; worauf das Vergnügen der befriedigten Wißbegierde sich mit dem schmeichelhaften Eindrucke des schönen sinnlichen Gegenstandes verbindet, und beide zusammen in ein drittes angenehmes Gefühl zusammenschmelzen. – Diese Reihe von Empfindungen, sage ich, ist das Sinngedichte bestimmt nachzuahmen; und nur dieser Nachahmung wegen hat es, in der Sprache seiner Erfinder, den Namen seines Urbildes, des eigentlichen Epigramms behalten. (ZAE, 187 f.) 37 Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden XIV, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle/ Leipzig 1739, 740.



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Von der Rede über die ›Empfindungen‹ sollte man sich an dieser Stelle nicht täuschen lassen: Lessings Fokus liegt auch hier auf der poiesis des Epigramms, nicht auf der aisthesis ihrer Produkte. Unmittelbar an diese Fabel, die das Epigramm in ein mimetisches Verhältnis zur Wahrnehmungs- und Erkenntnissituation der monumentalen Inschrift bringt, schließt Lessing dessen strukturale poietische Anverwandlung in die Formdynamik von ›Erwartung‹ und ›Aufschluss‹. Nicht nur grammatisch ist in diesen beiden Sätzen das Epigramm Subjekt: Wie aber kann es sie [›diese Reihe von Empfindungen‹: S. K.] anders nachahmen, als wenn es nicht allein eben dieselben Empfindungen, sondern auch eben dieselben Empfindungen nach eben derselben Ordnung in seinen Teilen erwecket? Es muß über irgend einen einzeln ungewöhnlichen Gegenstand, den es zu einer so viel als möglich sinnlichen Klarheit zu erheben sucht, in Erwartung setzen, und durch einen unvorhergesehenen Aufschluß diese Erwartung mit eins befriedigen. (ZAE, 188)

Die Formdynamik des Epigramms erhält ihre Konturen somit als Nachahmung einer monumentalen Praktik sinnlicher Form, deren eigene Praktik sinnlicher Form das In-eins der Strukturkomponenten ›Monument‹ und ›Aufschrift‹ im SchriftDing des Epigramms stiftet. Bernhard Jahn, auf dessen Kommentar zu diesem Argumentationsgang an dieser Stelle verwiesen sei,38 hat eine verblüffende Konsequenz unterstrichen, die aus dieser epigrammatischen Zeichen- und Medienpraktik hervorgeht. Genau genommen resultiere aus dieser formdynamischen These, dass »die sich im zeitlichen Nacheinander vollziehende« sprachliche Darstellung des Epigramms zugleich jene sinnliche Totalität erzeugen solle – mit eins –, die in Lessings Semiotik sonst doch den Darstellungen der bildenden Künste vorbehalten bleibt.39 Explizit für die ›Erwartung‹, den ersten Teil also des Epigramms gilt dies Lessing zufolge: Er solle »dem Denkmale entsprechen« und diesem »[v]or allen Dingen an Einheit gleich sein; wir müssen ihn mit einem Blicke übersehen können« (ZAE, 199). Aber auch den ›Aufschluss‹ gelte es, entsprechend den passageren Rezeptionsbedingungen der Monumentaufschrift, dem »flüchtigen Blick« verfügbar zu halten (206). An dieser Stelle erst tritt die aisthesis des Epigramms in ihre Rechte – und sie tut es zu den Bedingungen einer Paradoxie.

IV. Polemischer Kurzschluss: epigrammatische Übersprunghandlung (Goethe)

Strikt an der aisthesis des Epigramms wird Herders Revision und Umbesetzung des Formdiskurses ansetzen, die ich demgemäß in meinen an der Formpraktik interessierten Ausführungen übergehen kann; bereits Rudolf Haym hat Herders Fokus treffend auf den Begriff des »Empfindungsepigramm[s]« gebracht.40 Die Lessing’sche Jahn: Simulierte Sinnlichkeit [Anm. 15], 105–108. 110. 40 Rudolf Haym: Herder nach seinem Leben und seinen Werken dargestellt II, Berlin 1885, 306. 38 Vgl.

39 Ebd.,

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Formdynamik erweitert und entschärft Herder zur »poetische[n] Exposition eines gegenwärtigen oder als gegenwärtig gedachten Gegenstandes zu irgend einem genommenen Ziel der Lehre oder der Empfindung.«41 Ist Lessings Theorie der Form noch strikt an der praktischen Trias ›Locken, Zielen, Treffen‹ ausgerichtet, neigt Herder dazu, dem Epigramm die Spitzen zu nehmen und sein Augenmerk formseitig ganz aufs ›Locken‹ zu verlegen. In die Metapher der »kleine[n] knospende[n] Rose, / Die aus Dornengebüsch Nektar-Erfrischungen haucht«,42 hat Herder bekanntlich sein Epigramm-Verständnis in den Horen abschließend gefasst. Die an Martial erarbeiteten Konstituenten »Witz« und »Spott« will er als »weder das Einzige noch das Erste« gelten lassen, was der Form ihre Konturen gegeben hat.43 Angesichts der »edleren Arten des Epigramms«,44 die Herder in der Anthologia graeca zu finden glaubt und an die er programmatisch anschließt, soll seine poetische Praktik des Epigramms in den Zuständigkeitsbereich der Moral überführt werden; und selbst das Bezugskorpus (samt den epigrammatischen Treffweisen Scaligers) gilt es in diesem Sinne zu evaluieren45: Zudem gibt es Gattungen von Spott, die sich ein billiger Mann nie erlauben sollte z. B. über körperliche Gebrechen, über unverschuldete Unglücksf älle u. dgl. Die Anthologie geht auch an solchen nicht leer aus; sie sind aber auch die, die ich ihr am wenigsten beneide. Sie tadeln und brandmarken meistens durch ein plumpes Werkzeug, die Hyperbel; oder sie bereiten eine Speise, die nicht mit Salz sondern mit Galle gewürzt, keine gesunde Zunge reizet. Ein gleiches ists mit den Obscenitäten, in welche sich die griechische Anmut so oft verlor […]; indessen auch sie wollen wir den Griechen lassen […].

Wer sich an solche Ratschläge bekanntlich nicht gehalten hat, ist Johann Wolfgang Goethe.46 »Goethe […] hat […] programmatisch hinter Herder zurückgegriffen auf den Typus Martial«,47 pointiert Wilfried Barner dessen epigrammatische Formpraktik, und auch wenn dieser Rückgriff in der Goethe-Philologie immer wieder begründungsbedürftig gewesen zu sein scheint, dürften letzte Zweifel daran inzwischen ausgeräumt sein.48 Selbst aus Herders Katalog des Lässlichen hat sich Goethe 41 Johann Gottfried Herder: Anmerkungen über das griechische Epigramm, in: Werke in zehn Bänden IV, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, 517–548, hier 520. 42 Johann Gottfried Herder Herder: Zwo Gattungen des Epigramms, in: Werke in zehn Bänden III, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1990, 770. 43 Herder: Anmerkungen über das griechische Epigramm [Anm. 41], 544. 44 Ebd., 546. 45 Ebd. 46 Ich greife im Folgenden einige Überlegungen wieder auf, die ich an anderer Stelle ausführlicher entwickelt habe (vgl. Stephan Kammer: Mercurial-Pille in Disticha – Anmerkungen zu einem von Goethes nachgelassenen Epigrammen, in: Der Witz der Philologie – Rhetorik – Poetik – Edition, hg. von Felix Christen et al., Basel/Frankfurt a. M. 2014, 292–301). 47 Barner: Vergnügen, Erkenntnis, Kritik [Anm. 7], 369. 48 Vgl. Walter Burnikel: Goethes ›Venezianische Epigramme‹ und Martial, in: Goethe-Jahrbuch 120



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jedenfalls immer wieder bedient, und eines der eklatantesten Zeugnisse dieser zweifelhaften epigrammatischen Treffsicherheit dürfte ein 1790 in Venedig notiertes, zu Lebzeiten unveröffentlichtes und auch danach lange nur unter mehr als Herder’schen Bereinigungsprinzipien überliefertes Epigramm auf den niederländischen Naturhistoriker Adriaan Gilles Camper sein49: Camper der jüngere trug in Rom die Lehre des Vaters Von den Thieren uns vor wie die Natur sie erschuf, Bäuche nahm und gab dann Hälse Pfoten und Schwänze. Alles gebrochenes deutsch so wie geerbter Begriff. Endlich sagt er: »Vierfüßiges Thier wir habens vollendet Und es bleibet uns nur Freunde das Vöglen zurück!« Armer Camper du hast ihn gebüst den Irrthum der Sprache Denn acht Tage darnach lagst du und schlucktest Merkur.

Gleich in mehrfacher Hinsicht vergeht sich Goethes Epigramm gegenüber Herders Dezenzgebot, und selbst um einen im Allgemeinen durchaus beherzigten Grundsatz der schärferen Formtradition Martials, nämlich den weitgehenden Verzicht auf epigrammatische ad hominem-Satire,50 scheint es sich wenig zu scheren. Seine somit selbst für die pointierteren Spielformen des Epigramms mehr als prekäre Pointe münzt einen Verstoß gegen die Sprachrichtigkeit zum obszönen Scherz um. Der zweideutig überspielte ›Aufschluss‹ konkretisiert dann die im zeitgenössischen Klatsch ventilierte »schreckliche Krankheit« Campers zu einer syphilitischen Ansteckung.51 Indem das Epigramm schließlich Generationenfolge und Lehrsystem parallel setzt, gerät der gut zwei Jahre zuvor in Goethes Brief an den Herzog Carl August noch hervorgehobene Anschluss der Lehre »an das höhere und höchste« ins schiefe Licht der Epigonalität.52 All dies setzen die Disticha von Goethes Epigramm in ein poietisches Begründungsverhältnis – und dennoch scheint mir deren Resultat nicht einfach einer von Goethes schlechteren und bösartigeren Scherzen zu sein; (2003), 242–261, dessen autorenpsychologischen Ausdeutungen zu diesem Nachweis man indes nicht folgen muss. 49 Johann Wolfgang Goethe: Venezianische Epigramme – Eigenhändige Niederschriften Transkription und Kommentar, hg. von Jochen Golz und Rosalinde Gothe, Frankfurt a. M./Leipzig 1999, 151 [die Zeilenanordnung des Manuskripts, der die diplomatische Umschrift folgt, ist im Zitat nicht wiedergegeben]. 50 Vgl. Hess: »der direkte Angriff auf Personen gilt in der ganzen Tradition des satirischen Epigramms als ausgesprochen verpönt« (Hess: Epigramm [Anm. 11], 39). 51 [Aloys Hirt]: Auszüge aus Briefen von Rom, in: Der Teutsche Merkur 61 (1788), 266–273, hier 271 f. 52 »Der junge Camper ist hier und trägt uns die Lehre seines Vaters vor, welche sich trefflich an das höhere und höchste anschließt«, schreibt Goethe am 29.12.1787 an den Herzog ( Johann Wolfgang Goethe: Briefe – Historisch-kritische Ausgabe VII/1, hg. von Volker Giel, Berlin 2012, Nr. 131, 226). Bei dieser ›Lehre‹ dürfte es sich um die beiden Vorlesungen Über die bewundernswürdige Ähnlichkeit im Baue des Menschen, der vierfüssigen Thiere, der Vögel und Fische gehandelt haben, die Petrus Camper im Oktober 1778 an der Amsterdamer Zeichenakademie gehalten hat. Sein Sohn wird diese 1791 (in deutscher Übersetzung 1793) nach Campers Tod herausgeben.

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auch auf eine epigrammatische Fingerübung, die ihr Verfasser zu Recht aus dem werkpolitisch Legitimen ausgeschlossen hat und die nur dank philologischer Materialverpflichtung spät aus dem Nachlass geborgen worden ist, sollte man es nicht beschränken. Das Epigramm zielt – wie viele andere von Goethes Epigrammen, aber vor allem auch die ›Römischen Elegien‹53 – auf ein Verhältnis von Sprache und Körper. In den geradezu karnevalesken Sprüngen seiner Beziehungsstiftung, denen zufolge ein ›Irrthum der Sprache‹, der Campers ›gebrochenes deutsch‹ zur metonymischen Ersetzung des Substantivs ›Vögel‹ durch das Verbalnomen ›Vöglen‹ verleitet, den Avisierten ins Krankenbett legt und ihn zur Quecksilberkur zwingt, figuriert das Epigramm eine polemische Übersprunghandlung: In Variation der oben eingeführten Wendung kann man es als ›gedichteten Kurzschluss‹ bezeichnen. Um dies zu erläutern, sind einige Anmerkungen zu der besagten ›Lehre des Vaters‹ nötig, an denen das Epigramm so auffällig vorbeizuzielen scheint. Des älteren Campers Vorlesungen Über die bewundernswürdige Ähnlichkeit im Baue des Menschen, der vierfüssigen Thiere, der Vögel und Fische werden sich nach ihrer Veröffentlichung als eine eigenartige Textassemblage erweisen. Scheinbar ziellos oszillieren deren Bestandteile zwischen ziemlich heterogenen, ja heteronomen Bezugskategorien. Sie plündern einen bis in die Antike zurückgreifenden, gelehrten Katalog künstlerischer und anatomischer Körperdarstellungen. Dazu leitet Camper aus den Grundsätzen der vergleichenden Anatomie und geometrisch kalkulierten Zeichenregeln eine naturgeschichtliche Verkettung der Lebewesen ab. Die Ausführungen in Campers Abhandlung begleitet eine performative zeichnerische Umsetzung, die in ihrer beiläufigen Flüchtigkeit Campers Propositionen in ihr Recht setzen soll. Nicht mimesis, sondern poiesis lautet die zeichnerische und diskursive Devise der Vorlesungen 54: »Niemand, der jemahls mit einiger Aufmerksamkeit über die reitzende Mahlerkunst nachgedacht« habe, könne »in dem Wahne stehen, der Mahler habe weiter nichts nöthig, als bloß genau nach dem Leben zu mahlen und alle einzelnen Gegenstände, welche die milde Natur stets freygebig aus ihrem reichen Schooße uns darbeut, nachahmend darzustellen.« Die Erkenntnisleistung der Zeichnung bestehe vielmehr darin, Campers Argumenten mit »flüchtige Skizzen der Thiere, die ich in Ihrer Gegenwart entwerfe«,55 Anschauung zu geben. Tatsächlich bleibt in einigen der nachgestochenen Skizzen diese performative, ja eigentlich genera-

53 Vgl. etwa Helmut Müller-Sievers: Writing off – Goethe and the Meantime of Erotic Poetry, in: MLN 108 (1993), 427–445; Christian Begemann: Poiesis des Körpers – Künstlerische Produktivität und Konstruktion des Leibes in der erotischen Dichtung des klassischen Goethe, in: German Life and Letters 52 (1999), 211–237. 54 Peter Campers Vorlesungen, gehalten in der Amsterdammer Zeichen-Akademie – Über den Ausdruck der verschiedenen Leidenschaften durch die Gesichtszüge; über die bewundernswürdige Ähnlichkeit im Bau des Menschen, der vierfüssigen Thiere, der Vögel und Fische; und über die Schönheit der Formen, übers. von G. Schaz, hg. von Adriaan Gilles Camper, Berlin 1793, 26 f. 55 Ebd.



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tive Qualität der Skizzen auch nach dem graphischen Medienwechsel in Stich und Druck noch sichtbar.56 Mit einer Praktik sinnlicher Form hat man es also auch in diesem Fall zu tun, und für Goethe, der Ende 1787 in Rom bekanntlich selber mit Eifer zeichnerisch-anatomische Studien treibt, dürfte die sprachlich gebrochen und vom Erben vorgetragene ›Lehre des Vaters‹ alles andere als neu gewesen sein. Seit er in den frühen 1780er Jahren damit begonnen hat, sich mit der vergleichenden Anatomie zu beschäftigen, arbeitet er sich an dem fragilen, aber hartnäckig verteidigten Gebäude von Ähnlichkeit und konstitutioneller Differenz ab, in das Camper und die anderen Autoritäten seines Fachs die Kette der Lebewesen gebracht haben. Am legendären Zwischenkieferknochen hat sich diese Auseinandersetzung fokussiert.57 Bereits im Frühjahr 1784 lässt sich überdies eine Beschäftigung mit der zeichnerischen Formpraxis Campers nachweisen. Goethe erbittet am 23. April 1784 von Johann Heinrich Merck »einen deutlichen Begriff von der Camperischen Zeichenmethode«.58 Johann Christian Wilhelm Waitz wird er dann Ende des Jahres die Zeichnungen zum Manuskript über das os intermaxillare nach deren Grundsätzen anfertigen lassen.59 Der persuasive Erfolg beim methodischen Patron dieses Unternehmens bleibt bekanntlich aus. Der ältere Camper, den Goethe noch in seinen Heften zur Morphologie (1817) einiger­ maßen zweideutig als »Meteor von Geist, Wissenschaft, Talent und Tätigkeit« auszeichnen wird,60 ist von der doxa, dass der Zwischenkieferknochen bzw. sein Fehlen die spezifische anatomische Differenz zwischen dem Menschen und den anderen Lebewesen bilde, nicht abzubringen. Am Alleinstellungsmerkmal der menschlichen Anatomie will er auch angesichts von Goethes Vorhaltungen nicht rütteln. Gerade die Vorlesungen aber, die Campers Sohn Adriaan Gilles in Rom halten wird, scheinen sich über diese doxa wenigstens mit ihrer medialen Performativität hinwegzusetzen. Vom fundamentalen Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen »vierfüßigen Thieren«, wie es nicht nur im Epigramm heißt, ist dort nirgends die Rede. Im Gegenteil führen neben dem leitenden Titelbegriff der Ähnlichkeit »Gleichförmigkeit« und »Übereinstimmung« semantisch Regie in Campers Ausführungen.61 Ihr Korrelat findet das in den zeichnerischen »Verwandlung[en]« von Kühen in Vögel, von Pferden in Menschen, die in den Vorlesungen demon­ striert werden.62 56 Vgl.

ebd. [Anhang, Figur 12 auf Tafel VII]. Einschlägig dazu noch immer Hermann Bräuning-Oktavio: Vom Zwischenkieferknochen zur Idee des Typus – Goethe als Naturforscher in den Jahren 1780–1786, Leipzig 1956. 58 Zit. nach Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke – Briefe, Tagebücher und Gespräche XXIX, hg. von Hartmut Reinhardt, Frankfurt a. M. 1997, Nr. 429, 507. 59 Vgl. ebd., Nr. 470, 561. 60 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke – Briefe, Tagebücher und Gespräche XXIV, hg. von Dorothea Kuhn, Frankfurt a. M. 1987, 403. 61 Über die bewundernswürdige Ähnlichkeit im Bau des Menschen, der vierfüssigen Thiere, der Vögel und Fische [Anm. 54], 21 und 26. 62 Ebd., 50–52 und Tafel VII. 57

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Wenn Goethes Epigramm einige Jahre danach in seiner polemischen Übersprunghandlung auf den Sohn zielt, führt es nun in seiner eigenen persuasiven Form seinerseits anthropologische Alleinstellungsmerkmale ins Feld. Des älteren Campers vormaligen Irrtum in der Sache verwandelt das Epigramm performativ in einen ›Irrthum der Sprache‹ – und sein polemischer Witz macht den jüngeren Camper die Konsequenzen dieses Irrtums tragen. Dieses erste, nicht-anatomische Alleinstellungsmerkmal des Menschen wird in einem weiteren Kurzschluss mit einem zweiten enggeführt – der Syphilis. Merck hat bereits 1785 im Teutschen Merkur einige Auszüge aus einer Rotterdamer Preisschrift veröffentlicht, in der Petrus Camper von der konstitutionell unterschiedlichen Krankheitsanfälligkeit von Mensch und Tier handelt. »Die Thiere«, heißt es dort, »sind noch schrecklichern ansteckenden Krankheiten als die Menschen unterworfen. Hingegen haben sie die Krankheit nicht, welche die Menschen an den Zeugungstheilen so fürchterlich straft, und die Kinder oft, noch ehe sie zur Welt kommen, jämmerlich zu Grunde richtet.«63 Das epigrammatische Quecksilber, das der jüngere Camper schlucken muss, soll das mit der väterlichen Lehre geerbte Übel kurieren. * * *

Das Epigramm lockt, zielt, trifft. Es bewahrt seine aktivistische Autonomie gegenüber allen heteronomen Bemeisterungsansprüchen und entzieht sich der Gattungsarchitektur der neuzeitlichen Literatur. Nicht als Vehikel von Kritik, Spott und Polemik dient es, sondern als agens ihrer sprachlichen Verfertigung. Sein Witz stiftet Lust (zumindest bei denen, die es nicht trifft) und Erkenntnis zugleich – aber nicht mit einer Botschaft, die es transportiert, oder einer Absicht, der es folgt, sondern durch eine Formpraktik, die Schlüsse dichtet, Erwartung setzt und Aufschluss gibt, mutwillige Kurzschlüsse erzeugt. Das Ethos des Epigramms ist dasjenige einer persuasiven Performanz, die sich um Gut und Böse nicht kümmert, solange ihre Anziehungskraft und Treffsicherheit intakt bleiben. – Das ist der Stand der Formpraktik um 1790 und der ihr zugrundeliegenden Dynamik. Der größte und aufsehenerregendste Auftritt steht dem Epigramm zu diesem Zeitpunkt noch bevor. In wenigen Jahren schon werden sich, mit einigem Erfolg, ganze Scharen epigrammatischer Monodisticha zu einem »literarische[n] Staatsstreich« aufmachen,64 der in der Skandalgeschichte der deutschsprachigen Literaturen seinesgleichen nicht hat. Die Xenien werden sich auf einen Spezialfall epigrammatischer Schrift-Dinge beziehen; 63 Johann Heinrich Merck: Auszüge aus einer wenig bekannten Camperischen Schrift – An den Herausgeber des T[eutschen] Merk[urs], in: Der Teutsche Merkur 49 (1785), 24–41 und 193–210, hier 39; vgl. auch 201 f. Es handelt sich um Teile im Original der bereits 1783 publizierten, ein Jahr nach dem Auszug vollständig in deutscher Übersetzung erschienenen Schrift [Petrus Camper]: Beantwortung einer von der Batavischen Gesellschaft zu Rotterdam aufgegebenen Preisfrage – ob es natürliche Ursachen gebe, warum der Mensch mehr als einiges Thier mit Krankheiten und Gebrechen zu ringen hat, Cleve 1786. 64 Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben – Die ›Xenien‹ Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart, Tübingen 2005, 4.



Praktiken des Epigramms277

die polemische Neuausrichtung, wie sie die auf die Person zielende Zuspitzung von Goethes Epigramm auf den jüngeren Camper bereits andeutet, werden sie systematisierend vollenden. An ihrer sperrigen literarischen agency wird dann niemand mehr zweifeln wollen. Sie selbst werden bisweilen unter dem Namen der Xenien als Aussage-personae auftreten, »Pfeffer und Wermuth« werden die alten epigrammatischen Geschmacksrichtungen Scaligers komplettieren bzw. ersetzen,65 ›Anti-Xenien‹ werden sich den Xenien entgegenstellen66 – die Dynamik der Form scheint sich sogar denen aufzuzwingen, die ihr eingestandenermaßen nur wenig abgewinnen können.

65 So in einem dialogischen Xenien-Paar aus dem Musen-Almanach für das Jahr 1797: »Martial. / Xenien nennet ihr euch? Ihr gebt euch für Küchenpräsente? / Ißt man denn, mit Vergunst, spanischen Pfeffer bei euch? // Xenien. / Nicht doch. Aber es schwächten die vielen wäßrigten Speisen / So den Magen, daß jetzt Pfeffer und Wermuth nur hilft« (Musen-Almanach für das Jahr 1797, hg. von Friedrich Schiller, 290). 66 Vgl. von Ammon: Ungastliche Gaben [Anm. 64], 159–173.

Was heißt empfinden? Zur Funktion der Kunst in Du Bos’ und Sulzers Ästhetik Elisabeth Décultot

I. Einleitung

Als zentrales Phänomen des 18. Jahrhunderts kann mit Recht die Etablierung von Kunsttheorie, Kunstkritik und Ästhetik als autonome Wissens- und Diskursbereiche genannt werden. Kennzeichnend für diese Etablierung ist dabei die Entstehung einer neuen Beziehung von Theorie und Praxis. Auf der einen Seite etablieren sich Kunsttheorie, Kunstkritik und Ästhetik als autonome Wissens- und Diskurs­ bereiche durch Abkoppelung von der Kunstpraxis: Zu den Hauptmerkmalen dieser ›neuen‹, sich im 18. Jahrhundert etablierenden Felder gehört, dass sie von Akteuren betrieben werden, die selbst keine Künstler sind, also keinen Bezug zur Kunst durch praktische Ausübung derselben haben, sondern von Liebhabern, Beobachtern oder Kennern von Kunstwerken – etwa nach dem Modell von Denis Diderot in den ­Salons (1759–1781). Gerade dieser Abstand zur Kunstpraxis wird von den Vertretern dieser ›neuen‹ Formen der Auseinandersetzung mit Kunstfragen als grundlegendes Spezifikum ihrer epistemischen und sozialen Positionierung hervorgehoben. Auf der anderen Seite aber wird der Kunsterfahrung im Sinne von Umgang mit Artefakten eine herausragende Bedeutung in der Ausformung der menschlichen Psyche und damit auch eine zentrale praktische Auswirkung auf den Entwicklungsgang des Menschen zugewiesen. Wie gestaltet sich dabei das Verhältnis von Kunstpraxis einerseits und theoretischer, kritischer und philosophischer Reflexion über die Kunst andererseits? Welche praktische Funktion wird hierbei der Kunst in der Bildung des Menschen, und insbesondere in der Bildung seines Empfindungsvermögens zugeschrieben? Um diese Fragen zu beantworten, sollen hier zwei zentrale Gestalten des Kunstdiskurses im 18. Jahrhundert herangezogen werden: Jean-Baptiste Du Bos, der mit den Réflexions critiques sur la poésie et la peinture (1719) ein grundlegendes Werk zur theoretischen Auseinandersetzung mit Kunstfragen im Siècle des Lumières geliefert hat, und ­Johann Georg Sulzer, der – u. a. in kritischer Auseinandersetzung mit Du Bos – eine Theorie der Kunst entwickelt, in der Kunst als zentrales Mittel zur Erziehung des menschlichen Empfindungsvermögens fungiert.

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Elisabeth Décultot

II. Zur Eigengesetzlichkeit der Kunstwelt: Du Bos’ Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey

Der Abbé Du Bos ist weder Künstler noch Kunstsammler: Seine Réflexions Critiques verfasst er vom Standpunkt eines Kunsttheoretikers aus, der entschieden als Kunstrezipient an Kunstfragen herangeht und dabei konsequent von den praktischen Aspekten der Kunstproduktion absieht1 – im Unterschied etwa zu den Künstlern, die sich im Rahmen der conférences an der Pariser Académie de peinture et de sculpture vor dem Hintergrund ihrer Praxis als Kunstproduzenten mit Fragen der Kunst auseinandersetzen.2 Diesem Ansatz gemäß weist Du Bos folgerichtig als einer der allerersten Kunstschriftsteller dem »Publicum«, das er nachdrücklich als eine von den »Menschen vom Fach« (KB II, 349) (frz. gens du métier) getrennte Wahrnehmungs- und Bewertungsinstanz definiert,3 eine zentrale Rolle in Kunstfragen zu: Dass das Publikum weder praktische Erfahrung mit noch praktische Kenntnis von der Herstellung von Kunstwerken hat, garantiert gerade seine höhere Kompetenz bei der Einschätzung derselben; die ›gens du métier‹ tendieren nämlich dazu, so Du Bos, in ihren Stellungnahmen zu Artefakten den Fertigkeiten des Handwerks, und allzu oft nur des eigenen, zu viel Bedeutung beizumessen und dabei die »Empfin1 Jean-Baptiste Du Bos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, publ. par Dominique Désirat (nach der bei Pissot erschienenen Ausgabe von 1755, die die dritte und letzte, von Du Bos selbst revidierte Ausgabe von 1740 wiederaufnimmt), Paris 1993 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle RC mit Seitenzahl in Klammern]. Zur deutschen Übersetzung: Jean-Baptiste Du Bos: Kritische Betrachtungen über die Poesie und Mahlerey, übers. von Gottfried Benedikt Funk, Kopenhagen 1760–1761 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle KB mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern]. Die erste, zweibändige Ausgabe erscheint bei dem Buchhändler Jean Mariette in Paris im Jahre 1719. Darauf folgt im Jahre 1733 eine zweite, um einen dritten Band ergänzte Ausgabe. Die dritte Ausgabe, die auch die Ausgabe letzter Hand ist, erscheint 1740. Nach Du Bos’ Tod werden 1755 und 1770 noch zwei weitere Ausgaben publiziert, die auf der Ausgabe letzter Hand fußen. Zu Du Bos’ Kunsttheorie vgl. u. a.: Vers l’esthétique – Penser avec les ›Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture‹ (1719) de Jean-Baptiste Du Bos, publ. par Daniel Dauvois und Daniel Dumouchel, Paris 2015; Daniel Dumouchel: Les voies du sentiment – Du Bos et la naissance de l’esthéthique, in: Kunst und Empfindung – Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, hg. von Elisabeth Décultot und Gerhard Lauer, Heidelberg 2012, 15–35; Baldine Saint-Girons: Du Bos et le sensualisme anglais, in: dies.: Esthétiques du XVIIIe siècle – Le modèle français, Paris 1990, 17–42; Rémy G. Saisselin: Ut pictura poesis – Du Bos to Diderot, in: The Journal of Aesthetics & Art Criticism 20/2 (1961), 144–156; Rémy G. Saisselin: The Transformation of Art into Culture – From Pascal to Diderot, in: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century LXX (1970), 193–218; sowie Alfred Lombard: L’abbé Du Bos – Un initiateur de la pensée moderne (1670–1742), Paris 1913 [Reprint: Genf 1969]. 2 Vgl. dazu Tom Holert: Künstlerwissen – Studien zur Semantik künstlerischer Kompetenz im Frankreich des 18. und 19. Jahrhunderts, München 1997; Nathalie Heinich: Du peintre à l’artiste – Artisans et académiciens à l’âge classique, Paris 1993. 3 Den französischen Begriff des »public« übersetzt Gottfried Benedikt Funk durch »Publicum«; den Begriff »gens du métier«, den wir hier durch »Menschen vom Fach« wiedergeben, übersetzt er durch »Kunstverwandte des Verfassers«; KB II, 349; frz. RC, 292.



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dung« (KB II, 345 f.) (frz. sentiment), also das bloße Gefühl von Wohlgefallen und Interesse hintanzusetzen, das sich aus dem reinem Rezeptionsprozess ohne Rücksicht auf den Herstellungsprozess ergibt. A. Du Bos’ Anthropologie: die Emotionen und ihre Wirkungskraft

Diesem Ansatz zufolge baut Du Bos seine Kunsttheorie auf der Grundlage einer Anthropologie auf, die die Ökonomie der menschlichen Empfindung in ihren Mittelpunkt stellt. Grundprinzip dieser Ökonomie ist die ständige Tätigkeit bzw. Beschäftigung der Seele. Wie der Körper habe – so Du Bos – auch die Seele grundlegende Bedürfnisse, zu denen das Streben nach Tätigkeit gehöre.4 Aus der Un­ tätigkeit des Geistes entstehe die Langeweile, ein Geisteszustand, der die schlimmsten Schmerzen hervorrufe. Dabei gebe es zwei Wege, um die Seele zu beschäftigen: entweder überlasse sie sich »den Eindrückungen, welche die äusserlichen Gegenstände in sie machen«, was man »empfinden« nenne; oder sie unterhalte sich selbst damit, »dass sie über allerhand Materien« nachsinnt, was man »über eine Sache nachdenken und Betrachtungen anstellen« nenne (KB I, 6 f.).5 Hiermit zieht Du Bos eine klare Trennungslinie zwischen dem Empfindungsvermögen und dem auf dem Verstand beruhenden intellektuellen Erkenntnisvermögen. Sich konsequent am Prinzip der best- und höchstmöglichen Aktivität der Seele orientierend gibt er dabei eindeutig dem Empfinden den Vorzug und begründet diese Priorisierung mit zwei Argumenten: Empfindungen sind einerseits allen Menschen zuteil und prägen sich andererseits der Seele schneller und tiefer ein als jedwedes Gebilde des Verstands. Mit anderen Worten sind sie universeller und eindrücklicher. In Du Bos’ Anthropologie kommt dabei den Leidenschaften als besonders starken Empfindungen eine Schlüsselbedeutung zu, da diese eine Energie besitzen, die sich in herausragender Weise dafür eignet, die Seele der Untätigkeit zu entreißen. Das gilt vornehmlich für die schmerzlichen oder betrüblichen unter ihnen, die eine besonders tiefe Wirkung hervorrufen. Neben dem Gesetz des Tätigkeitsbedürfnisses gehört zu Du Bos’ Anthropologie das Prinzip der Teilung der Seelenvermögen: Unsere lebhaftesten Emotionen entstehen aus dem »Herzen« (frz. cœur) und entgehen der eingehenden Durchsicht der Vernunft (KB I, 38).6 Anders gesagt, sind das emotionale Vermögen des Emp4 »Unsre Seele hat ihre Bedürfnisse so gut, als unser Körper, und die Nothwendigkeit, die Seele zu beschäfftigen, ist eine der größten bey den Menschen« (KB I, 6). Frz.: »L’âme a ses besoins comme le corps et l’un des plus grands besoins de l’homme est celui d’avoir l’esprit occupé« (RC, 2). 5 Frz.: »[L’âme: E. D.] ne saurait être occupée qu’en deux manières, ou l’âme se livre aux impressions que les objets extérieurs font sur elle et c’est ce qu’on appelle sentir; ou bien elle s’entretient elle-même par des spéculations sur des matières, soit utiles, soit curieuses et c’est ce qu’on appelle réfléchir et méditer« (RC, 3). 6 »In dieser Absicht hielt es die Natur für das sicherste Mittel, unsre Seele so einzurichten,

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findens und das rationale des Denkens in Du Bos Auffassung der Seele getrennte Bereiche, die nicht ineinander greifen. Gerade diese prä- oder a-reflexive Dimension der Empfindungen sichert ihre Wirkung und erzeugt jene besondere Form der aufmerksamen Zuwendung des Geistes, die Du Bos das ›Interesse‹ (frz. intérêt) nennt. Zwischen Emotion und Interesse sieht er dabei eine feste Korrelation: Je lebhafter die empfundene Emotion, desto stärker das Interesse. Aus dieser Vorstellung der Seelenkräfte leitet Du Bos einen Begriff des Vergnügens bzw. der angenehmen Empfindungen (frz. plaisir) ab, dessen Intensitätsgrad – unabhängig von jeder ethischen Dimension – an die bloße Intensität der Seelen­ tätigkeit gebunden wird7: Allein unsere Seele überläßt sich aus einem natürlichen Triebe allem, was sie beschäfftigt, wenn sie nur der Mühe überhoben ist, sich dabey anzustrengen. Und hierinn liegt die Ursache, warum die meisten Menschen denjenigen Neigungen und Vergnügen ergeben sind, die ihnen die häufigsten Gelegenheiten an die Hand geben, sich auf eine angenehme Weise mit Empfindungen zu beschäftigen, welche lebhaft und befriedigend sind. Trahit sua quemque voluptas [Einen jeden reißt seine Neigung mit sich fort: E. D.]. Die Menschen haben hierinn einerley Endzweck; weil aber die natürliche Beschaffenheit ihrer sinnlichen Werkzeuge verschieden ist, so suchen auch nicht alle einerley Vergnügen. (KB I, 24 f.)

Vergnügen wird also der Mensch empfinden, sobald seine Seele in rege Beschäftigung gerät – ganz gleich, aus welcher Quelle diese Beschäftigung auch herrühren mag. Eine solche, sich vordergründig an der Beschäftigungsintensität der Seele orientierende Auffassung des Vergnügens besaß durchaus Sprengkraft. Zwar war sich Du Bos völlig bewusst, dass eine Suche nach dem möglichst intensiven Vergnügen, die durch die Vorschriften des ethisch Guten nicht gezügelt bzw. geleitet wäre, den daß jede heftige Bewegung dessen, was sich uns nähert, eine mächtige Gewalt über uns hat, damit diejenigen, welche unsrer Nachsicht oder Hülfe nöthig hätten, uns leicht wankend machen könnten. Daher rührt uns schon ihre blosse Gemüthsbewegung sehr plötzlich; und dadurch, daß sie unser Herz erweichen, erhalten sie von uns, was sie durch Vernunftschlüsse und Ueberzeugung niemals erhalten haben würden« (KB I, 38). Frz.: »La nature a donc pris le parti de nous construire de manière que l’agitation de tout ce qui nous approche eût un puissant empire sur nous, afin que ceux qui ont besoin de notre indulgence ou de notre secours pussent nous ébranler avec facilité. Ainsi leur émotion seule nous touche subitement; et ils obtiennent de nous, en nous attendrissant, ce qu’ils n’obtiendraient jamais par la voïe du raisonnement et de la conviction« (RC, 13 f.). 7 Frz.: »Ceux qui prennent trop de vin, ou qui se livrent à d’autres passions, en connaissent souvent les mauvaises suites bien mieux que ceux qui leur font des remontrances; mais le mouvement naturel de notre âme est de se livrer à tout ce qui l’occupe, sans qu’elle ait la peine d’agir avec contention. Voilà pourquoi la plupart des hommes sont assujettis aux goûts et aux inclinations qui sont pour eux des occasions fréquentes d’être occupés agréablement par des sensations vives et satisfaisantes. Chacun est entrainé par son plaisir* [*Trahit sua quemque voluptas]. En cela les hommes ont le même but; mais comme ils ne sont pas organisés de même, ils ne cherchent pas tous les mêmes plaisirs« (RC, 8 f. [Hervorh. im Original]).



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Menschen in Situationen stürzen würde, die für ihn höchst gefährlich und für die Moral äußerst verwerflich sein könnten. Allerdings sah er zumindest definitorisch zunächst einmal von der ethischen Dimension einer solchen Auffassung ab und betrachtete das Vergnügen vorerst unabhängig vom Guten. Damit legte er eine Lehre der angenehmen Empfindungen vor, die reichlich Stoff für Diskussionen bot, insbesondere in Deutschland, etwa im Austausch zwischen Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Nicolai über das Trauerspiel.8 B. Sympathie: zur Übertragbarkeit von Emotionen

Eine zentrale Voraussetzung von Du Bos’ Anthropologie liegt in der grundsätzlichen Übertragbarkeit von Emotionen: Menschen teilen ihre Emotionen anderen Menschen mit.9 Dabei sieht Du Bos in der Sensibilität des Menschen für die Emotionen seiner Mitmenschen – und besonders für deren Leiden – eine prä-reflexive, mechanische Reaktion, bei der der Körper als Maschine agiert. In den Worten des Abbé handelt es sich hiermit um eine »Gemüthsbewegung, welche von Natur ganz maschinenmäßig in uns entsteht, wenn wir andre Menschen in Gefahr und im Unglücke sehen« (KB I, 13). Sie »hat sonst nichts, so uns an sich ziehen könnte, als daß es eine Leidenschaft ist, deren Bewegungen die Seele aus ihrer Unthätigkeit bringen, und sie in Beschäfftigung erhalten« (ebd.).10 Einem vorhin schon formulierten Grundsatz gemäß macht der Abbé die Übertragbarkeit der Emotionen und daher das Interesse und Vergnügen des Publikums von der bloßen Intensität der vermittelten Emotionen abhängig, keineswegs aber von ihrem ethischen Wert. Deshalb eignen sich, so seine Feststellung, gerade schreckliche und grausame Szenen wie Gladiatorenkämpfe, Hinrichtungen, Folterszenen oder Schiff brüche als Schauspiele besonders gut, da Brutalität, Mordgier oder Blutdurst unsere Aufmerksamkeit und Neugierde auf besondere Weise fesseln. 8 Zu den Anhängern von Du Bos gehörte etwa Friedrich Nicolai, der in einem Abschnitt seiner Abhandlung vom Trauerspiele von 1757 dessen Begriff des Vergnügens übernahm (vgl. Friedrich Nicolai: Abhandlung vom Trauerspiele, in: Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste I/I, Leipzig 1757, 17–68, hier 19). Lessing hingegen tat sich mit Du Bos’ Lehre des Vergnügens aufgrund ethischer Vorbehalte schwer (vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Brief an Friedrich Nicolai, 2. April 1757 [auch überliefert als Teil des Briefwechsels über das Trauerspiel zwischen Lessing, Mendelssohn und Nicolai], in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden III, hg. von Conrad Wiedemann, unter Mitwirkung von Wilfried Barner und Jürgen Stenzel, Frankfurt a. M. 2003, 716–717. Zu einer Analyse von Lessings Beziehung zu Du Bos’ kunsttheoretischen Betrachtungen, vgl. Elisabeth Décultot: Lessing und Du Bos – Zur Funktion des Empfindungsvermögens in der Kunst, in: Lessing und die Sinne, hg. von Alexander Košenina und Stefanie Stockhorst, Hannover 2016, 81–98. 9 Vgl. Dumouchel: Les voies du sentiment [Anm. 1], 20 f. 10 Frz.: »Cette émotion naturelle qui s’excite en nous machinalement, quand nous voyons nos semblables dans le danger ou dans le malheur, n’a d’autre attrait que celui d’être une passion dont les mouvements remuent l’âme et la tiennent occupée« (RC, 5).

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»Woher kam das ausserordentliche Vergnügen, welches die Römer an den amphitheatralischen Schauspielen fanden?« (KB I, 15), fragt Du Bos zu Beginn seiner Abhandlung und liefert folgende Antwort11: Man ließ lebendige Menschen von wilden Bestien zerreißen; die Fechter erwürgten sich schaarenweise auf dem Kampfplatze; man künstelte sogar besondre tödliche Werkzeuge aus, deren sich diese Unglücklichen bedienen mußten, einander zu tödten. Es geschah nicht von ohngefähr, daß ein Retiarius und ein Mirmillone jeder auf eine eigne und von dem andern verschiedne Weise bewaffnet war. Man hatte die Waffen zum Angriffe bey der einen Parthey und die Vertheidigungswaffen der andern in ein solches Verhältnis zu bringen gesucht, welches ihre Gefechte langwieriger, und an ausserordentlichen Zufällen fruchtbarer machte. Der Tod sollte sich ihnen mit langsamen und gräßlichen Schritten nähern. […]. Dieses Schauspiel kam nicht etwa in den fünf ersten Jahrhunderten nach Erbauung der Stadt unter dem Schutze der damaligen Rauhigkeit auf. Als die beyden Bruti dem Volke das erste Fechterspiel gaben, welches man bis auf diesen Tag in Rom gesehen hatte, waren die Römer schon gesittet. (KB I, 15 f.)

Zu betonen ist dabei, dass Du Bos den von den brutalsten Schauspielen hervorgerufenen Emotionen eine stärkere Anziehungskraft für die menschliche Seele zuschreibt als dem Mitleiden. Mit Bedauern stellt er fest, dass Erbarmungslosigkeit im Alltag viel öfter anzutreffen sei als Teilnahme und Erbarmen12: Eine Bewegung, die von der Vernunft nicht völlig unterdrückt wird, ist Ursache, daß so viele Menschen Gegenständen nachlaufen, welche vor allen andern fähig sind, ihnen das Herz zu zerreissen. Man geht haufenweise nach einem der abscheulichsten Schauspiele, nach der Hinrichtung eines Menschen auf dem Schaffote, welcher der 11 Frz.: »D’où venait le plaisir extrême que les Romains trouvaient aux spectacles de l’amphithéâtre? On y faisait déchirer des hommes vivants par des bêtes féroces. Les gladiateurs s’entre-égorgeaient par troupes sur l’arène. On raffinait même sur les instruments meurtriers que ces malheureux devaient mettre en œuvre pour s’entre-tuer. Ce n’était point au hasard qu’on avait armé le gladiateur rétiaire d’une façon et le mirmillon d’une autre; on avait cherché entre les armes offensives et les armes défensives de ces quadrilles une proportion qui rendît leurs combats plus longs et plus remplis d’événements; on voulait que la mort y vînt à pas plus lents et plus affreux. […] Ce spectacle ne s’introduisit point à Rome à la faveur de la grossièreté des cinq premiers siècles qui s’écoulèrent immédiatement après sa fondation; quand les deux Brutus donnèrent aux Romains le premier combat de gladiateurs qu’ils eussent vu dans leur ville, les Romains étaient déjà civilisés« (RC, 5 f. [Hervorh. im Original]). 12 Frz.: »Un mouvement que la raison réprime mal fait courir bien des personnes après les objets les plus propres à déchirer le cœur. On va voir en foule un spectacle des plus affreux que les hommes puissent regarder; je veux dire le supplice d’un autre homme qui subit la rigueur des lois sur un échafaud et qu’on conduit à la mort par des tourments effroyables; on devrait prévoir néanmoins, supposé qu’on ne le sût pas déjà par son expérience, que les circonstances du supplice, que les gémissements de son semblable, feront sur lui, malgré lui-même, une impression durable qui le tourmentera longtemps avant que d’être pleinement effacée; mais l’attrait de l’émotion est plus fort pour bien des gens que les réflexions et les conseils de l’expérience. Le monde dans tous les pays va voir en foule les spectacles horribles dont je viens de parler« (RC, 5).



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Strenge der Gesetze aufgeopfert, und durch die entsetzlichsten Martern zum Tode gebracht wird. Man könnte vorher sehen, gesetzt man wüßte es nicht schon aus seiner eigenen Erfahrung, daß die Umstände der Hinrichtung, und das Aechzen eines Geschöpfes, wie wir, wider unsern Willen einen dauerhaften Eindruck auf uns machen würde, der uns noch lange nachher quält, ehe er sich völlig verliert. Aber das Anzügliche, welches eine heftige Gemüthsbewegung über uns hat, ist für die meisten ein weit stärkerer Sporn, als Ueberlegung und Erfahrung. Man läuft in allen Ländern haufenweise, die gräulichen Schauspiele anzusehen. (KB I, 13 f.)

Zwar wird diese Empfindungslehre durch den moralischen Hinweis auf die Sympathie als Vermögen, das Leiden eines Anderen mitzufühlen, gedämpft: Durch Gott oder die ›Natur‹ sei das menschliche Wesen mit der Fähigkeit zur Sympathie bzw. zum sympathetischen Leiden versehen worden, damit es die unmäßige Liebe zu sich selbst überwinde und aus Sensibilität (frz. sensibilité) für den Mitmenschen Gesellschaft stiften könne13: Die Natur wollte ihm dieses geschwinde und plözliche Gefühl als den ersten Antrieb zur Gesellschaftlichkeit beylegen. Die Selbstliebe, die sich in dem Maasse, wornach die Menschen an Jahren zunehmen, fast allezeit in eine unmäßige Eigenliebe verwandelt, macht sie allzu erpicht auf ihren eignen, gegenwärtigen und zukünftigen Vortheil, und allzuhart gegen andre, wenn sie einen Entschluss mit kalten Bluthe fassen. Es war also gut, wenn sie leicht aus diesem Zustande gebracht werden konnten. In dieser Absicht hielt es die Natur für das sicherste Mittel, unsre Seele so einzurichten, daß jede heftige Bewegung dessen, was sich uns nähert, eine mächtige Gewalt über uns hat, damit diejenigen, welche unsrer Nachsicht oder Hülfe nöthig hätten, uns leicht wankend machen könnten. (KB I, 38)

Im Großen und Ganzen spielt aber Mitleid in Du Bos’ Ökonomie der menschlichen Emotionen eine eher nachrangige Rolle. In der Chronologie der seelischen Bewegungen tritt es erst an zweiter Stelle in Aktion: Erst nachdem der Zuschauer an dem Leiden des Anderen Vergnügen empfunden habe, könne er – und dies auch nur möglicherweise – von unangenehmen Empfindungen geplagt werden, die von der mitleidenden Einfühlung in die beobachteten Plagen ausgelöst würden.

13 Frz.: »La nature a voulu mettre en lui cette sensibilité si prompte et si soudaine, comme le premier fondement de la société. L’amour de soi-même qui se change presque toujours en amourpropre immodéré, à mesure que les hommes avancent en âge, les rend trop attachés à leurs intérêts présents et à venir et trop durs envers les autres lorsqu’ils prennent leurs décisions de sens rassis. Il était à propos que les hommes pussent être tirés de cet état facilement. La nature a donc pris le parti de nous construire de manière que l’agitation de tout ce qui nous approche eût un puissant empire sur nous, afin que ceux qui ont besoin de notre indulgence ou de notre secours pussent nous ébranler avec facilité« (RC, 13 f.).

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C. Von der Anthropologie zur Kunsttheorie

Wie wirken sich nun diese anthropologischen Ansichten auf Du Bos’ Vorstellung von Kunst aus? Welche spezifische Funktion erfüllt die Wahrnehmung von Kunstwerken in Du Bos’ Ökonomie der Empfindungen? Unterscheidet sich etwa die Wirkung eines Kunstwerkes auf die menschliche Seele von derjenigen eines ›natürlichen‹, d. h. nicht-künstlerischen Gegenstandes? Und welche Beziehung unterhält dabei die Kunsttheorie zur Praxis? Mit diesen Fragen befasst sich Du Bos schon in der Vorrede zu seinen Réflexions critiques, indem er auf ein klassisch gewordenes Paradoxon hinweist14: Die beyden Künste der Poesie und Mahlerey erhalten niemals mehr Beyfall, als wenn es ihnen gelingt, schmerzhafte Empfindungen in uns zu erregen. […] Ja, jemehr die Handlungen, wovon uns die Dichtkunst und die Mahlerey Abbildungen machen, die Menschlichkeit in uns erschüttert haben würde, wenn wir wirkliche Zuschauer derselben gewesen wären; desto mehr Gewalt haben die Nachahmungen, welche uns diese Künste davon darstellen, uns an sich zu ziehen. (KB I, 1 f.)

Mit anderen Worten: Bei der Betrachtung von Kunst – egal ob Malerei, Poesie oder Theater – empfinden die Menschen mehr Vergnügen daran, zu weinen als zu lachen. Zwischen den Empfindungen, die von einem ›realen‹ Gegenstand hervorgerufen, und denjenigen, die von einem Kunstwerk ausgelöst werden, zieht Du Bos eine grundlegende Trennlinie, die folgendermaßen verläuft: Ein reales ›Schauspiel‹ (frz. spectacle) kann lebhafte Empfindungen in uns hervorrufen. Diese sind allerdings oft gemischt. Zwar bereiten sie uns – aufgrund ihrer Lebhaftigkeit – zunächst Vergnügen. Ist aber deren Ursprung – eine Hinrichtung etwa oder eine Folterszene – mit dem Gebot der Menschlichkeit unvereinbar, so gesellen sich in einem zweiten Schritt unangenehme Empfindungen hinzu. Der große Vorteil der Poesie und Malerei als Kunstprodukte sei es hingegen, diese möglichen späteren unangenehmen Empfindungen auszuschalten oder zumindest erheblich einzuschränken. Dies liegt an der besonderen Fähigkeit, die Du Bos der Kunst zuschreibt, »Mittel [zu] erfinden, die schlimmen Folgen, welche die Leidenschaften mit sich führen, von dem, was sie angenehmes haben, abzusondern« (KB I, 25). Die Kunst sieht er tatsächlich als einzige Gewalt dieser Art in der Lage, »Wesen von einer neuen Natur [zu] erschaffen« (ebd.). Damit sind »Gegenstände« gemeint, »welche künstliche Leidenschaften in uns erregten, die fähig wären, uns in dem Augenblicke, da wir sie fühlen, zu beschäfftigen, und unfähig, uns in der Folge wirkliche Schmerzen und Leiden zu verursachen« (ebd., 25 f.).15 14 Frz.: »L’art de la poésie et l’art de la peinture ne sont jamais plus applaudis que lorsqu’ils ont réussi à nous affliger. […] Enfin, plus les actions que la poésie et la peinture nous dépeignent auraient fait souffrir en nous l’humanité si nous les avions vues véritablement, plus les imitations que ces arts présentent ont de pouvoir sur nous pour nous toucher« (RC, 1). 15 Frz.: »Quand les passions réelles et véritables qui procurent à l’âme ses sensations les plus



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Wichtig ist dabei, dass die bereits erwähnte scharfe Trennung von Kunst und Wirklichkeit in Du Bos’ Ansicht nicht nur die diesen beiden Welten innewohnenden Gegenstände, sondern auch die von diesen Gegenständen hervorgerufenen Empfindungen betrifft. Mit anderen Worten herrscht in der Kunstwahrnehmung ein besonderes Regime des Empfindens, das sich deutlich vom demjenigen unterscheidet, das von ›wirklichen‹ Gegenständen ausgelöst wird. So empfindet der Mensch Emotionen, die beispielsweise durch besonders abstoßende Gegenstände ausgelöst werden, je nach Situation anders: Sind diese Gegenstände der Wirklichkeit entnommen, lösen sie Empfindungen aus, die sehr unangenehm oder sogar unerträglich sind; sind aber diese Gegenstände in Artefakten abgebildet bzw. beschrieben, sind die von diesen Kunstwerken ausgelösten Empfindungen von den lästigen, unangenehmen Komponenten befreit, die der reale Gegenstand in uns hervorruft. So besitzen nicht nur die Gegenstände, die in der Poesie und Malerei zur Darstellung kommen, sondern auch die Emotionen und Leidenschaften, die sie bei dem Rezipienten erwecken, eine Existenz, die vom Regime der Fiktionalität beherrscht ist. Zentral ist bei der Darstellung und Begründung des kunstspezifischen Empfindungsregimes der Begriff der Nachahmung: »Die Abbildung des Gegenstandes muß, so zu reden, eine Abbildung der Leidenschaft hervorbringen, die der nachgeahmte Gegenstand in uns empört haben würde« (KB I, 26 f.).16 Als Nachahmungen verfügen also Kunstwerke über das Vermögen, Leidenschaften bei dem Rezipienten auszulösen, die selbst »künstlich« bzw. ›nachgeahmt‹ sind (25).17 Hiermit sind Empfindungen gemeint, die sich nicht tief und dauerhaft der Seele einprägen, sondern oberflächlich und flüchtig sind18: Weil aber der Eindruck, welche die Nachahmung verursacht, nicht so tief geht, als der Eindruck, den der Gegenstand selbst gemacht haben würde; weil er nicht ernstlich ist, da er sich nicht bis auf die Vernunft erstreckt, die sich in dergleichen sinnlichen Empfindungen nicht hintergehen läßt, wie wir bald weitläufiger darthun wervives ont des retours si fâcheux, parce que les moments heureux dont elles font jouir sont suivis de journées si tristes, l’art ne pourrait-il pas trouver le moyen de séparer les mauvaises suites de la plupart des passions d’avec ce qu’elles ont d’agréable? L’art ne pourrait-il pas créer, pour ainsi dire, des êtres d’une nouvelle nature? Ne pourrait-il pas produire des objets qui excitassent en nous des passions artificielles capables de nous occuper dans le moment que nous les sentons, et incapables de nous causer dans la suite des peines réelles et des afflictions véritables?« (RC, 9). 16 Frz.: »Les peintres et les poètes excitent en nous ces passions artificielles, en nous présentant les imitations des objets capables d’exciter en nous des passions véritables« (RC, 19). 17 Frz. vgl. RC, 9. Vgl. oben Anm. 15. 18 Frz.: »Mais comme l’impression que l’imitation fait n’est pas aussi profonde que l’impression que l’objet même aurait faite; comme l’impression faite par l’imitation n’est pas sérieuse, d’autant qu’elle ne va point jusqu’à l’âme pour laquelle il n’y a pas d’illusion dans ces sensations, ainsi que nous l’expliquerons tantôt plus au long; enfin comme l’impression faite par l’imitation n’affecte que l’âme sensitive, elle s’efface bientôt. Cette impression superficielle faite par une imitation, disparaît sans avoir des suites durables, comme en aurait une impression faite par l’objet même que le peintre ou le poète ont imité« (RC, 9 f.).

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den; weil endlich dieser Eindruck nur den sinnlichen Theil der Seele lebhaft rührt, so verlischt er auch bald wieder. Da er nur auf der Oberfläche der Seele bleibt, so verschwindet er, ohne die dauerhaften Folgen hinter sich zu lassen, welche der Eindruck des von dem Künstler nachgeahmten wirklichen Gegenstandes zurücke gelassen haben würde. (KB I, 27)

Diese »Schattenbilder von Leidenschaften [ fantômes de passions: E. D.], welche die Poesie und Mahlerey durch ihre Nachahmungen in uns hervorbringen können«, befriedigen das grundlegende Bedürfnis des Menschen, »beschäfftigt zu seyn« (KB I, 26).19 Zu den Grundunterschieden, welche die künstlerische von der nicht-künstlerischen bzw. die fiktionale von der nicht-fiktionalen Welt trennen, gehört das Vergnügen. Nur Nachahmungen verfügen über das Vermögen, bei uns »reine[s] Vergnügen[]« hervorzurufen (KB I, 29).20 Dabei handelt es sich um ein pures Wohlgefallen an der hervorgerufenen Emotion, das von der bloß künstlerischen bzw. fiktionalen Beschaffenheit des Kunstgegenstandes ausgelöst wird und von allen weiteren möglicherweise unangenehmen, mit der ›Wirklichkeit‹ verbundenen Emo­ tio­nen geläutert wird.21 Du Bos’ Beschreibung des Vergnügens an poetischen oder malerischen Kunstgegenständen liest sich als ein uneingeschränktes Lob auf die wesenhafte Fiktionalität der Kunst, auf die Künstlichkeit, die durch den Prozess der Nachahmung bewerkstelligt wird. Damit wird von Du Bos die Sphäre der Kunst und des Kunsterlebnisses zu einer in sich geschlossenen Welt konstituiert, die – über den Begriff der Nachahmung bzw. der Fiktionalität – sowohl in der Produktion als auch in der Rezeption von Artefakten ihre eigene Gesetzlichkeit besitzt und sich von der nicht-künstlerischen Welt unterscheidet. Gleichzeitig wird hierdurch der Welt der Kunst eine weitreichende Autonomie gegenüber der Ethik sichergestellt. Was Du Bos damit liefert, ist nicht nur eine Abkoppelung der Welt der Kunst von der ›anderen‹ Welt hinsichtlich der Herstellung und Wahrnehmung von Artefakten, sondern auch gleichsam eine doppelte Anthropologie, die mit Blick auf das Vergnügen zwei sehr verschiedene Regimes im Umgang mit ethischen Fragen voraussetzt. Dem kunstproduzierenden bzw. -rezipierenden Menschen wird ein Gefühl des Vergnügens an der Darstellung 19 Frz.: »Quoi qu’il en soit, ces fantômes de passions que la poésie et la peinture savent exciter en nous émouvant par les imitations qu’elles nous présentent, satisfont au besoin où nous sommes d’être occupés« (RC, 9). 20 »Das Vergnügen, das man empfindet, wenn man die Nachahmungen sieht, so die Mahler und Dichter von Gegenständen zu machen wissen, welche Leidenschaften in uns erregt haben würden, deren Wirklichkeit uns zur Last gewesen wäre, ist ein reines Vergnügen. Es wird nicht von dem unangenehmen Gefühle ernsthafter Gemüthsbewegungen begleitet, die der nachgeahmte Gegenstand selbst verursacht habe müßte« (KB I, 29). Frz.: »Le plaisir qu’on sent à voir les imitations, que les peintres et les poètes savent faire des objets qui auraient excité en nous des passions dont la réalité nous aurait été à charge, est un plaisir pur. Il n’est pas suivi des inconvénients dont les émotions sérieuses, qui auraient été causées par l’objet même, seraient accompagnées« (RC, 10). 21 Vgl. Dumouchel: Les voies du sentiment [Anm. 1], 24.



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bzw. an der Wahrnehmung von ethisch verwerflichen Bildern oder Szenen zugestanden, das dem Menschen der nicht-fiktionalen Welt verwehrt ist. Wie aber soll man sich genau das Verhältnis des Menschen der nicht-fiktionalen Welt zu demjenigen der fiktionalen in dieser doppelten Anthropologie vorstellen? Lässt sich überhaupt eine Verbindung zwischen den beiden, etwa im Sinne einer Wirkung des einen auf den anderen denken? Mit anderen Worten: Soll die Kunst eine Wirkung auf die außerkünstlerische Sphäre und damit auch eine praktische Auswirkung auf den Entwicklungsgang des Menschen haben, und wenn ja, wie? III. Eine Auseinandersetzung mit Du Bos: Sulzers Kunstauffassung

Mit solchen Fragen haben sich eine Reihe von Du Bos-Lesern im 18. Jahrhundert beschäftigt. Die Réflexions critiques sur la poésie et la peinture haben eine europaweite Resonanz erfahren. Schon 1755 veröffentlichte Lessing in der Theatralischen Bibliothek eine Übersetzung des dritten Teils dieses Werks, der den Theateraufführungen der Alten gewidmet ist.22 Damit lieferte er die erste deutsche Teilübersetzung der französischen Abhandlung, die 1719 zum ersten Mal in Paris erschienen war. Bereits 1748 lag eine Übersetzung ins Englische vor.23 Eine deutschsprachige Gesamtübersetzung der Réflexions critiques erschien erst 1760 in Kopenhagen.24 Zu den prominenten Vertretern der deutschen Du Bos-Rezeption gehört J­ ohann Georg Sulzer, der als Mitglied der Classe de philosophie spéculative der Berliner Akademie ein vielseitiges, für die Kunsttheorie, Ästhetik und Psychologie der Aufklärungszeit grundlegendes Werk verfasst hat. Neben Gottfried Wilhelm Leibniz, Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten gehört Du Bos zu den wenigen modernen Autoren, die Sulzer in seinen Schriften explizit erwähnt und auf die er sich beruft.25 Auffällig sind dabei zunächst die Gemeinsamkeiten, die Sulzer mit Du Bos strukturell verbinden. Ähnlich wie Du Bos geht Sulzer nachdrücklich als Theoretiker an Kunstfragen heran. Nicht als ›Künstler‹ oder als ›Kunstliebha22 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Des Abts Du Bos Ausschweifung von den theatralischen Vorstellungen der Alten, übers. von Gotthold Ephraim Lessing, in: ders.: Theatralische Bibliothek III, Berlin 1755, (auch in: Lessing: Werke und Briefe III, [Anm. 8], 651–661). Der von Lessing übersetzte Teil wurde im französischen Original zum ersten Mal in der zweiten vermehrten Auflage der Réflexions critiques aus dem Jahre 1733 publiziert. 23 Vgl. Jean-Baptiste Du Bos: Critical Reflections on Poetry, Painting and Music, with an Inquiry into the Rise and Progress of the Theatrical Entertainments of the Ancients, written in French by the Abbé Du Bos […], translated into English by Thomas Nugent […], from the Fifth Edition revised, corrected, and inlarged by the Author, London 1748. 24 Zur deutschen Übersetzung vgl. Anm. 1. 25 Vgl. Johann Georg Sulzer: Analyse du génie, in: Histoire de l’Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de Berlin – Classe de philosophie spéculative – Année 1757, Berlin 1759, 392–404, hier 393. Deutsche Übersetzung: Johann Georg Sulzer: Entwicklung des Begriffs vom Genie, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften – Aus den Jahrbüchern der Akademie der Wissenschaften zu Berlin gesammelt, Leipzig 1773 [Reprint: Hildesheim/New York 1974, Teil 1], 307–322, hier 308.

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ber‹, sondern als ›Philosoph‹ will er sein Lexikon, die Allgemeine Theorie der Schönen Künste (1771–1774),26 geschrieben haben, wie er nachdrücklich in der Vorrede betont: Hieraus wird man auch zugleich abnehmen, dass ich über die schönen Künste als ein Philosoph, und gar nicht als ein so genannter Kunstliebhaber, geschrieben habe. Diejenigen, die mehr curiose, als nüzliche Anmerkungen über Künstler und Kunstsachen hier suchen, werden sich betrogen finden. Auch war es meine Absicht nicht, die mechanischen Regeln der Kunst zu sammeln, und dem Künstler, so zu sagen, bey der Arbeit die Hand zu führen. (AT I, 6)

Diese epistemische Positionierung wird mit einem deutlichen Ausschluss der »praktischen« Aspekte der Kunstproduktion aus seinem Werk gekoppelt: »Das Praktische in allen Künsten wird durch Uebung erlangt, und nicht durch Regeln erlernt. Zudem bin ich kein Künstler, und weiß wenig von den praktischen Geheimnissen der Kunst« (ebd.). Diesem Ansatz folgend, widmet er – neben Einträgen zu den Grundsätzen und Regeln einzelner Kunstmedien (wie etwa der redenden und zeichnenden Künste oder der Baukunst) – einen beträchtlichen Anteil seiner Einträge dem Bereich der Kunsttheorie und Ästhetik, einem Schwerpunkt, der auch prominent im Titel des Werkes angekündigt ist. Unter den allgemeinen kunsttheoretischen Artikeln sind auch die längsten und zentralsten Einträge des Lexikons zu finden, wie etwa die Artikel »Künste; Schöne Künste« (AT II, 609–625), »Empfindung« (AT I, 312–316) und »Ästhetik« (ebd., 20–22). Mit aller Kraft beansprucht hiermit Sulzer für die Philosophie das Recht, sich das Gebiet der Kunst als neues wissenschaftliches Feld anzueignen. Dass Sulzer sich dabei dessen bewusst war, am Anfang einer neuen Disziplin zu stehen, nämlich der philosophischen Ästhetik, und die Legitimität dieser Disziplin in einem Bereich erkämpfen zu müssen, über den bisher andere Akteure herrschten, geht aus dem Artikel »Künstler« der Allgemeinen Theorie deutlich hervor: Die Einbildungskraft thut bey den Leidenschaften das meiste. Wer ihre wundervolle [sic] Würkungen kennte, müßte diese völlig in seiner Gewalt haben. Aber in keinem Theil ist die Psychologie unvollkommener, als in diesem. Hier ist den Philosophen ein weites und wenig anbebautes Feld, zu ruhmvollen Arbeiten offen. Leibnitz und Wolff haben den Eingang zu diesen Feldern eröfnet. Deutschlands Philosophen! euch kommt es zu, hineinzugehen, und es zu bearbeiten; dem Menschen überhaupt die wichtigste Eigenschaft seiner Seele und dem Künstler das fürnehmste Werkzeug, die Gemüther zu lenken, näher bekannt zu machen! (AT II, 631)

26 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, in einzeln, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln, abgehandelt, Leipzig 1771–1774 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle AT mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern].



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Den Artikeln »Kunstrichter« und »Künstler« ist eine Hierarchie der Kunstinstanzen zu entnehmen, in der der Philosoph den höchsten Rang einnimmt, während Kenner und Kunstliebhaber sich mit unteren Stufen begnügen müssen.27 »Zwar scheinet es, daß der Künstler auch der beste Richter über die Kunst seyn sollte« (AT II, 633). Jedoch sehe der Kunstrichter »in gar vielen zur Kunst gehörigen Dingen noch weiter« als er (ebd.), weil er – so Sulzers Argumentation, die mit derjenigen von Du Bos hier völlig übereinstimmt – dazu mehr Zeit, Erfahrung und Distanz zur Kunstpraxis habe. A. Empfindungsvermögen und Kunsterfahrung

Wenn dem Philosophen eine privilegierte Position in der Analyse der Kunst zugewiesen wird, so vor allem deshalb, weil er sich als Kenner der menschlichen Seele dafür besonders eignet, die Mechanismen der seelischen Vermögen und ganz speziell des Empfindungsvermögens zu untersuchen. Zentral ist dabei die grundlegende Entwicklung von Sulzers Verständnis der menschlichen Seele, eine Entwicklung, die direkt auf die Lektüre von Du Bos zurückzuführen ist. In dem allerersten Vortrag, den er 1751–1752 vor der Berliner Akademie hielt, verstand Sulzer die Seele als Sitz eines mächtigen rationalen Hauptvermögens, nämlich des Erkennens, aus dem sich das weitere, untergeordnete Vermögen der Empfindung ableiten ließ.28 Zwölf Jahre nach diesem ersten Vortrag hält er einen weiteren akademischen Vortrag, in dem er sich von diesem ersten Modell gänzlich verabschiedet. Schon der lange Titel dieser Schrift deutet diesen deutlichen Bruch mit der vorher vertretenen Auffassung der Seele an: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, 27 Im Artikel »Künstler« kann man lesen: »Die psychologische Kenntnis des Menschen, der fast unerforschlichen Wege und Tiefen der Einbildungskraft und des Herzens, muss das Studium der Kunst vollenden« (AT II, 631). Im Artikel »Kunstrichter« (632 f.) wird der »Kenner« als ein bloßer »Lehrer« des »Liebhabers« definiert, der nur über den »Werth eines Kunstwerks«, über dessen »Erfindung, Anlage und Würkung« urteilen könne. Zum Unterschied vom »Kunstrichter« besitze er aber keineswegs die »Kenntnisse eines Künstlers«. Nur der »Kunstrichter« könne über die »Mechanismen der Kunst« sprechen, weil er außer den Kenntnissen des Kenners noch diejenigen des Künstlers besitze, ohne allerdings dessen »Fertigkeit zur Ausübung« zu haben (632). 28 Vgl. dazu Wolfgang Riedel: Erkennen und Empfinden – Anthropologische Achsendrehung und Wende zur Ästhetik bei Johann Georg Sulzer, in: Der ganze Mensch – Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hg. von Hans-Jürgen Schings, Stuttgart 1994, 410–439; Elisabeth Décultot: Kunsttheorie als Theorie des Empfindungsvermögens – Zu Johann Georg Sulzers psychologischen und ästhetischen Studien, in: Kunst und Empfindung – Zur Genealogie einer kunsttheoretischen Fragestellung in Deutschland und Frankreich im 18. Jahrhundert, hg. von Elisabeth Décultot und Gerhard Lauer, Heidelberg 2012, 81–101; Elisabeth Décultot: Die Schattenseiten der Seele – Zu Johann Georg Sulzers Theorie der dunklen Vorstellungen, in: Formen des Nichtwissens der Aufklärung, hg. von Hans Adler und Rainer Godel, Paderborn 2010, 263–278.

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und des Vermögens zu empfinden, befindet (1763).29 Dort entwickelt Sulzer nun ein dezidiert zweipoliges Modell, das zwei ebenbürtige, von einander unabhängige ›Hauptvermögen‹ postuliert. Charakteristisch für die Ausübung des Erkenntnisvermögens ist die absolute Zuwendung an den untersuchten Gegenstand, die die Seele als ein Äußeres betrachtet 30: So lange der Verstand damit beschäfftiget ist, sich einen gewissen einfachen Begriff mit vollkommener Deutlichkeit vorzustellen, so lange schlummern gleichsam die übrigen Seelenkräfte. Die Seele hat weder Empfindung, noch Neigung, noch Willen: man kann sogar sagen, dass sie alsdann sich selbst nicht fühlet, dass sie bloß ihrem Gegenstande gegenwärtig ist. Das unterscheidende Merkmal dieses Zustandes des Nachdenkens ist das Vergessen seiner selbst, welches allem, was die Aufmerksamkeit von ihrem Gegenstande abziehen könnte, den Zugang zu der Seele verschließt.

Ganz anders ist der Zustand der Empfindung 31: Empfindung nenne ich jede Vorstellung, in so fern sie angenehm oder unangenehm ist, oder in so fern sie Verlangen oder Abscheu hervorbringt. Die Empfindung ist also eine Handlung der Seele, die mit dem Gegenstande, der sie hervorbringt, oder veranlasset, nichts gemein hat. […] Nicht den Gegenstand empfindet man, sondern sich selbst. Bey dem Nachdenken ist der Verstand mit einer Sache beschäfftiget, die er als ausser sich betrachtet; bey der Empfindung ist die Seele bloß mit sich selbst beschäfftiget.

Eine bis in den Wortlaut fast ähnliche Unterscheidung zwischen »sentir« und »réfléchir« hatte (RC, 3), wie vorhin gezeigt, Jean-Baptiste Du Bos am Anfang seiner Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture vorgeschlagen.32 In der Schrift von 1763 erfährt also Sulzers System der Seelenkräfte eine tiefgehende Wandlung: Hier wird das Empfindungsvermögen nicht mehr als ein vom Erkennen bloß abgeleitetes, sondern als ein von der Vernunft einfach getrenntes und unabhängiges Vermögen aufgefasst. Das Empfinden hat sich vom rationalen Erkenntnisvermögen verselbständigt. Im Zuge seiner Arbeiten zur akademischen Schrift von 1763 unternimmt es Sulzer, die Attribute dieses unabhängigen Empfindungsvermögens näher zu bestimmen. Rein empirisch stellt er zunächst einmal fest, dass die Empfindungen in Hinsicht auf das praktische Handeln ein viel kräftigeres Werkzeug sind als die vom

29 Vgl. Johann Georg Sulzer: Observations sur les divers états où l’âme se trouve en exerçant ses facultés primitives, celle d’appercevoir et celle de sentir, in: Histoire de l’Académie [Anm. 25], 407–420; deutsche Ausgabe: Johann Georg Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Ausübung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustellen, und des Vermögens zu empfinden, befindet, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften [Anm. 25], 225–243. 30 Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand [Anm. 29], 228. 31 Ebd., 229 f. 32 Vgl. dazu oben Anm. 5.



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Erkennen produzierten Ideen 33: »Die wahren antreibenden Kräfte in der Seele sind vors erste die sinnlichen Empfindungen, dann sowohl die klaren, aber sehr verworrenen, als auch die bis zu einem gewissen Grade dunkeln Vorstellungen. Keine einzige deutliche Idee kann bewegen; sie kann bloß die Aufmerksamkeit leiten«. Nichts kann also den Menschen zum Handeln intensiver und effektiver anstacheln als die Empfindungen. Während die Vernunft sich lange Zeit damit beschäftigen müsse, die Stichhaltigkeit einer Vorstellung als perceptio clara umsichtig zu überprüfen, habe die Empfindung dank der Vermittlung der Nerven die Seele schon überrascht und sich ihrer ganz bemächtigt. Deshalb wirken die Empfindungen unvergleichlich kräftiger auf die Seele als die deutlichen Ideen. Zur Handlung können wir sogar von völlig dunklen Vorstellungen angetrieben werden, über die die Vernunft sich keine deutliche Vorstellung machen kann.34 Zur Wirkungskraft der dunklen Vorstellungen gehört schließlich, dass sie nicht »durch Vernunftschlüsse« geschwächt werden können,35 sondern nur durch weitere dunkle Vorstellungen. Mit anderen Worten können gegen die Empfindungen nur die Empfindungen selber als wirksame Heilmittel fungieren 36: Es ist also gewiß, dass der Mensch nicht Herr über die ersten Bewegungen seiner Seele ist. Es bleibt ihm nicht die geringste Freyheit übrig, zu empfinden, oder nicht zu empfinden. Alles, was man thun kann, die Wirkung der Empfindung zu verhindern, ist, dass man ihr eine stärkere Empfindung entgegensetzet.

Hiermit weist also Sulzer dem Empfindungsvermögen eine Macht zu, die große Gefahren in sich birgt: Ist der Mensch unfähig, über seine Empfindungen zu walten, und lässt er sich von den roheren unter ihnen führen, so kann er zu Handlun33 Johann Georg Sulzer: Von dem Bewußtseyn und seinem Einflusse in unsre Urtheile, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften [Anm. 25], 199–224, hier 213. Zunächst auf Französisch: Johann Georg Sulzer: Sur l’Apperception et son influence sur nos jugemens, in: Histoire de l’Académie [Anm. 25], 415–434. 34 Vgl. Sulzer: »Wir werden von Kräften in Bewegung gesetzt, die wir nicht kennen. Es ist also nicht möglich, ihnen geradezu zu widerstehen. Wie fühlen die Wunde, ohne den Pfeil zu sehen, der uns verwundet hat« (Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand [Anm. 29], 241 f.). 1759 beschäftigt sich Sulzer mit dem »Paradox«, dass »der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet« ( Johann Georg Sulzer: Expliquation d’un paradoxe psychologique – Que non seulement l’homme agit et juge sans motifs et sans raisons apparentes, mais même malgré des motifs pressans et des raisons convainquantes, in: Histoire de l’Académie [Anm. 25], 433–450; deutsche Ausgabe: Johann Georg Sulzer: Erklärung eines psychologischen paradoxen Satzes – Dass der Mensch zuweilen nicht nur ohne Antrieb und ohne sichtbare Gründe sondern selbst gegen dringende Antriebe und überzeugende Gründe handelt und urtheilet, in: ders.: Vermischte philosophische Schriften [Anm. 25], 99–121). 35 Sulzer: Anmerkungen über den verschiedenen Zustand [Anm. 29], 241. »Es [ist] fast nicht möglich, weder sich vor plötzlichen Eindrücken zu verwahren, noch diese Eindrücke in dem Augenblicke, da man sie empfindet, durch Vernunftschlüsse zu schwächen. Ein einziger Augenblick ist gemeiniglich hinlänglich, eine lebhafte Empfindung hervorzubringen« (ebd.). 36 Ebd., 242.

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gen verleitet werden, die für ihn selbst und seine Mitmenschen höchst schädlich sein können. Aus diesem Grund ist eine Erziehung des Empfindungsvermögens unabdingbar. Sulzers nähere Auseinandersetzung mit den Künsten und die damit verbundene langwierige Arbeit an seinem Hauptwerk, der Allgemeinen Theorie der schönen Künste (1771–1774), ergeben sich direkt aus diesen psychologisch-philosophischen Untersuchungen. Die Künste sind Sulzer deshalb wichtig, weil er in ihnen das bestmögliche Mittel sieht, das Empfindungsvermögen zu erziehen und zu zügeln: So wie Philosophie oder Wissenschaft überhaupt, die Erkenntnis zum Endzwek hat, so zielen die schönen Künste auf Empfindung ab. Ihre unmittelbare Würkung ist Empfindung in psychologischem Sinn zu erweken; ihr letzter Endzwek aber geht auf moralische Empfindungen, wodurch der Mensch seinen sittlichen Werth bekommt. […] Da es also das eigentliche Geschäft der schönen Künste ist Empfindungen zu erweken, und da sie in diesem Geschäfte von Vernunft und Weisheit müssen geleitet werden, so entstehet daher in der Theorie der Künste diese wichtige Frage, wie die Empfindungen überhaupt müssen behandelt werden. (AT I, 312 f.)

B. Nachahmung und Empfindung – Sulzers Antwort auf Du Bos

In der herausragenden Bedeutung, die er dem Empfindungsvermögen bei der Definition der Künste beimisst, steht Sulzer allem Anschein nach Du Bos sehr nahe. Aus dieser gemeinsamen Prämisse leitet er aber eine Theorie der Künste ab, die sich von den Ansätzen und Zielen des französischen Kunsttheoretikers erheblich entfernt. Grund dafür ist die Funktion, die er der Nachahmung in seinem Kunstverständnis zuweist. Das allgemeine verbindende Prinzip der schönen Künste kann, so Sulzer, keineswegs in der Nachahmung – sei es eines in der Natur vorgegebenen Gegenstandes oder eines Gefühls – liegen, sondern nur im Ausdruck ›würklicher‹ Empfindungen: »Die ersten Dichter, Sänger und Tänzer haben unstreitig würk­ liche, in ihnen vorhandene, nicht nachgeahmte Empfindungen ausgedrükt« (AT II, 795), stellt er in dem Artikel »Nachahmung« der Allgemeinen Theorie fest. Nicht wegen der Ähnlichkeit mit der Natur, sondern wegen der Kraft und ›Wahrheit‹ der dargestellten Empfindung rühren uns der stöhnende Philoktet oder die jammernde Andromache (vgl. ebd.). Mit dieser aus seiner Empfindungslehre direkt abgeleiteten Aussage wendet sich Sulzer an erster Stelle sicherlich gegen die im Europa der Jahrhundertmitte weit verbreitete Lehre des Abbé Charles Batteux, der zufolge das erste und verbindende Prinzip der Künste in der Nachahmung der schönen Natur bestehe.37 Mit dem nachdrücklichen Hinweis darauf, dass der Künstler »würkli37 Vgl. Charles Batteux: Les beaux-arts réduits à un même principe, publ. par Jean-Rémy Mantion (nach der dritten Ausgabe von 1773), Paris 1989. Deutsche Übersetzungen und/oder Kommentare dieser Schrift im 18. Jahrhundert: Charles Batteux: Die schönen Künste aus einem Grunde



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che, in ihnen vorhandene, nicht nachgeahmte Empfindungen« ausdrücke, richtet er sich aber in noch entschiedenerer Weise gegen Du Bos’ Empfindungslehre, die sowohl bei dem Kunstproduzenten als auch bei dem Kunstrezipienten durchaus die Möglichkeit von »künstlichen« bzw. ›nachgeahmten‹ Leidenschaften vorausgesetzt hatte (KB I, 25).38 Zwar ist Sulzer keineswegs der erste, der sich aus psychologischen Gründen von dem Nachahmungsgebot verabschiedet. Eine der wichtigsten Schriften in Deutschland, in denen der Streit gegen den aristotelischen Grundsatz der Nachahmung als definitorisches Prinzip der Kunst mit Argumenten aus der philosophischen Anthro­ pologie geführt wurde, publizierte 1757 Georg Friedrich Meier unter dem Titel Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften.39 Nun nimmt Sulzer einen zentralen Platz in dieser Entwicklung ein, indem er sich nicht so sehr mit Batteux, sondern vielmehr mit seinem Vorgänger Du Bos auseinandersetzt und dessen Entwurf einer auf dem Nachahmungsbegriff beruhenden Eigengesetzlichkeit der Kunstsphäre bestreitet. Du Bos’ Vorstellung einer fiktionalen Welt, in der sowohl für den Kunstproduzenten als auch für den Kunstrezipienten ein eigenes, von dem der ›realen‹ Welt verschiedenes Regime der Empfindungen obwalten würde, verstößt gegen Sulzers einheitliche Vorstellung des menschlichen Empfindungsvermögens. Für den Autor der Allgemeinen Theorie der Schönen Künste folgt das Empfindungsvermögen des kunstschaffenden oder -betrachtenden Menschen denselben Gesetzen wie dasjenige des mit der realen Welt umgehenden. Mit anderen Worten: »Schattenbilder von Leidenschaften [ fantômes de passions: E. D.], welche die Poesie und Mahlerey durch ihre Nachahmungen in uns hervorbringen können« (KB I, 26),40 wie sie Du Bos postuliert hatte, gibt es in Sulzers Anthropologie nicht. Gerade diese Undividierbarkeit des menschlichen Empfindungsvermögens sichert auch der Kunst ihre praktische Wirkung auf den Entwicklungsgang des Menschen und macht ihre herausragende moralische bzw. erzieherische Funktion überhaupt möglich: Nur weil das sich am Artefakt schulende Empfindungsvermögen dasselbe ist, wie dasjenige, das in der ›realen‹ Welt am Werk ist, kann die in

hergeleitet – Aus dem Französischen der Herrn Abt Batteux übersetzt von P. E. B. [= Philipp Ernst Bertram: E. D.], Gotha 1751; Charles Batteux: Einschränkung der schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz – Aus dem Französischen übersetzt und mit einem Anhange einiger eignen Abhandlungen versehen, übers. von Johann Adolf Schlegel, Leipzig 31770; Johann Christoph Gottsched: Auszug aus des Herrn Batteux, öffentlichen Lehrers der Redekunst zu Paris Schönen Künsten aus dem einzigen Grundsatze der Nachahmung hergeleitet, zum Gebrauche seiner Vorlesungen mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen erläutert, Leipzig 1754. 38 Vgl. frz. RC, 9; vgl. oben Anm. 15. 39 Vgl. Georg Friedrich Meier: Betrachtungen über den ersten Grundsatz aller schönen Künste und Wissenschaften, Halle 1757 (auch in: ders.: Frühe Schriften zur ästhetischen Erziehung der Deutschen III, Halle 2002, 170–206). 40 Frz.: »Quoi qu’il en soit, ces fantômes de passions que la poésie et la peinture savent exciter en nous émouvant par les imitations qu’elles nous présentent, satisfont au besoin où nous sommes d’être occupés« (RC, 9). Vgl. oben Anm. 19.

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der Kunstwelt gesammelte Empfindungserfahrung in die ›andere‹ Welt hinübergetragen und ausgewertet werden. Hiermit tut sich zwischen Du Bos und Sulzer eine Kluft auf, die für die gesamte Kunsttheorie und Ästhetik des 18. Jahrhunderts überhaupt und insbesondere für den Austausch zwischen französisch- und deutschsprachigen Kunstschrifstellern prägend gewesen ist.41 Nicht zufällig gehört Du Bos zu den wenigen Autoren, auf die Sulzer sich explizit beruft. Indem er die Einwirkung auf das Empfindungsvermögen zum Hauptkriterium bei der Analyse der Künste erhebt, entwirft Du Bos eine Theorie der Kunst, die sich durchaus eignet, der entstehenden deutschen Ästhetik als Wissenschaft des Empfindungsvermögens Bausteine zu liefern. Allerdings bleibt Du Bos’ Ansatz für die Baumgarten’sche Schule aus zwei schwerwiegenden Gründen nur bedingt anwendbar: einerseits weil er der aristotelischen Tradition verhaftet bleibt, die in der Nachahmung ein definitorisches Prinzip der Kunst sieht, und andererseits, weil er eine Eigengesetzlichkeit für die Kunstwelt postuliert, die die moralische, erzieherische, praktische Funktion der Kunst für die nicht-künstlerische Welt zunichte zu machen droht.

41 Diese Kluft zwischen Du Bos und Sulzer lässt sich bis in ihrer jeweiligen Vorstellung der Hierarchie der Künste verfolgen, auf die hier nur kurz hingewiesen werden kann. Unter Anlehnung an seine Empfindungstheorie entwirft Du Bos eine Hierarchie der Künste, die der Malerei gegenüber der Poesie den Vorrang gibt. Dadurch, dass die Poesie sich »künstlicher Zeichen« bediene, könne sie nur langsam und stufenweise auf unser Empfindungsvermögen wirken, während die Malerei mit ihren »natürlichen« Zeichen, die sich den optischen Sinn ansprechen, sich diesem Vermögen unmittelbar und kraftvoll einpräge (KB I, 367; vgl. frz. RC, 133). In seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste legt Sulzer genau die umgekehrte Hierarchie fest (vgl. Elisabeth Décultot: Kunsttheorie als Theorie des Empfindungsvermögens [Anm. 28], 81–101).

»Prüfe-Stein« Praktiken der Freundschaft in Baumgartens Ethica philosophica und Philosophischen Brieffen von Aletheophilus Roland Spalinger I. Einleitung

Im 18. Jahrhundert erobert ein neues, von England kommendes Medium den euro­ päischen Kontinent, das wie kein zweites am Großprojekt des aufstrebenden Bürgertums partizipiert: Die so genannten ›Moralischen Wochenschriften‹ propagieren beziehungsweise installieren ethische Praktiken1 und arbeiten dergestalt nicht nur an einem auf die Gesellschaft ausgerichteten Strukturwandel der Öffentlichkeit mit,2 sondern auch an einer »Orientierungsfähigkeit des Individuums« innerhalb der sich neu bildenden gesellschaftlichen Strukturen.3 Die ethische Relevanz dieses Mediums für Gesellschaft und Individuum bemerkt auch Alexander Gottlieb Baumgarten, der ein Jahr nach der ersten Auflage seiner Ethica philosophica (1740) die moralische Wochenschrift Philosophische Brieffe von Aletheophilus (1741) veröffentlicht.4 Während die Ethica ethische Praktiken in Bezug auf das Selbst sowie auf die Gesellschaft systematisch ausarbeitet und in Analogie zu einem theologischen Erbauungskonzept untersucht, erproben die Brieffe die Funktionsweise ethischer Praktiken. Praktiken, die als »nexus of doings and sayings« Handlung und Medialität verbinden,5 interessie1 Zum Begriff der Praktiken vgl. insbesondere die im Zusammenhang mit dem von Frauke Berndt geleiteten Forschungsprojekt ETHOS – Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts entstandenen Ergebnisse: Frauke Berndt: ›Korrektur an Winckelmann‹ – Ethische Praktiken in Aby Warburgs ästhetischer Theorie, in: Archäologien der Moderne – Winckelmann um 1900, hg. von Claudia Keller und Christoph Schmälzle, Hamburg 2022, 114–134; Carolin Rocks: Ästhetisches ›ethos‹ – Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und die Literaturwissenschaften, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 66/1 (2022), 69–95; Johannes Hees-Pelikan: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Einleitung, in: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan und Carolin Rocks, Göttingen 2022, 7–37. 2 Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit – Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 152018, 105 f. 3 Friedrich Vollhardt: Das gelehrte Wissen und der literarische Markt – Vermittlungsstrategien im Medium der ›Moralischen Wochenschriften‹, in: Wissensspeicher der Frühen Neuzeit – Formen und Funktionen, hg. von Frank Grunert und Anette Syndikus, Berlin/Boston 2015, 377–389, hier 389. 4 Vgl. [Alexander Gottlieb Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus, Frankfurt a. d. O./Leipzig 1741. Eine – leider nicht kritische – Edition des zweiten Briefs besorgt Hans Rudolf Schweizer: Alexander Gottlieb Baumgarten: Texte zur Grundlegung der Ästhetik – Lateinisch-Deutsch, hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, 67–72. 5 Theodore R. Schatzki: Social Practices – A Wittgensteinian Approach to Human Activity and the Social, Cambridge 1996, 89.

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ren B ­ aumgarten sowohl in seiner Ethica als auch in seinen Brieffen insbesondere als zeichenförmige Handlungen, die für die Freundschaft verantwortlich sind, woher dann auch ihr ethisches Profil rührt. Freundschaft (amicitia) basiert in Baumgartens Ethica auf dem Habitus, die Liebe gegenüber einem anderen Menschen in zeichenförmigen Handlungen zur Darstellung zu bringen, sodass sie durch ein Geschmacksurteil bewertet und erwidert werden kann.6 Dabei sollen Praktiken der Freundschaft die persönliche Vervollkommnung der ›Freunde‹ 7 befördern. Diese Praktiken der Freundschaft finden in den Brieffen ihre Umsetzung, deren Zentrum Aletheophilus einnimmt, indem er sich als Herausgeber und – in den meisten Briefen – als Verfasser inszeniert. Dabei verantwortet Aletheophilus einerseits sein eigenes Ethos, andererseits setzt er sich zu dem Ethos des Lesers in Beziehung: Aletheophilus nutzt die Praktiken der Freundschaft und knüpft ein »Freundschaffts-Band«, das »durch einen starcken Briefwechsel« zustande kommt.8 Aus diesem Freundschaftsband resultiert eine »Verwandschafft«,9 die den Leser in das Geschlecht der Aletheophilen eingliedert. Ob diese Verbindung gelingt, validiert Aletheophilus mit Hilfe eines so genannten »Prüfe-Stein[s]«.10 Dieser Metapher gibt Baumgarten in seiner Aesthetica (1750/58) ihr erkenntnistheoretisches Profil, indem der Prüfstein (lapis lydius) die ästhetische Wahrheit eines Geschmacksurteils abzusichern hat11: »Diese kann an dem Prüfstein, wenn nicht der reineren Vernunft und des, wenn ich so sagen darf, wissenschaftlichen Verstandes, so aber doch an dem eines feineren Geschmacks und eines reifen Urteils, auch wenn dieses größtenteils sinnlich ist, gemessen werden.« Mittels genau dieses Prüfsteins ästhetischer Herkunft nimmt Aletheophilus die Praktiken der Freundschaft unter die Lupe, d. h., er unterzieht das Freundschaftsband einem ästhetischen Urteil. Nicht die Übereinstimmung von Wort (›Freundschaft‹) und Begriff (Bedeutung), sondern die ästhetische Validierung des Freundschaftsbandes bildet die Basis in den Brieffen. Das hat zur Folge, dass ethische Praktiken einen ›Effekt der Form‹ erzeugen und als Form reflektiert und verbessert werden können.12 Alexander Gottlieb Baumgarten: Ethica philosophica – Scripsit acroamatice, Halle 31763, 203–205 [§§ 312–314]. 7 Baumgartens generisches Maskulinum kann freilich durch Freundin besetzt werden, wie auch seine Brieffe zeigen (vgl. [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], 53–56). 8 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], [3v]. Zur Freundschaftsfunktion des Briefmediums vgl. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr – Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, 190–196. 9 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], [3v]. 10 Ebd. 11 »[P]otest eadem ad lapidem lydium, nisi purioris rationis et intellectus, ut ita dicam, scien­ tifici, tamen delicatioris saporis et maturi iudicii, etiamsi sensitivi, qua partem potiorem exigi« (Alexander Gottlieb Baumgarten: Ästhetik – Lateinisch-Deutsch, hg. von Dagmar Mirbach, Hamburg 2007, 528 f. [§ 552]). 12 Vgl. Rüdiger Campe: Effekt der Form – Baumgartens Ästhetik am Rande der Metaphysik, in: Baumgarten-Studien – Zur Genealogie der Ästhetik, hg. von Rüdiger Campe, Anselm Haverkamp und Christoph Menke, Berlin 2014, 117–144. 6 Vgl.



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Um zu zeigen, wie Aletheophilus mittels eines ästhetischen Prüfsteins Praktiken der Freundschaft zu den medialen und gattungsspezifischen Bedingungen der moralischen Wochenschrift erzeugt, reflektiert und verbessert, beleuchte ich in einem ersten Schritt die Praktiken der Freundschaft, wie sie Baumgarten in seiner Ethica bestimmt (II.). Da Baumgarten diese Praktiken als zeichenförmige Handlungen denkt und gar eine ›Semiotik der Freundschaft‹ erstellt,13 bleiben sie stets auf Medialität angewiesen, so dass die Gattungspoetik der moralischen Wochenschriften die Argumentationsgrundlage für die Praktiken der Freundschaft liefert (III.). Die Gattungspoetik sättigt Baumgarten sodann mit den Gedankenfiguren der Etho­ poeia sowie der Apostrophe, mit der Aletheophilus den Leser adressiert (IV.). Sobald der Leser jedoch selbst als Briefschreiber hervortritt, ermöglicht ihm die Ethopoeia, selbst Freundschaftspraktiken zu erzeugen, zu reflektieren und zu korrigieren, was ich abschließend an zwei Fallbeispielen aufzeige (V.). II. Praktiken der Freundschaft

Freundschaft besteht nach Baumgartens Ethica in zeichenförmigen Handlungen, welche die Vervollkommnung anderer Menschen befördern.14 Seine ethische Theorie beruht auf dem Prinzip, sich selbst zu vervollkommnen: Der zehnte Paragraph, den Baumgarten mit »perfice te« einleitet,15 bildet deshalb auch den »›intratextuelle[n] Leitparagraph[en]‹« der Ethica.16 Da die eigene Vervollkommnung nicht nur von den Pflichten gegenüber dem Selbst abhängt, folgen im ersten Teil der Ethica, der alle Menschen unabhängig von ihrem Zustand verpflichtet, auf die officia erga te ipsa die officia erga alia, die Pflichten gegenüber anderem als dem Selbst17: »Pflichten gegen andere Dinge sind diejenigen, deren bestimmender Grund diejenige Realität ist, die außerhalb von dir gesetzt werden muss.« Zur Vervollkommnung des Selbst ist auch die Vervollkommnung der ›Rahmenbedingun13 Vgl. Toshiro Osawa: Perfection and Morality – A Commentary on Baumgarten’s ›Ethica Philosophica‹ and its Relevance to Kantian Ethics, Diss., Sydney 2014, 198. 14 Vgl. Toshiro Osawa: Can Love Be Excessive? – Baumgarten and Kant on Love, Respect, and Friend­ship, in: The Court of Reason – Proceedings of the 13th International Kant Congress, hg. von Bea­t rix Himmelmann und Camilla Serck-Hanssen, Berlin/Boston 2022, 1483–1492. Allgemein zu Baumgartens Ethica vgl. Osawa: Perfection and Morality [Anm. 13]; Toshiro Osawa: Kant’s Debt to Baumgarten in His Religious (Un-)Grounding of Ethics, in: Kant Yearbook 10 (2018), 105–123; Clemens Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten – Ein intellektuelles Porträt – Studien zur Metaphysik und Ethik von Kants Leitautor, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011. 15 Baumgarten: Ethica philosophica [Anm. 6], 9 [§ 10] [Hervorh. im Original]. 16 Dagmar Mirbach: ›Praeponitur – illustratur‹ – Intertextualität bei A. G. Baumgarten, in: Schönes Denken – A. G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik, hg. von Andrea Allerkamp und Dagmar Mirbach, Hamburg 2016, 71–88, hier 84. 17 »officia erga alia (a) sunt, quorum ratio perfectionis determinans est extra te ponenda realitas« (Baumgarten: Ethica philosophica [Anm. 6], 196 [§ 301] [Hervorh. im Original]). Für die Überprüfung der lateinischen Übersetzungen danke ich Tino Calzaferri.

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gen‹ außerhalb des Selbst nötig, da der Grad der eigenen Vollkommenheit von der Übereinstimmung des Selbst mit der Umwelt abhängt18: So viele und so große Handlungen dich zu mehreren und bedeutenderen außerhalb von dir gesetzten Realitäten übereinzustimmen machen: so viele und so große sind zu verrichten, § 10. All diese Handlungen aber werden mit deiner Vervollkommnung gleichzeitig die Vervollkommnung anderer setzen, was ihnen gut [ist].

Die Vervollkommnung des Selbst liegt somit – analog zur Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis – »in einer aktiven Poiesis«,19 wie Ralf Simon feststellt, d. h. in Handlungen, welche die Übereinstimmung des Selbst mit dessen Umwelt und damit die Vollkommenheit steigern. Die ethische Voraussetzung zur Freundschaft liegt nun darin, dass sich das ethisch gute Subjekt über die Vervollkommnung von außerhalb von ihm gesetzten Dingen freut 20: »Freue dich also über so viele und so große Vervollkommnungen so vieler anderen, so oft du kannst und so sehr du kannst.« Freude bestimmt Baumgarten als angenehmen Affekt (»[a]ffectus iucundus« 21), und wenn sich die Freude aufgrund der Vervollkommnung eines anderen einstellt, handelt es sich um Liebe (»amor« 22). Deshalb wird ein ethisches Subjekt auf universelle Liebe, auf »Pamphilia« verpflichtet.23 Diese allgemeine Liebe gilt insbesondere anderen Menschen, wobei natürlich nicht alle Menschen gleich geliebt werden können 24: Einen Menschen mehr zu lieben als einen anderen, die Vollkommeneren [mehr] als die Unvollkommeneren, die Vertrauteren [mehr] als die Unbekannten, die, die dir vorteilhafter sind, denjenigen vorzuziehen, die dir weniger vorteilhaft sind, auch diejenigen, denen du mehr gefällig sein werden kannst, denjenigen, denen du nicht so viel nützlich sein kannst, ist nicht gegen die universelle Menschenliebe.

Die Liebe zu anderen Menschen hängt demnach von dem Status der Vervollkommnung dieses Menschen ab, also davon, wie gut man diesen Menschen kennt, sowie 18 »Quot et quantae actiones ad quo plures, quo maiores realitates extra te positas, te consentire faciunt: tot ac tantae praestandae sunt, § 10. Hae autem omnes cum perfectione tua simul perfectionem aliorum ponent, aliis bonae, M. § 660« (ebd., 196 f. [§ 302]). 19 Ralf Simon: Rhetorik in konstitutionstheoretischer Funktion (Leibniz, Baumgarten, Herder), in: Herders Rhetoriken im Kontext des 18. Jahrhunderts – Beiträge zur Konferenz der Internationalen HerderGesellschaft Schloss Beuggen nahe Basel 2012, hg. von Ralf Simon, Heidelberg 2014, 113–127, hier 119. 20 »Ergo gaude tot tantisque perfectionibus tot aliorum, quot potes, quantum potes, M. § 682« (Baumgarten: Ethica philosophica [Anm. 6], 197 [§ 302]). 21 Alexander Gottlieb Baumgarten: Metaphysica – Metaphysik – Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Günter Gawlick und Lothar Kreimendahl, Stuttgart-Bad Cannstatt 2011, 364 [§ 682]. 22 Ebd. [§ 684] [Hervorh. im Original]. 23 Baumgarten: Ethica philosophica [Anm. 6], 197 [§ 303]. 24 »Vnum hominem magis amare, quam alterum, perfectiores imperfectioribus, notos in­ cognitis, tibi vtiliores minus vtilibus tibi praeferre, eos etiam, quibus plus inseruire poteris, illis, quibus tantum prodesse non potes, non est contra philantropian vniuersalem, §. 303« (ebd., 198 f. [§ 304]).



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von der Nützlichkeit dieses Menschen für einen selbst und die eigene Nützlichkeit für den anderen Menschen – wobei die Nützlichkeit wiederum von dem Status der Vervollkommnung abhängt, da eine fortgeschrittenere Vervollkommnung eines anderen Menschen die eigene Vervollkommnung besser befördern kann. Ausgehend von der Menschenliebe bestimmt Baumgarten die Freundschaft 25: »Derjenige, der einen anderen habituell liebt, ist dessen innerlicher Freund.« Die zentrale Kategorie für die Freundschaft nimmt dabei – neben der Liebe – der Habitus ein, den Baumgarten zeichentheoretisch fasst 26: »Weil ein anderer Mensch nicht wissen kann, was in deinem Geiste vollzogen wird, wenn es nicht bezeichnet wird, ist es oft dennoch nicht nur für dich allein, sondern auch für ihn wichtig, dass er reicher, wahrer, klarer, sicherer und feuriger weiß, auf welche Art und wie viel er von dir geliebt wird.« Die Liebe muss also zeichenförmig sein, damit sie im besten Sinne des Wortes ›lesbar‹ wird und Freundschaft zustande kommen kann. Und zeichenförmig wird sie durch den Habitus, seine Liebe gegenüber einem Menschen zur Darstellung zu bringen 27: [Diejenige Philanthropie: R. S.] kann keine Philanthropie des richtigen Grades sein, die niemals oder selten in Werke der Nächstenliebe ›ausbricht‹, die Zeugnis über ihren Grund ablegen. [Deshalb] wirst du auch dazu verpflichtet, deine Philanthropie zu bezeichnen, und sodann zum Habitus, sie zu bezeichnen, d. h. zum liebreichen Betragen [humanitatem], bald zum ausdrücklichen, bald zum verschwiegenen, bald zum impliziten, bald zum expliziten.

Die Freundschaft bedarf demnach nicht nur der Liebe für einen anderen – d. h. der Freude an dessen Vervollkommnung –, sondern auch der Darstellung dieser Freude. Erst der Habitus des Bezeichnens dieser Freude ermöglicht die »inner­ liche gegen­s eitige Freundschaft«.28 Gegenseitige Liebe und damit die Freundschaft zwischen Menschen ist auf den Habitus angewiesen, der Liebe lesbar macht oder anders gesagt: in dem sich die Liebe ›zeigt‹. Pflichten gegenüber anderen basieren auf Handlungen, die deren – und damit immer auch gleich verbunden die eigene – Vervollkommnung befördern. Damit diese Beförderung überhaupt möglich ist, ist es notwendig, dass man sich an der Vervollkommnung anderer erfreut, d. h. diese liebt. Dass man andere lieben soll, 25 »Qui alterum habitualiter amat amicus eius internus (a) est« (ebd., 203 [§ 312] [Hervorh. im Original]). 26 »Quum alter homo, quid intra mentem tuam agatur, nosse non possit, nisi significatum, M. §. 347, saepe tamen non tua solum, sed et illius intersit, eum vberius, verius, clarius, certius, ardentius nosse quomodo quantumque a te ametur, §. 299« (ebd., 201 [§ 309] [Hervorh.: R. S.]). 27 »[N]ec iusti gradus philanthropia possit esse nunquam aut rarius erumpens in opera charitatis testantia de sua caussa, M. §. 333, obligaris ad tuam etiam philanthropiam significandam, hinc et ad habitum eam significandi s. humanitatem (a), nunc expressam, nunc tacitam, nunc implicitam, nunc explicitam« (ebd., 201 f. [§ 309] [Kapitälchen im Original; kursive Hervorh.: R. S.]). 28 »amicitia interna mutua« (ebd., 203 [§ 312] [Hervorh. im Original]).

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liefert aber lediglich die erste Voraussetzung für die Freundschaft. Die zweite liegt in dem Habitus, die Liebe gegenüber den anderen darzustellen, damit eine gegenseitige, nicht ›egoistische‹ Liebe und damit Freundschaft gelingt.29 Mit der Darstellung bestimmt neben der Handlung eine weitere, zeichentheoretische Dimension Baumgartens Freundschaftstheorie, so dass Toshiro Osawa von Baumgartens »›semiology of friendship‹« spricht.30 Baumgartens Freundschaftskonzept, dessen Grundlage zeichenförmige Handlungen bilden, ist deshalb als Praktik zu verstehen, da sich Praktiken durch den Nexus von Handlung und Medialisierung auszeichnen. Diese mutual lesbaren Praktiken der Freundschaft erweitert Baumgarten zudem im allgemeinen Teil der Ethica, der die Pflichten behandelt, die den Menschen nicht unabhängig von ihrem Zustand zukommen. Er führt zusätzlich die »Herzensfreunde«, die »amici cordis« ein,31 die sich nicht nur nach dem Grad lieben, wie sie ihre Liebe zeigen können, sondern sich in dem Vermögen, die Liebe darzustellen, verbessern und gegenseitig nacheifern und überbieten. Aus diesem gegenseitigen Korrigieren in der Freundschaftssemiotik und dem gegenseitigen Nacheifern (aemu­ latio) im Vervollkommnen resultiert das ›Geschenk‹ einer »vertraulicheren guten Freundschaft [familiaritas]«,32 die es sodann auch nicht mehr nötig hat, all diejenigen Kleinigkeiten zu vermeiden, welche die Freundschaft gefährden könnten. Praktiken der Freundschaft steigern sich also in besonderen Umständen von der innerlichen mutualen Freundschaft über Herzensfreundschaften bis hin zur ›bona f­ amiliaritas‹. Die Klimax nehmen mit der ›bona familiaritas‹ diejenigen Freundschaftspraktiken ein, in denen ›Blutsbande‹ durch ›Freundschaftsbande‹ substituiert werden, und die deshalb die höchste Stufe zwischenmenschlichen Vertrauens in Baumgartens Ethik der Freundschaft bildet. III. Gattungspoetik moralischer Wochenschriften

Um die ethische Praktik der Freundschaft in den Brieffen untersuchen und mittels Geschmacksurteils ästhetisch validieren zu können, sind diese Praktiken als zeichenförmige Handlungen auf eine mediale Form angewiesen. Baumgarten greift deshalb für die Darstellung dieser Untersuchung auf die Gattungspoetik der moralischen Wochenschrift zurück. Denn mit zeichenförmigen Handlungen setzen sich die moralischen Wochenschriften auseinander, dasjenige Medium, das sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wohl am prominentesten der Verbreitung von und den Reflexionen über Sittenregeln im privaten und öffentlichen 29 Zu Baumgarten als erstem Philosophen, der von einem ›moralischen Egoismus‹ spricht, vgl. Schwaiger: Alexander Gottlieb Baumgarten [Anm. 14], 136–139; Clemens Schwaiger: Kants Antiegoismus – Wurzeln und Motive, in: Der Zyklop in der Wissenschaft – Kant und die ›anthropologia transcendentalis‹, hg. von Francesco Valerio Tommasi, Hamburg 2018, 53–64, hier 58–60. 30 Osawa: Perfection and Morality [Anm. 13], 198. 31 Baumgarten: Ethica philosophica [Anm. 6], 322 [§ 495]. 32 »bona familiaritas« (ebd., 324 [§ 498] [Hervorh. im Original]).



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Leben widmet. Trotz ihres zeitgenössisch zentralen Stellenwerts bezeichnet die letzte Buchpublikation zu den moralischen Wochenschriften der deutschen Aufklärung dieses Medium aber nach wie vor als verhältnismäßig wenig erforscht.33 In seiner umfassenden Studie zu dieser Gattung grenzt Wolfgang Martens sie gegen weitere periodisch erscheinende Zeitschriften ab, wobei die differentia specifica in der »lehrhaften Blickrichtung auf den Menschen, mit der moralischen Bemühung um sein Denken und Handeln« liege.34 Moralische Wochenzeitschriften »wollen, was für keine andere Zeitschriftengattung in dieser Weise gelten kann, den Leser bilden, formen, sie nehmen unverhohlen Einfluß auf Gesinnung und Handeln«.35 Knapp ausgedrückt arbeiten die moralischen Wochenschriften gleichzeitig am bürgerlichen Subjekt und an der bürgerlichen Gesellschaft, indem sie die ethische Verfasstheit des Subjekts zwischen Selbst- und Gesellschaftsbezug ausloten.36 Als »diskursiver Ort«, an dem »Wissen[] um das menschliche Leben« besprochen wird,37 besitzen diese Wochenschriften jedoch einen prekären Status, wie Guglielmo Gabbiadini festhält. Denn lebenspraktisch ausgerichtetes Wissen ist »kein absolut sicheres, unwandelbares Wissen«, sondern solches, »das sich stets mit prekären Umständen konfrontiert sieht und dennoch entscheidend zur Steuerung der unsicheren Praxis des Lebens beitragen möchte«.38 Das führt dazu, dass die moralischen Wochenschriften auch »keine absoluten Wahrheitsansprüche erheben möchte[n]« und deshalb auf eine »andersartige[] Form von Wissen« setzen.39 Sie »sind mehr oder minder prominente Vertreter einer Wissensauffassung, die man mit dem altgriechischen Wort phrónesis als Form praktischen Wissens und Lebensklugheit bezeichnen kann«.40 Weil ihr Wissen tugendethisch ausgerichtet ist,41 erreichen die moralischen Wochenschriften ihre epistemologische Absicherung mit 33 Vgl. Misia Sophia Doms und Bernhard Walcher: Vorwort der Herausgeber, in: Periodische Erziehung des Menschengeschlechts – Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum, hg. von Misia Sophia Doms und Bernhard Walcher, Bern u. a. 2012, 9–13. 34 Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend – Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften, Stuttgart 1968, 17. 35 Ebd., 19. 36 Vgl. die – wenn auch sehr knappe – Einordnung der moralischen Wochenschriften bei Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit [Anm. 2], 105 f., sowie umf änglicher bei Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit – Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 2001, 211–260. 37 Guglielmo Gabbiadini: Prekäres Wissen, Materialität der Tugend und Nachhaltigkeit des Glücks – Ein Versuch über die Moralischen Wochenschriften ›Der Biedermann‹ (1727–1729) und ›Der Jüngling‹ (1747–1748), in: Materialitätsdiskurse der Aufklärung – Bücher – Dinge – Praxen, hg. von Thomas Bremer, Halle a. d. S. 2016, 33–52, hier 35. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Zu den tugendethischen Implikationen der phrónesis vgl. Phronesis – die Tugend der Geisteswissenschaften – Beiträge zur rationalen Methode in den Geisteswissenschaften, hg. von Gyburg RadkeUhlmann, Heidelberg 2012.

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einem gesellschaftlichen Konsens. Ihre Legitimierung erhalten sie dadurch, dass sie tugendhafte Subjekte und Gesellschaften organisieren. Dazu inszenieren sie insbesondere Unmittelbarkeit zwischen Verfasser*innen und den Leser*innen, indem moralische Wochenschriften Lesebrief-Zusendungen von Leser*innen wünschen, die sie dann verlegen und publizieren bzw. inszenieren. Die zentralen Darstellungsverfahren, welche die literarischen Muster moralischer Wochenschriften verantworten, liegen dabei primär in einer fingierten Verfasser- bzw. Herausgeberschaft sowie in der Briefform, welche Verfasser*innen mit den Leser*innen verflicht. Denn die Briefe der moralischen Wochenschriften können genauso von fingierten Verfasser*innen wie von fingierten Leser*innen stammen. Der »überwiegende Teil aller in den deutschen Moralischen Wochenschriften veröffentlichten Briefe allerdings ist«, auch wenn die Briefe als Zusendungen der Leser*innen markiert sind, »vermutlich fingiert«.42 Die Verfasser*innen, die in den meisten Fällen der größtenteils anonym erscheinenden moralischen Wochenschriften gleichzeitig der Herausgeberschaft entsprechen, treten stets als eine Redemaske – fictio personae – auf, als ein »die Rede führende[s] Ich, und dieses Ich ist keineswegs mit dem Ich des Autors identisch«.43 Vielmehr führt sich die fictio personae in der Regel zu Beginn einer moralischen Wochenschrift selbst ein44: »Dieser stellt sich seinem Publikum vor, nennt sich, falls er neben dem Namen der Zeitschrift noch einen ›bürgerlichen‹ Namen führt, berichtet – stets in der Ich-Form – mehr oder weniger ausführlich von seinem Lebenslauf und fordert das Publikum zu vertrauensvoller Mitarbeit auf.« Neben dem Lebenslauf schildert die Verfasserschaft zudem meistens »absonderliche[] kleine[] Gesellschaften«,45 in denen sie Mitglied ist und die sie in ein kurioses Licht rücken46: »Spielerischem Scherz und munterer Ironie sind hier weite Zügel gelassen.« Der inszenierte Briefverkehr, die ausführlichen Schilderungen des eigenen Lebenslaufs und das kuriose Umfeld sowie der Charakter der fictio personae bestimmen die Gattungspoetik der moralischen Wochenschriften. Die Folie erstellen bereits die englischen Vorbilder der deutschen moralischen Wochenschriften wie beispielsweise The Tatler (1708–1711) oder The Spectator (1711–1712/1714). Sie findet nur wenig später bereits Verwendung in Wochenschriften, die auf dem europäischen Festland entstehen, unter anderem in Baumgartens Brieffen.

Die Botschaft der Tugend [Anm. 34], 156. 29. 44 Ebd., 36 f. 45 Ebd., 61. 46 Ebd., 62. 42 Martens: 43 Ebd.,



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IV. Aletheophilus’ Ethopoeia

Die Gattungspoetik der moralischen Wochenschriften wendet Baumgarten sodann für seine zwischen 1741 und – nach aktuellem Forschungsstand – 1744 veröffentlichte moralische Wochenschrift Philosophische Brieffe von Aletheophilus an. Insgesamt bestehen die Brieffe aus sehr wahrscheinlich 37 Einzelbriefen, die in 29 ›Stücken‹ gedruckt wurden. Die ersten 26 Stücke mit den ersten 34 Briefen erscheinen wöchentlich allesamt im Jahr 1741, vermutlich zuerst in Halle,47 danach als gebundene Ausgabe in Frankfurt und Leipzig.48 Originale Einzelexemplare der wöchentlich erschienenen Brieffe sind meines Wissens nicht mehr auffindbar. Dass neben den in der gebundenen Ausgabe gedruckten Brieffen überhaupt noch weitere Stücke existieren, ist erst seit Dieter Kliches Fund einer Abschrift des 36. Briefes im Werner-Krauss-Archiv wieder bekannt geworden, die er 2002 edierte.49 In einer bemerkenswert informierten Studie argumentiert zudem Alessandro Nannini dafür, dass es noch exakt zwei »ghost letters« geben müsse,50 namentlich die Briefe Nummer 35 und 37, deren Inhalt sich zum jetzigen Zeitpunkt lediglich mit Hilfe von Kommentaren, Rezensionen, Briefen etc., die um 1750 geschrieben wurden, erraten lässt. Es scheint, dass damals die heute vermissten ›ghost letters‹ innerhalb eines akademischen Umfelds hohen Bekanntheitsgrad gehabt haben müssen, da sie häufig besprochen wurden.51 Aufgrund ihrer »engen Verzahnung von Erkenntnis- und Darstellungsform« bedürfen die Brieffe »einer zugleich philosophisch und literaturwissenschaftlich orien­t ierten Untersuchung«,52 wie bereits Dagmar Mirbach und Andrea Allerkamp festhalten. Auch wenn Mirbach darauf hinweist, dass Baumgarten in seiner moralischen Wochenschrift »sämtliche Stilmittel – von der Briefform bis zur Ironie – einsetz[t]«,53 entgeht der Forschung bisher die zentrale Konfiguration: Wie in anderen moralischen Wochenschriften inszenieren die Brieffe eine fictio personae, die den sprechenden Namen Aletheophilus hat: der Wahrheit- und Gott-Liebende. Ein persönliches Profil bzw. Anschauung erhält die Redemaske durch die Gedankenfigur der Ethopoeia. Die Ethopoeia bezeichnet ursprünglich das sprachlich gene­r ierte 47 Vgl. Alessandro Nannini: Alexander G. Baumgarten and the Lost Letters of Aletheophilus – Notes on a Mystery at the Origins of Modern Aesthetics, in: Diciottesimo Secolo 2 (2017), 23–43. 48 Vgl. [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4]. 49 Vgl. Dieter Kliche: »Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein« – Über einen Fund aus der Frühgeschichte der Ästhetik im Werner-Krauss-Archiv, in: Genuß und Egoismus – Zur Kritik ihrer geschichtlichen Verknüpfung, hg. von Wolfgang Klein und Ernst Müller, Berlin 2002, 54–65. 50 Nannini: Alexander G. Baumgarten and the Lost Letters of Aletheophilus [Anm. 47], 25. 51 Vgl. ebd., 23–43. 52 Dagmar Mirbach und Andrea Allerkamp: Ale.theophilus Baumgarten/Wenn die Magd in den Brunnen fällt, in: Schönes Denken [Anm. 16], 317–340, hier 317 und 324. Der Artikel gliedert sich in zwei Abschnitte mit klar zugeordneter Autorinnenschaft: »Ale.theophilus Baumgarten« (Mirbach, 319–330), »Wenn die Magd in den Brunnen f ällt« (Allerkamp, 330–340). 53 Ebd., 321 f.

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Ethos einer Rede, das Aristoteles als eines der durch die Rede erzeugten Überzeugungsmittel festlegt. Mithilfe des Ethos, wie es die Rede hervorbringt, vermag der Redner zu überzeugen, indem er sich auf diese Weise selbst als klug, tugendhaft und wohlwollend inszeniert.54 Dazu dienen argumentative Topoi, genauer gesagt: loci a persona. Bereits in den antiken Progymnasmata finden sich dazu Übungspraktiken,55 durch die sich die Figur der Ethopoeia in der Rhetorik terminologisch prominent etabliert. Dem Frankfurter Kollegium erklärt Baumgarten sodann die besprochene Übung der Ethopoeia folgendermaßen 56: Wann ich z. B. meinen eigenen Lebenslauf, auch nur zu meiner eigenen Belustigung aufsetzen wollte, so würde ich mich zuerst fragen: wie reich ist er wohl, wie groß ist die Verwandtschaft, was für Veränderungen werden darin vorkommen, ferner wie wichtig sind sie, was für Wahrheit, was für Wahrscheinlichkeit, was für Lebhaftigkeit ist da? Wo muß ich das volle Licht hinsetzen? Wo soll ich rühren? Dies ist die besondere Topik, die wir bei den ersten Übungen vorschlagen.

Die loci a persona erzeugen den Effekt, dass eine extratextuelle Instanz, in der Regel mit dem Autor gleichgesetzt, spricht, während für diesen Effekt lediglich die Figu­ ration des Textes verantwortlich ist, was bei Baumgarten als ästhetisches Argument unter dem Terminus »Figur (ein schema)« 57 firmiert 58: »Here the ethopoeia […] is not produced by someone but rather produces itself«, beschreibt Frauke Berndt die metaleptische Struktur der Ethopoeia in Baumgartens Aesthetica. Diese Figuration liegt auch den Brieffen zugrunde, in denen Aletheophilus durch die Praktiken des Erzählens, des Briefverfassens und des Herausgebens zustande kommt. In dem Sinne hält bereits Allerkamp fest, dass »Subjektivierungspraktiken« in den Brieffen eine erkenntnistheoretische Funktion einnehmen,59 die eine simple Zweiteilung 54 Allgemein zur Ethopoeia vgl. die Zusammenfassung der Forschungsliteratur in Roland Spalinger: Ethopoeia – Charakterpraktiken zwischen Anthropologie und Rhetorik in J. J. Bodmers ›Criti­ schen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter‹ (1741), in: Johann Jacob Bodmers Praktiken [Anm. 1], 113–133. 55 Vgl. Ruth Webb: The ›Progymnasmata‹ as Practice, in: Education in Greek and Roman Antiquity, ed. by Yun Lee Too, Leiden/Boston/Köln 2001, 289–316; Christine Heusch: Die Achilles-Ethopoiie des Codex Salmasianus – Untersuchungen zu einer spätlateinischen Versdeklamation, Paderborn u. a. 1997. 56 [Alexander Gottlieb Baumgarten]: Kollegium über die Ästhetik, in: Bernhard Poppe: Alexander Gottlieb Baumgarten – Seine Bedeutung und Stellung in der Leibniz-Wolffischen Philosophie und seine Beziehungen zu Kant – Nebst Veröffentlichung einer bisher unbekannten Handschrift der Ästhetik Baumgartens, Borna-Leipzig 1907, 59–258, hier 140. 57 Baumgarten: Ästhetik [Anm. 11], 27 [§ 26]. »Pars cognitionis, in qua peculiaris detegitur elegantia, est FIGURA (schema)« (ebd., 26 [§ 26]). 58 Frauke Berndt: Facing Poetry – Alexander Gottlieb Baumgarten’s Theory of Literature, Berlin/ Boston 2020, 199. 59 Allerkamp in: Mirbach und Allerkamp: Ale.theophilus Baumgarten/Wenn die Magd in den Brunnen fällt [Anm. 52], 340.



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von Theorie und Praxis unterminieren60: »Der Gegenstand, den sie [die Brieffe: R. S.] zur Verhandlung stellen, wird befragt als Bestandteil einer sich konstituierenden Wissensordnung, deren Schauplätze und Dramatisierungen nicht verdeckt, sondern als Theorie und in der (Schreib-)Praxis sichtbar gemacht werden.« An dem Übergang zwischen Praxis und Theorie treten diejenigen Subjektivierungspraktiken auf, die den Gegenstand der Brieffe bilden. Denn Aletheophilus schreibt und sammelt philosophische Briefe, wie er in der Einleitung der Buchausgabe erzählt, lässt sie drucken und in 21 deutschen Städten wöchentlich vertreiben – und bringt eben dadurch sich selbst hervor. In der den 26 Stücken der Buchausgabe vorangestellten Einleitung wird die Figur der Ethopoeia – wie für die literarisierte Briefform, die insbesondere den Briefroman bestimmt, üblich61 – durch die Gedankenfigur der Apostrophe komplementiert 62: »Geehrter Leser!« bildet den Einstieg in den Text. Der apostrophierte Leser wird sogleich durch eine weitere Figur, die Dubitatio ausgestattet 63: »Du kennst meinen Nahmen sonder Zweiffel, glaubst aber nicht recht, daß es der rechte sey. Ich hab ihn in der That, und hoff ihn auch Lebenslang zu behaupten, ob ich ihn gleich nicht immer führe.« Der Eigenname ›Aletheophilus‹ avanciert bereits zu Beginn zum zentralen Gegenstand der Einleitung. Dem Zweifel begegnet der ›Wahrheit- und Gott-Liebende‹ mit seiner Genea­ logie, die ihn glaubhaft machen soll64: Mein Geschlecht ist alt und weitläufftig. Einige meiner Verwandten, die an der Genealogie Belieben finden, sind unsere Vorfahren über 5000 Jahre hinauff herzuzehlen, im Stande. Ja die Wurtzel unsers Stammbaums verlieret sich in den ältesten Theogonien. Schon vor Deukaleon ist unser Hauß unter dem Nahmen Bne Haemeth bekannt gewesen. Aus sichern Urkunden erhellt, daß kein einiger davon in der Sündfluth ertruncken. So wenig ein Frey-Mäurer an dem Babylonischen Thurn Hand geleget, eben so wenig hat sich einer von denen unsrigen daran vergriffen.

Ganz im Geist der moralischen Wochenschriften stellt sich Aletheophilus seinem Publikum vor und erzählt die Genealogie seiner Verwandtschaft. Seine Strategie setzt dabei aber gerade nicht auf eine historische Wahrheit, da er sich und seine Genealogie durch die Welt der Dichter (»mundu[s] poetarum«65) und somit durch die poetische Fiktion konstituiert, deren ästhetische Wahrheit das literarische Archiv absichert66: 60 Ebd.,

330. Vgl. Sebastian Meixner: Narratologie und Epistemologie – Studien zu Goethes frühen Erzählungen, Berlin/Boston 2019, 147–173. 62 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], [2r]. 63 Ebd. 64 Ebd. [Hervorh. im Original]. 65 Baumgarten: Ästhetik [Anm. 11], 490 [§ 513] [Hervorh. im Original]. 66 Berndt: Facing Poetry [Anm. 58], 166; vgl. Frauke Berndt: Mundus poetarum – A. G. Baumgartens Fiktionstheorie, in: Komplexität und Einfachheit – DFG-Symposion 2015, hg. von Albrecht Koschorke, Stuttgart 2017, 316–338. 61

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»The truth of poetic fiction is thus not anchored in the actual world or in the poetic world but rather in the literary encyclopedia.« Die griechischen Theogonien, die bis hinter die Deukalionische Flut zurückreichen, kombiniert er mit einem hebräischen Familiennamen (›Bne Haemeth‹ = ›Sohn der Wahrheit‹), was – aus einer logischen Perspektive – schlicht deshalb nicht aufgeht, da Deukalion und Pyrrah dem Mythos gemäß die einzigen Überlebenden der Deukalionischen Flut sind. Menschen mit hebräischen Familiennamen überleben im Deukalion-Mythos die Sintflut nicht. Geschickt überlagert Aletheophilus jedoch die Deukalionische Flut mit der ›Sündfluth‹ und damit die griechische mit der hebräischen Mythologie, zu deren Narrativ er mit dem Turmbau zu Babel unbeschwert hinüberwechselt. Per analogiam (›so wenig, eben so wenig‹) veranschaulicht er die ›Unschuld‹ seines Geschlechts. Obwohl damit eine historische Wahrheit mehrfach hintertrieben wird, so gelingt es Aletheophilus, seine Ethopoeia durch das literarische Archiv zu legitimieren. V. Freundschaft und Verwandtschaft lesen: Aletheophilus’ Prüfstein

Aletheophilus fährt fort und erzählt weiter von seinem Geschlecht, das mittlerweile über die ganze Welt verteilt lebe, sich unter allen »Völckern und Zungen« ausgebreitet habe und sich an die jeweiligen Kulturen und Sprachen assimiliere 67: Um nirgend als Fremdlinge verhast zu seyn, legen wir uns nunmehr auf die Sprache des Landes, in dem wir leben, geben uns auch solche Nahmen, die in denen Ohren unserer Nachtbaren nicht fremd oder widrig seyn. Ich selbst führe gewöhnlich einen, der so rein deutsch klinget, als Mäurer, Baumann oder Zimmermann.

Natürlich könnte man jetzt in dieser Namensgebung eine Paronomasie zu Baumgarten sehen, wie das die Forschung auch getan hat,68 und Aletheophilus wiederum als Pseudonym lesen,69 dessen »wahre Identität« Baumgarten entspricht.70 Obwohl sich in einer Art Vexierspiel auf verschiedene Weisen der Name Aletheophilus mit dem Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten in Verbindung bringen lässt,71 so kommt eine genaue Lektüre gerade zum gegenteiligen Ergebnis: Aletheophilus gibt sich das Pseudonym eines ›gewöhnlich klingenden‹ Namens, und nicht Baumgarten sich dasjenige eines ›fremd‹ klingenden. Aletheophilus wäre somit kein Pseudonym Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], [2v]. Kliche: »Ich glaube selbst Engel können nicht ohne Sinnlichkeit sein« [Anm. 49], 60. 69 Vgl. Nannini: Alexander G. Baumgarten and the Lost Letters of Aletheophilus [Anm. 47], 24. Aletheophilus als Pseudonym für Baumgarten schafft es sogar in den Index pseudonymorum von 1856 (vgl. Emil Weller: Index pseudonymorum – Wörterbuch der Pseudonymen oder Verzeichniss aller Autoren, die sich falscher Namen bedienten, Leipzig 1856, 4). 70 Mirbach in: Mirbach und Allerkamp: Ale.theophilus Baumgarten/Wenn die Magd in den Brunnen fällt [Anm. 52], 324. 71 Vgl. ebd., 322–330; Nannini: Alexander G. Baumgarten and the Lost Letters of Aletheophilus [Anm. 47], 26. 67 [Baumgarten]: 68 Vgl.



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für Baumgarten, sondern umgekehrt: Baumgarten eines für Aletheophilus. Ob nun an dem extratextuellen Bezug festgehalten wird oder nicht, verwendet Aletheophilus für die moralische Wochenschrift anstelle seines deutschen Pseudonyms seinen ›richtigen‹ Namen, »den griechischen Nahmen [s]einer Vorfahren«.72 In der Diaspora findet sich die Gemeinschaft der Aletheophilen jedoch in erheblichen Schwierigkeiten wieder. Eine erste Herausforderung besteht in ihrer gegenseitigen Identifikation. Sie verwenden ein Erkennungssystem, das es durch »Wahrzeichen« erlaubt, eine Person »als Verwandten [zu] erkennen«, ja sogar »die Stuffen der Verwandschafft«.73 Erkennungszeichen lösen das Problem aber nicht gänzlich, denn die Zeichen erweisen sich als nur sehr schwer lesbar 74: »Doch sind diese gröstentheils nicht einmahl allen derer Unsrigen bekant.« Wie gut eine Person die Zeichen der Aletheophilen zu lesen vermag, legt unter ihnen gar eine Art Altershierarchie fest 75: »Dahero ehret man insgemein das Alter, so rechnen wir es nach der Kenntniß, die einer von diesen Merckmahlen erlanget. Wer sie unter uns guth inne hat, den halten wir für alt, wer sie nicht verstehet, kan bey uns ein Kind bleiben, und wenn er schon graue Haare trüge.« Eine zweite Herausforderung besteht darin, dass sich Personen von außen als Aletheophile ausgeben und diese ›Merkmale‹ – freilich ohne sie zu verstehen – nachahmen, um sodann als Heiratsschwindler »Heyraths-Guth« zu erschleichen.76 Sie nennen »sich Aletheos, Veramanten oder mit andern Nahmen«,77 wodurch sie von den ›richtigen‹ Aletheophilen schon fast ununterscheidbar werden78: »Manche darunter wissen das meiste, was unser Geschlecht sonst besonders hatte, so künstlich nachzuahmen, daß kaum die geübtesten unserer Greise das wahre vom falschen unterscheiden.« Kurzum: Weil sich die Aletheophilen dazu berufen fühlen, ›ihre‹ Frauen vor ›Fremden‹ abzugrenzen, benötigen sie eine Semiotik, die ›wahre‹ von ›falschen‹ Aletheophilen unterscheidet. Einen Aletheophilen als Aletheophilen zu erkennen, birgt also erhebliche hermeneutische Schwierigkeiten. Die Lösung, die Aletheophilus bereit hat, ist ein ›ererbter Prüfe-Stein‹, mit dem er den Verwandtschaftsgrad zu validieren vermag 79: Mir ist in dieser Absicht ein ererbter Prüfe-Stein unschätzbar. Unterscheiden sonst solche Steine die Güthe des Metalls, das darauf gestrichen wird, so zeigt mir dieser an ähnlichen Farben, wenn ich ihn unter dem Hören oder Lesen zu Rathe ziehe, ob und wie nahe, der da redet oder schreibt, zu meiner Verwandschafft gehöre.

Der Prüfstein (lapis lydius) steht in der Aesthetica als Metapher für das sinnliche Urteil und den zarten Geschmack, der Grobheiten in der ästhetischen Wahrheit auf72 [Baumgarten]: 73 Ebd.,

[3r].

74 Ebd. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Ebd., 79 Ebd.

[3v].

Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], [2v].

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spürt.80 Dieses sinnliche Urteil wendet Aletheophilus auf die ›Farben‹ einer Rede an, wodurch er den Charakter zu lesen vermag. Dass die ›Farben‹ einer Rede oder Schrift den Charakter lesbar machen, analysiert Baumgarten ebenfalls in seiner Aesthetica.81 Die colores aesthetici drücken »die Sitten und die sittlichen Charaktere von Personen, Völkern usw.« aus,82 weswegen Baumgarten beispielsweise mittels der Farben in den Carmina sowohl das Ethos literarischer Figuren wie auch Horaz’ Ethos selbst ableitet.83 Das sinnliche Urteil über den Charakter mittels Farblektüre sichert die »Gemeinschafft« und den Austausch unter den Aletheophilen ab.84 Gemeinsam versuchen sie so, die »Schminke« von der wahren Schönheit zu unterscheiden. Doch nicht nur die Herkunft und Verwandtschaft sind verantwortlich für die Fähigkeit zum ästhetischen Urteil: Ein »Freundschaffts-Band«, das »durch einen starcken Briefwechsel« zustande kommt, ermöglicht die Urteilsfindung in der Gemeinschaft der Aletheophilen.85 Dass diese Gemeinschaft nicht einfach auf eine ›Blutsbande‹ beschränkt bleibt, sondern auch mittels des Freundschaftsbands der Brieffe konstituiert wird, hält Ale­ theophilus in seiner Einleitung abschließend fest. Nachdem seine Verwandtschaft erfährt, dass er sich mit Philosophie auseinandersetzt, schlägt sich dies in ihrem Briefverkehr nieder, deren Inhalt fortan aus Fragen und Antworten zu philosophischen Themen besteht. Nach einiger Zeit, so erzählt Aletheophilus, hat er »einen guten Vorrath philosophischer Brieffe gesammlet«, von denen er ausgewählte Exemplare »jetzt dem Druck übergeben« hat.86 Als Grund für die Publikation gibt er an, dass die Briefe so »mehrern derer Meinigen nützlich oder angenehm seyn könnten, als an den sie geschrieben«.87 Die ›Meinigen‹, die mit Aletheophilus den Briefwechsel des Freundschaftsbands aufstellen, will er mit der die Einleitung schließenden Apostrophe erweitern, indem er die Leser auffordert, sich in den Briefverkehr einzuklinken und ihm Feedback zu geben. Eine verwandtschaftliche Freundschaft soll durch die philosophischen Briefe generiert, reflektiert und korrigiert werden88: Also wird es in wenigen Wochen, auf Dich, Geehrter Leser, ankommen, was ich schreiben soll. Bin ich zu ernsthafft, oder zu lustig, zu theoretisch oder zu practisch, zu leicht oder zu schwehr: wie leicht könnten ein paar Zeilen von Dir, Du seyest, wer du wollest, mich lustiger oder ernsthaffter, schwerer oder leichter machen, und aus der Ontologie in die Politic, aus der Kunst zu lieben in die philosophische Algebra versetzen? Lebe wohl! Baumgarten: Ästhetik [Anm. 11], 526–528 [§ 552]. ebd., 682–698 [§§ 688–703], bes. 692 [§ 698]. 82 »moribus characteribusque personarum, nationum, e. c.« (ebd., 692 f. [§ 698]). 83 Vgl. ebd., 692–694 [§§ 699 f.]. 84 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], [3v]. 85 Ebd. Zum Verhältnis von Mündlichkeit und Briefgenre vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr [Anm. 8], 190–196. 86 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], [4 r]. 87 Ebd. 88 Ebd. 80 Vgl. 81 Vgl.



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Die ›Zeilen‹ der Leser, so verspricht Aletheophilus, würden ihn, sein Ethos und sein Schreiben steuern und auch thematischen Einfluss nehmen können. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass durch die Briefe ein Freundschaftsband zustande kommt, was Aletheophilus mit seinem Prüfstein feststellen will. Dass diese auf dem Briefverkehr basierenden Freundschaftspraktiken ganz unterschiedlich ausfallen können, zeige ich abschließend an zwei Fallbeispielen, welche die Praktiken der Freundschaft erzeugen, reflektieren und korrigieren. A. Praktiken der Freundschaft: Fallbeispiel I

Nachdem Aletheophilus in den ersten drei Briefen seine Position zum Wolffianismus darstellt (erster Brief ), sein philosophisches Programm und insbesondere die Rolle der Ästhetik in diesem Programm vorstellt (zweiter Brief ) sowie die Ethik des Philosophierens reflektiert (dritter Brief ),89 wendet sich mit dem vierten Brief ein Leser an ihn. Durch das Schreiben des Lesers und das Antwortschreiben von Aletheophilus vollziehen sich Praktiken der Freundschaft, welche die zwei Briefschreiber zudem reflektieren und korrigieren. »Hochgeehrter Freund!«,90 adressiert er Aletheophilus. Dass die Positionen von Verfasser und Leser sich austauschen, also die Ethopoeia zur Apostrophe wird und umgekehrt, ist bis in die Materialität der Darstellung markiert: Anstelle der Kommata sind Virgeln gesetzt. Auch in Wortwahl, Satzstellung, der Schreibweise von Fachtermini sowie Fremdwörtern und allgemein im Stil findet sich in diesem Brief ein neues Ethos wieder. Ein ›Ich‹ stellt sich vor und wechselt nach diesen zeichenhaften Praktiken der Freundschaft sogleich zu der Reflexion und der Korrektur dieser Freundschaftspraktiken über 91: »Ich / Dein sichrer Leser / habe den gedruckten Brief von Dir an mich erhalten / danke Dir dafür / gratulire zu Deinem Vorsatz aufrichtig / und wünsche guten Succes.« Den ›starcken‹ Briefwechsel, der das Freundschaftsband erzeugt, reflektiert das ›Ich‹ gleich im zweiten Satz92: »Willst Du meine Briefe zu denen beantwortlichen zelen / von denen Du schreibst / so will ich Dir öffter etwas zuschicken.« Die Reflexionen über die Briefe gipfeln in der Befürchtung, dass sie eine Lektüre veranlassen, die darauf ausgelegt ist, Aletheophilus zu ›entschlüsseln‹. Dass gegen die Schlüssellektüre aber nichts zu machen ist, sieht das ›Ich‹ selbst ein und rät schlicht93: »Nihilominus scribe feliciter!«, schreibe trotzdem glücklich weiter. Nach den Reflexionen erlaubt sich das ›Ich‹ – »nach dem Recht unsrer Verwandschaft« 94 – Korrekturen am Ethos des Aletheophilus. Dazu stellt das ›Ich‹ 89 Eine knappe Inhaltszusammenfassung der Brieffe liefert Mirbach in: Mirbach und Allerkamp: Ale.theophilus Baumgarten/Wenn die Magd in den Brunnen fällt [Anm. 52], 319–322. 90 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], 13. 91 Ebd. [Hervorh. im Original]. 92 Ebd. 93 Ebd. [Hervorh. im Original]. 94 Ebd.

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zehn »kurtze Gesetze« auf,95 mit dem Ziel, die künftigen philosophischen Briefe verbessern zu helfen. Das erste Gebot bezieht sich auf das Sprechen über Gott96: »Schreib von GOtt und göttligen Dingen gar nicht / oder ehrerbietig / und nicht / wie einige starke Geister der neuern Welt / mit denen man Kirch-Thüren aufrennen mögte«, rät es, da ansonsten aus Aletheophilus sehr schnell ein »Alethophilus« ohne ›theos‹ wird. Mit dem zweiten Punkt stehen die Charakterdarstellungen der moralischen Wochenschrift zur Debatte. Wenn Aletheophilus »moralische materien« abhandelt,97 soll er dies anhand von theophrastischen ethischen Charakteren tun, damit lediglich Typen und nicht einzelne Personen kritisiert werden.98 Am Ende führt Aletheophilus zudem mit dem neunten Punkt die Ratschläge auf, sich auch aus dem üblichen Gebiet der Philosophie hinauszuwagen und »eine kleine Excursion« in die »benachtbarten Felder der philosophischen Historie und so genannter schöner Wißenschaften« zu machen.99 Der letzte Punkt zielt sodann auf Aletheophilus als Herausgeber der Brieffe ab100: »Sorge für Vorrath auf den Nothfall und dürre Stunden. Lebe wohl.« Das Freundschaftsband stellt sich mit dem Briefwechsel tatsächlich ein. Die Anrede, die Aletheophilus in seinem als Antwortbrief inszenierten fünften Schreiben wählt, besteht in der Figur der Aemulatio, die für die vertraulichere gute Freundschaft, die ›familiaritas‹ verantwortlich ist und Verwandtschaft in Abhängigkeit zu Freundschaft und nicht Herkunft stellt, wie Baumgarten in seiner Ethica argumentiert101: »Hochgeehrtester Freund!« adressiert er den Verfasser des vorherigen Schreibens, ahmt ihn damit nach und überbietet ihn gleichzeitig durch den Superlativ gar. Die Aemulatio bestätigt er dann auch gleich mit dem ersten Satz102: »Bei Durchlesung Deines werthesten Schreibens hat mir mein Prüfe-Stein Dich, als einen echten Bruder in der Warheit gezeigt, und bin ich Dir um so vielmehr verbunden, da Du meinen Brief an Dich nicht nur lesen, sondern auch beantworten wollen.« Die durch den Prüfstein als ›echt‹ erkannten Praktiken der Freundschaft schließt Aletheophilus mit einem christlichen Erbauungskonzept kurz, indem er 95 Ebd.,

14. 13. 97 Ebd. [Hervorh. im Original]. 98 Vgl. Theophrast: Charaktere – Griechisch/Deutsch, hg. von Karsten Wilkens, Ditzingen 2022. Zu den Charakteren in den moralischen Wochenschriften vgl. Ute Schneider: Der Moralische Charakter – Ein Mittel aufklärerischer Menschendarstellung in den frühen deutschen Wochenschriften, Stuttgart 1976. Allgemein zur Rolle von Theophrasts Charaktere vgl. Sandra Richter: Charakter und Figur – Charakterologie im Ausgang von der Rezeption des Theophrast von Eresos bis zu Christoph Martin Wielands ›Abderiten‹ (1781), in: Medizinische Schreibweisen – Ausdifferenzierung und Transfer zwischen Medizin und Literatur (1600–1900), hg. von Nicolas Pethes und Sandra Richter, Tübingen 2008, 145–169; J. W. Smeed: The Theophrastan ›Character‹ – The History of a Literary Genre, Oxford/New York 1985. 99 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], 14 [Hervorh. im Original]. 100 Ebd. 101 Ebd. 102 Ebd. 96 Ebd.,



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die Freundschaftsform der familiaritas hin zu einer christlich konnotierten Gemeinschaftserstellung (›Bruder in der Warheit‹) verschiebt. Die leise Kritik in der Anrede des vorhergegangenen Schreibens – ›Alethophilus‹ mit einem ›e‹ weniger, also ohne ›theos‹ – hintertreibt er also dadurch, dass er die Praktiken der Freundschaft in seinen vermeintlich atheistischen Briefen als ein der christlichen Erbauung analoges Geschäft entlarvt. Diese ›Verbindung in der Wahrheit‹ steigert zudem der versprochene ›starcke‹ Briefwechsel, der durch ›Lesen‹ und ›Beantworten‹ der Briefe zustande kommt. Nach dieser Freundschaftsbezeugung wechselt Aletheophilus sogleich zu den Reflexionen und Korrekturen dieser Praktiken der Freundschaft über103: Deine Besorgniß meiner Entdeckung nehme für ein Zeichen an, daß Du mich liebst, so wie Du Dich als einen Verwandten darin beweisest, daß Du weniger daran zu denken scheinest: wer ich sey: als daran: was ich sagen werde.

Gerade nicht die Aufdeckung, dass es sich bei Aletheophilus um ein Pseudonym handle (›wer ich sey‹) steht im Zentrum der Praktiken der Freundschaft, sondern die zeichenbasierten Handlungen, die von der Liebe zeugen (›was ich sagen werde‹). Dass der Leser das eingesehen hat, macht ihn zu einem Verwandten. Und deshalb ist es auch nicht wesentlich, wer hinter dem ›Ich‹ des vorhergehenden Schreibens steht, vielmehr erhalten die Korrekturvorschläge Gewicht104: »Drum will ich auch nicht sehr bitten, mir das erste von Dir zu sagen [wer Du bist: R. S.], ob ich Dich wohl gern genauer kennen mögte. Deine kurtze Gesetze, die mit allem Danck erkenne, machen mir Hoffnung, daß Du mir auch ferner guten Rath geben könnest.« Die gegenseitigen Vervollkommnungen durch zeichenförmige Handlungen, d. h. die Praktiken der Freundschaft nehmen die zentrale Position ein – eine Schlüssellektüre der Briefe mag zwar spannend sein, wie Aletheophilus selbst eingesteht, an den Praktiken der Freundschaft zielen sie aber vorbei. Nachdem Aletheophilus mit seinem Brief also die Praktiken der Freundschaft installiert und reflektiert hat, wendet er sich den Korrekturvorschlägen zu. Das erste Gesetz – auch wenn bereits implizit beantwortet – nimmt er dankend an. Das zweite hingegen, dass nicht Menschen, sondern Charaktertypen moralisch kritisiert werden sollen, scheint ihm nicht umsetzbar, da es unmöglich sei, »von wirckligen Lastern zu reden, ohne Fehler einzeler Leute zu berüren«.105 Obwohl er verspricht, »[n]iemand nach seinen besonderen Umständen so [zu] beschreiben, daß man mit Recht sagen könne: Der ist gemeint«,106 so werden wohl trotzdem einzelne Menschen nach den kritisierten allgemeinen Charaktertypen beurteilt. Das neunte Gesetz, dass er sich den schönen Künsten widmen soll, begeistert Ale­ theophilus natürlich107: 103 Ebd. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd., 107 Ebd.

15.

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Im Vertrauen. Ich gehöre zu denen philosophischen Sonderlingen, die einen großen Theil derer von manchem Philosophen und Mathematikus nicht ungestrafft verachteten schönen Wissenschafften, als ein eigentliges Antheil der Philosophie, ansehen, deren Bothmäßigkeit sie nur eine Zeitlang entrißen, die sie aber mit der Zeit schon wieder in Besitz nehmen wird.

Die Ästhetik – da geht Aletheophilus sogar weiter als die Korrekturvorschläge – ist nicht nur ein Exkurs der Philosophie, sondern wesentlicher Teil von ihr. Das zehnte Gebot nutzt Aletheophilus abschließend, um den ›starcken‹ Briefwechsel zwischen ihnen zu steigern108: »An Vorrath endlich wird mirs so leicht nicht fehlen, so lang ich meinen Brief-Schrank behalte, und so brave Leute, als Du bist, an mich denken. Thue dieses ferner und lebe wohl.« B. Praktiken der Freundschaft: Fallbeispiel II

Selbstverständlich können die Praktiken der Freundschaft auch fehlgehen. Mit Blick auf die performative Funktion der Briefe lassen sich der sechste und der siebte Brief beinahe als Parodie auf die zwei vorangehenden lesen. Hier wendet sich ein Leser an Aletheophilus und will den ›echten‹ Namen von Aletheophilus herausfinden. Die ethischen Praktiken, welche die Brieffe organisieren und motivieren, übersieht er großzügig. Bereits die Anrede – »Mein guter Alethophile«109 – zeugt nicht von einer durchdachten Differenzierung von ›Aletheophilus‹ und ›Alethophilus‹. Vielmehr versucht sich »Curiosus Heurica«110 an einer Schlüssellektüre, welche die Briefe aber sogleich ad absurdum führen111: »Wenns Ihr Ernst gewesen / nicht bekannt zu seyn / so hätten Sie Sich einen andern Nahmen suchen sollen«, beginnt Curiosus Heurica und versucht Aletheophilus als ein Mitglied der von Graf Manteuffel, Ambrosius Haude und Johann Gustav Reinbeck geleiteten Leipziger Gesellschaft der Alethophilen zu entlarven.112 Denn mit seinem – freilich falsch gelesenen! – Namen, da ist sich Curiosus Heurica sicher, sei Aletheophilus Mitglied in dieser Gesellschaft113: Ihre Gesellschaft ist viel zu klein / als daß man nicht bald errathen sollte / wer Sie sind. Die meisten Mitglieder weiß ich schon. Wenn ich nur noch etwas heraus habe / so sind Sie wenigstens mir verrathen und mögen mir nur gute Worte geben / daß ich Sie nicht öffentlig bei Ihrem deutschen Nahmen nenne. 108 Ebd. 109 Ebd.,

16. Ebd. [Hervorh. im Original]. 111 Ebd. 112 Zu der sich nach der Wolff ’schen und Leibniz’schen Philosophie orientierenden Gesellschaft der Alethophilen vgl. Detlef Döring: Beiträge zur Geschichte der Gesellschaft der Alethophilen in Leipzig, in: Gelehrte Gesellschaften im mitteldeutschen Raum (1650–1820) I, hg. von Detlef Döring und Kurt Nowak, Stuttgart/Leipzig 2000, 95–150. 113 [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], 16. 110



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Mit der Schlüssellektüre und der daraus resultierenden Drohung misslingen die Praktiken der Freundschaft natürlich deutlich. Auf das Element der Drohung von Curiosus Heurica folgt ein fast schon komisch wirkender Modus der Unbeholfenheit. Mit einem Rückverweis auf die Vorrede setzt er bei der Dubitatio an114: »Der Anfang Ihrer Vorrede ist bei mir so wahr / als er hätte seyn können.« Er zweifelt und versucht spöttisch über Aletheophilus’ Namen herzuziehen115: »Sie sind indeß in der That der / den Sie Sich nennen.« Weil er aber die für die Brieffe grund ­legende Textperformanz nicht versteht, schlägt der Spott auf Curiosus Heurica selbst zurück, der sich in der Figur der Dubitatio einer Apotheose von Aletheophilus gegenüberstellt: ›Sie sind der, den Sie Sich nennen‹ stellt Aletheophilus in eine Analogie mit demjenigen Gott, der sich im Exodus als »Ich bin der, der ich sein werde« bezeichnet.116 Der Zweifler steht auf einmal dem sich durch den Namen selbst hervorbringenden Gott gegenüber. Den Glauben, dass Aletheophilus Aletheophilus ist, versucht er aus den Büchern zu widerlegen117: »Meine gantze Bibliothek besteht aus pseudonymis, anonymis, pseudepigraphis, samt ihren Entdeckern. So bald ich den Verfaßer einer solchen Schrifft entzieffert / so hat sie für mir guten Friede.« Solange die Schlüssellektüre nicht beendet und das Rätsel um Aletheophilus gelüftet ist, verspricht er, weiterzulesen118: »Ich bin / bis ich Ihren rechten Nahmen weiß / Dero fleißiger Leser Curiosus Heurica.« In seinem Antwortschreiben zeigt sich Aletheophilus so oberflächlich freundlich wie hinterrücks bösartig 119: »Mein guter Hevrika«, beginnt er und schließt den Brief mit nur einem weiteren Satz ab120: »Wo Sie nicht bald andre Spuren finden, so wird, Sie noch lange zu seinem fleißigen Leser zu behalten, das Glück haben Ihr ergebener Aletheophilus.« Die ›anderen Spuren‹, die Aletheophilus Curiosus Heurica zu finden empfiehlt, sind freilich nicht die letzten Merkmale, die ihn als ein spezifisches Mitglied der Alethophilen enttarnen. Vielmehr ist ein anderes Lesen notwendig, um seine Namenspolitik zu verstehen und damit auch die Schlüssellektüre zu verabschieden. Bis es so weit ist, sind jedoch wohl noch mehrere Brieffe nötig, die sich gerade daran abarbeiten, diesen anderen Lesemodus zu installieren und durch ihre Textperformanz auf den Modus der Textperformanz aufmerksam zu machen. Und so endet Aletheophilus diesen Brief – was sonst bei keinem anderen Brief der Fall ist! – mit dem Hinweis, wo künftige Briefe erworben werden können121: »Diese Briefe werden wöchentlig ausgegeben: In Altona bei H. Korte [etc.]«. Damit sich zwischen Aletheophilus und Curiosus Heurica die familiaris einstellt, können nur die Brieffe helfen. 114

Ebd.

115 Ebd. 116

Ex 3,14. [Baumgarten]: Philosophische Brieffe von Aletheophilus [Anm. 4], 16 [Hervorh. im Original]. 118 Ebd. [Hervorh. im Original]. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Ebd. 117

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Roland Spalinger

* * * Praktiken der Freundschaft allgemein und insbesondere in der Form von Briefen nehmen im 18. Jahrhundert, wie die Forschung mehrfach bemerkt hat, eine zen­ trale Stellung ein.122 Obwohl das »Phänomen der ›freundschaftlichen Briefe‹« in den 1740er-Jahren in der Folge des zweiten halleschen Dichterkreises auf kam,123 noch dazu insbesondere durch Baumgarten-Schüler, ist die tragende Rolle von Baumgartens Ethica bzw. von seinen Brieffen bis anhin nicht in den Fokus der Forschung gerückt. Um so erstaunlicher mutet dies an, da Baumgarten nicht nur ein theoretisches Fundament für die Praktiken der Freundschaft festlegt, sondern zudem die ästhetische Validierung, derer Praktiken der Freundschaft bedürfen, in seiner moralischen Wochenschrift erprobt. Denn neben dem Habitus, seine Freude an der Vervollkommnung anderer (d. h. seine Liebe) durch zeichenförmige Handlungen zur Darstellung zu bringen, bedarf es zudem eines ästhetischen Urteils, das diese Zeichen interpretiert und bewertet. Für die Bewertung der Praktiken der Freundschaft ist der ›Prüfe-Stein‹ – als Metapher für das durch den Geschmack zustande kommende ästhetische Urteil – notwendig, der es erlaubt, die Liebe zu lesen.

122 Vgl. neben den grundlegenden Beobachtungen in Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr [Anm. 8] auch Semantik und Praktiken der Freundschaft im 18. Jahrhundert, hg. von Georg Stanitzek, Hannover 2022. 123 Moritz Ahrens: Die ›Freundschaftlichen Briefe‹ von 1746 – ein kooperatives Publikationsprojekt (mit einem bibliographischen Anhang zu ›freundschaftlichen Briefen‹ im 18. Jahrhundert), in: Das achtzehnte Jahrhundert – Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 42/1 (2018), 48–68, hier 48.

Anerkennungspraktiken in Lessings Kriegsdramen Luca Alexander Arens

I. Einleitung

Die Requisiten in Lessings Kriegsdramen sind ausgesprochen gewöhnlich: Schwerter, Briefe und Ringe gehören in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Standardrepertoire der dramatischen Aufführungspraxis. Ungewöhnlich ist erst ihre Verwendung: Ein Schwert wird zugleich Spielsache und Selbstmordwaffe, ein offensichtlich erbrochener Brief wird ungeöffnet zurückgegeben und ein einzigartiger Ring wird in dreifacher Ausführung vererbt. Im Folgenden werde ich zeigen, dass in diesen ungewöhnlichen Verwendungsweisen ganz gewöhnlicher Requisiten eine spezifisch dramatische Antwort auf die sozialphilosophische »Schlüsselproblematik«1 des späten 18. Jahrhunderts steckt. Wie können autonome Subjekte gegenseitige und gegenläufige Ansprüche formulieren, ohne dabei auf eine durch Geburt gegebene Hierarchie oder die gewaltsame Unterwerfung des Anderen zurückzufallen?2 Anerkennungstheorien beantworten diese Frage, indem sie den Fokus von Subjektivität auf Intersubjektivität verlagern und sowohl die Dynamik als auch die Konflikthaftigkeit sozialer Interaktion unterstreichen.3 Lessings Kriegsdramen erproben Anerkennungspraktiken, die nicht nur intersubjektiv, dyna­m isch und konflikthaft sind, sondern auch untrennbar mit den Körpern verbunden, die sie ausüben, mit den Räumen, in denen sie ausgeübt werden, und mit den Dingen, die ihre Ausübung erst ermöglichen. Nach einer dramentheoretischen und praxeologischen Verortung der Requisiten (II.) sollen im Folgenden drei Kriegsdramen im Hinblick auf ihre Anerkennungspraktiken untersucht werden. Wenn sich die Titelfigur des Trauerspiels Philotas (1759) ins eigene Schwert stürzt, um ihren Anspruch auf Anerkennung geltend zu machen, dann wird ein sozialer Konflikt in Dramenhandlung importiert und an sein tragisches Ende gebracht (III.). Unter dem »Unschädlichkeitsvorbehalt des Lustspiels«4 gelingt es den Figuren im Lustspiel Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück (1767), diesen Anerkennungskonflikt kooperativ zu wenden. Aus der Verwendung von Brief und Schuldschein entstehen Anerkennungspraktiken, in denen mehrere gleichberechtigte Aktanten ihre Ansprüche aneinander gewaltfrei Honneth: Anerkennung – eine europäische Ideengeschichte, Frankfurt a. M. 2018, 134. folgenden Beitrag wird für Begriffe das generische Geschlecht verwendet, bei historischen Personen wird gegendert. 3 Rahel Jaeggi und Robin Celikates: Sozialphilosophie – Eine Einführung, München 2017, 71. 4 Horst Turk: Handlung in Gesprächen oder Gespräch in Handlungen? – Zum Problem der Konfliktfähigkeit in Lessings Dramen, in: Streitkultur – Strategien des Überzeugens im Werk Lessings, hg. von Wolfram Mauser und Günter Saße, Tübingen 1993, 520–539, hier 529. 1 Axel 2 Im

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Luca Alexander Arens

zur Geltung bringen (IV.). Im dramatischen Gedicht Nathan der Weise (1779) werden die Bedingungen präsentiert, unter denen die Übertragung dieser Anerkennungspraktiken aus Parabel und Gebetbuch in die Welt der Rezipient*innen gelingen kann (V.). Denn Schwerter, Briefe und Ringe erlauben im Rahmen ihrer doppelten Referenz auf ›Bühne‹ und auf ›Welt‹ nicht nur die Übertragung der an ihnen ausgeführten Praktiken in Dramenhandlung. Vor allem in der metadramatischen Anlage Nathans des Weisen ermöglichen sie auch eine Rückübertragung der an ihnen entwickelten Anerkennungspraktiken in die Welt der Rezipient*innen. II. Requisiten und Anerkennungspraktiken

Requisiten sind ein wesentlicher Bestandteil des Dramentexts und referieren als solcher zum einen auf Welt (mimesis), dienen also »der mehr oder weniger stilisierenden oder konkretisierenden Nachahmung von Wirklichkeit«,5 und zum anderen auf Bühne 6: Denn der dramatische Text referiert im Medium der Schrift auf das Medium der Aufführung. Diese Aufführung meint nicht irgendeine reale Aufführung zu einem bestimmten Zeitpunkt und Ort von einer Regisseurin oder einem Regisseur, auch nicht eine ideale implizite Aufführung, die eine Autorin oder ein Autor vermeintlich intendiert, sondern ganz grundsätzlich eine Referenz des schriftlichen Textes auf den medialen Darstellungsapparat des Theaters.

Diese doppelte Referenz auf Welt ›und‹ Bühne ermöglicht das analytische Potenzial der Requisiten. Denn7: »no recognizable object arrives on stage innocent. Objects bring their own historical, cultural, and ideological baggage […] with them.« Teil dieses ›Ballasts‹ sind die sozialen Praktiken, in welche die Dinge in der Welt eingebunden sind und die sie in den »Schutzraum des Ästhetischen« 8 einführen, um sie dort zur Disposition zu stellen. Andreas Reckwitz versteht unter einer Praktik einen Nexus wissensabhängiger Verhaltensroutinen, der sowohl Körper mit einem spezifischen mobilisierbaren praktischen Wissen als eben auch ganz bestimmte Dinge voraussetzt, die vorhanden sein müssen, damit eine Praktik überhaupt erst entstehen kann und damit sie 5 Manfred Pfister: Das Drama – Theorie und Analyse, Stuttgart 112001, 358; vgl. zum Dingbegriff der Theatertheorie außerdem: Erika Fischer-Lichte: [Art.] Ding, in: Lexikon Theatertheorie, hg. von Erika Fischer-Lichte, Doris Koelsch und Matthias Warstat, Stuttgart/Weimar 22014, 73–76. 6 Lily Tonger-Erk: Das Drama als intermedialer Text – Eine systematische Skizze zur Funktion des Nebentextes, in: LiLi – Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 48 (2018), 421–444, hier 430. 7 Andrew Sofer: The Stage Life of Props, Ann Arbor 2003, 17. 8 Peter W. Marx: Zum Verhältnis von Drama und Theater – Wirklich? Nochmals?, in: Methoden der Theaterwissenschaft, hg. von Christopher Balme und Berenika Szymanski-Düll, Tübingen 2020, 353–370, hier 358.



Anerkennungspraktiken in Lessings Kriegsdramen319

vollziehbar und reproduzierbar bleibt.9 Als Bestandteile solcher Praktiken haben Requisiten nicht nur eine referenzielle Funktion, sondern ermöglichen, strukturieren und begrenzen den Spielraum von Handlungen und sind nicht selten Anlass des dramatischen Konflikts. Die Materialität der Requisiten ist wesentlich dafür verantwortlich, dass Handlungen aus der Welt in Dramenhandlung transformiert, d. h. erst entpragmatisiert und dann in einem neuen Interpretationszusammenhang repragmatisiert werden, ohne dabei ihren Bezug auf Welt einzubüßen. Für Lessings Kriegsdramen heißt das: kein Kampf ohne Schwert, keine Mitteilung ohne Brief, keine Bindung ohne Ring. An allen drei Beispielen, die im Folgenden zur Diskussion stehen, wird deutlich, dass Requisiten als Teil von Praktiken nicht bloß Dinge sind, sondern Aktanten mit Aufforderungscharakter. Freilich ohne unabhängig zu sein. Denn so wie Körper Dinge benötigen, benötigen auch Dinge Körper, die sich ihrer bedienen.10 Von Aktanten zu sprechen bedeutet, Handlungsmacht als notwendig verteilte agency zu begreifen. Wenn die Dramenhandlung ein Netzwerk verschiedener Aktanten voraussetzt, rücken Requisiten unweigerlich ins Zentrum des dramatischen Konflikts. Es drängt sich daher die Frage auf, inwiefern der dramatische Konflikt selbst als Konflikt um die rechte Verwendung von Requisiten verstanden werden kann? Diese Frage gewinnt vor allem dann an Dringlichkeit, wenn man den Blick von Praktiken im Allgemeinen auf Praktiken der Anerkennung im Besonderen lenkt. Denn bei der Darstellung ebendieser Praktiken geht es gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und gerade bei Lessing immer auch darum, wie aus dem »ästhetischen Schutzraum« des Dramas ein »praktisches Erprobungsfeld […] moralischer Formungsprozesse«11 werden kann. Und wegen ihrer Materialität sind Requisiten im Rahmen ihrer doppelten Referenz auf Bühne und auf Welt in besonderer Weise geeignet, diesen Übergang zu vermitteln. Bisher allerdings wurde weder Requisiten noch Dingen in Theorien der Anerkennung ausreichende Beachtung geschenkt. Obwohl etwa Axel Honneth zugesteht, dass »Anerkennung sozusagen […] sozial geronnene Materialität« ist, bezieht er sich dabei vor allem auf die »Körperlichkeit des Menschen und […] der sozialen Interaktion« sowie die »Struktur der materiellen Räume«.12 Und selbst diese ›physische Seite‹ der Anerkennung wird zwar in Interviews bekräftigt, spielt in Honneths Anerkennungstheorie sonst aber kaum eine Rolle. Diese Zurückhaltung gegenüber 9 Vgl. Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301; Andreas Reckwitz: Die Materialisierung der Kultur, in: Praxeologie – Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften, hg. von Friederike Elias et al., Boston/Berlin 2014, 13–29. 10 Vgl. Andreas Reckwitz: The Status of the ›Material‹ in Theories of Culture – From ›Social Structure‹ to ›Artefacts‹, in: Journal for the Theory of Social Behaviour 32/2 (2002), 195–217, hier 213 f. 11 Carolin Rocks: Ästhetisches ethos – Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und die Literaturwissenschaften, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaften 66/1 (2021), 69–96, hier 71. 12 Erneuerung der Kritik – Axel Honneth im Gespräch, hg. von Mauro Basaure, Jan Philipp Reemtsma und Rasmus Willig, Frankfurt a. M. 2009, 122 f.

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den Dingen hängt vor allem damit zusammen, dass die Konzeption von Sozialität in der Anerkennungstheorie im Anschluss an Habermas tendenziell immer noch ausschließlich als Interaktion zwischen Menschen unter der Bedingung physischer Kopräsenz verstanden wird.13 Dass diese Konzeption zu kurz greift, wird besonders daran augenfällig, dass sie die relative Stabilität sozialer Strukturen über die einzelne Interaktion hinaus nicht adäquat zu erklären vermag. Genau das wiederum verspricht ein praxeologischer Fokus auf Dinge zu leisten,14 der damit nicht nur für die Dramenanalyse, sondern auch für die Anerkennungstheorie produktiv werden kann. Die Dinge sind nämlich nicht nur Teil der intersubjektiven Konflikte, die sie ermöglichen, strukturieren und begrenzen, sondern überdauern diese außerdem. In ihrer konkreten Materialität ermöglichen sie dadurch die Wiederholung, Aufgabe oder Fortsetzung der an ihnen ausgetragenen Anerkennungskonflikte über deren zeitliche und räumliche Grenzen hinaus.15 III. Philotas’ Schwert

In Lessings 1758 veröffentlichtem Einakter Philotas. Ein Trauerspiel werden zwei Konfliktlösungspraktiken miteinander konfrontiert. Durch die nahezu zeitgleiche Gefangennahme der beiden Königssöhne bietet der Gefangenenaustausch zwei verfeindeten Parteien die Möglichkeit, einen dreijährigen Krieg kampflos zu beenden. Diesen Ausgang verhindert das Selbstopfer des Prinzen Philotas, das seiner Seite ermöglicht, einen Frieden zu ihren Bedingungen zu diktieren. Sozialphilosophisch wirft die Konfrontation dieser Konfliktlösungspraktiken vor allem zwei Fragen auf: Woran genau scheitert der kooperative Gefangenenaustausch? Und warum ist das Resultat dieses Scheiterns das agonistische Selbstopfer? Für die Beantwortung der ersten Frage ist entscheidend, dass Philotas’ Sturz ins eigene Schwert nicht nur strategische Gründe hat. Dahinter steht auch ein Bedürfnis, nicht länger als »verzärteltes Kind« behandelt, sondern als »Mann«, »Soldat« und »Held«16 anerkannt zu werden. Dieses dramatisch zugespitzte Bedürfnis nach Anerkennung hat die Forschung mehrheitlich auf den »juvenilen Narzissmus«17 der 13 Diese Anerkennungskonzeption liegt auch der Studie von Claudia Nitschke zugrunde: Anerkennung und Kalkül – Literarische Gerechtigkeitsentwürfe im gesellschaftlichen Umbruch (1773–1819), Paderborn 2020, zu Lessing vor allem 57–100. 14 Vgl. Hilmar Schäfer: Praxis als Wiederholung – Das Denken der Iterabilität und seine Konsequenzen für die Methodologie praxeologischer Forschung, in: Praxistheorie – Ein soziologisches Forschungsprogramm, hg. von Hilmar Schäfer, Bielefeld 2016, 137–162. 15 Vgl. Bruno Latour: On Interobjectivity, in: Mind, Culture, and Activity 3/4 (1996), 228–245, hier 239 f. 16 Gotthold Ephraim Lessing: Philotas, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden IV, hg. von Gunter Grimm, Frankfurt a. M. 1997, 9–35 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle P mit Seitenzahl in Klammern], hier 11, 20 und 29. 17 Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele – der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986, 147.



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Figur reduziert. Ein solch scharfer Psychologismus ist aber weder analytisch fruchtbar noch wird er einer Dramenhandlung gerecht, in deren Zentrum die »interpersonalen Beziehungen« stehen und es gerade »nicht um das Besondere, […] sondern um das Allgemeine«18 dessen geht, was Helmut J. Schneider die »Regressionsanfälligkeit von Auf klärung« genannt hat, »wie der Krieg sie manifest machte, wie sie aber nicht durch eine bestimmte politische Entscheidung oder einen individuellen Herrscher erschöpft war«19. Der Gefangenenaustausch mag grundsätzlich einem »Prinzip […] der Ver­stän­ di­g ung« 20 folgen, schließt mit Philotas aber einen seiner wichtigsten Aktanten von diesem Prinzip aus. Wenn der feindliche König Aridäus seinen Häftling um Freundschaft bittet, dann fordert er vor allem dessen umstandslose Fügung in die über seinen Kopf hinweg getroffene Entscheidung. Diese Zwangsdimension der Freundschaft in hierarchisch strukturierten Beziehungen erkennt Philtoas nicht nur in Aridäus’ »[h]ohnsprechende[r] Höf lichkeit« (P, 11). Er mobilisiert sie auch selbst, um den ihm untergebenen Soldaten Parmenio mit der Bitte um »Freundschaft« (25) gegen dessen Willen zum Komplizen seines »Bubenstück[s]« (26) zu machen. Die Effektivität dieser Strategie, Gehorsam durch Freundschaft zu schaffen, bringt der erfahrene Soldat in seiner Replik auf den Punkt: Ob ich will? Muß ich nicht? muß ich nicht? – Höre, Prinz, wenn du einmal König wirst, gieb dich nicht mit dem Befehlen ab. Befehlen ist ein unsicheres Mittel, befolgt zu werden. Wem du etwas recht schweres aufzulegen hast, mit dem mache es, wie du es itzt mit mir gemacht hast, und wenn er dir alsdenn seinen Gehorsam verweigert – Unmöglich! Er kann dir ihn nicht verweigern! (P, 25)

Dass dem gefangenen Prinzen diese Verweigerung dennoch gelingt, hängt wesentlich von der zentralen Requisite des Trauerspiels ab: Am Schwert verdichten sich nicht nur »der psychologische, der symbolisch-soziale, und schließlich der ästhetisch-reflexive« 21 Aspekt des Trauerspiels; ohne Schwert ist der »heroische Selbstmord im Frauenzelt«,22 der dadurch eingeleitet wird, dass Philotas sich »in ominös-zweideutiger Weise« 23 auf sein Schwert bezieht, schlichtweg nicht zu machen. Indem Philotas sein »[l]iebes Schwert« (P, 32) apostrophiert und darüber fantasiert, mit ihm allein zu sein, gewinnt es dieselbe »hostile agency« wie das Schwert des Aias in der antiken Vorlage von Lessings Trauerspiel durch die Verwendung des

18 Ebd.,

151. Helmut J. Schneider: Aufklärung der Tragödie – Lessings »Philotas«, in: Horizonte – Festschrift für Herbert Lehnert zum 65. Geburtstag, hg. von Hannelore Mundt, Egon Schwarz und William J. Lillyman, Tübingen 1990, 10–39, hier 38. 20 Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele [Anm. 17], 156. 21 Schneider: Aufklärung der Tragödie [Anm. 19], 32. 22 Hinrich Seeba: Die Liebe zur Sache – öffentliches und privates Interesse in Lessings Dramen, Tübingen 1971, 58. 23 Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele [Anm. 17], 146. 19

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nomen agentis (Sphageus).24 Wenn dann das Finale damit beginnt, dass Philotas sein Schwert zieht und ausruft, »seinen Freund und sein Schwert muß man nicht bloß von außen kennen« (33), koppelt er seine Forderung nach Anerkennung – formuliert als ein an Aridäus gerichteter Vorwurf der eigenen Verkennung – nicht ohne Grund unmittelbar an die Handlungsaufforderung des Schwertes: Mit dem Selbst­ opfer des Prinzen, das genau dieser Handlungsaufforderung nachkommt, wird das »heroische Requisit par excellence« 25 zum entscheidenden Aktanten einer Praktik, die den dramatischen Konflikt zum gewaltsamen Kampf um Anerkennung macht. Weil Philotas das Schwert seines Vaters im Zuge der Gefangennahme verlor, erhält er zu Beginn des achten Akts Ersatz aus Aridäus persönlichem Arsenal. Indem Philotas vorgibt, nicht gern »ohne dieses Kennzeichen des Soldaten, unter Soldaten [zu] erscheinen« (P, 31), reduziert er das Schwert erst zum bloßen Zeichen, nur um diese List sofort wieder zu kassieren, als er es in Händen hält: »Liebes Schwert! Welch eine schöne Sache ist ein Schwert, zum Spiel und zum Gebrauch!« (32 [Hervorh.: L. A.]). In seiner Funktion als Requisite erlaubt das fatale Geschenk Philotas zuerst, wild »um sich hauend« (33 [Hervorh. im Original]), den Moment seiner Gefangennahme als Spiel-im-Spiel zu re-inszenieren, um in seiner Funktion als Ding schließlich den veränderten Ausgang dieses Spieles in die Wirklichkeit der Diegese zu übertragen. Als Aridäus’ Leibwächter einzuschreiten droht, exklamiert Philotas »sich von ihm entfernend«: »Auch du, Strato? Auch du? […] Ich lache nur! Mich lebendig gefangen? Mich? – Eher will ich dieses mein Schwert, will ich – in diese meine Brust – eher – er durchsticht sich« (33 f. [Hervorh. im Original]). Die Figurenrede, die zu Beginn der Sequenz situatives Geschehen und dramatischen Kanon verwebt, wird an ihrem Ende brüchig, bevor die schmucklose, aber funktionale Syntax des Nebentexts sie ablöst. Die Differenz von Haupt- und Nebentext markiert hier einen materialiter nicht gedeckten Übergang von Requisite zu Ding und von Spiel zu Gebrauch.26 Die Handlungsmacht des Schwertes erschöpft sich nicht in defensivem »Widerstand«,27 sondern wird gerade dann offensiv, wenn der dramatische Konflikt zum offenen Kampf um Anerkennung wird: Wo Philotas ins Stocken gerät, wird die Handlungsaufforderung des Schwertes in der körperlosen Sprache des imperativen Nebentexts zum Handlungszwang.28 24 Melissa Mueller: Objetcs as Actors – Props and the Poetics of Performance in Greek Tragedy, Chicago 2016, 27. Die Parallelen zwischen Sophokles’ Aias und Lessings Trauerspiel diskutiert Gisbert Ter-Nedden: Philotas und Aias oder Der Kriegsheld im Gefangenendilemma – Lessings Sophokles-Modernisierung und die Lektüre durch Gleim, Bodmer und die Germanistik, in: »Krieg ist mein Lied« – Der Siebenjährige Krieg in den zeitgenössischen Medien, hg. von Wolfgang Adam und Holger Dainat, Göttingen 2007, 317–378. 25 Schneider: Aufklärung der Tragödie [Anm. 19], 32. 26 Vgl. dazu Tonger-Erk: Drama als intermedialer Text [Anm. 6], 421–444. 27 Thomas Macho: Souveräne Dinge, in: Archiv für Mediengeschichte VIII, hg. von Lorenz Engell, Bernhard Siegert und Joseph Vogl, Weimar 2009, 111–118, hier 111. 28 Vgl. Hilmar Schäfer: Die Instabilität der Praxis – Reproduktion und Transformation des Sozialen in der Praxistheorie, Weilerswist 2013, 285–289.



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Letztendlich scheitert die unblutige Alternative des Gefangenenaustausches nicht nur, weil sie die Möglichkeit reziproker Anerkennung auf die Interaktion souveräner Herrscher begrenzt, sondern eben auch an der Polyvalenz der Dinge, die sie als Praktik ausmachen. Das Geschenk, das die Privilegierung des Kriegsgefangenen anzeigen und seinen Aufstieg zum Soldaten vorbereiten soll, wird von Philotas nicht den formalen Konventionen und generischen Erwartungen des Gefangenenaustauschs entsprechend verwendet, sondern gemäß des eigenen Bedürfnisses nach Anerkennung und der Handlungsaufforderung des Schwertes. Philotas nutzt die Materialität der Requisite, die eben nie ein bloßes Zeichen ist, um sich mit dem Selbstopfer, dass das Schwert ihm erst ermöglicht und dann aufzwingt, die Anerkennung zu verschaffen, die ihm der Gefangenenaustausch versagt. Gattungsgemäß ist dieses Ende tragisch. Aber zumindest ex negativo wirft es trotzdem die Frage auf, ob die Dinge nicht auch dazu beitragen könnten, Anerkennungskonflikte zu lösen und Bedürfnisse nach Anerkennung zu befriedigen, ohne soziale Hierarchien und physische Gewalt zu reproduzieren. IV. Minnas Brief

Die Titelfigur der 1767 erschienenen Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. Ein Lustspiel fordert von dem preußischen Offizier Tellheim »die Haltung der Kapitulation«:29 Er soll endlich sein in Kriegszeiten gegebenes Heiratsversprechen einlösen. Seit Kriegsende hat Tellheim sein gesamtes Vermögen und die Kontrolle über seinen rechten Arm verloren, wurde unehrenhaft entlassen, von fast all seinen Dienern verlassen und steht wegen Hochverrats vor Gericht. Um zu verhindern, dass dieser soziale Abstieg auf seine verbliebenen Kontakte ausgreift, plant der geschasste Major, präventiv sämtliche Beziehungen zu kappen. Damit hat Tellheim ›die Haltung der Kapitulation‹ nicht nur längst eingenommen, bevor Minna diese von ihm fordern kann, sondern gibt sie als Forderung, den einseitig beschlossenen Kontaktabbruch zu akzeptieren, an sie zurück Das Lustspiel beginnt also damit, dass zwei Parteien die unbedingte Kapitulation der jeweils anderen vor der eigenen Entscheidung über die gemeinsame Beziehung fordern. In diesem Konflikt erweist sich »jeder Vorschlag zu Frieden und Ausgleich zugleich als ein Eingriff, ein Vorgriff, eine Zumutung an den anderen.« 30 Dementsprechend endet die erste Konfrontation der Hauptfiguren, indem Tellheim sich vom Griff seiner Verlobten losreißt und orientierungslos von der Bühne stürzt, während Minna im Delirium durch den Saal stolpert und den Gastwirt für ihr Kammerfräulein hält. Beide Fi29 Gotthold Ephraim Lessing: Minna von Barnhelm, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden VI, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, 9–110 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle M mit Seitenzahl in Klammern], hier 28. 30 Gerhard Bauer: Streitlust, Gewinnstrategien und Friedensbemühungen in Lessings Nachkriegs­ komödie, in: Streitkultur [Anm. 4], 166–175, hier 174.

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guren müssen lernen, ihre Ansprüche aneinander so zu stellen, dass sie damit nicht automatisch die Ansprüche des Gegenübers ausschließen. Wie im Philotas ist für die Lösung dieses dramatischen Konflikts eine Requisite entscheidend. An die Stelle des Schwertes tritt der Brief, genauer: der Privatbrief. Diese Alternative ist keineswegs beliebig. Denn in der Mitte des 18. Jahrhunderts steht der Brief im »Zentrum bürgerlicher Verkehrsformen und trägt exemplarisch deren Aporien aus«.31 Diese Prominenz macht sich nicht nur Lessing zunutze. Sein Lustspiel zeichnet allerdings aus, den Brief weder als Motiv noch als Plotdevice zu verwenden, sondern seine »hartnäckige Materialität«32 und »handgreifliche, manipulierbare Existenz«33 selbst zum Thema zu machen. Im Brief kommt »ein menschliches Verhältnis […] zu Wort«,34 das über die Materialität des Briefes interpretiert, affirmiert, abgelehnt oder verändert werden kann.35 So wird der Brief zum zentralen Aktanten einer Anerkennungspraktik, die den sozialen Antagonismus der ersten Begegnung zwischen Minna und Tellheim nicht nur überwindet, sondern kooperativ wendet. Tellheim reagiert auf den desaströsen Ausgang dieser Begegnung mit dem Wechsel zur Brief kommunikation. Der »Phasenverzug« des Briefes, der »die Alternation der Rollenträger […] verlangsamt« und so eine temporäre »kommunikative Asymmetrie zwischen Absender und Adressat«36 herstellt, erlaubt es dem ehemaligen Major, zusätzlich zur Form der Interaktion ihren Inhalt und ihre Richtung zu bestimmen, während seine Verlobte in Passivität und Rezeptivität gedrängt wird.37 Minna kontert, indem sie Tellheims Schreiben scheinbar ungelesen an ihn zurückstellt und sich damit dem »Zwang« der »symmetrische[n] Konventionen«38 des Privatbriefs entzieht, gelesen und beantwortet zu werden. Auf den ersten Blick wirkt ihre Verweigerung der Handlungsaufforderung des Privatbriefes wie die Fortsetzung des antagonistischen Anerkennungskonflikts mit Tellheim, nun eben »als Konfrontation nicht nur von zwei Personen, sondern auch von Brief und Dialog«.39 Dementsprechend fällt auch die Antwort des Offiziers auf ihre Forderung zu einer münd31 Alexander Honold: Pathos-Transport um 1800 – Modelle tragischer Bewegung in Theaterdiskurs und Briefkultur, in: Pathos – Zur Geschichte einer problematischen Kategorie, hg. von Cornelia Zumbusch, Berlin 2010, 99–116, hier 103. 32 Rainer Baasner: Stimme oder Schrift? – Materialität und Medialität des Briefs, in: Adressat – Nachwelt – Briefkultur und Ruhmbildung, hg. von Detlev Schöttker, Paderborn 2008, 53–69, hier 53. 33 Volker Klotz: Bühnen-Briefe – Kritiken und Essays zum Theater, Frankfurt a. M. 2016, 4. 34 Wilhelm Grenzmann: [Art.] Brief, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr, Berlin 21958, 186–193, hier 187. 35 Vgl. Thorsten Gabler: Epistolo/Graphie – Studien zur Skriptural-Aisthetik brieflicher Kommunikation im 19. Jahrhundert, Paderborn 2022. 36 Honold: Pathos-Transport [Anm. 31], 103. 37 Peter Bürgel: Der Privatbrief, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 50/1 (1976), 281–297, hier 286 f. 38 Baasner: Stimme oder Schrift? [Anm. 32], 64. 39 Johannes Anderegg: Schreibe mir oft! – Zum Medium Brief zwischen 1750 und 1830, Göttingen 2001, 24.



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lichen Aussprache aus: »da das Fräulein den Brief nicht gelesen hat, so habe ich […] nichts zu sagen« (M, 65). Allerdings stellt sich schnell heraus, dass Minnas Weigerung bloß vorgeblich ist. Denn indem Tellheim »den Brief umkehrt […], wird er gewahr, daß er erbrochen ist« (66). Damit steht der Major vor einem Dilemma: Wie soll er den offensichtlichen Widerspruch zwischen Botenbericht und Brief deuten? Ist das erbrochene Siegel Beweis einer List, die darauf abzielt, sich durch die verleugnete Kenntnis von Tellheims »Rechtfertigung« (65) einen strategischen Vorteil im »Streit um die rechte Beziehung«40 zu verschaffen? Dann wäre Tellheim formal darin gerechtfertigt, unter Verweis auf das »Reziprozitätsgesetz«41 des Briefes eine schriftliche Antwort einzufordern. Allerdings hieße das auch, die irritierend unzureichende Verdeckung der Briefintrige nicht nur zu ignorieren, sondern Minna zur Last zu legen. Indem Tellheim Minnas Gesprächseinladung ›trotz‹ des augenscheinlichen Widerspruchs annimmt, macht er diesen zu einem absichtsvollen Vertrauensvorschuss auf eine Art von Beziehung, die nicht länger auf die unbedingte Durchsetzung des eigenen Willens pocht. Entscheidend ist, dass dieser Vertrauensvorschuss nur reziprok zu realisieren ist: Minna räumt Tellheim ein Bestimmungsrecht über den weiteren Kurs der Interaktion nur deshalb ein, weil er es dazu nutzt, ihre Interessen umzusetzen. Das ist nicht länger die Forderung der Kapitulation, sondern ein Angebot zur Kooperation.42 Ausganspunkt dieses Angebots ist ein produktives Missverständnis, mit dem das Lustspiel eine historische Medienkonstellation aufgreift. Denn im Zuge der Empfindsamkeit werden Schreiber*innen durch die »in der Briefform prätendierte (Selbst-)Darstellung des ›natürlichen‹ Subjekts« zu potentiell »sympathetischen, immer schon auf den anderen positiv bezogenen Menschen«.43 Vor genau diesem Hintergrund rezipiert Minna Tellheims Rechtfertigungsbrief, der »alle die Gründe und Ursachen« (M, 65) seiner Verweigerung enthält, als Liebesbrief:44 »Sein Brief, o sein Brief! Jede Zeile sprach den ehrlichen, edlen Mann. Jede Weigerung, mich zu besitzen, beteuerte mir seine Liebe. – Er wird es wohl gemerkt haben, daß wir den Brief gelesen. – Mag er doch; wenn er nur kömmt. Er kömmt doch gewiß? –« (68). Durch Minnas Rezeption wird Tellheims Brief zum Vertrauensvorschuss, der ihren eigenen Vertrauensvorschuss ermöglicht. Dieses Potenzial des Briefes bedarf der Aktivierung in einem Netzwerk von Schreib-, Übertragungs- und Rezeptions40 Günter Saße: Der Streit um die rechte Beziehung – Zur ›verborgnen Organisation‹ von Lessings »Minna von Barnhelm«, in: Streitkultur [Anm. 4], 138–155. 41 Honold: Pathos-Transport [Anm. 31], 108. 42 Ein ähnliches Angebot macht Minna im 4. Akt dem Leutnant Riccaut. Vgl. dazu Dorothea von Mücke: Spiel und Glück in Lessings ›Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück‹, in: Sich selbst aufs Spiel setzen – Spiel als Technik und Medium von Subjektivierung, hg. von Regine Strätling und Christian Moser, München 2016, 51–66. 43 Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit – Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988, 79; vgl. außerdem Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr – Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. 44 Vgl. Anderegg: Schreibe mir oft! [Anm. 39], 32.

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praktiken, die seine formalen Konventionen und generischen Erwartungen nicht einfach reproduzieren, sondern erlauben, diese situativ zu adaptieren und neu zu interpretieren. So wiederholt etwa Minnas Vertrauensvorschuss die im Stück langsam enthüllte Gründungsszene ihrer Beziehung zu Tellheim mit vertauschten Rollen: In Kriegszeiten hatte der Major den sächsischen Ständen einen monetären Vorschuss aus seinem Privatvermögen gewährt, damit sie die preußischen Forderungen bedienen konnten, die er einzuholen hatte. Dieser Vertrauensvorschuss markierte den Übergang vom Krieg, in dem Preußen und Sachsen Feinde waren, zum Frieden, wo sie Mitbürger wurden. Allerdings hält die preußische Krone den Schuldschein, der diese neuartige Beziehung formalisiert, bis kurz vor Ende des Stückes für den Beweis von Tellheims Hochverrat. Damit gewinnt Minas Briefübergabe eine zusätzliche Dimension. Da Privatbrief und Schuldschein beide – wie der Nebentext verrät – »Briefschaften« (M, 20) sind, also die gleiche materiale Form haben, muss Tellheims Brief für Minna seinem Inhalt zum Trotz wie eine Bekräftigung des Bandes zwischen ihr und ihrem Verlobten wirken. Tellheim wiederum kann mit seiner Rezeption ›ihres‹ Briefes die ihn inkriminierende Rezeption seines Schuldbriefes durch die preußische Krone performativ zurückzuweisen. Tellheims Briefrezeption hat sogar noch ein weiteres Modell innerhalb der Dramenhandlung: Am Anfang des Stücks erhält der verabschiedete Major Besuch von der Witwe eines kürzlich verstorbenen Kameraden, die einen Kredit ihres Mannes zurückzahlen will. Tellheim aber beharrt darauf, keine Notiz über diesen Kredit zu besitzen. Die finanziell gebeutelte Witwe erkennt in der brüsken Zurückweisung ihres Angebots ein Angebot Tellheims an sie, dessen stillschweigende Annahme der Major dann in seiner Annahme von Minnas widersprüchlicher Gesprächseinladung kopieren wird. Wie Minnas Manipulation des Privatbriefs und Tellheims unkonventionelle, aber strategische Verwendung des Schuldscheins zeigen, ist es gerade die Materialität dieser Briefschaften, die es erlaubt, mit ihren generischen Erwartungen und formalen Konventionen auch die Anerkennungspraktiken, in die sie eingebunden sind, anzufechten und neu auszuhandeln. Gleichzeitig betont das Lustspiel die Ungewissheit einer Rezeption, in der ein und dasselbe Schriftstück grundlegend verschiedene Bedeutungen annehmen kann, ohne dass diese beliebig wären. Das wirft die Frage auf, inwiefern die an den Requisiten erprobten Anerkennungspraktiken auch über die Grenzen der Diegese hinaus reproduziert werden können. Auf der einen Seite erleichtert die materiale Referenz der Requisiten auf Welt diesen Übergang, auf der anderen erschwert ihn der Unschädlichkeitsvorbehalt des Lustspiels. V. Nathans Ring

Die gesellschaftliche Spannweite von Lessings Nathan der Weise. Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen (1779) reicht vom Herrscher über Händler, Beamte, Bedienstete, Ritter, Reitknechte und Laienbrüder bis zum Landstreicher. Wenn das fried-



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liche Zusammenleben all dieser Figuren auf dem Spiel steht, geht es nicht nur um »Toleranz im Sinne der Anerkennung des möglichen Wahrheitsgehalts der ›geduldeten‹ anderen Religionen«,45 sondern zwangsläufig auch um die sozialphilosophisch breitere Frage nach Anerkennung überhaupt.46 Zugespitzt wird diese Frage in der ersten Begegnung zwischen dem Herrscher Saladin und seinem geduldeten Untertan Nathan.47 Der chronisch klamme Despot versucht, sich über die »Fangfrage«48 nach der wahren Religion die erheblichen finanziellen Mittel des wohlhabenden Händlers anzueignen. Antwortete Nathan auf die Frage, indem er dem Judentum den Vorrang unter den drei Religionen einräumte, könnte Saladin das als Majestätsbeleidigung auffassen und monetäre Wiedergutmachung fordern. Privilegierte Nathan dagegen den Islam, beginge er die Sünde der Apostasie. Dieser Zwangslage entzieht sich Nathan mit der berühmten Ringparabel, deren Erfolg so groß ist, dass Saladin sich ihm zu Füßen wirft, die »Herrschaftsfrage«49 aufgibt und aus der rhetorisch invertierten Position des Untertanen um Nathans Freundschaft bittet. Aus freien Stücken bietet Nathan ihm dann beides, Freundschaft und Vermögen. Zentrales Requisit der Parabel ist ein opalbesetzter Ring, der die »geheime Kraft« besitzt »vor Gott / Und Menschen angenehm zu machen, wer / In dieser Zuversicht ihn [trägt]«.50 Problematisch wird die soziale Funktion des Rings in dem Moment, als diese sich zwar formal stabilisiert, aber gerade dadurch mit den Bedürfnissen ihres Besitzers kollidiert: So kam nun dieser Ring […] Auf einen Vater endlich von drei Söhnen; Die alle drei ihm gleich gehorsam waren, Die alle drei er folglich gleich zu lieben Sich nicht entbrechen konnte. […] Das ging nun so, so lang es ging. – Allein Es kam zum Sterben, und der gute Vater Kömmt in Verlegenheit. (N, 556)

45 Karl S. Guthke: Lessings Horizonte – Grenzen und Grenzenlosigkeit der Toleranz, Göttingen 2003, 14. 46 Vgl. Karl Eibl: Identitätskrise und Diskurs – Zur thematischen Kontinuität von Lessings Dramatik, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 21 (1977), 138–191, hier 185. 47 Vgl. zu Saladins ›Duldungspraxis‹ Andrea Albrecht: »Aufklärung für das kommende Jahrhundert«? – Lessing, Habermas und Derrida über Toleranz und Gastfreundschaft, in: Aufgeklärte Zeiten? – Religiöse Toleranz und Literatur, hg. von Romana Weiershausen, Insa Wilke und Nina Gülcher, Berlin 2011, 21–44, hier 25. 48 Helmut J. Schneider: Genealogie und Menschheitsfamilie – Dramaturgie der Humanität von Lessing bis Büchner, Berlin 2011, 157. 49 Ebd., 158. 50 Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise – Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden IX, hg. von Klaus Bohnen und Arno Schilson, Frankfurt a. M. 1993, 483–666 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle N mit Seitenzahl in Klammern], hier 556.

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Abhilfe schafft ein »Künstler« (N, 556), dem es gelingt, das einzigartige »Zauber­ requisit« 51 zu kopieren und damit zu entpragmatisieren. Weil die materiale Evidenz der drei identischen Ringe mit den formalen Konventionen des Ringes nicht zu vereinbaren ist, ziehen die Erben vor Gericht. Allerdings scheitert die empirische Identifikation des »Musterring[s]« (557), so dass der Richter den Brüdern von der Fortsetzung des Verfahrens abrät.52 So ließe sich zwar keine Gewissheit erhalten, aber zumindest das ihrer Klage zugrundeliegende Bedürfnis decken. Die Brüder verdächtigen sich nämlich nur deshalb gegenseitig, um den »lieben Vater« (558) vor dem Betrugsverdacht der anderen zu schützen. Und, wie der Richter ausführt, ließe sich dieser Verdacht auch dadurch ausräumen, die formalen Konventionen und generischen Erwartungen der Ringe so zu verändern, dass sie den aktuellen Bedürfnissen ihrer Träger entsprechen – und nicht umgekehrt. Das würde voraussetzen, die entpragmatisierten Ringe auf Grundlage der seit der Intervention des Künstlers an ihnen bereits durchgeführten Praktiken programmatisch zu repragmatisieren: dem Ringversprechen des Vaters, der Übergabe der Ringe an »jeden ins besondre« (557) und dem Schwur der Söhne, »Unmittelbar aus […] Vaters Hand / Den Ring zu haben« (558). Damit würde auch die soziale Funktion der Requisiten verändert: Anstelle der garantierten, aber erzwungenen Liebe des »[e]inen Rings« (559) träte die unsichere, aber »[v]on Vorurteilen freie[] Liebe« (ebd.) der drei Ringe. Weil dieser Ratschlag, mit dem die Parabel endet, auch an Saladin adressiert ist, wird er zum Vorschlag darüber, wie mit dem Bedürfnis nach sozialer Anerkennung umzugehen ist, das der Grund für die Verschwendungssucht des Sultans ist; dieses Bedürfnis diagnostiziert nämlich die Parabel über die »Tyrannei des Einen Rings« (ebd.). Saladins Freigiebigkeit kann das ihr zugrundeliegende Bedürfnis deshalb nicht befriedigen, weil Ausmaß und Häufigkeit seiner asymmetrischen Gaben eine Erwiderung unmöglich machen, deren Reziprozität unter dem Zwang einer Gabenökonomie ohnehin im Verdacht stünde, bloß Gehorsam zu sein.53 Explizit formuliert wäre diese Diagnose nicht nur wenig erfolgversprechend – »Wenn hat Saladin / Sich raten lassen?« (538) –, sondern außerdem auch Majestätsbeleidigung. Saladins Temperament und seine Bereitschaft zur Todesstrafe sind bekannt. Um Aussicht auf Erfolg zu haben, muss Nathan seinen Rat also entschärfen, indem er ihn entpragmatisiert. Die formalen Konventionen und generischen Erwartungen seines »Geschichtchen[s]« (555) lassen, im Gegensatz zu denen des Rates, eine Re51 Karl Eibl: Gotthold Ephraim Lessing – Nathan der Weise, in: Deutsche Dramen – Interpretationen zu Werken von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von Harro Müller-Michaels, Königstein 1981, 3–30, 18. 52 Vgl. Christine Weder: Ein manipulierter Versuch – Das Märchen vom Experiment in Lessings »Nathan« und die naturwissenschaftliche Methodenlehre der ›durch Fleiß hervorgebrachten‹ Erfahrung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 82/2 (2008), 237–261. 53 Vgl. Gisela Ecker: ›Giftige Gaben‹ – Über Tauschprozesse in der Literatur, München 2008, besonders 24–28.



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aktion zwar zu, setzen sie aber nicht zwangsläufig voraus. Eine wesentliche Pointe der Ringparabel besteht darin, dass der Rat zur zwangsbefreiten Interaktion nur in der Form zwangsbefreiter Interaktion überhaupt möglich wird. Diese Form stellt allerdings auch deutlich höhere Rezeptionsanforderungen. Denn sie erfordert, dass die Rezipient*innen den im Rat evidenten Bezug auf Welt selbst herstellen. Genau diesen Bezug auf Welt greift Saladin in der Mitte der Erzählung mit dem Verweis darauf an, dass die Religionen untereinander – und damit auch von den reduplizierten Ringen – »doch wohl zu unterscheiden wären« (N, 557)! Nathan wehrt diesen Einwand damit ab, dass er den Fokus von einer Wesensbeziehung zwischen Religionen und Ringen auf die Praktiken lenkt, die sie ermöglichen. Vor allem betont er die Abhängigkeit von Religionen und Ringen davon, »auf Treu / Und Glauben angenommen [zu] werden« (ebd.). Damit gesteht er Saladin das Recht auf kritischen Einspruch nicht nur zu, sondern fordert ihn auch dazu auf, die zwangsbefreite Parabel gemäß den formalen Konventionen des Rates zu rezipieren und seinen eigenen Bedürfnissen entsprechend zu repragmatisieren.54 Wenn der Sultan die Parabel, die als Vorspiel zur Beantwortung der Frage nach der wahren Religion anfing, an ihrem Ende als Rat annimmt, der diese Frage überflüssig macht, dann stellt er ihren Bezug auf die eigene Welt deshalb her, weil sie »nötig ist und nutzt« (555). Darin besteht die rezeptionstheoretische Pointe der Ringparabel: Im »ästhetischen Schutzraum« 55 können Anerkennungspraktiken zwar erprobt werden, aber ob sie sich auf die Welt der Rezipient*innen übertragen lassen, hängt letztlich davon ab, ob diese Übertragung auf die Bedürfnisse der Rezipient*innen antwortet oder nicht. Dass weder die Bedürfnisse, die ein ästhetisches Produkt befriedigt, noch der Nutzen, den Rezipient*innen davon machen, jemals so vollständig zu antizipieren sind wie in der Ringparabel, hat die Zirkulation der Briefschaften in Minna von Barnhelm gezeigt. Aber auch in Nathan der Weise wird diese Tatsache hervorgehoben, was hier vor allem deshalb wichtig ist, weil sich die erfolgreiche Übertragung der im Stück entwickelten Anerkennungspraktiken damit von einer pädagogischen Instanz löst, wie sie Nathan und seine fiktive Richterfigur darstellen. Demon­ striert wird dieser Übergang an der zweiten zentralen Requisite des dramatischen Gedichts. Das Gebetbuch knüpft als »ganzes väterliches Erbe« (606) von Nathans Adoptivtochter nicht nur strukturell an die Ringe der Parabel an, sondern wird über den Begriff ›Placebo‹ sogar direkt an diese gekoppelt. Das Buch ermöglicht die harmonische Lösung des dramatischen Konflikts und erlaubt den Figuren im Finale, »vor / Den Menschen nun so frei [zu] wandeln, als / Vor […] / […] Gott« (607). Dieser Effekt ist ein entscheidend variiertes Zitat des neunten Verses aus dem

54 Dass diese Förderung einer kritischen Rezeptionspraktik Lessing generell auszeichnet, betont Dorothea von Mücke: The Practices of Enlightenment – aesthetics, authorship and the public, New York 2015, 232. 55 Rocks: Ästhetisches ethos [Anm. 11], 11.

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116. Psalm.56 Dort heißt es in der Luther-Übersetzung 57: »Ich werde wandeln vor dem Herrn im Lande der Lebendigen.« In der Septuaginta, der altgriechischen Übersetzung des Alten Testaments, wird dagegen das hebräische Verb für ›gehen‹ oder ›wandeln‹ nicht wörtlich, sondern in übertragender Bedeutung übersetzt: ευαρεστισω. Darauf auf bauend lautet in der versio gallicana der Vulgata des Kirchenvaters Hieronymus die betreffende lateinische Verbalphrase: placebo. Die deutschen Übersetzungen dieses Verses, die sich indirekt auf die Septuaginta stützen, gleichen deshalb im Wortlaut dem Versprechen des Musterrings aus der Parabel: ›Ich werde wohlgefällig sein vor dem Herrn im Lande der Lebenden‹. Indem das Gebetbuch den Ring und damit der ›freie Wandel‹ die Gewissheit zu gefallen ablöst, wird die Verabschiedung der erzwungenen Liebe als Voraussetzung einer ergebnisoffenen Suche nach Anerkennung auf die Ebene der dramatischen Handlung übertragen. Dass eine solche Übertragung zwangsläufig mit der Anpassung ihres Gegenstands an die situativ-geänderten Bedürfnisse einhergeht, zeigt nicht nur die Variation des formal korrekten Bibelzitats, sondern außerdem die jüngere Übertragungsgeschichte des Placebo-Begriffs selbst, die Lessings dramatisches Gedicht über seine zentralen Requisiten aufgreift. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts war der Ausdruck ›jemandem ein Placebo singen‹ als Synonym für Schmeichelei gegenüber einer hochgestellten Person vor allem negativ konnotiert.58 Von dieser Bedeutung zeugt die Verwendung des Begriffs in der Schlusspassage von Francis Bacons berühmtem Essay Of Counsel (1612)59: »A king, when he presides in counsel, let him beware how he opens his own inclination too much, in that which he propoundeth; for else counsellors will but take the wind of him, and instead of giving free counsel, sing him a song of placebo«. In seinen Clinical Lectures (1772) adaptiert der schottische Mediziner William Cullen den Placebo-Begriff für den medizinischen Diskurs. Er beschreibt damit eine Situation, in der behandelnde Ärzt*innen ein Mittel nicht deshalb verabreichen, weil sie von dessen Wirkung überzeugt sind, sondern um den Wünschen, Erwartungen und Forderungen ihrer Patient*innen zu entsprechen60: »I own that I did not trust much to it, but I gave it because it is necessary to give a medicine, and as what I call a placebo«. Weil Placebos medizinisch wirken,61 vollzieht Cullen mit diesem Transfer eine entscheidende Aufwertung des Begriffs. Diese Aufwertung macht sich Lessings dramatisches Gedicht zunutze, indem es die 56 Vgl. für die folgenden Ausführungen zur Überlieferungsgeschichte des Placebo-Begriffs Placebo in der Medizin, hg. von Bundesärztekammer, Köln 2011, 22. 57 Ps 116,9. 58 Vgl. Anne Harrington: The Cure Within – A History of Mind-Body Medicine, New York 2008, 62. 59 Francis Bacon: Essays, London 1972, 66. 60 William Cullen: Clinical Lectures 1772–1773, Edinburgh 1772 [RCPE Manuscript, Cullen], 299 f. 61 Die kanonische Studie ist Henry K. Beecher: The powerful placebo, in: Journal of the American Medical Association 159/17 (1955), 1602–1606. Zur Rezeption von Beechers Studie vgl. Anne Harrington: Introduction, in: The Placebo Effect – An Interdisciplinary Exploration, ed. by Anne Harrington, Cambridge 1997, 1–11.



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medizinische Praxis zwischen Ärzt*innen, Patient*innen und Mitteln auf das politische Beratungsszenario rücküberträgt und zu einer sozialen Anerkennungspraktik ausweitet, in der es darum geht, auf Grundlage der Einsicht in die Grenzen des eigenen Wissens die Durchsetzung eigener Überzeugungen den Ansprüchen des Interaktionspartners unterzuordnen. Am Ende des dramatischen Gedichts wird diese Anerkennungspraktik über die innerdiegetische Lektüre des Gebetbuchs nochmals ausgeweitet. Gelesen werden keine Gebete, sondern die Familienchronik des Vorbesitzers, wie sie »vorn und hinten / […] mit des Herrn / Selbeigner Hand, […] / […] geschrieben« (N, 598) steht. Diese »allein entscheidenden genealogischen Eintragungen« 62 bestätigen die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen den Figuren, die den harmonischen Dramenschluss allseitiger Umarmungen erst ermöglichen. Voraussetzung dafür ist die Zusammenarbeit über Konfessions- und Standesgrenzen hinaus, die in diesem Drama direkt mit der Frage nach der sozialen Anerkennung verknüpft ist. Der Klosterbruder ist für die Logistik zuständig: Obwohl er selbst Analphabet ist, hat er das Buch angenommen und in der Annahme verwahrt, dass es »ein Christenmensch / Ja wohl noch brauchen« (ebd.) kann. Der jüdische Händler Nathan entziffert die auf Persisch verfasste Familienchronik und bestätigt damit die Vermutung, dass seine Adoptivtochter Recha und der Tempelherr, der um ihre Hand anhält, die Kinder seines alten Freundes Wolf von Filnek sind. Nathans neuer Freund Saladin beglaubigt wiederum die Identität von Wolf von Filnek mit seinem verschollenen Bruder Assad, weil er dessen Handschrift wiedererkennt. Im Zusammenspiel von Archivierung, Analyse, und Authentifikation löst sich der dramatische »Knoten […] / Nun von sich selber« (N, 607). Dass ist explizit keine Lösung im herkömmlichen Sinn, sondern die produktive Multiplikation des dramatischen Anerkennungskonflikts in der multiplen Rezeption. Und weil es sich bei der finalen Anerkennungspraktik von Lessings dramatischem Gedicht ausgerechnet um die Übertragung und Rezeption eines Buchs handelt, werden die Leser*innen zur produktiven Rezeption des an dieser Requisite verhandelten Konflikts und der an ihr entwickelten Praktik ermuntert, wenn Lessing die Identität seines Buchs mit dem Gebetbuch über das diesem vorangestellte Motto in den Raum stellt: »Tretet ein, denn auch hier sind Götter« (483).63 Diesen Bezug herzustellen, bleibt letztlich den Leser*innen überlassen. Die Bedingungen dafür sind allerdings klar. Ich fasse zusammen: Über Schwerter, Briefe und Ringe importieren Lessings Kriegsdramen Anerkennungskonflikte in den entpragmatisierten Bühnenraum, wo aus Handlungen Dramenhandlung wird. Im Zusammenspiel der Requisiten, die Anerkennungskonflikte katalysieren, und der Figuren, die sie ausführen, ent­ wickeln die Kriegsdramen spezifische Anerkennungspraktiken. Über die doppelte Referenz der Requisiten ›Bühne‹ und auf ›Welt‹ werden diese Anerkennungsprak62 Franka Marquardt: Blut und Brevier – Familiengeschichte und Frömmigkeit in Lessings ›Nathan der Weise‹, in: Monatshefte 103/4 (2011), 483–503, hier 490. 63 »Introite, nam et heic Dii sunt!« (N, 483).

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tiken dann den Rezipient*innen angeboten. Die Annahme dieser ethischen Ange­ bote ist an den praktischen Nutzen gekoppelt, den Rezipient*innen in der Befriedigung ihrer unvorhersehbaren Bedürfnisse von den dramatisch entwickelten Anerkennungspraktiken machen. Lessings Kriegsdramen bieten also Probebühnen, auf denen Anerkennungskonflikte unter verschiedenen Voraussetzungen mit verschiedenen Ausgängen durchgespielt werden können, und entwickeln so Anerkennungspraktiken, deren kreative Annahme und Weiterentwicklung durch die Rezipient*innen sie zwar nicht explizit fordern, zu der sie in der zwangsbefreiten Form des Dramas aber zumindest raten.

Stoff Textile Praktiken in Sophie von La Roches Pomona Cornelia Pierstorff

I. Einleitung

Als im 18. Jahrhundert Frauen als gesondertes Publikum literarischer Zeitschriften entdeckt wurden, waren es Männer, die die ersten ›Frauenzeitschriften‹ herausgaben, um relevante Wissensbereiche, eine geschlechtsspezifische Tugendlehre und ausgewählte literarische Themen zu vermitteln.1 Pomona werde ihnen sagen, was sie »als Frau dafür halte«,2 wendet sich Sophie von La Roche in der ersten Ausgabe der Zeitschrift von 1783 selbstbewusst an ihre Leser*innen. Längst eine bekannte Schriftstellerin bringt die 53-jährige La Roche als eine der ersten Frauen eine Zeitschrift unter ihrem eigenen Namen heraus. Das Projekt einer Zeitschrift Für Teutschlands Töchter mit dem moraldidaktischen Anspruch, junge Frauen zur Nützlichkeit und Gefälligkeit zu erziehen, steht in gewissem Widerspruch zum selbstbewussten Gestus dieser Unternehmung, der dadurch noch verstärkt wird, dass La Roche mit ihrer Pomona den Schritt zur Berufsschriftstellerin wagt.3 Monatlich im Umfang von ca. 100 Oktavseiten erscheinend, versammelt die Zeitschrift Betrachtungen, Belehrungen, Briefe, moralische Erzählungen, Gedichte, Reiseberichte und andere autofiktionale Texte. Programmatischen Kern bilden die »Briefe an Lina«, in denen La Roche die fiktionale Rolle (persona) einer »theure[n] Tante«4 in Szene setzt, die sich an die fiktive 15-jährige Waise Lina wendet, um sie in Haushaltsführung, Geselligkeit und Allgemeinbildung zu unterweisen. Mit dem Titel Pomona wählt sich La Roche die römische Göttin der Baumfrüchte und des Herbstes zur Namenspatronin. Wie dieser Titel verrät, bebildert die Zeitschrift ihr didaktisches Programm mit Vorstellungen aus der Natur, die sich – gut empfindsam – leitmotivisch durch alle Ausgaben ziehen. Dass die Natur eine zentrale pädagogische und gleichsam poetologische Metapher bereitstellt, hat die Forschung bereits ausgeführt.5 In ihrer Metaphorik mindestens ebenso traditions1 Zur Herausbildung der so genannten Frauenzeitschriften vgl. Ulrike Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit – Die ersten deutschen Frauenzeitschriften im späten 18. Jahrhundert und ihr Publikum, Tübingen 1998, 20–27. 2 Pomona für Teutschlands Töchter 1/1 (1783), 3. 3 Vgl. Monika Nenon: Autorschaft und Frauenbildung – Das Beispiel Sophie von La Roche, Würzburg 1988, 124 f.; Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit [Anm. 1], 81. 4 Pomona 1/8 (1783), 800. 5 Vgl. Nikola Roßbach: Blumen pflücken – Bilder und Bildung in Sophie von La Roches Frauenzeitschrift Pomona – Anmerkungen zu Wissen und Geschlecht im 18. Jahrhundert, in: »bald zierliche Blumen – bald Nahrung des Verstands« – Lektüren zu Sophie von La Roche, hg. von Monika Lippke,

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reich wie auch mindestens ebenso zentral für das Programm der Pomona sind Stoffe. La Roches fiktionale Rollen, die Adressatin Lina, aber auch sämtliche Figuren in den moralischen Erzählungen gehen Handarbeiten nach, erwerben und verwalten Stoffe als Teil des Haushalts, kleiden sich in verschiedensten Stoffen und sprechen über Stoffe und ihre Herstellung. Dabei sind die textilen Praktiken in der Pomona nicht allein einer Thematisierung oder Darstellung spezifisch weiblicher, häuslicher Beschäftigung zuzurechnen; diese Praktiken umfassen aber auch mehr und anderes als den bloßen Rückgriff auf die traditionell poetologische Metapher des Stoffes. Mit ihnen steht letztlich nichts weniger als das Verhältnis von Ethik und Ästhetik für La Roches ›Frauenzeitschrift‹ neu zur Diskussion. Neben der semantischen Zweideutigkeit des Wortes Stoff, als textiles Gewebe und als Material für literarische Darstellung,6 die die Hefte der Pomona in Variationen abbilden, indem z. B. »Gedankenstoff«7 gesammelt wird, ist es die tatsächliche, d. h. materiale Engführung von textilen Praktiken und dem Umgang mit literarischen Texten, der im Rahmen der Unterweisung in die Aufgaben einer Hausfrau widerständig wirkt. In einer vielzitierten Passage aus dem elften Brief an Lina gibt ihr die Lehrerin Ratschläge, wie Hausarbeit und Lektüre unter den sprichwörtlichen einen Hut zu bekommen sind 8: Glaube mir also, meine Lina! alles, was deine theure Tante dich in häuslichen Arbeiten der Nadel, der Kochkunst, des Spinnens, der Weberey und für Betten und Kleidung lehrt, sind ruhmvolle schöne Beschäftigungen, welche sehr leicht mit einem anständigen Maas Kenntnisse in Musik, und Zeichnen Wiz und Büchern verbunden werden können. Du bist um sieben Uhr des Morgens angezogen, und gehst Abends zehen Uhr schlafen. Denke, meine Liebe! was man in fünfzehn Stunden, die wohl eingetheilt werden, thun kann; besonders wenn einmal in allem eine feste Ordnung gemacht ist, so wird sie durch eine Stunde Umsicht von der Frau oder Tochter, die man von diesen funfzehn Stunden darauf verwendet, immer beybehalten.

Auf den ersten Blick geht es hier lediglich darum, Freiräume aufzuzeigen, die bei gleichzeitiger Erfüllung der gesellschaftlichen Rollenerwartung möglich sind. Dass die Zeitschrift der Maxime einer Pflichterfüllung insgesamt verhaftet bleibt, hat die Forschung mehrfach betont.9 In seiner konkreten Formulierung wird allerdings Matthias Luserke-Jaqui und Nikola Roßbach, Hannover 2008, 105–121; Nikola Roßbach: »von 50 Gatt. Salat ist der beste, der von Versailles […]« – Der Garten als Bild, Erzählraum und Wissen in Sophie von La Roches Pomona, in: Sophie von La Roche & Le savoir de son temps, publ. par Helga Meise, Reims 2013, 75–94. 6 Vgl. Johann Christian Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart – Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten besonders aber der Oberdeutschen IV, Leipzig 21801, 397. 7 Pomona 1/6 (1783), 552. 8 Pomona 1/8 (1783), 800. 9 Vgl. Monika Nenon: Die ›Briefe an Lina‹ – Sophie von La Roche als Pädagogin, in: »Meine Freiheit, nach meinem Charakter zu leben« – Sophie von La Roche (1730–1807) – Schriftstellerin der Empfindsamkeit, hg. von Jürgen Eichenauer, Weimar 2007, 183–188; Barbara Becker-Cantarino:



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deutlich, dass es sich weniger um einen Ratschlag für besseres Zeitmanagement als um eine Engführung oder sogar Ambiguierung von textilen und gelehrten, media­len Praktiken und ihrem jeweiligen Wissen handelt. So lässt die Schreiberin letztlich offen, ›was man in fünfzehn Stunden thun kann‹, und führt damit beide Bereiche zusammen. Aber auch die Gegenüberstellung des Anfangs, die ein Verhältnis gegenseitigen Ausschlusses insinuiert, ist weniger klar, als es auf den ersten Blick scheint. Denn das Zitat führt von den ›häuslichen Arbeiten‹ eben gar nicht zum Lesen, sondern verbindet die textilen Praktiken mit den »Kenntnisse[n] in Musik, und Zeichnen Wiz und Büchern«.10 Die medial vermittelten Kenntnisse ersetzen damit metonymisch den Umgang mit den Medien, von dem sie eigentlich abhängen müssten. Wie diese Kenntnisse erworben werden, bleibt dabei streng genommen offen und wird syntaktisch sogar auf die textilen Praktiken zurückgeführt. Im Folgenden möchte ich der These nachgehen, dass die Verschränkung oder sogar Ambiguierung textiler mit medialen Praktiken in dieser Passage auf eine systematische Verschränkung beider Praktiken innerhalb der Pomona aufmerksam macht. Indem textile Praktiken und ihre Stoffe mit medialen Praktiken und deren ›Stoffen‹, d. h. Inhalten, Themen, oder schlicht: Wissen, verschränkt werden, profiliert die Zeitschrift den literarischen Text als Erkenntnismedium, dessen Wissenspotenzial von diesen Praktiken abhängt. Wissen wird so als mediales Wissen profiliert, das über Praktiken vermittelt ist. Um dies zeigen zu können, skizziere ich in einem ersten Schritt kurz die Anknüpfungspunkte in der rezenten literaturwissenschaftlichen Praxeologie (II.), um dann die drei systematischen Schauplätze herauszuarbeiten, auf denen textile mit medialen Praktiken verbunden werden: pragmatisch, nämlich in einem kommunikativen Setting werden die Praktiken nebeneinandergestellt: textile und mediale Praktiken (III.); in ihrer körperlichen Dimension besitzen sie eine vermittelnde Funktion: textile Praktiken als mediale Praktiken (IV.); in Bezug auf die Materialität changieren sie: textile Praktiken oder mediale Praktiken (V.).

»Alltagswissen« und »Lebenswelt« – Zum Wissensbegriff Sophie von La Roches, in: Sophie von La Roche & Le savoir de son temps [Anm. 5], 233–248. Zu den Ambivalenzen der Rolle als Herausgeberin vgl. Nenon: Autorschaft und Frauenbildung [Anm. 3], 126–135; Carol Strauss Sotiropoulos: »Pomona, für Teutschlands Töchter« – Sophie von La Roche as Editor, Educator, and Narrator, in: Colloquia Germanica 33/3 (2000), 213–238; Helga Brandes: Die Zeitschrift ›Pomona für Teutschlands Töchter‹ im publizistischen Kontext des 18. Jahrhunderts, in: »Meine Freiheit, nach meinem Charakter zu leben« [Anm. 9.], 173–182. 10 Pomona 1/8 (1783), 800 [Hervorh.: C. P.].

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II. Wissen des Stoffes: praxeologische Perspektiven

Immer wenn literarische Texte von textilen Stoffen handeln, dann verhandeln sie auch ihre eigene Verfasstheit. Seit der antiken Mythologie und Literatur werden Produktion und Eigenschaften von literarischen Texten mit verschiedenen Handarbeiten wie dem Spinnen oder dem Weben bebildert.11 Als Metapher für den Text bildet Gewebe einen derart festen Topos, dass letztlich keine Darstellung von Stoff in literarischen Texten dieser Dimension entkommt. Sie als topische Metapher zu beschreiben, ist wenig ergiebig, weil das Ergebnis in der Regel zu einer mehr oder weniger – häufig eben weniger – spezifischen Selbstreflexivität des literarischen Textes führt. Gegenüber einem Verständnis als Metapher möchte ich die Handarbeiten und den Umgang mit Stoffen in der Pomona zunächst als Praktiken beschreiben, als die sie der Rahmen der Zeitschrift unmissverständlich vorstellt. Denn indem die verschiedenen Texte der Pomona nicht einfach von alltäglichen Tätigkeiten im Haushalt erzählen, sondern die Darstellung dieser Tätigkeiten mit Handlungsanweisungen verbinden, rahmt die Zeitschrift die Tätigkeiten als wiederholbare, nach einem Muster ablaufende Tätigkeiten: als Praktiken, wie sie die soziologische Praxeologie definiert hat.12 Für die deutschsprachige Theoriebildung hat Andreas Reckwitz Praktiken bestimmt als »sinnhaft regulierte Körperbewegungen, die von einem entsprechenden impliziten, inkorporierten Wissen abhängen«.13 Praktiken zeichnet somit eine »Doppelstruktur als materiale Körperbewegungen und als implizite Sinnstruktur«14 aus, die in der soziologischen Praxeologie deshalb eine Herausforderung darstellt, weil nur der eine Bereich, nämlich der materiale und körperliche, beobachtet werden kann, während das implizite Wissen und die Partizipation an bestimmten Diskursen nicht unmittelbar zugänglich sind.15 Dass dargestellte Praktiken in literarischen oder poetologischen Texten anders beschrieben werden müssen als ausgeübte, soziale Praktiken, hat Johannes Hees-Pelikan plausibel dargelegt, indem er 11 Vgl. einschlägig Erika Greber: Textile Texte – Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie – Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik, Köln u. a. 2002; Kira Jürjens: Der Stoff der Stoffe – Textile Innenräume in der Literatur des 19. Jahrhunderts, Wien u. a. 2021, insbes. 18–32. Zu historischen Unterschieden, v. a. zu den Veränderungen ab dem 19. Jahrhundert vgl. ebd., 50–85. 12 Vgl. exemplarisch Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken – Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301. Für einen Überblick vgl. Hilmar Schäfer: Einleitung – Grundlagen, Rezeption und Forschungsperspektiven der Praxistheorie, in: Praxistheorie – Ein soziologisches Forschungsprogramm, hg. von Hilmar Schäfer, Bielefeld 2016, 9–25. 13 Andreas Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis – Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016, 53. 14 Ebd., 56. 15 Vgl. ebd., 52 f. Zum Verhältnis von Diskursanalyse und Praxeologie vgl. Carolin Rocks: Ästhetisches ethos – Praxeologie, Foucaults ethische Praktiken und die Literaturwissenschaften, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 66/1 (2021), 69–95.



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zwischen dem impliziten Wissen von Alltagspraktiken und der dieses Wissen explizierenden Diskurspraktik des Textes unterschieden hat, die aber konstitutiv aufeinander bezogen sind.16 Den Zusammenhang von Alltagspraktiken und Diskurs­ praktiken bestimmt er dabei in einem Verhältnis von Referenz und Performanz, der über den Bildbereich der Alltagspraktik organisiert wird.17 In der Pomona sind es die Anweisungen und Ratschläge – besonders deutlich in der pragmatischen Situation der Unterweisung in den »Briefen an Lina« –, die die textilen Praktiken und andere Praktiken aus dem Bereich der Haushaltsführung oder der Geselligkeit eben als Praktiken rahmen, indem sie eine Norm formulieren, Beispiele oder eine zu erfüllende Handlungsanweisung geben. Auf diese Weise übersetzt die pragmatische Rahmung der Pomona als moraldidaktisches Projekt das implizite Wissen der Praktiken in explizites ethisches Wissen und setzt sie so auch zu bestimmten Diskursen im Sinne von Wissensordnungen in Beziehung. Indem jedoch nicht nur ethisches Wissen expliziert wird, sondern darüber hinaus ganz verschiedene Wissensbereiche in den Heften der Pomona in Beziehung gesetzt und in die ethische Praxis einbezogen werden, findet gleichzeitig eine Reflexion verschiedener Wissensformen statt: Wissen von Praktiken, Wissen der Praktiken und Wissen durch Praktiken. So legen die Praktiken den Blick auf eine Epistemologie frei – ein Zusammenhang der in den praxeologischen Theorien stets als zentral, aber je unterschiedlich konzeptualisiert wurde. Aus dem Befund, dass in La Roches Pomona alltägliche Praktiken eine zentrale Rolle spielen, können verschiedene literaturwissenschaftliche Herangehensweisen folgen: Es kann zum einen beschrieben werden, wie das Schreiben über Praktiken aus den alltäglichsten Lebensbereichen implizites ethisches Wissen aktiviert, dieses aber – sozusagen als Erbe aus der Gattung der ›Frauenzeitschriften‹, die aus den moralischen Wochenschriften hervorgegangen sind – eben auch mit ästhetischen Konzepten verknüpft, die so wiederum ethisch aufgeladen werden. Eine solche Begriffsarbeit anhand von dargestellten Praktiken, wie sie Hees-Pelikan unlängst für Johann Jacob Bodmer beschrieben hat,18 ließe sich auch in La Roches Zeitschriftenprojekt feststellen, wenn sie beispielsweise Konzepte wie den Geschmack oder den Glanz an Praktiken aus der Küche oder der Kleidung ethisch konturiert. Zum anderen kann eine praxeologische Perspektive aber auch zur Beschreibung einer Arbeit an Konzepten dienen, die nicht oder nicht vornehmlich begrifflich zu fassen sind. Denn während La Roches Texte ethische und zugleich ästhetische Urteile begrifflich verhandeln, erhält die epistemologische Grundlage keine begriffliche Reflexion. Stattdessen wird sie in den Praktiken greif bar, die das Wis16 Vgl. Johannes Hees-Pelikan: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Einleitung, in: Johann Jacob Bodmers Praktiken – Zum Zusammenhang von Ethik und Ästhetik im Zeitalter der Aufklärung, hg. von Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan und Carolin Rocks, Göttingen 2022, 7–37, hier 18 und 26–28. 17 Vgl. das systematische Kapitel in Johannes Hees-Pelikan: Johann Jakob Bodmers Ästhetik – Praxeologische Studien zur Zürcher Aufklärung [Diss. Zürich, Stand: 2022, Ms.]. 18 Vgl. Hees-Pelikan: Johann Jacob Bodmers Praktiken [Anm. 16], insbes. 18–20 und 28–34.

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sen als mediales Wissen konturieren. Auf diese Weise führen die Praktiken statt zu spezifischem Wissen zu einer Mediologie des literarischen Textes, um die es im Folgenden gehen soll. Eben für diese Mediologie nehmen textile Praktiken vor anderen Praktiken eine Vorrangstellung ein. Sie sind nämlich Praktiken, die nicht nur Körperbewegungen sinnhaft, d. h. in Bezug auf Diskurse und Wissensformationen, regulieren, sondern auch ganz bestimmte Gegenstände einbeziehen: Stoffe. Diese Erweiterung von Praktiken um ihre Medien bedenkt auch Reckwitz in seiner Definition19: »Schließlich sind sie regelmäßig Verhaltensroutinen im Umgang mit Artefakten, wobei man die Artefakte – in welcher Weise auch immer – ebenfalls als Träger der Praktiken interpretieren kann.« Dieses Verständnis von Stoff oder textilen Rohstoffen als Träger der Praktiken ist zum einen insofern relevant, als es ermöglicht, das Wissen mit der Materialität des Stoffes und dessen Verfertigung zusammenzubringen. Zum anderen – und damit komme ich zur Ausgangsüberlegung der traditionellen Metapher von Gewebe und Text zurück – ist die Doppelstruktur bei dargestellten textilen Praktiken komplexer, weil die implizite Sinnstruktur immer auch eine poetologische ist. Damit partizipieren dargestellte textile Praktiken an mindestens zwei impliziten Wissensbeständen, die in ihnen aktualisiert werden: Handarbeit und Literatur. Gegenüber einer Vorstellung der Handarbeit als poetologischem Metaphernkomplex kann mit einer praxeologischen Perspektive eben diese Verflechtungen in den textilen Praktiken differenziert beschrieben werden, ohne sie als Metapher ›aufzulösen‹. Im Folgenden soll es also um die Schauplätze der textilen Praktiken in La Roches Pomona gehen, an denen über die Praktiken das Wissen als mediales Wissen profiliert wird. III. Pragmatik: textile Praktiken und mediale Praktiken

Wesentlicher Bestandteil von Linas Unterweisungen in den insgesamt 24 Briefen ist der Umgang mit Stoffen im Haushalt, sei es die Frage einer angemessenen Kleidung (Vierter Brief ), der textilen Ausstattung der Wohnräume (Sechster Brief ), der adäquaten Präsentation zu Tisch (Neunter Brief ) oder der Pflege des so genannten Weißzeugs in der Wäschekammer (Elfter Brief ). Dabei geht es gerade nicht um eine Unterweisung in Handarbeit, deren Kenntnisse vorausgesetzt werden. Stattdessen unterscheidet Linas ›Lehrerin‹ zwischen einem praktischen Wissen und einem verstandesmäßigen Wissen von textilen Praktiken 20: [D]u bist von einem Stande, meine Lina! wo es Ehre macht, alle häusliche Arbeiten zu verstehen, die in dem Zirkel der Familie von einem gelehrten unsers Vaterlandes vorkommen – von der Reinigung der Fußböden, des Küchengeschirrs, und des Weißzeugs an, bis auf Flor- und Spitzenwäsche, so daß die Tochter die Mägde in der Kreativität und soziale Praxis [Anm. 13], 53. 1/3 (1783), 288 f.

19 Reckwitz: 20 Pomona



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rauhesten Arbeit anweisen, und dann die feineste selbst vornehmen, und dadurch vieles nützen kann. Denn der wahre verdienstvolle Vorzug zwischen dir und deiner Magd, soll nicht darinn bestehen, daß du befehlen und eine Dienerin zahlen kannst, sondern daß du mehr weist, die grössere und vielfältigere Pflichten deines Stands genau erfüllst, und dieß, was sie nach der Klasse, in welche Gott sie sezte, wissen muß, auch zu schätzen und zu belohnen verstehst.

Hausherrin zu sein, so formuliert es der Brief, bedeutet nicht zuerst eine Position der Macht, sondern eine des Wissens: Es geht darum, die zu verrichtenden Arbeiten zu überblicken und zu verstehen. Entsprechend fordert die Briefschreiberin von Lina, sämtliche Praktiken zu verstehen, die zu einem Ensemble aus Praktiken – dem Haushalt – zusammengefasst werden. ›Alle häusliche Arbeiten zu verstehen‹ bedeutet also, die häuslichen Praktiken in ihrer Doppelstruktur, die Praktiken gemäß der praxeologischen Theorie auszeichnet, zu erfassen. Man könnte sagen, die Rolle, die Lina in diesem Brief zugedacht wird, ist die einer teilnehmenden Beobachterin. Die Brief kommunikation macht so eine Perspektive auf die häuslichen Praktiken geltend, in der das Konzept ›Praktiken‹ anschaulich wird. Während Lina im Brief eine Rolle der teilnehmenden Beobachterin zugedacht wird, ist es eigentlich die Position der schreibenden und unterweisenden ›Tante‹, von der diese Doppelstruktur im Text abhängt. Denn indem die Unterweisung die Praktiken als Praktiken zum Gegenstand hat, besteht die Kommunikation nicht einfach in der Vermittlung von Wissen, sondern darin, implizites Wissen explizit zu machen. Nur dadurch, dass die Praktiken statt (nur) als Handlungen von Figuren erzählt, eben auch didaktisch vermittelt werden, kommen sie als Praktiken überhaupt in den Blick – und mit ihnen ihre implizite Sinnstruktur, die sowohl Funktionsweise und Zusammenspiel verschiedener häuslicher Praktiken respektive ein Wissen über sie als auch die damit verbundenen Tugenden, d. h. ihre normative Direktion umfasst. Dabei lassen die Briefe durchaus auch ein Bewusstsein dafür erkennen, dass die pragmatische Situation der Unterweisung selbst einen Mehrwert generiert 21: [D]eine Begierde, mich nachzuahmen, giebt mir das süsse Vergnügen, alles schon gelernte und erfahrne Gute zu wiederholen, und aufmerksam zu seyn, alles, was mir jetzo noch vorkommt, wohl zu fassen, um es dir mitzutheilen. Nützlich seyn, ist das schönste Looß der jetzigen Jahre meines Lebens, und ich achte den Augenblick, in welchem ich meine dir so gefällige Schreibart fande, für sehr glücklich. Denn bey dem Lehren wird man nur durch den gefälligen Vortrag nützlich.

In der ›Wiederholung‹ der eigenen Erfahrung als Anweisung im Medium Brief wird aus derselben überhaupt erst Wissen. Dabei sind die Praktiken gleichsam Redeanlass und als Referenz die Bedingung dafür, dass Wissen generiert werden kann, das sich aber erst in der Vermittlung als solches erweist. Auf diese Weise ist die spezifische Struktur der Stimme, die vom pragmatischen Setting der Briefe 21 Pomona

2/2 (1784), 135 f.

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abhängt: Das Ich, das sich belehrend an ein Du richtet, die Grundlage dafür, dass die Doppelstruktur der Praktiken sichtbar gemacht werden kann. Nur so können dann verschiedene Sinnhorizonte für die Praktiken ins Spiel gebracht werden, die eben auch immer wieder textile Praktiken mit medialen Praktiken verschränken. Obwohl sich in diesem Zitat, in dem sich die Briefschreiberin über ihre eigene Rolle Rechenschaft ablegt, alles scheinbar um die Wissensvermittlung und die Explikation der Alltagspraktiken als in ihrem Kern ethische Praktiken dreht, sind auch hier mediale Praktiken und Alltagspraktiken des Haushalts miteinander verbunden. Die Rolle der Briefschreiberin tritt vor ihre Rolle als Lehrerin. Denn die Briefschreiberin legitimiert ihre Tätigkeit, die ja gerade nicht in der eigenen Haushaltsführung, sondern im Schreiben besteht, mit der Nützlichkeit des vermittelten Wissens über die Praktiken. Ganz ähnlich wie im eingangs zitierten Brief, in dem es um das Zeitmanagement geht, setzt der Brief hier textile und mediale Praktik gleichzeitig in einem Widerspruch zueinander und begründet dennoch letztere aus ersterer. Dabei scheint dem Anliegen, Praktiken zu vermitteln, ein anderes Ziel zugrunde zu liegen als den Praktiken selbst. Denn die beiden leitenden Tugendbegriffe, die in offensichtlicher Referenz auf literaturprogrammatische Diskussionen des 18. Jahrhunderts einen basso continuo der Pomona bilden – Nützlichkeit und Vergnügen (die Übersetzungen der horazischen Begriffe prodesse und delectare) – zeigen eine entscheidende semantische Verschiebung an: Die Nützlichkeit, die mit den Praktiken einhergeht, erzeugt in ihrer Vermittlung einen Lustgewinn. Anstatt selbst nützlich sein zu müssen, zielt die Funktion, Nützlichkeit zu vermitteln, auf Vergnügen, genauer 22: »süsse[s] Vergnügen«. Die beiden Begriffe machen es deutlich: An dieser Stelle denkt der Text über sich selbst nach und konturiert sich – entgegen des pragmatischen Settings einer Erziehung in Briefen – als literarischer Text, der seine eigenen Produktions- und Rezeptionspraktiken offen legt. Inwiefern Handarbeit und textile Praktiken ab dem 18. Jahrhundert in literarischen Darstellungen eben genau diese beiden Tugendkategorien, die gleichzeitig die zentralen ästhetischen Wirkungskategorien des 18. Jahrhunderts sind, immer mehr miteinander verbinden, hat kulturgeschichtlich Christiane Holm herausgearbeitet.23 Dass die Texte der Pomona eben dieses Profil textiler Praktiken dazu nutzen, mediale Praktiken zu begründen, zu legitimieren oder gar textile durch mediale Praktiken abzulösen, scheint diese Verbindung geradezu systematisch auszunutzen und dabei den Topos auf klärerischer Didaktik von Feder statt Nadel zu unterlaufen.24 In geselligen Szenarien, derer insbesondere die autofiktionalen Texte

22 Ebd., 135. Vgl. Brigitte Scherbacher-Posé: Heimliches ›Bildungswissen‹ als Schreibstrategie in Pomona für Teutschlands Töchter – Sophie von La Roches Anleihen bei Marivaux und Sterne, in: Sophie von La Roche & Le savoir de son temps, [Anm. 5], 95–118, hier 113. 23 Vgl. Christiane Holm: Handarbeiten – Luxusarbeiten, in: Geselliges Vergnügen – Kulturelle Praktiken von Unterhaltung im langen 19. Jahrhundert, hg. von Anna Ananieva, Dorothea Böck und Hedwig Pompe, Bielefeld 2011, 71–89. 24 Vgl. ebd., 77 f.



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und die »Briefe an Lina« einige bereithalten, bilden die Stoffe und die Medien ein festes Ensemble25: Ein grün Tischelgen vor mir, an dem Morgens acht Uhr das Frühstück genommen wird, nach welchem der Herr von Hohenfeld, oder mein Mann etwas aus einem Journal, oder gelehrten Zeitungen lesen, und darüber sprechen. Ich höre bey meiner Näh- oder Strickarbeit zu, rede manchmal mit, oder bemerke nützlich und still, was beyde sagen.

Wenn auch freilich in diesem Szenario klar gegendert, treten Stoffe und Medien und mit ihnen die ihnen zugehörigen Praktiken in ein Verhältnis der Kontiguität. Anlass für das gesellige, d. h. hier zunächst kommunikative Setting sind die Handarbeiten der Hausfrau, die aber vor allem eine Funktion in Bezug auf die gelehrten, medialen Praktiken der Männer haben: Sie ermöglichen Teilhabe an der Kommunikation und – vermittelt über das Gespräch – am medialen Wissen.26 Doch was auf den ersten Blick als asymmetrische Teilhabe erscheint, ist es auf den zweiten in umgekehrter Weise. Denn während die Männer in diesem Ensemble aus Praktiken auf Rezeption beschränkt sind, stößt die ›Näh- oder Strickarbeit‹ eine Produktivität an,27 die sich in den Briefen fortsetzt: Erst wird gestrickt, dann geschrieben. Das weibliche Ich ist es nämlich, dessen Schreibtätigkeit sich aus diesen Gesprächen speist, wobei die kommunikative Struktur des Gesprächs in das Prinzip der Zeitschrift mit ihren Briefen und heterogenen Texten übersetzt wird.28 IV. Körperlichkeit: textile Praktiken als mediale Praktiken

Wenn ich bemerkt habe, dass die Darstellung der textilen Praktiken selbst, das Stricken, Weben, Spinnen, Nähen etc., in der Pomona nur eine nachgeordnete Rolle spielt, dann betrifft das insbesondere die Beschreibung der körperlichen Arbeit, der Abläufe, Bewegungen und Produkte. Das bedeutet aber nicht, dass die körperliche und materiale Seite der textilen Praktiken vollständig ausgeblendet ist. Ihren Einsatzpunkt hat sie dann, wenn textile Praktiken als Medium für das Wissen anderer Praktiken dienen. So ließe sich zumindest die spezifische Konstellation der Praktiken beschreiben, die der »Auszug von einem Brief der Lina an ihren Bruder« aus 25 Pomona

1/3 (1783), 248. Vgl. ausführlicher Kira Jürjens: Kuratierte Frauenzimmer – Museale Interieurs zwischen Sammlung und Auflösung bei Sophie von La Roche und Alexandra Dumas fils, in: Museales Erzählen – Dinge, Räume, Narrative, hg. von Johanna Stapelfeldt, Ulrike Vedder und Klaus Wiehl, Paderborn 2020, 139–159, hier 149 f. 27 Vgl. Martina Wernli: Federn lesen – Eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert, Göttingen 2021, 315. 28 Zur Briefpoetik der Pomona vgl. Anna Axtner-Borsutzky: Briefe über Briefe – Sophie von La Roche als Beratene und Beratende zwischen ihren Freundschaftlichen Frauenzimmer=Briefen und der Pomona für Teutschlands Töchter, in: Daphnis 50 (2022), 571–595. 26

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dem zwölften Heft des ersten Jahrgangs präsentiert – der einzige Brief, in dem die Adressatin des Briefwechsels selbst zu Wort kommt. Sie berichtet darin ihrem Bruder von einem Besuch bei einem Ehepaar, auf dem sie vom Gastgeber und Hausherren in das Uhrmacherhandwerk eingeführt wird.29 Neben Einblicken in die Geschichte der europäischen Uhrmacherkunst gewährt ›Herr Golde‹ praktische Einblicke, indem er den Auf bau einer Uhr vorführt und Lina in die Uhrmacherwerkstatt mitnimmt. Im Brief ist das praktische Wissen durch textile Praktiken vermittelt, die so als ein Erkenntnismedium profiliert werden, das an den Körper und die Materialität der Artefakte gebunden ist 30: Da leben nun auch so viele Leute davon, welche die Zifferblätter, die Gehäuse, das Radwerk, und alles, was dazu gehört, machen. Die Feuermaler, und auch die Arbeiter der kleinen Zängelchen, und der Werkzeuge, womit die messingne kleine und große Räder geschnitten werden, die Feilen, und alles. –– Lieber Bruder! es freute mich recht sehr, dieß alles zu hören, und die niedliche glänzende Stahlfedern, und messigne Rädchen dabey zu sehen: – meine kleinste Nadel zum Spitzen bessern, ist eine Stange gegen die Stiftgen, und die Stahlfedern oft dünner wie ein Haar.

Was Lina in ihrem Brief präsentiert, ist nicht einfach das Wissen über das Uhr­ macher­handwerk, sondern eine Szene der Wissensgenerierung, die ihren eigentlichen Schauplatz statt in der Uhrmacherwerkstatt im Text hat. Die Tätigkeiten der ›vielen Leute‹, die die Bestandteile der Uhr, die ›Zifferblätter‹, das ›Gehäuse‹, das ›Radwerk‹ produzieren, werden anschaulich vor Augen gestellt; vor allem aber wird insgesamt in der Zerlegung des Fertigungsprozesses in seine kleinteiligen und zahlreichen Schritte die Komplexität der Praktiken insgesamt veranschaulicht. In der Vermittlung ist die Wahrnehmung Effekt des Textes. Zu diesem Zweck wird auf die Körperlichkeit des inkorporierten Wissens textiler Praktiken zurückgegriffen, die als Referenzpraktiken ins Feld geführt werden und so die Veranschaulichung des Uhrmacherhandwerks organisieren. Was der Gastgeber für Lina leistet, nämlich das Wissen zu explizieren und es gleichzeitig zu zeigen, ist im Text an die Anschaulichkeit der bildlichen und narrativen Darstellungsverfahren delegiert, die vom Vergleich mit textilen Praktiken abhängt. Für die Epistemologie, die hier entworfen wird, gehen die Darstellung des Briefes und die dargestellten textilen Praktiken Hand in Hand: Denn während die Szene der Unterweisung durch den Uhrmacher nur eine erste, rezeptive Stufe darstellt, die noch kein Wissen generiert, ist es die Körperlichkeit der textilen Praktik, die das Gesehene und Gehörte vergleichbar macht und so die Grundlage für eine Vermittlung in der Darstellung bereitstellt. Vergleicht Lina die Gegenstände des Uhrmacherhandwerks mit ›ihrer kleinsten Nadel zum Spitzen bessern‹, vergleicht sie nicht vornehmlich (die) Größe und Aussehen der Gerätschaften beider praktischer Bereiche, sondern sie übersetzt das Gehörte und Gesehene in Anschauung, deren Pomona 1/12 (1783), 1172. Ebd., 1176 f.

29 Vgl. 30



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Grundlage die eigene Körperlichkeit ist. In den textilen Praktiken als inkorporiertes Wissen scheint diese Körperlichkeit regelrecht gespeichert zu sein. So kommt es, dass sich von der textilen Praktik des Spitzen Besserns aus die Darstellung generiert – so könnte man die Anordnung verstehen – und zwar als Erzählung, die praktisches Wissen anschaulich vor Augen stellt. Selbst wie ein Uhrwerk nämlich fügen sich die einzelnen Arbeitsschritte, von denen Lina erzählt, im Brief zusammen, so dass einmal mehr deutlich wird, wie die Praktik den Text als Erkenntnismedium strukturiert. Der unauflösbare Zusammenhang von Referenz und Performanz, der Praktiken eignet, ist die Grundlage für eine Diskurspraktik, die Referenz und Performanz des Textes verbindet. Die Vermittlung aber zwischen der Praktik, auf die referiert wird – das Uhrmacherhandwerk – und der Diskurspraktik, in der Referenz und Performanz Hand in Hand gehen, kann in dem spezifischen epistemologischen Setting der Pomona nur die textile Praktik leisten. ›Meine kleinste Nadel‹ – in diesem Possessivpronomen deutet sich eine spezifische Perspektivierung auf die Epistemologie textiler Praktiken an. Denn textile Praktiken sind gerade im 18. Jahrhundert klar weiblich gegendert. Das bedeutet, dass Linas Brief den textilen Praktiken nicht ein allgemeines mediologisches Profil zuweist, aufgrund dessen der Text als Erkenntnismedium in Erscheinung tritt. Vielmehr ist die Epistemologie, die der Brief entfaltet, eine spezifisch weibliche. Denn die textilen Praktiken sind Bestandteil dessen, was mit einem performativen Verständnis von Geschlecht nach Judith Butler als Ensemble an stilisierten, wiederholten Akten – als ›doing gender‹ – verstanden werden kann.31 Dadurch, dass es dieselben Praktiken sind, die Gender performieren und die Erkenntnis ermöglichen, ist nicht mehr nur die Praktik, sondern letztlich eben auch die Erkenntnis gegendert. Die Performativität, die auf die mediale Funktion textiler Praktiken zurückgeführt wird, geht an diesem Punkt sogar noch weiter. Geradezu als Effekt aus der Verknüpfung von Geschlecht und textiler Praktik erzählt der Brief von einer »vornehme[n] Dame«32 aus Wien, die selbst das Uhrmacherhandwerk ausübt 33: Ich sagte da, daß ich diese Frau gar zu gerne sehen möchte, wenn sie die Uhr von einem Stokknopf, oder die von Finger- und Ohrringen zerlegte: denn es däuchte mich, daß die Hand eines Frauenzimmers mit den kleinen Zängelchen, Feilchen und Hämmerchen eben so schöne Bewegungen machen könnte, als sie nach J. J. Rousseau Zeugniß bey dem Spitzenklöppeln zeige.

Das Potenzial, das im imaginativen Nach- bzw. Mitvollzug der handwerklichen Praktiken qua medialer Funktion der textilen Praktiken liegt, erfüllt sich in der Vorstellung von der Uhrmacherin. Ebenso wie Lina in ihrem Brief durch Verglei31 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, übers. von Kathrina Menke, Frankfurt a. M. 1991, insbes. 206–208. Für eine explizite praxeologische Perspektivierung vgl. Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken [Anm. 12], 285. 32 Pomona 1/12 (1783), 1177. 33 Ebd., 1178.

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che mit den ihr vertrauten textilen Praktiken ihren eigenen Körper mit dem Uhrmacherhandwerk vermittelt, wird die ›Dame‹ in ihrer Tätigkeit als Uhrmacherin imaginiert: Das weibliche Geschlecht steht dem Handwerk nun nicht mehr entgegen, sondern ist aufgrund der Gender Performance in Form textiler Praktiken sogar dafür prädestiniert.34 Die Trias der ›Zängelchen, Feilchen und Hämmerchen‹ stellt einen Rückbezug zur Szene in der Uhrmacherwerkstatt her, vollzieht aber über die durchgängigen Diminutivformen eine Steigerung der Veranschaulichung des akribischen und feingliedrigen Handwerks in der Uhr­m acherwerkstatt. Dabei erhalten die handwerklichen Praktiken – und zwar auf diese Weise gegendert – eine ästhetische Dimension: Ausgeführt – und man müsste ergänzen: sprachlich vor Augen gestellt – von der ›Hand eines Frauenzimmers‹ sind sie ›schön‹. Dass Rousseau an diesem Punkt als intertextuelle Referenz ins Feld geführt wird, ist dabei kein Zufall, aber auch mehr als eine Referenz auf dessen paradigmatische Funktion für die empfindsame Tugendlehre weiblicher Erziehung. Vielmehr ist die erneute Rückführung auf den literarischen Text eine Art, die Überbietungslogik fortzuführen. Denn Rousseau mag Frauenfiguren bei der Ausführung textiler Praktiken darstellen, der Text selbst und seine Epistemologie ist männlich codiert, wie seine rigide Forderung nach einer Trennung von ›Feder‹ und ›Nadel‹ zeigt.35 Auf diese Weise verbleibt die Praktik dort auf eine bloße Referenz beschränkt: als dargestellte Praktik, die funktional in eine umfassende und durch und durch männlich perspektivierte Tugendlehre eingebettet ist.36 In La Roches Pomona ist diese Arbeitsteilung nicht nur ›irgendwie‹ aufgehoben, sondern qua textiler Praktik und ihrer Mediologie auf eine genderspezifische epistemologische Basis gestellt.37 Als Medium ermöglicht es die textile Praktik, sich in verschiedene Positionen und deren Praktiken zu imaginieren und anschauliches Wissen zu generieren: sei es über das Uhrmacherhandwerk oder eben über die Verfertigung literarischer Texte.

Strauss Sotiropoulos: »Pomona, für Teutschlands Töchter« [Anm. 9], 220. Vgl. Verena Ehrich-Haefeli: Rousseaus Sophie und ihre deutschen Schwestern – Zur Entstehung der bürgerlichen Geschlechterideologie, in: Rousseau in Deutschland – Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, hg. von Herbert Jaumann, Berlin/New York 1995, 115–162. Zu La Roches Auseinandersetzung mit Rousseau vgl. Nenon: Autorschaft und Frauenbildung [Anm. 3], 155–163; Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit [Anm. 1], 209–212. 36 Zur Supplementarität des Weiblichen in Rousseaus Schriften siehe einschlägig Silvia Bovenschen: Die imaginierte Weiblichkeit – Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen, Frankfurt  a. M. 32016, 164–181. Vgl. Christine Garbe: Die »weibliche« List im »männlichen« Text – Jean-Jacques Rousseau in der feministischen Kritik, Stuttgart 1992. 37 Ein ähnliches Argument führt Jürjens anhand der ›musealen Praktiken‹ in La Roches Pomona aus (vgl. Jürjens: Kuratierte Frauenzimmer [Anm. 26], 149). 34 Vgl. 35



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V. Materialität: textile Praktiken oder mediale Praktiken

Ebenso wie zum Uhrmacherhandwerk befähigt die Mediologie textiler Praktiken, die die Pomona entwirft, zum Schreiben. Dabei vermitteln die textilen Praktiken, wie ich in diesem letzten Schritt zeigen möchte, nicht nur Wissen und profilieren eine Epistemologie, sondern sie führen zu einer Medienästhetik. Basierend auf der programmatischen Doppeldeutigkeit von Stoff speist sich diese Medienästhetik aus einer Vorstellung einer Materialisierung des gedanklichen ›Stoffes‹. Ich habe bereits analysiert, wie in den Szenen der Pomona textile und mediale Praktiken zum einen in ein Verhältnis der Kontiguität treten und ein festes En­ semble bilden; zum anderen, wie ihr kommunikativer Rahmen, ob als gesellige oder als pädagogische Szene, eine Produktion von Rede bzw. dann übergeordnet von Text motiviert: Text fällt mit Stoff in eins. In diese Anordnung interveniert nun die Doppeldeutigkeit des Wortes ›Stoff‹, die die Materialität des Textes mit dessen Inhalt konfrontiert. Bereits in der programmatischen »Veranlassung der Pomona« im ersten Band von 1783 findet der Begriff seinen Einsatz. La Roches auto­fi ktionales Ich motiviert darin die Unternehmung der Zeitschrift aus den Eindrücken auf einem gemeinsamen Spaziergang mit einem Freund heraus, auf dem die »einfachen Beschäftigungen«38 auf dem Land den Anfang bilden 39: Diese Gedanken stimmten uns zu einer genauern Betrachtung aller Gegenstände, die wir auf unserm Weg antrafen; die schöne Tabaksfelder, die von dem türkischen Korn, große Stücke mit Gemüßpflanzen besezt, und die in der Ferne stehende Weingebürge gaben den reichen Stof, von dem Werth der fleisigen Hand des Landmanns zu reden[.]

Was als Ausdruck so unauffällig anmutet, lässt vor dem Hintergrund auf horchen, das Stoffe und textile Praktiken in der Zeitschrift eine so zentrale Rolle spielen. Dass ausgerechnet die in der ›fleißigen Hand des Landmanns‹ ins Bild gesetzten landschaftlichen Praktiken zum ›reichen Stoff‹ dienen sollen, um ›zu reden‹, bringt die Darstellung von Alltagspraktiken mit Stoff in Verbindungen und aktiviert die mediale Funktion, die textilen Praktiken zukommt. Anders als beispielsweise bei der Darstellung der Praktiken des Uhrmacherhandwerks verbleiben hier jedoch die textilen Praktiken im Paradigma. Lediglich der ›Stoff‹ ruft die textilen Praktiken mit auf und mit ihnen die Vorstellung eines handwerklichen Umgangs mit dem Stoff. Daraus folgt, dass die Inhalte, der gedankliche ›Stoff‹, ebenfalls materialiter konzeptualisiert werden: Die Materialität textiler Praktiken verschiebt sich so aus ihrem festen Arrangement mit medialen Praktiken hin zu den Inhalten von Texten; gleichzeitig markiert der Begriff freilich einen Zusammenhang.

38 Pomona

1/1 (1783), 6. Ebd. Vgl. Weckel: Zwischen Häuslichkeit und Öffentlichkeit [Anm. 1], 84–87; Becker-Cantarino: »Alltagswissen« und »Lebenswelt« [Anm. 9], 81. 39

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Diese Vorstellung der Materialität von thematischen Inhalten findet sich dann auch in anderen Heften der Pomona, und zwar insbesondere dann, wenn die Darstellung der Pomona selbstreflexiv zum Thema gemacht wird: sei es, wenn der topisch organisierte Rundgang durch die Räume des Modellhaushalts in der »Weißzeugkammer« damit endet, dass der »neue[] reichhaltige[] Stoff zur Belehrung«40 gelobt wird, oder sei es, wenn die zum Exkurs tendierende Darstellungsweise damit kommentiert wird, dass der »erste[] Faden wieder [gefunden]« werden müsse, der »abgerissen«41 sei. Als zur Tätigkeit entfalteten und am inkorporierten Wissen partizipierenden Gewebemetapher erhalten textile Praktiken damit auch explizit einen Einsatzpunkt für Fragen der Darstellung. Jedoch bleiben die textilen Praktiken auf dem Schauplatz des Textes immer auf die Grenze der Materialität bezogen. Wenn die Briefschreiberin im 13. Brief an Lina das Romaneschreiben thematisiert, dient ihr die mit Praktiken ›aufgeladene‹ Gewebemetapher zu einem ebenso eigenartigen wie anschaulichen Bild: Als sie von einem Ereignis, einem sonderlichen »Maskeraden Auftritt« erfährt, macht sie ihn sich zum Gegenstand der Darstellung – »den [sie] auffaßte« – wozu sie »die übrige Fäden des Gewebes theils aus dem Zirkel, in dem ich damals lebte, theils aus meinem Kopf und Herzen zog«,42 wie es heißt. Eine Trennung von gedanklichem Stoff und dem Text als Gewebe ist hier nicht mehr aufrechtzuerhalten. Denn das komplexe Bild verbindet eine materiale Vorstellung – die ›Fäden‹ – von Kommunikation, von Gedanken und von Affekten mit den Praktiken des Schreibens. Das Verb ›auffassen‹, das im 18. Jahrhundert bereits sowohl Greifen mit den Händen als auch kognitive Verarbeitung meinen kann43 und im Verlauf des 19. Jahrhunderts dann mit dem Begriff Stoff in seiner übertragenen Bedeutung, z. B. als historischer ›Stoff‹, eine feste Verbindung eingegangen ist,44 insinuiert eine Taktilität, die die metaphorischen Dimensionen von ›Stoff‹ für den Inhalt und diejenige für den material-medialen Text in einer Ambiguität verbindet. Obwohl die Gewebemetapher für die Textproduktion eine Metapher ist, bezeichnet die Tätigkeit hier tatsächliche Handgriffe, weil sie auf die ›tatsächlichen‹ textilen Praktiken bezogen ist, die in den Heften der Pomona omnipräsent sind. Auf diese Weise treffen sich die echten Handgriffe der textilen Praktiken und die echten Handgriffe der medialen Praktiken, um den gedanklichen ›Stoff‹ in die textuelle Materialität zu befördern. Wenn in der Pomona die textilen Praktiken auch ganz explizit auf die Textproduktion bezogen werden, dann reicht es nicht, dieses Verhältnis als bloße Metapher zu beschreiben. Vielmehr treffen in einem festen Ensemble mediale mit textilen 40 Pomona

1/8 (1783), 797 f. Pomona 2/6 (1784), 500 f. 42 Pomona 1/11 (1783), 1092. 43 Vgl. Johann Christian Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart – Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten besonders aber der Oberdeutschen I, Leipzig 21793, 488. 44 Vgl. die Beispiele im Grimm’schen Wörterbuch: Deutsches Wörterbuch I, hg. von Jacob und Wilhelm Grimm, Leipzig u. a. 1854, 644. 41



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Praktiken aufeinander, deren Bildbereiche sich gegenseitig anreichern und auf­ laden, mit dem Effekt, dass der inhaltliche ›Stoff‹ nicht mehr ohne ein Medium gedacht werden kann. Im letzten Heft des zweiten Jahrgangs, mit dem La Roche ihr Zeitschriftenprojekt abschließt, findet sich dann schließlich die Programmatik des Stoffes und seiner Praktiken auf den Punkt gebracht. In einem kurzen Brief »An Karoline«, eine gleichaltrige Freundin, um die im Laufe der Hefte der Pomona die Brief kommunikation mit Lina ergänzt wird, leitet die Briefschreiberin die auf den nächsten Seiten abgedruckte Fabel mit folgenden Worten ein45: Hier, meine Liebe! haben Sie ein neues Muster zu Winterabend-Belustigungen. Es wird dem artigen Zirkel der jungen Frauenzimmer, in welchem Sie leben, angenehm seyn, diese Gewalt der Schönheit zu sehen, vergessen Sie aber nicht, bey dem Entwurf dieses Zeitvertreibs, den lieben Kindern zu sagen, daß es nöthig sey, etwas zu wissen, und auf alles Acht zu geben: Sie sollen es bey guten Büchern, und in guter Gesellschaft mit den Gedanken machen, wie viele unter ihnen, und wie die berühmteste Modearbeiterinnen es machen, die jedes Stückchen Spitze, Flor, Band, und Blonde sammeln, um sie zu Zusammensetzung einer neuen Art von Kopfputz, oder Verzierung eines Kleides zu gebrauchen. – – Der feine aufmerksame Geist eines Frauenzimmers kan mit eben der Geschicklichkeit gesammelte Gedanken auf eine neue gefällige Art in die Unterredung einflechten, oder bey einer solchen Aufgabe zeigen, wie biegsame Finger, und Erfindung den abgeschnittenen Stückchen Hauben, und Kleiderzeug neue schöne Gestalten geben kan.

Die Beigabe rahmt die Fabel des mit La Roche befreundeten Autors Gottlieb Konrad Pfeffel in einer imaginativen Szene. In dieser Szene werden sowohl die Wechselbeziehung textiler und medialer Praktiken als auch die semantische Ambiguität von Stoff ein letztes Mal entfaltet und gleichzeitig fast schon als Fazit der praxeologischen Mediologie zusammenführt. In geselliger wie lehrreicher Runde versammelt, sollen die Mitglieder des ›Zirkels der jungen Frauenzimmer‹ Stoffe und/ oder Texte (und deren ›Stoffe‹) sammeln. Würde der kurze Brief anschließend nicht auf die darauffolgende Fabel hinweisen, es wäre insgesamt nicht eindeutig auszumachen, welcher Bereich welchen veranschaulicht, sei es mit dem ›Muster‹, der ›Schönheit‹ oder der Funktion als ›Zeitvertreib‹. Erst im expliziten Vergleich wird die Relation der Praktiken und ihrer Bereiche zumindest für einen Moment sortiert: Das Wissen textiler Praktiken wird zum Wissen medialer Praktiken, deren konstitutiven Artefakten – den ›Gedanken‹ – damit aber eine Materialität unterlegt wird. Die deiktische Geste, mit der der Brief eröffnet, bindet die ›Muster‹ gedank­ licher ›Stoffe‹ – um im Bild zu bleiben – von Anfang an unweigerlich an den Text, nämlich den Drucktext der Pomona. Aus den textilen Praktiken, dem Hantieren mit den Stoffen, dem Zerstückeln, Sammeln, Auf heben und Wiederverwenden, ergibt sich damit ein Modell von Textualität, das von der Rezeption auf die Pro45 Pomona

2/12 (1784), 1124.

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duktion umstellt. Textile Praktiken als klar weiblich gegenderte Praktiken sind nicht – wie es der empfindsamen, moraldidaktischen Norm entsprechen würde – auf ihre gesellige, kommunikative Funktion beschränkt, sondern befähigen zum Schreiben und Herausgeben von Texten. Für beides, die Rezeption, die – wenn man so will – Sammlung des ›Stoffes‹, und die Produktion, die Herstellung des Textes, bilden textile Praktiken die Grundlage, indem sie mit medialen Praktiken in eins gesetzt werden. VI. Fazit

Wie andere Alltagspraktiken auch partizipieren die textilen Praktiken in Sophie von La Roches Pomona an einem hybriden Diskurs von Ethik und Ästhetik und können in dieser Funktion praxeologisch beschrieben werden. Anders als andere Alltagspraktiken bilden sie aber auch die epistemologische Grundlage für eine umfassende Mediologie des Textes, deren Zentrum die semantische Ambiguität von Stoff ist: als gedanklicher ›Stoff‹ und als materiales Produkt. Zu keiner Zeit und unabhängig von ihrem Einsatzbereich in den Heften der Pomona verlieren die textilen Praktiken ihren Rückbezug an die Materialität der Handarbeit. Auf diese Weise binden sie erstens jeden Inhalt an das Medium und den Umgang mit Medien zurück. Zweitens motivieren sie die – oder befähigen vielmehr zur – Produktion von Texten, indem ihr Wissen durch die Engführung mit medialen Praktiken letztlich Textwissen ist. Drittens schließlich stellen sie durch ihr Gendering das supplementäre empfindsame Erziehungsprogramm auf den Kopf, indem die textilen Praktiken nicht das weibliche Pendant zu den medialen Praktiken gelehrter Männer bilden, sondern letztere regelrecht annektieren. Vor diesem Hintergrund ergibt sich schließlich auch ein neuer Blick auf den vermeintlichen Widerspruch der Unternehmung zwischen dem an der gesellschaftlichen Norm ausgerichteten Erziehungsprogramm und dem selbstbewussten Gestus des Projekts: Zumindest im Text sind die textilen Praktiken die Bedingung der Möglichkeit weiblichen Schreibens, nicht ihr Gegenprogramm.

AFFEKT – KÖRPER – RESONANZ

Bewunderung, Verwunderung, Erstaunen? Praktiken des Staunens in der Tragödientheorie der Frühaufklärung und in Lessings Philotas Nicola Gess

I.

Am 20. Mai 2015 erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel von Werner Bartens mit dem Titel Staunen macht die Menschen besser.1 Darin beschreibt er ein psychologisches Experiment, das u. a. von Paul Piff, der an der University of California in Irvine lehrt, durchgeführt und dessen Ergebnis im Journal of Personality and Social Psychology publiziert wurde.2 Demnach gelang es den Wissenschaftler*innen zu zeigen, dass »das Gefühl des Erstaunens dazu beiträgt, kooperativer, hilfsbereiter und altruistischer zu werden«.3 Der Grund dafür sei simpel4: »Man hält sich nicht mehr für den Mittelpunkt der Welt, wenn man staunt […]. Die Aufmerksamkeit verlagert sich, und man denkt auch an den Nutzen für andere. […] Die Teilnehmer fühlten sich nicht mehr so wichtig und waren eher bereit, anderen beizustehen und sich für das große Ganze einzusetzen«. Die Wissenschaftler*innen aus Irvine sind nicht die einzigen, die sich in den letzten Jahren über eine ethische Dimension des Staunens Gedanken gemacht haben. 1 Dieser Aufsatz entstand im Rahmen von zwei Veranstaltungen im Frühjahr 2022 – der Tagung Ethische Praktiken in ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts (Universität Zürich) und der Arbeitstagung Gotthold Ephraim Lessing (Freiburger Arbeitskreis für Literatur und Psychoanalyse) – und erscheint entsprechend nicht nur im vorliegenden Sonderheft, sondern in einer leicht anderen Fassung, die noch mehr auf Lessing eingeht, auch als: Nicola Gess: Lessings Staunen – Zur ethischen Relevanz von Bewunderung und Verwunderung in der Tragödientheorie der Frühaufklärung und in Lessings ›Philotas‹, in: Freiburger literaturpsychologische Gespräche – Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse 41: Gotthold Ephraim Lessing, hg. von Dominic Angeloch und Ortrud Gutjahr, Würzburg 2022. Vgl. Werner Bartens: Staunen macht die Menschen besser, in: Süddeutsche Zeitung, 20. 05. 2015: https://www.sueddeutsche.de/wissen/sozialverhalten-staunen-macht-die-menschen-besser1.2485146?reduced=true [23. 03. 2022]. 2 Vgl. Paul K. Piff et al.: Awe, the small self, and prosocial behavior, in: Journal of Personality and Social Psychology 108/6 (2015), 883–899. In der Studie geht es also um »Awe«, das Bartens als »Staunen« übersetzt. 3 Bartens: Staunen macht die Menschen besser [Anm. 1]. 4 Piff et al.: Awe, the small self, and prosocial behavior [Anm. 2], 897, zit. nach Bartens: Staunen macht die Menschen besser [Anm. 1].

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2015 erschien beispielsweise auch das Buch Wonder. A Grammar der Philosophin Sophia Vasalou, die eine neo-stoizistische Ethik des Staunens entwirft.5 Fünf Jahre zuvor hatte bereits die Religionsphilosophin Mary-Jane Rubenstein ihre Studie Strange Wonder publiziert, die Staunen für eine Neukonzeption des ethischen Denkens fruchtbar machen will.6 Und Ende 2020 berichtete der Spiegel von psychologischen bzw. neurowissenschaftlichen Forschungsprojekten, die zu dem Schluss gekommen seien, »Staunen mache aus Egoisten bessere Menschen«.7 Mir geht es in diesem Artikel allerdings nicht um die gegenwärtige Forschung, sondern ich möchte diese nur als Sprungbrett nutzen, um über entsprechende Debatten im 18. Jahrhundert nachzudenken. Dabei interessiere ich mich für das Staunen als eine ethisch gerahmte ästhetische Emotion. Das heißt, es geht mir um dichtungstheoretische Schriften, die das ethische Potential des Staunens auf dem Weg der ästhetischen Erfahrung aktivieren bzw. kultivieren wollen. Zwei Bemerkungen seien vorausgeschickt. Das Wort ›Staunen‹ war im frühen 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum noch kaum verbreitet; an seiner Stelle standen die Worte ›Verwunderung‹ und ›Bewunderung‹, die bis ca. 1760 weitgehend synonym gebraucht wurden, sowie das weniger gebräuchliche Erstaunen. ›Staunen‹ wurde erst in den 1730er Jahren aus dem Schweizerdeutschen importiert und dann, wie auch das Erstaunen, als eine bis zur Schockstarre gesteigerte Verbzw. Bewunderung verstanden, während zugleich im Schweizerdeutschen die Bedeutung des Sinnierens und In-sich-versunkenen-Nachdenkens prominent blieb. Das Grimm’sche Wörterbuch verweist entsprechend auf eine Fußnote in Albrecht Hallers Gedicht Doris, der 1748 seinen deutschen Leser*innen das Wort ›Staunen‹ mit einer Fußnote erklären zu müssen meinte 8: »Dieses alte Schweitzerische Wort behalte ich mit Fleiß. Es ist die Wurzel von Erstaunen, und bedeutet rever, ein Wort, das mit keinem andern Deutschen gegeben werden kann.« Es dauerte jedoch eine ganze Weile, bis sich das Wort ›Staunen‹ im deutschsprachigen Raum allgemein eingebürgert hatte. Noch 1761 entschuldigte sich Moses Mendelssohn bei einem Briefpartner für den Gebrauch des Wortes.9 In den Texten aus den 1730er bis 1760er Jahren, die ich in diesem Artikel behandele, wird daher in der Regel Sophie Vasalou: Wonder – A Grammar, Albany 2015. Mary-Jane Rubenstein: Strange Wonder – The Closure of Metaphysics and the Opening of Awe, New York 2008. 7 Johann Grolle: Die Entschlüsselung des Gänsehautmoments, in: Der Spiegel, 31.12.2020, https:// www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/gaensehauteffekt-neurowissenschaftler-erforschen-dasehrfuerchtige-staunen-a-00000000-0002-0001-0000-000174691264 [25.03.2022]. Grolle bezieht sich v. a. auf Forschung am Frankfurter Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik (Menninghaus/Wassiliwizky), die sich für ›Gänsehautmomente‹, und auf Forschung des in Berkeley lehrenden Psychologen Dacher Keltner, der sich für ›Awe‹ interessiert. 8 Albrecht von Haller: Doris, in: ders.: Versuch schweizerischer Gedichte, Bern 1772, 98–103, Anm. 99. Diese Fußnote findet sich ab der vierten Auflage (1748); die erste Auflage ist von 1732. 9 »[V]erzeihen Sie mir dieses schweizerische Wort!« (Brief an Abbt vom 09.03.1761, in: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften – Jubiläumsausgabe XI, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, 200–202, hier 201 f.). 5 Vgl. 6 Vgl.



Bewunderung, Verwunderung, Erstaunen?351

nur über die Ver- bzw. Bewunderung, seltener auch über das Erstaunen debattiert. Zu der Geschichte, die ich erzähle, gehört die semantische Ausdifferenzierung der beiden Worte hinzu. Oder anders gesagt: Erst das Nachdenken über die ethische Dimension der Staunensaffekte machte eine Differenzierung zwischen Verwunderung und Bewunderung nötig.10 Zweite Vorbemerkung: Die poetologische Debatte um die ethische Dimension der Staunensaffekte wird im 18. Jahrhundert, im Kontext der für diese Zeit typischen Verschränkung von Ethik und Ästhetik, sehr breit und in den jeweiligen historischen, diskursiven und gattungstheoretischen Kontexten auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und differierenden Zielsetzungen geführt. Mal geht es darum, Be-/Verwunderung als Gottesdienst, als Zeugnis und Lobpreis des Schöpfers zu verstehen;11 mal darum, die unmittelbare affektive Reaktion der Ver-/ Bewunderung als Antrieb zu nutzen, etwa zum Wissensgewinn oder zur Nachahmung tugendhafter Handlungen. Mal geht es darum, die starke physische und psychische Erschütterung im Staunen als Training der Nerven und Medizin gegen eine tödliche Langeweile zu empfehlen;12 mal darum, Staunen von einem überwältigenden zu einem selbstermächtigenden, von einem von Aberglauben und Unwissenheit zeugenden Affekt zu einer Differenzierung und (Selbst-)Reflexionsvermögen ermöglichenden ethischen Praktik zu kultivieren.13 Gemeinsam ist diesen sehr unterschiedlichen Debatten jedoch, dass sie über die ethische Dimension des Staunens nachdenken, sei dies im Sinne konkreter moralischer Handlungen oder im Sinne eines auszubildenden Ethos, zu dem auch die Selbstsorge gehört. Ich greife aus diesem weiten Feld in diesem Artikel nur die tragödientheoretische Debatte um die Be-/Verwunderung heraus, mit einer Konzentration auf zwei Briefwechsel aus den 1730er bzw. 1750er Jahren und, abschließend, auf Gotthold Ephraim Lessings Philotas (1759). II.

In seiner Rede Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen (1729) bestimmt Johann Christoph Gottsched die Tragödie zum einen als »lehrreiches moralisches Gedich[t], [das] Verwunderung, Mitleiden und Schrecken zu dem Ende erreget, damit sie dieselben in ihre gehörigen 10 Das schlägt sich dann z. B. in den umfangreicher werdenden Artikeln zu Verwunderung, Bewunderung, Erstaunen und Staunen in den Wörterbüchern der Zeit (Adelung, Zedler, Grimm) nieder (vgl. Nicola Gess: Staunen – Eine Poetik, Göttingen 2019, 18–23). 11 Vgl. dazu Nicola Gess: Emerging from Stupor – A Chapter in the Cultural History of Thunder, in: RES – Anthropology and Aesthetics [im Erscheinen]. 12 Vgl. zu den letzten beiden Punkten Gess: Staunen [Anm. 10], 33–62; sowie für den englischen Kontext auch: Sarah Tindal Kareem: Eighteenth-Century Fiction and the Reinvention of Wonder, Oxford 2014. 13 Vgl. dazu Nicola Gess: Staunen als ästhetische Praktik bei J. J. Bodmer, in: Johann Jakob Bodmers Ästhetik, hg. von Frauke Berndt, Johannes Hees-Pelikan und Carolin Rocks, Göttingen 2022, 134–155.

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Schranken bringen möge«.14 Bemerkenswert ist, dass die geforderte Affektkon­ trolle hier auch die Verwunderung betrifft; denn Gottsched versteht die admiratio im Anschluss an René Descartes, Pierre Corneille und Charles de Saint-Évremond eigentlich als kalten, intellektuellen Affekt – die Eigenschaft, die sie für die neoklassizistische Tragödie, in der es um eine Ethik der Affektbeherrschung geht, gerade interessant macht.15 Zum anderen definiert Gottsched die Tragödie in dieser Rede als Movens für tugendhafte Handlungen und leitet das ausdrücklich aus der Bewunderung des Helden ab16: »Ich bewundere solche Helden. Ich verehre ihre Vollkommenheit. Ich fasse einen edlen Vorsatz, sie nachzuahmen, und führe einen heimlichen Ehrgeiz, nicht schlechter als sie, befunden zu werden.« Wie Albert Meier gezeigt hat, erweitert Gottsched hier also, u. a. im Anschluss an Corneille, den Begriff der admiratio um den Aspekt der Nacheiferung.17 Dadurch verschiebt sich die Akzentuierung vom Staunen über eine außerordentliche Handlung zur Bewunderung des stoischen Helden und der Entscheidung, ihm nachzueifern. Wesentlich für die Vermittlung zwischen Bewunderung und NachahmungsVorsatz ist bei Gottsched die rationale Erkenntnis: Der Bewunderer muss erst vom Exempel (der Handlung der Tragödie) auf den allgemeinen moralischen Lehrsatz (der der Tragödie zu Grunde liegt18) geschlossen haben, um diesen dann auf sein eigenes Handeln anwenden und sich zur Nachahmung entschließen zu können.19 Wichtig für den Erkenntnisprozess ist dabei die »anschauende Erkenntnis«.20 Denn dieser eigne, so Gottsched, ein affektives Moment, das als Motor der Reflexion und des daran anschließenden sittlichen Handelns diene21: »[D]enn das anschauende Erkenntniß hat, durch die Lebhaftigkeit der sinnlichen Empfindungen, viel mehr Eindruck […] als das symbolische«. »Alle ihre Helden [der Tragödie: N. G.] leben. Ihre Personen denken, reden und handeln wahrhaftig: Es ist, sozureden, kein

14 Johann Christoph Gottsched: Die Schauspiele und besonders die Tragödien sind aus einer wohlbestellten Republik nicht zu verbannen, in: ders.: Ausgewählte Werke IX/2, hg. von Phillip M. Mitchell, Berlin/New York 1976, 492–500, hier 496; auch zitiert bei Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung – Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993, 53. 15 Vgl. Meier: Dramaturgie der Bewunderung [Anm. 14], 38–56. 16 Gottsched: Die Schauspiele [Anm. 14], 497. 17 Vgl. Meier: Dramaturgie der Bewunderung [Anm. 14], 50. 18 Vgl. Johann Christoph Gottsched: Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen, in: ders.: Ausgewählte Werke VI/1, hg. von Joachim Birke und Brigitte Birke, Berlin/New York 1973, 115–493, hier 215. 19 Vgl. Meier: Dramaturgie der Bewunderung [Anm. 14], 54. 20 Als ›anschauende Erkenntnis der Neuigkeit‹ sollte wenig später auch der Begründer der philosophischen Ästhetik, Alexander Gottlieb Baumgarten, und sein Schüler Georg Friedrich Meier die Verwunderung bestimmen: »Die Verwunderung ist eine anschauende Erkenntnis der Neuigkeit« (Georg Friedrich Meier: Anfangsgründe aller schönen Wissenschaften, Halle 1748, 332). 21 Johann Christoph Gottsched: Der praktischen Weltweisheit Dritter Teil – Die Tugendlehre, in: ders.: Ausgewählte Werke V/2, hg. von Phillip M. Mitchell, Berlin/New York 1983, 293–442, hier 301; auch zit. bei Meier: Dramaturgie der Bewunderung [Anm. 14], 83 f.



Bewunderung, Verwunderung, Erstaunen?353

Bild, keine Abschilderung, keine Nachahmung mehr.« 22 Die ›Lebhaftigkeit‹ der Darstellung ermöglicht eine sinnliche Erkenntnis, die bei Gottsched identisch mit der Bewunderung (als einer Verwunderung) ist; darauf folgt ihre rationale Verarbeitung, die allererst garantiert, dass die im Zuschauer angestoßene Veränderung auch Bestand hat. Meier betont zu Recht, dass es in diesem Prozess gerade nicht um eine identifikatorische Publikumsreaktion gehe. Zwar sind die Affekte auch bei Gottsched für die Wirkungsästhetik der Tragödie zentral – neben der Bewunderung, aus der der Beschluss zur Nachahmung hervorgeht, spielt etwa auch der Schrecken eine Rolle, der zur Vermeidung der Fehler des Helden motivieren soll –, doch die Reaktion des Publikums bleibt immer durch die Reflexion des Affekts vermittelt.23 Dafür ist die Bewunderung, wie Gottsched sie versteht, besonders geeignet. Denn sie schließt – und hier ist ihre Nähe zum Konzept der Verwunderung entscheidend – trotz ihrer sinnlichen Kraft die kritische Distanznahme nicht aus. Die der Bewunderung als Verwunderung inhärente Distanz[ierung] des Zuschauers vom Helden[, ihre Kälte und Nähe zum Intellekt: N. G.] setzt die Reflexion frei und ermöglicht die bewußte Wahrnehmung des Fehlers [den es zu vermeiden gilt: N. G.]; die Bewunderung der grundsätzlichen Überlegenheit des Helden motiviert aber [zugleich: N. G.] zur Nachahmung, die wiederum durch das Wissen um den Fehler, das die Katastrophe erklärt, den Zuschauer auf ein höheres Bewußtseinsniveau hebt und so ein analoges Scheitern vermeiden hilft.24

III.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts gerät die Dramaturgie der Be-/Verwunderung jedoch unter heftigen Beschuss, und zwar in einem Briefwechsel zwischen Mendelssohn, Friedrich Nicolai und Lessing (1756/57).25 Ausgangspunkt für ihre Auseinandersetzung ist eine Tragödienkonzeption Nicolais, in der er nicht die sittliche Besserung, sondern die Erregung heftiger Leidenschaften (u. a. der Bewunderung) als Hauptziel der Tragödie bestimmt (vgl. BW, 666). Lessing und Mendelssohn hingegen halten am moralischen Endzweck der Tragödie fest, setzen dabei aber auf ganz unterschiedliche emotive Verfahren. Dreh- und Angelpunkt ihrer Auseinandersetzung ist die Bewunderung.26 Die Schauspiele [Anm. 14], 496. Meier: Dramaturgie der Bewunderung [Anm. 14], 84 und 86 f. 24 Ebd., 87. 25 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel mit Mendelssohn und Nicolai, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden III, hg. von Wilfried Barner und Conrad Wiedemann, Frankfurt a. M. 2003 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle BW mit Seitenzahl in Klammern], 662–736. 26 Vgl. zum Briefwechsel und der Neubewertung der Bewunderung bei Lessing Monika Fick: Lessing Handbuch – Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 42016, 148–159 [Artikel zum Brief22 Gottsched: 23 Vgl.

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Mendelssohn bestärkt den Grundsatz, dass die Tragödie die sittliche Besserung des Zuschauers durch die Erregung von Bewunderung erreiche (vgl. BW, 675), die er als »Mutter der Tugend« (679) bestimmt. Lessing hingegen sind gerade diejenigen Eigenschaften, die die Neoklassizisten an der Bewunderung schätzen, suspekt: Er problematisiert sowohl die Distanzierung von Zuschauer und Held, die die Bewunderung impliziere (vgl. 679 f.), als auch die kognitive Dimension der Bewunderung, indem er auf die in ihr implizierte Verwunderung hinweist: »Wenn ich an einem gute Eigenschaften gewahr werde, die meine Meinung von ihm übertreffen; so heißt das nicht, ich bewundere ihn, sondern ich verwundere mich über ihn« (678 [Hervorh. im Original]). Zugleich kritisiert er, dass auch der Entschluss zur Nacheiferung einen Reflexionsprozess voraussetze (vgl. 683). Außerdem richte sich die Bewunderung immer auf stoische Charaktere, die sich primär durch Unempfindlichkeit (und d. h. abermals die Distanzierung von eigenem und fremdem Leid) auszeichneten – ein Zug, der jeder sittlichen Besserung zuwiderlaufe (vgl. 681). Denn für Lessing ist für die Ausbildung von Moral insbesondere eine große Empfindungsfähigkeit wesentlich. Als Ziel der Tragödie bestimmt er darum nicht mehr die reflektierende Bewunderung unerreichbarer Vorbilder, sondern die »Erweiterung unserer Fähigkeit, Mitleid zu fühlen« (671). Und für das Mitleid ist sowohl die Nähe zwischen Zuschauer und dramatis personae wie auch die Unmittelbarkeit der Wirkung entscheidend, die beide mit einer Dramaturgie der Bewunderung nicht vereinbar sind. Lessing argumentiert also gegen eine Bewunderung, wie man sie bei Gottsched konzeptualisiert findet. Mendelssohn vertritt allerdings gar nicht dieses Konzept. Seine Auffassung von Bewunderung unterscheidet sich von der Gottscheds und Lessings dahingehend, dass er die Bewunderung, die der Dichter durch seine »vollkommen sinnliche Rede« auslöst, als eine »intuitive Erkenntnis von der Würde und Unwürde seiner Charaktere« bestimmt, mit der ebenso ›intuitiv‹ der »Wunsch zur Nacheiferung« einhergehe (BW, 689 [Hervorhebung: N. G.]). Das Argument Lessings, dass der aus der Bewunderung hervorgehende Entschluss zur Nacheiferung immer schon eine Reflexion voraussetze, die möglicherweise nicht jeder Zuschauer leisten könne (und die zudem eine Distanzierung des Zuschauers zum Geschehen auf der Bühne mit sich bringe), lässt Mendelssohn also nicht gelten. Seine Bewunderung gleicht vielmehr einer vorreflexiven Begeisterung, weshalb er die Tragödie sicherheitshalber auch weiterhin auf den stoischen Helden verpflichten möchte. Im Unterschied zum Mitleid, das man auch moralisch zweifelhaften Charakteren entgegenbringen könne, hat die intuitive Bewunderung für Mendelssohn jedoch Urteils- bzw. Erkenntnischarakter. Sie macht nicht einfach nur empfindsamer, sondern sie verhilft zu einer sinnlichen Erkenntnis der Vollkommenheit: »Können Sie nunmehr noch zweifeln, daß die anschauende Erkenntnis der Vollkommenheit durch die Bewunderung sinnlicher wird […]?« (BW, 690). Mendelssohn denkt die wechsel]. Der Stand der gegenwärtigen Forschung wird dort vorzüglich abgebildet; bei Fick nicht erwähnt, aber für meine Lektüre wichtig: Meier: Dramaturgie der Bewunderung [Anm. 14], 200–206.



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Bewunderung also offenkundig nicht vom Subjekt, sondern von ihrem Objekt her. Das heißt, ob etwas bewundert wird, hängt nicht von einer bestimmten Prädisposition des Subjekts ab (z. B. dessen Unwissenheit oder Begeisterungsfähigkeit), sondern von den Eigenschaften des Objekts, dessen Vollkommenheit in der Bewunderung sinnlich erkannt wird. Gleichwohl: Lessing lässt sich nicht überzeugen und sein Verdikt gegen das Moment der reflexiven Distanznahme, wie es sich mit der kognitiven Dimension des Staunens verbindet, bleibt wirkmächtig; die Mitleidspoetik des bürgerlichen Trauerspiels löst eine Dramaturgie der Bewunderung ab, wie sie für die neoklassizistische Tragödie wegweisend war. Wie nachhaltig dieser Ausschluss der Staunensaffekte für die Dramentheorie war, zeigt fast zweihundert Jahre später Bertolt Brechts Frage27: »[I]st Kunstgenuß überhaupt möglich ohne Einfühlung, oder jedenfalls auf einer andern Basis als der Einfühlung? Was konnte eine solche neue Basis abgeben? Was konnte an die Stelle von Furcht und Mitleid gesetzt werden, des klassischen Zwiegespanns zur Herbeiführung der aristotelischen Katharsis?« Dass es für das Drama auch einmal eine andere Basis als die Einfühlung gegeben hatte, nämlich die distanzierende admiratio, scheint hier in Vergessenheit geraten zu sein. Brecht muss sich auf eine längst vergangene Tradition besinnen bzw. diese allererst neu erfinden, um eine Antwort auf seine Frage geben zu können: An die Stelle von ›Furcht und Mitleid‹ setzt er dann ein Staunen, das durch Verfremdungseffekte hervorgerufen werden soll. IV.

Mendelssohns Konzept einer intuitiven Begeisterung ist jedoch ebenfalls zukunftsweisend, insofern sie den aus der neoklassizistischen Tragödie übernommenen Begriff der Bewunderung im Zeichen eines sensualistischen Materialismus neu erschließt und so u. a. für die späteren Sturm und Drang-Dramen anschlussf ähig macht.28 Es passt zu dieser Entwicklung, dass Lessing unmittelbar nach dem Briefwechsel seinen Freund Mendelssohn auf Edmund Burkes Philosophical Inquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful (1757) aufmerksam macht 29 – eine Schrift, die eine empiristisch-sensualistische Ästhetik des Erhabenen entwirft und

27 Bertolt Brecht: Über experimentelles Theater, in: ders.: Gesammelte Werke XV, Frankfurt a. M. 1967, 285–305, hier 301 [Hervorh. im Original]. Hier greife ich zurück auf Ausführungen in Gess: Staunen [Anm. 10], 104–108, hier 105. 28 Vgl. Meier: Dramaturgie der Bewunderung [Anm. 14], 321–323. 29 »Doch, wenn schon des Verfassers Grundsätze nicht viel taugen, so ist sein Buch doch als eine Sammlung aller Eräugnungen und Wahrnehmungen, die der Philosoph bey dergleichen Untersuchungen als unstreitig annehmen muß, ungemein brauchbar [. . .] die niemand besser zu brauchen wissen wird, als Sie« (Lessing an Mendelssohn, 18.02.1758, in: Mendelssohn: Gesammelte Schriften XI [Anm. 9], 177–180, hier 178).

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in diesem Zusammenhang ebenfalls den Affekt des Staunens (bei Burke: astonishment, admiration, amazement) neu bestimmt 30: [Several languages: N. G.] use the same word to signify indifferently the modes of astonishment or admiration and those of terror. [Greek: Thambos: N. G.] is in Greek either fear or wonder […] The Romans used the verb stupeo, a term which strongly marks the state of an astonished mind, to express the effect either of simple fear, or of astonishment; the word attonitus (thunder-struck) is equally expressive of the alliance of these ideas; and do not the French étonnement, and the English astonishment and amazement, point out as clearly the kindred emotions which attend fear and wonder?

Für Mendelssohn ist die Lektüre Burkes anregend. Das zeigt unter anderem Burkes Einfluss auf seine spätere Überarbeitung der eigenen Schrift Über das Erhabene und Naive (1758). Nachhaltig irritiert ist er jedoch von Burkes Engführung von ›astonishment‹, unter dem Mendelssohn einen »höheren Grad von Bewunderung« versteht, und Schrecken.31 Denn Mendelssohn hat Schwierigkeiten damit, etwas Schreckliches als Gegenstand von Bewunderung zuzulassen. Während das ›astonishment‹ bei Burke eine unmittelbare nervliche Reaktion auf einen plötzlichen Reiz ist, soll die Bewunderung bei Mendelssohn ein intuitives Werturteil bleiben, das als solches die moralische Vollkommenheit ihres Gegenstandes bezeugt. Schrecken und Bewunderung seien sich zwar in ihrem physischen und psychischen Erscheinungsbild ähnlich 32: Die Plötzlichkeit verursacht physice die Bewegung der flüßigen Theile gegen die inneren Gliedmaßen, und folglich ein Schauern in den äußern Gliedmaßen, ein Starren, ein Angaffen, u. s. w. Dieses hat die Bewunderung mit dem Schrecken gemein. Pneumatice wird durch die Plötzlichkeit die Aufmerksamkeit rege gemacht. Alle übrigen Begriffe verschwinden, und der Begriff des Schreckens und der Bewunderung herrscht ganz allein in unserer Seele.

Im Unterschied zum Schrecken richte sich die Bewunderung jedoch zwingend auf die »Vollkommenheit« eines Gegenstands und werde auch nur darum als »angenehm« empfunden.33 Indem Burke diesen Aspekt ausblendet, verliert er für Mendelssohn auch die moralische Dimension eine Ästhetik des Erhabenen aus den Augen. Dabei bietet Burkes Schrift durchaus eine alternative Ethik des Staunens an. Diese ist jedoch diätetisch ausgerichtet, nimmt also nicht das zwischenmenschliche 30 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful, ed. by Adam Philipps, Oxford/New York 1998, 54 [Hervorh. im Original]. 31 Mendelssohn übersetzt ›astonishment‹ als »Erstaunen«, d. h. als einen »höhere[n] Grad von Bewunderung« (Moses Mendelssohn: Zu Burkes »A philosophical enquiry into the origin of our ideas oft he sublime and beautiful«, in: ders.: Gesammelte Schriften – Jubiläumsausgabe III/1, Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, 235–268, hier 241). 32 Ebd., 251. 33 Ebd., 251 f.



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Verhalten, sondern die Selbstsorge in den Blick. Burke beschreibt ›astonishment‹ als eine Art Schockzustand 34: »Astonishment is that state of the soul, in which all its motions are suspended, with some degree of horror«.Anders als Descartes, der in den Passions de l’âme (1649) diesen Zustand des ›étonnement‹ noch für gefährlich erklärt hatte,35 pathologisiert Burke ihn jedoch nicht, sondern empfiehlt ihn im Gegenteil als Medizin gegen die Langeweile, die die eigentliche Gefahr für die Gesundheit darstelle, da sie nicht nur zu »melancholy, dejection, despair«, sondern sogar zu »self-murder« führen könne.36 Der Mensch kann sein Leben folglich nur erhalten – Burke spricht hier von »self-preservation« 37 –, wenn er seinen Körper regelmäßig trainiert, und zwar in seinen gröberen wie in seinen feineren Teilen, z. B. den Nerven 38: »[T]o have them [those finer parts: N. G.] in proper order, they must be shaken and worked to a proper degree […]. [A] mode of terror is the exercise of the finer parts of the system […] [this passion’s: N. G.] highest degree I call astonishment«. Mendelssohn kann damit wenig anfangen.39 Er begrüßt zwar die die genauen physischen Beobachtungen Burkes, doch ihm fehlt die moralphilosophische Perspektive, d. h. die Ausrichtung der Bewunderung auf die Vorstellung der Vollkommenheit. Mendelssohns Unverständnis zeigt sich nicht zuletzt darin, dass er am Ende seiner Notizen den Ball wieder an Lessing zurückspielt40: »Jedoch sind es [d. h. Mendelssohns Notizen: N. G.] bloße Embryonen von Gedanken, die ein Lessing erst entwickeln und beseelen muß. Vielleicht kann er auch einigen von meinen Mißgeburten eine regelmäßige Gestalt geben und ein Leben einhauchen« – ob und wie Lessing das kann, werde ich unten anhand von Philotas thematisieren. V.

Im Briefwechsel argumentiert Lessing gegen Mendelssohn, dass es sich bei der Bewunderung der neoklassizistischen Tragödientheorie recht eigentlich um eine Verwunderung handele und dass die Verwunderung für moralische Zwecke irrelevant sei. Gut 20 Jahre zuvor hatte es schon einen anderen Briefwechsel gegeben, in dem diese Position ebenfalls geäußert worden war. 1736 publizierte Johann Jakob Bodmer den Brief-Wechsel von der Natur des poetischen Geschmacks, der auf seiner KorA Philosophical Enquiry [Anm. 30], 53. »Das nennt man gewöhnlich erstaunt sein. So ist das Erstaunen eine Abart der Verwunderung, welche immer nur schlecht sein kann« (René Descartes: Die Leidenschaften der Seele, Hamburg 1984, 115). 36 Burke: A Philosophical Enquiry [Anm. 30], 122. 37 Ebd., 36. 38 Ebd., 122 f. [Hervorh. im Original]. 39 Gleichwohl denkt Mendelssohn aber darüber nach, das Schreckliche als »sekundäres Erhabenes«, d. h. als ein bloßes »Beförderungsmittel« des Erhabenen, in seine Theorie zu integrieren (Mendelssohn: Zu Burkes A philosophical enquiry [Anm. 30], 252) 40 Ebd., 253 34 Burke: 35

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respondenz mit dem italienischen Tragödientheoretiker Pietro di Calepio basiert; 10 Jahre später kam Bodmer in den zusammen mit Johann Jakob Breitinger herausgegebenen Critischen Briefen (1746) erneut darauf zurück. Calepio äußert in den Briefen an Bodmer und in seiner Abhandlung von der Tragödie (1732) deutliche Kritik an der Ausrichtung der Tragödie auf die admiratio, indem er – wenngleich weniger explizit als Lessing – zwischen Ver- und Bewunderung unterscheidet und zugleich beiden Affekten eine positive moralische Wirkung abspricht. Erstens gehe es zumal in den französischen Tragödien weniger um die Bewunderung eines moralisch überlegenen Charakters als um die Verwunderung angesichts eines »überspannten Charakters« bzw. einer »überspannten Tugend«,41 der man gerade nicht nacheifern solle42: »so sage ich, daß diese [die Verwunderung: N. G.] nicht der Affekt sey, der dem Trauerspiele eigen ist. Vielmehr ist sie dem Endzwecke desselben entgegen, wenn sie den guten Sitten Abbruch thut«. Und zweitens führe die Bewunderung tatsächlich außerordentlicher Helden bei den Zuschauenden nur zu einem Bewusstsein der eigenen moralischen Minderwertigkeit43: »Durch das Anschauen solcher ausserordentlichen Helden werde niemand gebessert,« referiert Bodmer Calepio, »ihre vortrefflichen Tugenden setzen zwar die Zuseher in Verwunderung, aber sie benehmen ihnen zu gleicher Zeit die Hofnung sie nachzuthun«. Bodmer kontert diese Position, indem er – anders als Mendelssohn – nicht an der moraldidaktischen Funktion einer ›intuitiven Bewunderung‹ festhält, sondern die ethische Dimension der Verwunderung in den Blick nimmt. Dabei zielt er nicht auf die Nachahmung moralischer Vorbilder, sondern es geht ihm um eine Schulung des Denkens. Bodmer unterscheidet dafür zunächst zwischen einer richtigen und einer falschen Verwunderung; die falsche Verwunderung weist jemanden als dumm und ungebildet aus; die richtige ist Merkmal von Geist und Denkvermögen44: Die Verwunderung des Pöbels ist nur ein dummes Angaffen, ein blindes Ueber­ raschen, ohne Nachdenken und Tiefsinnigkeit. Hingegen gerathen […] grosse Geister wenn etwas wahrhaftig Grosses ihre Bewunderung erhält in ein gewisses Erstaunen, das aber mit einem tiefen Nachsinnen begleitet ist, sie sind in den Gedanken 41 »[M]an muß hier betrachten, daß die Verwunderung nicht so sehr die eigentliche Wirkung der Tugend ist, die wir bey andern wahrnehmen, als vielmehr der ausserordentlichen und selten vorkommenden Sachen; wie denn auch die Tugendhaften nur darum Verwunderung verursachen, weil sie selten vorkommen. Man muß darum aus einer solchen Verwunderung nicht den Schluß ziehen, die Zuseher verwundern sich über einen solchen überspannten Charakter, weil sie daher Begriffe von hohen Tugenden […] bekommen. Wenn dieses wahr wer, so würden die Leute von tiefen Einsichten bey solcher Gelegenheit in keine Verwunderung gesetzet werden […]. Die Wahrheit ist, daß die Verwunderung sich bey allen einstellen wird; aber mit dem Unterschied, daß die Weisern die überspannte Tugend verwerffen, die andern aber bey diesem Exempel einen falschen Begrif von derselben bekommen werden« ( Johann Jakob Bodmer: Critische Briefe, Zürich 1746, 53 f.). 42 Ebd., 54. 43 Ebd., 83 f. Im Briefwechsel ( Johann Jakob Bodmer: Brief=Wechsel Von der Natur Des Poetischen Geschmackes, Zürich 1736) entspricht dem die Seite 98. 44 Bodmer: Critische Briefe [Anm. 41], 96.



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mit den Ursachen und den Umständen beschäftiget, welche eine so ungewohnte Wirkung auf sie thun. Ihre Verwunderung ist demnach vernünftig, indem sie eben aus der Betrachtung der Dinge und ihrer Zusammenfügung entsteht.

Ob etwas Verwunderung auslöst, oder genauer: was für eine Verwunderung etwas auslöst, liegt bei Bodmer also zunächst nicht im Objekt begründet, sondern im Subjekt. Dabei interessiert ihn nicht die spontane Verwunderung, sondern die Ausbildung einer bestimmten Haltung zu den Dingen. Die ›vernünftige‹ Verwunderung zeichnet sich durch ein ›tiefes Nachsinnen‹ über ihre Ursachen aus; und sie impliziert neben einer Aufmerksamkeit auf das der Bewunderung würdige Objekt immer schon eine Rückwendung auf das staunende Subjekt, das sich in seiner Affiziertheit selbst reflektiert und prüft. Wie ich an anderer Stelle detailliert ausgeführt habe,45 versteht Bodmer Staunen nämlich als eine meditative Selbstpraktik, die sowohl dabei hilft »die Seele von den aussern Sinnen [zu] trene[n], und seine Aufmercksamkeit allein auf die Materie seiner Gedancken [zu] richte[n]«,46 als auch zugleich eine prüfende »Conversation der Seel[e] mit sich selbst« zu führen.47 Wer staunt, übt sich in den für das aufgeklärte Subjekt grundlegenden Fähigkeiten der Introspektion, Selbstreflexion und Selbstregulation und lernt zudem, über eine Sache konzentriert nachzudenken48: »Dieses machte mir in kurtzer Zeit die Vortheile des geschickten Staunens und der Ueberlegung bekannt, ich lernte die Gedancken auf einer Sache, die ich des nachsinnes würdig achtete, beysammen behalten.« Bei diesem Staunen handelt es sich also nicht um eine angeborene Primäremotion, sondern um eine lehr- und lernbare ethische Praktik, die u. a. in der Rezeption von Kunstwerken geübt werden kann. Diese Unterscheidung zwischen einer falschen und einer richtigen Verwunderung ist bei Bodmer auch wichtig für den Umgang mit Literatur. Wie Breitinger in seiner Vorrede zu den Betrachtungen schreibt, geht es beispielsweise in Bodmers Critischen Betrachtungen Über die Poetischen Gemählde Der Dichter (1741) darum zu lernen »wie man [die poetische Mahlerey: N. G.] in den poetischen Gemählden mit Vernunft bewundern solle«.49 Bodmer ist davon überzeugt, dass das Rezipieren von Kunstwerken die Aufmerksamkeit trainiert, und dass man damit die für jede Erkenntnis notwendige begriffliche Klarheit erreichen könne. In Von dem Einfluss und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727) schreiben Bodmer und Breitinger entsprechend, man solle Kunstwerke »von allen Seiten mit steten Augen anschaue[n], und die Gedancken so lange darbey auf[halten], biß man eine Deut45 Gess: Staunen als ästhetische Praktik [Anm. 13]. Ich greife in diesem und im folgenden Absatz auf Überlegungen und Formulierungen aus diesem Aufsatz zurück. 46 Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern III, Zürich 1722, 123. 47 Ebd., 118 f. 48 Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Der Mahler der Sitten I, Zürich 1746, 100. 49 Johann Jakob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde Der Dichter, Zürich 1741, Vorrede [unpaginiert].

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lichkeit in den Begrieffen wahrnimmt.« 50 Die falsche Verwunderung stellt nichts als eine spontane affektive Reaktion auf einen intensiven Sinnenreiz dar, während es sich bei der richtigen Verwunderung um das Ergebnis eines solchen Kontemplations- und Reflexionsprozesses anlässlich eines Kunstwerks handelt. Bodmer betont im Brief-Wechsel von der Natur des poetischen Geschmackes51: »Das Ergetzen, das die Verwunderung giebet, kömmt […] nach einer Betrachtung des Verstands, und ist durchgehends in allen Aufsätzen der Poesie und der Wohlredenheit, worinne je die Leidenschafften rege gemacht werden, zu finden«. Auch die Lust an der Tragödie erklärt Bodmer entsprechend mit der »Verwunderung über den künstlichen Betrug«,52 die sich bei den Zuschauenden erst dann einstellt, wenn sie durch einen Reflexionsprozess, der die Selbstreflexion einschließt, ihr eigenes Betrogen-Werden erkannt haben und so über den spontanen Affekt des Mitleids hinausgekommen sind. In den Critischen Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter verhält es sich ganz ähnlich mit dem Vergnügen an der Nachahmung, das Bodmer wie folgt erläutert 53: »Ohne Zweifel [empfängt die Verwunderung ihre Kraft zu ergetzen: N. G.] von der Betrachtung, wie groß die Fähigkeit der menschlichen Kräfte sei, die Kunst der Natur durch ihre Kunst zu erreichen«. Die kultivierte Verwunderung bezieht sich also nicht einfach auf das Nachgeahmte – das gilt nur für die falsche, oder besser: die naive Verwunderung –, sondern zugleich immer auch auf die Kunst der Nachahmung, auf deren Kunstfertigkeit. Die Verwunderung entspricht hier der Beurtheilung, da einer sich selbst zum Richter einer Schilderey aufwirfft; indem er die Sachen, die in dieser Welt vorkommen, mit denen Sachen vergleichet, die er in einer andern Welt unvermuthet entdecket, und die Grade der Leidenschaften bey sich abmißt, so zwischen den wahren Originalen, und den Nachbildern befindlich sind.54

Sich über ein Kunstwerk zu verwundern, meint hier folglich, nicht nur ein Urteil über die Kunst der Darstellung, sondern auch über den eigenen Seelenzustand zu treffen. Bodmer macht also, wie ursprünglich Gottsched, die reflektierende Verwunderung in der Bewunderung stark, interessiert sich dabei aber anders als dieser nicht für die Frage der Nacheiferung.55 Vielmehr geht es ihm um die Kultivierung von 50 Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger: Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs=Krafft – Zur Aussbesserung des Geschmackes – Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen/Worinne Die ausserlesentste Stellen Der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründtlicher Freyheit beurtheilt werden, Frankfurt a. M./Leipzig 1727, 7. 51 Bodmer: Brief=Wechsel [Anm. 43], 92. 52 Ebd., 87. 53 Bodmer: Über die Poetischen Gemählde [Anm. 49], 141. 54 Ebd., 141 f. 55 Siehe aber auch: »Allein das Trauerspiel nimmt sich nicht vor die Zuseher zu eben dergleichen Leuten zu machen, auch zu den vollkommensten nicht, welche es vorstellet. […] Es ist ihm genug, wenn es den Zusehern einen Begriff von dem was tutgendhaft, und heldenmüthig ist, beybringen kann; und wenn es zu diesem Ende die Idee des vollkommensten liefert, so thut es



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Staunen als einer meditativen Praktik, die im Umgang mit Kunst gelernt werden kann. Zugleich ist es aber auch bei Bodmer so, dass diese richtige Verwunderung eng an die Bewunderung gebunden bleibt, insofern sich beide gegenseitig validieren: Die kultivierte Verwunderung springt nur auf tatsächlich Bewundernswertes an; und umgekehrt ist das tatsächlich Bewundernswerte – z. B. das Große und Erhabene – prädestiniert für die Kultivierung von Staunen, auch im Kontext der Tragödie56: es sind nämlich die grossen Würkungen und Thaten der freyen Wesen, denen der Charakter eines grossen Gemüthes eingepräget ist, welche die menschlichen Kräfte zu übersteigen scheinen, und vermögend sind, in Erstaunen, in tiefes Nachsinnen, in Furcht und Schrecken zu setzen, und das Mitleiden auf einem hohen Grade rege zu mache.

Es ist folglich am Ende auch hier die enge Verschaltung von Ver- und Bewunderung, die die ethische Funktionalisierung des Staunens gewährleistet. VI.

Nach diesem Überblick über tragödientheoretische Debatten zur ethischen Relevanz des Staunens möchte ich abschließend noch einmal kurz zu Lessing zurückkommen. Lessings Einakter Philotas, den er kurz nach dem Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai schrieb, lässt sich meiner Ansicht nach als eine Weiterführung der ethischen Debatte um die Bewunderung mit anderen Mitteln lesen.57 Im Siebenjährigen Krieg geschrieben, wurde das Trauerspiel lange Zeit als Verherrlichung eines patriotischen Selbstopfers verstanden. Die Forschung ist sich inzwischen jedoch einig, dass Lessing mit dem 1759 publizierten Trauerspiel vielmehr nicht anders, als was alle Moralisten, und aus genugsamen Ursachen zu thun pflegen. Daneben ist gewiß, je höher die Charakter ohne Nachtheil der Glaubwürdigkeit getrieben werden, daß sie sich unserer Hochachtung und Verwunderung desto besser bemächtigen, und desto tiefere Empfindungen in das Gemüthe eindrücken. So daß der Samen von tugendhaften Neigungen der in dem Menschen liegt, mittelst ihres Druckes desto glücklicher und schneller aufgehet« (Bodmer: Critische Briefe [Anm. 41], 84 f.). 56 Ebd., 101. Hier ist zwar von »freyen Wesen« (d. h. übersinnlichen Kreaturen) die Rede, aber entsprechendes Erstaunen erwecken auch menschliche »grosse Gemüthe«: »man wundert sich, wie es seyn könne, daß Menschen sich zu so hohen Entschlüssen und Thaten, die so übermenschlich oder so unmenschlich scheinen, erheben können« (ebd., 99 f.). »Ein grosses Herz entzücket und verursacht eine gewisse Bewunderung, mit Bestürzung und Erstaunen vermischet« (ebd., 102). 57 Das wurde in der Forschung verschiedentlich angedeutet: Vgl. Alexander von Bormann: Philotas-Lektüren –Zum Verhältnis von Tragödien und Aufklärung, in: Lessing Yearbook 30 (1998), 31–52; Conrad Wiedemann: Ein schönes Ungeheuer – Zur Deutung von Lessings Einakter »Philotas«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 17 (1967), 381–397, bes. 383 f.; Wolfgang Ranke: Theatermoral – Moralische Argumentation und dramatische Kommunikation in der Tragödie der Aufklärung, Würzburg 2009.

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das Dispositiv des Heroischen und die unreflektierte Kriegsbegeisterung, die er bei seinen Zeitgenossen beobachten konnte, problematisieren wollte.58 Ich werde mich im Folgenden darauf konzentrieren, den Einakter als eine Affektstudie zu lesen, in deren kritischem Zentrum die Bewunderung steht. Ich werde zeigen, wie Lessing in seinem Trauerspiel die Bewunderung ins Verhältnis zur intuitiven Begeisterung, zum Mitleid und zum Erstaunen/Schrecken setzt und so neben der neoklassizistischen Bewunderungsdramaturgie auch andere der oben besprochen Konzeptionen einer Staunensethik kritisch beleuchtet. (1.) Die Figur des Philotas ist für Lessing relevant sowohl als Objekt wie als Subjekt einer verfehlten Bewunderung. Als Subjekt (d. h. als Bewundernder) steht Philotas für die Bewunderung als intuitive Begeisterung ein, wie Mendelssohn sie im Briefwechsel entworfen hatte. Philotas begeistert sich für die »Helden«, die für den König im Kampf fielen;59 er will ihnen nacheifern und »verzehrt« sich nach dem »Feuer der Ehre, der Ehre fürs Vaterland zu bluten« (P, 13). Anders als von Mendelssohn vorgesehen, wurzelt diese Bewunderung jedoch nicht so sehr in objektiven Eigenschaften des bewunderten Objekts, als vielmehr in einer subjektiven Prädisposition: Der Unreife des Helden und seinem Hang zur Schwärmerei. Philotas’ Bewunderung wird im Trauerspiel mehrfach kritisch als naiver Enthusiasmus, am Ende auch als wütender Wahn gekennzeichnet.60 Dies gilt sowohl für seine Selbstbeschreibung: »Welch Feuer tobt in meinen Adern? Welche Begeisterung befällt mich?« (20), als auch für die Bemerkungen anderer, die ihn beispielsweise als »zu feurig« (17) kritisieren. Dabei stellt Lessing, wie u. a. Conrad Wiedemann gezeigt hat,61 schonungslos die Zahnlosigkeit und Missbräuchlichkeit schulphilosophischer Verhaltensmaximen gegenüber dieser Wucht der Empfindung heraus. So etwa, wenn Philotas sich – wie von Bodmer gefordert – zur Konzentration und Introspektion ermahnt, seine »flüchtigen« Gedanken zu »fesseln«, ihnen sorgfältig »nachzuhängen« versucht (P, 19) – und dadurch nur noch stärker seinem spontanen Einfall verfällt, dessen Irrationalität und Nichtartikulierbarkeit deutlich ausgestellt und von Philotas überdies metaphysisch überhöht werden: ein Gedanke, »den ein Gott in mir dachte«, der »[meine ganze Seele: N. G.] durchstrahlt« (ebd.) und der sich nicht in Worte spätestens seit Wiedemann: Ein schönes Ungeheuer [Anm. 57]. Ephraim Lessing: Philotas, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden IV, hg. von Wilfried Barner und Gunter E. Grimm, Frankfurt a. M. 1997, 9–35 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle P mit Seitenzahl in Klammern], hier 15. 60 Daher wurde er in der Forschung auch als kritische Vorwegnahme des Sturm und Drang-Genies beschrieben: »The purpose of the play is to show […] the devastating effects that a character [a Sturm und Drang figure: N. G.] like Philotas can have on society and thus to give us cause to contemplate such dangerous tendencies« (Peter J. Burgard: Lessing’s Tragic Topography – The Rejection of Society and its Spatial Metaphor in ›Philotas‹, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61/3 (1987), 441–456, hier 454). 61 Vgl. Wiedemann: Ein schönes Ungeheuer [Anm. 57], 388–391; s. a. Gisbert Ter-Nedden: »Mit Hilfe des Verstandes unternommene Leugnung des Verstandes« (Gisbert Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele – Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986, 144). 58 Dies

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fassen lässt: »ich getraue mir ihn nicht in Worte zu kleiden; ich denke ihn nur, wie mich der Philosoph Gott zu denken gelehrt hat« (25).62 Entsprechend weist Philotas auch Parmenio, der ihm seinen Plan auszureden versucht, zweimal an, nicht zu ›vernünfteln‹ – dafür sei eine solche Eingebung nicht zugänglich. Die gleiche Missbräuchlichkeit schulphilosophischer Maximen zeigt sich auch, wenn Philotas das ethisch-ästhetische Konzept der ›Vollkommenheit‹ aufruft, um seinen Selbstmord zu rechtfertigen und es so in seiner lebensfernen ›Monströsität‹ offenlegt:63 O mein abwesender vortrefflicher Vater Hast du mich nicht gelehrt, ein Held sei ein Mann, der höhere Güter kenne, als das Leben? […] Jedes Ding, sagte der Weltweise, der mich erzog, ist vollkommen, wenn es seinen Zweck erfüllen kann. Ich kann meinen Zweck erfüllen, ich kann zum Besten des Staats sterben: ich bin vollkommen also, ich bin ein Mann. (P, 20)

Philotas hat also hehre Ziele, sucht mit seiner nach Bewunderung heischenden Schreckenstat aber vor allem auch Erlösung aus der Langeweile: »Geduld, mein Herz. Bald will ich dich deines einförmigen, langweiligen Dienstes entlassen« (ebd.). Doch anders als bei Burke hat die Transgression hier gerade nicht die Verhinderung, sondern die Durchführung des Selbstmords zur Folge. Lessing scheint Burkes anthropologische Grundannahmen ad absurdum zu führen. Auch das neo­ stoizistische Motiv der altruistischen Selbsttötung wird hinterfragt. Denn Philotas dient der Suizid letztlich zur Selbstverwirklichung: »was könnte ich, was wollte ich werden? Ein Held« (ebd.). Gegenstand seiner Bewunderung ist so letztlich er selbst: »Der du itzt da stehest, Philotas – indem er sich selbst betrachtet – Ha! Es muss ein trefflicher, ein großer Anblick sein: ein Jüngling gestreckt auf dem Boden, das Schwert in der Brust!« (28). Philotas will gesehen werden; er will sich in den bewundernden Augen seiner Zuschauer spiegeln. Er stirbt nicht auf dem Schlachtfeld, sondern auf einer imaginären Bühne; sein Kampf ist ein Schaukampf, sein Tod ein Bühnentod. Damit kommentiert der Philotas auch die Komplizenschaft der Tragödiengattung in der Etablierung eines heroischen Dispositivs, das von den intradiegetischen Zuschauern als verstörend, irrational und wahnhaft kritisiert wird. (2.) Anhand der Figur des Strato bearbeitet Lessings Trauerspiel das Verhältnis von Bewunderung und Mitleid. Lessing hatte im Briefwechsel geschrieben, dass auf 62 »So einen guten Einfall nun, wollte ich sagen, als das Glück oft in das albernste Gehirn wirft, so einen habe auch ich itzo ertappt. Bloß ertappt; von dem Meinigen ist nicht das geringste dazugekommen. Denn hätte mein Verstand, meine Erfindungskraft einigen Anteil daran, würde ich ihn nicht gern mit dir überlegen wollen? Aber so kann ich ihn nicht mit dir überlegen; er verschwindet, wenn ich ihn mitteile; so zärtlich, so fein ist er, ich getraue mir ihn nicht in Worte zu kleiden; ich denke ihn nur, wie mich der Philosoph Gott zu denken gelehrt hat, und aufs höchste könnte ich dir nur sagen, was er nicht ist - Möglich zwar genug, daß es im Grunde ein kindischer Einfall ist; ein Einfall, den ich für einen glücklichen Einfall halte, weil ich noch keinen glücklichern gehabt habe« (P, 24 f.). 63 Lessing bezeichnet die stoischen Helden als »schöne Ungeheuer«, d. h. als unmenschlich (BW, 680). Vgl. auch Wiedemann: Philotas als »das schöne Ungeheuer« (Wiedemann: Ein schönes Ungeheuer [Anm. 57], 392).

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das Mitleid bisweilen die Bewunderung folge bzw. die Bewunderung als Erholung vom Mitleid diene (vgl. BW, 671). Bei Strato verhält es sich genau andersherum. Auf die anfängliche Bewunderung: »Bei den Göttern! Eine große Antwort! Ich muß dich bewundern und lieben« (P, 12), folgt am Ende das Mitleid: »Bin ich ein Verräter, König, wenn ich deinen Feind beweine? […] Ein wunderbarer Jüngling« (35). ›Wunderbar‹ ist Philotas für Strato am Ende nicht mehr aufgrund, sondern trotz seiner Tat. Er verurteilt den Selbstmord: »Als unser Gefangener hattest du kein Recht über dich selbst« (15), aber nicht den Jungen, dessen gute Anlagen: »Prinz, deine Bildung, voll jugendlicher Anmut, verspricht ein sanftres Gemüt« (ebd.), er erkennt und dessen emotionalen Überschwang er dem Jungendalter zuschreibt: »Es ist der Fehler des Jünglings, sich immer für glücklicher, oder unglücklicher zu halten, als er ist« (ebd.). Stratos Mitleid für Philotas löst also seine anfängliche Bewunderung ab, die ihm im Licht der Ereignisse nun als verfehlt erscheint. Das Mitleid wiederum lässt Philotas zwar sympathischer erscheinen, markiert aber zugleich die zunehmende Distanzierung Stratos von dessen Denken und Handeln. (3.) Schließlich beschäftigt sich Lessing in dem Einakter auch mit Erstaunen und Schrecken. Das Erstaunen geht hier, der historischen Semantik entsprechend, mit einem Schock einher, der den Erstaunten ›betäubt‹ oder ›versteinert‹ zurücklässt.64 Dreimal passiert das in dem kurzen Stück: Zunächst, als Philotas erfährt, dass auch der Sohn des Aridäus gefangen wurde und sein Schicksal dadurch eine unerwartete Wendung genommen hat: »ich erstaune« (P, 17) – »Götter! Näher konnte der Blitz […] nicht vor mir niederschlagen. Wunderbare Götter! Die Flamme kehrt zurück, […] und ich war nur betäubt« (18). Dann, als Philotas Parmenio sagt, er wolle erst am morgigen Tag von seinem Vater ausgelöst werden: »Parmenio: ›Ich erstaune –‹ Philotas: ›Du sollst hören, und nicht erstaunen‹ Parmenio: ›ich erstaune, weil ich höre. Es hat geblitzt, und ich erwarte den Schlag‹« (23). Und schließlich, als Aridäus den Prinzen kriegswütige Reden schwingen hört: »Aridäus: ›Prinz, ich höre dich mit Erstaunen –‹ Philotas: ›Ach! – Auch ein Weib kann man mit Erstaunen hören!‹ Aridäus: ›Mit Erstaunen, Prinz, und nicht ohne Jammer! […] Welch eine schreckliche Zukunft enthüllt sich mir!‹« (30). Das Erstaunen des Königs steigert sich am Schluss zum Schrecken: »O König! – Das Schrecken hat ihn versteinert! – König!« (34). Das Erstaunen wird in Lessings Trauerspiel, anders als bei Mendelssohn, also nicht als gesteigerte Bewunderung im Sinne einer höchsten Wertschätzung verstanden. Philotas löst nicht Erstaunen aus, wenn die anderen ihn bewundern, sondern wenn sein Verhalten sie negativ überrascht; daher ist es bei Parmenio mit Unverständnis und blindem Gehorsam und bei Aridäus – ähnlich wie bei Burke – mit ›Jammer‹ und ›Schrecken‹ gepaart.

64 Vgl. z. B. zum Zusammenhang von Staunen und Betäubung/Ohnmacht den Artikel »Ohnmacht« in: Grosses Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden XXV, hg. von Johann Heinrich Zedler, Halle/ Leipzig 1745, 991–1010, bes. 993–997.



Bewunderung, Verwunderung, Erstaunen?365

Zusammengefasst erweist sich die Bewunderung in diesem Stück also keinesfalls als »Mutter der Tugend« (BW, 676), wie Mendelssohn propagiert hatte. Wenn überhaupt, stößt nur das Schreck-Staunen eine moralische Wandlung an. Vorgeführt wird das an König Aridäus, dessen Schrecken am Ende zu einer Abkehr vom Krieg und sogar zu seiner Abdankung führt. Interessant wird die Frage nach einer Transformation der neoklassizistischen Bewunderungsdramaturgie aber vor allem mit Blick auf die Rezeption des Dramas, deren Widersprüchlichkeit im Stück selbst durch Parmenio vorweggenommen wird: »Ich betauerte [sic] dich, ich bewunderte dich, ich verwünschte dich, ich weiß selbst nicht, was ich alles that« (P, 21).65 Lessings Philotas ruft nicht Identifikation, sondern Irritation hervor,66 ob durch sein formales Abrücken (Prosastück, Einakter, Mischung von tragischen und komischen Elementen) oder durch seine inhaltlichen Abweichungen von der neoklassizistischen Tragödienkonvention – die »wunderbare Vermischung von Kind und Held« (33), die drameninterne Kritik am Denken und Handeln des Helden, die Verbindung von Patriotismus und Wahn, die Abdankung des Königs. Entsprechend widersprüchlich sind die Reaktionen der Zeitgenossen. Beispielsweise ist Gleim vom vermeintlichen Patriotismus des Einakters begeistert, tilgt aber in seiner versifizierenden Überarbeitung trotzdem viele der Merkmale, die die der Rezeptionskonvention entsprechende Reaktion – Identifikation mit dem Helden, Bewunderung für seine selbstlose Tat, Nacheiferung bzw. glühender Patriotismus – erschweren.67 Bodmer hingegen zeigt sich irritiert von Lessings unreifem Helden und parodiert den Einakter u. a. in Polytimet. Ein Trauerspiel. Durch Lessings Philotas, oder ungerathenen Helden veranlasst (1760). Andere Zeitgenossen wiederum wundern sich über die Mischung von tragischen und komischen Elementen, wie sie sich v. a. im Dialog mit Parmenio finden.68 65 Vgl. Robert E. Norton: »Ein bitteres Gelächter« – Tragic and Comic Elements in Lessing’s Philotas, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), 450–465. »These words, spoken bei Parmenio, state in an almost paradigmatic fashion the sort of emotional confusion that Lessing felt was created by […] French heroic tragedy« (ebd., 464). 66 Vgl. zur Irritation, die der Einakter auslöst, Ranke: Theatermoral [Anm. 57], 396–399. Ranke geht davon aus, dass Lessing hier eine »Strategie der Rezeptionslenkung« verfolgt, die »Irritationen bewirkt und offenbar sehr anf ällig ist für Missverständnisse« (ebd., 400). Lessing setze auf eine »indirekte Relativierung (und Entlarvung) der vordergründigen Bewertungsperspektive«, um den Rezipienten »zu einer Selbstkorrektur seiner Urteilsgewohnheiten« zu veranlassen (ebd., 406). Dabei geht Ranke auch kurz auf die Bewunderung ein: »Lessing strebt keine Bewunderung an, sondern will die sich […] quasi automatisch einstellende Bewunderung des patriotischen Märtyrers zum Problem machen. Daher ist es gerade erforderlich, die voraussetzbare Disposition des Rezipienten zur Bewunderung gleich zu Beginn schon zu bedienen. Nur dann nämlich kann ein Prozess der Selbstkorrektur […] in Gang gesetzt werden« (ebd., 460). 67 Vgl. Johann Wilhelm Ludwig Gleim: Philotas – Ein Trauerspiel – Von dem Verfasser der preussischen Kriegslieder vercificirt, Berlin 1760. 68 Vgl. Staats- und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, Hamburg, 30.6.1759, in: Kommentar zum Philotas [Lessing: Werke und Briefe IV [Anm. 59], 796–798, hier 798]; Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste V, Leipzig 1759, 311–317 [Lessing: Werke und Briefe IV [Anm. 59], 798–802, hier 801].

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Lessings Trauerspiele sind auch als Lehrstücke beschrieben worden.69 Das lässt sich auch für Philotas behaupten – allerdings nicht, insofern das Trauerspiel eine klare moralische Lehre erteilen würde, sondern insofern es bisherige Verhaltensdispositionen in Frage stellt. Die formalen und inhaltlichen Abweichungen wirken als Störmomente, die eine Abweichung von der von der Rezeptionskonvention vorgesehenen Bewunderung zur Folge haben. Mit Brecht könnte man sagen: Sie führen zu einem distanzierenden Staunen. Darum macht es durchaus Sinn, dass Lessings Trauerspiel seinem Helden mit einer gewissen »Gefühlskälte« begegnet.70 Es geht am Ende nicht darum, großes Mitleid mit ihm zu empfinden, sondern über sein Handeln ins Nachdenken zu geraten. Entsprechend endet das Stück auch mit einer Frage an die Zuschauenden: »Glaubt ihr Menschen, daß man es [den Krieg, das Königsein: N. G.] nicht satt wird?« (P, 35). Von einer Ethik der Bewunderung kann im Philotas keine Rede sein; vielmehr wäre es angemessen, von einer Ethik der irritierten Verwunderung zu sprechen.

69 So Ter-Nedden, für den Lessings Trauerspiele allesamt »Lehrstückcharakter« haben (TerNedden: Lessings Trauerspiele [Anm. 61], 248). Vgl. auch Norton, der Philotas als Satire versteht: »Rather than exemplify a straightforward heroic tragedy, Philotas in several crucial respects appears to veer precipitously toward the mode of a thickly veiled satirical comedy. […] the apparently jarring conflation of an immediate emotional response and a distanced intellectual judgement that this unusual mixture of poetic codes elicits stands at the core of Lessing’s aim« (Norton: »Ein bitteres Gelächter« [Anm. 65], 454). Sowie abermals Ter-Nedden, der von Philotas als einer »Kriegs-Parabel« spricht und auf dessen zeitliche Nachbarschaft zum Fabelbuch hinweist (Gisbert Ter-Nedden: Lessings Meta-Fabeln und Bodmers Lessingische unäsopische Fabeln oder Das Ende der Fabel als Lese-Literatur, in: Europäische Fabeln des 18. Jahrhunderts zwischen Pragmatik und Autonomisierung – Traditionen, Formen, Perspektiven, hg. von Dirk Rose, Jena 2010, 159–205, hier 179). 70 Vgl. den Artikel zu Philotas: »Ein ungelöstes Problem gibt Wiedemanns Auslegung auf: Das Trauerspiel, in dem Lessing mit der heroischen Tragödie abrechnet, scheint den Fehler der Gefühlskälte zu wiederholen. Ist Philotas nicht ein abschreckendes Beispiel? Und soll die Tragödie, Lessing zufolge, nicht Mitleid erregen und zur Identifikation einladen?« (Fick: Lessing Handbuch [Anm. 26], 163).

Genderpraktiken Zur Praxeologie des Mitleids am Beispiel von Lessings Miß Sara Sampson Johannes Hees-Pelikan I. Einleitung

1755 veröffentlicht Gotthold Ephraim Lessing Miß Sara Sampson. Der Erstausgabe verleiht er den Untertitel Ein Bürgerliches Trauerspiel. Das Stück wird ein großer Erfolg – so groß, dass dieser Untertitel bzw. die von ihm bezeichnete Gattung eine steile Karriere macht.1 Wie ein lauter Paukenschlag rüttelt Miß Sara Sampson die dramatischen Genres des 18. Jahrhunderts auf. Für die Gattung Drama beginnt eine neue Zeitrechnung.2 Bürger auf die Bühne! – Unter diesem Motto könnte man den Wandel skizzieren, mit dem insbesondere ein schroffer Bruch mit der klassizistischen Tragödie vollzogen wird, die bis dahin als Gipfel dramatischer Kunst galt und als solcher vor allem von Johann Christoph Gottsched in seinen poetologischen Schriften wie auch in seinen Dramen hochgehalten wurde. Mit dem bürgerlichen Trauerspiel findet gewissermaßen eine Auswechslung statt: Die adligen oder mythologischen Helden der klassizistischen Tragödie werden durch Bürger ersetzt. An die Stelle schicksalhafter Konflikte zwischen großen Abstrakta wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Ehre und dem heroischen Individuum treten kleinteiligere sozialhistorisch bedingte Verwicklungen. Und an die Stelle großen Erschreckens und ohnmächtig staunender Bewunderung, die das Publikum dem alltagsfernen Schicksal des Helden entgegenbringt, tritt das Mitleid mit denjenigen Menschen, die in die Fänge des Allzumenschlichen geraten sind. Diese Verschiebung in der Affektlogik – von Erschrecken und Bewunderung zu Einfühlung – ist vielleicht das markanteste und wichtigste Merkmal des bürgerlichen Trauerspiels, das L ­ essing bekanntlich in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) und zusammen mit Moses Mendelssohn und Friedrich Nicolai im Briefwechsel über das Trauerspiel (1794) diskutiert. Man kann hier von einem emanzipatorischen Akt sprechen: Mit der Abschaffung der Ständeklausel (also der Beendigung des exklusiven Wohnrechts des heroischen, adligen Figurenpersonals im Reich des Tragischen) wird den Konflikten und Gefühlen bürgerlicher Figuren zum ersten Mal Tragik zugebilligt. Lessing selbst bringt es in seiner Theatralischen Bibliothek (1754) folgendermaßen auf 1 Vgl. Monika Fick: Miß Sara Sampson, in: dies.: Lessing-Handbuch – Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 32010, 148–164, hier 148. 2 Für die folgenden kursorischen Bemerkungen zur Abgrenzung von bürgerlichem Trauerspiel und klassizistischer Tragödie vgl. exemplarisch Albert Meier: Dramaturgie der Bewunderung – Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993; PeterAndré Alt: Aufklärung – Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 32007, 207–218.

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den Punkt 3: »[M]an suchte sich also aus dem Mittelstande Helden, und schnallte ihnen den tragischen Stiefel an«, und aus dieser »Veränderung«, so Lessing weiter, »entstand das bürgerliche Trauerspiel«. Wenn mit dem bürgerlichen Trauerspiel – dessen Gattungsmerkmale und Gattungsgeschichte ich hier natürlich nur sehr kursorisch skizziert habe – eine neue Zeitrechnung für die Gattung des Dramas beginnt, dann liegt es nahe, dass diese Zeitrechnung irgendwann auch wieder endet. Und tatsächlich gibt es Stimmen, die in Friedrich Hebbels Maria Magdalena, erschienen 1844, so etwas wie den Kulminationspunkt des Genres ›bürgerliches Trauerspiel‹ sehen. So schreibt etwa Arthur Eloesser 1898 in seiner Studie Das bürgerliche Drama, dass Maria Magdalena nicht mehr so sehr als ein bürgerliches Trauerspiel zu verstehen sei, sondern vielmehr als ein Trauerspiel bzw. (in Eloesser Worten) eine »Tragödie des Bürgertums«.4 Interessant ist die Begründung, die Eloesser für die Verleihung dieses bis heute im Bewusstsein der Forschung verbliebenen Titels an Maria Magdalena gibt.5 Eloesser möchte mit seiner Rede von der ›Tragödie des Bürgertums‹ argumentieren, dass Hebbels so bezeichnetes Drama das Bürgertum deutlich kritisiere, sozusagen als Auslauf­modell darstelle6: »Mit der ›Maria Magdalena‹ hat sich das bürgerliche Drama, einst ein Organ des Emanzipationskampfes, gegen das Bürgertum selbst gekehrt«. Dargestellt werde der Niedergang des Bürgertums, der vor allem aus der von Hebbel drastisch vorgeführten Verstrickung des Bürgertums in starre Konventionen und Rollenbilder resultiert, in problematische Klischees, denen, wenn man genauer hinschaut, vor allem problematische Geschlechterrollen zugrunde liegen bzw. – das ist der Begriff, den ich im Folgenden verwenden möchte – problematische Genderpraktiken.7 Solche Genderpraktiken sind nicht nur in Hebbels ›letztem‹ bürgerlichen Trauerspiel omnipräsent, sondern sie prägen die Gattung schon im ersten, in Lessings Miß Sara Sampson.8 Und auch hier kommen Genderpraktiken nicht etwa als mo3 Gotthold Ephraim Lessing: Theatralische Bibliothek – Erstes Stück in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden III, hg. von Conrad Wiedemann, Frankfurt a. M. 2003, 259–319, hier 264 f. 4 Arthur Eloesser: Das bürgerliche Drama – Seine Geschichte im 18. und 19. Jahrhundert, Berlin 1898, 216, [Hervorhebung: J. H.-P.]. 5 Vgl. z. B. Günter Häntzschel: Christian Friedrich Hebbel – Maria Magdalena, in: Dramen des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1997, 234–252, hier 234; Mingchao Mao: Friedrich Hebbels Arbeit an Schiller – Die Schiller-Rezeption in Hebbels Ästhetik und Dramatik, Berlin/Boston 2019, 212; Kritik an Eloessers Titulierung übt etwa Matthias Luserke-Jaqui: Buchstäblichkeit und symbolische Deutung – Schriften zur Kulturgeschichte der Literatur, Tübingen 2021, 363. 6 Eloesser: Das bürgerliche Drama [Anm. 4], 218. 7 Zur Gender-Thematik bei Hebbel siehe bspw. Antonia Villinger: Geschlechter- und Fami­ lienkonfigurationen in Schillers Kabale und Liebe und Hebbels Maria Magdalena – Vorschläge für eine gendersensible Literaturdidaktik, in: Neue Perspektiven einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturdidaktik, hg. von Michael Hofmann, Miriam Esau und Sigrid Thielking, Würzburg [im Erscheinen]; Thomas Borgard: Hebbel und das ›Drama‹ des Liberalismus – Annäherungen an Maria Magdalena in Auseinandersetzung mit Gender Studies und Postmoderne, in: »Das Weib im Manne zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann« – Geschlechterkampf oder Geschlechterdialog – Friedrich Hebbel aus der Perspektive der Genderforschung, hg. von Ester Saletta et al., Berlin 2008, 195–222. 8 Zu Überschneidungen bei Lessing und Hebbel in dieser Hinsicht siehe Wolfgang Düsig:



Genderpraktiken369

tivische oder sozialhistorische Kuriosa vor, sondern sie führen direkt ins Zentrum des Stücks: Sie bedingen und strukturieren den tragischen Konflikt, werden von diesem Konflikt aber auch bearbeitet und kritisch verhandelt. Im Folgenden möchte ich meine Überlegungen zu den Genderpraktiken in Miß Sara Sampson in drei Schritten näher ausführen. Nach einer kurzen Klärung des Begriffs der Genderpraktiken werde ich die in Lessings Drama auftauchenden und für die Mitte des 18. Jahrhunderts typischen Genderpraktiken vergegenwärtigen (II.). Anhand poetologisch selbstreflexiver Textstellen möchte ich dann argumentieren, dass der Affekt des Mitleids, mit dem Lessings bürgerliches Trauerspiel kalkuliert, nur unter der Voraussetzung dieser Praktiken zustande kommt (III.). Schließlich werde ich zeigen, dass die Genderpraktiken in Miß Sara Sampson nicht einfach affirmativ aufgegriffen, sondern reflektiert, kritisiert und subvertiert werden, was insbesondere auch auf der Ebene der Darstellungsverfahren geschieht (IV.). II. Genderpraktiken

Den Begriff der Genderpraktik verwende ich im losen Anschluss an Arbeiten von Michel Foucault und Judith Butler. Foucault ist der Pionier jeder praxeologischen Subjekttheorie. In verschiedenen Arbeiten beschreibt er ein »Subjekt der Praktiken«, ein Subjekt also, das »durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird, wie in der Antike«.9 Zu diesen Praktiken oder »Technologien des Selbst«,10 wie Foucault sie auch nennt, gehören verschiedene Praktiken, die er in der griechisch-römischen Antike verortet und unter dem Begriff der Askese subsumiert.11 Zu den für das Subjekt konstitutiven Praktiken rechnet Foucault dabei immer auch solche, die man im weitesten Sinn als Genderpraktiken bezeichnen könnte. So beschreibt er etwa in Der Gebrauch der Lüste (1984) und Die Sorge um sich (1984) die Sexualität in der griechischen Antike als ein Feld, auf dem sich durch Selbstpraktiken das ethische Profil eines Subjekts herausbildet.12 Geschlechtlichkeit und Sexualität des Subjekts

»Ich bin die Tochter meines Vaters« – Väter und Töchter im bürgerlichen Trauerspiel von Lessing bis Hebbel, in: »Das Weib im Manne zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann« [Anm. 7], 27–42. 9 Michel Foucault: Eine Ästhetik der Existenz, übers. v. Hans-Dieter Gondek, in: ders.: Ästhe­ tik der Existenz – Schriften zur Lebenskunst, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a. M. 2007, 280–286, hier 283. 10 Michel Foucault: Technologien des Selbst, übers. v. Michael Bischoff, in: ders.: Ästhetik der Existenz [Anm. 9], 287–317. 11 Vgl. neben den anderen hier zitierten Texten von Foucault insbesondere Michel Foucault: Die Hermeneutik des Subjekts, übers. v. Ulrike Bokelmann, in: ders.: Ästhetik der Existenz [Anm. 9], 123–136. 12 Vgl. Foucaults Selbstexegese in Michel Foucault: Die Sorge um die Wahrheit, übers. v. HansDieter Gondek, in: ders.: Ästhetik der Existenz [Anm. 9], 226–238, hier 227.

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werden durch Praktiken konstituiert – Genderpraktiken.13 An diese grundlegenden Überlegungen Foucaults knüpft auch Judith Butler an, wenn sie in ihrer wegweisenden Studie Körper von Gewicht – Die diskursiven Grenzen des Geschlechts (1993) davon spricht, dass es Praktiken gibt, mittels denen Subjekte ihre jeweiligen Geschlechtsidentitäten festlegen bzw. auf diese festgelegt werden14: »Die sexuelle Differenz ist aber nie einfach nur eine Funktion materieller Unterschiede, die nicht in irgendeiner Weise von diskursiven Praktiken markiert und geformt wären«. Welche Genderpraktiken in der Mitte des 18. Jahrhunderts besonders verbreitet sind, ist von der Forschung immer wieder mit großem Aufwand und großer Präzision rekonstruiert werden. Meine folgenden Bemerkungen dazu sind deswegen auch nur eine Zusammenfassung, deren verkürzter Charakter unbedingt betont werden muss. Das Ziel dieser Zusammenfassung besteht darin, jene für Männer und Frauen konstitutiven Genderpraktiken zu beleuchten, die für meine anschließende Lektüre von Miß Sara Sampson zentral sind. Es ist aus heutiger Perspektive offensichtlich, dass Sara Sampson, die verführte Unschuldige, ein großes Klischee ist. Im Kern beruht das Klischee, dem Sara entspricht, auf weiblichen Genderpraktiken, genauer: den Praktiken weiblicher Tugend. Inge Stephan hat diese Genderpraktiken in ihrer Aufsatzsammlung Inszenierte Weiblichkeit – Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts (2004) ausführlich beschrieben. Eine Frau ist, wer den weiblichen Tugenden gemäß handelt. Das hauptsächliche Spielfeld, auf dem diese tugendhaften und geschlechtsstiftenden Praktiken ausgetragen werden, ist für Stephan die weibliche Sexualität, womit sie insbesondere an die ersten Teile von Foucaults Histoire de la sexualité (1976–2018) anschließt. Frauen werden also über ihre Tugend definiert; die Tugend wird mit ›weiblicher Unschuld‹ gleichgesetzt, d. h. mit den Praktiken der »virgo intacta«:15 der jungfräulichen, unschuldigen Frau. Der Effekt dieser Genderpraktiken ist freilich ambivalent. Stephan hält fest16: »Der Diskurs über die Unschuld fördert ein Paradox zu Tage: Wo Licht ist, ist auch Schatten. Die Reinheit ist ohne ihr Gegenteil – die Wollust – nicht zu denken. Hinter der Tugend lauert jene Sinnlichkeit, die in dem Diskurs über die Unschuld gebannt werden soll«. Die tugendhafte Frau wird also immer auch über die Fragilität ihrer Tugend definiert, ihre Sündhaftigkeit, die sie büßerisch akzeptiert. Die Tugend geht mit dem Laster einher; im 18. Jahrhundert ist die Frau, der berühmt-berüchtigten Formel gemäß, immer Heilige und Hure zugleich.

13 Vgl. Michel Foucault: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit, übers. v. Hermann Kocyba, in: ders.: Schriften in vier Bänden – Dits et Ecrits IV, hg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Frankfurt a. M. 2005, 875–902, hier 878. 14 Judith Butler: Körper von Gewicht – Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, übers. von Karin Wördemann, Frankfurt a. M. 1997, 21. 15 Inge Stephan: Inszenierte Weiblichkeit – Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Köln/Weimar/Wien 2004, 22 [Hervorh. im Original]. 16 Ebd., 24.



Genderpraktiken371

Diesem Klischee der Frau entspricht Sara Sampson vollkommen. In Vollendung praktiziert sie die entsprechenden Genderpraktiken. Deutlich sehen kann man das etwa, wenn sich Sara mit unermüdlichem Eifer an den Diskussionen um weibliche Sittlichkeit und Anstand beteiligt und diese Maßstäbe an sich selbst anlegt. Gerade­ zu obsessiv erscheint selbst den männlichen Figuren des Stücks Saras Beschäftigung mit dem Makel, den ihre Tugend dadurch erlitten habe, dass sie mit Mellefont durchgebrannt sei. Besonders rollenkonform agiert Sara auch immer dann, wenn sie ihrem Verführer jede Schuld an ihrer Verführung abspricht und diese stattdessen auf ihre weibliche Schwäche als Wurzel allen Übels auslagert. An Mellefont lässt sie kein krummes Haar. Selbstredend attestiert sie ihm, einigen anderslautenden Indizien zum Trotz, einen tadellosen Umgang mit seinen zahlreichen mehr oder weniger verflossenen Liebschaften ebenso wie mit seiner abgeschobenen unehelichen Tochter. Schuld und Schande, so Sara, gebühre den Verführerinnen des Verführers; eine ketzerische Frage, wie sie der Diener Norton stellt – »Warum soll Mellefont niemals Unrecht haben?«17 – kommt ihr an keiner Stelle in den Sinn. Sara unterwirft sich den weiblichen Genderpraktiken, die aber, anders als es etwa Stephan behauptet,18 von Lessing keineswegs affirmativ dargestellt werden; darauf wird zurückzukommen sein. Diesem Frauenklischee korrespondiert ein Männerklischee. Männer sind dabei diejenigen, so könnte man es möglichst zugespitzt formulieren, die ihre Sexualität praktizieren können, ohne sich mit den für Frauen typischen Komplikationen herumschlagen zu müssen. Das spezifisch weibliche Problem, immer auch ›Hure‹ sein zu müssen, haben Männer gerade nicht. Anders formuliert: Männer definieren sich durch den souveränen Umgang mit ihren Untugenden, denen sie gewissermaßen zu besseren diskursiv-kulturellen Bedingungen nachgehen können. Anders als die Frauen können die Männer, in der Formulierung von Stephan, mit der Ambivalenz der weiblichen Tugend gut leben, der die Männer mit dem »Begehren« begegnen, das »darauf gerichtet [ist], die Frau eben um das zu bringen, was doch andererseits gerade als ihr größter Reiz gilt: die sexuelle Reinheit«.19 Vorgesehen ist also eine klare Arbeitsteilung: Bei Sex vor und außerhalb der Ehe leben Männer und Frauen ihr Begehren aus, aber nur letzteren obliegt es zusätzlich, ein schlechtes Gewissen zu haben. In Lessings Stück praktiziert Saras Geliebter Mellefont diese männlichen Genderpraktiken, ebenso wie Saras Vater Sir William, während die subversiven, kritischen Stimmen den Dienern Waitwell und Norton vorbehalten sind. Mellefont jedenfalls hat die männlichen Genderpraktiken fest verinnerlicht. So nimmt er sich in den Gesprächen mit seiner ehemaligen Geliebten Marwood selbstverständlich das Recht heraus, diese moralisch zu verurteilen, weil sie ein untugendhaftes Verhältnis 17 Gotthold Ephraim Lessing: Miß Sara Sampson, in: ders.: Werke und Briefe III [Anm. 3], 431– 526 [im Folgenden: Zitate nach dieser Fassung im Lauftext unter der Sigle MSS mit Seitenzahl in Klammern], hier 512. 18 Vgl. Stephan: Inszenierte Weiblichkeit [Anm. 15], 28. 19 Ebd., 23.

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hatte – wohlgemerkt mit ihm, Mellefont selbst. Mellefont nimmt gegenüber Marwood die Haltung eines Mannes ein, der ob der Lasterhaftigkeit seines weiblichen Gegenübers (die ihn eigentlich nicht minder tangiert) in seiner Dignität verletzt, ja angewidert ist und daraus eine natürliche Konsequenz zieht, wenn er Marwood entgegnet: »Lassen Sie uns mit einander brechen, wie Leute von Vernunft, die der Notwendigkeit weichen« (MSS, 494). Es sind solche Frauen und Männer, die Lessing in Miß Sara Sampson auftreten lässt, indem er die jeweiligen Genderpraktiken und Geschlechterklischees vorführt. Dabei implementiert Lessings Drama die Genderpraktiken in, so könnte man sagen, ein doppeltes Spiel. Einerseits werden diese Praktiken nämlich, wie im Folgenden zu zeigen ist, für den Zweck der Erzeugung von Tragik und Mitleid instrumentalisiert, die das wirkungsästhetische Telos des bürgerlichen Trauerspiels bilden. Andererseits werden die Praktiken dadurch aber keineswegs affirmiert, sondern vielmehr problematisiert und kritisiert, was der Dramentext vor allem auf der Ebene der Darstellungsverfahren leistet. In den folgenden beiden Abschnitten möchte ich dieses doppelte Spiel, das Lessings Drama mit den Genderpraktiken und Geschlechterklischees spiel, näher erläutern. III. Praxeologie des Mitleids

Im Lessing-Handbuch (2010) beginnt Monika Fick ihren Eintrag zu Miß Sara Sampson mit dem wichtigen Hinweis, »[b]ei wenigen Stücken der Literaturgeschichte« sei »die Diskrepanz zwischen historischer und gegenwärtiger Bedeutung so groß wie bei Miß Sara Sampson«.20 Aus heutiger Sicht blicke man auf eine »fremd gewordene (dabei sehr komplexe) Welt des Dramas«.21 Mit der wichtigste Grund für diese Fremdheit von Lessings Drama ist die zentrale Rolle, die den Genderpraktiken darin zukommt. Denn Lessings Stück ist in wirkungsästhetischer Hinsicht auf diese Praktiken und die ihnen korrespondierenden Geschlechterklischees angewiesen. Die Klischees und Praktiken bilden die Voraussetzung dafür, dass sich in Miß Sara Sampson überhaupt ein Konflikt, ein tragisches Ende und Mitleid für die involvierten Figuren entwickeln kann, wie es die von Lessing formulierte Wirkungsästhetik des bürgerlichen Trauerspiels vorsieht. Denn die Voraussetzung dafür, dass Sara eine tragische Figur werden und sich beim Publikum der für das bürgerliche Trauerspiel konstitutive Affekt des Mitleids einstellen kann, ist Saras klischierte, sich über die einschlägigen Genderpraktiken konstituierende Frauenrolle. Mitleid haben die Rezipient*innen des Dramas nicht einfach mit Sara, sondern mit einem armen, verführten Mädchen, das bestimmten Genderpraktiken unterworfen ist. Es handelt sich somit nicht um Mitleid mit einem individuellen Menschen, sondern um Mitleid mit einer Figur, Sara, die spezifischen Genderpraktiken verpflichtet ist, 20 Fick: 21 Ebd.

Miß Sara Sampson [Anm. 1], 148



Genderpraktiken373

wobei die Genderpraktiken die Voraussetzung für dieses Mitleid sind. Gerade die praktische Dimension der Genderpraktiken ist es dabei, die für die Erzeugung von Mitleid in Miß Sara Sampson entscheidend ist. Es sind die Genderpraktiken, welche die Geschlechtsidentitäten von Frauen und Männern zu den starren Rollenbildern verfestigt, aus denen sich Tragik und Mitleid speisen. Denn Genderpraktiken erzeugen Geschlechterklischees – mit diesem Begriff lässt sich der »routinisierte« 22 Charakter von Praktiken umfassen 23: »[S]ie sind routinisierte Aktivitäten eines menschlichen Subjekts«. Weil die Geschlechtsidentität von Lessings Figuren durch Genderpraktiken erzeugt wird, entstehen starre und schablonenhafte Geschlechterrollen, Geschlechterklischees. Weil Genderpraktiken routinisierte, eingespielte, ›blinde‹ Abläufe darstellen, tendieren sie zur Konstitution starrer, normativer, klischierter Geschlechtsidentitäten. Auch Butler betont diesen Aspekt der Genderpraktiken, wenn sie feststellt, dass diese aufgrund ihres praktischen, auf Routinen und Wiederholungen abzielenden Charakters für den »Dienste der Konsolidierung des heterosexuellen Imperativs« prädestiniert seien.24 Genderpraktiken sind, da sie auf Routine und Wiederholung abonniert sind, prädestiniert für die Errichtung geschlechtlicher Normativität, und nur vor dem Hintergrund solcher Praktiken ist Mitleid in Miß Sara Sampson überhaupt möglich (und nötig). Der Blick auf die Genderpraktiken erlaubt es also, anhand von Miß Sara Sampson die wirkungsästhetische Affektökonomie des bürgerlichen Trauerspiels, die Lessing in seinen poetologischen Texten in der Erzeugung von Mitleid kumulieren lässt, zu spezifizieren. Das Mitleid des bürgerlichen Trauerspiels ist jedenfalls im Fall von Sara Sampson und anders als es Lessings Poetik zu suggerieren vermag nicht als eine anthropologisch-universale Form von Empathie zu verstehen, sondern als kühles Kalkül mit knallharten Genderpraktiken und Geschlechterklischees. Dieser Fokus auf die Genderpraktiken erlaubt damit eine kritische Revision bzw. Vertiefung derjenigen Forschungsbeiträge, die Lessings Drama als »Drama der Leidenschaften« bestimmen,25 d. h. als ein Drama, in dem die »Macht der nicht beherrschbaren, stets neu durchbrechenden Affekte« das zentrale Thema sei,26 das den tragischen Konflikt bedinge. Zweifelsohne besteht Miß Sara Sampson über weite Strecken in der Präsentation solcher Affekte, die von den Figuren verbal mittels Figurenrede oder nonverbal mittels Körperzeichen (wie etwa den reichlich strömenden Tränen) ausgedrückt werden.27 Aber: Diese Affekte sind gegenderte Affekte. Es sind Affekte, deren Voraussetzung die Geschlechtsidentität und die Genderpraktiken der sie empfindenden Figur sind. Die tragischen Verwicklungen der Figuren und das Mitleid der Rezipient*innen mit diesen wurzeln daher nicht in der unmittelbaren 22 Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken – Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32/4 (2003), 282–301, hier 289 ff. 23 Ebd., 292. 24 Butler: Körper von Gewicht [Anm. 14], 22. 25 Alt: Aufklärung [Anm. 2], 216. 26 Ebd., 215. 27 Vgl. ebd., 216 f.

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und unnachgiebigen ›Macht‹ der Affekte, sondern in den Genderpraktiken, welche die Affekte der jeweiligen Figuren allererst formen. Ich möchte diese Überlegungen zu einer Praxeologie des Mitleids anhand von zwei Stellen aus Lessings Drama sowie anhand kurzer Passagen seiner Hamburgischen Dramaturgie darstellen. Die erste Stelle hält gleich der erste Auftritt parat. Auf treten dort Saras Vater, Sir William, und dessen Diener, Waitwell, welche die mit ihrem Liebhaber (Mellefont) durchgebrannte Sara in einem zwielichtigen Gasthof ausfindig gemacht haben und sich darüber in Befürchtungen des Schlimmsten ergehen. Es fließen viele empfindsame Tränen in diesem ersten Auftritt; darüber hinaus passiert aber vor allem eines: Die Festschreibung von Frauenbildern, indem die ihnen zugrundeliegenden Genderpraktiken durchgespielt werden. Die beiden Männer beklagen mit Sara – »Sarchen« in ihrem Jargon – ein »Kind«, natürlich ein ›unschuldiges‹, das »verführt« wurde (MSS, 433). Sir William betont selbstgerecht die »Zärtlichkeit« (434), die er trotz all dem noch für seine Sara empfindet; großzügig ist er also bereit, seine Tochter nicht zu verstoßen. Er kommt dabei aber an keiner Stelle aus, ohne Saras Abweichung vom Pfad der weiblichen »Tugenden« hervorzuheben: ihr »Verbrechen«, ihr »Vergehen«, ihr begangenes »Laster«, die in einem, so Sir Williams Argument, weniger liebenden und unvoreingenommenen Vater »Abscheu« auslösen würden (ebd.). Präzise markieren diese Begriffe Genderpraktiken, die alle auf der ersten Seite des Dramas versammelt sind und eine Geschlechtsidentität konstituieren, die im Klischee der Frau als gefallener, verführter Tugend aufgeht. Dabei kommt es zu einer poetologischen Selbstreflexion, wenn die Praktiken als »Fehler« qualifiziert werden: Was Sara getan habe, so ihr Vater, sei »der Fehler eines zärtlichen Mädchens« (ebd.) gewesen. Damit wird Sara zur Protagonistin der Tragödie erklärt, beschreibt doch der Fehler (hamartia) nach Aristoteles eines der wesentlichen Merkmale tragischer Charaktere.28 Dass Saras Fehler dabei vor dem Hintergrund des Frauenklischees gedacht ist, ist offensichtlich. Der Fehler ist ein Fehler angesichts der weiblichen Genderpraktiken von Tugend, Unschuld, Verführung und Verbrechen, die Sir William und Waitwell an Sara herantragen. Saras Fehler und damit ihr Status als tragische Protagonistin ist nur vor dem Hintergrund dieser Praktiken und des von ihnen markierten Frauenklischees zu verstehen. Ohne diese Genderpraktiken kein Fehler, keine tragische Protagonistin, kein bürgerliches Trauerspiel. Eine weitere poetologisch selbstreflexive Stelle findet sich bezeichnenderweise kurz darauf im Gespräch der anderen beiden Männer, die sich mit Sara befassen: Mellefont und dessen Diener, Norton. »[S]o habe doch wenigstens Mitleiden mit mir« (MSS, 436), verlangt der aufgrund der ganzen Aufregung mit Schlafstörungen geschlagene Mellefont von seinem Bedienten, worauf hin der erwidert: »Mitleiden, mein Herr? Mitleiden mit Ihnen? Ich weiß besser, wo das Mitleiden hingehört« (ebd.). Es gehört natürlich zu Sara. Das auszusprechen erachtet Norton als über28 Vgl. Aristoteles: Poetik – Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 1453a.



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flüssig, da evident. Und bezeichnenderweise benennt auch Mellefont die Mitleids­ trägerin, obwohl diese bislang noch nicht einmal aufgetreten ist, nicht mit ihrem Namen, sondern schlicht mit dem weiblichen Personalpronomen: Ja, er wisse es, so Mellefont: »ihr« (ebd.) gebühre Mitleid. Dem armen Mädchen gebührt natürlich Mitleid bzw. genauer dem Klischee des armen Mädchens, was deutlich wird, wenn Mellefont das anonyme Personalpronomen anstelle des Eigennamens verwendet. Mitleid, der zentrale Affekt des bürgerlichen Trauerspiels, beruht damit darauf, dass das Klischee des armen Mädchens abgerufen wird. Das Mitleid richtet sich nicht auf Sara als individuelle Person, es richtet sich auf die unschuldig Verführte, die zu bemitleiden ist, weil sie auf Genderpraktiken festgelegt wird, an deren Härte kein Zweifel besteht. Die beiden poetologisch selbstreflexiven Stellen zeigen somit, dass die Genderpraktiken das Herzstück der auf Mitleid abzielenden wirkungsästhetischen Affekt­ ökonomie des bürgerlichen Trauerspiels darstellen. Das bürgerliche Trauerspiel beruht auf einem wirkungsästhetischen Kalkül mit diesen Praktiken; seine Poetik bedarf daher einer praxeologischen Analyse, was beim Affekt des Mitleids deutlich wird. Das Klischee der armen Sara, die Vorführung der für sie relevanten Genderpraktiken dient der Ermöglichung von Identifikation mit der Protagonistin, die ›unschuldig‹ einen tragischen Tod stirbt.29 In der Konsequenz folgt daraus, dass in Lessings Drama Mitleid als Kalkül mit historisch spezifischen Genderpraktiken und den aus ihnen resultierende Klischees weiblicher Tugend zu verstehen ist und nicht etwa als eine Form anthropologisch-universaler Empathie mit anderen (und durch die Empathie ähnlich werdenden) Menschen. Damit ergibt sich eine interessante Bruchstelle zwischen dem Mitleid in Miß Sara Sampson und der von Lessing in seinen poetologischen Äußerungen zum bürgerlichen Trauerspiel formulierten Mitleidstheorie. Ein kurzer Blick auf Lessings berühmte Kurzdefinition des bürgerlichen Trauerspiels im 14. Stück der Hamburgi­ schen Dramaturgie kann das verdeutlichen. Dort heißt es30: Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stücke Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bei. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muß natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen.

Lessing nimmt hier eine gattungspoetologische Abgrenzung des bürgerlichen Trauerspiels von der klassizistischen Tragödie vor. Er argumentiert dabei wirkungs­ Stephan: Inszenierte Weiblichkeit [Anm. 15], 23. Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden VI, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 1985, 181–714, hier 251. 29 Vgl.

30 Gotthold

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ästhe­t isch mit Blick auf die von den Genres jeweils zentral gestellten Affekte. Während die ›Fürsten und Helden‹ der klassizistischen Tragödie ›Bewunderung‹ bei den Rezipient*innen wecken,31 zielt das bürgerliche Trauerspiel auf ›Rührung‹ bzw. ›Mitleid‹. Bekanntlich bietet Lessing im 74. und den folgenden Stücken der Hamburgischen Dramaturgie eine von der Revision der aristotelischen Tragödien-Terminologie ausgehende Mitleidstheorie, die sehr viel ausführlicher und auch bestens untersucht ist.32 Die im Kontext dieses Aufsatzes relevanten Züge von Lessings Mitleidbegriffs sind aber auch in der kurzen obenstehenden Passage zur Genüge ersichtlich. Mitleid ist für Lessing das ›am tiefsten in unsere Seele‹ dringende Mit-Fühlen mit dem ›Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen‹. Mitleid richtet sich somit auf den ›Menschen‹ im emphatischen Sinn, es ist der Affekt, der es dem Menschen erlaubt seine Mitmenschen zu verstehen und somit als »Band der Gemeinschaft« fungiert.33 Im 74. Stück führt Lessing diese Definition des Mitleids näher aus, indem er affirmativ eine lange Passage aus Moses Mendelssohns Über die Empfindungen (1755) zitiert und damit die grundsätzliche Definition des Mitleids im Sinn von Empathie (und nicht etwa von Bedauern) begründet.34 Es lohnt sich, mit Lessings Mitleidstheorie anhand von Sara Sampson die Probe aufs Exempel zu machen. Denn das Mitleid mit Sara ist, wie oben gezeigt wurde, gerade nicht als ebenso anthropologisch-universale wie diffuse Empathie mit Mitmenschen zu verstehen. Es liegt diesem Mitleid eine sehr viel handfestere und brutalere Mechanik zugrunde. Das Mitleid mit Sara, auf das Lessings Drama abzielt, ist das Mitleid mit dem verführten Mädchen. Es ist ein Mitleid, das die zugehörigen Genderpraktiken ebenso voraussetzt wie reproduziert. Bei ihrer Umsetzung braucht die Poetik des bürgerlichen Trauerspiels somit etwas ganz anderes als einfach ›Menschen‹ im emphatischen Sinn. Sie braucht Menschen, die aufgrund der Genderpraktiken, welche die Härte und die Tragik ihres Schicksals ausmachen, bemitleidet werden können. Solche Bruchstellen in Lessings Mitleidstheorie verlaufen nicht nur zwischen seinen poetologischen und dramatischen Schriften. Auch in der oben zitierten Kurzdefinition des Mitleids findet sich schon ein Hinweis darauf, nämlich in der Bedingung, die Lessing für die erfolgreiche Evokation von Mitleid im bürgerlichen Trauerspiel formuliert und die er zugleich als Argument dafür nimmt, dass die klassizistische Tragödie mit ihren das Schicksal von Helden, Fürsten und Staaten thematisierenden sujets kein Mitleid zu erzeugen vermag. Lessing argumentiert, dass das Mitleid ›einen einzeln Gegenstand‹ erfordert, ›und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen‹. Mitleid funktioniert nur mit möglichst wenig ›abstrakten‹, möglichst konkreten ›einzelnen Gegenständen‹. Je konkreter, desto besser. Vor dem Hintergrund von Sara Sampson kann man das auch als 31 Ebd.,

274. Vgl. exemplarisch und mit Verweis auf weitere Literatur Alt: Aufklärung [Anm. 2], 212–215; Fritz Breithaupt: Kulturen der Empathie, Frankfurt a. M. 2009, 54 ff. 33 Breithaupt: Kulturen der Empathie [Anm. 32], 57. 34 Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie [Anm. 30], 554 ff. 32



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mahnenden Hinweis darauf verstehen, dass Mitleid nach so handfesten, plakativen und brutalen Schemata zustande kommt, wie die Genderpraktiken sie darstellen. IV. Reflexion und Subversion

Die zentrale Rolle, die Genderpraktiken für die Erzeugung von Mitleid im bürgerlichen Trauerspiel Miß Sara Sampson spielen, bedeutet allerdings nicht, dass Lessings Drama die Genderpraktiken einfach instrumentalisiert. Es reflektiert, kritisiert und subvertiert sie auch, was ich in diesem Abschnitt zeigen möchte. Zu einer solchen Reflexion, Kritik und Subversion von Genderpraktiken kommt es dabei vor allem auf der Ebene der Darstellungsverfahren. So werden Saras Rolle der verführten Unschuldigen und Mellefonts Rolle des qua seiner männlichen Verfügungsgewalt über Frauen den Konsequenzen enthobenen Verführers im Verlauf des Stücks auf verschiedene Weise enttarnt, wodurch zumindest partiell auch das Mitleid mit Sara zum Stillstand kommt und das Drama somit seine eigenen poetologischen Grundlagen subvertiert. Nicht immer wird Miß Sara Sampson eine Kritik der darin verhandelten Genderpraktiken zugestanden. So geht bspw. Stephan davon aus, dass der Blick auf die Frauenfiguren in Lessings Drama eine klare »Schwarz-WeißZeichnung von Tugend und Laster« erkennen lasse.35 Lessing affirmiere die von Sara verkörperten Praktiken der tugendhaften Frau, die den von Marwood verkörperten Praktiken der lasterhaften Furie diametral gegenüber stünden. Es gilt hier, ein differenzierteres Bild zu gewinnen. Alle Genderpraktiken werden in Miß Sara Sampson kritisiert und dadurch zugleich als Klischees markiert. Die deutlichste Spur einer solchen Kritik findet sich in der Form von Lessings Drama. Miß Sara Sampson hat die Form der Tragödie – und das ist wichtig. Weil die Genderpraktiken und Geschlechterklischees in dieser Form, sozusagen als Bausteine der Tragik, verhandelt werden, entsteht die zwar banale, aber dafür umso deutlichere Implikation, dass mit diesen einen tragischen Ausgang erzwingenden Bausteinen bzw. Genderpraktiken etwas nicht stimmt. Es klemmt gewissermaßen bei der Einpassung der Figuren in die von den Praktiken vorgegebenen, klischierten Geschlechtsidentitäten. Nur mit tragischem, tödlichem Zwang können die Praktiken von den Figuren des Stücks durchgeführt werden – ein Wink mit dem Zaunpfahl, dass diese Praktiken infrage zu stellen sind. Erahnbar wird eine kritische Reflexion von Genderpraktiken auch im oben bereits erwähnten Wortwechsel zwischen Norton und Mellefont über das Mitleid. Für die beiden Figuren besteht kein Zweifel, wem Mitleid gebührt – Sara. Aber ist das für die Rezipient*innen des Dramas auch so eindeutig? Hat man mit Sara nur Mitleid? Und nur mit ihr? Oder gilt nicht vielmehr das, was Sara selbst im vierten Akt bang vermutet: »[I]ch möchte sie [Marwood: J. H.-P.] am Ende betauern müssen« (MSS, 503). So ganz, wie die beiden Männer (Mellefont und Norton) es sich 35 Stephan:

Inszenierte Weiblichkeit [Anm. 15], 28.

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vorstellen, verhält es sich jedenfalls nicht mit dem Mitleid mit Sara. Und das ist, obschon zunächst nicht mehr als ein subjektiver Leseeindruck, ein wichtiger Hinweis darauf, dass Lessings Drama in der Lage ist, die Genderpraktiken zu kritisieren, auf denen dieses Mitleid auf bauen will. Die Störung im Mitleid ist das Symptom einer Störung der Genderpraktiken. Die offensichtlichste Kritik der Genderpraktiken kommt vielleicht dadurch zustande, dass diese komisch und ironisch gebrochen werden. Hier bietet schon das Personenverzeichnis einen Anhaltspunkt, stellt dieses doch eine unverkennbare Nähe zur Gattung der Komödie her:36 ein durchgebranntes Liebespaar auf der Flucht vor ihrem Papa, eine ganze Menge durchaus gewitzter Bediensteter, und das alles trägt sich in einem Wirtshaus von zweifelhaftem Leumund zu. Es wird am Ende nicht geheiratet, aber mit Blick auf die Genderpraktiken und Geschlechterklischees täuscht das angedeutete komödiantische Setting dennoch nicht: Immer wieder kommt es im Zuge der Praktiken zu Komik. Etwa in der Unterhaltung zwischen Sara und Mellefont im ersten Akt. Sara referiert hier ihren äußert strengen Begriff von den Praktiken weiblicher Tugend, auf die sie sich verpflichtet sieht. Etwas genervt über seine verklemmte Geliebte entgegnet Mellefont, der nach weniger moralinsauren, nämlich männlichen Genderpraktiken zu leben pflegt: »Wenn Sie sich selbst mit so grausamen Augen ansehen, mit was für Augen müssen Sie mich betrachten!« (MSS, 444). Saras Antwort: »Mit den Augen der Liebe, Mellefont« (ebd.). Sara meint es ernst mit dieser Antwort; trotzdem ist diese so kitschig, dass es komisch ist. Die Komik erfüllt dabei eine präzise Funktion. Sie stellt gerade ein Gegengewicht dazu dar, dass es Sara mit ihrer Antwort ernst ist und dass sie mit dieser auch durchaus Recht hat. Nur vordergründig antwortet Sara naiv, bei genauerer Betrachtung aber genau richtig: Sie betrachtet Mellefont durch die ›Augen der Liebe‹, allerdings einer Liebe, die nur im Rahmen der etablierten Genderpraktiken stattfinden kann. ›Mit den Augen der Liebe‹ bedeutet hier, dass eine Frau das männliche sexuelle Begehren nach anderen Frauen nicht nur akzeptiert, sondern zugleich auch das schlechte Gewissen dafür übernimmt. Durch das Darstellungsverfahren der Komik werden diese in Saras Antwort kondensierten Genderpraktiken gebrochen, ihre Fragwürdigkeit, ja Absurdität wird exponiert. Einschlägig ist auch der 3. Auftritt des 3. Akts. Hier trifft Sara mit Waitwell zusammen, der ihr einen Brief ihres Vaters übergeben möchte. Dabei demonstriert Sara, dass sie die weiblichen Genderpraktiken in einem Maß internalisiert hat, dass ein Umschlag ins Komische und Absurde nicht mehr abzustreiten ist – und von Waitwell selbst auch bemerkt wird. Sara wehrt sich dagegen, den Brief ihres Vaters anzunehmen, weil sie fürchtet, er könnte versöhnliche Worte enthalten, ihr Vater ihre Flucht mit Mellefont verzeihen. Eine solche Verzeihung kann Sara nicht akzeptieren, weil sie nicht zu der von ihr adaptierten Praktik passt, der zufolge Frauen für ihre verlorene Tugend zu büßen haben. Sie kann den guten Ausgang nicht wollen, weil sie sich selbst nur als Verbrecherin sehen kann. Beim Versuch, diese 36 Vgl.

Alt: Aufklärung [Anm. 2], 209.



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Haltung zu erklären, läuft Sara zu Höchstform auf. Sie vollführt ein regelrechtes Ballett weiblicher Tugendpraktiken, um zu begründen, dass es für sie noch nicht einmal statthaft sei, den väterlichen Brief auch nur zu lesen. Waitwell, perplex über Saras Willen, den in Aussicht stehenden Schritt zu Versöhnung und einem guten Ende um jeden Preis zu verhindern, weiß schon bald nicht mehr, »was ich hierauf antworten soll« (MSS, 474). Er realisiert, in welchem Maß Sara in ihren Praktiken wie in Zwangshandlungen feststeckt und passt seine Strategie entsprechend an, um sie doch noch zur Lektüre des Briefs zu bewegen. Anstatt ihr väterliche Vergebung zu verheißen, stellt er nun väterlichen Zorn in Aussicht, den der Brief in Wahrheit enthalte. Darauf springt Sara an: »Ist das wahr? – Nun so gieb mir ihn [den Brief: J. H.-P.] her. Ich will ihn lesen. Wenn man den Zorn eines Vaters unglücklicher Weise verdient hat, so muß man wenigstens gegen diesen väterlichen Zorn so viel Achtung haben, daß er ihn nach allen Gefallen gegen uns auslassen kann. […] Ich werde ihn nach aller seiner Stärke empfinden« (MSS, 474 f.).

Regelrecht masochistische Züge nimmt Saras Identifikation mit der Rolle einer Frau, die Bestrafung verdient, an dieser Stelle an. Sara ist fixiert auf die Ausübung der Praktiken, die einer (immer schon) gefallenen Tugendheiligen anstehen. Ab einem gewissen Punkt fällt es Waitwell schwer, diese manische Obsession hinzunehmen: »Es ist, Miß, als ob Sie nur immer an ihren Fehler dächten, und glaubten, es wäre genug, wenn Sie den in Ihrer Einbildung vergrößerten, und sich selbst mit solchen vergrößerten Vorstellungen marterten« (MSS, 476). Dass Sara die Genderpraktiken verinnerlicht hat, wird also im Gespräch mit Waitwell nicht nur in seinen tragikomischen Konsequenzen vorgeführt – der Unfähigkeit zum Happy End; es wird von Waitwell auch explizit angesprochen und kritisiert – allerdings ohne nachhaltigen Erfolg. Zwar scheint Sara zunächst durchaus Erleichterung über Waitwells Kratzen an den Genderpraktiken, die ihr Denken, Reden und Handeln bestimmen, zu empfinden. »Ach! – Rede weiter, Waitwell, rede weiter!« (477), ermuntert sie diesen. Letztlich aber kommt sie nicht los von »diese[m] rebellische[n] Etwas« (488), der festen Verinnerlichung der Genderpraktiken, die zur Identifikation mit einer klischierten weiblichen Geschlechtsidentität führt. Am eindrucksvollsten werden Genderpraktiken in Lessings Stück immer dann exponiert und kritisiert, wenn Marwood, die Antagonistin, auftritt. Marwood verfolgt ihren ehemaligen Geliebten Mellefont, weil sie nicht bereit ist, diesen an Sara abzutreten, hauptsächlich aus materiellen, pekuniären Überlegungen, aber auch aufgrund von anhaltendem Begehren. In den Gesprächen, die Marwood mit Mellefont und – getarnt als Lady Solmes – mit Sara führt, profiliert sie sich dabei immer wieder als eine klarsehende Kritikerin weiblicher und männlicher Genderpraktiken. Freilich: Die einzige Figur, die das Klischeehafte der anderen immer wieder beschreibt, tut das nicht, weil sie die Geschlechtsklischees und Genderpraktiken dekonstruieren möchte, sondern weil es zu ihren eigenen und nicht minder weiblich gegenderten Praktiken einer Intrigantin und Furie passt. In gewisser Weise

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gibt Marwood nur vor, gegen Genderpraktiken zu opponieren, weil sie sich davon einen Vorteil erhofft. Letztlich ändert das aber nichts daran, dass für Marwood gilt, was Stephan formuliert 37: »Ihr werden viele Einsichten über Männer und weibliche Tugend in den Mund gelegt, deren Wahrheit unabhängig davon besteht, daß sie das Ergebnis eines strategischen Kalküls sind«. Dass solche gegen die gängigen Klischees und Genderpraktiken gerichteten Vorstellungen von Weiblichkeit und Männlichkeit aber nicht einfach in die Figurenrede der Marwood abgeschoben werden, während das Stück letztlich das von Sara verkörperte Frauenbild affirmiert, möchte ich zum Schluss besonders betonen. Zunächst zu den männlichen Genderpraktiken. Bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Mellefont konfrontiert Marwood ihn mit einer schonungslosen Analyse männlichen Begehrens, das sie zum versteckten Zentrum heuchlerischer männlicher Genderpraktiken erklärt. Diese Praktiken führt Mellefont mustergültig vor, wenn er gegenüber Marwood behauptet, er sei nun in Sara und nicht länger in sie verliebt, weil er ihren verkommenen, untugendhaften Charakter zu erkennen und »die Liebe von der Wollust unterscheiden gelernt« (MSS, 453) habe. Die Falschheit dieser Argumentation präpariert Marwood messerscharf heraus: Ei sieh doch! deine neue Gebieterin ist also wohl gar ein Mädchen von schönen sittlichen Empfindungen? Ihr Mannspersonen müßt doch selbst nicht wissen, was ihr wollt. Bald sind es die schlüpfrigsten Reden, die buhlerischsten Scherze, die euch an uns gefallen; und bald entzücken wir euch, wenn wir nichts als Tugend reden, und alle sieben Weisen auf unsrer Zunge zu haben scheinen. Das schlimmste aber ist, daß ihr das eine so wohl als das andre überdrüssig werdet (ebd.).

Wie hellsichtig diese Rede Marwoods ist, zeigt sich etwa, wenn Mellefont im 4. Akt seinen bekannten Torschlusspanik-Monolog hält, in dem er sein heimliches Grauen vor der sexuellen Monotonie gesteht, welche die Hochzeit mit Sara bedeuten würde. Bezeichnend ist des Weiteren Mellefonts Reaktion auf Marwoods Analyse männlichen Begehrens: Die Untugendhaftigkeit dieses Begehrens projiziert er geradewegs auf die ›wollüstige‹ Marwood, d. h. auf die Frau, die dieses Begehren als Heilige weckt und als Hure für es zu büssen hat. Marwood wiederum durchschaut als einzige Figur des Stücks auch diese typisch männliche Praktik der Projektion sehr genau, wenn sie Mellefont empört vorhält: »Ungeheuer! Ist der Teufel ärger als du, der schwache Menschen zu Verbrechen reizet, und sie dieser Verbrechen wegen, die sein Werk sind, hernach selbst anklagt?« (MSS, 463). Im späteren Gespräch, das Marwood getarnt als Lady Solmes mit Sara führt, leitet sie aus dieser Dekonstruktion der männlichen Genderpraktiken die Notwendigkeit weiblicher Genderpraktiken ab, die sich davon emanzipieren. Mellefonts Umgang mit Marwood, so Lady Solmes alias Marwood, müsse als symptomatisch betrachtet werden für den grundsätzlichen Defekt weiblicher Genderpraktiken: »Wir Frauenzimmer sollten billig jede Beleidigung, die einer einzigen von uns er37 Stephan:

Inszenierte Weiblichkeit [Anm. 15], 26.



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wiesen wird, zu Beleidigungen des ganzen Geschlechts und zu einer allgemeinen Sache machen, an der auch die Schwester und Mutter des Schuldigen, Anteil zu nehmen, sich nicht bedenken müßten« (MSS, 500). Marwood pocht darauf, dass ihr Recht, wegen der Aff äre mit Mellefont nicht moralisch und gesellschaftlich verurteilt zu werden, stärker wiegen müsste als das Recht Mellefonts, eine Jüngere zu heiraten. Dass Mellefont kein Recht haben sollte, das Stigma, das mit außerehelichem Sex verbunden ist, allein auf Marwood und ihre Tochter abzuwälzen – ein Recht, das Mellefont wie selbstverständlich praktiziert und das auch Sara ihm wie selbstverständlich erteilt. Sara müsse, so lautet das Fazit der Lady Solmes, die Geschichte mit Mellefont am Maßstab eines gerechteren Geschlechterverhältnisses bewerten: »Mit einem Worte, ihr eigner Vorteil so wohl, als der Vorteil einer andern, die Klugheit so wohl als die Billigkeit, können und sollen Miß Sampson bewegen, ihre Ansprüche auf einen Mann aufzugeben, auf den Marwood die ersten und stärksten hat« (506 f.). Am Ende kommt es natürlich anders. Marwoods emanzipatorische Appelle verhallen bzw. werden von ihrer Boshaftigkeit und ihrem Giftmord an Sara überschattet. Sara verbleibt gegenüber Mellefont auch angesichts des Todes so unterwürfig wie zuvor »[W]as kann er dafür?« (MSS, 510), fragt sie und schlussfolgert: »Kurz, alle Schuld ist mein« (511). Wirklich glauben kann das nicht einmal Norton, der etwa entgegnet: »Warum soll Mellefont niemals Unrecht haben?« (512). Gebrochen wird diese scheinbar unbeeinträchtigte Persistenz der Genderpraktiken aber auch am Ende noch einmal, und zwar erneut auf der Ebene der Darstellung – etwa, wenn Sara, eigentlich im Versuch, den Praktiken der dem Mann alles verzeihenden Frau zu entsprechen, auf die Aufdeckung seiner Vaterschaft wie folgt reagiert: »Brauchen Sie ihre Rechte über beide und lassen mich an die Stelle der Marwood treten. Gönnen Sie mir das Glück, mir eine Freundin zu erziehen, die Ihnen ihr Leben zu danken hat; einen Mellefont meines Geschlechts« (515). An die Stelle der Marwood möchte Sara gern treten. Betonen will sie damit gerade ihre Differenz zu Marwood, indem sie ihre Bereitschaft in Aussicht stellt, Mellefonts uneheliche Tochter mit Marwood anzuerkennen und dieser eine bessere Mutter zu sein, als ihre leibliche es war. Eigentlich betont wird gerade nicht die Differenz zwischen Sara und Marwood, sondern ihre Ähnlichkeit, die schon im zu diesem fünften Akt spiegelbildlichen ersten Akt und dem darin von Sara geschilderten ahnungsvollem Traum angekündigt wird, in dem Sara von einer »mir ähnlichen Person« (MSS, 442) umgebracht wird. Und im Unterschied zum ersten Akt ist nun auch klar, dass diese Ähnlichkeit eigentlich darin besteht, dass sich beide Frauen gegenüber ihrem Geliebten in der klischierten Rolle der Frau und verwiesen auf ihre devoten Genderpraktiken befinden. Marwoods und Saras Ähnlichkeit besteht in dem ihnen gemeinsamen Problem, darin dass sie beide in die Praktiken der Frau eingepasst werden – Sara in die Praktiken der Heiligen und Marwood in die der Hure. All das kommt Sara freilich nicht in den Sinn, aber es tritt auf der Darstellungsebene hervor, dadurch, dass Saras Rede darüber, dass sie an Marwoods Stelle treten wolle, ambig wird. Und eine zweite auffallende, ambige Formulierung

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charakterisiert Saras Rede, nämlich die vom ›Mellefont meines Geschlechts‹. Mit dieser Antonomasie ist Mellefonts Tochter Arabella gemeint, die Sara zum Ersatz für jene Nachkommenschaft Mellefonts stilisiert, die sie nie selber wird hervorbringen können. Aber Geschlecht ist doppeldeutig zu verstehen. Sara bedauert, dass Mellefont und ihr eigenes Geschlecht sich nie zu einer genealogischen Linie vereinigen werden. Neben diese genealogische Bedeutung tritt aber eine zweite, die man beinahe utopisch nennen kann: Mit einem ›Mellefont meines Geschlechts‹ bedauert Sara nicht nur eine ausbleibende Genealogie, sondern apostrophiert auch ein neues Gender – eine Nachfahrin, die den Tod und Tragik erzeugenden Genderpraktiken ihrer Zeit entkommen kann und sich der Unterordnung unter die männliche Ordnung buchstäblich entzieht.38 Und erstaunlicherweise gelingt Sara auch in ihren vielgedeuteten letzten Worten noch einmal eine solche Subversion der Genderpraktiken und ihrer klaren Binarität. Denn hier zeigt Sara einen Ausweg aus der destruktiven Logik dieser Praktiken an, indem sie sich – anders als die Männer des Stücks – gegenüber Marwood nicht in eine Position der Wut, des Hasses und des Wunschs nach Rache begibt, sondern anmahnt, sich um Arabella zu kümmern. Sie entzieht Marwood damit dem männlichen Blick und der damit einhergehenden Praktiken der Furie: »[W]eder Sie, noch mein Vater sollen ihre Ankläger werden« (MSS, 523), so Sara zu Mellefont und Sir William. Dass Sara an dieser Stelle gerade nicht zur »Heilige[n]« (525) wird, wie Mellefont glaubt, und sich gerade nicht, wie der Vater mutmasst, »über alles menschliche so weit erhebt« (524), sondern dass sie gerade hier durch die Ambiguität ihrer Rede einen vorsichtigen Schritt über weibliche Genderpraktiken und eine starre geschlechtliche Binarität hinausgeht, das freilich übersteigt den Horizont der Männer in Miß Sara Sampson.

38 Eine ähnliche Frage von Genealogie und Geschlecht in einem anderen Kontext behandelt Marius Reisener: »Alles ist Märchen und Wunder an Ihnen; ja Mirabelle, ja Wunderhold!« – Formen jenseitiger Geschlechtlichkeit in Fontanes ›Schach von Wuthenow‹, in: Limbus – Australisches Jahrbuch für germanistische Literatur- und Kulturwissenschaft 12 (2019), 131–146.

Gefühls-Transport Ethik und Ästhetik in literarisch reflektierten Praktiken der Schauspielkunst Alexander Honold I. Schauspieler als Grenzgänger

Die Aufführung eines Dramas ist der Präsenzmodus derjenigen in literarischer Gestalt ausgeformten Handlungen und Beobachtungen, mit denen zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Handelnden und Leidenden und zwischen Beteiligten und Beobachtern unterschieden wird. Als eine auf Fiktion gegründete Form der Bindung von Zeit greift die Dramaturgie wiederholter, reinszenierter Entscheidungsvorgänge mithilfe vergegenwärtigter Vergangenheit in eine virtuelle Zukunft ein, deren Eintritt sie zu einem Teil des eigenen Spielablaufs internalisiert. Die Performanz des jeweils aufzuführenden Literaturdramas gleicht einer schmalen, fast punktuellen Schaltstelle zwischen dem fertig vorliegenden Text und dem ins Publikum sich mitteilenden Ausdruck einer lebendigen, Stimme und Körper gewordenen Handlung. Die Übergänge vom Text zum Spiel, vom Ausdruck zur Wirkung sind heikel; ausgerechnet da, wo ein Ausschnitt der Welt mit all seinen situativen und personalen Bestandteilen sich so vollständig dem Beobachtet-Werden öffnet, entzieht sich hartnäckig der Beobachtung, was dabei eigentlich die Schauspieler tun. Sie sind, als gegenwärtiges Medium des gespielten Stücks, die Akteure eines riskanten emotionalen Transports. Nicht nur, weil sie patzen können oder die Neigung des launischen Publikums zu verlieren drohen. Sie tragen ein zwiefaches Risiko vor allem deshalb, weil sie in ihrer Profession erfolgreich nur dann sind, wenn sie ganz in ihrer Leistung aufgehen und die verkörperte Rolle sie augenscheinlich vollkommen absorbiert. Gerade weil die performative Wirkungsdimension in der Theater-Konjunktur des 18. Jahrhunderts sich zu einer für die kulturelle Bedeutung der Stücke entscheidenden Größe herausbildete, lohnt sich ein intensivierter Blick darauf, wie Literatur selbst mithilfe erzählter und reflektierter Theaterereignisse diese ›empirischen‹ Außenkontakte wiederum als diskursive Phänomene einfing und poetisch re-integrierte. Während sich die Schauspielpraktiken zunehmend an literarischen Standards von Werkintention und Texttreue orientieren und dadurch (zumal im deutschsprachigen Raum) zur Etablierung eines genuinen Literaturtheaters beitragen, treten die realen Akteure der Theaterbühne ihrerseits als fiktionale Pro­t a­ gonisten in die Handlungswelt des literarischen Textes ein, stützen sich erzählte Bildungsprozesse zunehmend auf den Umgang mit theaterpraktischen Kompetenzen. Theaterliteratur und Literaturtheater umreißen in exemplarisch narrativierten

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Lernkurven das Balancieren auf dem schmalen Grat der Rollenfiktion, indem sie Wahrheits- und Wirkungsanspruch in beständiger Wechselwirkung austarieren. Vorzugsweise mithilfe des Theaters beginnt Literatur ihre interaktive und handlungspraktische Wirkungsdimension zu problematisieren – und profitiert dabei von der enormen epistemischen Aufwertung der Schauspielpraktiken im mittleren bis späten 18. Jahrhundert. Der große David Garrick und der junge Wilhelm Meister als bebende Darsteller Hamlets, der Verschwörer Fiesko als zwielichtiger Gratwanderer zwischen Vertrauen und Verrat, der fabelhaft grausame Reineke Fuchs als gerissener Lügner im Reich des tierischen Friedens: Sie alle haben ihre waghalsigen Unternehmen ganz auf das Risiko des Schauspiels abgestellt, sie scheitern oder obsiegen als Protagonisten dramatischer Verstellungskunst. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist, auch im literarischen Reflex, die Bühne einer Machtübernahme der Figur des Schauspielers. Wo Theater gespielt wird, schlüpfen Schauspieler seit der Antike in die Personen oder Rollen erfundener Figuren; doch erhält diese mimische Darstellungskonvention einen zusätzlichen Dreh dadurch, dass Schauspielerei um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem eigentlichen, sozial distinkten Beruf wird und nahezu parallel hierzu der Schauspieler selbst sich in Texten und auf Theaterbühnen als eine literarische Figur eigenen Rechts etabliert.1 Gerät der Schauspieler seinerseits als Existenzform in den Blick, so wohnt seiner Figur per se eine selbstreflexive, auf metafiktionale Brechungen der Spielhandlung angelegte Doppelidentität inne,2 bei der sich paradoxer Weise die Meisterschaft des mimetischen Akteurs gerade dadurch auszeichnen soll, dass sie seine Kunst des vortäuschenden Spiels möglichst zum Verschwinden bringt. Theater wird Spiel im Sinne einer experimentellen (und modern-unternehmerischen) Allianz von Hasard, Agon und Mimesis. Die spannungsreiche Dualität von Aufführungsbedingungen und fiktionalem Handlungsraum, respektive von frame und script,3 wird zu einem Konstituens der theatralen Spielstätte und des Spielereig1 Zur Herausbildung des Berufsschauspielers im England des 16./17. Jahrhunderts und der nachmaligen Übertragung des Wanderbühnen-Modells auf den Kontinent vgl. Sybille MaurerSchmoock: Deutsches Theater im 18. Jahrhundert, Tübingen 1982, 89 f.; ferner Jens Roselt: Seelen mit Methode – Einführung, in: Seelen mit Methode – Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, hg. von Jens Roselt, Berlin 2005, 8–72, hier 18. Zur Etablierung der Schauspielkunst als einer erlernbaren technisch-ästhetischen Kunstform vgl. Schauspielkunst im 18. Jahrhundert – Grundlagen, Praxis, Autoren, hg. von Wolfgang F. Bender, Stuttgart 1992, und darin besonders sein eigener Beitrag: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstausübung – Zur »Grammatik« der Schauspielkunst im 18. Jahrhundert, 11–50. 2 Der französische Schauspieler Benoit Constant Coquelin (1841–1909) bezeichnet in seinem 1887 zunächst englisch publizierten Essay Acting and Actors den Schauspieler als »double personality« und bringt damit diese, wie zu zeigen ist, bereits in der Theaterdebatte Mitte des 18. Jahrhunderts konzeptionell ausformulierte, in der Romantik verschärfte Doppelexistenz neuerlich auf einen prägnanten Begriff (zit. nach Roselt: Seelen mit Methode [Anm. 1], 10). 3 Zur frame theory spielerischen sozialen Handelns grundlegend Gregory Bateson: A Theory of Play and Fantasy, in: ders.: Steps to an Ecology of Mind, New York 1972, 177–193; Erving Goffman: Frame Analysis – An Essay on the Organization of Experience, Cambridge 1974.



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nisses. Die Illusion der Handlungsnachahmung fordert als Komplementärleistung die »In-Lusion« der sich auf den impliziten Nachahmungs-Vertrag des Theaterbesuchs aktiv einlassenden Zuschauer*innen.4 Indem es sein spektakuläres Repertoire literarisch auf illusionsbildende Dramenaufführungen verengt, offeriert das Thea­ter seinem Publikum eine Art von probabilistischem Wettkalkül um die Kreditwürdigkeit der Mimesis. Denn um den Akteuren das Rollenspiel als glaubwürdig abzunehmen, müssen die Rezipient*innen ihr Vertrauen genau dort investieren, wo Simulation und Dissimulation zum angestammten Handwerk gehören. Von den Dramenmodellen Denis Diderots und den sie begleitenden ästhetischen Schriften werden die gezeigten Handlungen nicht als schlechthin gegebene Dramaturgie exponiert, sondern scharfsinnig auf ihre jeweilige Beobachtbarkeit und Interpretierbarkeit hin befragt; Bühne und Theater insgesamt werden zu einem interaktiv potenzierten Verhandlungsraum. Die neue, gleichberechtigte Vertragssituation zwischen Bühne und Auditorium, die einzugehen nur ein theaterästhetisch versiertes Publikum in der Lage sein würde, das durch Paratexte, Begleitmedien und Kompendien wie Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie (1767–1769) im deutschsprachigen Raum allererst in Ansätzen erzeugt werden konnte, wurde literaturgeschichtlich von selbstreflexiven Dramenstrukturen seit der Frühen Neuzeit schon modellhaft vorweggenommen. Dramaturgische Techniken wie die komische Verdopplung von Figuren und Handlungssträngen in der antiken Komödie, die Spiel-im-SpielHandlung der Shakespeare-Zeit oder die demonstrative Intrigen-Bildung in den neuzeitlichen Adaptionen der Tragödie formen schematisch solche theatralen Situationen zweiten Grades aus, die auf ästhetischem Wege dem Medium Theater partiell schon jene Selbstbeobachtung ermöglichen, die der Institution Theater erst durch die bühnenbegleitenden Diskurse und Kontroversen des 18. Jahrhunderts als gesellschaftlicher Resonanzraum zuwachsen sollte. Die Schärfung der Aufmerksamkeit durch ihre geteilte, gleichzeitige Hinlenkung auf das Binnenspiel der Figuren untereinander, auf den performativen Balanceakt der Schauspieler zwischen Virtuosentum und Selbstverleugnung und auf die doppelte Rahmung von Spiel- und Aufführungssituation machen das Theater zu einem Schauplatz beweglicher sozialer Taxierungen und ästhetisch induzierter Repräsentationskritik. Die dramatischen Skripts auf der solcherart mit Zweideutigkeiten und Zweifeln gespickten Theaterbühne werden desto unberechenbarer, je mehr die Literatur selbst das Risiko der Aufführung vorab zu gestalten versucht. Im Zentrum des Interesses steht dabei die Figur des (zunächst männlichen) Schauspielers und ihre Praktiken, bewundert und verdächtigt zugleich. Als Falschspieler und Hochstapler, als Betrüger, Schmeichler oder Intrigant (so kannten ihn die höfischen Verhaltenslehren) ist der Schauspieler im Zeitalter der moral sentiments (Adam Smith) 4 Jochen Vogt: Das Spiel im Spiel, Göttingen 1965, 4. »Das ästhetische Verhalten der In-Lusion ist das einzige, das diese zwei entgegengesetzten Haltungen vereint: persönliche Anteilnahme und urteilende Distanz« (ebd., 6).

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ein gefürchteter Schädling des reziproken Interaktionsgeflechts sozialer Kontrakte und Regeln. Als exponierte Versuchsperson wiederum nimmt er stellvertretend und öffentlich das Wagnis auf sich, sich mit ungewissem Ausgang starken Gefühlen auszusetzen, spielend auf dem Instrument seiner selbst. Als Inkarnation einer ohne sein Spiel nur auf dem Papier existierenden Erfindung ist der darstellende Schauspieler in Gestalt der verkörperten Figur schließlich das magische Medium schlechthin, dem es zu gelingen scheint, für ephemere Augenblicke der Literatur Leben einzuhauchen und dadurch das prometheische Experiment der Menschheitsgeschichte schlechthin zu bewerkstelligen, nämlich die Wort-Zeugung des Menschen. Nicht von ungefähr führt die Versuchsreihe theatraler Personifikationen der Goethezeit von der Marionette bis zum Homunculus; es ist eine Testreihe der Menschenproduktion – und der Produktion ›des Menschlichen‹ 5 – auf offener Bühne. II. Rechtfertigungsfiguren der dramatischen Emotion (Rousseau, Smith)

In der literarischen Kultur des späten 18. Jahrhunderts stehen sich paradigmatisch zweierlei Formen des Schauspiels gegenüber: die individuelle Verstellungskunst als professionelle Praxis und das liturgische Inszenierungskonzept einer theatralen res publica, wie sie insbesondere in den politischen Spektakeln des revolutionären Frankreichs Gestalt gewann. Auch diese erweist sich ihrerseits als Reflex einer politisch gewendeten Theaterästhetik und ist nicht zuletzt aus der Kritik dramatischer Illusionsbildung und mimischer Verstellungskunst erwachsen.6 Die theatrale Wirkungsdimension des von den Revolutionären propagierten kulturellen Epochenbruchs ging in manchen Aspekten zurück auf die Ideen JeanJacques Rousseaus, der (in einem offenen Brief an d’Alembert) das Bühnentheater seiner Zeit in sozialer Hinsicht als höfisch-frivoles Amüsement kritisiert hatte und dem verstellenden Rollenspiel in ästhetischer Hinsicht überdies einen per se verführerischen, entmündigenden Zeichengebrauch zur Last legte, der die Ausbildung bürgerlich-vernünftiger Tugenden eher behindere als befördere (so Rousseaus Argumentationslinie im Streit um die Einrichtung eines Theaters in der Stadt Genf, die seinerzeit noch nicht zur Eidgenossenschaft gehörte).7 Indem Rousseau 5 Harold Blooms Formulierung aufnehmend, der Shakespeare als den Erfinder des Menschlichen feiert. Harold Bloom: Shakespeare – The Invention of the Human, New York 1998; deutsche Ausgabe: Harold Bloom: Shakespeare – Die Erfindung des Menschlichen, übers. von Peter Knecht, Berlin 2000. 6 Im Folgenden greife ich zurück auf Überlegungen, die zunächst entfaltet wurden in meinem Aufsatz Das Risiko des Schauspiels – Die prekäre Balance dramatischer Verstellungskunst, in: Literatur als Wagnis – Literature as Risk, hg. von Monika Schmitz-Emans, in Zusammenarbeit mit Georg Braungart, Achim Geisenhanslüke und Christine Lubkoll, Berlin/Boston 2013, 511–539. 7 Vgl. Jean-Jacques Rousseau: Brief an Herrn d’Alembert über seinen Artikel »Genf« im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten, in: Schriften I, hg. von Henning Ritter, Frankfurt a. M. u. a. 1981, 333–474. Zu Rousseaus Schauspielkritik vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt



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die fingierende Illusionskunst als institutionelle Veranstaltung einer hierarchischen, ihrer Natur entfremdeten Gesellschaft begreift, verwirft er nicht zugleich auch das grundsätzliche Potential der Öffentlichkeit solcher performativen Darstellungsakte, bei denen die Zuschauer selbst zu Akteuren werden konnten.8 Rousseaus doppelter Angriff auf das französische Hoftheater, der es soziologisch als feudales Statussymbol und semiotisch als frivoles Täuschungsmedium erscheinen lässt, blieb zunächst in der Theaterreform selbst ohne weitere Wirkung. Die öffentlichen Revolutionsfeste der Jakobinerzeit jedoch greifen auf beide der von Rousseau vorgebrachten Kritikpunkte zurück und beantworten sie durch ihre theatralen Innovationen in doppelter Weise, indem erstens nicht mehr eine geschlossene Bühnenwelt den Schauplatz des Theaters bildet, sondern demonstrativ die öffentliche Sphäre der Straßen und Plätze bespielt wird, und indem zweitens kein fiktional modellierter dramatischer Handlungsgang vorgeführt wird, sondern eine Reihe neuerfundener politischer Rituale, ausgeführt von Figuren in allegorisch zu verstehenden Kostümierungen.9 Der bilderstürmerische Furor der Anfangsjahre wandelte sich rasch unter der Einsicht, dass man auf eine gemeinschaftsstiftende Ästhetik, d. h. auf gemeinsame Erfahrungen theatraler und symbolischer Repräsentation, beim Auf bau einer neuen zivilgesellschaftlichen Ordnung nicht verzichten könne. Umgekehrt waren auch bereits Rousseaus Ausführungen, obwohl sie prima vista uralte, bei Tertullian schon vorgebrachte Vorbehalte gegen das ›sündige‹ Theaterspiel wieder aufzugreifen schienen, durchaus zwiespältiger Natur.10 Die Position Rousseaus, der sich etwa durch seine sachkundigen und von Sympathie getragenen Ausführungen über Molière selbst als ein Adept der so geistreich attackierten dramatischen Kunst zu erkennen gibt, ist insofern von einer inneren Ambivalenz aus ratio und aisthesis durchzogen, die ihn von anderen Protagonisten der Theaterfeindlichkeit deutlich unterscheidet. Der durch seine Kontroverse mit Lessing bekannt gewordene Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze etwa, der in Predigten und Pamphleten das Theater inkriminierte, gründete seine Angriffe auf Werktitel, Programmzettel und geäußerte Meinungen, nicht aber auf eigene Anschauung. a. M. 1982, 94 ff.; Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt – Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./Basel 2000; Patrick Primavesi: Das andere Fest – Theater und Öffentlichkeit um 1800, Frankfurt a. M./New York 2008. 8 »Dass Rousseau die gängigen Formen von Theater verdammt und dabei gleichzeitig neue Schauspiele fordert, ist nicht nur als Strategie der Heilung durch gezielt eingesetztes Gift oder gar als rhetorisch missglückter Selbstwiderspruch zu lesen. Seine Vorstellung von den öffentlichen Schauspielen lässt sich als die Idee eines anderen Theaters begreifen« (Primavesi: Das andere Fest [Anm. 7], 150). 9 Vgl. Inge Baxmann: Die Feste der Französischen Revolution – Inszenierung von Gesellschaft als Natur, Weinheim/Basel 1989. 10 »Wäre die ›Lettre‹ nur eines jener Traktate gegen die sittenverderbende Macht des Theaters, wie sie von kirchlicher Seite im 17. und 18. Jahrhundert gang und gäbe sind, bräuchte sie heute nicht mehr zu interessieren. Daß sie ihre Anziehungskraft nicht verloren hat, liegt an ihrer eigentümlichen Verfallenheit an den bekämpften Gegenstand« (Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt [Anm. 7], 15).

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Sich selbst der ästhetischen Erfahrung des mimischen Spiels auszusetzen, hätte sich aus Sicht der Kleriker nicht mit der Würde und Moral ihres Amtes vertragen. Aber auch ein Laie wie Charles Desprez de Boissy, dessen Lettres sur les spectacles aus dem Jahr 1757 »von allen theaterfeindlichen Schriften im 18. Jahrhundert wohl am häufigsten wieder aufgelegt« wurden, bekennt stolz, selber »nie ein Theater betreten« zu haben.11 Doch was der Vermeidung eines performativen Selbstwiderspruchs dienen sollte – sich tunlichst fernzuhalten von jedem sinnlichen Kontakt mit der befehdeten Einrichtung –, gerät unweigerlich eben doch zu einem solchen Selbstwiderspruch, da (bzw. sofern) die Auseinandersetzung gerade nicht auf jenem Feld der Sinne und der moralischen Empfindungen geführt wird, auf dem das Theater seine kontrovers beurteilten öffentlichen Wirkungen erzielt. Auf dem Feld polemischer Stellungnahmen für und gegen das Theater lässt sich auf den zweiten Blick meist eine widersprüchliche Doppelbewegung der labilen Abwägungsmechanismen erkennen, wobei Nutzen und Nachteil je nach Interessenlage anders gewichtet und bewerten wurden, insgesamt aber das Theater selbst gleichsam in die Funktion einer dialektisch austarierenden Waage geriet, die stets aufs Neue den Kipppunkt zwischen Nützlichkeit und Schädlichkeit des mimetischen Spiels zu markieren hatte. Die befürchtete sittliche Gefahr der öffentlichen Bühnen transformiert sich im Modus der um sie geführten Debatte in ein mithilfe von fallweise durchgespielten Mechanismen zu kalkulierendes Risiko.12 Damit einher geht im Laufe des 18. Jahrhunderts eine Verlagerung des Problems in zweierlei Hinsicht. Erstens kann (und muss dann auch) die Möglichkeit respektive Wahrscheinlichkeit, dass ein mimetischer Darstellungsvorgang mit seinem empfindlichen 11 Thomas Köbner: Zum Streit für und wider die Schaubühne im 18. Jahrhundert, in: Festschrift für Rainer Gruenter, hg. von Bernhard Fabian, Heidelberg 1978, 26–57, hier 36. Vgl. Charles Deprez de Boissy: Lettres sur les Spectacles avec Une Histoire des Ouvrages pour et contre les Théâtres, Paris 2 1780; deutsche Ausgabe: Charles Deprez de Boissy: Ueber die Sittlichkeit des Theaters […], Halle 1780. Vgl. ferner Theaterfeindlichkeit und Antitheatralität, hg. von Gabriele Brandstetter, Stefanie Diekmann und Christopher Wild, München 2011. 12 Die Differenz von Gefahr und Risiko beschreibt in der Systemtheorie Niklas Luhmanns weder epochal noch sachlich distinkte Bereiche, sondern soziale Zuschreibungen unter Beobachtungs-Verhältnissen. »Der Unterscheidung von Risiko und Gefahr liegt ein Attributionsvorgang zugrunde, sie hängt also davon ab, von wem und wie etwaige Schäden zugerechnet werden. Im Falle von Selbstzurechnung handelt es sich um Risiken, im Falle von Fremdzurechnung um Gefahren« (Niklas Luhmann: Gefahr und Risiko, in: ders.: Soziologische Aufklärung 5 – Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, 131–169, hier 148). Das »Risiko« ist die in der Zukunft verortete, mehr oder minder einkalkulierte Unabsehbarkeit der Folgen aktueller Entscheidungen. Eine für moderne Gesellschaften typische »Vergrößerung des Entscheidungsspielraums«, so Luhmann, »führt zu Rationalitätszumutungen im Risikobereich« (ebd., 150). Mit der Unterscheidung des Risikos von der Gefahr verbindet sich die geschichtliche These, dass im Zuge der »Veränderungen der Temporalstrukturen der neuzeitlichen Gesellschaft«, also ihrer zunehmenden Ausrichtung auf die Leitdifferenz von Vergangenheit und Zukunft, eine »Dramatisierung der Risikoperspektiven« stattgefunden habe (ebd., 158), während sich die fundamentalen Risiken etwa von ökologischen Katastrophen in ihrer ganzen Tragweite nicht mehr aus EntscheidungsKalkülen ableiten lassen und daher tendenziell wieder stärker als Gefahren beschrieben werden können (ebd., 168 f.). Vgl. ferner Niklas Luhmann: Soziologie des Risikos, Berlin 2003, 30–38.



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Gleichgewicht zwischen Präsenz und Repräsentation nach der einen oder anderen Seite ›abstürzt‹, nicht mehr nach moralischen, sondern nach poetologischen und rezeptionsästhetischen Kriterien beschrieben und beurteilt werden. Und zweitens: Man kann im Zeitalter der Auf klärung und der politischen Vernunft offenbar über das Theater und die Schauspielkunst nicht kommunizieren, ohne an ihrer heiklen intrinsischen Doppelbödigkeit teilzuhaben. In der Kritik und Reform des Theaters und in den Praktiken der Schauspielkunst bündeln sich Argumentationsfiguren, an deren Wendungen sich die Entwicklung des gesellschaftlichen (respektive: politischen) Denkens von der Auf klärung Mitte des 18. Jahrhunderts bis ins Jahrzehnt nach der Französischen Revolution als eine experimentelle Folge von kulturellen Erziehungsprojekten und Gesellschafts­ modellen nachzeichnen lässt. In diesem weitgespannten Rahmen, der hier nicht einmal in seinen Umrissen näher skizziert werden kann, kommt dem Theater und dem Schauspiel eine Schlüsselrolle in mehrfacher Hinsicht zu. Fraglich ist allein schon die soziale Wünschbarkeit und Zugehörigkeit der Institution des Theaters, denn Theater wird in der französischen Klassik auf denkbar unterschiedlichsten sozialen Ebenen gespielt, die von der Wanderbühne bis zum königlichen Divertissement reichen, wobei die divergenten Spielformen in ästhetischer Hinsicht durchlässiger sind als die soziale Schichtung ihres jeweiligen Publikums. In Frage steht ebenfalls und vor allem, ob der mimetischen Funktion des Theaters, d. h. ihrer mit fingierendem Spiel bewirkten szenischen Vergegenwärtigungsleistung, eine unter den Rationalitätsstandards der Auf klärung plausibel vertretbare besondere ästhetische Funktion zukomme, die es gerechtfertigt erscheinen lassen würde, das Theater als ein vernunftgeleitetes Erziehungsinstrument zu begreifen. Denn innerhalb der durch die Ästhetik Alexander Gottlieb Baumgartens neu ins Spiel gebrachten cognitio sensitiva tut sich sogleich eine bedeutsame Kluft auf. Wenn und sofern die praktische Vernunft dem sittlichen Kodex des menschlichen Zusammenlebens eine ›Naturbasis‹ von moralischen Empfindungen zugrunde legt, so muss sich andererseits die intersubjektive Verständigung über Gefühle noch stets gegen die aus den Praktiken höfischer Klugheit überkommenen Register der Vortäuschungslisten und Verstellungskünste zu behaupten lernen.13 Insofern werden etwa in den Tugend-versus-Laster-Romanen Samuel Richardsons oder in den Standeskonflikten des bürgerlichen Trauerspiels die diversen Vari­ anten des Kampfs zwischen geschmeidiger lustbetonter Willkür und standfesten moralischen Prinzipien nicht nur als Statusdifferenzen, sondern zugleich als Epochenkontroverse ausgetragen – und letztere manifestiert wiederum nicht allein eine sozialgeschichtliche, sondern ebenso eine rezeptionsästhetische Transformation. Das ungleiche Ringen zwischen der tückischen Raffinesse des adligen Verführers und der ungeschützten Naivität der familiären (weiblichen) Unschuld fungiert als moralisch-didaktische Einkleidung einer Interferenz zweier aufeinanderfolgender 13 Vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung – Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1992.

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medienästhetischer Handlungsparadigmen und ihrer unterschiedlichen, miteinander unvereinbaren Leitdifferenzen. Aus der höfischen prudentia erbt der skrupellose Verführer die taktische Unterscheidung von verfolgtem Zweck und eingesetzten Mitteln (allerdings sind nun die Mittel gut, der Zweck böse); sein Opfer dagegen praktiziert und verkörpert die neue, auf die Kultur der Empfindsamkeit vorausweisende Unterscheidung von authentisch versus inauthentisch und versucht dementsprechend,14 seinen Gefühlen unverstellten Ausdruck zu geben. Wie vor dem Laster nur durch Vermeidungsexempel gewarnt werden kann, so bedarf auch die Tugend einer beispielgebenden praktischen Vergegenwärtigung. Damit stellt sich für die zur Anregung der moralischen Empfindungen entworfenen literarischen und theatralen Modelle die prinzipielle Schwierigkeit, wie mithilfe von Fiktionen sich ein vernunftgeleitetes Handeln überhaupt vergegenwärtigen oder gar stimulieren lasse. Der britische Nationalökonom Adam Smith hatte in seiner Theory of Moral Sentiments (1759) die ethische Dimension des gesellschaftlichen Umgangs mit moderaten und starken Gefühlen zurückgeführt auf das zwischenmenschliche Verhältnis zwischen dem jeweils betroffenen Inhaber respektive ›Träger‹ des in Rede stehenden Gefühls und einem unparteiischen Zuschauer, der Zeuge des sich im Gegenüber manifestierenden Gefühlszustandes wird. Indem Smith den gesellschaftlichen Charakter der Emotionalität auf die Umstände ihrer Mitteilbarkeit und Beobachtbarkeit bezieht, skizziert er damit zugleich (aber eher nebenbei), worin seiner Auffassung zufolge die anthropologischen Voraussetzungen auch der theatralen Darstellungsvorgänge im Allgemeinen zu suchen sind. Hierzu gehört erstens die Grundbedingung, dass wir als einzelne Menschen »keine ummittelbare Erfahrung von den Gefühlen anderer Menschen besitzen«,15 weil diese (was Smith nicht ausdrücklich formuliert) sich ›innen‹, das heißt in einem für Beobachter opaken Leib-SeeleSystem, abspielen; zweitens aber ist vorausgesetzt, dass ein zeichenhafter (im Sinne von Charles Sanders Peirce: indexikalischer) Ausdruck dessen, was sich da im Inneren ›abspielt‹, an die Oberfläche dringt und als eine Art Mitteilung sichtbar wird; drittens schließlich, dass sowohl für diese manifeste Ausdrucksebene wie für die je dahinter stehende Gefühlslage ein beobachtender Mitmensch nicht umhin kann, »Mitgefühl« zu empfinden: denn, wie egoistisch auch immer man den Menschen grundsätzlich einschätze, so Smith, ließen sich doch »gewisse Prinzipien in seiner Natur« annehmen, »die ihn dazu bestimmen, an anderen Anteil zu nehmen.«16 Neigung zur Anteilnahme und prinzipielle Unbeobachtbarkeit des emotionalen Vorgangs selbst ergeben zusammen die beiden Grundpfeiler einer von gestisch-mimischer Körpersprache getragenen kommunikativen Situation, die auf das 14 Vgl. Nikolaus Wegmann: Diskurse der Empfindsamkeit – Zur Geschichte eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1988. 15 Adam Smith: Theory of Moral Sentiments; deutsche Ausgabe: Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, auf Grundlage der Übersetzung von Walther Eckstein hg. von Horst D. Brandt, Frankfurt a. M. 2010, 5 [I/1,1]. 16 Ebd.



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Ausdruckshandeln der einen, emittierenden Seite und auf die Nachempfindungsfähigkeit der anderen, rezipierenden Seite angewiesen ist. In einer solchen ›prototheatralen‹ Situation sind äußerliche Beobachtbarkeit und innerer Gefühlszustand gemeinsam präsent und doch auf zwei Instanzen verteilt, was eine gewisse Objektivierung und experimentelle Analyse ihres Zusammenspiels ermöglicht. Der Beobachter kann aufgrund tiefsitzender menschlicher Zugewandtheit nicht anders, als in gewissem Grade Sympathie zu empfinden; der Gefühlsträger wiederum ist dadurch gehalten, den Ausdruck seines Gefühlszustandes als kommunikativen (Handlungsakt) zu begreifen und die gezeigte Gefühlsintensität dem entsprechend sozialverträglich zu regulieren17: »Auf das Bemühen des Zuschauers, die Empfindungen des zunächst Betroffenen nachzufühlen, und auf das Bemühen des letzteren, seine Gefühle auf jenes Maß herabzustimmen, bis zu welchem der Zuschauer mitzugehen vermag, auf diese zwei verschiedenen Bemühungen gründen sich zwei verschiedene Arten von Tugenden.« Die »liebenswürdige« Tugend »nachsichtiger Menschlichkeit« auf Seiten des Zuschauers, die »achtunggebietende« Tugend der »Selbstbeherrschung und […] Herrschaft über die Affekte« seitens desjenigen, der sich beobachtet weiß und als Adressat des Mitempfindens erlebt.18 Smith unterstellt also in gewissem Umfang die willensgesteuerte Regulierbarkeit des emittierenden und des rezipierenden Intensitäts-Grades. Nun ließen sich sowohl hinsichtlich der Mechanismen, wie auf Seiten des Gefühls-›Trägers‹ die inneren Regungen sich somatisch Ausdruck verschaffen, wie auch hinsichtlich der beobachterseitigen Entzifferung dieser Körperzeichen und der daraus gezogenen interpretativen Rückschlüsse noch weit detailliertere Beschreibungskonzepte heranziehen, da beide Phänomenbereiche schon seit der Antike vielfach reflektiert und in unterschiedlichsten Modellen beschrieben worden sind. Für die Humanitätskonzeption des Auf klärungszeitalters ist jedoch viel entscheidender, was die beiden Seiten als ein verlässliches Band miteinander vereint, nämlich weder eine semiotische (körpersprachliche) noch eine theaterästhetische Konvention, sondern die menschliche Fähigkeit der sensibilité, die Empfindungsgabe oder Empfindsamkeit. Ist Sensibilität auf beiden Seiten der somatischen Zeichenübermittlung vorauszusetzen, dann stellt praktische Dimension der Kodierung und Dekodierung von Gefühlszuständen respektive Affekten kein grundlegendes Problem mehr dar. Sensibilität, im Zusammenspiel mit Einbildungskraft, ist dasjenige ästhetische Vermögen, das die Menschen auf ästhetische Weise ›soziabel‹, also gesellschaftsfähig macht. Beide Kräfte für sich allein genommen tendieren freilich zu einem dann nicht mehr sozialverträglichen Übermaß: Gefährlich ist sowohl eine von Außendaten und der Beeindruckbarkeit durch sie abgekoppelte Tätigkeit der Einbildungskraft wie auch ein nur mehr auf die Empfindungsdimension orientiertes Gemüt, dem die selbst­ tätige Kapazität der kreativen Weiterverarbeitung abhanden kommt.

17

Ebd., 32 [I/1,5].

18 Ebd.

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Nur das labile Zusammenspiel beider Tendenzen ermöglicht es, diese konträren Gefahren gegeneinander zu koordinieren und dadurch in einen permanenten Prozess der Risiko-Balance zu überführen. Diese Aufgabe wird, mehr oder minder explizit, dem doppelten kommunikativen Rahmen der Theatersituation zugeschrieben. Um die Sozialisationsangebote der Dichtung herum steckt die erzählende Prosa hierzu komplementäre Szenarien des Scheiterns bzw. der Desäquilibrierung auf. Rameaus Neffe (1805) gibt mit der Gestalt des Protagonisten das Exempel einer durch Selbsttätigkeit nicht mehr ausgeglichenen Erregbarkeit; Anton Reiser (1785– 1786) das Beispiel der solipsistisch aufgestauten, sodann auf das Theaterspiel übertragenen Einbildung. Die Leiden Werthers (1774) bezeichnen eine Fallgeschichte, in der sich beide Extreme aufaddieren. Zum eigentlichen Austragungsort des mit der dramatischen (Bühnen-)Darstellung verbundenen Risikos aber werden zunehmend die Theaterstücke selbst und die sie oder die Spielweise reflektierenden Kommentare und ästhetischen Schriften. III. Der Spielraum des Theaters und seine Beobachter (Diderot)

Dem Schauspiel werden aufgrund seiner performativen Macht, Gefühle zu erwecken und zu übertragen, erhebliche moralische Einflussmöglichkeiten zugetraut, aber auch mit Blick auf den Charakter unerwünschte Wirkungen zugeschrieben. Zu dieser ambivalenten Einschätzung haben neben den skizzierten Argumenta­ tionsfeldern von sinnlicher Ästhetik und moral sense auch die intrinsischen Entwicklungen der Theaterbühne und ihrer Spielformen im 18. Jahrhundert beigetragen. Ein fast durchgängig in Mitteleuropa (zuerst in Frankreich und England, sodann in Deutschland und Oberitalien, später auch in Österreich) zu beobachtender Trend der Zeit besteht in der verbindlicheren Festlegung des Theaters auf die Darbietung eines Dramentextes und damit auf eine mithilfe des szenischen Spiels zu erzählende Geschichte. Dass in der Einschätzung der Schauspielpraktiken die beschriebene Umstellung der Bewertungsmechanismen von Gefahr auf Risiko zu beobachten ist, geht einher mit den sowohl institutionell wie poetisch markanten Entwicklungsschritten einer sogenannten »Literarisierung des Theaters«.19 Das Theater wird auf seine narrative Funktion verengt, diese wiederum möglichst eng an einen illusionsfördernden dramatischen Darstellungsmodus gebunden; illusionsbrechende Scherze, Einlagen und Ebenenwechsel, die der Plot-Orientierung abträglich wären, werden im Zuge der Etablierung des Literaturtheaters zurückgedrängt. Wenn Hans-Thies Lehmann anhand der Kategorie des postdramatischen Theaters kontrastiv eine von Aristoteles bis ins 19. Jahrhundert reichende Kontinuität des ›dramatischen‹ Theaters konstituiert,20 so zieht er in dieser Abgren19 Roselt: Seelen mit Methode [Anm. 1], 19 und 27; Bender: Vom »tollen« Handwerk zur Kunstübung [Anm. 1], 12 f. 20 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater, Frankfurt a. M. 4 2008.



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zungsfigur zwei Dimensionen zusammen, die trotz ihrer historischen Überlagerung systematisch sorgfältig unterschieden werden müssen. ›Dramatisches‹ Theater ist einerseits handlungsbasiertes (mythos), auf eine Geschichte bezogenes Theater (und insofern stets zugleich narrativ), und es arbeitet zweitens hierbei vorzugsweise mit dem Illusionsmodus der szenischen Vergegenwärtigung, es ließe sich von auf Handlungen (praxis) basierte Inszenierung sprechen. Was sich nun zwischen 1730 und 1770 vollzog, war eine vehemente Abwertung und Ausmusterung der nichtnarrativen Theaterelemente zugunsten einer alleinigen Ausrichtung des dramatisch erzählenden Spiels auf den ihm zugrunde liegenden literarischen Text. Die allgemeine Tendenz einer deutlichen Abkehr vom Spektakel wurde unterstrichen durch verschiedenen Ortes ähnlich zu beobachtende Einzelphänomene wie etwa die zunehmende Entmischung der anfangs des 18. Jahrhunderts noch beliebten Hybrid-Gattungen (wie Ballettkomödien, Singspiele etc.), die Reduzierung improvisatorischer Einlagen und die Vertreibung der komischen Person bzw. des Typenbestandes der Commedia dell’Arte.21 Umgekehrt und positiv formuliert lässt sich von Frankreich und seinen (theater-)ästhetischen Debatten ausgehend die wachsende Bedeutung und Verbindlichkeit der Dramentexte und des sie in Aufführungsereignisse übersetzenden handlungsbasierten Spiels konstatieren. In dem Maße, in welchem die virtuosen Einlagen rund um die theatrale Darbietung an Eigengewicht verlieren, tritt die Illusionskunst der fingierenden Handlungsdarstellung als eigentliche Bühnenleistung hervor. Je stärker sich aus der Zeremonialkultur der höfischen Repräsentation die Schauspielpraktik als ein Kernbestandteil des Bühnengeschehens herausschält, und je häufiger und intensiver sich gleichzeitig die von der Dramenliteratur erzählten Handlungen ihrerseits selbstreflexiv mit den Phänomenen theatralen Spiels beschäftigen (und kritisch nach Übereinstimmungen oder Divergenzen zwischen Figurenrolle, Sprachmerkmalen, Körperzeichen und sozialem Anschein fragen), desto ambivalenter werden die der etablierten Schauspielkunst entgegengebrachten emotionalen Haltungen der hingerissenen Bewunderung und des Verdacht schöpfenden Misstrauens. Mit der ›moral sentiment‹-Konzeption von Adam Smith und mit den dramen­ ästhetischen Überlegungen Denis Diderots verliert zwar die besorgte Frage nach dem Gefahrenkomplex von Verstellungskunst, Verführung und Erregbarkeit nichts von ihrer gesellschaftlichen Relevanz (ganz im Gegenteil), doch wird nun das in sich gedoppelte Darstellungs- und Rezeptionsverhältnis der dramatischen Akteure untereinander und ihres Agierens vor Publikum als ein Spielraum oder Verhandlungsort vernünftiger Ausgestaltungen in den Blick genommen. Wie Smith interessiert sich Diderot für die Übertragungsvorgänge von Empfindungen; anders als jener klammert er das Problem der Fiktionalität hierbei nicht aus – das heißt, auf das Theater bezogen, derjenigen gestuften Grade des Fingierens, die Schauspieler eingehen, wenn sie als Bühnenfiguren agieren, und Theatertexte, indem sie 21 Vgl. Roger Bauer und Jürgen Wertheimer: Das Ende des Stegreifspiels – die Geburt des Natio­ naltheaters – Ein Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Dramas, München 1983.

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als Handlungsanweisungen auf ein mitzudenkendes reales Aufführungsgeschehen fungieren.22 Zwischen der fiktionalen Welt des literarischen Textes und ihrer Wirkungsentfaltung während der Aufführung nimmt die Darstellungstechnik des Schauspielers eine vermittelnde Stellung ein, die sie zusehends zum strategischen Zentrum poetologischer Betrachtungen und Maximen werden lässt. Jenseits der italienischen Stegreif-Komödianten war die französische Bühne vom kultivierten Stilideal der doctrine classique beherrscht, mit möglichst gepflegter, kunstsinniger Deklamation an die Rampe zu treten und einen Textvortrag vor dem dadurch direkt adressierten Publikum zu bieten. Diesem gleichsam konzertanten Aufführungsmodus entsprach die verspoetische Durchformung der in Alexandrinern gehaltenen Tragödien, bei welchen differenzierte Sprachniveaus der einzelnen Rollencharaktere zugunsten des hohen Stilideals zurücktraten und allenfalls angedeutet werden konnten. ­Diderots frühe Auseinandersetzung mit diesem Theater der klassischen Dämpfung kulminiert in der formelhaften Programmatik des Idealbildes einer virtuellen vierten Wand. Sinn und Ziel dieses Konzeptes ist eine mediale Differenzierung der Zeichengeltung, die das Spielgeschehen vom Zuschauerraum wie durch eine unsichtbare Barriere abtrennt und von dort aus für die Akteure scheinbar unerkannt beobachtbar macht. Merklich differenzierter als der Skeptiker Rousseau entfaltet Denis Diderot, der seine Position zur Illusions›gefahr‹ des Theaters überdies im Laufe der Jahre mehrfach modifizierte, die innere Zwiespältigkeit der dramatischen Darstellungsformen und der theatralen Spielpraxis. Das in den Bijoux indiscrets (1748) als Erzählfiktion durchgespielte, im Fils naturel (1757) und im Père de famille (1758) dramatisch erprobte und in der begleitenden Abhandlung De la poésie dramatique 1758 als ästhetisches Prinzip entwickelte Darstellungsmodell der ›vierten Wand‹ – die dem GuckkastenBühnenspiel einen virtuell markierten, eigenen architektonisch Geltungsraum zuschreibt – huldigt durchaus keinem naiven Illusionismus. Es birgt eine sowohl poetologisch als auch mimetisch anzuwendende Maxime der dramatischen Autonomie. Diderot, in der Übertragung durch Lessing 23: »Man denke also, sowohl während dem Schreiben, als während dem Spielen, an den Zuschauer eben so wenig, als ob gar keiner da wäre.« Hatten die Bijoux indiscrets das Phantasma der unbeobachteten Beobachtung noch (klassisch) von der Seite des Voyeurs aus durchdekliniert, so kehrt sich in den beiden Modellstücken Diderots und ihren Begleittexten die Blick- und Argumentationsrichtung vollständig um; nun geht es nicht mehr um die Tarnung des heimlichen Zuschauers, sondern um diejenige der offenkundigen Mimen. zum Folgenden Honold: Das Risiko des Schauspiels [Anm. 6]. Diderot: De la poésie dramatique; deutsche Ausgabe: Denis Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst, in: Gotthold Ephraim Lessing: Das Theater des Herrn Diderot – Aus dem Französischen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden V/1, hg. von Winfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, 124–230, hier 171. 22 Vgl.

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Denn in der Dramaturgie der postulierten vierten Wand tut zuerst der Autor, sodann auch der Schauspieler so, als würde das Spiel vor (also hinter) einer für Blicke semipermeablen Wand stattfinden, die es den Akteuren ermöglicht, gesehen zu werden, ohne zu sehen. Nochmals Diderot/Lessing 24: »Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterr [sic] abgesondert wird.« Die erdachte Vorrichtung schützt so gesehen nicht mehr den Voyeur, sondern die Bühnenakteure. Sie trägt deren tendenziell zur Unwahrhaftigkeit oder ›Scheinheiligkeit‹ tendierenden Aufgabe Rechnung, so zu tun, als bemerkten sie den Kunstcharakter des eigenen Spiels nicht. ›Hypokrisie‹ (wörtlich: Schauspielerei) bedeutet demnach die subjektiv erzeugte Fiktion, nicht zu schauspielern, d. h. die öffentliche Sichtbarkeit einer demonstrativen Handlung nicht angestrebt zu haben. Ideal und Verrat liegen schon bei Molière,25 erst recht aber im Diderot’schen Schauspielkonzept nahe beisammen – nämlich in der Möglichkeit, sich dem BeobachtetWerden durch ein Publikum darzubieten, ohne dies als reflexives Wissen wiederum erkennbar in das gespielte eigene Handeln einzubeziehen. Die virtuelle vierte Wand fungiert als eine Art Filter zwischen Bühnenpräsenz und Dramenrezeption; das Konstrukt ist insofern dem Gedanken einer analytischen Trennung des semiotischen Zusammenspiels von Innen und Außen, von Gefühl und Darstellung verpflichtet.26 Hatte die im Traditionskontext der eloquentia corporis elaborierte Affektrhetorik der Frühauf klärung noch eine quasi-natürliche Verbindung zwischen Körperausdruck und Figurenrede postuliert, so trennt Diderots Idee des optischen Filters den visuellen vom akustischen Kanal und damit von der Leibhaftigkeit des Spiels. Oder umgekehrt die Körperrhetorik von der Schau. Diderot/ Lessing zum dritten 27: »Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.« Das würde, statt des Schauspiels, ein Hörstück ergeben; näher an der zeitgenössischen Bühnenpraxis ist das von Diderot favorisierte gegenteilige Darstellungsmittel der wortlosen Pantomime, die »gerade keine Verdopplung rhetorischer Figuren« betreibt.28 Die beiden hypothetischen Separat-Schaltungen der im Theater dominanten Sinneskanäle verhalten sich komplementär zueinander und demonstrieren Diderots Vorgehensweise, sowohl »zwischen Innen (Seele, Gefühl) und Außen (Körper, Sprache) zu unterscheiden« wie auch zwischen Darstellung und Übertragung.29 Die theatral mitlaufende Beobachtung der Kommunikation eines Bühnen24 Ebd.,

171. von ungef ähr hatte Molières Tartuffe am sozialen Delikt der Heuchelei ein Grundproblem auch der Schauspielkunst selber touchiert, worauf der Autor sich aufgrund heftig empörter Reaktionen zu einem poetologisch ausgreifenden Paratext veranlasst sah, in dem er sein Komödienkonzept der Ridikülisierung von Lastern verteidigte. 26 So die pointierte Interpretation des Modells der vierten Wand bei Johannes Friedrich Lehmann: Der Blick durch die Wand – Zur Geschichte des Theaterzuschauers und des Visuellen bei Diderot und Lessing, Freiburg i.Br. 2000; die folgenden Ausführungen stützen sich auf den Argumentationsgang Lehmanns. 27 Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst [Anm. 23], 171. 28 Lehmann: Der Blick durch die Wand [Anm. 26], 186. 29 Ebd. 25 Nicht

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handelns wiederum ergibt (so die Folgerung Johannes Lehmanns) selbstbewusste, das heißt medienästhetisch reflektierte »Literatur«.30 Diderot ›subtrahiert‹ idealiter (vergleichbar dem Vorgehen in seiner Schrift über die Taubstummen) die Beobachterinstanz, um ex negativo durch solche poetischen wie gedanklichen Experimente ihren Beitrag zur theatralen Situation ermitteln zu können. Ebenso auf der Gegenseite des Schauspielers: Nur dem heimlichen Beobachter zeigen/verraten die Figuren des Bühnenspiels, dass und wie sie wechselseitig ihre Wirkung aufeinander prüfen. Als handelnde Menschen sind die Figuren darauf aus, beobachtet zu werden – was sie als Schauspieler ihrer selbst zugleich ›scheinheilig‹ leugnen. Für diese Doppelbestimmung des einerseits gefühlsinduzierten, andererseits vorstellenden Handelns bedürfte es gemäß Diderots Argumentation freilich keiner theatralen Aufführungssituation und auch keiner professionellen Schauspieler. Denn Schmeichler und Heuchler, Betrüger und Verführer sind die Menschen nicht erst auf der Bühne, sie sind es zunächst und vor allem in ihrem tagtäglichen Sozialverhalten 31: Mes yeux sont trop blessés, et la cour et la ville Ne m’offrent rien qu’objets à m’echauffer la bile […] Je ne trouve partout que lâche flatterie, Qu’injustice, intérêt, trahison, fourberie […] Wohin ich blicken mag, bei Hof und in der Stadt, Entdeck ich nichts, wobei mir nicht die Galle schwillt. […] Ich finde überall nur feige Schmeichelei, Selbstsucht, Verrat, Betrug und Ungerechtigkeit […]

Molières ›Menschenfeind‹ hat recht (und sein Autor musste es ja am besten wissen): la cour et la ville, so die stehende Wendung für die Repräsentationsorgane des absolutistischen Frankreichs, sind den Gesetzen der Vortäuschung und Verstellungskunst verpflichtet. Darum tat Rousseau gut daran, den Menschenfeind und VerstellungsGegner aus Molières Komödie zum Gewährsmann seiner Theaterkritik zu machen. Man könne nicht abstreiten, so verteidigt Rousseau den von Molière ins Zwielicht gezogenen armen Helden, dass dieser Menschenfeind eigentlich ein »rechtschaffener, offenherziger, achtbarer Mann« sei, und dass »der Verfasser aus ihm eine lächerliche Person« gemacht habe32 – auf Kosten der höheren sittlichen Gerechtigkeit. Als Hypokrisie im technischen Sinne zielt der gesellschaftliche Code der Schauspielerei als dramaturgischer Praktik in der Tat darauf ab, die Unverletzlichkeit des Scheins zu wahren. Für die bissige Haltung des Misanthropen aber, der sich dem 30

Ebd., 186 f. Jean-Baptiste Poquelin de Molière: Le Misanthrope – Œuvres complètes II, publ. par Georges Couton, Paris 1971, 145; Jean-Baptiste Poquelin de Molière: Der Menschenfeind, übertragen von Gustav Fabricius, in: ders.: Komödien, mit Nachwort und Zeittafel von Gerhard Hay, Düsseldorf/ Zürich 1996, 395. 32 Rousseau: Brief an Herrn d’Alembert [Anm. 7], 369. 31



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Mittun bei der allgemeinen Heuchelei verweigert, gilt, dass sie nolens volens ebenfalls nach dem Muster der Verstellungskunst beurteilt wird, nämlich als possenhafte, närrische Attitüde der Grobheit, wie man dem Menschenfeind sogleich nach seiner Kriegserklärung an die Gesellschaft entgegenhält 33: »Diese Sucht / Wirkt, wo Sie auch erscheinen, als Komödienspiel« – als ob nur unhöfliches und ungeschicktes Gebaren dem jeweiligen Gegenüber die Gewähr bieten könnte, aufrichtig gemeint zu sein. Vom Verdacht der Falschheit frei sind jene Handlungen und Regungen, die unbeobachtet geschehen; und genau hier setzen Diderots Theatermodelle an. Das Schauspiel Der natürliche Sohn oder Die Proben der Tugend eröffnet mit einer Vorbemerkung des Autors, der hier die dem Stück zugrundeliegende »wahre Geschichte« zu enthüllen behauptet.34 Erzählt wird darin vom persönlichen Kontakt des Berichtenden zu einem Manne, welcher das reale Vorbild zum Protagonisten der Dramenhandlung gewesen sei und sich selbst in der Rolle des ›natürlichen Sohns‹ befunden habe, der um des Freundeswohls willen einer Liebesbeziehung entsagte und dafür durch die Wiedervereinigung mit dem Vater belohnt wurde. Zur Erinnerung an die der Titelfigur abgeforderte Probe der Tugend wird diese Handlung im Familienkreis auf den väterlichen Wunsch hin eigens noch einmal in der Form eines häuslichen Theaterstücks einstudiert, kann allerdings erst nach dem Hinscheiden des Vaters als ein privates Gedenkritual zur Aufführung gebracht werden. Die häuslich-bürgerliche Dramenform (›domestique et bourgeois‹), als Bestimmungsmerkmal der neuen Gattung des bürgerlichen Trauerspiels angeheftet, bezieht sich bei diesem Diderot’schen Urmodell also auf eine Darstellungsgemeinschaft von Laien, welche, ohne an ein Publikum zu denken, ihre eigenen, häuslichen Rollen spielen. Im Hausvater (Père de famille) wiederum versucht der Protagonist, bei seinem vermeintlich auf Abwege geratenen Sohn Mitgefühl und Reue zu erwecken, indem er den eigenen Kummer demonstrativ vor dem jungen Manne ausbreitet, als dieser nach seinen nächtlichen Eskapaden frühmorgens endlich nach Hause zurückkehrt. Was der Vater indes nicht ahnt, ist, dass der Sohn sich nur durch den väterlichen Standesdünkel zum Versteckspiel genötigt sah und inkognito seine heimliche Verlobte besucht hat. Saint-Albin, der Sohn des Hausvaters, ist mit dem eigenen Maskenspiel vollauf beschäftigt; er tut seinem Vater den Gefallen nicht, ihn nach durchwachter Nacht als bedauernswertes Opfer und stummen Vorwurf zu erblicken. Dabei hatte der Vater die Szene geschickt eingefädelt, indem er, sobald entsprechende Geräusche die Rückkunft des Sohnes ankündigten, »nach dem Orte« eilte, »wo er gehen gehöret«,35 sich also genau dort postierte, wo er vom Heimkeh33 Molière: Der Menschenfeind [Anm. 31], 395. »Je vous dirai tout franc que cette maladie / Partout où vous allez, donne la comédie« (Molière: Le Misanthrope [Anm. 31], 146). 34 Denis Diderot: Le fils naturel; deutsche Ausgabe: Denis Diderot: Der natürliche Sohn oder Die Proben der Tugend – Nebst der wahren Geschichte des Stücks, in: Gotthold Ephraim Lessing: Das Theater des Herrn Diderot, hg. von Wolfgang Stellmacher, Leipzig 1981, 33. 35 Denis Diderot: Le père de famille; deutsche Ausgabe: Denis Diderot: Der Hausvater, in: Lessing: Das Theater des Herrn Diderot [Anm. 23], 33.

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renden gesehen und bei seiner einsamen, kummervollen Nachtwache ›überrascht‹ werden musste. Doch die aufgestellte Theaterfalle der intrinsischen vierten Wand schnappt nicht zu, im Gegenteil. Der Sohn »geht durch den Saal, ohne jemand gewahr zu werden«,36 und zwingt dadurch den Hausvater, ihn seinerseits zu beachten und anzusprechen. Wer wem ein Schauspiel zu bieten und die Blicke des anderen auf sich zu ziehen vermag – das ist die Machtfrage, um welche die Exposition des Vater-Sohn-Konfliktes im Hausvater kreist.37 Der Hausvater und Der natürliche Sohn setzen demnach einerseits die Rolle der artifiziell fingierenden Schauspieler hypothetisch außer Kraft, andererseits diejenige der einem theatralen Kunstprodukt konsumierend beiwohnenden Zuschauer. Handlungsnachahmung und Beobachtung, so zeigt sich in und mit diesen Experimenten, sind wechselseitig voneinander abhängige Größen. Das Bühnenspiel selbst wird dabei zum Versuchslabor, so dass die dort ablaufenden Vorgänge des Handelns und Beobachtens einen davon wiederum verfahrenstechnisch getrennten, unabhängigen und externen Beobachterstandpunkt erfordern 38: »Die Zuschauer sind nichts als Zeugen, von welchen man [Wer? Der Autor? Die Darsteller auf der Bühne? Der Zuschauer selbst?: A. H.] nichts weiß.« Das Theater Diderots entwirft somit eine in sich mehrteilige Architektur von Beobachtungsverhältnissen, die es gestattet, Aufrichtigkeits-Bedingungen an die Auftritte sich unbeobachtet glaubender Akteure zu knüpfen, weil sie auch dieses Darstellungsprinzip selbst wieder in eine Interferenz von Binnenspiel und Rahmenbezug aufspalten und dadurch thematisierbar machen kann.

36 Ebd. 37 »Anstatt die Verzweiflungspantomime des Vaters zu sehen und angesichts dieses Anblicks sein Tun zu bereuen, bemerkt Saint-Albin den Vater gar nicht, sondern bietet ihm nun seinerseits ein Schauspiel der Verzweiflung« (Lehmann: Der Blick durch die Wand [Anm. 26], 106). 38 Diderot: Von der dramatischen Dichtkunst [Anm. 23], 164.

Information und Plastisierung Anthropo-Praktiken der Kunst und Literatur um 1800 Britta Herrmann

I. Einleitung

Alles ist kulturell formbar und muss auch geformt werden, ansonsten bleibt es ein brutum.1 Das gilt nicht zuletzt für den Menschen, der ohne dies nur ein rohes und tierisches ›Naturding‹ wäre – ein Hominide, aber kein humanum. Diese Auffassung findet sich im 18. Jahrhundert zahlreich variiert: Der Mensch, »dieses ehemalige Werk der mechanischen Naturnotwendigkeit«, muss sich erst »in ein Kunstprodukt« 2 verwandeln, gar in einen »künstliche[n] Mensch[en]«,3 um »sich der Menschheit würdig zu machen«.4 Mehr noch – er »konstituieret sich selbst«, denn »die Natur des Menschen ist Kunst«.5 Mit dem Auftrag zum Eingriff in die (eigene) Natur ist dem anthropologischen Diskurs um 1800, wie gezeigt werden soll, eine praktische, aber auch eine praxeologische Perspektive eingeschrieben.6 Unter diese Perspektive werden, wie hier ferner ausgeführt sein soll, einerseits ästhetische Konzepte wirksam bzw. ausgehandelt und andererseits Kunst und Literatur als Anthropo-Praktiken entworfen. Wie weit sich der Mensch durch kulturelle Selbstformung – Bildung – von der eigenen tierischen Natur entfernt hat, lässt sich, nach zeitgenössischer Auffassung, am Körper ablesen. Unterschiede im Körperbau und in der Körperhaltung werden symbolisch akzentuiert und verstärkt. Kulturelle Schemata werden so internalisiert und führen zu Diskriminierung und Klassenbildungen. Die Vorstellungen vom Aussehen des künstlichen Menschen sind dabei durch die idealisierende Kunst der 1 Ausführlicher zu den folgenden Ausführungen: Britta Herrmann: Über den Menschen als Kunstwerk (1750–1820) – Zu einer Archäologie des (Post-)Humanen im Diskurs der Moderne, München/ Paderborn 2018. Vgl. außerdem Anthropologie und Ästhetik – Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Britta Herrmann, Paderborn 2019. Vgl. Johann Gottfried Herder: Kalligone, in: ders.: Werke in zehn Bänden VIII, hg. von Dietrich Irmscher, Frankfurt a. M. 1998, 641–964, hier 943–948. 2 Lazarus Bendavid: Über den Menschen als Kunstwerk, in: Neue Berlinische Monatsschrift 2 (1807), 257–284, hier 282 und 281. 3 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden VIII, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt a. M. 1992, 556–676, hier [7. Brief ] 579. »[E]ine Aufgabe für mehr als Ein Jahrhundert« (ebd). 4 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders.: Werkausgabe XII, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 41982, 397–690, hier 678 [B 319/A 321]. 5 Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität, in: ders.: Werke in zehn Bänden VII, hg. von Dietrich Irmscher, Frankfurt a. M. 1991, 153 und 126 [Hervorh. im Original]. 6 Zur grundsätzlichen Verwobenheit von Praktiken und Diskursen vgl. Andreas Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis – Studien zur Sozial- und Gesellschaftstheorie, Bielefeld 2016.

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Antike geleitet. Je stärker die Körper davon abweichen, desto eher werden sie als hässlich und weniger menschlich eingestuft. Eine Möglichkeit der Selbstformung besteht daher in der Inkorporation kultureller und ästhetischer Schemata. Dies geschieht nicht zuletzt durch Praktiken der Kunstrezeption, die je nach dem Verständnis und der Bewertung von Konzepten wie Mimesis, ›Energie‹ und Einbildungskraft divergieren. Zudem ist es wichtig, die ästhetisch ›richtige‹ Kunst zu rezipieren. Der Umgang mit dem Hässlichen befeuert die Debatten zwischen Klassik und Romantik, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil unterschiedliche Auswirkungen der poetologischen Programme auf die Seele sowie auf die physische Entwicklung der menschlichen Gattung angenommen werden. Beide literarischen Richtungen entwerfen sich so in Wechselwirkung mit zeitgenössischen naturkundlichen und anthropologischen Wissensbeständen als Praxisformen des Humanen. II. Anthropologie und Praxeologie: der Mensch, das Tier und das Schöne

Seit Carl von Linné den Menschen taxonomisch in das Tierreich eingeordnet hat, weil er aus naturgeschichtlicher Perspektive keinen generischen Unterschied zwischen Affen und Menschen ausmachen konnte,7 beherrscht das 18. Jahrhundert eine diskursive Unruhe, wie diese ›biologische Kränkung der Menschheit‹ 8 aufzuheben sei. Schon Linné merkte an, welche verächtliche Sache der Mensch wäre, wenn er sich nicht über das Tier, und damit letztlich über den Rahmen der Naturgeschichte, hinausbewegte.9 Durch den Eintritt in die vom Menschen selbst geschaffene und gesteuerte »Unendlichkeit der Kulturgeschichte«10 aber wird der Mensch zum ›Anderen‹ der Natur und erst so auch als Nicht-Tier lesbar; sein Geschlecht kann unter allen anderen Anthropomorphen nur im »Zustand der Cultur« überhaupt »als ein Menschliches erkannt werden«.11 Anders als in den kulturkritischen Ausführungen Jean-Jacques Rousseaus, in denen die Entfernung von der Natur negativ bewertet wird, bildet Kultur im anthro­ pologischen Diskurs des 18. Jahrhunderts offenbar die einzige Möglichkeit, den Menschen weiterhin als Sonderwesen einzuordnen. Andere Bestimmungsversu7 Vgl. Johann Georg Gmelin: Reliquias quae supersunt commercii epistolici cum Carolo Linnaeo, Alberto Hallero, Guilielmo Stellero et al., hg. von Wilhelm Heinrich Theodor Plieninger, Stuttgart 1861, 55. 8 Eine viel zitierte Wendung von Freud, der allerdings – wie die meisten Zitierenden – mit der Datierung dieser Kränkung erst nach Darwin irrte, auch wenn das Wort ›Biologie‹ im 18. Jahrhundert noch nicht gebräuchlich war (vgl. Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: ders.: Gesammelte Werke XII, hg. von Anna Freud, Frankfurt a. M. 1972, bes. 3–12). 9 Vgl. Carl von Linné: Systema naturae per regna tria naturae, secundum classes, ordines, genera, species cum characteribus, differentiis, synonymis, locis, Halle 1760, 3. 10 Bendavid: Über den Menschen als Kunstwerk [Anm. 2], 282. 11 Friedrich August Carus: Ideen zur Geschichte der Menschheit, in: ders.: Nachgelassene Werke VI, hg. von Ferdinand Hand, Leipzig 1809, 45 [Hervorh. im Original].



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che – Größe des Gehirns, Bipedie u. ä. – erscheinen aus naturwissenschaftlicher Sicht zunehmend relativ und stehen außerdem bereits unter dem Verdacht, ebenfalls Resultate kultureller Praktiken zu sein. In dieser anthropologischen Perspektive bildet Kultur die Befähigung zum Eingriff in das Spiel der Natur. Sie macht den Menschen vom reinen Objekt (des Werdens der Natur) zum Subjekt (des eigenen Werdens) – und zwar als Objekt seiner eigenen Praktiken. Eben diese praxeologische Seite gewinnt durch die biologische Kränkung an Gewicht und verändert auch das Erkenntnisinteresse der Anthropologie, wie etwa Immanuel Kants Überlegungen zu einer pragmatischen Anthropo­ logie verdeutlichen12: Die physiologische Menschenkenntnis geht auf die Erkenntnis dessen, was die Natur aus dem Menschen macht, die pragmatische auf das, was er, als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll.

Nicht das Erkennen von physiologischen oder biologischen Strukturen ist Teil der pragmatischen Anthropologie, sondern das Erkennen menschlicher Gewordenheit sowie ein damit verbundenes Handlungskonzept für die Zukunft (was der Mensch ›machen kann und soll‹). An der Physiologie lässt sich nämlich keineswegs nur ablesen, was die Natur aus dem Menschen macht, sondern eben auch, was kulturelle Praktiken aus ihm machen: Kultur »modifizirt und verschönert die menschliche Form«.13 Wenn aber die verschönerte Form das Insignium von Kultur und Hominisation bildet, dann lässt sich direkt am Körper erkennen, wie sehr der Mensch fähig (gewesen) ist, ›als freihandelndes Wesen‹ zu agieren und sich selbst vom Naturstand zu entfernen. Anders gesagt: Je ›hässlicher‹ die Gestalt erscheint, desto weniger Kultur hat sie und desto näher am Tier, desto weniger Mensch ist sie. Gegen eine solche kulturphysiognomische Körperlektüre lässt sich freilich Manches einwenden. Georg Christoph Lichtenberg wies beispielsweise darauf hin, dass unsere Körper auch von schwierigen sozialen und unzulänglichen ökonomischen Verhältnissen erzählen, die etwa einher gehen mit der Zufuhr schlechter Nahrung, dem Tragen fauler Windeln, den Behandlungen durch leichtfertige Wärterinnen, dem Nächtigen in feuchten Schlaf kammern und vielem mehr. Lichtenberg kon­ sta­t iert14: »Daher vermutlich die regelmäßigeren Gesichtszüge der Vornehmen und Großen«. Nicht alle kulturellen Praktiken verschönern also die menschliche Form. Die meisten zeitgenössischen Diskussionen setzen den Fokus dennoch auf die Meliorisierung der Gattung durch Wissenschaften und Künste. Humanisierung ist in dieser 12 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [Anm. 4], 399 [BA IV] [Hervorh. im Original]. 13 Christoph Girtanner: Über das kantische Prinzip für die Naturgeschichte – Ein Versuch diese Wissenschaft philosophisch zu behandeln, Göttingen 1796, 219 [Reprograph. Nachdr. Brüssel 1968]. 14 Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen – Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntnis, in: ders.: Schriften und Briefe II, hg. von Franz H. Mautner, Frankfurt a. M. 1983, 78–116.

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Perspektive an die fortschreitende Bildung – Veredelung – von Geist und Seele gekoppelt, manifestiert sich aber, so die Auffassung, auch in der äußeren Erscheinung. Einen Hintergrund für dieses Denken, das die praxeologische und zugleich ästhetische Ausrichtung der Anthropologie mitbestimmt, bildet das antike kalokagathia-Konzept, wonach die Seele sich im Körper abbildet und so ›lesbar‹ wird:15 Ist die Seele deformiert, schwach oder eben (moralisch) hässlich – also nicht gut gebildet –, ist es auch der Körper. Den ästhetischen Bewertungsmaßstab für diese physiognomische Deutung liefern um 1800 die idealisierten Statuen der griechischen Antike. Sie stellen für die Zeitgenossen die von der Natur eigentlich intendierte menschliche Form dar, die (wieder) zu erreichen ist. In diesem Sinn notiert etwa Novalis16: »Die Gallerieen sind Schlaf kammern der zukünftigen Welt.« Und Johann Gottfried Herder folgert17: »[W]as schadets, die Kunstkabinette [...] als Naturalien-Kabinette zu durchlaufen?« Für ihn repräsentieren die »griechische Form des Oberhauptes« sowie überhaupt die antiken Proportionen der Statuen prototypisch die »menschliche Wohlgestalt« und die »innere Bildung zur Vernunft«, die durch »organische Kräfte«18 erlangt werden können. Aber nicht nur Herder liest Darstellungen der Kunst als Dokumente der Naturgeschichte. Er hat vielmehr etwa Naturforscher wie Peter Camper rezipiert, der den griechischen Kopf als krönenden Abschluss einer naturgeschichtlichen Schädelreihe betrachtete. Die kraniometrischen Prinzipien der Schädel hat Camper der europäischen Kunstgeschichte entnommen,19 sie also selbst schon von bestimmten Schönheitskonzepten abgeleitet. In seiner Schädelreihe steht der Europäer dem griechischen Oberhaupt am nächsten. Am anderen Ende befindet sich der Affe, in dessen unmittelbare Nähe Camper den afrikanischen Phänotypus einordnete. Von hier aus ist es nicht weit zu Schlussfolgerungen, wie sie etwa der Anatom und Anthropologe Thomas von Soemmerring zog 20:

15 Vgl. Wilhelm Grosse: [Art.] Kalokagathia, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie IV, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Basel/Stuttgart 1976, 681–684. 16 Novalis: Das Allgemeine Brouillon, in: ders.: Schriften – Die Werke Friedrich von Hardenbergs III, hg. von Richard Samuel, Darmstadt 21968, 242–478, hier 398 [Nr. 686]. 17 Johann Gottfried Herder: Plastik – Einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Träume, in: ders.: Werke in zehn Bänden IV, hg. von Jürgen Brummack und Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1994, 243–326, 1025 [Paralipomena]. 18 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, in: ders.: Werke in zehn Bänden VI, hg. von Martin Bollacher, Frankfurt a. M. 1989, 129. Vgl. auch Herder: Kalli­ gone [Anm. 1], 924–927. 19 Vgl. Peter Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters; über das Schöne antiker Bildsäulen und geschnittener Steine; nebst Darstellung einer neuen Art, allerlei Menschenköpfe mit Sicherheit zu zeichnen, nach des Verfassers Tode hg. von seinem Sohne Adrian Gilles Camper, übers. von S. Th. Sömmerring, Berlin 1792. 20 Samuel Thomas Soemmerring: Ueber die körperliche Verschiedenheit des Negers vom Europäer, Frankfurt a. M./Mainz 1785, 5.



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Wie wärs, wenn sich anatomisch darthun ließe, daß die Mohren weit näher als wir Europäer ans Affen-Geschlecht gränzen? und daß […] die auszeichnenden Organe des Verstandes, die unsern Abstand von den Thieren verursachen, den Mohren e­ twas hinter uns zurücklassen.

Einerseits droht im 18. Jahrhundert also die Grenze zwischen Tier und Mensch zu schwinden, andererseits begründet die kränkende Nähe, sogar potentielle Verwandtschaft mit dem Nicht-Humanen die ›Erfindung des Menschen‹.21 Teil dieser Erfindung oder dessen, was Agamben die »anthropologische Maschine« 22 genannt hat, ist jedoch nicht nur die Idee der kulturellen Formung oder Selbstschöpfung des Menschen, sondern sind auch Praktiken der Diskriminierung, mit denen erneut eine Unterteilung in Mensch/Kultur und Tier/Natur vorgenommen wird, nun aber innerhalb der Menschengattung selbst. Es entsteht ein ›Anderes‹ – im zitierten Fall der ›Mohr‹ –, das in die Nähe des Tiers oder der Natur gerückt wird, damit das ›Eigene‹ – im zitierten Fall ›wir Europäer‹ – sich umso weiter davon entfernt wähnen kann. Um diesen Abstand deutlich zu markieren, wird er als ästhetische Differenz buchstäblich auf den Leib geschrieben: Von den griechischen Proportionen abweichende, als hässlich definierte Körper – »gequetschte Nase, hoher Augenknochen, eingefallne Wange, aufgeworfne Lippen« 23 beispielsweise – zeugen nicht nur für Herder von der minder vorhandenen »Menschheit im Menschen«.24 III. Literatur und Kunst als Anthropo-Praktiken

Es gibt im 18. Jahrhundert zahlreiche Überlegungen dazu, wie die menschliche Gattung schöner werden kann – eugenische, kallipädische, diätetische und reproduktionstheoretische Schriften zeugen davon. Dass aber auch Kunst und Literatur als körperformende Anthropo-Praktiken gedacht worden sind, ist zunächst einmal ein relativ fern liegender Gedanke, scheinen sie doch allein auf Erziehung und geistige Bildung gerichtet sein zu können. Doch da man im 18. Jahrhunderts von einer engen Wechselwirkung zwischen Körper und Seele ausgeht (commercium mentis et corporis), muss sich das eine verändern, wenn man das andere modifiziert. Bildung ist unter dieser Prämisse auch Bodybuilding. Nun ist es natürlich auch den Zeitgenossen klar, dass aus einem missgestalteten Körper durch Ausbildung der Seele kein Adonis wird. Wie Herder anmerkt, hat man zwar »Kraft und Gelegenheit genug, seine Seele, nicht aber seinen Körper umzubilden«.25 Die seelische Verschönerung verändert denn – ontogenetisch – auch Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1999, 462. Agamben: Das Offene – Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. M. 2003, 39. 23 Herder: Plastik [Anm. 17], 1029 [Paralipomena]. 24 Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität [Anm. 5], 372 [Hervorh. im Original]. 25 Johann Gottfried Herder: Ist die Schönheit des Körpers ein Bote von der Schönheit der Seele?, in: ders.: Werke in zehn Bänden I, hg. von Ulrich Gaier, Frankfurt a. M. 1985, 135–148, hier 146. 21 Vgl.

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nicht den Knochenbau oder den »architektonischen Teil« 26 des Körpers. Vielmehr wirkt sie sich zunächst auf den Habitus aus: Anmut, Grazie und Würde gelten als körperlich sichtbare Zeichen einer schönen Seele. Aber da die Seele im Gehirn vermutet wird, betreffen Modifikationen der Seele darüber hinaus möglicherweise auch »die innerste Bauart der Gehirn- und Nervenzasern«27 und sogar vererbbare nerven- bzw. hirnphysiologische Strukturen. Vor diesem Hintergrund warnt Herder, dass Hässliches zu vermeiden sei, weil es »selbst lesend uns Nervenbau und Gehirn zerreiß[t]« und noch »Geschlechterhinab Unheil«28 stiftet. Wie andere Autoren nahelegen, besteht ein solches – phylogenetisches – Unheil etwa darin, dass »alle Abstämmlinge Dummköpfe«29 sind und die »Stärke des Geistes, Energie der Seele, oder moralisches EmpfindungsVermögen «30 geschwächt wird. Doch nicht nur das Gehirn und die Nerven sind potentiell betroffen. Je nach wissenschaftlicher Ausrichtung wird im 18. Jahrhundert angenommen, dass die Seelenkräfte auch auf andere Organe einwirken und sie formen können – zum Guten oder Schlechten. Animistische Theorien in der Nachfolge Georg Ernst Stahls gehen von einer vis plastica aus, mit der es durchaus möglich erscheint, dass die »Seele ihren Cörper baue«.31 Das gilt zunächst einmal für die Entwicklung des Fötus im Mutterleib: Unkontrollierte Begierden, heftige Emotionen oder den Anblick hässlicher Dinge gilt es laut kallipädischen Ratschlägen daher seitens der Schwangeren zu vermeiden, weil dies, so eine gängige, wenn auch um 1800 bereits umstrittene Auffassung, zu Deformationen des Embryos führen könnte. Umgekehrt scheint es möglich, Kinder im Mutterleib dadurch ästhetisch zu formen, dass Schwangere sich Kunstwerke durch Anschauung verinnerlichen, um sie gleichsam im (oder als) Fötus zu reproduzieren. Im Zuge der romantischen Naturphilosophie und ihrer Kräftetheorien wird schließlich diskutiert, ob die menschliche Seele nicht überhaupt über eine ähnliche organische Bildungskraft verfügt, wie sie etwa beim Polypen zur Regeneration von Körperteilen führt. »Wer weis ob wir nicht

26 Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde, in: ders.: Werke und Briefe VIII [Anm. 3], 330– 394, hier 354. 27 J. H. B. in M***: Der große Geist oder das Genie, Mannheim 1781, 13 f. [Name trotz aller Bemühungen nicht auflösbar]. 28 Herder: Plastik [Anm. 17], 274. 29 J. H. B. in M***: Der große Geist oder das Genie [Anm. 27], 13 f. 30 Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de Condorcet: Entwurf eines historischen Gemähldes der Fortschritte des menschlichen Geistes, übers. von Ernst Ludwig Posselt, Tübingen 1796, 324 [Hervorh. im Original]. 31 Christian Gottlieb Kratzenstein: Beweiß, Daß die Seele ihren Cörper baue, in: ders.: Abhandlung von dem Aufsteigen der Dünste und Dämpfe, welche von der Academie zur Bourdeaux den Preiß erhalten, Halle 1744, 27–62 [Faksimiledruck Lindau i. B. 1977]. Kratzensteins Schrift wäre vor dem Hintergrund der Situation in Halle zu diskutieren. Vgl. dazu Andreas Kleinert: Gottlieb Kratzensteins Schriften zur psychosomatischen Medizin, in: »Vernünftige Ärzte« – Hallesche Psychomediziner und die Anfänge der Anthropologie in der deutschsprachigen Frühaufklärung, hg. von Carsten Zelle, Tübingen 2001, 91–102. Das führt hier aber zu weit und trägt nichts zum Argument bei.



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nachgerade […] Augen, Ohren etc. hervorbringen könnten«,32 notiert Novalis. Dann »hängts ja nur von uns ab – uns einen Körper zu geben, welchen wir wollen«.33 Die Seelenkräfte müssten einfach nur stark genug sein, um über die hemmenden Kräfte der Materie zu siegen. Unter dieser Prämisse entwirft Novalis die Rezeption frühromantischer Dichtkunst als Praktik zur Erregung und Steigerung der Seelenkräfte. Zum poetologischen Programm dieser Potenzierung gehören heftige Seelenreize, und dafür sind auch Mittel recht, die Herder dem Hässlichen zugeordnet hätte – etwa groteske und scheinbar monströse Formen. Wie sich hier schon andeutet und im Folgenden weiter entfaltet wird, werden die Umgangsweisen mit Kunst und Literatur um 1800 auf unterschiedliche Weise als Anthropo-Praktiken entworfen: einerseits als Einformung des Schönen in die Seele und (mittelbar) in den Körper und andererseits als Möglichkeit, die Seelenkräfte dergestalt anzureizen, dass sie (unmittelbar) die Herrschaft über die Organe und die materielle Welt übernehmen. A. ›Ethopöie‹ und Mimesis: In-Formation der Seele als Bodybuilding (Herder, Moritz)

Wissenschaften und Künste, so Herder, insbesondere die humaniora – also »Sprachen und Poesie, Rhetorik und Geschichte« 34 – haben, richtig betrieben, »keinen andern Zweck […] als uns zu humanisieren, d. i. den Unmenschen oder Halbmenschen zum Menschen zu machen«.35 Oder sie sind nur »Trödel«.36 Allerdings gibt es auch Wissenschaften und Künste, die das Gegenteil bewirken, wenn sie ›falscher Art‹ sind. In diesem Fall solle man sie »brutalisierende Künste und Wissenschaften nennen, wert von Sklaven getrieben zu werden, damit auf ihnen die menschliche Tierheit ruhe«.37 Den jeweiligen Künsten entsprechend sehen dann auch die Körper aus38: Mit welcher Art und Kunst, in welcher Harmonie und Proportion, zu welchen Zwecken endlich, der Körper, schicklich der Person, dem Ort und der Zeit, in der er lebt, ausgebildet werde, dies ist die Kunst des Schönen dieser schönen Künste. Barbarische Zeiten und Völker bilden ihn zu barbarischen Zwecken in barbarischen Künsten; weichlich lüsterne Zeiten zu Zwecken ihres Gefallens.

32 Novalis: Vorbereitungen zu verschiedenen Fragmentsammlungen, in: ders.: Schriften – Die Werke Friedrich von Hardenbergs II, hg. von Richard Samuel, Darmstadt 21965, 505–651, 547 [Nr. 112]. 33 Ebd., 584 [Nr. 248]. 34 Johann Gottfried Herder: Über den Einfluß der schönen in die höhern Wissenschaften, in: ders.: Werke in zehn Bänden IV, Frankfurt a. M. 1994, 215–232, hier 230 [Hervorh. im Original]. 35 Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität [Anm. 5], 165. 36 Herder: Kalligone [Anm. 1], 948. 37 Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität [Anm. 5], 165 [Hervorh. im Original]. 38 Ebd.

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Durch ›Art und Kunst‹ also werden ›Harmonie und Proportion‹ der Körper gebildet, d. h. durch kulturelle und ästhetische Praktiken, und zwar abhängig von ›der Person, dem Ort und der Zeit‹, man könnte auch sagen: im Kreuzungspunkt sozia­ ler, lokaler und historischer Kontexte und Praktiken. In schönen Zeiten geschieht dies zu schönen Zwecken durch schöne Künste. Eine solche Zeit schöner Künste und Menschen bildet für Herder und seine Zeitgenossen spätestens seit ­Johann ­Joachim Winckelmanns Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke (1756) die griechische Antike. Ihre Statuen zeigen den schönen Menschen (bzw. sein Ideal) nicht nur als ein vergangenes Relikt, sondern gleichsam als Proto­t ypen der Zukunft, die es neu hervorzubringen gilt. Denn in den Marmorleibern hat das humanum – wie ein versteinertes Wesen aus der Vorzeit – überdauert und muss wieder zu neuem Leben erweckt werden. Die Bildsäule ist so nicht nur Abbild oder Nachbild, sondern mahnendes Vorbild und ruft »als eine zweite Schöpferin uns schweigend zu: ›blicke in diesen Spiegel, o Mensch; Das soll und kann dein Geschlecht sein.‹«39 Die Art der (Körper-)Darstellung veranschaulicht in den Kunstleibern ein idea­ les »Maß der Sittlichkeit«.40 Herder spricht hier, in Anknüpfung an die in der Rhetorik darunter gefasste Aufgabe der Darstellung von Charakterzügen durch Rede, von »Ethopöie«.41 In den »heiligen Formen der Plastik« zeigen sich die Charaktere und Sitten »am völligsten«, in der Dichtkunst haben sie jedoch die unmittelbarere und erregendere Wirkung.42 Damit bildet die Ethopöie nicht nur eine Praktik der Charakterschilderung, sondern – je nach Kunstform unterschiedlich ausgeprägt – zugleich ein Stilmittel im Dienst der Evidentia und der Enárgeia.43 Insbesondere letztere bildet einen wichtigen Bestandteil von Herders Rezeptionstheorie. Denn da Kunst von Herder – gegen Kant gerichtet – nicht als interesselos gedacht wird, sondern allein als dem Zweck der Humanisierung dienend, wenn sie eben nicht ›Trödel‹ sein soll, muss sie uns angehen, uns an sich ziehen, reizen:44 Ihr ›schweigender Zuruf‹ wird sonst nicht verfangen. In den Spiegel der Statue – oder auch den der literarischen Rede – blickend soll nun der dargestellte Charakter bzw. dessen Sittlichkeit angeeignet werden. Für Herder geht es darum, dass durch die Rezeption von Kunst und Literatur schöne Gestalten, fremde Gedanken und innere Worte »zur Form unsrer Seele«45 gedeihen. 39 Ebd.,

364. Kalligone [Anm. 1], 960 f. [Hervorh. im Original]. 41 Ebd., 960. 42 Ebd., 960 f. 43 Zur grundsätzlichen Problematik der Abgrenzung der Ethopoeia vgl. Guido Naschert: [Art.] Ethopoeia, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik Online, hg. von Gert Ueding, Berlin/ Boston 2013: https://www.degruyter.com/database/HWRO/entry/hwro.2.ethopoeia/html [04. 04. 2022]. 44 Herder: Kalligone [Anm. 1], 730 f. 45 Johann Gottfried Herder: Über die menschliche Unsterblichkeit – Eine Vorlesung, in: ders.: Werke in zehn Bänden VIII [Anm. 1], Frankfurt a. M. 1998, 203–219, hier 208. 40 Herder:



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Damit korrespondiert der Ethopöie eine Praxis der ›Information‹. Seit der Neuzeit geht die Tendenz dahin, ›Information‹ lediglich als Daten- oder Wissensvermittlung aufzufassen. Die ältere Bedeutung aber ist die der in-formatio, der aktiven Einprägung, der umfassenden Bildung und Formung46: »Die informatio […] ist eine Disziplin, die sich nicht nur mit den Methoden der Wissensvermittlung, wie die didactica, beschäftigt, sondern mit dem Formungsprozeß des Menschen als Ganzes bzw. mit der Entfaltung seiner körperlichen und geistigen Eigenschaften«. Ihre Praktik besteht bei Herder in einem imaginären Sich-Hineinversetzen in das Kunstwerk und in dessen innerlicher Nachbildung bis zur Herausbildung einer diesem Inneren entsprechenden Korporealität. Diese Praktik entfaltet wiederum der mit Herder befreundete Karl Philipp Moritz in seiner Abhandlung Über die bildende Nachahmung des Schönen (1788) unter dem Begriff der Mimesis. Moritz unterscheidet in seiner klassizistischen Programmschrift verschiedene Arten der mimetischen Aneignung, um schließlich einerseits das Nachahmen im sittlich-moralischen Sinn und andererseits das Nachbilden (des Sittlichen) in der Kunst – Herders Ethopöie also – explizit als dieselbe Praktik zu entwerfen: als EinBildung bzw. In-Formation des Schönen. Moritz verwirft zunächst die Nachahmung auf der Bühne, die von einer Person »Gang, Miene, Stellung und Gebärden […] mit Bewusstsein, und gleichsam im Scherz«47 imitiert, als bloße Parodie. Sodann widmet er sich demjenigen, der dasselbe »im Ernst« vollführt, weil er sich dem Vorbild (zu Unrecht) »innerlich schon ähnlich dünkte« – und sich deshalb ganz so benimmt, »wie der Affe, in seinen possierlichen Stellungen und Gebärden, sich zum Menschen verhält«.48 Gegen Parodie und Nachäffen setzt Moritz schließlich die innere Nachbildung moralischer Werte als wahre Nachahmung. Hier zielt die mimetische Aneignung nicht auf die Oberfläche der Erscheinung und sie soll auch nicht bewusst erfolgen: Die Zeichen der Kultur oder – bei Moritz – des Schönen müssen vielmehr im Unbewussten verankert werden, um als individueller Ausdruck eines Ich zutage zu treten und eine vorgeblich unverstellte (innere) Natur sichtbar zu machen. Nicht notwendig muss dabei eine Person die moralischen Werte repräsentieren, die es nachzuahmen und zu inkorporieren gilt – auch und gerade die Kunst kann dies leisten. Die richtige Kunstrezeption generiert so eine innere ›Natur‹, die sich dann am Körper ablesen lässt. Letztlich wird damit – wie es bei Herder heißt – die »Mechanik und Statik menschlicher Seelenkräfte«,49 die in den griechischen Statuen ideal gestaltet sind, auf den Rezipienten übertragen und der Gliederbau durch

46 Rafael Capurro: Information – Ein Beitrag zur etymologischen und ideengeschichtlichen Begründung des Informationsbegriffs, München u. a. 1978, 174. Capurro bezieht sich hier auf Leibniz. Vgl. außerdem Vilém Flusser: Die Schrift – Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 21989, 45. 47 Karl Philipp Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: ders.: Werke in zwei Bänden II, hg. von Heide Hollmer und Albert Meier, Frankfurt a. M. 1997, 958–991, hier 958. 48 Ebd. [Hervorh. im Original]. 49 Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität [Anm. 5], 373 [Hervorh. im Original].

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die Kraft der Seele von einem bloßen »Zwang der Materie« 50 in einen »Habitus der Menschheit« 51 überführt. Über Moritz hinausgehend spielt für Herder der Kunstgenuss eine wichtige Rolle. Denn beim Genuss eines Gegenstandes betrachtet man nicht nur etwas wie mit einem Kameraauge, sondern der innere Sinn 52 schafft lebendige Bilder und übersetzt die sinnlich empfangenen Formen oder Töne in das ›eigenthümliche Gefühl‹ und die ›Gedankenbilder‹ des Betrachters.53 Dem entspricht als Gegenbewegung eine empathische Projektion des Selbst ins Kunstwerk. Es kann in dem Betrachteten ja nur das gesehen werden, »was wir in uns fühlen«, denn »wir tragen […] unsre Empfindungs- und Denkart in die Gegenstände hinüber«.54 Was sich hier offenbart, ist ein ebenso doppelter wie gegenläufiger Akt der mimetischen Aneignung, der sich zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Kunst vollzieht: Es ist einerseits das »Drama der Interiorisation« 55 (bezogen auf das Objekt) und andererseits das der Entäußerung des Ich (bezogen auf das rezipierende Subjekt). Das liest sich bei Herder wie folgt 56: Eben das ist das ungemein Sichere und Feste bei einer Bildsäule, daß, weil sie Mensch und ganz durchlebter Körper ist, sie als Tat, zu uns spricht, uns festhält und durchdringend unser Wesen, das ganze Saitenspiel Menschlicher Mitempfindungen wecket […] und beinahe die Gewalt hat, unsre Seele in die nämliche sympathetische Stellung zu versetzen. Jedes Beugen und Heben der Brust und des Knies, und wie der Körper ruht und wie in ihm die Seele sich darstellt, geht stumm und unbegreiflich in uns hinüber: wir werden mit der Natur gleichsam verkörpert oder diese mit uns beseelet. […] Nichts preisen daher die Inschriften der Griechischen Anthologie an den Statuen so sehr, als […] dies Durch- und In uns Leben, das aus ihnen gehet.

Kunstgenuss ist also kein passiver Konsum, sondern eine (durchaus gewaltsame) Praktik zur Auf hebung der Subjekt-Objekt-Trennung: Die Statue dringt in das rezipierende Ich ein, in-formiert und refiguriert es, bildet es gleichsam nach ihrem Angesicht und reproduziert dadurch jene Wohlgestalt im Inneren des Subjekts, die sie selbst (bloß) darstellt. Geschildert wird diese Verschmelzung von Herder gleichsam als ein – wenn auch positiv konnotiertes – parasitäres Einnisten der Sta50 Ebd. 51

Ebd., 369 [Hervorh. im Original]. Vgl. auch ebd., 373 f. der »innere poetische Sinn« genannt ( Johann Gottfried Herder: Über Bild, Dichtung und Fabel, in: ders.: Werke in zehn Bänden IV [Anm. 17], 631–677, hier 641). 53 Das macht den Unterschied zwischen Kunstgenuss und bloßem Sehen aus: Die Perzeption entspricht für Herder der bloß reproduzierenden Camera obscura; die Apperzeption der Seele aber macht aus den empfangenen Sinnesdaten einem »Kunstgemälde der Bemerkungskraft« (ebd., 635). 54 Ebd., 642 [Hervorh. im Original]. 55 Inka Mülder-Bach: Autobiographie und Poesie – Rousseaus ›Pygmalion‹ und Goethes ›Prome­ theus‹, in: Pygmalion – Die Geschichte des Mythos in der abendländischen Kultur, hg. von Matthias Mayer und Gerhard Neumann, Freiburg i.Br. 1997, 271–298, hier 283. 56 Herder: Plastik [Anm. 17], 300 f. [Hervorh. im Original]. 52 Auch



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tue im Betrachter. Sie erlangt durch und in ihm Leben und geht fortan sozusagen in fleischlicher Hülle einher. »Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man«,57 schrieb Pierre Bourdieu über den Habitus in Le sens pratique (1980). Aus diesem Grund setzt Bourdieu Habitus gelegentlich auch mit Ethos gleich. In Anlehnung an Bourdieus Praxeologie des Sozialen wäre das, was Herder und Moritz hier entwerfen, wohl als die Erzeugung eines künstlich strukturierten Körpers zu verstehen, der eine Kultur und Vergangenheit inkorporiert, ohne sie aber selbst durchlebt zu haben. Dennoch wird jede noch so kleine Bewegung und Haltung – Beugen, Heben, Ruhen – zur unbewussten Praxis. Es entsteht hier ein nach einem Ideal gebildeter Habitus, der – so jedenfalls Bourdieus Verständnis von Habitus – die Art des Fühlens, Denkmuster und Handlungsoptio­ nen bestimmt und wieder aktiv zurückwirkt auf die gegenwärtige soziale Welt und ihre Strukturen.58 Um ein solches Mitvollziehen der Kunst am eigenen Leibe59 zu bewirken, bedarf es der Einbildungskraft. Sie wird im 18. Jahrhundert nicht nur als produktive Kraft plastischer oder poetischer Gestaltung ›entdeckt‹, sondern eben auch als In­ stru­ment zur mimetischen Aneignung des Schönen, Guten und Wahren eingesetzt. Durch die Imagination vermag die Seele sich zu in-formieren und das Gesehene in Anschauung, das Angeschaute aber in Empfindungen und Erfahrungen zu transformieren und auch zu somatisieren. Daher muss das Kunstwerk auf die Einbildungskraft so wirken, dass sich der Rezipient an seine Stelle bzw. in es hinein versetzt. Diese Wirkung, und jetzt komme ich auf den im Zusammenhang mit dem Begriff der Ethöpoiea ausgeführten Gedanken zurück, erzielt der Künstler durch die Art der Darstellung. Sie muss, so Herder, »energisch« sein,60 d. h. die Seele des Betrachters oder Lesers dergestalt reizen, dass sie gleichsam gezwungen wird, das Symbolische der Formen oder – in der Literatur – der Buchstaben innerlich in wesenhafte Gestalten zu übersetzen, sie zu verlebendigen und in sich nachzubilden. Denn der Künstler dichtet nicht »für den Meißel oder Pinsel […], sondern für die innere Kraft der Seele«.61 Stil und Form des Werks sind daher ausschlaggebend für den Prozess der Kunstaneignung und Menschenformung. Gelingt die In-Formation, beseelt der Rezipient also die Kunst und diese verleiht ihm (bzw. seiner Seele) ihre in ihrer Gestalt repräsentierte schöne Form. Diese schöne Form der Seele ist bei Moritz – um noch einmal auf ihn zurückzukommen – gleichbedeutend mit dem edlen Charakter (ethos). Und nur dieser kann dann selbst 57 Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn – Kritik der theoretischen Vernunft, übers. von Günter Seib, Frankfurt a. M. 1987, 135. 58 Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1976, 164 f. 59 Vgl. Gernot Böhme: Die Natur und der menschliche Leib, in: ders.: Natur, Leib, Sprache, Rotterdam 1986, 1–12, hier 9. 60 Herder: Kalligone [Anm. 1], 959 [Hervorh. im Original]. 61 Ebd.

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wiederum ethopöietisch auf die ›richtige‹ (in diesem Fall: klassizistische) Weise tätig werden und schöne Kunstwerke schaffen, die es dann ihrerseits wert sind, mimetisch angeeignet zu werden. Auf diese Weise führt die Doppelstruktur von ›Ethopöie‹ und ›Informatio‹ ebenso zur Verschönerung der Künste wie diese schönere (und also humanere) Menschen erzeugen. Genauer betrachtet entspricht das hier entwickelte intrikate Verhältnis von Mimesis und Poiesis, Kunst und Seelenformung kallipädischen Ideen: So wie schwangere Frauen schöne Kunst betrachten sollen, um schöne Kinder zu gebären, muss auch der (üblicherweise männlich gedachte) Künstler handeln, um schöne Kunstwerke hervorzubringen – und eben der Mensch, um sich selbst zu einem schönen Kunstwerk zu bilden. Zwar sind sich Moritz und letztlich auch der gelegentlich widersprüchliche Herder durchaus bewusst, dass die äußere Gestalt nicht unbedingt immer »ein Abdruck der innern Seelenschönheit« 62 ist, wenn er es auch, wie Moritz schreibt, eigentlich sein sollte. Dennoch zeugen ihre Konzepte der bildenden Nachahmung von der Idee, »durch Verschönerung der Seele endlich den Körper zu Idealen griechischer Künstler hinauf zu formen«.63 Darüber mokiert sich der soeben zitierte Lichtenberg ebenso wie über die Versuche, den menschlichen Körper auf seine seelische Verfasstheit hin lesen zu wollen. Es stehe vielmehr zu befürchten, dass »wir […] für alle unsere Mühe mit den Affengesichtern der Einwohner von Mallicolo belohnt werden, […] deren Redlichkeit und Häßlichkeit gleich merkwürdig« 64 ist. Eine Annäherung der deutschen an die griechischen Gesichter könne deshalb allenfalls auf demselben Weg erfolgen, »auf welchem die Engländer ihre Schafe und Pferde spanischen und arabischen Idealen genähert haben« 65 – also durch eine biopolitische Steuerung der Reproduktion und gezielte eugenische Praktiken wie Kreuzung und Zucht.66 B. »Vermögen des Plastisirens«: Worttechnik, Wunderkraft der Fiktion und Wunschkörper (Novalis)

Seit ab etwa 1740 zielt Literatur auf eine Verdoppelung der Realität durch illusionsbildende Textpraktiken und identifikatorische Lektüre. Flankiert wird dies durch Diskussionen darüber, wie die Einbildungskraft auf die richtige Weise zu affizieren und zu steuern sei, denn man hat schnell erkannt, dass die neuen Textpraktiken Gefühle evozieren, Wahrnehmungsweisen verändern sowie Psychen und auch den Körper keineswegs ›unversehrt‹ lassen – von somatischen Reaktionen (Tränen, Zittern, Erbleichen etc.) über das ›Empfindsamkeitsfieber‹ bis zu Nerven- und Hirn62 Moritz:

Über die bildende Nachahmung des Schönen [Anm. 47], 961. Über Physiognomik; wider die Physiognomen [Anm. 14], 92.

63 Lichtenberg: 64 Ebd. 65 Ebd.

66 Aber auch darüber denken die Zeitgenossen durchaus nach. Ausführlicher dazu Herrmann: Über den Menschen als Kunstwerk (1750–1820) [Anm. 1].



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schäden reichen die – realen oder befürchteten – Befunde. Eben diese Lektürepraxis bildet ja auch die Basis von Herders und Moritz’ Konzept der Kunstrezeption. Die angestrebte Verlebendigung und mimetische Aneignung des Kunstwerks, die Auf hebung der Subjekt-Objekt-Trennung, ist nicht allein die Leistung der Rezipienten, sondern auch der Texte: Sie müssen Evidenz erzeugen, indem sie – wie Herder schreibt – energisch vorgehen. Sie müssen also enárgeia aufweisen. Das setzt die Einbildungskraft in Bewegung und erzeugt Verlebendigung (enérgeia). Nach den Debatten um die Empfindsamkeit und ihren Phänomenen des Schwärmertums, die kritischen Zeitgenossen in medieninduzierten Realitätsverlust und Wahnsinn zu münden drohen, wird »die emotional-affektive Strukturierung des Subjekts, dessen ›emotionaler Habitus‹« und die Regulierung seiner »körperlichen Erregungszustände[]« 67 neu verhandelt. Das ästhetische Programm des Klassizismus setzt darauf, die Einbildungskraft bzw. überhaupt die Seele nicht zu stark zu reizen, die Textpraktiken zu ändern und die Energie zu drosseln. Dabei es geht nicht allein um die soziale Praxis oder um Subjektkultur und Subjektformen,68 sondern eben auch um die menschliche Gattung. Das harmonisch Schöne wird nicht zuletzt deshalb propagiert, weil es die Nerven weniger reizt als etwa die Groteske oder das Hässliche und weil es damit eben nicht – wie Herder gewarnt hat – »Geschlechterhinab Unheil«69 anrichtet. Dagegen trachtet das poetologische Programm der Frühromantik gerade danach, die Seelenkräfte durch heftige Nervenreize und Gemütsbewegungen unendlich zu steigern. Hierzu bedarf es einer »Worttechnik«,70 die – ganz anders als im klassizistischen Konzept der »harmonisch Platten«71 – mit der antithetischen Dialektik von »Schmerz und Kitzel«72 operiert. Nicht nur die Formen frühromantischer Poesie – die Groteske, aber auch das Fragment –, ›Witz‹ und Ironie oder die Schreibweise des Symbolischen bzw. Allegorischen, sondern auch der »Hang zum Wunderbaren und Geheimnißvollen«,73 etwa in Gestalt des Märchens, sowie Schock und Schauder gehören deshalb zu den Charakteristika der Literatur. Ziel ist es, heißt es aus dem in E. T. A. Hoffmanns Erzählzyklus Die Serapionsbrüder (1819–1821) versammelten Dichterclub, Texte zu produzieren, die wie mit »elektrischen Schlägen« auf die Rezipienten wirken, damit alle Gestalten »mit einer plastischen Ründung, mit einem glühenden Leben hervor[treten]«.74 Dabei geht es nicht mehr nur um Evi­ denz­erzeugung, sondern darum, die Einbildungskraft derart zu verstärken, dass Kreativität und soziale Praxis [Anm. 6], 76. Reckwitz. Zu den Begriffen vgl. ebd., 73. 69 Herder: Plastik [Anm. 17], 274. 70 Novalis: Das Allgemeine Brouillon [Anm. 16], 399 [Nr. 688] [Hervorh. im Original]. 71 Friedrich Schlegel: Lyceums-Fragmente, in: ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe I. Abt., II, hg. von Hans Eichner, Paderborn/München/Wien 1967, 147–163, hier 160 [Nr. 108]. 72 Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [Anm. 32], 535 [Nr. 42]. 73 Novalis: Das Allgemeine Brouillon [Anm. 16], 267 [Nr. 138]. 74 E. T. A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder, in: ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden IV, hg. von Wulf Segebrecht, Frankfurt a. M. 2001, 1117 und 34. Zur elektrifizierenden Wirkung vgl. ebd., 26. 67 Reckwitz: 68 So

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sie sich die materielle Welt unterordnet und neu schafft. Die Gestalten treten dann tatsächlich ins Leben – für Hoffmann ein Charakteristikum des Wahnsinns. Doch zugrunde liegt diesem Gedanken die transzendental- und naturphilosophische Theo­r ie einer Auf hebung der Trennung von Geist und Natur. So geht Friedrich Wilhelm Joseph Schelling in seinen Ideen zur Philosophie der Natur (1797) von der »absoluten Identität des Geistes in uns und der Natur außer uns«75 aus76: »Die Natur soll der sichtbare Geist, der Geist die unsichtbare Natur seyn«. Ganz in diesem Sinn formuliert dann Novalis in verschiedenen Fragmenten und Notizen, deren jeweiliger Kontext und editionsphilologischer Stellenwert hier unmöglich im Einzelnen diskutiert werden kann oder muss,77 die Basis seines Denkens und seiner Poetik78: »Einst soll keine Natur mehr seyn – In eine Geisterwelt soll sie allmälich übergehn«. In diesem radikalsten und zugleich vollkommensten Fall könnte, wie es analog im Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus heißt, »eine ganze Welt […] die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts«79 hervortreten, nämlich aus dem bloßen Gedanken heraus. Vor diesem Hintergrund setzt Novalis die Physik, die Lehre vom Zusammenspiel mechanischer und organischer Kräfte, gleich mit der »Lehre von der Fantasie«.80 Das Konzept dieses – von Novalis so genannten – magischen Idealismus 81 klingt krude, hat aber seine Logik: Aus transzendentalphilosophischer Perspektive kann davon ausgegangen werden, dass der Wille (und das Ich) an sich unendlich, je75 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Ideen zur Philosophie der Natur, in: ders.: Werke – Historisch-Kritische Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften I/5, hg. von Manfred Durner, Stuttgart 1994, 59–306, hier 107 [Hervorh. im Original] 76 Ebd. 77 Die komplizierte Editionsgeschichte ist bekannt und soll hier nicht nachgezeichnet werden. Nur so viel: Von den in diesem Text zitierten Stellen wurden einige von Novalis selbst angestrichen und so für eine eigenständige Sammlung markiert (etwa Anmerkungen 33, 85, 90 u. 92), zwei Stellen entstammen den beinahe vollständig durchgestrichenen Notizen zur ›Poësie‹ in den Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen (Anmerkungen 71 und 91), von den übrigen kann man eigentlich (auch) nicht wissen, ob Novalis sie übernommen, weiter überarbeitet oder noch verworfen hätte. Nun könnte man wohl argumentieren, dass – auch wenn es keine Ausgabe letzter Hand gibt – gestrichene Stellen grundsätzlich nicht als Belege für Novalis’ Denken herangezogen werden dürfen. Darunter fiele dann allerdings beispielsweise auch der vielzitierte Satz vom Poeten als transzendentalen Arzt, der den Streichungen in den Notizen zur ›Poësie‹ ebenfalls anheimgefallen ist, in der Romantikforschung aber dennoch ganz selbstverständlich und ohne editorisch einordnende Anmerkung zitiert wird. Vgl. exemplarisch Gerhard Schulz: Romantik – Geschichte und Begriff, München 1996, 37. Der hier vorliegende Beitrag benennt daher die gestrichenen Partien, bleibt aber bei der Praxis ihres argumentativen Einbezugs. 78 Novalis: Fragmente und Studien 1799–1800, in: ders.: Schriften – Die Werke Friedrich von Hardenbergs III, [Anm. 16], 525–693, hier 601 [Nr. 291]. 79 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling und Friedrich Hölderlin: Ältestes Systemprogramm des deutschen Idealismus, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke I, auf der Grundlage der Werke von 1823–1845 neu edierte Ausgabe, Red.: Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1971, 234–236, hier 234 [Hervorh. im Original]. 80 Novalis: Fragmente und Studien [Anm. 78], 558 [Nr. 18] [Hervorh. im Original]. 81 Vgl. Novalis: Das Allgemeine Brouillon [Anm. 16], 301 [Nr. 338].



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doch durch die Organe an bestimmte Gesetze gebunden und folglich beschränkt ist.82 Wäre es aber möglich, diese Beschränkungen zu überwinden, ließen sich die Organe dem Willen und dem poietischen Vermögen des Ich unterwerfen.83 Angeregt durch seine Hemsterhuis-Studien denkt Novalis daher über die Macht des Menschen nach, durch die »Wunderkraft der Fiction« 84 und die »Worttechnik« die eigene Körperphysik gezielt zu beeinflussen.85 Vor diesem Hintergrund und zusätzlich inspiriert durch zeitgenössische Nerven- und Reizerregungstheorien entwirft Novalis die Poesie als potentielle Praxis und »Kunst, die Sinnenwelt willkürlich zu gebrauchen«.86 Ausgehend von der Idee, dass der Körper als »gemeinschaftliche Centralwirckung unsrer Sinne« 87 zu verstehen ist, muss er, wenn einmal die Einbildungskraft die Wahrnehmung der Sinne vollkommen beherrschte, durch die Fantasie modifiziert werden können. Die Einbildungskraft wird von Novalis ausdrücklich als Bildungskraft, als »Vermögen des Plastisirens« 88 bezeichnet; mit ihr ließe sich das »plastisirende[] Idol«,89 das Novalis als Grundform bei der Entstehung des Körpers, diesem »gebildeten Fluß«,90 voraussetzt, entsprechend ummodellieren. Inspiriert ist Novalis hier von der Regenerationsfähigkeit der Schnecken und Süßwasserpolypen, die manchen als Beweis galt, dass die Seele – nicht nur bei Föten – über eine vis plastica verfügt, mit der sie sich ihren Körper baut.91 Es geht also darum, den physischen Organismus, der für Novalis letztlich nichts als eine »Modification[] des Denkorgans« ist, durch den Geist und die Fantasie zu beherrschen, ihn »beliebig in Thätigkeit [zu] versetzen« und dadurch »uns einen Körper zu geben, welchen wir wollen«.92 Das Ziel liegt in der »Erhebung des Menschen über sich selbst«.93 Dem künftigen Menschen sollte gelingen, sich selbst bzw. seinen Körper in der »Gestalt zu produciren, die er verlangt – und im eigentlichsten Sinn in Seiner Welt leben zu können. Dann wird er […] sehn[,] hören – und fühlen – was, wie und in welcher Verbindung er will. […] Gott will Götter«.94 82 Vgl. Novalis: Philosophische Studien des Jahres 1797, in: ders.: Schriften – Die Werke Friedrich von Hardenbergs II [Anm. 32], 345–395, hier 369 [Nr. 29]. 83 Vgl. Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [Anm. 32], 577 f. [Nr. 235]. 84 Novalis: Das Allgemeine Brouillon [Anm. 16], 421 [Nr. 782] [Hervorh. im Original]. 85 Novalis: Philosophische Studien des Jahres 1797 [Anm. 82], 363 [Nr. 23] und 365 [Nr. 26] [Hervorh. im Original]. Zur Worttechnik vgl. Novalis: Das Allgemeine Brouillon [Anm. 16], 399 [Nr. 688]. 86 Zit. nach John Neubauer: Dr. John Brown (1735–88) and Early German Romanticism, in: Journal of the History of Ideas 28/3 (1967), 367–382, hier 378. 87 Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [Anm. 32], 614 [Nr. 422]. und 584 [Nr. 248]. 88 Novalis: Das Allgemeine Brouillon [Anm. 16], 401 [Nr. 698] [Hervorh. im Original]. 89 Ebd., 465 [Nr. 1066] [Hervorh. im Original]. 90 Novalis: Fragmente und Studien [Anm. 78], 595 [Nr. 248] [Hervorh. im Original]. 91 Vgl. Kratzenstein: Beweiß, Daß die Seele ihren Cörper baue [Anm. 31], 36. 92 Novalis: Vorarbeiten zu verschiedenen Fragmentsammlungen [Anm. 32], 584 [Nr. 248]. 93 Ebd., 535 [Nr. 42] [Hervorh. im Original]. 94 Ebd., 583 f. [Hervorh. im Original].

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Aber woher weiß der Mensch, was er sehen, hören und fühlen will und welche Gestalt er dafür verlangt? Doch nur aus der gegebenen sinnlich-physischen Disposition seiner Organe und der Praxis der inkorporierten kulturellen Schemata heraus. In einem anderen Körper wäre er kein Mensch mehr, wie die zeitgenössische Diskussion über die Frage, ob der Mensch ein Engel werden kann – oder wie bei Novalis gar ein Gott – zeigt. So schreibt etwa Jean Paul, dass ein Engel grundsätzlich »nicht wie wir« denkt, vielmehr ein vom Menschen kategorial unterschiedenes Bewusstsein aufweist, »weil er einen andern oder gar keinen Körper hat«.95 Und dies bedeutet 96: »Um Engel zu werden hätt’ er [der Mensch: B. H.] andre Zustände durchgehen müssen.« Novalis’ Hoffnung auf eine Transformation der menschlichen Natur durch den eigenen Geist zeigt aber letztlich, wohin eine Anthropologie führt, die den Menschen als befähigt, gar verpflichtet zum handelnden Eingriff in das Spiel der Natur betrachtet und ihn selbst als ein zu vervollkommnendes Objekt. In einem zukunfts­ offenen und progressiven Geschichtsverständnis, wie es sich erst im 18. Jahrhundert entwickelt hat, mündet dieser Auftrag zur Selbstkonstitution bzw. Verbesserung des Menschen letztlich in der Idee des Übermenschen.97 Das ist den Zeitgenossen durchaus bewusst. Herder beispielsweise wehrt die Idee von einem »Außer- oder Übermenschen« 98 dezidiert ab, wohingegen Jean Paul lange vor Nietzsche, freilich spottend, anmerkt99: »Zu wünschen wäre der Menschheit ein solcher Untergang zum Übergange, und zumal jetzo wären ein Paar Hochmenschen, gegen welche wir nur Untermenschen und Affen wären, eine Erlösung durch ein messianisches Paar.« Wie man sieht, arbeitet auch hier die anthropologische Maschine und produ­ ziert weiterhin Affen und Menschen. IV. Coda: Praxeologie des Humanen

Der vorliegende Betrag wollte zeigen, dass die naturgeschichtliche Relativierung der Sonderstellung des Menschen dazu geführt hat, gegenüber der biologischen Struktur (›Natur‹) die Relevanz menschlicher Handlungen (›Kultur‹) zu betonen, um das humanum vom tierischen brutum erneut abzugrenzen bzw. überhaupt erst zu erzeugen. Dieses Unterfangen führt allerdings zu immer neuen Unterscheidungen – Diskriminierungen – innerhalb der menschlichen Gattung. Und es führt zur 95 Jean Paul: Übungen im Denken, in: ders.: Sämtliche Werke II. Abt., I, hg. von Norbert Miller, München/Wien 1974, 35–116, hier 46. 96 Ebd., 49. 97 So auch Michel Foucault: Introduction à l’Anthropologie, in: Emmanuel Kant: Anthropologie d’un point de vue pragmatique, publ. par Daniel Defert, François Ewald und Frédéric Gros, Paris 2008, 11–82, hier 79. 98 Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität [Anm. 5], 123. 99 Jean Paul: Museum, in: ders.: Sämtliche Werke Werke II. Abt., II, hg. von Norbert Miller, München/Wien 1976, 877–1048, hier 942 [§ 12].



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Klassifikation von Körpern, die sich danach bemisst, inwiefern sie – nach europäischen Maßstäben, bezogen aus der Kunstgeschichte und insbesondere aus der griechischen Antike – als schön gelten können. Dabei wurde deutlich, dass Schönheit gleichbedeutend ist mit der Verkörperung kultureller Schemata, die sich aus ethischen bzw. korrespondierenden ästhetischen Normen speisen. Ein Mittel für ihre Inkorporierung sind Schrifthandlungen100 und Praktiken der Kunstrezeption. Sie wurden hier in normativen Metatexten verhandelt, das heißt in solchen Texten, die bestimmte poetologische Programme – Schriftpraktiken – favorisieren und diese jeweils als für die Zwecke der Formung der menschlichen Gattung geboten oder verboten ausgeben. Für diese Normativität spielt es zunächst keine Rolle, ob die Texte auch normativ wirksam werden. Denn auch wenn sich aus diesen Metatexten keine Rückschlüsse auf den tatsächlichen Umgang mit Kunstwerken und Literatur ableiten lassen, zeigt sich in ihnen ein Bewusstsein davon, dass Artefakte »den Vollzug der Praktiken und damit auch das soziale Handeln konstitutiv mitformen«.101 Oder eben das menschliche Handeln, das vom sozialen Handeln im Hinblick auf den Untersuchungsfokus vielleicht noch einmal unterschieden werden muss. Stärker als bisher müssten dabei ästhetische Normen praxeologisch in den Blick genommen und etwa auch für die Untersuchung des Status nicht menschlicher Aktanten in Akteursnetzwerken zur ›Erfindung des Menschen‹ fruchtbar gemacht werden. Der empfohlene mimetische Umgang mit Texten bzw. Kunstkörpern bei Herder und Moritz, aber auch die von Novalis intendierte Schrifthandlung im Dienst eines zu erzeugenden Wunschkörpers zeigen nicht nur, dass diese Netzwerke existieren, sondern auch, dass sie bewusst hergestellt werden. Tauscht man die Aktanten – etwa griechische Statuen gegen groteske Gestalten –, verändert dies potentiell die Nervenfasern, das Hirn, die Seelenkräfte, aber eben auch die zu inkorporierenden Schemata. Artefakte sollten daher nicht nur als Aktanten kultureller Formung wie als Träger von Praktiken102 wahrgenommen, sondern ihre jeweiligen Ästhetiken auch auf ihre »Angebotsstruktur« sowie auf ihre »handlungsstrukturierenden Eigenschaften«103 hin analysiert werden. Die Erkenntnis der Gemachtheit des Menschen schließt ein gewisses Maß an Unberechenbarkeit ein. Das humanum muss nicht nur von der Gattung, sondern von jedem einzelnen immer neu hervorgebracht werden. Das kann misslingen oder zu Verschiebungen führen. Die Furcht vor dieser grundsätzlichen Korruptibilität findet sich im 18. Jahrhundert wiederholt formuliert. Ihr entgegengesetzt ist 100 Zum Begriff der Schrifthandlung vgl. Jens-Arne Dickmann, Friederike Elias und Friedrich-Emanuel Focken: Praxeologie, in: Materiale Textkulturen – Konzepte – Materialien – Praktiken, hg. von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer, Berlin 2015, 135–146, hier 139. 101 Marian Füssel: Die Praxis der Theorie – Soziologie und Geschichtswissenschaft im Dialog, in: Praktiken der frühen Neuzeit – Akteure – Handlungen – Artefakte, hg. von Arndt Brendecke, Köln/ Weimar/Wien 2015, 21–33, hier 27. 102 Vgl. Reckwitz: Kreativität und soziale Praxis [Anm. 6], 53. 103 Dickmann, Elias und Focken: Praxeologie [Anm. 100], 138.

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gleichsam ein ›doing human‹, das zu anderen Zeiten (und an anderen Orten) anders funktioniert oder weniger dringlich erscheinen mag. Dies zu untersuchen, bedarf es möglicherweise einer interdisziplinären Praxeologie des Humanen.

Akustische Praktiken in der alkäischen Ode der Aufklärung Boris Previšić

I. Die doppelte Praxis akustischer Rezeption und Produktion

Ethos impliziert ein bewusstes, immerhin im Horizont potentieller Freiheit gedachtes Handeln des Menschen, sei es im Aufstellen und Einhalten von Anweisungen, sei es in der Selbstsorge des Menschen, im Foucault’schen »souci de soi«.1 Akustische Praktiken in der Dichtung können sich daher nicht einfach einer präskriptiven Poetik verschreiben, wie wir ihr insbesondere zu Beginn des 17. Jahrhunderts begegnen. Vielmehr liegt der Praxisbezug in der doppelten Ausrichtung einer spezifischen Architextualität, namentlich in der akustischen Formproduktion und -rezeption. Diese beiden Parameter korrelieren im 18. Jahrhundert erstens mit einem zeitlich höchst strukturierten Formbewusstsein und zweitens mit einer äußerst sensiblen akustisch grundierten Selbstregulierung. In sich ständig aktualisierenden Praktiken zeigt sich, dass zwischen Formrepertoire, -wissen und ­-performanz ein reger Austausch stattfindet. In der Doppelung von akustischer Rezeption und akustischer Produktion stoßen wir auf Praktiken, welche für die Auf klärung in zweierlei Hinsicht von besonderer Relevanz sind: erstens im Hinblick auf ein ­hohes zeitlich strukturiertes Formbewusstsein und zweitens auf eine spezifisch akustische Reflexion. 1. Seit Martin Opitz bis hin zu Friedrich Gottlieb Klopstock und Karl Philipp Moritz steigert sich im 17. und 18. Jahrhundert das zeitliche und akustisch basierte Formbewusstsein der deutschen Sprache als dichterischer Praxis. Dabei handelt es sich nicht um eine teleologische Zuspitzung, welche den Kulminationspunkt in der Höhenkammliteratur erreicht. Vielversprechender ist die Annahme, dass sich hier verschiedene diachron etablierte Traditionen im Synchronen überlagern. So bietet die poetische Form gleichzeitig Halt und Möglichkeit, Emergenz und Potential – und dies in Abhängigkeit vom historischen Rückgriff und von der architextuellen Einordnung.2 Die hier vorgenommene methodische Bezugnahme auf Gérard Foucault: Histoire de la sexualité 2 – L’usage des plaisirs, Paris 1984. greife ich nicht auf die Begriffsbildung von Louis Marin zurück, der damit den Ursprungstext darauf basierender Texte bezeichnet: Louis Marin: Pour une théorie du texte parabolique, in: Le Récit évangélique, publ. par Claude Chabrol und Louis Marin, Paris 1974, 167. Vielmehr behält die Definition durch Genette Gültigkeit, der damit den synchronen Zusammenfall verschiedener Genretraditionen festhält: Architextualität in seinem Sinn ist »l’ensemble des catégories générales, ou transcendantes – types de discours, modes d’énonciation, genres littéraires, etc. – dont relève chaque texte singulier« (Gérard Genette: Palimpsestes – La littérature au second degré, Paris 1982, 7). 1 Michel 2 Dabei

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­ enettes Palimpsest-Konzept und auf die darauf folgende Forschung erweist sich G als äußerst fruchtbar, weil die Architextualität in ihrer nicht namentlich genannten Formüberblendung in erster Linie auf die Rezeptionserfahrung angewiesen ist.3 Die reine Lesererfahrung ist in den akustischen Praktiken um die zeitgenössische Hörerfahrung von Dichtung vor allem auch in ihrer musikalischen Ausführung zu erweitern. Die Architextualität von dichterischem Formbewusstsein bezieht sich so zum einen auf die generischen Qualitäten und literarischen Konventionen, die im einzelnen Gedicht angelagert sind,4 zum anderen auf die musikalischen Gepflogenheiten und Gewohnheiten der Zeit. 2. In der akustischen Wahrnehmung, im fließenden Übergang von ›Horchen‹ zu ›Gehorchen‹, überschneiden sich Empfindung, Wahrnehmung und Artikulation. So ergibt sich ein intrinsischer Zusammenhang zwischen sensatio und perceptio, sensus und actus. Die physiologischen Diskurse von Spannung, Schwingung und Temperierung der Körper, Muskeln und Nerven legen davon beredtes Zeugnis ab.5 Doch nicht nur den ab 1680 heftig geführten Stimmungsdiskursen, sondern ebenso den konkreten musikalischen Stimmungspraktiken, welche sich zunehmend auf den Menschen als Instrument beziehen, kommt ab 1740 eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.6 Die akustischen Praktiken werden in den lyrischen Texten reflektiert bzw. in ihrer Bedeutung für Subjektivierungsprozesse ausgemessen. Die ›Temperatur‹ als zentrales Geist-Körper-Regulationskonzept des 18. Jahrhunderts taucht unter anderen Vorzeichen in anderen Epochen auf. So spricht Foucault von der antiken ›Moderation‹, welche sich nicht nur auf die sexuelle Selbstbeschränkung in der Ehe, sondern ebenso auf die Machtausübung bezieht – »l’homme s’impose à lui-même par une sorte d’autolimitation réfléchie de son propre pouvoir«.7 Auf der Basis der skizzierten Praktiken lässt sich die poetische Form als Modell einer – nochmals mit Michel Foucault gesprochen – ›universellen Form‹ lesen, welche zum einen auf akustischer Körperlichkeit und damit auch auf ›natürlichen‹ Bedürfnissen, zum anderen auf Vernunft beruht.8 Der akustische Erfahrungswert 3 So spricht Genette von einer ›stummen Beziehung‹, welche in ihrer generischen Wahrnehmung auf den Leserhorizont angewiesen sei (vgl. Genette: Palimpsestes [Anm. 2], 12). 4 Vgl. dazu Jean-Louis Dufays: Stéréotypes et lecture, Liège 1994, 69. 5 Vgl. zur Geschichte der Konzeptualisierung akustischer Wahrnehmung Julia Kursell: Epistemologie des Hörens – Helmholtz’ physiologische Grundlegung der Musiktheorie, Paderborn 2018. Weiterhin einschlägig und am genauesten bleibt Caroline Welsh: Nerven – Saiten – Stimmung – Zum Wandel einer Denkfigur zwischen Musik und Wissenschaft 1750–1850, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte – Organ der Gesellschaft für Wissenschaftsgeschichte 31/2 (2008), 113–129. 6 Zu den Stimmungsdiskursen um 1700 vgl. Silvan Moosmüller: Von der himmlischen Harmonie zum musicalischen Krieg – Semantik der Stimmung in Musik und Literatur (1680–1740), Göttingen 2020. Zur Physiologisierung der Stimmungsdebatten vgl. Laure Spaltenstein: L’ouïe dans les réflexions sur l’harmonie du monde chez Gottfried Wilhelm Leibniz et Johann Gottlob Krüger, in: Revue Germanique Internationale 27 (2018), 73–84. 7 Foucault: Histoire de la sexualité 2 [Anm. 1], 217. 8 »Cet art de soi-même […] souligne aussi la nécessité de soumettre celle-ci à une forme universelle par laquelle on se trouve lié et qui est fondée pour tous les humains à la fois en nature et en raison« (Foucault: Histoire de la sexualité 2 [Anm. 1], 315).



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des 18. Jahrhunderts begründet über die Form die ethische Dimension von Wahrnehmung – wie Salomé Voegelin in ihrer allgemeinen Philosophie der akustischen Kunst festhält.9 Im Unterschied zur visuellen Wahrnehmung, welche das wahrgenommene Objekt in der Vergangenheit verortet und vom wahrnehmenden Subjekt abgrenzt, ist die akustische Wahrnehmung kontingent wegen der Extension des akustischen Ereigniszeitpunkts, in dem sich die eigene Subjektivität immer wieder neu konstituiert. Praktiken der akustischen Wahrnehmung erfassen und hinterfragen mich immer in meiner Selbstkonstituierung – selbst im affektiven Akt der eigenen Artikulation10: »As such a passing and intersubjective subject I continually produce and re-assess my ethical convictions through which I find to the social tendency of my experience in the affective action of my speech.« Akustische Wahrnehmung und Bewusstsein für eine ›universelle Form‹ berühren sich in der Frage nach ihrem übergeordneten Ethos und in der Frage nach den Praktiken in der Triangulierung von Wahrnehmung, Affektion und Artikulation. So hat, phänomenologisch gesprochen, Akustik sehr viel mit Handlung zu tun: Beide zeichnen sich durch ihre Ephemerität aus. Das akustische Signal, der Ton, der artikulierte Laut brauchen nicht nur eine kurze Zeit, um in ihrer ontischen Extension, um als ›Sein‹ wahrgenommen und verarbeitet zu werden. Das Zeichen verschwindet ebenso schnell; es verklingt. Ebenso sind Handlungsschritte in ihrer Bewegung und Kürze ephemer. Der durch die akustische Textur und Wieder­ holung konstituierte Handlungsbogen verleiht Sinn. Zurückübersetzt auf Gotthold Ephraim Lessings Ansatz im Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769 sollen »willkürliche[] Zeichen gänzlich zu natürlichen Zeichen« werden.11 Es versteht sich, dass bei Lessing die »höchste Gattung« dafür die »dramatische« ist.12 Zwar wird dadurch die Verbindung mit der Handlung hergestellt. Der entscheidende Punkt liegt aber für die vorliegende Fragestellung nach den akustischen Praktiken einen Denkschritt zuvor13: »Die Poesie muß schlechterdings ihre willkürlichen Zeichen zu natürlichen zu erheben suchen […]. Die Mittel […] sind der Ton, die Worte, die Stellung der Worte, das Sylbenmaß, Figuren und Tropen, Gleichnisse u. s. w.« So umstritten der Begriff des ›natürlichen Zeichens‹ bereits in der Zeit war, so sehr legt Lessing die ›Mittel‹ offen: von der kleinsten phonetischen Einheit über das ›Sylbenmaß‹ bis hin zu anschließbaren Vorstellungswelten von ›Gleichnissen‹. ›Natürlichkeit‹ wird über eine sorgfältig ausgelegte Ligatur des akustischen Mikroformalen mit etablierten Lautstrukturen hergestellt. Damit befinden wir uns mitten im praxeologischen Feld der Ode, die im deutschen Sprachraum des 17. und 18. Jahrhunderts eine Hochblüte erlebte. Wenn wir 9 Vgl. Salomé Voegelin: Listening to Noise and Silence – Towards a Philosophy of Sound Art, New York 2010, 180. 10 Ebd., 182. 11 Gottfried Ephraim Lessing: Brief an Friedrich Nicolai vom 26. Mai 1769, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden XI/1, hg. von Helmuth Kiesel, Frankfurt a. M. 1987, 608–611, hier 610. 12 Ebd. 13 Ebd., 609 f.

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uns auf die alkäische Ode beschränken, so hat dies – im Unterschied zur sapphischen Ode – mit der eindeutigen Betonungsstruktur zu tun, die sich – wie die Forschung schon seit langer Zeit festhält – auf die horazische Form bezieht.14 Einerseits bildet Horaz in seiner Übertragung von Alkaios den zentralen architextuellen Bezugspunkt. Andererseits steht der römische Dichter für eine auf ihn folgende Übersetzungspraxis Modell und erlebt insbesondere im Laufe des 18. Jahrhunderts eine noch nie dagewesene Hochblüte.15 Wie wir in den dichterischen Umsetzungen sehen werden, bildet die alkäische Strophe ein optimales tänzerisches Gleichgewicht zwischen Fluss und Unterbrechung, zwischen möglichen Überschreitungen und syntaktischen Intarsien. Darum, so kann man den Befund zu Friedrich Hölderlins Dichtung bereits hier antizipieren, bildet die alkäische Ode (von Horaz her gedacht) das die dichterische Selbstreflexion ermöglichende Versmaß par excellence, welche sich so von der allzu flüssigen sapphischen und allzu starren sowie zäsurreichen asklepiadeischen Kurzode absetzt.16 Auch Johann Gottfried Herder bezieht sich in seiner Schrift zu Alcäus und Sappho aus dem Jahre 1795 in erster Linie auf Horaz und spricht von der angenehmen ›Mischung‹ von »Stärke und Milde, Schwung und Senkung, Auf- und Abspannung der Töne« in diesen Gesängen.17 Zwar bezieht er sich hier auch auf Sappho, konzentriert sich aber in der Folge auf Alkäus’ Dichtung. Relevant ist, wie er hier seine Lehre des Tons stark macht, welche ganz auf die Empfindung des Rezipienten und der Rezipientin abzielt.18 Besonders prägnant zum Ausdruck kommt sein Ansatz im Kontext der Aufmerksamkeitsausrichtung der Hörenden19: »Der Ton, der in mein Inneres dringt, spricht oft auch wider meinen Willen zu mir: ein ungestümer, ob14 Vgl. Reinhard Hoßfeld: Die deutsche horazische Ode von Opitz bis Klopstock – Eine metrische Untersuchung, Düsseldorf 1961, 50. 15 Vgl. Ernst A. Schmid: Horaz und die Erneuerung der deutschen Lyrik im 18. Jahrhundert, in: Zeitgenosse Horaz – Der Dichter und seine Leser seit zwei Jahrtausenden, hg. von Helmut Krasser und Ernst A. Schmid, Tübingen 1996, 255–310, hier 294. 16 Vgl. Boris Previšić: Hölderlins asklepiadeische und alkäische Ode – zwei metrische Typologien mit einer rhythmischen Tendenz, in: Metrica 1 (2006). Ich würde an dieser Stelle aber gerne meine ›Typologie‹ wiederum relativieren, beispielsweise mit dem Hinweis auf Hölderlins einzige asklepiadeische Ode Blödigkeit im Zyklus der Nachtgesänge, welcher in Wilmans’ Taschenbuch für das Jahr 1805 erscheint. Als fünftes Gedicht bildet es in der Sammlung der insgesamt neun Gedichte von Hölderlin das eigentliche Scharnier zwischen erster und zweiter Hälfte und zeichnet sich gerade durch seine Enjambements und äußerst hypotaktische Syntax aus. Wird das Gedicht rezitiert, ist es auf ein hohes Tempo angewiesen, damit die Phrasierung auch verständlich wird. Modellhaft gesprochen wird es von Michael Engelhardt. 17 Johann Gottfried Herder: Alcäus und Sappho – Von zwei Hauptgattungen der lyrischen Dichtkunst, in: ders.: Werke in zehn Bänden VIII, hg. von Dietrich Irmscher, Frankfurt a. M. 1998, 137–153, hier 141. 18 Vgl. Arne Stollberg: Ohr und Auge – Klang und Form – Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006. Eine kritische Sicht auf das im Vergleich zum musikästhetischen Ansatz ab 1740 eher simplifizierende Konzept mache ich im Artikel Boris Previšić: Das Ende des Acoustic Turn in der Aufklärung? Herders »Ton«, in: German Life and Letters 71/3 (2018), 239–253. 19 Stollberg: Ohr und Auge [Anm. 18], 149.



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gleich wohltätiger Freund.« Das akustische Medium wird so selbst zum Gegenüber und fordert eine Praxis der Fremdbegegnung ein. Es handelt sich um ein »Gebot der Aufmerksamkeit […], um eine fremde, höhere Stimme zu hören«.20 II. Die gereimte alkäische Ode

In der direkten Bezugnahme auf die Antike selbst geht aber schnell einmal vergessen, dass die alkäische Ode im Deutschen selbst eine eigene Architextualität ausbildet. Zu unterscheiden ist eine geistliche von einer weltlichen Tradition, welche im 17. Jahrhundert virulent wird und Spuren ins 18. Jahrhundert hinein und darüber hinaus hinterlässt. Im Unterschied zur antiken Ode ist die Reimbildung courant normal. Insbesondere das ›alkäische Kirchenlied‹ hebt die Zäsur nach der fünften unbetonten Silbe des ersten Verses hervor, indem sie sich mit derjenigen des zweiten Verses reimt. Dadurch entsteht ein Kreuzreim aBaB, der in einem Paarreim endet wie hier in dem Kirchenlied vom Matthäus Apelles von Löwenstern aus dem Jahre 1644 21: Nu preiset alle / Gottes Barmhertzigkeit; Lob Ihn mit schalle, wertheste Christenheit. Er leßt dich freundlich zu sich laden; Freue dich, Israel, seiner Gnaden.

Das Lied beschreibt seine eigene akustische Realisierung, das Gotteslob, ›mit schalle‹, welches sich auf ›alle‹ im Reim bezieht. Der Schall, wie wir auch noch bei Hölderlin sehen werden, bildet die neue Gemeinschaft, bildet den Konnex zwischen persönlicher Religiosität und Gemeinschaft. In der Praxis des protestantischen Gemeindegesangs wird das »Gestimmtwerden[] der Seele« in die Gemeinschaft überführt.22 In der Physikotheologie eines Barthold Heinrich Brockes schließlich übernimmt diese spezifische »Praxis der Gemeinschaftsbildung […] im Modell des ›vernünftig-sinnlichen Gottesdienstes‹ eine zentrale Funktion«.23 Auf akustischer Ebene ist nicht nur die Reimstruktur bestimmendes Merkmal, welche wiederum auf ein Sonett en miniature verweist. Ebenso wichtig ist der Rhythmus, der dem Lied eine wiederholbare Melodie garantiert. Er wiederholt sich von Strophe zu Strophe und weist die besondere alkäische Eigenschaft auf, Angestautes oder Verlangsamtes über eine Beschleunigung in der choriambischen Figur — ‿ ‿ — ‿ — zu entladen: ›Gottes Barmhertzigkeit‹, ›wertheste Christenheit‹, ›Freue dich, Israel‹. Der alkäischen Ode ist eine rhythmische Dynamik inhärent, welche sie derart einprägsam und populär macht – bis hin zur so genannten 20 Ebd.,

148 [Hervorh. im Original]. Apelles von Löwenstern: Symbola Oder Gedenck-Sprüche, Breslau 1644, Nr. XII. 22 Moosmüller: Von der himmlischen Harmonie zum musicalischen Krieg [Anm. 6], 193 23 Ebd. 21 Matthäus

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Boris Previšić Abb. 1: [Matthäus Apelles von L­ öwenstern]: Symbola Oder Gedenck-Sprüche, Nr. XII, in: Martin Luther u. a.: Vollständige Kirchen- und Haus-Music – Darinn auß­erlesene Gesänge, Psalmen und Hymni, auff die gewöhnliche Sonn- und ­Fest-Tage, auch sonst in allerhand Anliegen nützlich zu ge­brauchen, in guter, richtiger Ordnung begrieffen, ­B reslau, 6. Aufl. [ca. 1673] [Bayerische Staatsbibliothek M ­ ünchen, Liturg. 1374 d, o. S., urn:nbn:de:bvb:12-bsb00092745-2].

Abb. 2: Neu erstellter Notensatz



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»Herrnhuter-Strophe« im 18. Jahrhundert.24 Exemplarisch dafür ist die Rhythmisierung des geistlichen Gedichts Um wachsende Kraft der Gemeine (1754) von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzensdorf, der bekanntlich keinen unwesentlichen Einfluss auf Lessing, Johann Wolfgang Goethe, Herder und Friedrich Schleiermacher hatte25: Ich liebe kindlich / meine Genossenschaft, Und wünsche stündlich / sie in das Herz der Kraft, Daß sie dem Freunde zugehöre, Und sie nichts Gutes noch Schönes störe. Mit Jesu Wunden / wandelt im Gnadenschein! Und die Gesunden / mögen in Streiterreih’n Fein munter zieh’n durch Heck’ und Dornen; – Jesus, der Herzog, ist immer vornen!

Auch ein Jahrhundert später bleiben sich Metrum und Reimstruktur identisch. Wollen wir vom Einfluss der pietistischen Praxis auf Dichtung und Denken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sprechen, so sind die regelrechten Ohrwürmer geistlicher Musik in die Gesamtbetrachtung aufzunehmen, welche selbst die ungereimte horazische Strophenform überlagert. Wiederholbarkeit, aber auch Singbarkeit der Melodie machen den Ohrwurm erst aus. So wird dieser zur ununterbrochenen und nolens volens ununterbrechbaren verinnerlichten Praxis. Umso mehr gilt es, nicht nur Herders allgemeines Diktum des »lyrische[n] Gesange[s]« aus produktionsästhetischer Sicht und sein rezeptionsästhetisches Pendant der »Symphonie und Antiphonie menschlicher Empfindungen« zu erwähnen,26 sondern die Musikpraxis im Verhältnis zur deutschen Sprache um die Mitte des 18. Jahrhunderts genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Voraussetzungen zur Textvertonung unterstreicht der Musiktheoretiker und -kritiker Friedrich Wilhelm Marpurg bereits in seinem ausführlichen Inhaltsverzeichnis. So müsse der Komponist »im Stande seyn, einen Text seiner äußern und innern Beschaffenheit [nach] zu prüfen«.27 Damit erweitert er sein Feld der Unterscheidung zwischen Prosodie und Rhetorik und fordert neben einer »Einsicht in die Regeln der Redekunst« »eine gesunde Logik, eine Känntniß der Psychologie und Moral«.28 Nach Marpurgs Dafürhalten sei die Singbarkeit der deutschen Sprache besonders ausgeprägt, weil sie zum einen die »Scansion« aus den beiden antiken Sprachen 24 Emil Brocks: Das Fortleben der alcäischen Strophe im lateinischen Kirchenliede des Mittelalters und in der neueren deutschen Dichtung, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 13 (1925), 363–382, hier 368. 25 Nikolaus Ludwig von Zinzensdorf: Etwas vom Liede Mosis, des Knechts Gottes, und dem Liede des Lammes, Das ist – Alt- und neuer Brüder-Gesang von den Tagen Henochs bisher, für alle Kinder und Seelen Gottes mit einfältigem Auge gesammelt und zum verständigen Gebrauch überlassen II, London 1754, 297. 26 Herder: Alcäus und Sappho [Anm. 17], 151 bzw. 150. 27 Friedrich Wilhelm Marpurg: Anleitung zur Singcomposition, Berlin 1758, 2. 28 Ebd.

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Griechisch und Latein übernehme, zum anderen komme »der Reim hinzu, welchem sowohl die Italiäner als Franzosen eine besondere Harmonie zueignen«.29 Daraus folgert der Musiktheoretiker, dass »ohne Zweifel die deutsche Dichtkunst alle diejenigen äußerlichen Vollkommenheiten beysammen« habe, »deren die lateinische, griechische, italiänische und französische Dichtkunst einzeln fähig« seien.30 Besonders bemerkenswert im Hinblick auf die deutsche alkäische Strophe ist die Rolle, welche Marpurg dem Reim zuteilt. Die Frage, ob lange oder kurze Verse für die Vertonung besonders geeignet sind, will er gar nicht beantworten. Vielmehr insistiert er auf den »richtige[n] grammatische[n] und logische[n] Einschnitte[n]«.31 »Wem es um das äußerliche Ansehen zu thun ist, der kann, weil der Reim nichts entscheidet, aus einem langen Verse zween kurze machen, wenn er selbigen auf zwo Zeilen, nach Anleitung des Einschnitts, vertheilet; und umgekehrt kann er aus zween kurzen Versen einen langen machen, wenn er selbige in eine Reihe schreibet.«32 Nicht die Reimstruktur ist für die Melodiebildung letztlich ausschlaggebend, sondern die Phrasierung, welche sich an der syntaktischen und rhetorischen Prägnanz orientiert. Obwohl Marpurg nicht direkt auf die Vertonung der alkä­ ischen Strophe eingeht, lässt sich zweierlei aus seiner Prämisse ableiten: Entweder kann man einen Vers unterteilen, indem man wie in der ›Herrnhuter-Strophe‹ die Zäsur der alkäischen Ode nochmals hervorhebt. Oder aber man fügt Verse zu­ sammen. So ergibt sich ebenfalls eine zweite, tendenziell weltliche Tradition im 17. Jahrhundert, welche auf den Reim auf der Zäsur verzichtet. Beispielhaft dafür ist Daniel Georg Morhofs Ode Auff die Hochzeitliche Feyer, publiziert 168233: Wer mit der Tugend redlich gebuhlet hat / Und sie geliebet hertzlich und mit der That / Den wird sie bey den Sternen stellen / Ob gleich die Neider entgegen bellen. Zwar mancher bettelt sich in ein Ambt hinein / Und gründet nur auf blossen und leeren schein. Hingegen bleibet der besitzen / Den man erheben solt an die Spitzen. Man gibt ja mehrentheils nur auff blossen Wahn / Sieht nicht Geschicklichkeit oder Alter an; Nur den der schneiden kann und prahlen / Und einen Dunst vor die Augen mahlen. 29 Ebd.,

48.

30 Ebd. 31 Ebd.,

121.

32 Ebd. 33 Daniel Georg Morhof: Auff die Hochzeitliche Feyer / des […] Jacobus Kobow / Mit der […] Katha­r ina Randowen, in: ders.: Teutsche Gedichte – Erster Theil, Kiel 1682, 93.



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Die Ode zur Hochzeit eines Pfarrers ist zwar als Lobgesang auf ihn konzipiert, richtet sich aber vor allem gegen die ›Neider‹, gegen falsch besetzte Ämter aufgrund von falschem Schein. In diesem Kontext erscheint der Ehrenträger als Ausnahme von der Regel. Die moralische Komponente korreliert mit einem klaren wiederholten Metrum, ausgestattet mit Reimen. Morhof verwendet in seinen exemplarischen Übersetzungen der horazischen Oden immer den Reim. Er betitelt die Werkreihe, welche seine vorgängig theoretischen Überlegungen illustrieren, mit »Exempel / Der verschiedenen Reimgebäude / vorgestellt in Übersetzung einiger Oden des Horatii«.34 Er ist sich durchwegs bewusst, dass es Odenübersetzungen mit oder ohne Reim auf der Zäsur insbesondere im trochäischen Grundmaß gibt und verweist dafür auf Georg Philipp Harsdörffers Überlegungen in der fünften Stunde seines Poetischen Trichters.35 Doch stellt Morhof klar, dass die Reimzäsur, wie wir sie aus dem Kirchenlied kennen, in der weltlichen Dichtung, welche direkt auf ­Horaz Bezug nimmt, unüblich ist.36 Wie Harsdörffer formuliert, hat Übersetzung im 17. Jahrhundert also reichlich wenig mit einer ›Wort-zu-Wort‹-Übertragung zu tun. Vielmehr ist sie soweit anzueignen, dass sie vollständig in die Gedicht­ tradition der Zielsprache eingebettet wird 37: »Dergleichen hat das Lob einer guten Ueberſetzung / wañ es ſo wol klingt/ daß man nicht einmal abmerken kann / daß es in einer andern Sprache urſpr uͤ nglich geſchrieben worden.« III. Die reimlose alkäische Strophe

Selbst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Festschreibung samt unterschiedlicher Reimbildung aus dem 17. Jahrhunderts weiterhin von Belang. Mit Klopstock, Johann Heinrich Voß und Hölderlin lässt sich die Distanz zur ›deutschsprachigen‹ Reim-Tradition ausloten, die auf eindringliche und verstörende Weise hörbar wird. Bereits Klopstocks frühe Überlegungen zum Hexameter richten sich »nach den Forderungen des Ohrs«.38 So legitimiert der spätere Dichterfürst die 34 Daniel Georg Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie / deren Uhrsprung / Fort­gang und Lehrsätzen, Kiel 1682, 782–807. 35 Morhof verweist hier auf Georg Philipp Harsdörffer: Die V. Stunde – Von Veränderung der Reimarten, in: ders.: Poetischer Trichter – Die Teutsche Dicht- und Reimkunst/ ohne Behuf der Lateinischen Sprache/ in VI. Stunden einzugiessen, Nürnberg 1650, 74–100. 36 »Man macht in Trochaicis in gewissen regionibus Caesuras oder Abschnitte / welche die sonst matte Trochaische [sic] Verse etwas lebhafft machen […]. Dergleichen Caesura können auch in andern metris nachgemacht werden / entweder mit oder ohne Reime / davon Harstörffer in seinem Poetischen Trichter in der fünfften Stunde handelt. Wiewohl die gereimten Caesura hieher nicht eigentlich gehören / dann sie machen eine andre art von metro, daß nach Strophen eingetheilet wird« (Morhof: Unterricht von der Teutschen Sprache und Poesie [Anm. 34], 621). 37 Harsdörffer: Poetischer Trichter [Anm. 35], 103. 38 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen (1755), in: ders.: Gedanken über die Natur der Poesie – Dichtungstheoretische Schriften, hg. von Winfried Menninghaus, Frankfurt a. M. 1989, 9–21, hier 12.

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Verwendung von Daktylen und Choriamben, welche ja selbst in der gereimten Nachahmung der Oden im 17. Jahrhundert omnipräsent sind, über das horazische Vorbild: So präge die alkäischen, asklepiadeischen und sapphischen Oden eine besondere Harmonie des Schwungs, welche dem »Enthusiasmus des Ohrs und der Einbildungskraft« zukomme.39 Thetischer und resoluter äußert sich Klopstock in der als Dialog gehaltenen Abhandlung Vom gleichen Verse (1773). So geht es in dieser Abhandlung nicht mehr um den ›ähnlichen Vers‹, um den Hexameter, sondern um den Vers, der von Strophe zu Strophe wiederholt wird und sich somit ›gleich‹ bleibt, um den Odenvers. Just hier nimmt er die Typologisierung auch seiner selbsterfundenen Odenformen vor, wobei er in erster Linie zwischen ›Langsamkeit und Schnelligkeit‹ unterscheidet40: »Wenn die Langsamkeit oder die Schnelligkeit zunimmt, so steigt die Strophe; und sinkt, wenn eine von beiden abnimmt. Wenn diese oder jene bald abnimmt, und bald zunimmt; so wechselt die Strophe ab. Bleiben sich die eine oder die andre von ungefähr gleich, so ›schwebt‹ sie; und gehet endlich von der Langsamkeit zur Schnelligkeit, oder von dieser zu jener über.« Daraus ergeben sich sieben verschieden realisierbare Kategorien von Strophen.41 Doch keine entspricht einer klassischen Odenform. Es wird immer deutlicher, dass Klopstock nicht einer reinen Produktionslogik folgt. Spätestens mit dem kurzen Beitrag Neue Silbenmaße aus dem Jahre 1779 zielen seine poetologischen Überlegungen auf eine prononcierte Rezeptionslogik. Damit schreibt er sich in eine akustische Praxis ein, die fürs 18. Jahrhundert symptomatisch ist. Zwar bleibt sich das Figurenarsenal von Selmer, dem Versspezialisten, Werthing und Minna wie schon im vorher genannten Dialog gleich. Nun macht Selmer die Probe aufs Exempel, indem er Minna Klopstocks Ode Der Kamin (1770) vorliest und sie zu urteilen hat42: »Hören Sie, und sagen Sie mir das Schema derselben.« Um die Produktionslogik in eine Rezeptionslogik zu überführen, genügt aber das Zuhören Minnas nicht. Vielmehr muss sie das »Blatt […] selbst durchlesen«.43 Die auditive wird mit der visuellen Rezeption verbunden, bevor Minnas genaue Analyse folgt, welche Selmer wiederum in eine Regelpoetik umformuliert und so an eine Produktionslogik zurückbindet. Trotz Klopstocks Insistieren auf dem Gehörten traut er dem auditiven Sinneskanal nicht ganz. Vielmehr muss von einer synästhetischen Kopplung in der sinnlichen Wahrnehmung ausgegangen werden, wie das die alkäische Ode Der Maiabend von Voß aus dem Jahre 1775 aufzeigt44:

39 Ebd.,

18.

Gottlieb Klopstock: Vom gleichen Verse (1773), in: ders.: Gedanken über die Natur der Poesie [Anm. 38], 35–53, hier 35 [Hervorh. im Original]. 41 Vgl. ebd., 38–50. 42 Friedrich Gottlieb Klopstock: Neue Silbenmaße (1779), in: ders.: Gedanken über die Natur der Poesie [Anm. 38], 54–59, hier 54. 43 Ebd., 57. 44 Johann Heinrich Voß: Der Maiabend, in: ders.: Sämtliche Gedichte – Dritter Theil – Oden und Elegien, Königsberg 1802, 83 f. 40 Friedrich



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Abb. 3: Johann Heinrich Voß: Der Maiabend, in: ders.: Sämtliche Gedichte – Dritter Theil – Oden und Elegien, Königsberg 1802, 83.

Umweht von Maiduft, unter des Blütenbaums Helldunkel sahn wir Abendgewölk verglühn, Des vollen Monds Aufgang erwartend, Und Filomelengesäng’ im Thalbusch. Lau war die Dämmrung; traulicher scherzten wir Mit nachgeahmter Fröhlichkeit. Bald verstummt In holdem Tiefsinn, sass das Mägdlein, Stammelte: Wollen wir gehn? und ging nicht. Die Hand in meiner zitterte. Bleib, o bleib! Kaum athmend lallt’ ich’s. Wonne! da fügten wir, Nach manchem Freundschaftskuss, den Brautkuss, Nicht Filomela noch Mond bemerkend.

In der bekannten Bukolik interessiert weniger die erweiterte Synästhesie, welche neben dem Auditiven und Visuellen auch das Olfaktorische und die Wärmeempfindung einschließt und sich somit auf den auf klärerischen Sensualismus einschießt. Bemerkenswert ist vielmehr, wie virtuos und zugleich pädagogisch der große Übersetzer antiker Dichtung mit der alkäischen Form umgeht. So hält er die Zäsur der ersten beiden Verse in der ersten Strophe ein und verbindet sie über ein Satzteilenjambement: ›Umweht von Maiduft, | unter des Blütenbaums / Helldunkel sahn wir | Abendgewölk verglühn‹. Damit zeichnet er die im Deutschen bekannten Muster der alkäischen Ode nach – jedoch ohne Reim (wie es sich für das klassische Maß auch gehört). Ebenso nimmt die zweite Strophe zu Beginn ihren

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gewohnten Gang mit der ›richtigen‹ Zäsur: ›Lau war die Dämmrung; | traulicher scherzten wir‹. Just an der Stelle, an welcher das Scherzhafte durchbrochen wird, verschiebt sich der syntaktische Einschnitt aber: ›Mit nachgeahmter [|] Fröhlichkeit. Bald verstummt‹. Die Imitatio (die Nachahmung bekannter Muster) wird unterbrochen; es hält ein neuer Ton Einzug, denn der vorhergehende glykonische Fall ›unter des Blütenbaums‹ bzw. ›Abendgewölk verglühn‹ zerfällt: ›Fröhlichkeit. Bald verstummt‹. Das Doppelbild des ›Mägdleins‹ und der ›Filomelengesäng’ im Thalbusch‹ verweist auf die Kopplung von deutscher und antiker Geschichte, in welcher sich ebenso die Geschichte von Gewalt offenbart – denken wir nur an Philomeles Vergewaltigung durch Tereus, wovon sie später nicht mündlich, sondern nur schriftlich Zeugnis ablegen kann. So legt die ›verstummte‹ Schriftlichkeit dieser Ode von der gewaltsamen Übertragung Zeugnis ab: Antike und deutsche Tradition sind also nur unter Gewalt zusammenzubringen. Darum verwundert es letztlich nicht, dass die 1784 von Klopstock An Johann Heinrich Voß formulierte alkäische Strophe wiederum als direkte Polemik gegen den Reim und den meist damit verbundenen alternierenden Vers zu verstehen ist 45: Zween gute Geister hatten Mäonides Und Maro’s Sprachen, Wohlklang und Silbenmaß. Die Dichter wallten, in der Obhut Sichrer, den Weg bis zu uns herunter. Die spätern Sprachen haben des Klangs noch wohl; Doch auch des Silbenmaßes? Statt dessen ist In sie ein böser Geist, mit plumpen Wörtergepolter, der Reim, gefahren. Red’ ist der Wohlklang, Rede das Silbenmaß; Allein des Reimes schmetternder Trommelschlag Was der? was sagt uns sein Gewirbel, Lermend und lermend mit Gleichgetöse? […]

So lauten die ersten drei der insgesamt zwölf Strophen des zuerst im Voß’schen Almanach erschienenen Gedichts, das sich gegen die Reim-Dichtung wendet und sich für ›Wohlklang und Silbenmaß‹ der antiken Dichter ausspricht – allen voran Mäonides (Homer) und Maro (Vergil). Das ›Wörtergepolter‹ und ›Gleichgetöse‹ führt Klopstock auf den Jambus zurück, wie er in der sechsten Strophe ausführt 46: »Die Sprache war / Durch unsern Jambus halb in die Acht erklärt, / Im Bann der Leidenschaften Ausdruck, / Welcher dahin mit dem Rithmus strömet.« ›Leidenschaft‹ und »Begeistrung«47 (Strophe 9) sind die zentralen Parameter jenseits von tropi45 Friedrich 46 Ebd.,

78. 47 Ebd., 79.

Gottlieb Klopstock: Oden II, Leipzig 1798, 77.



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scher Überladung. Ihre Apostrophe zielt aufs Akustische – »tönen soll es, wovon du glühst!«48 Selbst Italien, »[d]er Töne Land«,49 steigt nicht ein auf die neue Dichtung (Strophe 7). Der Reim ist zu kindlich, als dass er Ernstes nicht »belachen«50 würde (Strophe 11) und verunmöglicht die gute Dichtung, wie es die letzte Strophe nochmals auf die Spitze treibt 51: Des Guten mangelt viel ihm; des Schlimmen hat Er viel. Und jetzo komt die Begeisterung, Gebeut! Schnell blutet sie vom Dolch des Stamlers! ihr Auge verlischt, sie sinket!

Obwohl nirgends ein Strophenenjambement in dieser alkäischen Ode vorkommt, wird der Rahmen der Zäsur jeweils nach der fünften Silbe immer mehr verlassen. Die Begeisterung übergeht sie förmlich. Sie darf es auch. Die Form würde sich gegen das Ethos des Rhythmus wenden. Form ermöglicht und verhindert nicht. Darum geht Hölderlin noch einen Schritt weiter. IV. Hölderlins alkäische Ode Chiron

Im Hinblick auf die avancierteste alkäische Ode der deutschsprachigen Dichtung überhaupt, auf Hölderlins Eröffnungsode der Nachtgesänge, welche in Wilmans Taschenbuch für das Jahr 1805 Eingang finden, rücken zentrale Parameter akustischer Praktiken implizit und explizit in den Fokus: so die Verschränkung von akustischer Rezeption und Produktion zum einen, so die akustisch-formale Architextualität zum anderen. In einer früheren Fassung firmiert die noch kürzere alkäische Ode unter dem Titel »Der blinde Sänger« (1801) im Stuttgarter Foliobuch und verweist explizit auf die lange klassische Tradition der Gottesstrafe wegen Hybris durch Wissen, aber auch auf die Gabe der Prophezeiung eines Tiresias (oder Homers, wie er auch oft dargestellt wird). Die Ode heißt nun neu Chiron (1805). Im Kentauren konzentrieren sich die verschiedenen Fähigkeiten und Wissensfelder, deren sich die Menschheit in ihrer Geschichte bedient, wie Jagd, Medizin oder Musik. In der hybriden Pferd-Mensch-Gestalt kommt die Zerrissenheit zwischen Triebhaftigkeit und Rationalität, zwischen Naturverbundenheit und zivilisatorischer Emanzipation zum Ausdruck. Die inzwischen auf 13 Strophen angewachsene Ode Chiron erfasst den Moment, in dem der Kentaur, vom giftigen Pfeil des Herakles getroffen, sterben möchte. Er kann die Sterblichkeit aber nur von Prometheus erhalten, den wiederum Herakles dafür befreien muss.52 48 Ebd. 49 Ebd., 50 Ebd., 51

78. 79.

Ebd.

dazu den Kommentar in Friedrich Hölderlin: Tutte le liriche, edizione tradotta e commentata e revisione del testo critico tedesco a cura di Luigi Reitani, Milano 2001, 1475–1478; 52 Vgl.

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Die alkäische Odenform liegt in der programmatischen Eröffnung verschüttet, wenn nicht nur die bekannten Zäsuren übergangen, sondern auch die gewohnten choriambischen Muster bereits im ersten Vers strapaziert werden 53: Wo bist du, Nachdenkliches! das immer muß Zur Seite gehn, zu Zeiten, wo bist du, Licht? Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich Hemmt die erstaunende Nacht nun immer.

Erinnern wir uns nochmals an die erste reimgebundene oder reimungebundene Zäsur jeweils nach der fünften Silbe des ersten Verses im Kirchenlied bzw. im weltlichen Gedicht in unseren fünf Beispielen: ›Nu preiset alle / Gottes Barmhertzigkeit‹ (Löwenstern 1644); ›Wer mit der Tugend redlich gebuhlet hat‹ (Morhof 1682); ›Ich liebe kindlich / Meine Genossenschaft‹ (Zinzensdorf 1754); ›Umweht von Maiduft, unter des Blütenbaums‹ (Voß 1775); ›Zween gute Geister hatten Mäonides‹ (Klopstock 1784). Die rhythmische Figur ist eindeutig: ‿ — ‿ — ‿ | — ‿ ‿ — ‿ — Wie aber artikulieren wir nun den ersten Vers aus Hölderlins Chiron? ›Wo bist du Nachdenkliches! das immer muß‹. Behalten wir die Form bei und übergehen den normalen prosodischen Akzent, wodurch ›Nachdenk|líches‹ unterbrochen und auf die dritte Silbe auf ›i‹ eine zusätzliche prägnante Betonung erhält, womit die Zäsur im Ausruf wiederum übergangen wird? Oder halten wir uns an die Prosodie, wodurch die alkäische Form nicht mehr erklingt, sondern lediglich als gegenrhythmische Unterbrechung idealiter vielleicht noch erkennbar ist? Im zweiten Vers werden zumindest die Betonungen wie in der alkäischen Ode verteilt; doch die eine bekannte Zäsur, wie sie immer zu Beginn gesetzt wird, wird auch hier übergangen durch drei anders gesetzte Unterbrechungen durch Kommata. Der Einstieg in die Ode ist nicht formlos, sondern unterstreicht in seiner Kontrapunktik von Betonungen und Zäsuren die Suche nach der Form selbst. Am extremsten suspendiert der dritte normalerweise vierhebige alternierende Vers mit durchgehend einsilbigen Worten die alkäische Ode. Nirgends wird der Gegensatz zwischen Wortlänge und Wortbetonung, wie sie normalerweise in der deutschsprachigen Übertragung des antiken Versmaßes übernommen wird, so sehr ausbuchstabiert: ›Wohl ist das Herz wach, doch mir zürnt, mich‹. Lang ausgesprochen werden sicherlich die beiden Silben ›wohl‹ und ›mir‹. Nur die erste Silbe kann lang, aber unbetont ausgesprochen werden, und ›mir‹ ist eigentlich immer kurz im alkäischen vierten Vers. Das Schwebende (wie es Klopstock beschreibt) im Sinne der Übergängigkeit und des Unentschiedenen der Hölderlin’schen ›Nacht‹ wird hier bis an die Grenzen ausgelotet. Erst der letzte Vers mit seinem doppelten Choriambus im hipponacteischen Fall fängt dank der Mehrsilbigkeit von ›erstaunende‹ diese alkäische Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke V, hg. von D. E. Sattler und Michael Knaupp, Frank­ furt a. M. 1984, 823 f. 53 Zitiert wird nach der publizierten Fassung: Hölderlin: Sämtliche Werke V [Anm. 52], 284 sowie 286 zitiert nach Friedrich Hölderlin: Chiron, in: Gedichte – Von Friedrich Hölderlin – Taschenbuch für das Jahr 1805 – Der Liebe und Freundschaft gewidmet, Frankfurt a. M. [o. J.], 77–79.



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Strophe endlich in eindeutiger rhythmischer Schärfe auf: ›Hemmt die erstaunende Nacht nun immer‹: — ‿ ‿ — ‿ ‿ — ‿— ‿ Die Suche nach dem Licht ist somit gleichzeitig als akustisches Einfinden in die Form zu verstehen. In den folgenden beiden Strophen 2 und 3 wird ein prähistorischer vorzivilisatorischer Idealzustand des Menschen beschrieben. Chiron besinnt sich hier zurück auf seine Jugend als Jäger und Sammler in einem Naturzustand, in welchem auch die alkäische Form nicht unterbrochen wird. Ein erstes Mal rückt in Absetzung von der visuellen Metaphorik der Auf klärung, von Licht und Nacht der ersten Strophe, die akustische Wahrnehmung explizit in den Fokus54: Sonst nämlich folgt’ ich Kräutern des Wald’s und lauscht’ Ein weiches Wild am Hügel; und nie umsonst, Nie täuschten, auch nicht einmal deine Vögel; denn allzubereit fast kamst du, So Füllen oder Garten dir labend ward Rathschlagend, Herzens wegen; wo bist du Licht? Das Herz ist wieder wach, doch herzlos Zieht die gewaltige Nacht mich immer.

Der Einschub, der die Frage des Beginns nach dem Licht und den Gegensatz zwischen dem Herz (der eigenen Körperlichkeit sowie Beseelung) und der historischen Zeit der Nacht des Wartens auf die Erlösung wiederaufnimmt, führt zur längsten Periode, welche dem Zugeständnis folgt, dass man selbst wohl ›herzlos‹ war. Eine fulminante Zivilisationskritik, in welcher sich Syntaktik und selbst Strophenform nicht in Deckung bringen lassen 55: Ich war’s wohl. Und von Krokus und Thymian Und Korn gab mir die Erde den ersten Straus. Und bei der Sterne Kühle lernt’ ich, Aber das Nennbare nur. Und bei mir Das wilde Feld entzaubernd, das traur’ge, zog Der Halbgott, Zeus Knecht, ein, der gerade Mann; Nun sitz’ ich still allein, von einer Stunde zur anderen, und Gestalten Aus frischer Erd’ und Wolken der Liebe schafft, Weil Gift ist zwischen uns, mein Gedanke nun; Und ferne lausch’ ich hin, ob nicht ein Freundlicher Retter vielleicht mir komme.

54 Hölderlin: 55 Ebd.

Chiron [Anm. 53], 77.

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Der Mensch, hier: Chiron, lässt sich auf den Zyklus der Jahreszeiten ein (›Krokus‹ für Frühling, ›Thymian‹ für Sommer und ›Korn‹ für Herbst) und orientiert sich dementsprechend nicht mehr am Mond, sondern am Jahreszyklus der Sterne.56 Den Idealzustand hat er inzwischen in der Nutzbarmachung von Ackerfläche (›Und bei mir // Das wilde Feld entzaubernd‹) und in der nominalistischen Objektivierung (›lernt’ ich, / Aber das Nennbare nur‹) verloren. Bemerkenswerterweise fällt der Verlust auf Strophenenjambements. So wird der Bruch und gleichzeitig das zeitlich Vorwärtsdrängende direkt gleichzeitig in der alkäischen Form aufgehoben. Den zivilisatorischen Sündenfall (und die Vergiftung durch den Pfeil des Herakles) kann nur noch göttliche Erlösung rückgängig machen. Und genau an dieser Stelle tritt eine beschriebene und somit explizite akustische Praxis wieder auf die Bühne des Gedichts57: Dann hör’ ich oft den Wagen des Donnerers Am Mittag, wenn er naht, der bekannteste, Wenn ihm das Haus bebt und der Boden Reiniget sich, und die Quaal Echo wird. Den Retter hör’ ich dann in der Nacht, ich hör’ Ihn tödtend, den Befreier, und d’runten voll Von üpp’gem Kraut, als in Gesichten Schau ich die Erd’, ein gewaltig Feuer; Die Tage aber wechseln, wenn einer dann Zusiehet denen, lieblich und bös’, ein Schmerz, Wenn einer zweigestalt ist, und es Kennet kein einziger nicht das Beste; Die Tage aber ist der Stachel des Gottes; nie Kann einer lieben göttliches Unrecht sonst. Einheimisch aber ist der Gott dann Angesichts da, und die Erd’ ist anders.

Zeus’ kathartisches Gewitter überzieht hörbar das Land. Damit hält die Wende Einzug. Das Tagesereignis erhält seine Resonanz in der Nacht. Die Umschlagstelle ist im letzten Vers der 7. Strophe rhythmisch markiert: ›Reiniget sich, und die Quaal Echo wird.‹ Die alkäische Odenform fordert an dieser Stelle ein, dass die deutschsprachige Akzentuierung auch auf den langen Vokal zu liegen kommt. Es lautet also nicht – wie für unsere Ohren gewohnt – ›und die Quáal Écho wird‹, sondern – wie aus dem Griechischen Ἠχώ ( Ēchṓ = gleichnamige Bergnymphe) bekannt – ›und die

56 Zur Unterscheidung der siderischen Bezüge zwischen Jägern wie Sammlern und Ackerbauern siehe Alexander Honold: Hölderlins Kalender – Astronomie und Revolution nach 1800, Berlin 2002. 57 Hölderlin: Chiron [Anm. 53], 78.



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Quáal Echó wird‹.58 Der etymologische Rückverweis verallgemeinert das spezifische Phänomen der Schallspiegelung zum Schall selbst. Zum einen korrespondiert nun Chirons Verletzung durch Herakles’ Pfeil sowohl mit der akustischen Kulisse der Antike als auch mit der griechischen Sprache selbst. Zum anderen kommt dem Ohr eine neue Mittlerstellung zwischen Innen- und Außenwelt des menschlichen Subjekts zu. Die Umakzentuierung unterstreicht die Gleichwertigkeit dieser beiden Sphären: Innen und Außen sind ebenso real; Chirons ›Quaal‹ wird durch die Umakzentuierung zum Schallereignis selbst. Die Praxis akustischer Wahrnehmung hebt somit nicht nur auf einen bestimmten Sinneskanal ab, welcher mit anderen Sinneskanälen austauschbar wäre. Vielmehr erklärt sie den inneren psychischen Zustand des Subjekts zur politischen Realität in der Nacht der Geschichte. Der Seher Chiron ›schaut‹ das Kommende, wie es in der Folgestrophe heißt. So wird das Kommen des ›Retters‹ in seiner Zerstörung hörbar, das ›Unrecht‹ auf der Welt als ›Stachel des Gottes‹ bleibt zwar weiterhin unerklärbar. Doch ›die Erd’ ist anders‹. Das Wechselspiel zwischen Innen und Außen, zwischen Nacht und Tag, zwischen Geschichte und Rettung erhält in der akustischen Realisierung und in der akustischen Umakzentuierung einen anderen, einen neuen Stellenwert. Es ist die Natur selbst, welche wieder Heimat bietet 59: Tag! Tag! Nun wieder athmet ihr recht; nun trinkt, Ihr meiner Bäche Weiden! ein Augenlicht, Und rechte Stapfen geht, und als ein Herrscher, mit Sporen, und bei dir selber Oertlich, Irrstern des Tages, erscheinest du, Du auch, o Erde, friedliche Wieg’, und du, Haus meiner Väter, die unstädtisch Sind, in den Wolken des Wilds, gegangen.

Die Eingangsfrage nach dem Licht wird hier partiell eingelöst, auch wenn die Sonne selber – ganz nach Keplers Erkenntnis zu den exzentrischen Himmelskörperbahnen – als ›Irrstern des Tages‹ angesprochen wird. Die Rückkehr in die ursprüngliche Heimat des Kentauren Chiron, an seiner ›Bäche Weiden‹, erweist sich als Auf bruch in die Zukunft, welche den zivilisatorischen Sündenfall hinter sich lässt. Abgesehen von den beiden Apostrophen ›Tag! Tag!‹, wo die Betonung auf den beiden langen Silben ungelöst bleibt, und ›Irrstern des Tages‹, wo die übliche Zäsur nochmals verschoben wird, erweist sich die alkäische Form als glückliche rhythmische Fügung. Im Unterschied zu Voß und Klopstock setzt Hölderlin nicht die rhythmische Form voraus. Sie wird selbst Gegenstand akustischer Erprobung dichterischer Realität. 58 Diese Umakzentuierung wurde mir erst richtig in der Rezitation der Nachtgesänge und somit in der sich vollziehenden akustischen Praxis der Rezitation durch Michael Engelhardt bewusst: https://www.youtube.com/watch?v=CcDbX7f YsUs&t= [20.01.2022]. 59 Hölderlin: Chiron [Anm. 53], 78.

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Umso mehr löst sich die letzte, dreizehnte Strophe, welche wie angefügt erscheint, wieder von der gefundenen Ruhe. Die Akzente werden zwar keiner Zerreißprobe unterzogen. Hingegen bieten die Zäsuren wiederum keinen Halt. Es ist, also ob die exzentrische Bahn der Sonne selbst Taktgeberin einer stets wandelbaren Form ist. Um diesen Sachverhalt zu unterstreichen, kann es Chiron zum Abschluss nicht unterlassen, nochmals den sprachlichen Klang selbst als Echo in einer Spiegelung zu inszenieren – wenn Herakles als französischer Held, als Hercules, in der ›Rückkehr‹ anagrammatisch60 erklingt 61: Nimm nun ein Roß, und harnische dich und nimm Den leichten Speer, o Knabe! Die Wahrsagung Zerreißt nicht, und umsonst nicht wartet, Bis sie erscheinet, Herakles Rückkehr.

V. Architextualität oraler Praxis

Wohin führt uns nun dieser Streifzug durch die alkäische Praxis im 17. und 18. Jahrhundert? Mit Hölderlin wird klar, dass die alkäische Ode, auf die Spitze getrieben, erst in ihrer akustischen Realisierung wieder an den griechischen Dichter Alkaios anschließt. Seit den 1980er Jahren geht die Altphilologie von einer »konsequenten Zuordnung der Alkäischen Lyrik zum Bereich mündlicher Dichtung« aus.62 Dabei stellt die Mündlichkeit nicht einfach einen zusätzlichen Faktor dar, der die Schriftlichkeit ergänzt. Vielmehr ist die Oralität alkäischer Dichtung »textbestimmender Faktor« par excellence.63 Erstens etabliert sich ein Schriftmarkt im griechischen Sprachraum erst später64: »Selbst wenn man den Zeitraum für Vorstufen einer entwickelten Buchkultur nur knapp bemißt […], so gilt jedenfalls für die Zeit des Alkaios, daß literarische Kommunikation noch nicht auf einem wie immer organisierten Vertrieb schriftlicher Texte basierte, sondern sich im Regelfall schriftlos vollzog.« Selbst die große homerische Epik wurde in dieser Zeit eigentlich nur mündlich überliefert. Die schriftliche Fixierung dient lediglich dem internen rhapsodischen Gebrauch.65 Zweitens wendet sich Alkaios’ Dichtung an eine relativ kleine Zuhörerschaft im ägyptischen Exil, in das er im 7. Jahrhundert vor unserer 60 Für

diesen Hinweis danke ich ebenfalls Michael Engelhardt. Chiron [Anm. 53], 79. 62 Wolfgang Rösler: Dichter und Gruppe – Eine Untersuchung zu den Bedingungen und zur historischen Funktion früher griechischer Lyrik am Beispiel Alkaios, München 1980, 23; vgl. dazu auch die Arbeiten zum ›Oral Turn‹ von Ruth Finnegan: Oral Poetry – Its Nature, Significance and Social Context, Cambridge 1977. 63 Rösler: Dichter und Gruppe [Anm. 62], 23. 64 Ebd., 49. 65 So verweist Milman Parry Ende der 1920er Jahre auf die metrisch einprägsame Formelhaftigkeit von vielen Epitheta in Homers großen Epen und somit auf ihre Memorierbarkeit und Varianz für den improvisatorischen Vortrag durch den Rhapsoden. Damit bringt er die For61 Hölderlin:



Akustische Praktiken in der alkäischen Ode der Aufklärung435

Zeit wegen Widerstand gegen die Tyrannen Melanchros und Myrsilos auf Lesbos gezwungen wurde. Die für ein Allgemeinpublikum ›dunklen Stellen‹ ergeben sich aus dem esoterischen Kreis der Zuhörer. Diese Tradition erahnen Klopstock, Voß und Herder. In die Praxis eingebunden wird sie aber erst durch Hölderlin. Kein anderer Dichter verweist im dichterischen Vollzug derart auf die Ephemerität und Gebrechlichkeit nicht nur des lyrischen Ichs, sondern der Dichtung selbst. Die Umakzentuierung verfremdet das Eigene auf eine Art und Weise, dass sich Subjektivität nur noch in der akustischen Realisierung und Verlautbarung konstituiert. Damit wird die Welt nicht mehr als äußere Sphäre objektiviert, sondern über das Sinnesorgan des Ohrs interiorisiert und gleichzeitig realisiert. In dem Maße, in dem ich mich auf die Dichtung, auf ihre Form einlasse, in dem Maße verändert sich meine ›innere‹ Praxis, d. h. meine Empfindung in der Wahrnehmung und meine Artikulation. Ebenso kommt es zu einer akustischen Selbstregulierung, welche auf die Anforderungen von Außen – im Sinne von Foucaults ›Moderation‹, aber auch im Sinne der auf klärerischen ›Temperierung‹ – reagiert. Architextualität ist einerseits akustischer Erfahrungswert einer ›eigenen‹ Dichtung, die sich über eine spezifische alkäische Reimdichtung herausgeformt hat und im ›Herrnhuter-Lied‹ kulminiert. Andererseits ist sie ein Rückbezug auf Horaz und schließlich Alkaios, welcher das Eigene zum Fremden werden lässt – indem die Form die Sprache verändert –, aber auch das Fremde zum Eigenen werden lässt in der Durchlässigkeit zwischen Innen- und Außenwelt. Die spezifisch akustisch grundierte Praxis lässt die Zukunftsvision Realität werden, wie es in der letzten Strophe von Hölderlins Chiron heißt: ›Die Wahrsagung / Zerreißt nicht‹. Es ist eben kein einfaches Retour à la nature, das uns die alkäische Form vorgibt, sondern ein Akt der Gewalt, wie bei Voß vorgezeichnet und bei Hölderlin akustisch in die Praxis umgesetzt. Dichterische Form ist somit Orientierung, Potential und Emergenz. Und die alkäische Ode ganz besonders.

schung in Bezug auf die Homerische Frage ein gutes Stück vorwärts (vgl. Milman Parry: The Making of Homeric Verse – The Collected Papers of Milman Parry, Oxford 1987).

Von der Schwierigkeit auf andere zu hören Rezeptivität als Praxis in Wilhelm Meisters Lehrjahre Fritz Breithaupt

I. Einleitung

Man könnte fast denken, dass die Unfähigkeit anderen zuzuhören eine Untugend des 21. Jahrhunderts sei – wären da nicht zahlreiche Indizien, dass die Kunst des Hörens bereits im 18. Jahrhundert als bedroht galt und dass Techniken zu ihrer Ausbildung kultiviert wurden. Von einer solchen Kunst des Hörens und das heißt von einer Erörterung der Verfahren zur Ausbildung von Rezeptivität soll im Folgenden die Rede sein. Hinter dieser Untersuchung steht eine einfache Pointe. Damit eine Gemeinschaft sich erhalten kann, bedarf es der Moralität. Doch diese gründet sich nicht schlicht auf emotionsartige Fundierungen (wie etwa die moral foundations von Jonathan Haidt)1 und auch nicht auf feste Normen, sondern verlangt Praktiken des Zuhörens. Nur das Zuhören garantiert, dass jede nicht nur ihre Meinung haben darf, sondern zudem auch wahrgenommen wird. Moral gibt es nur, wenn die Stimmen der anderen gehört werden. Ein Gewissen hat, wer zuhört. Doch was heißt zuhören? Den Kontext dieser Untersuchung bildet dabei die Entthronung der inneren Stimme als Kerninstanz der Moral. Für Jahrhunderte war die innere Stimme die Grundform des Gewissens und darüber hinaus der Beleg für Moralität.2 Solange es nur die eine innere Stimme gibt, bedarf es keiner Kultivierung des Zuhörens. Wer eine innere Stimme hat, kann sich auf diese allein verlassen. Die innere Stimme bestimmte schlicht, was zu tun und was zu lassen sei. Natürlich konnte es auch böse Stimmen geben, die, vom Teufel oder Einflüsterern wie etwa Gotthold Ephraim Lessings Intriganten Marinelli in Emilia Galotti (1772) stammend, einen Menschen auf Abwege bringen, indem sie seine bessere innere Stimme supplementieren. Doch auch in diesem Falle affirmieren diese bösen Stimmen die Kraft der inneren Stimme, da sie diese als unmittelbar anweisende und eben bestimmende Kraft verstehen. Der Kultivierung dieser Stimme und ihrer Wahrnehmung galten dann auch auf die Stimme fokussierte Praktiken wie das Gebet, der Sprechgesang oder 1 Vgl. Jonathan Haidt: The righteous Mind – Why good People are divided by Politics and Religion, New York 2012. 2 Vgl. Hans Reiner: [Art.] Gewissen, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie II, hg. von Joachim Ritter, Karlfried Gründer und Gottfried Gabriel, Basel/Stuttgart 1974, 574–592; Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a. M. 1995; Albert R. Jonsen und Stephen Toulmin: The Abuse of Casuistry – A History of moral Reasoning, Berkeley 1988; Josef Bordat: Das Gewissen, Bonn 2012; Gewissen – Interdisziplinäre Perspektiven auf das 18. Jahrhundert, hg. von Simon Bunke und Katerina Mihaylova, Würzburg 2015.

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das Auswendiglernen von Texten, in der die Autorität der Stimme als Garant der Ethik verfestigt wurde. Erst wo der Klang der inneren Stimme schwächer wird oder wo eine Polyphonie an Stimmen erklingt, wird das Zuhören zum Problem. Dies ist in der Auf klärung und der sogenannten Sattelzeit rund um 1800 der Fall. In der Auf klärung und ihrer zunehmend auf Autonomie ausgerichteten Subjektivität werden die innere Stimme und das Gewissen zum Inbegriff einer subjektiven Moral und weniger als Garant einer allgemeinen Ethik verstanden.3 Schließlich wurde die innere Stimme als Träger von Moral suspekt.4 Einer der Gründe für diese Kränkung lag dabei sicherlich in der Aufwertung und Erfindung des Unbewussten und des psychiatrischen Diskurses zu dieser Epoche:5 Jede innere Stimme konnte auch schlicht ein Zeichen des Wahnsinns sein, und zwar eines alltäglichen Wahnsinns, der jede und jeden treffen kann. Das von Karl Philipp Moritz herausgegebene Magazin zur Erfahrungsseelenkunde (1783– 1793) steuerte zahlreiche Fallstudien bei, in denen eine innere Stimme weder der Moral diente noch direkt die Stimme eines verführerischen Teufels zu sein schien. Doch auch in dem Fall, dass die innere Stimme in die Nähe zum Unbewussten rückt, entstand nun eine neue, mit der Moral verbundene Vorstellung, dass sich in Stimmen das verborgene eigene Wesen äußere, und zu dem Hinhören auf das eigene Selbst war man und frau geradezu moralisch verpflichtet. Vor diesem Hintergrund stellen sich mehrere Fragen. Die erste ist, wie Moralität nach einer (nie vollständigen) Abkopplung von der inneren Stimme neu konzipiert wird; diese Frage führt unter anderem zu den narrativen Praktiken des 19. Jahrhunderts, aber auch zu den Konzeptionen von Moral in der Psychologie und Pädagogik, etwa bei Friedrich Eduard Beneke.6 Die zweite Frage ist, wie die Befreiung der Stimme von der Bürde der Indienstnahme durch die Moral diese etwa in ästhetischen und erzieherischen Praktiken verändert.7 Und die dritte Frage ist, unter welchen erschwerten Bedingungen Stimmen nach wie vor als Instanz von 3 Vgl. Philipp Weber: Abgrund zwischen den Zeilen, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 94/3 (2020), 287–317; Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck – Zur Umwandlung literarischer Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990; zudem die noch unveröffentlichte Habilitationsschrift von Philipp Weber: Die Stimme des Gewissens. 4 Vgl. Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik, Darmstadt 2007; Fritz Breithaupt: Das romantische Gewissen, in: Die Aktualität der Romantik, hg. von Michael Forster und Klaus Vieweg, Berlin 2012, 205–220. Zum unscharfen Begriff der Sattelzeit vgl. Daniel Fulda: Sattelzeit – Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs, in: Sattelzeit – Historiographiegeschichtliche Revisionen, hg. von Elisabeth Décultot und Daniel Fulda, Berlin 2016, 19–38. 5 Vgl. zur Übersicht Henriett Lindner: Begriffe des Unbewussten im 19. Jahrhundert, in: Publicationes Universitatis Miskolcinensis, Sectio Philosophica 18/3 (2014), 197–207. Zur Erfindung des Unbewussten vgl. auch Peter Sloterdijk: Der Zauberbaum – Die Entstehung der Psychoanalyse im Jahre 1785, Frankfurt a. M. 1990. 6 Vgl. Friedrich Eduard Beneke: Pragmatische Psychologie oder Seelenlehre in der Anwendung auf das Leben II, Berlin 1850. 7 Vgl. Mladen Dolar: A Voice and nothing more, Cambridge 2006; Eyal Peretz: The Off-Screen – An Investigation of the Cinematic Frame, Stanford 2017.



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Moralität und Weisung fungieren können. Dieser letzten Frage gilt der vorliegende Beitrag und wird stellvertretend anhand von Johann Wolfgang Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96), also dem Prototyp des Bildungsromans, erörtert. Diese Frage führt uns zur Diskussion, wie eine Stimme ästhetisch überhöht werden kann, um als Stimme der anderen und als eine Rat gebende Stimme gehört und wahrgenommen zu werden. Die These lautet, dass Goethes Roman eine Szene der Rezeptivität entwickelt, in der äußere Stimmen, also Stimmen der anderen, als eigene Stimme wahrgenommen werden können. Wilhelm muss lernen, für die Anliegen der anderen erreichbar zu werden. II. Wilhelm Meister

Wilhelm Meisters Lehrjahre ist der Roman eines Protagonisten, der den Weisungen und dem Rat anderer nicht folgt. Wilhelm Meister ist schwer zu belehren. Die Germanistik wusste aus dieser Untugend des Romanhelden Kapital zu schlagen, indem sie über zahlreiche Jahrzehnte diskutierte, ob und wenn ja wie, wenn nein warum nicht, Wilhelm zu Bildung gelangt. Eine der impliziten Annahmen vieler Beiträge dieser Diskussion bestand dabei darin, dass es einen inneren Zustand von Wilhelm geben müsste, der seine zunehmende innere Weisheit darstellt. Der Mangel eines solchen Zustands erlaubte mehrerer Generationen von Germanist*innen, die Ideologie von Bildung bloßzustellen8 und die Paradoxie von Bildung zu erörtern.9 Mein Beitrag zu dieser Diskussion lässt sich wie folgt skizzieren: Es geht in Goethes Roman in der Tat um Lernen, aber nicht um ›Bildung‹ in dem Sinne eines inneren Zustands des Wissens oder der Meisterschaft im Leben, sondern darum, Rat annehmen zu können. Nicht Wilhelms innerer Zustand ist das Lernziel, sondern das Lernen der Belehrbarkeit: Wilhelm muss lernen zuzuhören. Dieses Zuhören hat zwei Dimensionen: Zum einen gilt das Zuhören dem Erkennen der Bedürfnisse und Befindlichkeiten der anderen. Zum anderen erlaubt das Zuhören auch das Annehmen von Rat. In einem Wort lässt sich sagen, dass Wilhelm rezeptiv werden soll. In dem Roman wird Rezeptivität dabei nicht als Ausbildung eines inneren Zustandes betrieben, sondern als ein Ausleuchten der Bedingungen, unter denen jemand rezeptiv sein kann. Wie kann jemand in die Lage gebracht werden, Stimmen zu empfangen, um die Situation von anderen zu reflektieren oder einen Ratschlag zu beherzigen?10 8 Man denke etwa an Friedrich A. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters, in: Dichtung als Sozialisationsspiel – Studien zu Goethe und Gottfried Keller, hg. von Gerhard Kaiser und Friedrich A. Kittler, Göttingen 1978, 13–124. 9 Vgl. Jochen Hörisch: Gott, Geld und Glück – Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt a. M. 1983. 10 Vgl. hierzu auch das Projekt von Michael Niehaus und Wim Peeters, Literatur als Rat­g eber zu verstehen: Rat geben – Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns, hg. von Michael Niehaus und Wim Peeters, Bielefeld 2014.

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Im Folgenden wird daher beobachtet, welche Anstrengungen in dem Roman unternommen werden, um Wilhelm dazu zu bewegen, zuzuhören und den Rat von anderen aufzunehmen. Dies geschieht mehrfach in Theaterräumen, wie in der Hamlet-Episode oder in dem Lehrbrief, den Wilhelm in Empfang nimmt. Der Roman beleuchtet in diesen Episoden nicht nur den Ort oder das Geschehen von Rezeption, sondern untersucht Bedingungen, in denen sie stattfinden kann. Beginnen wir mit dem Mangel an Rezeptivität. Hier können wir uns auf die Studie von Jane Brown stützen, die salopp feststellt, dass nahezu alle weiblichen Wesen in Wilhelms Nähe Schaden nehmen und von ihm verkannt werden.11 Browns Liste ist erhellend. Nahezu kein weibliches Wesen im Umkreis von Wilhelm kommt unbehelligt davon. Wilhelm verkennt Marianes Situation, kann nicht auf Mignon eingehen, stürzt die Gräfin ins Unglück. Manchen Frauen wie Aurelie und Theresa tritt Wilhelm eher wie eine falsche Hoffnung entgegen, tut aber wenig, um diese falsche Hoffnung aufzulösen. Betont wird damit, dass der Fokus des Romans auf Wilhelm zugleich von dessen Blindheit für andere ablenkt und dass das Lernen von Rezeptivität an Dringlichkeit gewinnt. Welche Nachrichten von anderen erreichen ihn? Wie partizipiert er am Leben der anderen? Und welchen Rat nimmt er an? Hier kommen wir zu Fragen der Stimmen, inklusive der Stimme des Gewissens. Wilhelm ist ein junger Mann ohne klares Ziel und ohne eine väterliche oder andere Autorität, die er akzeptiert. Eben diese Abwesenheit macht den Reiz des Romans aus.12 Wilhelm beginnt seine Reisen im zweiten Buch zwar zunächst mit dem väterlichen Auftrag, die Geschäftspartner des Vaters zu besuchen, doch bald verliert er diesen Auftrag aus den Augen. Ohne Autoritätsfiguren fehlt es Wilhelm an Orientierung, allerdings nicht an Reizen, die ihn anziehen. Obwohl sich keine Figur findet, die Wilhelm auf natürliche Art und Weise Rat geben könnte, gibt es keinen Mangel an Menschen, die ihn beraten wollen. Doch die Frage ist, ob ihn der gute oder schlechte Rat physisch oder mental erreicht. Die lang verzögerten Briefe seines Freundes Werner etwa haben nur den gegenteiligen Effekt, von dem was Werner beabsichtigt. Wilhelm will nicht, dass andere Menschen ihm sagen, was er tun soll, beziehungsweise reagiert auf derartigen Rat nicht kongruent. Diese Weigerung äußeren Rat zu akzeptieren ist das Kennzeichen von dem, was angefangen mit Moritz’ Anton Reiser (1785/86) ›Bildungsroman‹ genannt wird. Über die Literatur hinaus wird diese Weigerung zum Merkmal einer Epoche, 11 Vgl. Jane K. Brown: Goethe’s Allegories of Identity, Philadelphia 2014, 95–117. Ähnlich auch Martha Helfer, die beobachtet, wie der Roman männliche Selbst-Definition zur Matrix erhebt (vgl. Martha B. Helfer: Wilhelm Meister’s women, in: Goethe Yearbook 11/1 (2002), 229–254). 12 Galia Benziman spricht in diesem Sinne von Goethes Roman als einem Versuch des Widerstands gegen die Bildung und betont: »The yearning for Anti-Bildung is a stance of defense of pure art and beauty, set against the social dictum of bourgeouis pragmatism« (Galia Benziman: Goethe’s Wilhelm Meister and the refusal to grow up – The dialectics of Bildung, in: Goethe Yearbook 25 (2018), 217–237, hier 218; vgl. auch Paul Fleming: The promises of childhood – Autobiography in Goethe and Jean Paul, in: Goethe Yearbook 14/1 (2006), 27–37).



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die auf selbstbestimmtes Lernen im Horizont subjektiver Autonomie abzielt. Der Freiraum von ungesteuertem Verhalten entsteht eben dort, wo Bestimmungen und Vorschriften fehlen oder ebenso wie Rat und Weisung abgelehnt werden können.13 Die Produktivität der Weigerung besteht in dem Aushöhlen eines Freiraums, in dem selbstbestimmtes Handeln möglich wäre, doch ihre Schattenseite liegt dann darin, dass Wilhelm eigentlich wenig oder nichts lernt. Wilhelm scheint also doch des Rates bedürftig zu sein. Doch es ist unklar, wie das funktionieren könnte, da er ja vor seinen Ratgebern davonläuft. Auch wenn er von Unbekannten Rat erhält, was erstaunlich regelmäßig der Fall ist, wundert er sich, aber leistet dem Rat keine Folge. Insofern verhält er sich anders als Wolframs Parzifal, der ebenfalls durch das Leben mäandert, dabei aber durchaus versucht, dem Rat seiner Mutter oder Gurnemanz zu folgen (nur versteht er deren Rat schlicht nicht). III. Wilhelm Meisters Lehrjahre: fünftes Buch

Eine Auseinandersetzung mit der Hamlet-Inszenierung wird uns hier genauer Auskunft geben, weil das fünfte Buch ganz der Frage der Rezeptivität gewidmet ist. Bereits im ersten Kapitel, als Wilhelm bereits die Theatergruppe um Serlo kennengelernt hat, aber der Gruppe noch nicht beigetreten ist, erfahren die Leser den Grundsatz von Serlo, wie er die Rezeptivität der Menschen pflegen will14: [D]er Mensch ist so geneigt, sich mit dem Gemeinsten abzugeben, Geist und Sinne stumpfen sich so leicht gegen die Eindrücke des Schönen und Vollkommenen ab, daß man die Fähigkeit es zu empfinden, bei sich auf alle Weise erhalten sollte. […] Man sollte […] alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen.

Kunst, so die These, schärft die Fähigkeit zu empfinden, das heißt also Rezeptivi­ tät, und verhindert die Abstumpfung. Diese erste These zur Frage, wann eine Nachricht aufgenommen und rezipiert wird, wäre dementsprechend, wenn sie ästhetisch ansprechend ist: Kunst wird aufgenommen. Der Text unterminiert Serlos Aussage allerdings doppelt, insofern der Erzähler betont, dass Serlo kein Talent zur Musik habe, und durch die eine Musikdarbietung unterbrechende Todesnachricht von Wilhelms Vater. Das zweite Kapitel wartet denn mit einem anderen Versuch der Beeinflussung (und insofern also Rezeptivität) auf. Werner, Wilhelms Jugendfreund, sendet einen 13 Zur Aufwertung von ästhetischer Autonomie vgl. Jonathan M. Hess: Reconstituting the Body Politic – Enlightenment, public Culture and the Invention of aesthetic Autonomy, Detroit 1999. 14 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meister Lehrjahre – Ein Roman, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens V, hg. von Karl Richter, München 1988 [im Folgenden: Zitate nach dieser Ausgabe im Lauftext unter der Sigle MA mit Bandnummer und Seitenzahl in Klammern], 282 f.

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langen Brief, in dem er Wilhelm einen Zukunftsplan offeriert, der eine Investition des Erbes von Wilhelms Vater unter Aufsicht von Werner und Wilhelm vorsieht. »[W]ir rechnen auf dich« ist das Mantra von Werners Brief (MA V, 287). Am Ende des Briefes wird Wilhelms Aufnahme knapp aber deutlich umrissen: »So gut dieser Brief geschrieben war, und so viel ökonomische Wahrheiten er enthalten mochte, mißfiel er doch Wilhelmen auf mehr als eine Weise« (287 f.). Hier wird implizit auch dem Grundsatz von Serlo widersprochen, da Werners gute und durchaus kunstvolle Sprache nicht ans Ziel kommt. Weiter heißt es, dass Wilhelm nun »durch einen heimlichen Geist des Widerspruchs mit Heftigkeit auf die entgegen gesetzte Seite getrieben« wird (288). Kunst allein führt mithin nicht zum Ziel, dass eine Weisung angenommen wird, sondern kann im Protest zum Gegenteil führen, gerade weil der Beeinflussungsversuch registriert wird; später, z. B. in den Wahlverwandtschaften (1809) wird Goethe dies als ›Gegenteilssinn‹ beschreiben. Das Ans-Ziel-Kommen der Sprache ist im fünften Buch das zentrale Thema, das in den Dialogen, Erzählerkommentaren und Handlungen erörtert wird. Auch die materialen Aspekte der Sprache werden dabei vielfach betont. So ist die Rede von der Aufgabe, »den Schauspielern oft den Hauptpunkt einzuschärfen, daß es nämlich ihre Pflicht sei laut und vernehmlich zu sprechen« (MA V, 310 f.). Während es dem Kunstliebhaber etwas spröde erscheinen mag, dass hier der ›Hauptpunkt‹ nicht in der ästhetischen, sondern der deklamatorischen Dimension erkannt wird, so entspricht dies doch dem Programm der Lehrjahre, nämlich der Ermöglichung der Rezeption von den Stimmen der anderen. Auch wird die Frage verhandelt, ob der Aufwand, mit dem das Theaterprojekt betrieben wird, eigentlich die Anstrengung wert sei. Besonders die ephemere, flüchtige Dimension wird dabei diskutiert, da Theateraufführungen ja anders als die Werke der bildenden Kunst und Architektur oder auch der Literatur keine materialiter bleibende Natur haben. Um den Wert von zeitlich-vergänglicher Kunst zu erörtern, wird eine mysteriöse Kraft eines bleibenden psychischen Eindrucks beschworen: »Aber kein Genuß ist vorübergehend; denn der Eindruck den er zurückläßt ist bleibend, und was man mit Fleiß und Anstrengung tut, teilt dem Zuschauer selbst eine verborgene Kraft mit, von der man nicht wissen kann wie weit sie wirkt« (314 f.). Hier wird die potentiell entscheidende mentale Dimension als ›Eindruck‹ beschrieben.15 Ein Eindruck wäre die mental fortdauernde Stempelung des Geistes durch das einmal Geschehene. Zwar bleibt hier unklar, worin der Mechanismus dieser Stempelung 15 Die Konzeption des Eindrucks war in der Ästhetik, Pädagogik und der Erfahrungsseelenkunde der Epoche Gegenstand wichtiger Diskussionen, die zur Herausbildung der ersten empirischen Psychologie beigetragen haben. Gegenstand der Diskussion war dabei, durchaus im Sinne dieser Verwendung des Begriffs bei Goethe, die Möglichkeit, dass im psychischen Sensorium einmalige Sinneswahrnehmungen für immer Fortdauer erhalten würden. Diese Vorstellung wurde in einer Reihe von Metaphoriken dargestellt. So verwendet Campe das Bild eines Wachsklumpen, in dem jede Delle bleibt und Basedow das Bild einer Leinwand, die zwar immer weiter übermalt, nie aber ganz gelöscht werden kann (vgl. Fritz Breithaupt: The invention of trauma in German Romanticism, in: Critical Inquiry 32/1 (2005), 77–101).



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liegt und wie er das künftige Leben prägen kann, doch in der übergeordneten Diskussion zur Rezeptivität wird hier die Vermutung ausgedrückt, dass auch einmalige Rezeptionsakte bleibende Folgen haben. Das fünfte Buch endet denn auch mit dem Versuch der Kinder Felix und Mignon, Wilhelm bei seiner Abreise zum Zuhören zu bewegen. Felix sagt: »Höre! bringe mir einen Vater mit« (359). Und das anschließende Buch 6 verhandelt eine besondere Form der Rezeptivität, nämlich das zunehmende Hören auf die innere Stimme in den Bekenntnissen einer Schönen Seele. IV. Hamlet. Der Geist

So viel zur Skizzierung einiger Positionen, die im fünften Buch zur Rezeptivität bezogen werden. Sie markieren den Rahmen der Hamlet-Inszenierung. Der Kontext impliziert dabei eine zumindest oberflächliche Nähe des Todes von Wilhelms Vater und der Hamlet-Tragödie, die nach dem Tod des Vaters Hamlets einsetzt. In beiden Fällen findet sich der Protagonist nun auf sich gestellt und ohne die direkte väterliche Autorität, ohne reales ›Über-Ich‹.16 In beiden Fällen wird die Frage zentral, ob und wie der Protagonist nun von außen beeinflusst werden kann. William Shakespeares Stück dramatisiert die Frage der Erreichbarkeit Hamlets in dessen Ungewissheit und Zaudern. Hamlet weiß nicht, ob er der Geisterstimme trauen kann, da es sich ja auch schlicht um einen bösen Geist handeln könnte. Insofern verhandelt das Stück die Frage der Erreichbarkeit durch eine bloße Stimme. Hamlet löst seine Ungewissheit damit, dass er einen Test auf baut, der nun wiederum die Erreichbarkeit des neuen Königs, seines Onkels, und damit des Verdächtigen und vom Geist Angeklagten, auf die Probe stellt. Dies geschieht im Stück im Stück, also der Inszenierung des Todes des Priamos. Goethe betont in den Diskussionen des Stücks die Konzeption des Gewissens, welches als der »doppelte[] Endzweck« (MA V, 302) benannt wird: Erst macht der Mann, der den Tod des Priamus mit so viel eigner Rührung deklamiert, tiefen Eindruck auf den Prinzen selbst; er schärft das Gewissen des jungen schwankenden Mannes […]. Hamlet fühlt sich durch den Schauspieler beschämt, der an fremden, an fingierten Leiden so großen Teil nimmt; und der Gedanke, auf eben die Weise einen Versuch auf das Gewissen seines Stiefvaters zu machen, wird dadurch bei ihm sogleich erregt. (ebd. [Hervorh. im Original])

Goethe betont hier wiederum den ›Eindruck‹, den das Stück im Stück auf Hamlet macht, just weil Hamlet den Eindruck wahrnimmt, mit dem der Schauspieler innerhalb des Stücks im Stück die Ereignisse aufnimmt und wiedergibt. Hamlet wird von der (scheinbaren) Rezeptivität des Schauspielers angespornt, d. h. er empfindet 16 Zur Frage, ob sich Wilhelm mit Hamlet identifiziert, vgl. R. Ellis Dye: Wilhelm Meister and Hamlet, identity and difference, in: Goethe Yearbook 6/1 (1992), 67–85.

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hier also Rezeptivität zweiter Ordnung: Hamlet bemerkt, wie die Anteilnahme des Schauspielers an fremdem Leid den Effekt hat, seine eigene Anteilnahme zu erwecken; er wird rezeptiv aufgrund der Rezeptivität eines anderen. Diese Erkenntnis münzt Hamlet dann im Spiel im Spiel zu einem Angriffswissen gegenüber dem König um. Goethe beobachtet hier also Shakespeares Umgang mit Rezeptivität: Rezeptiv wird, wer die Rezeptivität anderer beobachtet, denn das ist rührend oder beschämend. Auch bei Goethe appelliert der Geist an Hamlet, seinen Vater zu rächen, und wird damit zur Figur des Gewissens. In Goethes Roman wird Hamlets grundsätzliche Unsicherheit, ob er dem Geist trauen könne, die zu seinem Zögern und Zweifeln führt,17 in eine andere Ungewissheit übersetzt. Niemand weiß während der Proben, wer während der Aufführung den Geist spielen wird, und niemand weiß, ob jemand während der Aufführung den Geist spielen wird. Stattdessen wird das Szenario einer leeren Bühne beschworen, auf der die Schauspieler ins Leere starren. An dieser Stelle wird ein mysteriöser anonymer Brief eingeschaltet: Du bist, o sonderbarer Jüngling, wir wissen es, in großer Verlegenheit. Du findest kaum Menschen zu deinem Hamlet, geschweige Geister. Dein Eifer verdient ein Wunder; Wunder können wir nicht tun, aber etwas Wunderbares soll geschehen. Hast du Vertrauen, so soll zur rechten Stunde der Geist erscheinen! Habe Mut und bleibe gefaßt! (MA V, 303)

Dieser Brief hat zunächst eine Wirkung: Man eignet sich darauf, der Frage, wer oder was den Geist spielen wird, keine große Aufmerksamkeit zu widmen. Dies hat wiederum den Effekt, dass der Geist vergessen wird. Als es dann zur Premiere vor dem Publikum kommt, ist das Erscheinen des Geistes das zentrale Moment der Vorstellung. Der Geist erscheint. Wilhelm ist »wie versteinert […]. Er starrte ihn an, holte einigemal Atem, und brachte die Anrede an den Geist so verwirrt, zerstückt und gezwungen vor, daß die größte Kunst sie nicht so trefflich hätte ausdrücken können« (MA V, 322). Er zeigt »die Verfassung eines überraschten, erschreckten, von Entsetzen ergriffenen Gemüts« (ebd.). Das Entsetzen äußert sich sowohl in seinen ungewissen Bewegungen als auch seinem Auffassungsvermögen. Wilhelm glaubt, eine Ähnlichkeit der Stimme zu der seines eigenen Vaters zu erkennen, kann sich aber nicht klar zu oder gegenüber dem Geist positionieren; er »veränderte während der langen Erzählung des Geistes seine Stellung so oft, schien so unbestimmt und verlegen, so aufmerksam und so zerstreut, daß sein Spiel eine allgemeine Bewunderung, so wie der Geist ein allgemeines Entsetzen erregte« (323 [Hervorh.: F. B.]). Wilhelm ist entsetzt und erzeugt damit beim Publikum eine große Wirkung. Später lernen die Leserinnen des Romans, dass Wilhelm kein besonders guter Schauspieler ist und dass diese Überraschungsaktion des Geistes möglicherweise notwendig war, um Wilhelms Reaktion auf der Bühne

17

Vgl. Joseph Vogl: Über das Zaudern, Zürich 2008.



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überzeugend zu machen.18 Er zeigt Schock und Entsetzen, nicht weil er spielt, sondern weil er entsetzt ist. Doch an dieser Stelle wird zunächst ein anderes Moment betont: Hamlet/ Wilhelm wird als von dem Geist erreichbar dargestellt, und diese Erreichbarkeit äußert sich im Schock und in der Ungewissheit der Positionierung Wilhelms. Die Erscheinung und Stimme des Geistes erreichen ihn, offenbar weil ungewiss ist, um wessen Stimme es sich handelt. Auch mit Wilhelms eigener Stimme geschieht etwas. Man beachte Goethes Wortwahl, dass Wilhelm ›unbestimmt‹ sei, und insofern seine eigene Linie und auch Stimme verliere. Ebenso ist seine Reaktion auf das Schauspiel eine Reaktion sowohl auf seine Rolle in einer Theateraufführung als auch auf seine Überraschung als Mensch, da er auf diese Situation nicht vorbereitet war. Dies also sind die Elemente des Höhepunkts der Aufführung, in die das fünfte Buch gipfelt: eine Stimme, die vielfach unbestimmt ist; ein Geist, der rollengemäß vollkommen erwartet und zugleich unerwartet kommt; und ein Schauspieler in der Rolle des Geistes, der Wilhelm bekannt sein muss, ihm jedoch vollkommen unbekannt erscheint und selbst in Hinsicht des Geschlechts unklar bleibt (man beachte die Betonung der angedeuteten Gesichtszüge). Eben dies sind die Elemente der Erreichbarkeit und Rezeptivität Wilhelms. Er hört die Stimme, weil sie auch wie von innen kommt; er beachtet den Geist, weil sein überraschender Auftritt erwartet war; und er ist fasziniert, weil dieser Geist jede*r und keine*r sein könnte. Bevor wir die Fäden zusammenführen, die diese unheimliche Rezeptivität in Goethes Roman kennzeichnet, muss noch eine zweite Episode des Theaterabends betont werden, die als ein Echo der Geist-Episode fungiert. Sie ist kurz, aber exorbitant. Nach der Premierenfeier hat Wilhelm eine nächtliche Besucherin, die wie der Geist unidentifiziert bleibt und mit diesem liiert ist: […] ein Geräusch das in seiner Stube hinter dem Ofen zu entstehen schien, machte ihn aufmerksam. Eben schwebte vor seiner erhitzten Phantasie das Bild des geharnischten Königs; er richtete sich auf, das Gespenst anzureden, als er sich von zarten Armen umschlungen, seinen Mund mit lebhaften Küssen verschlossen, und eine Brust an der seinigen fühlte, die er wegzustoßen nicht Mut hatte. (MA V, 328)

Die Unbekannte übermittelt die Nachricht des Geistes. Denn am Morgen findet Wilhelm den Schleier des Geistes, bestickt mit einer Nachricht (vielleicht in Anspielung auf Shakespeares Titus Andronicus (1594), in der ein Opfer, Philomena, nur durch eine gewebte Nachricht kommunizieren kann): »Zum ersten und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh!«, seine Reaktion: »Er war betroffen und wußte nicht was er sagen sollte« (ebd. [Hervorh. im Original]). Er verliert erneut seine Stimme, so dass er unbestimmt wird. Zu betonen ist hier, gerade aufgrund der großen Verschiedenheit, die Ähnlichkeit der Wirkungen des Geistes im Theater und der nächtlichen, geistähnlichen Besucherin auf Wilhelm, die in ihm ja zunächst auch eine 18 So in dem grausamen Desillusionierungskapitel, also Kapitel 5 im achten Buch (MA 5, 552), in dem zudem auch die Identität des Geistes, weitgehend, enthüllt wird.

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Erinne­r ung an den Geist Hamlets angestoßen hatte. Auch die nächtliche Besucherin überschreitet Grenzen, überrascht ihn und erweckt seine Einbildungskraft, da sie zu diesem Zeitpunkt jede und keine seiner Bekannten sein könnte.19 Und erneut wird eine Nachricht übermittelt, die er aufnimmt – und der er nach einigem Zögern auch folgt, wenn er die Truppe verlässt. Der Rat kommt an – das Zuhören erfolgt.20 V. Die Szene der Rezeptivität

Von hier können wir nun die Elemente der Szene der Rezeptivität skizzieren: die zentrale Erscheinung des Geistes findet auf einer Bühne statt, in der die Rollen fixiert sind; a) Ungewißheit über den Sender der Nachricht. Es ist unklar, wer hier erscheint: Wer ist die nächtliche Schöne? Was ist ein Geist auf der Bühne? Eine sichtbar gemachte Figur der Einbildung, eine verstorbene Person oder ein Schauspieler, der eine Rolle spielt? Es ist unbekannt, wer der Schauspieler ist; der Geist weckt verschiedene Assoziationen, wer er sei, selbst sein Geschlecht ist unklar; b) Grenzüberschreitung. Wilhelm schwankt hin und her; Grenzen werden überschritten; die Distanz zum erscheinenden Geist ist sehr nah und fern zugleich; der Geist schockiert, überrascht; das Gefühl der Präsenz ist immens, Wilhelm wird aus der einstudierten Rolle geworfen, verliert die eigene Position und Stimme; c) Übermittlung der Nachricht. Eine anweisende Nachricht wird in der Begegnung artikuliert oder zurückgelassen; d) Zweifel bleiben. Hamlet bedarf der Gewissheit; Wilhelm weiß nicht, wer der Geist war etc. Die äußere Nachricht wird durch innere Monologe des Zweifelns ersetzt; e) Akzeptanz der Nachricht. Wilhelm und auch Hamlet agieren entsprechend der Anweisung; es ist aber unklar, ob er der Anweisung folgt oder auf anderen Wegen zu seiner Entscheidung gekommen ist. In der Geist-Episode ergeht die Stimme von einem Unbekannten an Wilhelm, und er selbst verliert seine Gewissheit und die eigene Stimme. Am Ende dringt die 19 Die Identität der nächtlichen Besucherin wird erst im achten Buch gelüftet. Zuvor legte der Text nahe, dass Wilhelm auch die heranwachsende Mignon verdächtigte, was damit einem Inzest nahegekommen wäre und auf jeden Fall eine Grenzüberschreitung dargestellt hätte. Inso­ fern ist die Auflösung, es sei Philine gewesen, einerseits eine Erleichterung für Wilhelm, andererseits aber auch eine Belastung in seinem Verhältnis zu Philine. 20 Dorothea von Mücke hat durchaus in diesem Sinne vorgeschlagen, dass der Roman Wilhelm einen Weg aus dem Narzissmus anbietet, der über die Kunsterfahrung hochwertiger Werke erfolgt. In der Tat ist es zudem bemerkenswert, dass Wilhelm zu Shakespeare gelangt, weil er ohne die Folgen zu ahnen, einmal einen Rat annimmt, nämlich von Jarno, wie von Mücke ebenfalls hervorhebt (vgl. Dorothea von Mücke: Playing and Reality – The constructive powers of illusion in Goethe’s »Wilhelm Meister’s Apprenticeship«, in: Goethe’s »Wilhelm Meister’s Apprenticeship« and Philosophy, ed. by Sarah Eldridge und Allen Speigh, Oxford 2020, 214–236).



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Nachricht als Schrift zu ihm durch. Die nächtliche Verführungsepisode, welche die Übermittlung der Nachricht abschließt, hat viele dieser Szene der Rezeptivität ähnliche Elemente, findet allerdings nicht auf der Bühne, sondern in der Schlafkammer statt. Die Crux dieser Szene liegt darin, dass die natürlichen Stimmen von ihren Sprecher*innen abgelöst werden und dann solcherart zugleich zu inneren Stimmen Wilhelms werden. In der Apparatur des Theaters verliert Wilhelm die Gewissheit, ob die Stimme und Nachricht von außen oder von innen kommt. Beides ist gewissermaßen der Fall, und dergestalt wird hier, dies die These, Rezeptivität charakterisiert: Damit jemand den Rat eines anderen aufnehmen kann, muss dieser Rat komplexe Formen der Entspezifizierung durchlaufen, um nicht mehr die Stimme jemand bestimmten anderen zu werden, sondern die Stimme eines Geistes, die durchaus die eigene Stimme sein kann. Die Stimme wird zunehmend von den Sprecher*innen abgelöst, angefangen mit der Unklarheit, ob die Sprecher*innen schlicht einer Rolle folgen oder nicht. Am Ende wird die Stimme auch zur Schrift auf einem Tuch, bei dem nun vollständig unklar ist, wer der oder die Autor*in ist oder ob sie aus dem Inneren hervorgeht, insofern die Leserin seine Lektüre selbst bestimmt. Von hier aus könnten wir die Elemente der Szene der Rezeptivität genauer ins Auge fassen. Dazu gehören etwa der kleine Schock, der vom Geist (und durchaus auch von der nächtlichen Besucherin) ausgeht, weil er die Transgression, sei es auf der Bühne, sei es im Bett, begleitet. Der Schock und die Überraschung machen die Abweisung der äußeren Erscheinung schwierig (›die er wegzustoßen nicht Mut hatte‹). Neben dem Schock gehört auch Hamlets Scham zu den emotionalen Regimen, die eine Figur an andere bindet.21 Zentral ist aber vor allem, dass diese Szene der Rezeptivität auf einer Bühne stattfindet. Wer ein Theaterstück oder eine Vorführung auf einer Bühne beobachtet, hat mehr als eine Position inne. Einerseits befindet sich die Zuschauerin auf der Seite des Publikums, andererseits identifiziert sie sich aber auch mit den Figuren auf der Bühne, befindet sich also mitten unter ihnen. Das Gesehen auf der Bühne steht also einerseits vor den Zuschauer*innen, anderseits stehen die Zuschauer*innen via Identifikation und empathische Besetzung mitten im Geschehen.22 Und anders als in Erzähltexten ist das Geschehen sowohl unmittelbar präsent und zugleich doch eine Darstellung eines einstudierten Ablaufes, wie auch Friedrich Schiller in seinen Schriften zur Schaubühne betonte. Der Theaterraum verdoppelt die Zuschauer*innen und lässt sie quasi von innen und außen am Geschehen partizi-

21 Zur Rolle der Scham, Beschämungsvermeidung und dem Gewissen vgl. Burkhard MeyerSickendiek: Zur Didaktik der Beschämung im Theater der Empfindsamkeit, in: Gewissen [Anm. 2], 165–181. 22 Bereits zu Beginn des Romans äußert Wilhelm den Wunsch der Teilnahme: »Laß mich wenigstens durch die Einbildungskraft Teil an deinem vergangenen Leben nehmen! erzähle mir alles« (MA 5, 25).

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pieren. Goethe geht diesem Gedanken in Wilhelm Meisters Lehrjahren konsequent nach.23 Wilhelms Lernen findet immer wieder mittels solcher Szenen möglicher Rezeptivität statt, in der die Zuschauer*innen vor und im Geschehen stehen. Bereits zu Beginn des Romans heißt es von Wilhelm in Bezug auf das Marionettentheater: »[D]iese Rätsel beunruhigten mich um desto mehr, je mehr ich wünschte, zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich meine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu genießen« (MA V, 18 f.). Im Theater wird dieses paradoxe Zugleich von sich wechselseitig ausschließenden Positionen attraktiv24 und führt Wilhelm auch zum Theater. Doch diese Faszination des Theaters ist nicht nur paradox, sondern auch Mittel zum Zweck, weil es eben dieser Mechanismus von zugleich zwei Positionen der Beobachtung und Teilnahme (bzw. Zaubern und Bezaubern, bzw. äußerer und innerer Teilnahme) Wilhelm auch erlaubt, am Schicksal anderer teilzunehmen und am Ende des Romans seine Verfehlungen gegenüber vor allem weiblichen Personen in seinem Leben zu bereuen.25 Wer beide Positionen zugleich einnimmt, kann an anderen partizipieren, als wären sie Inkarnationen seiner selbst; äußere Stimmen werden zu inneren, geisterhaften Stimmen. Der Apparat des Theaters erlaubt es mithin, und dies ist erneut die zentrale Crux, den Widerstand gegen äußere Ratgeber*innen zu umgehen, indem sie diese verinnerlichen. Das Zuhören wird möglich, weil die Stimmen zugleich von innen und außen kommen. Erreichbarkeit wird möglich, weil die Zuschauer*innen sich wie Wilhelm vor dem Geist in einem ungewissen Hin und Her befinden. Der Bühnenraum ist die Scharnierstelle, an dem äußere zu inneren Stimmen werden können. Kurz: Ethik wird im Theater in das ästhetische Problem der Rezeptivität übersetzt, weil nur diese die Erreichbarkeit des Einzelnen gewährleisten kann: Die Stimme des Gewissens wird hörbar. Die Szene der Rezeptivität verlangt einen Apparat, der diese doppelte Positio­ nierung einer Beobachtung wie von außen und innen und ermöglicht. Dies ist die Bühne, vor der die Rezipient*innen sich qua Einfühlung in die Szene begeben und sie gleichzeitig von außen beobachten können. Dies hat den Effekt, dass die Rezipient*innen doppelt teilnehmen und die Ereignisse und Ratschlage zugleich auch wie aus ihren Inneren kommen. Insofern kennzeichnet die Bühne als kulturelle 23 In diesem Sinne glaube ich auch nicht, dass Goethe mit und in diesem Roman das Theater als Form aufgibt oder als minderwertig gegenüber dem Bild und Symbol abwertet, wie Mathias Pierholt es darstellt (»Theatre has revealed itself incapable of symbolic representation, since it is founded on lack«). Stimmen und die Heimsuchung durch das Gewissen beschäftigen Goethe weiterhin zentral wie etwa in der Szene des Pakts aus Faust (vgl. Mattias Pirholt: A symbolic-mystic monstrosity – Ideology and representation in Goethe’s »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: Goethe Yearbook 16/1 (2009), 69–99, hier 91). 24 Vgl. zu dieser Stelle und zur Positionierung Albrecht Koschorke: Identifikation und Ironie – Zur Zeitform des Erzählens in Goethes Wilhelm Meister, in: Empathie und Erzählung, hg. von Claudia Breger und Fritz Breithaupt, Freiburg i.Br. 2010, 173–185. Koschorke betont anhand der Theatralischen Sendung, wie Wilhelm an dieser Stelle eigentlich doppelt blind bleibt. 25 Vgl. erneut Brown: Goethe’s Allegories of Identity [Anm. 10].



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Technik eben diese Form der Internalisierung äußeren Geschehens, das zugleich als beobachtende Zuschauer*innen und via Identfikation als Teilnehmer*innen wahrgenommen wird. Goethe knüpft hier also durchaus an Schillers Vorstellung der Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet (1784) an, verlagert das Problem nun aber ganz auf die Teilnehmer und deren Position gegenüber den Figuren. Mit dieser doppelten Positionierung grenzt sich die Apparatur ›Theater‹ von zwei anderen Formen des Stimmverkehrs ab, nämlich der schlicht von außen kommenden Stimme wie der väterlichen Mahnung oder der Predigt eines Priesters einerseits und der bloß inneren Stimme andererseits. In beiden Formen des Stimmverkehrs bleibt die Stimme dabei nicht hinterfragbar. In einem Falle tritt die Stimme als Autorität auf; im anderen Falle erscheint die innere Stimme als Substitut der Wahrheit. Die verführerische Kraft der inneren Stimme, wenn sie sich ungehemmt ausbreiten kann, stellt Goethe denn auch in dem unmittelbar folgenden Buch von Wilhelm Meisters Lehrjahren dar, also im sechsten Buch mit den Bekenntnissen einer schönen Seele.26 Dagegen hält er eine Theorie des Gewissens, in der die Stimmen der anderen im Apparat des Theaters zu inneren Stimmen werden können, ohne aber ihr Unheimlichkeit ganz zu verlieren. Von hier aus möchte ich kurz auf eine andere und verbreitet Rezeptionslinie des Romans eingehen, die das Moment des Entsagens in den Mittelpunkt stellt. Marc Redfield hat in diesem Sinne in seiner durchaus brillanten Lektüre des Romans und der Geist-Szene vorgeschlagen, dass Wilhelm die Erfahrung des Ich-Verlusts macht, ohne allerdings aus dieser Erfahrung mehr zu lernen, als dem Theater zu entsagen.27 Die vorliegende Lektüre widerspricht diesem Ansatz nicht grundsätzlich, ergänzt aber, dass das Entsagen und der Ich-Verlust im Roman nicht Selbstzweck sind und auch nicht in Ironie oder permanenter Umdrehung münden, sondern zu 26 Die Schöne Seele, dies sei hier nur angedeutet, »kennt […] keinen Widerspruch mit sich selbst«, wie Sebastian Meixner formuliert (Sebastian Meixner: [Art.] Bekenntnisliteratur, in: Handbuch Literatur & Psychoanalyse, hg. von Frauke Berndt und Eckart Goebel, Berlin 2017, 424–444, hier 434). Die schöne Seele spricht insofern von dem »tiefe[n] Gefühl meines Rechts« (MA 5, 382), beteuert, dass »mein Gewissen und meine Unschuld« meine »sichersten Bürgen« seien (MA 5, 384). Das Gewissen kommt nur noch aus dem Inneren, wird aber nicht mehr kontrolliert und kann sie daher fehlleiten, wie die schöne Seele selbst erkennt. 27 »Wilhelm, the mildly talented amateur, however, identifies blindly with Hamlet because he is frightened by the Ghost; the aesthetic power of his performance is the result of an event over which he has no control. Identification occurs precisely where knowledge and intention are absent. It is therefore slightly misleading to say […] that Wilhelm cannot give up self-interest. His problem is not that he suffers from an excess or stubbornness of self that prevents him from acting well or judging aesthetically; rather, the opposite is the case: prefabricated roles seize him unpredictably and without encountering resistance. The actor is always an actor, but Wilhelm, experiencing ›Hamlet’s‹ fear, has no identity with which to structure this literary space: the sense of the uncanny that he feels belongs to no one and is in a sense experienced by ›no one.‹ […] this uncanny moment is precisely the site of pedagogy or Bildung. A strange, radical self-loss, which […] must be transformed into self-knowledge: the knowledge cannot intend the occurrence, or construction, of the self—in other words, that the self is not an actor« (Marc Redfield: Phantom Formations – Aesthetic Ideology and the Bildungsroman, Ithaca 1996, 76).

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einer Auffächerung des Selbst führen, die eine Öffnung für andere bewirken kann. Eben das von Redfield als naiv abgetane Moment, dass Wilhelm von Rollen ergriffen werde (»prefabricated roles seize him unpredictably and without encountering resistance« 28) macht das Theater zur Aushebelung von Widerstand attraktiv; Stimmen und Geister sind nun möglich. Andere haben eine Chance. Goethe gilt nicht als besonders moralischer Mensch oder Dichter. Doch die Hypo­ these, zu der wir hier gelangen, besteht darin, dass die Szene der Erreichbarkeit und Praxis der Rezeptivität den Knotenpunkt des Romans ausmacht, das sich in zahlreichen späteren Szenen des Romans von der Annahme seines Sohnes bis zur Akzeptanz von Liebe ausdrückt. Insofern darf hier in der Tat Goethe als ein wichtiger Denker der Ethik und Moral rehabilitiert werden. Auch Fausts Wette kann als ein ethischer Grundsatz der Erreichbarkeit gewertet werden: Würde Faust sich mit einem einzigen Augenblick zufriedengeben, also mit einem einmaligen und also einseitigen Blick auf die anderen, so wäre er nicht nur getäuscht, sondern würde diese auch verkennen.29 Es ist daher durchaus angemessen zu behaupten, dass Goethes Anliegen in der Rettung der Ethik – und zwar einer Ethik, die die Erreichbarkeit für andere ins Zentrum stellt – mit den Mitteln der Ästhetik besteht. Zur Zeit dieser kurz skizzierten Lektüre von Wilhelm Meisters Lehrjahre im Jahre 2024 sind, so wurde eingangs vorgeschlagen, Goethes Überlegungen zur Rezeptivität und Erreichbarkeit nicht obsolet. Um diese Erreichbarkeit zu befördern, mobilisiert Goethe eine komplexe Szene der möglichen Rezeptivität, die Wilhelm überrumpelt und in einer Theaterszene gefangen nimmt. Ästhetische Verfahren der Einfühlung, Empathie oder Einbildungskraft bewirken dabei eine Verdoppelung der Position gegenüber den anderen. Empathie und Gewissen werden von Goethe mithin aneinander gebunden: Nur wer zuhören kann und erreichbar ist, kann moralisch handeln. Diese Herausforderung besteht, trotz veränderter medialer Situationen, noch heute.

28 Ebd. 29 Goethe setzt sich mit dem Gewissen und den Stimmen der anderen in zahleichen Werken wie Iphigenie auf Tauris und Faust an zentraler Stelle auseinander; möglicherweise sind diese Werke, zu denen ich auch Wilhelm Meisters Lehrjahre zähle, motiviert von dieser Auseinandersetzung mit Moralität, siehe Fritz Breithaupt: Goethes Gewissen, in: Gewissen [Anm. 2], 135–148.