Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen 3851323432


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Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen
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B13(E1f ALAIN BADIOU

Ethik Versuch über das Bewusstsein des Bösen AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON JÜRGEN BRANKEL

ORIGINALTITEL: L'ETHIQUE : ESSAI SUR LA CONSCIENCE DU MAL

VERLAG TURIA + KANT

Inhalt

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Bibliographie Information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographie data is available in the internet at http://dnb.ddb.de. Edition originale: L'ethique publie dans la collection: Optiques Philosopie © HA TIER, 1993 © für das »Geständnis eines Philosophen« bei Alain Badiou (Vortrag im Cent re Georges Pompidou) © für die deutsche Ausgabe Verlag Turia + Kant, 2003

A - 1010 Wien, Schottengasse 3A/5/DG 1 [email protected] • www.turia.at ISBN 3-85132-343-2

302Ut--IIVERS!TAT LEIPZIG JNIVFR';;i-' "' :;:)iIBUOTHEI\ ZWEIG;) r rhEOLOGIE

Einführung 7 I

Existiert überhaupt der Mensch? 13

11

Existiert der Andere? 31

m

Ethik als Figur des Nihilismus 45

IV V

Ethik der Wahrheiten 59 Das Problem des Bösen 79

Anmerkungen 119 Anhang Geständnis eines Philosophen (Vortrag im Centre Georges Pompidou) 119 Interview mit Alain Badiou (Jiirgen Brankel) 147

Gewisse gelehrte Wörter, die seit Langem in den Wörterbüchern und der akademischen Prosa verschlossen sind, haben das Glück oder Unglück - etwa wie eine alte Jungfer, die sich mit ihrem Schicksal abgefunden hat und, ohne zu wissen, warum, zum Idol eines Salons wird -, plötzlich an die freie Luft der gegenwärtigen Zeit herauszutreten und in einem Plebiszit gebilligt und durch Publizität herumgereicht, gedruckt, im Fernsehen ausgestrahlt und sogar in den Regierungsreden erwähnt zu werden. Das Wort Ethik, das so sehr an seinen griechischen Ursprung oder an den Philosophieunterricht am Gymnasium erinnert und Aristoteles mit seiner Nikomachischen Ethik beschwört, ist heute im Zentrum des Rampenlichts. Ethik bedeutet im Griechischen die Suche einer guten» Weise zu sein « oder die Weisheit des Handelns. In dieser Eigenschaft ist die Ethik ein Teil der Philosophie, der die praktische Existenz der Vorstellung des Guten unterordnet. Zweifellos sind es die Stoiker, die mit größter Beharrlichkeit aus der Ethik nicht nur einen Teil, sondern die Seele selbst der philosophischen Weisheit gemacht haben. Der Weise ist derjenige, der die von ihm abhängigen Dinge von denen zu unterscheiden weiß, die nicht von ihm abhängen, und daher seinen Willen um die ersteren konzentriert und gleichmütig letztere erträgt. Übrigens wird berichtet, dass die Stoiker gewöhnlich die Philosophie mit einem Ei verglichen, dessen Schale die Logik, dessen Weiß die Physik und dessen Gelb die Ethik ist. Bei den Modernen, für die die Frage nach dem Subjekt seit Descartes zentral ist, ist Ethik ungefähr synonym mit Moralität oder - wie Kant sagen würde - mit praktischer Vernunft (im Unterschied zur theoretischen Vernunft). Es handelt sich um die Beziehungen der subjektiven Handlung und ihrer vorstellba9

ren Absichten mit einem universellen Gesetz. Die Ethik ist Prinzip des Urteils über die Praktiken eines Subjekts, sei dieses Subjekt individuell oder kollektiv. Man wird feststellen, dass Hegel eine feinsinnige Unterscheidung zwischen »Ethik« (Sittlichkeit) und »Moralität« (Moralität) trifft. Er hält das ethische Prinzip für die unmittelbare Handlung, während die Moralität die reflektierte Handlung betrifft. Er wird zum Beispiel sagen, dass »die ethische Ordnung im Wesentlichen in der unmittelbaren Entscheidung besteht«.l Die augenblickliche »Rückkehr zur Ethik« fasst das Wort augenscheinlich in einem verschwommenen Sinn auf, der aber sicherlich Kant (Ethik des Urteils) näher steht als Hegel (Ethik der Entscheidung). Tatsächlich bezeichnet das Wort Ethik heute ein Prinzip der Beziehung zu dem, »was sich ereignet«, ein ungefähres Regulieren unseres Kommentars über die historischen Situationen (Ethik der Menschenrechte), die technisch-wissenschaftlichen Situationen (Ethik des Lebewesens, Bio-Ethik), die »gesellschaftlichen« Situationen (Ethik des Zusammen-Seins), die Medien-Situationen (Ethik der Kommunikation) usw. Diese Norm der Kommentare und Meinungen stützt sich auf Institutionen und hat ihre eigene Autorität: Es gibt »nationale Ethikkommissionen«, die vom Staat ernannt worden sind. Alle Berufe hinterfragen ihre »Ethik«. Man inszeniert sogar militärische Feldzüge im Namen der »Ethik der Menschenrechte«. Angesichts der Inflation des Bezugs auf die Ethik in der Gesellschaft ist der Einsatz des gegenwärtigen Essays ein doppelter: - In einem ersten Schritt gilt es, die gen aue Natur dieses Phänomens zu untersuchen, das in der öffentli10

ehen Meinung und in den Institutionen die augenblickliche »philosophische« Haupttendenz darstellt. Es wird sich zeigen, dass es sich in Wirklichkeit um einen echten Nihilismus und eine bedrohliche Verweigerung jeden Denkens handelt. - In einem zweiten Schritt wird dieser Tendenz das Wort Ethik abgestritten und ihr ein ganz anderer Sinn verliehen werden. Statt dieses Wort mit abstrakten Kategorien (der Mensch, das Recht, der Andere ... ) zu verbinden, wird es auf Situationen bezogen werden. Statt aus ihm einen Bereich des Mitleids für Opfer zu machen, wird man aus ihm die andauernde Maxime von singulären Prozessen machen. Statt dass in diesem Begriff lediglich das gute, erhaltende Bewusstsein im Spiel wäre, wird es um das Schicksal von Wahrheiten gehen.

»Ethik« in der heute geläufigen Bedeutung des Wortes betrifft vornehmlich die »Menschenrechte« oderals Behelf - die Rechte des Lebenden. Man nimmt an, dass es ein menschliches und überall wiedererkennbares Subjekt gibt, das gewissermaßen natürliche »Rechte« besitzt: Recht aufs Überleben, nicht misshandelt zu werden, und das Recht, über »Grund«-Freiheiten zu verfügen (wie die Freiheit des Denkens, der Meinungsäußerung, der demokratischen Ernennung von Regierungen usw.). Es wird angenommen, dass diese Rechte evident sind und den Gegenstand eines breiten Konsenses ausmachen. »Ethik« besteht darin, sich mit diesen Rechten auseinander zu setzen und deren Beachtung durchzusetzen. Diese Rückkehr zur alten Doktrin der Naturrechte des Menschen ist augenscheinlich mit dem Zusammenbruch des revolutionären Marxismus und aller Formen des von ihm abhängigen progressistischen Engagements verbunden. Ohne jeden kollektiven Anhaltspunkt und nach der Enteignung einer Vorstellung vom »Sinn der Geschichte« können zahlreiche Intellektuelle nicht mehr auf eine gesellschaftliche Revolution hoffen und haben sich daher in der Politik, zusammen mit breiten Kreisen der öffentlichen Meinung, mit der Wirtschaft kapitalistischen Typs und mit der parlamentarischen Demokratie verbündet. Im Bereich der »Philosophie« haben sie die Tugenden der konstanten Ideologie ihrer Feinde von gestern wiederentdeckt: den humanitären Individualismus und die liberale Verteidigung der Rechte gegen alle Zwänge des organisierten Engagements. Statt dass sie nach einer Begrifflichkeit einer neuen Politik kollektiver Emanzipation haben sie lieber kurzum die Maximen der herkömmlichen »westlichen« Ordnung adoptiert. 15

Indem sie sich so verhalten haben, haben sie eine heftige Reaktion hinsichtlich all dessen, was die sechziger Jahre gedacht und vorgeschlagen haben, gezeigt. 1. KANN MAN VOM TOD DES MENSCHEN SPRECHEN?

Michel Foucault hatte damals einen Skandal provoziert, als er sagte, dass der als Subjekt verstandene Mensch ein historischer und konstruierter Begriff sei, der einem bestimmten Regime der Rede angehört, und keine zeitlose Evidenz, die fähig wäre, Rechte oder eine universale Ethik zu gründen. Er kündigte das Ende der Triftigkeit dieses Begriffs an, da der Redetypus, der allein ihm einen Sinn verleiht, historisch seine Gültigkeit verloren hat. Ebenso hat Louis Althusser gesagt, dass die Geschichte nicht, wie Hegel meinte, das absolute Werden des Geistes oder das Auftreten eines SubstanzSubjekts ist, sondern ein geregelter, rationaler Prozess, den er »Prozess ohne Subjekt« nannte und zu dem nur eine besondere Wissenschaft führe, nämlich der historische Materialismus. Daraus ergab sich, dass der Humanismus der Rechte und der der abstrakten Ethik nur imaginäre Konstruktionen sind Ideologien - und dass man sich auf einem Weg engagieren müsse, den er den eines »theoretischen Antihumanismus« nannte. Gleichzeitig unternahm es Jacques Lacan, die Psychoanalyse von jeder psychologischen und normativen Tendenz zu befreien. Er zeigte, dass man unbedingt das Ich [le Moi] als Figur imaginärer Einheit vom Subjekt unterscheiden müsse; dass das Subjekt keinerlei Substanz, keinerlei »Natur« habe; dass es sowohl von den kontingenten Gesetzen der Sprache I6

als auch von der immer singulären Geschichte der Gegenstände des Begehrens abhänge. Daraus folgte, dass die Auffassung der analytischen Kur als Wiedereinsetzung eines »normalen« Begehrens Hochstapelei ist und dass, noch allgemeiner, es keine Norm gibt, aus der man die Idee eines »menschlichen Subjekts«, dem die Philosophie Pflichten und Rechte vorschreiben sollte, ableiten kann. Was auf diese Weise infrage gestellt wurde, war die Idee einer natürlichen oder geistigen Identität des Menschen und infolgedessen die Grundlage einer »ethischen« Doktrin im heute üblichen Sinn: als Gesetzgebung - durch Konsens - für den Menschen im Allgemeinen, für ihre Bedürfnisse, ihr Leben und Sterben. Oder auch: als augenscheinliche und universale Abgrenzung dessen, was Böse ist, was nicht dem menschlichen Wesen zukommt. Soll das heißen, dass Foucault, Althusser und Lacan Hinnahme des Seienden, Indifferenz gegenüber dem Schicksal der Mitbürger, Zynismus anpriesen? Es ist ein weiter unten von uns aufgelöstes Paradox, aber es ist genau das Gegenteil: Alle waren auf ihre Weise aufmerksame und mutige Aktivisten einer Sache, wobei sie weit über das hinausgingen, was heute die Vertreter einer »Ethik« und der »Rechte« sind. Michel Foucault beispielsweise hatte sich auf eine besonders unerbittliche Weise für das Häftlingsproblem eingesetzt und widmete dieser Frage einen großen Teil seiner Zeit, wobei er eine sehr große Begabung als Agitator und Organisator bewies. Althusser dachte nur an eine Neudefinition einer echten Emanzipationspolitik. Lacan seinerseits war nicht nur ein »ganzer« Kliniker, so dass er den Hauptteil seines Lebens damit verbrachte, Leuten zuzuhören, sondern er betrachtete auch seinen Kampf gegen die »normativen« Richtungen der amerikanischen Psychoanalyse I7

und die erniedrigende Unterordnung des Denkens unter den american way of life als ein endgültiges Engagement; daher stimmten die organisatorischen und polemischen Probleme in seinen Augen ständig mit den theoretischen Fragen überein. Wenn die Vertreter der zeitgenössischen »ethischen« Ideologie erklären, dass die Rückkehr zum Menschen und zu seinen Rechten uns von den durch »die Ideologien« erzeugten »tödlichen Abstraktionen« befreit hat, dann halten sie alle Welt zum Besten. Wir wären froh, wenn wir heute eine ebenso standhafte Sorge um die konkreten Situationen, eine ebenso geduldige und gleichmäßige Aufmerksamkeit gegenüber der Wirklichkeit, einen ebenso weiten zeitlichen Aufwand für die teilnehmende Untersuchung bei den verschiedenartigsten und anscheinend vom gewöhnlichen Milieu der Intellektuellen entferntesten Menschen am Werk sähen wie zur Zeit zwischen 1965 und 1980, deren Zeuge wir gewesen sind. Es ist in Wirklichkeit der Beweis geliefert worden, dass die Thematik vom »Tod des Menschen« mit Rebellion, mit radikaler Unzufriedenheit über das Establishment und mit völliger Bindung an die Wirklichkeit der Situationen vereinbar ist, während das Thema der Ethik und der Menschenrechte mit dem zufriedenen Egoismus der Begüterten des Westens, mit dem Dienst für die Großmächte und mit der Werbung vereinbar ist. Das sind die Tatsachen. Um Licht in diese Tatsachen zu bringen, ist es nötig, dass wir die Grundlagen der »ethischen« Orientierung untersuchen.

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2. DIE ETHISCHEN GRUNDLAGEN DER MENSCHENRECHTE

Diese Orientierung, soweit sie sich im Korpus der klassischen Philosophie bewegt, bezieht sich ausdrücklich auf Kant. 2 Die augenblickliche Zeit ist durch eine breite »Rückkehr zu Kant« gekennzeichnet, in Wirklichkeit sind die Einzelheiten dieser Rückkehr und die verschiedenen Wege labyrinthisch. Ich habe dabei nur die »durchschnittliche« Doktrin im Auge. Was im Wesentlichen aus Kant herausgezogen wird (oder aus einem Bild von Kant oder, noch besser, aus den Theoretikern des »Naturrechts«), ist die Tatsache, dass es imperative Erfordernisse, die formal vorstellbar sind und nicht empirischen Bedenken oder situationsbezogenen Überprüfungen untergeordnet werden müssen, sind; ist die Tatsache, dass sich diese Imperative auf die Fälle einer Verletzung, eines Verbrechens oder eines Bösen beziehen; ist die Tatsache, dass man hierzu ein nationales oder internationales Recht hinzufügt, diese Fälle zu bestrafen; ist die Tatsache, dass infolgedessen die Regierungen gehalten sind, diese Imperative in ihren Gesetzgebungen zu berücksichtigen und ihnen die ganze, ihnen gebührende Wirklichkeit zu geben; ist die Tatsache, dass man andernfalls das Recht hat, sie dazu zu zwingen (Recht auf humanitäre Einmischung oder Recht auf Einmischung ins Recht). Hier wird Ethik sowohl als apriorische Fähigkeit, das Böse zu unterscheiden (denn im modernen Sprachgebrauch von Ethik ist das Böse - oder das Negative - vorrangig, da ein Konsens über das, was barbarisch ist, angenommen wird), als auch .als letztgültiges Prinzip des Urteils, insbesondere des politischen Urteils gut ist nämlich, was sich offensichtlich einem apriori 19

identifizierbaren Bösen widersetzt - verstanden. Das Recht selbst ist zunächst das Recht »gegen« das Böse. Wenn der »Rechtsstaat« notwendig ist, dann, weil er allein einen Platz für die Identifizierung des Bösen einräumt (es ist die »Meinungsfreiheit«, die, in der ethischen Vision, zunächst Freiheit, das Böse zu bezeichnen, ist) und weil er die Mittel zur Urteilsfindung anbietet, wenn die Sachlage nicht klar ist (Apparat der juridischen Vorsichtsmaßnahmen). Die Voraussetzungen des Kerns dieser Überzeugungen sind klar: 1. Ein allgemeines menschliches Subjekt wird vorausgesetzt, dieses Subjekt ist so beschaffen, dass das, was ihm an Bösem zustößt, universal identifizierbar ist (obgleich diese Universalität oft mit einem völlig paradoxen Namen als »öffentliche Meinung« bezeichnet wird), derart dass dieses Subjekt zugleich ein passives oder pathetisches oder reflektierendes ist: ein leidendes Subjekt und ein urteilendes oder aktives oder bestimmendes Subjekt; ein Subjekt, das, indem es das Leiden identifiziert, weiß, dass es letzteres durch alle verfügbaren Mittel zum Schweigen bringen muss. 2. Die Politik ist der Ethik untergeordnet, jedenfalls, wenn man sie vom einzig in dieser Sache wirklich wichtigen Standpunkt aus betrachtet: das mitfühlende und empörte Urteil des Zuschauers der Begebenheiten. 3. Das Böse ist das, was dem Guten den Platz zuweist, und nicht umgekehrt. 4. Die »Menschenrechte« sind Rechte zum Nicht-Bösen: weder beleidigt noch verletzt werden an seinem Leben (Grauen vor dem Mord und der Hinrichtung), noch am Körper (Grauen vor der Folter, vor den Misshandlungen und vor der Hungersnot), noch in seiner

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kulturellen Identität (Grauen vor der Erniedrigung der Frauen, der Minderheiten usw.). Die Macht dieser Lehre besteht bei erster Annäherung in ihrer Evidenz. In der Tat weiß man aus Erfahrung, dass das Leiden nicht verborgen werden kann. Schon die Theoretiker des 18. Jahrhunderts hatten aus dem Mitleid - aus der Identifikation mit dem Leiden des Lebewesens - die wichtigste Triebfeder für die Beziehung zum Anderen gemacht. Dass die Verderbtheit, die Gleichgültigkeit oder die Grausamkeit der politischen Führer die Hauptgründe für ihren Verruf waren, das wussten bereits die griechischen Theoretiker der Tyrannis. Dass es leichter ist, über das Böse einen Konsens zu erzielen, als über das Gute, das haben die Kirchen erfahren: Es war für sie immer leichter, anzugeben, was man nicht machen durfte, ja dass man sich mit der Enthaltung abfinden solle, als auszumachen, was zu tun sei. Darüber hinaus ist es gewiss, dass jede ihres Namens würdige Politik bei den Vorstellungen beginnt, die sich die Leute über ihr Leben und über ihre Rechte machen. Man könnte also sagen, dass dies ein Korpus von Selbstverständlichkeiten ist, das einen planetarischen Konsens herstellen und sich die Kraft zu seiner Durchsetzung verschaffen kann. Und dennoch muss man die These aufstellen, dass dies falsch ist, dass diese »Ethik« unzusammenhängend ist und dass die ganz offen sich zeigende Wirklichkeit die Entfesselung der Egoismen, das Verschwinden oder die äußerste Unsicherheit der emanzipatorischen Politik, die Vervielfältigung der »ethnischen« Gewaltsamkeiten und die Universalität der wildwüchsigen Konkurrenz ist.

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3. IST DER MENSCH EIN LEBENDES TIER ODER UNSTERBLICHE EINZIGARTIGKEIT7

Im Zentrum der Frage befindet sich die Annahme eines universellen menschlichen Subjekts, das fähig wäre, die Ethik den Menschenrechten und den humanitären Akten unterzuordnen. Wir haben gesehen, wie die Ethik die Identifizierung dieses Subjekt unter die universelle Anerkennung des ihm bereiteten Bösen unterordnet. Die Ethik definiert also den Menschen als Opfer. Man wird einwenden: »Aber nein! Sie vergessen das aktive Subjekt, das Subjekt, das gegen die Barbarei antritt!« Seien wir in der Tat genau: Der Mensch ist das, was sich selbst als Opfer wiederzuerkennen vermag. Diese Definition muss man als unannehmbar erklären. Und das aus drei Hauptgründen. 1) Zunächst, weil der Zustand als Opfer, als leidendes Tier, als abgezehrter Sterbender den Menschen mit seiner animalischen Struktur, mit seiner ganz einfachen Identität als Lebendigem assimiliert (das Leben, sagt Bichat3, ist nur »die Gesamtheit der Funktionen, die dem Tod Widerstand leisten«). Gewiss, die Menschheit ist eine tierische Gattung. Sie ist sterblich und lebt vom Beutezug. Aber keine von diesen beiden Charakteristiken vermag sie in der Welt der Lebewesen als Singularität hervorzuheben. Als Henker ist der Mensch die tiefste Erniedrigung eines Tiers, aber man muss den Mut haben, um zu sagen, dass er als Opfer im Allgemeinen nicht besser ist. Alle Berichte von Gefolterten 4 und ehemaligen Konzentrationslagerhäftlingen zeigen deutlich: Wenn die Henker und Bürokraten der Kerker und Lager ihre Opfer wie dem Schlachthof bestimmte Tiere behan22

deln können, mit denen sie, die gut ernährten Kriminellen, nichts Gemeinsames haben, so liegt der Grund dafür darin, dass die Opfer geradezu zu solchen Tieren geworden sind. Es ist alles Nötige dafür gemacht worden. Dass einige jedoch noch Menschen sind und es zur Schau stellen, ist eine bewiesene Tatsache. Aber dies ereignet sich geradezu durch eine unerhörte Anstrengung dessen in ihnen, was nicht mit einer Opferidentität zusammenfällt, Anstrengung, die ihre Zeugen zu einer leuchtenden Anerkennung erweckt und die diese Zeugen wie einen fast unverständlichen Widerstand begrüßen. Dies ist der Mensch, wenn man es recht bedenken will: nämlich durch die Tatsache, wie Varlam Chalamov in seinen Ricits de la vie des camps5 sagt, dass es sich um ein Tier handelt, das anders als die Pferde nicht mit seinem hinfälligen Körper Widerstand leistet, sondern durch seinen Starrsinn, zu bleiben, was er ist, also eben etwas anderes als ein Opfer, etwas anderes als ein Sein-für-den-Tod und also etwas anderes als ein Sterblicher. Ein Unsterblicher ist der Mensch: Dies beweisen die schlimmsten Situationen, die ihm auferlegt werden können, jedenfalls, wenn er sich in der vielgestaltigen und habgierigen Lebensflut vereinzelt. Um überhaupt etwas über den Menschen zu denken, muss man von diesem Ausgangspunkt anfangen zu denken. Derart dass, wenn es »Menschenrechte« gibt, es sicherlich nicht Rechte auf das Leben gegenüber dem Tod oder Rechte des Überlebens gegenüber dem Elend sind. Es sind die Rechte des Unsterblichen, die sich für sich selbst behaupten, oder die Rechte des Unendlichen, die ihre Souveränität über die Kontingenz des Leidens und des Todes ausüben. Dass wir letztendlich alle sterben und nur Staub übrig bleibt, ändert nichts an der Identität des Menschen als Unsterblichen in dem Augenblick, in dem er entgegen 23

dem Tier-Sein-Wollen, dem er durch die Umstände ·ausgesetzt ist, das bejaht, was er ist. Und jeder Mensch ist unvorhergesehenerweise, man weiß es, fähig, dieser Unsterbliche in großen oder kleinen Umständen für eine - ganz gleich wie - bedeutende oder unbedeutende Wahrheit zu sein. In allen Fällen ist die Subjektivierung unsterblich und macht den Menschen aus. Außerhalb dieser Tatsache gibt es eine biologische Art, einen »Zweifüßler ohne Federn«, dessen Charme nicht offensichtlich ist. Wenn man nicht von hier aus anfängt (was ganz einfach so ausgedrückt wird: der Mensch denkt, der Mensch ist aus einigen Wahrheiten gewebt), wenn man den Menschen mit seiner bloßen Wirklichkeit als Lebenden identifiziert, kommt man unvermeidlich beim wirklich Gegenteiligen dessen an, was dies Prinzip anzuzeigen scheint. Denn dieser »Lebende« ist in Wirklichkeit verächtlich, und man wird ihn verachten. Wer sieht nicht, dass in den humanitären Expeditionen, den Einmischungen, den karitativen Landungs truppen das angenommene universelle Subjekt gespalten ist? Auf der Seite der Opfer ist es das verstörte Tier, das man auf dem Bildschirm zeigt. Auf der Seite des Wohltäters sind es das Gewissen und der Imperativ. Und warum bringt diese Spaltung immer dieselben in dieselben Rollen? Wer spürt nicht, dass diese zum Elend der Welt sich neigende Ethik hinter ihrem Opfer-Menschen den Guten-Menschen, den Weißen-Menschen verbirgt? Da die Barbarei dieser Situation nur in Begriffen der »Menschenrechte« gedacht wird - während es sich immer um eine politische Lage handelt, die ein politisches Praxis-Denken erfordert und für die immer authentische Akteure zur Stelle sind -, wird sie vom erhabenen Standpunkt unseres scheinbaren zivilen Friedens als Unzivilisiertsein angesehen, das vom Zivilisierten eine zivilisierende 24

Intervention erheischt. Nun, jede Intervention im Namen der Zivilisation erheischt eine vorgängige Verachtung für die ganze Situation, einschließlich der Opfer. Und daher ist die »Ethik« zeitgenössisch, nach Jahrzehnten mutiger Kritik am Kolonialismus und Imperialismus, der schmutzigen Selbstbefriedigung der »Bewohner des Westens«, der eingehämmerten These, wonach das Elend der Dritten Welt das Ergebnis ihrer Unerfahrenheit, ihrer eigenen Eitelkeit, kurz ihres Untermenschentums sei. 2) Weil zweitens, wenn der ethische »Konsens« sich auf dem Anerkennen des Bösen gründet, daraus resultiert, dass jeder Versuch, die Menschen um eine positive Idee des Guten herum zu versammeln, und noch mehr, den Men,schen durch ein solches Projekt zu identifizieren, in Wirklichkeit die wahre Quelle des Bösen selbst ist. Dies trichtert man uns nunmehr seit fünfzehn Jahren ein: jedes Projekt einer Revolution, das als »utopisch« bezeichnet wird, endet - sagt man uns - in einem totalitären Alp. Jede Willensabsicht, eine Gerechtigkeits- oder Gleichheitsidee in die Wirklichkeit umzusetzen, endet beim Schlimmsten. 6 Jeder kollektive Willen zum Guten macht das Böse. Nun, solch eine Sophistik ist verheerend. Denn wenn es sich nur darum handelt, gegenüber einem apriorisch anerkannten Bösen das ethische Engagement für gültig zu erklären, wie erklärt es sich dann, dass man überhaupt eine Transformation dessen, was ist, ins Auge fasst? Wo wird der Mensch die Kraft schöpfen, der Unsterbliche zu sein, der er eigentlich ist? Welches wird das Schicksal des Denkens sein, von dem man wohl weiß, dass es bejahende Erfindung ist oder dass es gar nicht ist. In Wirklichkeit ist der von der Ethik bezahlte Preis ßin zäher Konservativismus. Die ethische Auffassung vom Menschen ist nicht nur letzten Endes entweder biologisch (Bilder 25

von den Opfern) oder »westlich« (Zufriedenheit des bewaffneten Wohltäters), sondern sie untersagt jede breite positive Sicht der Möglichkeiten. Was uns hier angepriesen wird und was die Ethik legitimiert, ist in Wirklichkeit die Erhaltung seines Besitzes durch den vorgeblichen "Westen«. Mit diesem Besitz als Grundlage (materieller Besitz, aber auch Besitz seines Seins) bestimmt die Ethik das Base als gewissermaßen das, wovon sie nicht den Nießbrauch hat. Nun, der Mensch erhält sich als Unsterblicher vom Unberechenbaren und vom Unbeherrschten. Er erhält sich durch das Nicht-Seiende. Den Anspruch zu erheben, dass man ihm untersagt, sich das Gute vorzustellen, seine kollektiven Kräfte ihm unterzuordnen, an der Heraufkunft von ungeahnten Möglichen zu arbeiten und das, was sein kann, als radikalen Buch mit dem, was ist, zu denken, das bedeutet, ihm ganz einfach die Menschheit selbst zu untersagen. 3) Schließlich macht es die Ethik durch ihre negative und apriorische Bestimmung des Bösen unmöglich, die Einzigartigkeit der Situationen zu denken, was der notwendige Anfang aller recht eigentlich menschlichen Handlung ist. So wird der Arzt, der sich der »ethischen« Ideologie verbunden weiß, in Versammlungen und Kommissionen alle Arten von Betrachtungen aussinnen über die »Kranken«, die genauso beurteilt werden, wie die undeutliche Masse der Opfer durch den Parteigänger der Menschenrechte: »menschliche« Totalität von wirklichen Untermenschen. Aber derselbe Arzt wird keine Unschicklichkeit darin sehen, dass diese Person nicht im Krankenhaus mit allen notwendigen Mitteln behandelt wird, weil sie keine Papiere oder keine Sozialversicherung besitzt. Noch einmal: »Kollektive« Verantwortlichkeit verpflichtet! Was dabei zu kurz kommt, ist, dass es nur eine einzige ärztliche Situation gibt,

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nämlich die klinische Situation/ und dass man keinerlei »Ethik« benötigt (sondern nur ein klares Verständnis dieser Situation), um zu wissen, dass unter diesen Umständen der Arzt nur Arzt ist, wenn er die Situation unter Beachtung der Regel des maximal Möglichen angeht: nämlich diese Person, die ihn darum bittet (also handelt es sich hier nicht um ein Einmischen), bis zum Ende zu behandeln, mit allen ihm bekannten Mitteln und ohne irgendetwas Anderes zu berücksichtigen. Und wenn man ihm aus Gründen des staatlichen Budgets, der Sterblichkeitsstatistik oder der Gesetze über die Zuwanderungen verbieten will, ihn zu behandeln, dann möge man ihn der Polizei übergeben! Selbst dann wäre seine strikte hippokratische Pflicht, ihnen mit Gewalt gegenüberzutreten. Die »Ethikkommissionen « und das sonstige Geschwätz über die »Kosten der Gesundheit« und die »Verantwortung der Verwaltung« haben überhaupt nichts mit der eigentlich ärztlichen Situation zu tun und können daher in Wirklichkeit gar nicht anders, als die Treue zum Arztsein zu verbieten. Denn dieser Situation treu sein, würde bedeuten, alle ärztlichen Konsequenzen aus dieser Situation möglichst zu . ziehen. Oder, wenn man so will, im Rahmen des Möglichen das Wirklichkeit werden zu lassen, was diese Situation an bejahender Humanität enthält, das heißt: zu versuchen, der Unsterbliche dieser Situation zu werden. In der Tat braucht die bürokratische Medizin, die der ethischen Ideologie untergeordnet ist, »die Kranken« als unterschiedslose oder statistische Opfer, aber sie kommt rasch in jeder effektiven und einzigartigen Situation bei Bedarf ins Gedränge. Daher beschränkt sich die »ethische«, »verantwortliche« und »verwaltete« Medizin auf die verwerfliche Haltung, zu entscheiden, welche Kranken das »französische

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Gesundheitssystem« behandeln kann und welche es zum Sterben in die Vororte von Kinshasa zurückschicken soll, weil es das Budget und die öffentliche Meinung fordern.

4. EINIGE PRINZIPIEN

Man muss das ideologische Programm der »Ethik« verwerfen und nichts der negativen und opferbezogenen Definition des Menschen zugestehen. Dieses Programm identifiziert den Menschen mit einem bloßen sterblichen Tier, es ist das Symptom eines beunruhigenden Konservativismus und untersagt durch seine abstrakte und statistische Allgemeinheit, die Besonderheit der Situationen zu denken. Diesem Programm stellen wir drei Thesen gegenüber: - These 1 : Der Mensch erhält seine Identität durch sein bejahendes Denken, durch die einzigartigen Wahrheiten, die er erlangen kann, durch den Unsterblichen, der aus ihm das widerständischste und paradoxeste aller Tiere machen kaim. - These 2 : Man bestimmt das Böse durch die positive Fähigkeit zum Guten, also zur grenzüberschreitenden Handhabung der Möglichkeiten und zur Verweigerung des Konservativismus, auch wenn dieser die Erhaltung des Seins wäre - und nicht umgekehrt. - These 3 : Die Menschheit überhaupt hat ihre Wurzeln in einer gedanklichen Identifizierung mit einzigartigen Situationen. Es gibt keine Ethik im Allgemeinen. Es gibt - möglicherweise - nur eine Ethik der Prozesse, durch die man die Möglichkeiten einer Situation behandelt. Aber dann tritt der Mensch der verfeinerten Ethik auf den Plan und murmelt: »Falsch! Von Anfang an 28

falsch. Die Ethik begründet sich keineswegs auf der Identität des Subjekts, nicht einmal seine Identität als anerkanntes Opfer. Von Anfang an ist Ethik eine Ethik des Anderen, ist sie prinzipielle Öffnung zum Anderen, ordnet sie die Identität der Differenz unter.« Prüfen wir diesen Weg. Messen wir seine Neuheit aus.

Der Ausgangspunkt der Auffassung von Ethik als »Ethik des Anderen« oder »Ethik der Differenz« liegt eher bei den Thesen von Emmanuel U!vinas als bei den Thesen Kants. Nachdem Levinas sich mit der Phänomenologie beschäftigt hatte (beispielhafte Gegenüberstellung von Husserl und Heidegger), widmete er sein Werk der Absetzung der Philosophie zu Gunsten der Ethik. Ihm verdanken wir eine Art von ethischem Radikalismus, lange bevor dieser Mode wurde. 8

1. DIE ETHIK IM SINNE VON LEVINAS

Schematisch gesehen stellt Levinas die These auf, dass die Metaphysik ihrem griechischen Ursprung verhaftet ist und daher das Denken der Logik des Selbst dem Primat der Substanz und der Identität untergeordnet hat. Aber es ist ihm zufolge unmöglich, authentisch den Anderen zu denken (und also eine Ethik der Verbindung mit dem Anderen), wenn man vom Despotismus des Selbst ausgeht, das unfähig ist, diesen Anderen anzuerkennen. Die Dialektik des Selbst und des Anderen, die »ontologisch« unter das Primat der Identität-mit-sich aufgefasst wird, organisiert die Abwesenheit des Anderen im effektiven Denken, unterdrückt alle echte Erfahrung des Anderen und verstellt den Weg einer ethischen Öffnung zur Andersheit. Man muss also umschwenken und einen anderen Ursprung für das Denken suchen, einen nicht griechischen Ursprung, der eine radikale und erste Öffnung zum Anderen, die ontologisch der Konstruktion der Identität vorangeht, vorschlägt. In der jüdischen Tradition findet Levinas den Stützpunkt für ein solches Umschwenken. Was das Gesetz (im zugleich unvordenklichen und effektiven Sinn, 33

den das jüdische Gesetz annimmt) benennt, ist eben die Vorgängigkeit der Ethik der Beziehung zum Anderen vor dem theoretischen Denken, das seinerseits als »objektive« Ortung der Regularitäten und Identitäten aufgefasst wird, eine Vorgängigkeit, die im Sein-vor-dem-Selbst begründet ist. In der Tat sagt mir das Gesetz nicht, was ist, sondern was die Existenz der Anderen mir auferlegt. Man könnte das Gesetz (des Anderen) den Gesetzen (des Wirklichen) gegenüberstellen. Für das griechische Denken setzt das angemessene Handeln zunächst eine theoretische Beherrschung der Erfahrung voraus, damit die Handlung mit der Rationalität des Seins konform geht. Im Ausgang hiervon gibt es einige Gesetze (des lois) der Polis und der Handlung. Für die jüdische Ethik im Sinne Levinas' ist alles in der Unmittelbarkeit einer Öffnung zum Anderen, der das reflexive Subjekt absetzt, verwurzelt. Das »Du« übertrifft das »Ich«. Und das ist der ganze Sinn des Gesetzes (de la Loi). Levinas schlägt eine ganze Reihe von phänomenologischen Themen vor, in denen die Originalität des Anderen erprobt wird und in deren Zentrum sich das Antlitz, die einzigartige und »persönliche« Schenkung des Anderen durch seine fleischliche Epiphanie befindet, welch letztere nicht das Zeugnis einer mimetischen Anerkennung (der Andere als der »Ähnliche«, der mir identisch wäre), sondern im Gegenteil das ist, was mir das Gefühl gibt, dass ich ethisch dem Anderen als Erscheinen »verschrieben« und in meinem Sein dieser Berufung untergeordnet bin. Ethik ist für Levinas der neue Name des Denkens, des Denkens, das sein Verhaftetsein an die »Logik« (das Identitätsprinzip) zur prophetischen Unterwerfung unter das Gesetz der grundlegenden Andersheit umgeschwenkt hat. 34

2. DIE "ETHIK DER DIFFERENZ«

Bewusst oder unbewusst erklärt man uns heute im Namen dieses Programms, dass Ethik »Anerkennung des Anderen« (gegen den Rassismus, der diesen Anderen verleugnete) oder »Ethik der Verschiedenheiten« (gegen den substanzialistischen Nationalismus, der die Ausschließung der Einwanderer, oder gegen den Sexismus, der das Weiblich-Sein verleugnete) oder »Multikulturalismus« (gegen das Vorschreiben eines einheitlichen Modells von Verhalten und Intellektualität) ist. Oder ganz einfach, dass sie die gute alte »Toleranz« ist, die darin besteht, keinen Anstoß dar an zu nehmen, dass Andere anders denken und handeln als wir. Dieser mit Mutterwitz geführte Diskurs hat weder Kraft noch Wahrheit. Er wird von vornherein in dem Wettstreit besiegt, den er zwischen »Toleranz« und »Fanatismus«, zwischen »Ethik der Verschiedenheit« und »Rassismus«, zwischen »Anerkennung des Anderen« und »Verkrampfung in der Identität« ausruft. Zur Ehre der Philosophie muss gesagt werden, dass es zuallererst notwendig ist, darin übereinzukommen, dass diese Ideologie des »Rechts auf Verschiedenheit« oder dieser zeitgenössische Katechismus des guten Willens gegenüber den »anderen Kulturen« besonders weit von Levinas' wirklichen Auffassungen entfernt sind.

3. VOM ANDEREN ZUM GANZ-ANDEREN

Der Hauptvorwurf, der aber aqch oberflächlich ist, den man der Ethik (im Sinne von Levinas) machen könnte, ist der folgende: Was bestätigt als wahr die 35

Originalität meiner Selbstlosigkeit gegenüber dem Anderen? Die phänomenologischen Analysen des Antlitzes, der Zärtlichkeit und der Liebe reichen nicht aus, um allein die anti-ontologische (oder antiidentitätsbezogene) These des Autors von Totalite et infini zu begründen. Eine »mimetische« Auffassung, die auch der Ursprung für den Zugang zum Anderen in meinem eigenen verdoppelten Bild ist, erhellt zugleich, was es an Vergessen seiner selbst im Zugriff auf den Anderen gibt: Was ich lieb habe, ist dieses Ich-selbst-auf-Distanz, das, gerade weil es für mein Bewusstsein »objektiviert« ist, mich als feste Gegebenheit konstruiert, als in ihrer Äußerlichkeit gegebene Innerlichkeit. Die Psychoanalyse erklärt glänzend, wie diese Konstruktion des Ich durch die Identifizierung mit dem Anderen - dieser Spiegeleffekt9 Narzissmus (ich gefalle mir in der Äußerlichkeit des Anderen als mir selbst sichtbares Ich-selbst) und Aggressivität (ich investiere in den Anderen meinen eigenen Todestrieb, mein archaisches Begehren nach Selbstzerstörung) kombiniert. Damit sind wir jedoch ganz weit von dem entfernt, was uns U!vinas überliefern will. Wie immer kann die reine Analyse des phänomenalen Erscheinens nicht zwischen divergierenden Orientierungen eine Entscheidung herbeiführen. Darüber hinaus bedarf man Axiome des Denkens, die eine Orientierung entscheiden. Die Schwierigkeit, die auch in der Anwendung solcher Axiome liegt, kann folgendermaßen ausgedrückt werden: das ethische Primat des Anderen im Verhältnis zum Selben erfordert, dass die Erfahrung der Andersheit ontologisch als Erfahrung einer Distanz oder einer wesentlichen Nicht-Identität garantiert ist; das Überschreiten dieser Distanz oder NichtIdentität ist die ethische Erfahrung selbst. Nun, 36

nichts in dem einfachen Phänomen des Anderen enthält eine solche Garantie. Und dies ganz einfach deshalb, weil es gewiss ist, dass die Endlichkeit, mit der der Andere erscheint, als Ähnlichkeit oder als Nachahmung besetzt wird und so zur Logik des Selben zurückführen kann. Der Andere ähnelt mir immer zu sehr, als dass die Hypothese einer ursprünglichen Öffnung zu seiner Andersheit notwendig wäre. Es ist also nötig, dass das Phänomen des Anderen (sein Antlitz) das Zeugnis einer radikalen Andersheit ist, die das Phänomen allein jedoch nicht enthält. Es ist nötig, dass der Andere so, wie er mir im Endlichen erscheint, die Epiphanie einer recht eigentlich unendlichen Entfernung zum Anderen ist, deren Durchlaufen 10 die ursprüngliche ethische Erfahrung ist. Dies will besagen, dass die Verständlichkeit der Ethik es erfordert, dass der Andere irgendwie von einem Prinzip der Andersheit getragen wird und dieses Prinzip die einfache endliche Erfahrung transzendiert. Levinas nennt dieses Prinzip den "Ganz-Anderen«, und es ist ganz offensichtlich der ethische Name Gottes. Es gibt nur insofern einen Anderen, als er das unmittelbare Phänomen des Ganz-Anderen ist. Es gibt nur insofern die endliche Selbstlosigkeit gegenüber dem Nicht-Identischen, als es die unendliche Selbstlosigkeit des Prinzips gegenüber dem, was außerhalb dieses Prinzips zu Grunde liegt, gibt. Es gibt nur insofern Ethik, als es den unsagbaren Gott gibt. In Levinas' Art zu denken ist das Primat der Ethik des Anderen im Verhältnis zur theoretischen Ontologie des SeI ben völlig mit einem religiösen Axiom verbunden, und es wäre eine Verletzung der inneren Bewegung dieses Denkens und ihrer subjektiven Strenge, wenn man glauben wollte, dass man das trennen könne, was dies Denken vereint. Letztlich gibt es 37

keine Levinas'sche Philosophie. Es handelt sich nicht einmal mehr um die Philosophie als »Magd« der Theologie: Es ist Philosophie (im griechischen Sinn des Wortes), die durch die Theologie annulliert worden ist, welch letztere übrigens keine Theo-Iogie ist, was eine noch allzu griechische Bezeichnung wäre, die die Annäherung ans Göttliche durch die Identität und durch die Prädikate Gottes voraussetzt, sondern eben eine Ethik. Die Tatsache jedoch, dass Ethik der letzte Name des Religiösen als solchen (dessen, was mit dem Anderen unter der unsäglichen Autorität des Ganz-Anderen wieder verbindet) ist, entfernt sie noch vollständiger von allem, was sich unter dem Namen »Philosophie« vorstellen lässt. Sagen wir es geradeheraus: Woran uns Levinas' Art zu denken mit einer einzigartigen Hartnäckigkeit gemahnt, ist, dass jeder Versuch, aus Ethik das Prinzip des Denkbaren und des Handeins zu machen, im Wesen religiös ist. Sagen wir, dass Levinas der kohärente und erfinderische Denker einer Gegebenheit ist, welche keinerlei akademische Übung der Verschleierung oder der Abstraktion in Vergessenheit bringen kann: Nachdem die Ethik ihre griechische Umgebung verlassen hat (in der sie klar dem Theoretischen untergeordnet ist) und wenn man sie im Allgemeinen betrachtet, ist sie eine Kategorie des frommen Diskurses.

4. ETHIK ALS ZERLEGTE RELIGION (COMME RELIGION DECOMPOSEE)

Was muss aus dieser Kategorie werden, wenn man vorgibt, ihren religiösen Wert zu unterdrücken oder zu maskieren, obgleich man das abstrakte Programm 38

ihrer offenbaren Konstitution (wie die »Anerkennung des Anderen« usw.) beibehält? Die Antwort ist klar: Es wird ein Katzenfraß. Nämlich ein frommer Diskurs ohne Frömmigkeit, ein seelischer Zuschuss für unfähige Regierungen, für kulturelle Soziologie, die wegen der Bedürfnisse des Predigens den verstorbenen Klassenkampf ersetzt. Wir werden erstmalig zweifeln, wenn wir bedenken, dass die öffentlich bekannten Apostel der Ethik und des »Rechts auf Verschiedenheit« sichtlich über jede ein bisschen stärkere Verschiedenheit entsetzt sind. Denn für sie sind die afrikanischen Sitten barbarisch, die islamischen schrecklich, die Chinesen totalitär und so weiter. In Wahrheit kann dieser berühmte »Andere« nur präsentiert werden, wenn er ein guter Anderer ist; also was sonst, als derselbe wie wir? Sicherlich hat man Achtung vor den Verschiedenheiten! Aber unter dem Vorbehalt, dass der Verschiedenartige ein parlamentarischer Demokrat ist, ein Parteigänger der Marktwirtschaft, eine Stütze der Meinungsfreiheit, ein Feminist, ein Ökologe usw. Dies kann auch so ausgedrückt werden: Ich respektiere die Verschiedenheiten, jedoch nur solange, wie das Verschiedene genauso wie ich die genannten Verschiedenheiten respektiert. Ebenso, wie »es keine Freiheit für die Feinde der Freiheit gibt«, ebenso gibt es keine Achtung desjenigen, dessen Verschiedenheit gerade darin besteht, nicht die Verschiedenheiten zu respektieren. Man braucht sich nur die zwanghafte Gereiztheit der Parteigänger der Ethik gegenüber allem, was einem »fundamentalistischen« Muslim ähnelt, vorzustellen. Das Problem besteht darin, dass der »Respekt der Verschiedenheiten«, die Ethik der Menschenrechte sehr wohl eine Identität zu definieren scheinen! Und dass also der Respekt der Verschiedenheiten nur 39

dann Anwendung findet, wenn diese in einem vernünftigen Maße von derselben Art wie diese Identität sind (welch letztere alles in allem nur diejenige des reichen, aber sichtlich niedergehenden »Westens« ist). Selbst die Einwanderer in dieses Land [Frankreich] sind in den Augen des Parteigängers der Ethik nur dann auf angemessene Weise verschieden, wenn sie »integriert« sind, wenn sie die Integration wollen (was, wenn man näher hinsieht, zu bedeuten scheint: wenn sie ihre Verschiedenheit unterdrücken wollen). Es ist gut möglich, dass die ethische Ideologie, wenn sie von der religiösen Predigt, die ihr wenigstens die Weite einer »geoffenbarten« Identität verlieh, losgelöst wird, nichts anderes als das letzte Wort des erobernden Kulturmenschen (du civilise conquerant) ist: »Werde wie ich, und ich werde deine Verschiedenheit respektieren.«

5.

ROCKKEHR ZUM SELBEN

In Wahrheit muss auf dem Gebiet eines areligiösen und wirklich den Wahrheiten unserer Zeit entsprechenden Denkens alles ethische Predigen über den Anderen und seine »Anerkennung« ganz einfach aufgegeben werden. Denn die wahre, außerordentlich schwierige Frage ist eher die nach der Anerkennung des Selben. Stellen wir unsere eigenen Axiome auf. Es gibt Dies kann auch so ausgedrückt werden: keinen Das Eine ist nicht. Das Vielfache »ohne Eins« - jedes Vielfache ist immer nur seinerseits ein Vielfaches von Vielfachen - ist das Gesetz des Seins. Der einzige Haltepunkt ist die Leere. Das Unendliche, wie Pascal bereits wusste, ist die Trivialität jeder Situation und nicht das Prädikat einer Transzendenz. Denn das Un4°

endliche, wie Cantor durch seine Schöpfung der Mengentheorie gezeigt hat, ist nämlich nur die allgemeinste Form des Vielfach-Seins. In der Tat ist jede Situation, insofern sie überhaupt ist, ein aus einer unendlichen Menge von Elementen zusammengesetztes Vielfaches, jedes dieser Elemente ist seinerseits ein Vielfaches. In ihrer einfachen Zugehörigkeit zu einer Situation (zu einem unendlichen Vielfachen) betrachtet, sind die Tiere der Gattung Homo sapiens gewöhnliche Vielfältigkeiten. Was soll man dann über den Anderen, die Verschiedenheiten, ihre ethische Anerkennung denken? Die unendliche Andersheit ist ganz einfach das, was es gibt. Jede beliebige Erfahrung ist Entfaltung ins Unendliche von unendlichen Verschiedenheiten. Selbst die angebliche reflexive Erfahrung meiner selbst ist überhaupt keine Intuition einer Einheit, sondern ein Labyrinth von Differenzierungen, und Rimbaud hatte sich sicherlich nicht geirrt, als er erklärte: »Ich ist ein Anderer.« Es gibt ebenso viel Unterschied zwischen beispielsweise einem chinesischen Bauern und einem norwegischen Jungmanager wie zwischen mir selbst und irgendeinem Beliebigen - mich selbst eingeschlossen. Ebenso viel, aber auch nicht mehr und nicht weniger.

6.

»KULTURELLE" VERSCHIEDENHEITEN UND

KULTURALlSMUS

Die zeitgenössische Ethik macht viel Wirbel um die »kulturellen« Verschiedenheiten. Ihre Auffassung vom »Anderen« hat im Wesentlichen diese Art von Verschiedenheiten im Auge. Die ruhige Koexistenz der kulturellen, religiösen, nationalen und anderen

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»Gemeinschaften« und die Ablehnung des »Ausschlusses« (»exclusion«ll) ist ihr großes Ziel. Man muss eher die These aufstellen, dass diese Differenzen keinerlei Interesse für das Denken darstellen, dass sie nur die augenfällige unendliche Vielfältigkeit der menschlichen Gattung sind, welche ebenso offensichtlich bei mir und meinem Cousin aus Lyon ist wie zwischen der schiitischen »Gemeinschaft« im Irak und den fetten Cowboys aus Texas. Die objektive (oder historische) Grundlage der gegenwärtigen Ethik ist der Kulturalismus, die wahrhaft touristische Faszination für das Vielfache an Sitten, Bräuchen und Überzeugungen. Und ganz besonders für das unvermeidliche Kunterbunt der imaginären Formen (Religionen, sexuelle Vorstellungen, Formen der Verkörperung von Autorität ... ). Ja, das Wesentliche der ethischen »Objektivität« hängt von einer volkstümlichen Soziologie ab, welche unmittelbar aus dem kolonialen Erstaunen über die Wilden übernommen worden ist, wobei es klar ist, dass die Wilden auch unter uns sind (Drogenabhängige der Vororte, Glaubensgemeinschaften, Sekten ... : all der journalistische Kram der bedrohlichen inneren Andersheit); dieser Tatsache stellt die Ethik, ohne ihr Forschungsprogramm zu ändern, ihre »Anerkennung« und ihre Sozialarbeiter gegenüber. Gegen diese nichts sagenden Beschreibungen (alles, was man uns dabei erzählt, ist zugleich evidente und an sich haltlose Wahrheit) muss das echte Denken Folgendes behaupten: Da die Verschiedenheiten das sind, was es gibt, und da alle Wahrheit das ZumSein-Kommen dessen ist, was noch nicht ist, sind die Verschiedenheiten eben das, was jede Wahrheit hinterlegt oder als Unbedeutendes erscheinen lässt. Keine konkrete Situation lässt sich durch das Motiv der »Anerkennung des Anderen« erhellen. Es gibt in 42

jeder modernen kollektiven Formation überall Leute, die verschieden essen, mehrere Sprachen sprechen, verschiedene Hüte tragen, verschiedene Riten ausüben, im Verhältnis zum Sex komplizierte und wechselnde Beziehungen unterhalten, die Autorität oder Unordnung lieben, und das ist der Lauf der Welt.

7.

VOM SELBEN BIS HIN ZU DEN WAHRHEITEN

Wenn der Andere indifferent 12 ist, dann verhält es sich philosophisch gesehen so, weil die Schwierigkeit auf Seiten des Selben liegt. Das Selbe ist nämlich nicht das, was ist (das heißt das unendlich Vielfache der Verschiedenheiten), sondern das, was kommt (franz.: advient). Wir haben bereits demjenigen einen Namen gegeben, in Bezug worauf es nur das Kommen des Selben gibt: Es ist eine Wahrheit. Eine Wahrheit allein ist als solche indifferent in Bezug auf die Verschiedenheiten. Dies ist seit je bekannt, selbst wenn die Sophisten aller Epochen verbissen versuchen, diese Gewissheit zu verdunkeln: Eine Wahrheit ist für alle dieselbe. Was für einen jeden postuliert werden muss und was wir sein »Sein als Unsterblicher« genannt haben, ist gewiss nicht das, was die »kulturellen«, ebenso massiven wie unbedeutenden Verschiedenheiten abdecken. Es ist seine Fähigkeit zum Wahren, das heißt seine Fähigkeit, dieses Selbe zu sein, was eine Wahrheit zu ihrer eigenen »Selbstheit« beruft. Das heißt je nach Umständen - seine Fähigkeit zu den Wissenschaften, zur Liebe, zur Politik oder zur Kunst, denn dieses sind die universellen Namen, mit denen sich unseres Erachtens die Wahrheiten präsentieren. Es ist eine echte Perversion, deren Preis, historisch gesehen, furchtbar sein wird, dass man geglaubt hat, 43

eine »Ethik« an den kulturellen Relativismus anlehnen zu können. Denn dies bedeutet, dass ein einfacher kontingenter Zustand die Grundlage für ein Gesetz sein kann. Es gibt nur eine Ethik der Wahrheiten. Oder genauer, es gibt nur die Ethik der Prozesse der Wahrheit, der Arbeit, die in diese Welt irgendwelche Wahrheiten kommen lässt. Ethik muss im von Lacan angenommen Sinne verstanden werden, wenn er im Gegensatz zu Kant und zum Motiv einer allgemeinen Moral von einer Ethik der Psychoanalyse spricht. Die Ethik existiert nicht. Es gibt nur die Ethik - von (der Politik, der Liebe, der Wissenschaft, der Kunst). Es gibt nämlich nicht nur ein einziges Subjekt, sondern ebenso viele Subjekte wie Wahrheiten und ebenso viele subjektive Typen wie Prozeduren der Wahrheit. Was uns angeht, machen wir grundsätzliche» Typen« aus: einen politischen, einen wissenschaftlichen, einen künstlerischen und einen liebenden. Jedes menschliche Tier schreibt sich in einen dieser vier subjektiven Typen ein, indem es an einer solchen singulären Wahrheit teilnimmt. Philosophie hat zum Gegenstand, einen Ort des Denkens zu konstruieren, an dem die verschiedenen subjektiven Typen, die sich in den singulären Wahrheiten ihrer Zeit geben, koexistieren. Aber diese Koexistenz ist keine Vereinheitlichung, und daher ist es nicht möglich, von einer Ethik zu sprechen.

111 Ethik als Figur des Nihilismus

Ob man die Ethik als durch Konsens definierte Vorstellung des Bösen oder als Sorge um den Anderen festlegt, Ethik bezeichnet vor allem die für die gegenwärtige Welt charakteristische Unfähigkeit, ein einziges Gut zu benennen und zu wollen. Man muss sogar noch weiter gehen: Die Herrschaft der Ethik ist ein Symptom für eine Welt, die eine merkwürdige Kombination aus Resignation vor dem Notwendigen und aus einem rein negativen, ja destruktiven Willen beherrscht. Diese Kombination muss als Nihilismus bezeichnet werden. Nietzsehe hat sehr gut gezeigt, dass die Menschheit lieber das Nichts als nichts will. Wir werden den Namen "Nihilismus« diesem Willen zum Nichts, das wie die Zweitbesetzung der blinden Notwendigkeit ist, vorbehalten. 1. ETHIK ALS MAGD DER NOTWENDIGKEIT

Der moderne Name der Notwendigkeit ist, wie man weiß, "Ökonomie«. Im Ausgang von der ökonomischen Objektivität - die man bei ihrem Namen nennen muss, nämlich die Logik des Kapitals 13 - organisieren unsere parlamentarischen Regierungen die öffentliche Meinung und eine Subjektivität, die von vornherein gezwungen sind, das Notwendige zu bestätigen. Die Arbeitslosigkeit, die produktive Anarchie, die Ungleichheiten, die vollständige Entwertung der manuellen Arbeit, die Verfolgung der Ausländer: all dies hat einen heruntergekommenen Konsens über einen Zustand der Dinge, der ebenso zufällig ist wie das gerade herrschende Wetter (die" Wirtschaftswissenschaft« ist hinsichtlich ihrer Prognosen noch ungewisser als die Meteorologie), a,ber man muss über diesen Konsens feststellen, dass er einem unbeugsamen und endlosen äußeren Zwang gehorcht. 47

Die parlamentarische Politik, wie sie heute praktiziert wird, besteht keineswegs darin, von irgendwelchen Prinzipien abhängige Ziele festzulegen und sich die Mittel zu geben, sie zu erreichen. Sie besteht darin, das Spektakel der Ökonomie in eine resignierte, zustimmende öffentliche Meinung (wenngleich diese auch instabil ist) umzuwandeln. An sich selbst ist Ökonomie weder gut noch schlecht, sie ist der Ort keinerlei Werts (es sei denn des Handelswerts und des Geldes als allgemeinen Äquivalents). Es »geht« ihr mehr oder weniger gut. Politik ist das subjektive oder bewertende Moment dieser neutralen Äußerlichkeit. Denn die möglichen Sachverhalte (les possibles), deren Bewegung sie zu organisieren vorgibt, werden in Wirklichkeit von vornherein durch die äußere Neutralität des ökonomischen Bezugs umrissen und annulliert. Derart, dass die allgemeine Subjektivität unvermeidlich auf eine Art überkritischer Ohnmacht verwiesen wird, deren Zustand der Leere durch Wahlen und »kleine Sätze« der Parteichefs ausgefüllt wird. Gleich vom ersten Augenblick der Konstituierung der gegenwärtigen Subjektivität an (nach Begriffen der » öffentlichen Meinung«), spielt die Ethik ihre Rolle als Begleiterin. Denn sie bestätigt auf Anhieb die Abwesenheit jeden Projekts, jeder Emanzipationspolitik, jeden wahrhaft kollektiven Anliegens. Indem Ethik im Namen des Bösen und der Menschenrechte der positiven Vorschrift der Möglichkeiten, dem Guten als Übermenschheit der Menschheit, dem Unsterblichen als Herrn der Zeit den Weg versperrt, akzeptiert sie das Spiel des Notwendigen als objektive Grundlage aller Werturteile. Das berühmte »Ende der Ideologien«, das man überall als die gute Botschaft, die die »Rückkehr der Ethik« formt, verkündigt, bedeutet der Sache nach

Anknüpfen an die Schikanen der Notwendigkeit und außergewöhnliche Verarmung des aktiven, aktivistischen Werts der Prinzipien. Die Idee selbst einer konsensuellen »Ethik«, die von dem allgemeinen Gefühl, das durch den Anblick der Grausamkeiten hervorgerufen worden ist, ausgeht und die »alten ideologischen Trennungen« ersetzt, ist ein mächtiger Faktor der subjektiven Resignation und Zustimmung zu dem, was es gibt. Denn das Wesen jeden emanzipatorischen Projekts, jeden Aufkommens einer noch nie da gewesenen Möglichkeit besteht darin, die Bewusstseine voneinander zu trennen. Denn wie könnten das Unberechenbare einer Wahrheit, ihre Neuheit, das von ihr in festgesetztes Wissen vollzogene Lochen (la trouee) in eine Situation eingeschrieben werden, ohne dabei entschlossene Gegner anzutreffen. Genau deshalb, weil eine Wahrheit in ihrer Erfindung die einzige Sache ist, die für alle da ist, vollzieht sie sich in der Wirklichkeit nur gegeit die herrschenden Meinungen, die nie für alle, sondern immer nur für einige arbeiten. Und gewiss, diese wenigen verfügen über ihre Stellung, über ihr Kapital, ihre Medien. Aber vor allem haben sie die inerte 14 Macht über die Realität und die Zeit und spielen diese Macht gegen das aus, was als ganze Wahrheit je nur das zufällige, ungewisse Aufkommen einer Möglichkeit des Zeitlosen ist. Wie es Mao Tsetung mit seiner üblichen Einfachheit sagte: »Wenn du eine Idee hast, dann muss eins in zwei geteilt werden.« Nun, Ethik präsentiert sich ausdrücklich als seelischer Zusatz zum Konsens. Die »Zweiteilung« erregt ihr Abscheu (weil es Ideologie, Festhalten an der Vergangenheit ist ... ). Sie ist also Teil dessen, was jede Idee und jedes Projekt kohärenten Denkens verbietet, und sie gibt sich damit zufrieden, auf ungedachte und anonyme Situationen das humanitäre Ge-

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schwätz (welches, wie wir gesagt haben, selbst keinerlei positive Idee von Humanität enthält) aufzudrücken. Und gleichermaßen bedeutet die »Sorge um den Anderen«, dass es sich nicht darum handelt, dass es sich nie darum handelt, unserer Situation und schließlich uns selbst noch unerforschte Möglichkeiten vorzuschreiben. Das Gesetz (die Menschenrechte usw.) ist schon immer da. Es regelt Urteile und Meinungen darüber, was sich an Unheilvollem an wechselnden Orten anderswo ereignet. Es geht aber nicht darum, bis zur Grundlage dieses »Gesetzes« zurückzugehen, bis zur erhaltenden Identität, die es stützt. Wie jeder weiß, hat Frankreich unter Vichy über ein Gesetz über den Status der Juden abgestimmt und es stimmt in eben diesem Augenblick über Gesetze rassischer Identifikation ab, diese Gesetze laufen unter der Bezeichnung der »heimlichen Einwanderung« eines angenommen inneren Feindes. Dieses Frankreich nun, das subjektiv von Angst und Ohnmacht beherrscht wird, ist ein »Inselchen für Recht und Freiheit«. Die Ethik ist die Ideologie dieser Inselhaftigkeit, und daher bewertet sie weltweit mit der Selbstgefälligkeit der »Einmischung« die Kanonaden des Rechts. Aber dadurch, dass sie dies macht und überall im Inneren [Frankreichs] Überheblichkeit und furchtsame Selbstzufriedenheit propagiert, sterilisiert sie [jede Möglichkeit] einer kollektiven Sammlung um eine tragende Idee darüber, was hier und 1S jetzt gemacht werden kann (und also muss). Hierin ist sie erneut nur eine Variante des konservativen Konsenses. Man muss jedoch richtig sehen, dass die Resignation bezüglich der (ökonomischen) Notwendigkeiten weder die einzige noch die schlimmste der Komponenten des öffentlichen Geistes, den die Ethik unter5°

mauert hat, ist. Denn Nietzsches Maxime erfordert von uns die Auffassung, dass jedes Nicht-Wollen (jede Ohnmacht) vom Willen zum Nichts bearbeitet worden ist; der andere Name dafür ist: der Todestrieb.

2. ETHIK ALS »WESTLICHE« HERRSCHAFT OBER DEN TOD

Man sollte mehr als allgemein üblich über einen kleinen Satz stolpern, der ständig in allen Zeitungsartikeln und Kommentaren über den Krieg in Ex-Jugoslawien wiederkehrt: man stellt in ihm mit einer Art subjektiver Erregung und schmückender Ergriffenheit fest, dass diese Grausamkeiten sich »in nur zwei Flugstunden von Paris entfernt« ereignen. Die Autoren dieser Texte berufen sich natürlich allesamt auf die Menschenrechte, auf die Ethik, auf die humanitäre Einmischung und auf die Tatsache, dass das Böse (das man mit dem Fall der »Totalitarismen« für ausgetrieben hielt) eine furchtbare Rückkehr hält. Aber deshalb scheint der kleine Satz blödsinnig: Wenn es sich um ethische Prinzipien handelt, um das Wesen des Menschen als Opfer, um die Tatsache, dass »die Rechte universell und unantastbar sind«, was scheren wir uns dann noch um die Länge der Reise mit dem Flugzeug? Soll die »Anerkennung des Anderen« um so intensiver sein, als dieser Andere gewissermaßen handweit entfernt ist? In diesem Pathos des Nahen errät man das zweideutige Zittern, ein Gemisch von Furcht und Freude, das Grauen und die Zerstörung, den Krieg und den Zynismus schließlich ganz in unserer Nähe wahrzunehmen. Die Ideologie der Ethik verfügt beinahe vor der Tür des zivilisierten sicheren Unterstands über 51

die empörende und wohltuende Kombination eines unklaren Anderen (wie Kroaten, Serben und diese rätselhaften »Muslime« aus Bosnien) und eines erwiesenen Bösen. Die Nahrung für die Ethik wird uns von der Geschichte ins Haus geliefert. Ethik nährt sich zu sehr vorn Bösen und vorn Anderen, um nicht schweigend (das Schweigen ist die verwerfliche Kehrseite des Geschwätzes) zu genießen, sie in der Nähe sehen zu können. Denn die eigentliche Meisterschaft, die im Inneren der Ethik liegt, besteht immer in der Entscheidung darüber, wer stirbt und wer nicht stirbt. Ethik ist nihilistisch, weil ihre zu Grunde liegende Überzeugung darin besteht, dass die einzige Sache, die dem Menschen zustoßen kann, der Tod ist. Und das ist in der Tat insofern wahr, als man die Wahrheiten verleugnet, als man die unsterbliche Aufspaltung von sich weist, die diese Wahrheiten in einer beliebigen Situation hervorrufen. Zwischen dem Menschen als möglicher Stütze für die Zufälligkeit der Wahrheiten oder dem Menschen als Sein-für-den-Tod (oder Sein-für-das-Glück : es ist dasselbe) muss man wählen. Diese Wahl ist auch diejenige, die zwischen Philosophie und »Ethik« oder zwischen Mut zu den Wahrheiten und nihilistischem Gefühl wirksam ist.

3. BIO-ETHIK

Dies erklärt sicherlich die vorzügliche Stelle, die die Ethik im Rahmen der »Fragen der Gesellschaft«, an denen sich unser Alltagsleben ergötzt - und das umso mehr, als keine dieser Fragen den geringsten Sinn hat -, dem ewig währenden Streit über die Euthanasie gewährt.

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Das Wort Euthanasie stellt klar und deutlich die Frage: »Wann und wie kann man im Namen unserer Idee des Glücks jemanden töten?« Es benennt den festen Kern, von dem aus das ethische Gefühl operiert. Welchen Gebrauch das ethische »Denken« von der »menschlichen Würde« macht, ist bekannt. Aber die Kombination des Seins-für-den-Tod und der Würde konstruiert eben die Idee des »würdigen Todes«. Kommissionen, Presse, Richter, Politiker, Priester und Ärzte diskutieren über eine ethische, vorn Gesetz bestätigte Definition des würdig verabreichten Todes. 16 Gewiss sind das Leiden und der Verfall nicht »würdig«, stimmen nicht mit dem glatten, jugendlichen, gut ernährten Bild, das wir uns vorn Menschen und seinen Rechten machen, überein. Wer sieht nicht, dass die »Debatte« über Euthanasie vor allem auf das radikale Fehlen einer Symbolisierung für Alter und Tod hinweist? Und auf den unerträglichen Charakter ihrer Sichtweise für die Lebenden? Die Ethik steht hier am Schnittpunkt von zwei Triebrichtungen, die nur oberflächlich kontradiktorisch sind: Sie definiert den Menschen durch das Nicht-Böse, also durch das »Glück« und durch das Leben, sie steht sowohl unter des Todes als auch unter der Unfähigder keit, diesen im Denken zu verankern. Unter dem Strich kommt bei diesem Abwägen die Umformung des Todes selbst in ein möglichst diskretes Schauspiel und in ein Verschwinden heraus; die Lebenden haben dabei das Recht, zu hoffen, dass dies Verschwinden nicht ihre irrealen Gewohnheiten einer begriffslosen Befriedigung antastet. Der ethische Diskurs ist also zugleich fatalistisch und entschie,den untragisch: Er lässt den Tod walten (il »laisse faire« la mort), ohne

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ihm das Unsterbliche eines Widerstandes entgegenzusetzen. Halten wir fest - denn es sind Tatsachen _, dass »Bio-Ethik« und staatliche Besessenheit nach Euthanasie ausdrücklich Kategorien des Nazismus waren. Im Grunde war der Nazismus ganz und gar eine Lebensethik. Er hatte seinen eigenen Begriff vom »würdigen Leben« und nahm unerbittlich die Notwendigkeit auf sich, dem unwürdigen Leben ein Ende zu bereiten. Der Nazismus hat den nihilistischen Kern der »ethischen« Ordnung (franz.: »disposition«) isoliert und auf die Spitze getrieben, sowie diese Ordnung die politischen Mittel hatte, etwas anderes zu sein als Geschwätz. In dieser Hinsicht ist das Aufkommen in unseren Ländern von großen staatlichen Kommissionen über »Bio-Ethik« ein schlechtes Vorzeichen. Man wird laut aufschreien. Man wird sagen, dass es eben wegen der Nazigräuel notwendig ist, eine Gesetzgebung zu schaffen, um das Recht auf Leben und auf Würde zu verteidigen, seitdem der heftige Schub der Wissenschaften uns etwas in die Hände legt, womit wir alle Arten von gentechnischen Manipulationen durchführen können. Das Geschrei sollte uns nicht beeindrucken. Man muss nachdrücklich weiterhin die These vertreten, dass die Notwendigkeit solcher staatlichen Kommissionen und solcher Gesetzgebungen ein Anzeichen dafür ist, dass diese Problematik im Gewissen und in der Geisteshaltung der meisten wesentlich zweifelhaft ist. Die Verklammerung von »Ethik« mit »Bio« ist an sich bedrohlich. Ganz genauso wie die Ähnlichkeit der Vorsilben von Eugenik (verschmäht) und von Euthanasie (achtenswert). Eine hedonistische Doktrin über das »Gut(e)-Sterben« wird dem mächtigen, wirklich tod bringenden Streben, »gut zu zeugen«, kein

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Hindernis in den Weg legen, ein Streben, das eine evidente Instanz des »Gut(en)-Lebens« ist. Der Kern des Problems besteht darin, dass gewissermaßen jede Definition des Menschen, die vom Glück ausgeht, nihilistisch ist. Es ist klar, dass die an den Toren unserer krankhaften Wohlhabenheit errichteten Barrikaden als innere Entsprechung gegen den nihilistischen Trieb das lächerliche und mitschuldige Hindernis der ethischen Kommissionen haben. Wenn ein Premierminister, politischer Vorsänger einer Ethik der Polis, erklärt, dass Frankreich »nicht das ganze Elend der Welt aufnehmen kann«, dann verwahrt er sich wohl, uns die Kriterien und die Methoden zu nennen, die für die Entscheidung benutzt werden würden, welchen Teil dieses Elends man aufnehmen wird und welchen Teil man sicherlich in den Auffanglagern bitten wird, wieder an den Ort des Todes zurückzukehren, damit wir unseren Reichtum, ohne zu teilen, genießen können, Reichtum, der, wie man weiß, zugleich unser Glück und unsere »Ethik« bedingt. Und gleichermaßen ist es sicherlich unmöglich, genau anzugeben, welches die »verantwortlichen« und natürlich »kollektiven« Kriterien sind, in deren Namen die Kommissionen für Bio-Ethik die Unterscheidung zwischen Eugenik und Euthanasie, zwischen der wissenschaftlichen Verbesserung des weißen Mannes sowie seines Glücks und der »würdevollen« Vernichtung des Monsters, der Leiden und peinlichen Schauspiele treffen. Der Zufall, die Umstände des Lebens, das Labyrinth der Bewusstseine sind in Kombination mit einer strengen und unparteiischen Behandlung der klinischen Situation viel mehr Wert als die pomphafte und mediengerechte Beitreibung von Instanzen der BioEthik, deren Manövergebiet und sogar deren Bezeichnung nicht sehr gut riechen. 55

4. DER ETHISCHE NIHILISMUS ZWISCHEN KONSERVATIVISMUS UND TODESTRIEB

Wenn man Ethik als Figur des Nihilismus betrachtet, was durch die Tatsache verstärkt wird, dass unsere Gesellschaften keine universell annehmbare Zukunft haben, dann schwankt sie zwischen zwei gepaarten Wünschen: einem konservativen Wunsch, demzufolge überall die Legitimität der Ordnung, die unserer »westlichen« Lage eigentümlich ist, anerkannt wäre, wobei diese Ordnung ein Ineinander einer objektiv wilden Wirtschaft und eines Rechtsdiskurses ist; und einem todbringenden Wunsch, der im gleichen ?:uge eine vollständige Herrschaft über das Leben fördert und verschleiert, was ebenso wohl heißen will: der das, was ist, der »westlichen« Herrschaft über den Tod weiht. Daher wäre es besser, wenn man die Ethik - da sie griechisch spricht - als »Eu-oudenosis«, einen seligen Nihilismus nennte. Dagegen kann man nur das einwenden, dessen Seinsmodus darin besteht, noch nicht zu sein, aber wessen sich unser Denken für fähig erklärt. Jede Epoche - und keine ist schließlich mehr wert als jede andere - besitzt ihre eigene nihilistische Figur. Die Namen ändern sich, aber man findet immer unter diesen Namen (wie dem der »Ethik« zum Beispiel) die Artikulation einer konservativen Propaganda und eines dunklen Wunsches nach einer Katastrophe. Nur dadurch, dass man das zu wollen erklärt, was der Konservativismus für unmöglich dekretiert, und die Wahrheiten gegen den Wunsch nach dem Nichts bejaht, reißt man sich vom Nihilismus los. Die 56

Möglichkeit des Unmöglichen, die jede liebevolle Begegnung, jede wissenschaftliche Neugründung, jede künstlerische Erfindung und jede Ereignisfolge politischer Emanzipation uns vor Augen führen, ist das einzige Prinzip - gegenüber der Ethik des Gut(en)-Lebens, dessen wirklicher Inhalt die Entscheidung zum Tode ist - einer Ethik der Wahrheiten.

Für einen Philosophen ist es eine schwere Aufgabe, die Namen dem zu entreißen, was deren Gebrauch schändet. Schon Platon hatte alle denkbaren Mühen, das Wort Gerechtigkeit immer richtig zu gebrauchen gegenüber dem rechtsverdrehenden und wankelmütigen Gebrauch der Sophisten. Versuchen wir jedoch, trotz all des Voraufgehenden, das Wort Ethik weiterhin zu behalten, da diejenigen, die es seit Aristoteles vernünftig benutzt haben, ohnehin eine lange und beachtenswerte Generationenfolge abgeben.

1.

SEIN, EREIGNIS, WAHRHEIT, SUBJEKT

Wenn es keine Ethik »im Allgemeinen« gibt, so deshalb, weil das abstrakte Subjekt [»Sujet« mit Majuskel] fehlt, das sich damit ausstatten müsste. Es gibt nur ein besonderes Tier, das von den Umständen aufgefordert wird, ein Subjekt [mit Minuskel] zu werden. Oder besser: sich zu einem Subjekt [mit Minuskel] zusammenzustellen. Dies will besagen, dass alles, was es ist - sein Körper, seine Fähigkeiten -, in einem gegebenen Augenblick erforderlich ist, damit eine Wahrheit sich durchsetzen kann. In diesem Augenblick ist das menschliche Tier aufgefordert, der Unsterbliche, der er nicht war, zu sein. Was sind diese » Umstände«? Es sind die Umstände einer Wahrheit. Aber was soll man darunter verstehen? Es ist klar, dass das, was ist (die Vielfachen, die unendlichen Verschiedenheiten, die »objektiven« Situationen: zum Beispiel der gewöhnliche Zustand der Beziehung zum Anderen vor einer Liebesbegegnung), nicht einen solchen Umstand definieren kann. Bei dieser Art von Objektivität behilft sich allgemein das Tier, so gut es kann. Man muss also an61

nehmen, dass das, was zu einer Komposition eines Subjekts aufruft, hinzukommt oder in den Situationen auftritt als das, worüber diese Situationen und die übliche Art, sich in ihnen zu verhalten, nicht Rechenschaft geben können. Sagen wir, dass ein Subjekt [mit Minuskel, also ein konkretes Subjekt, A.d. Ü.}, das über das Tier hinausreicht (aber das Tier ist sein einziger Träger), erfordert, dass etwas geschehen ist, etwas, das sich nicht wiederum auf die gewöhnliche Einschreibung ins »es gibt« zurückführen lässt. Lassen Sie uns diesen Zusatz mit Ereignis benennen und unterscheiden wir das Vielfach-Sein, in dem es nicht um Wahrheit (sondern nur um Meinungen) geht, vom Ereignis, das uns zwingt, eine neue Seinsweise zu entscheiden. SoIche Ereignisse sind absolut bezeugt: die Französische Revolution von 1792, die Begegnung von Heloi'se mit Abälard, Galileis Schöpfung der Physik, Haydns Erfindung des Stils klassischer Musik ... Aber auch: die chinesische Kulturrevolution (1965-1967), eine persönliche Liebesleidenschaft, die Schöpfung der Topostheorie durch den Mathematiker Grothendieck, die Erfindung der Zwölftonmusik durch Schön berg ... WeIcher »Entscheidung« entspringt also der Wahrheitsprozess? Der Entscheidung, sich von nun an auf die Situation vom Standpunkt des ereignishaften Zusatzes aus zu beziehen. Lassen Sie uns das eine Treue nennen. Dem Ereignis treu sein, das ist das Sich-Bewegen in der Situation, die zu diesem Ereignis einen Zusatz bringt, indem man die Situation »gemäß« dem Ereignis dachte (aber alles Denken ist eine Praxis, ein auf die Probe Stellen). Was natürlich dazu zwingt, eine neue Seins- und Handelnsweise in der Situation zu erfinden, da ja das Ereignis nicht innerhalb der gewöhnlichen Gesetze der Situation enthalten war.

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Es ist klar, dass ich unter der Einwirkung einer Liebesbegegnung, wenn ich ihr wirklich treu bleiben will, von Kopf bis Fuß meine gewöhnliche Art, meine Situation zu leben (franz.: habiter), umkrempeln muss. Wenn ich dem Ereignis der »Kulturrevolution« treu bleiben will, muss ich jedenfalls eine völlig andere Politik (insbesondere in Hinblick auf die Arbeiter) treiben als diejenige, die die sozialistische und gewerkschaftliche Tradition vorschreibt. Und gleicherweise können Berg und Webern, die dem musikalischen Ereignis namens »Schönberg« treu sind, nicht die Neuromantik des Fin de Siede fortsetzen, als ob nichts gewesen wäre. Nach Einsteins Texten des Jahres 1905 kann ich nicht, wenn ich ihrer radikalen Neuheit treu sein will, weiterhin Physik in ihrem klassischen Rahmen ausüben, usw. Die Treue zum Ereignis ist wirklicher (gedachter und praktizierter) Bruch innerhalb der Ordnung, in der das Ereignis stattfand (politisches, liebevolles, künstlerisches, wissenschaftliches ... Ereignis). Man nennt »Wahrheit« (eine Wahrheit) den wirklichen Prozess der Treue zu einem Ereignis. Das, was diese Treue in der Situation hervorbringt. Zum Beispiel die Politik der französischen Maoisten zwischen 1966 und 1976, die eine Treue zu zwei verflochtenen Ereignissen zu denken und zu praktizieren trachtet: zur chinesischen Kulturrevolution und zu Mai 68 in Frankreich. Oder die so genannte »zeitgenössische« Musik (wobei der Ausdruck »zeitgenössisch« ebenso gebräuchlich wie seltsam ist), die Treue zu den großen Wienern des Jahrhundertbeginns ist. Oder die algebraische Geometrie der fünfziger und sechziger Jahre, die dem Begriff des Universums (in Grothendiecks Sinne) treu ist, usw. Im Gru[lde ist eine Wahrheit die materielle Spur des ereignishaften Zusatzes in der Situation. Sie ist also ein immanenter Bruch. 63

»Immanent«, weil eine Wahrheit in der Situation auftritt (franz. »procede«) und nirgendwo sonst. Es gibt keinen Himmel der Wahrheiten. »Bruch«, weil das, was das Auftreten [oder den Prozess, A.d.Ü.] der Wahrheit - das Ereignis - möglich macht, weder in den Gewohnheiten der Situation lag, noch sich durch die etablierten Kenntnisse denken ließ. Man wird auch sagen, dass ein Wahrheitsprozess im Verhältnis zu den eingeführten Kenntnissen über die Situation ein heterogener ist. Oder, um einen Ausdruck Lacans zu benutzen, dass er eine Lochung (»trouee«) in diesen Kenntnissen ist. Man nennt »Subjekt« den Träger einer Treue, also den Träger eines Wahrheitsprozesses. Das Subjekt existiert also keinesfalls, bevor der Prozess stattgefunden hat. Es ist in der Situation »vor« dem Ereignis absolut inexistent. Man wird sagen, dass der Wahrheitsprozess ein Subjekt induziert. Man muss dabei beachten, dass das so aufgefasste »Subjekt« nicht das psychologische Subjekt meint, auch nicht einmal das reflexive Subjekt (in Descartes' Sinn) oder das transzendentale Subjekt (in Kants Sinn). Zum Beispiel ist das Subjekt der Liebe nicht das »liebende« Subjekt, wie es von den klassizistischen Moralisten beschrieben wird. Weil ihr psychologisches Subjekt sich von der menschlichen Natur herleitet, von der Logik der Leidenschaften. Während unser Subjekt keinerlei »natürliche« Präexistenz hat. Die Liebenden treten als solche ein in die Komposition eines Subjekts der Liebe, das über jeden von beiden hinausschreitet. Gleicherweise ist das Subjekt einer revolutionären Politik kein individueller Aktivist und auch übrigens keine Chimäre eines »Klassensubjekts«. Es ist eine einzigartige Produktion, die auf verschiedene Weise benannt wurde (manchmal »Partei«, manchmal auch 64

nicht). Und sicherlich wird der Aktivist ein Teil der Komposition dieses Subjekts werden, welche ihn wiederum überschreitet (es ist geradezu dieses Überschreiten, die ihn zu einem Unsterblichen werden lässt). Oder auch: Das Subjekt eines künstlerischen Prozesses ist nicht der Künstler (das »Genie« usw.). In der Tat sind die Subjekt-Punkte der Kunst die Kunstwerke. Und der Künstler tritt in die Komposition dieser Subjekte (die Werke »gehören ihm«) ein, ohne dass man diese Werke irgendwie auf »ihn« zurückführen könnte (und von welchem »ihm« handelt es sich übrigens?). Die Ereignisse sind Einzigartigkeiten, die nicht auf etwas anderes zurückgeführt werden können, es sind die» Gesetzwidrigen« (» hors-Ia-Ioi«) der Situationen. Die der Wahrheit treuen Prozesse sind immanente Brüche, die jedes Mal völlig neu erfunden werden. Die Subjekte, die lokale Vorkommnisse des Wahrheitsprozesses (»Wahrheitspunkte« ) sind, sind besondere und unvergleichliche Induktionen. Hinsichtlich solcher Subjekte ist es - vielleicht legitim, von einer »Ethik der Wahrheiten« zu sprechen.

2. FORMALE DEFINITION DER ETHIK EINER WAHRHEIT

Man wird »Ethik einer Wahrheit« im Allgemeinen das Prinzip der Fortsetzung eines Wahrheitsprozesses nennen - oder, noch genauer und komplexer, das, was jemandes Anwesenheit in der Komposition eines Subjekts, das den Prozess dieser Wahrheit induziert, Konsistenz verleiht. Wir wollen diese Formel auseinander falten: 65

1) Was muss man unter »jemand« verstehen? »Jemand« ist ein Tier der menschlichen Gattung, dieser Typ eines besonderen Vielfachen, das das etablierte Wissen als zur Gattung zugehörig bezeichnet. Es ist dieser Körper und all das, wessen er fähig ist, das Teil dieser Komposition eines» Wahrheitspunktes« wird. Vorausgesetzt, dass es ein Ereignis gegeben hat und einen immanenten Bruch in der Form des Weitennachens eines Treue-Prozesses. »Jemand« ist also möglicherweise jener Zuschauer, dessen Denken durch einen Theaterskandal erschüttert, ergriffen und verwirrt wird, welcher Skandal so Teil der komplexen Beschaffenheit eines künstlerischen Augenblicks wird. Oder dieser beharrliche Forscher bei einem mathematischen Problem in genau dem Augenblick, wo sich nach einer undankbaren Arbeit, während der das dunkle Wissen um sich selbst kreist, die Erleuchtung der Lösung einstellt. Oder dieser Liebende, dessen Sicht der Wirklichkeit zugleich in Nebel gehüllt und erhöht ist, weil er sich, auf den Anderen gestützt, des Augenblicks der Liebeserklärung erinnert. Oder dieser Aktivist, der nach einer komplizierten Sitzung schließlich ganz einfach den bisher gesuchten Ausdruck findet, von dem alle sagen, dass man über ihn in der gegebenen Situation arbeiten muss. Der »Jemand«, der als Zeuge dessen aufgefasst wird, dass er als Stützpunkt zum Prozess einer Wahrheit gehört, ist zugleich er selbst, nichts anderes als er selbst, eine vielfache Singularität, die unter allen anderen ausgemacht werden kann, und im Verhältnis zu sich selbst im Überschuss, weil die zufällige Spur der Treue durch ihn hindurchgeht, seinen singulären Körper erstarren lässt und ihn, vom Inneren selbst der Zeit her, in einen Augenblick der Ewigkeit einschreibt.

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Sagen wir, dass das, was man über ihn wissen kann, ganz in dem, was statthat, eingebettet ist, dass es, materiell gesehen, nichts Anderes als diesen Referenten eines Wissens gibt, aber dass all dieses im immanenten Bruch des Wahrheitsprozesses aufgefasst wird, so dass »Jemand« seiner eigenen (politisehen, wissenschaftlichen, künstlerischen, Liebes- ... ) Situation und der werdenden Wahrheit mit-zugehört und zugleich unmerklich und innerlich von dieser Wahrheit, die durch dieses gewusste Vielfache, das er ist, »hindurchgeht«, gebrochen oder durchlöchert wird. Man könnte einfacher sagen: Zu dieser Mit-Zugehörigkeit zu einer Situation und zu einer zufälligen Spur einer Wahrheit, eines Subjekt-Werdens konnte dieser »Jemand« sich nicht fähig wissen. Insofern es Teil der Komposition eines Subjekts ist, dass es Subjektivierung seiner selbst ist, existiert der» Jemand« als sich selbst unbemerkt. 2) Was soll man nun unter »Konsistenz« verstehen? Ganz einfach, dass es ein Gesetz des Ungewussten gibt. Wenn nämlich der »Jemand« nur in die Komposition eines Wahrheitssubjekts eintritt, indem er sich »ganz« einer auf das Ereignis folgenden Treue hingibt, dann besteht weiterhin das Problem, zu wissen, was er, dieser »Jemand«, in dieser Prüfung werden wird. Das gewöhnliche Verhalten des Tieres Mensch hängt von dem ab, was Spinoza »das Verharren im Sein« nennt und was nichts Anderes ist, als das Befolgen des Interesses, das heißt die Erhaltung seiner selbst. Dieses Verharren ist das Gesetz des Jemand als sich Wissender. Nun, die Prüfung durch eine Wahrheit fällt nicht unter dieses Gesetz. Zur Situation gehören ist das natürliche Geschick eines jeden Beliebigen, aber zur Komposition eines Subjekts gehören

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hängt von einer eigenen Spur ab, von einem fortgesetzten Bruch; es ist sehr schwer zu sagen, wie dieser Bruch sich über das einfache Verharren-seines-selbst drüberlegt oder sich mit ihm kombiniert. Wir nennen »Konsistenz« (oder »subjektive Konsistenz«) das Prinzip dieser Überlagerung oder dieser Kombination. Anders gesagt: die Art, wie unser Mathematikbegeisterter sein Verharren in dem, was mit diesem Verharren bricht oder es stört, einrichten wird; dies ist seine Zugehörigkeit zu einem Wahrheitsprozess. Oder die Art, wie unser Liebender in der fortgesetzten Prüfung seiner Einschreibung in ein Liebessubjekt völlig »er selbst« sein wird. Schließlich bedeutet Konsistenz, seine Singularität (das tierische »Jemand«) in die Fortsetzung eines Wahrheitssubjets einzubringen. Oder: das ausharrende Weitermachen dessen, was gewusst ist, im Dienste einer dem Ungewussten (» insu«) eigenen Dauer. Lacan hat diesen Punkt angeschnitten, als er als Maxime der Ethik vorschlug: »Nicht in seinem Begehren nachgeben.« Denn das Begehren ist für das Subjekt des Unbewussten konstitutiv, es ist also das Ungewusste (» insu«) schlechthin, so dass »Nicht in seinem Begehren nachgeben« bedeutet: »Nicht in dem nachgeben, was man über sich selbst nicht weiß.« Wir fügen Folgendes hinzu, dass die Prüfung des Ungewussten (»insu«) die entfernte Wirkung des ereignishaften Zusatzes, das Löchern (»trouee«) des »Jemanden« durch eine Treue gegenüber diesem zerronnenen Zusatz ist, und dass das Nicht-Nachgeben letztlich bedeutet: nicht nachgeben in Sachen seines eigenen Ergriffenseins durch einen Wahrheitsprozess. Aber da der Wahrheitsprozess Treue ist, wenn »Nicht-Nachgeben« die Maxime der Konsistenz also der Ethik einer Wahrheit - ist, dann kann man

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wohl sagen, dass es sich für den »Jemanden« darum handelt, einer Treue treu zu sein. Und er kann es nur dadurch, dass er es einrichtet, dass sein eigenes Kontinuitätsprinzip, das Ausharren im Sein dessen, was er ist, ihr dient. Indem er das Gewusste durch das Ungewusste (le su par l'insu) verbindet (was eben die Konsistenz ist). Die Ethik einer Wahrheit lautet also problemlos: »Tue alles, was du kannst, um das ausharren zu lassen, was über dein Ausharren hinausgeschritten ist. Harre in der Unterbrechung aus. Ergreif in deinem Sein, was dich ergriffen und gebrochen hat.« Die »Technik« der Konsistenz ist jedes Mal singulär, abhängig von den »tierischen« Zügen des Jemand. Der Konsistenz des Subjekts, das er teilweise geworden ist, nachdem er von einem Wahrheitsprozess aufgerufen und ergriffen worden ist, wird dieser »Jemand« mit seiner Angst und seiner Unruhe, dieser Andere mit seiner Körpergröße und seiner Gelassenheit, jener Dritte mit seinem gierigen Appetit nach Herrschaft, ein Anderer mit seiner Melancholie, ein Anderer mit seiner Scheu ... dienen. Das ganze Material der menschlichen Vielfalt lässt sich durch eine »Konsistenz« gestalten, verbinden - und zwar gleichzeitig mit dem Umstand, dass es ihr furchtbare, passive Widerstände gegenüberstellt und dass es den »Jemand« der ständigen Versuchung ausliefert, nachzugeben, zur einfachen Zugehörigkeit zu einer »gewöhnlichen« Situation zurückzukehren und die Wirkungen des Ungewussten (insu) durchzustreichen. Ethik zeigt sich in dem chronischen Konflikt zwischen zwei Funktionen des vielfachen Materiellen, das das ganze Sein eines »Jemand« ausmacht: einerseits das einfache Entfalten, die Zugehörigkeit zur Situation, was man als das Interessensprinzip bezeichnen kann; andererseits die Konsistenz, die Verbin69

dung des Gewussten durch das Ungewusste (insu), was man das subjektive Prinzip nennen kann. Es ist dann einfach, die Äußerungen der Konsistenz zu beschreiben, eine Phänomenologie der Ethik der Wahrheiten zu entwerfen.

3. DIE ERFAHRUNG DER ETHISCHEN »KONSISTENZ"

Geben wir zwei Beispiele: 1) Wenn man das Interesse durch das »Ausharren im Sein« (das, wie gesagt, einfache Zugehörigkeit zu vielfachen Situationen ist) definiert, sieht man, dass ethische Konsistenz sich als selbstloses Interesse (interet desinteresse) äußert. Sie ist vom Interesse abhängig, Interesse in dem Sinne, wo sie die Triebfedern des Ausharrens (die einzelnen Züge eines menschlichen Tieres, eines »Jemanden«) verdingt. Sie ist aber in einem radikalen Sinne selbstlos (desinteressee), weil sie sich vornimmt, ihre Züge mit einer Treue zu verbinden, welche Treue ihrerseits sich an eine erste Treue wendet, diejenige nämlich, die den Wahrheitsprozess konstituiert und die von sich aus nichts mit den »Interessen« des Tieres zu tun hat; das Tier steht seiner Fortdauer, die als Schicksal die Ewigkeit hat, gleichgültig gegenüber. Man kann hier mit der Doppelsinnigkeit des Wortes Interesse spielen. Sicher zeigen der für die Mathematik Begeisterte, der auf seinem Theatersitz gefesselte Zuschauer, der umgewandelte Liebende, der enthusiastische Aktivist ein außerordentliches Interesse für das, was sie tun - für das Aufkommen in ihnen selbst des ungewussten Unsterblichen, für das sie sich nicht geeignet hielten. Nichts auf der Welt könnte die Intensität der Existenz mehr hervorrufen als dieser 7°

Schauspieler, der mir Hamlet nahe bringt, als diese gedankliche Wahrnehmung von der Zweisamkeit, als dieses Problem algebraischer Geometrie, dessen zahllose Verzweigungen ich plötzlich entdecke, oder als diese Versammlung im Freien, vor den Toren einer Fabrik, wo ich feststelle, dass meine politische Aussage die Leute versammelt und umwandelt. Jedoch ereignet sich hinsichtlich meiner Interessen als die eines sterblichen Raubtieres nichts, was mich beträfe oder von dem eine Erkenntnis mir anzeigte, dass es sich um einen mir angemessenen Umstand handelt. Ich bin dort völlig präsent, indem ich meine Bestandteile zu einem Überschreiten über mich selbst, das die durch mich hindurchgehende Wahrheit induziert, verbinde. Aber ich bin daher auch in der Schwebe, gebrochen und abberufen: des-interessiert. Denn ich vermöchte nicht in der Treue zur Treue, was die ethische Konsistenz definiert, mich für mich zu interessieren und also meine Interessen zu verfolgen. Mein ganzes Vermögen an Interesse, das mein eigenes Verharren im Sein ist, wird sich auf die künftigen Folgen der Lösung eines wissenschaftlichen Problems, auf die Prüfung der Welt im Lichte der liebenden Zweisamkeit, auf das, was ich eines abends aus dem Treffen mit dem ewigen Hamlet mache, oder auf die nächste Etappe des politischen Prozesses nach der Auflösung der Versammlung vor der Fabrik ergießen. Es gibt nur eine Frage in der Ethik der Wahrheiten: wie werde ich als Jemand fortfahren mein eigenes Sein zu überschreiten? Und auf konsistente Weise das, was ich weiß, mit den Wirkungen eines Zugriffs aufs Ungewusste zu verbinden? Dies kann auch so gesagt werden: Wie werde ich weitermachen zu denken. Das heißt in der Zeit das Singuläre meines Vielfach-Seins und, durch die einzige materielle Ressource dieses Seins, den Unsterbli71

chen, der eine Wahrheit durch mich in eine SubjektKomposition aufkommen ließ, aufrecht zu erhalten. 2) Alle Wahrheit setzt, wie gesagt, die überlieferten Kenntnisse ab und widersetzt sich also den Meinungen (opinions). Denn man nennt Meinungen die Vorstellungen ohne Wahrheit, die anarchischen Überbleibsel des geläufigen Wissens. Nun, die Meinungen (opinions) sind das Bindemittel der Gesellschaftlichkeit. Darüber unterhalten sich die menschlichen Tiere, alle ohne Ausnahme, man kann nicht anders: das Wetter, der letzte Film, Kinderkrankheiten, Löhne, die Gemeinheiten der Regierung, das Benehmen der heimischen Fußballmannschaft, das Fernsehen, der Urlaub, die entfernten oder nahen Gräuel, die Verdrießlichkeiten der republikanischen Schule, die letzte Platte einer HardrockGruppe, die Empfindsamkeiten der Seele, ob es zu viel oder zu wenig Einwanderer gibt, die neurotischen Symptome, die Berufserfolge, die kleinen guten Gerichte, das letzte Buch, die Läden, wo man für billig Geld das kriegt, was man braucht, Autos, Sex, die Sonne ... Himmel, was würden wir nur tun, wenn all dies nicht wäre, das in der Stadt seine Runde macht und unter den Tieren der Stadt ausgetauscht wird? Zu welcher deprimierenden Stille wären wir nicht verurteilt? Die Denkungsart ist der Rohstoff aller Kommunikation. Man weiß, dass dieser Begriff heute in Mode ist, und einige sehen darin die Verwurzelung des Demokratischen mit dem Ethischen. Ja, man stellt oft die These auf, dass das, was zählt, Kommunikation ist, dass jede Ethik »Ethik der Kommunikation« ist.!? Wenn man fragt: Sicherlich muss man kommunizieren, aber worüber?, dann ist es leicht zu antworten: über Meinungen (opinions), Meinungen über die ganze Weite der Vielfachen, das dieses besondere 72

Vielfache, das menschliche Tier, in der halsstarrigen Festlegung seiner Interessen experimentiert. Meinungen ohne ein Körnchen Wahrheit. Und auch übrigens ohne Falschheit. Die Meinung erreicht bei weitem nicht das Wahre und das Falsche, gerade, weil ihre einzige Funktion darin besteht, mitteil bar zu sein. Was dagegen von einem Wahrheitsprozess abhängig ist, kann nicht mitgeteilt werden. Die Kommunikation ist allein für die Meinungen geeignet (und dieser können wir, es sei noch einmal gesagt, nicht entbehren). Für alles, was die Wahrheiten betrifft, ist eine Begegnung erforderlich. Der Unsterbliche, der ich sein kann, könnte nicht in mir durch die Wirkungen der sich mitteilenden Sozialität hervorgerufen werden, es muss direkt durch Treue erfasst werden. Das will besagen: [es ist] in seinem VielfachSein durch die Spur eines immanenten Bruchs gebrochen und schließlich, auch ohne sein Wissen, durch einen ereignishaften Zusatz aufgerufen. In die Komposition eines Wahrheitssubjekts einzutreten, kann nur etwas sein, was dir zustößt. Davon legen die konkreten Umstände ein Zeugnis ab, Umstände, in denen jemand von einer Treue erfasst wird: eine Liebesbegegnung, das plötzliche Gefühl, dass sich ein Gedicht an dich wendet, eine wissenschaftliche Theorie, deren zunächst undeutliche Schönheit dich fesselt, die aktive Einsicht einer politischen Versammlung ... Philosophie bildet davon keine Ausnahme, denn jeder weiß, dass man, um in ihr dem Erfordernis eines desinteressierten Interesses zu entsprechen, einmal in seinem Leben dem Wort eines Meisters begegnet sein muss. Daher ist Ethik einer Wahrheit das gen aue GegenSie ist eine Ethik teil einer »kommunikativen des Realen, wenn es wahr ist, wie Lacan vorschlägt, dass aller Zugang zum Realen zur Ordnung der Be73

gegnung gehört. Und die Konsistenz, die der Inhalt der ethischen Maxime: »Weitermachen!« ist, ist nur möglich, wenn man den Faden dieses Realen [fest-J hält. Man könnte sie so formulieren: »Vergiss nie, was du angetroffen hast.« Aber bedenke dabei, dass das Nicht-Vergessen kein Gedächtnis ist (ach! Diese unerträgliche und journalistische »Ethik der Erinnerung