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German Pages [184] Year 1970
Hans-Joachim Kosmahl Ethik in Oekumene und Mission
HANS-JOACHIM
KOSMAHL
Ethik in Oekumene und Mission Das Problem der „Mittleren Axiome" bei J. H. Oldham und in der christlichen Sozialethik
VANDENHOECK & RUPRECHT IN G Ö T T I N G E N
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink Band 23
© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1970. — Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
Meiner Mutter und meiner Frau in Dankbarkeit
Vorwort Diese Dissertation entstand in den Jahren 1965 bis 1968 neben meiner Arbeit als Gemeindepastor meiner holsteinischen Landgemeinde. Anregung und Ermutigung, Rat und Hilfe gab mir mein hochverehrter theologischer Lehrer, Herr Professor Dr. van Oyen in Basel. Die Beschäftigung mit Fragen der ökumenischen Theologie führte anläßlich eines Besuchs während einer Urlaubsreise im Hause meines Doktorvaters mich auf die Gestalt des ökumenischen Pioniers J . H. Oldham und auf das von ihm aufgezeigte Problem der „middle axioms" in der evangelischen Sozialethik. Ich befaßte mich intensiv mit diesem Problem und erhielt die Überzeugung, daß es von großer Aktualität im theologischen Dialog der Gegenwart ist. Die hermeneutische Aufgabe der Übersetzung des Liebesgebotes Christi in die Begrifflichkeit des säkularisierten ethischen Denkens und die Bemühung um einen angestrengten sachlichen Dialog von Theologen und Sachexperten in den Positionen der Weltverantwortung gehören heute zu der Verpflichtung des Christen, dessen Existenz unter dem Horizont einer ökumenisch-missionarischen Weltverantwortung steht. Die „mittleren Axiome" sind die Wegmarken auf das Ziel hin, das in einer Gemeinschaft der Menschen auf dem Boden der letztgültigen Wirklichkeit der von Christus geschenkten und gebotenen Liebe besteht. Ich möchte mit dieser Arbeit im Todesjahr von J . H . Oldham an einen Mann erinnern, der heute den Christen und Nichtchristen, die sich um die gefährdete Menschheit bemühen, viel zu sagen hat. Seine Gedanken aus den Jahrzehnten der beiden Weltkriege und der Unmenschlichkeit sind heute auf der Suche nach Menschenwürde und Gerechtigkeit von besonderer Bedeutung für uns. Ich danke Herrn Professor Dr. van Oyen für seine Güte und Freundlichkeit, die er mir schenkte. Ich danke der hochwürdigen Theologischen Fakultät in Basel, die diese Arbeit als Doktorarbeit angenommen hat, und meinem Bischof, meinem Propst und meiner Gemeinde, die viel Verständnis zeigten für meine Studien. Vor allem danke ich meiner Mutter, daß sie mir die Möglichkeit gegeben hat, für die mit der Arbeit verbundenen Kosten aufzukommen, und mir in den Wochen vor dem Rigorosum stille Klausur in Hamburg bei sich gewährte. Meine Frau hat mit ihrer Liebe und Hilfe mit unseren fünf lebhaften Buben ermutigend, verstehend und fördernd die Arbeit begleitet und mitgetragen. Herr Prof. D. Dr. Schlink hat mit seiner freundlichen Fürsprache gesorgt, daß die 7
Arbeit in seiner beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht herausgegebenen Reihe „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie" erscheinen durfte. Ihm, dem Verlag, der Universität Basel und meiner Landeskirche danke ich für die Druckmöglichkeit und die Kostenzuschüsse. An den Druckkosten haben sich außerdem die ökumenische Centrale in Frankfurt/Main und die Deutsche Gesellschaft für Missionswissenschaft in Heidelberg durch Beihilfen beteiligt. Auf diese Weise sind mir alle finanziellen Sorgen abgenommen worden. Für die freundliche Behandlung meiner Anträge haben gesorgt Se. Magnifizenz, Herr Prof. Dr. Eichenberger, Rektor der Universität Basel (Regenzausschuß), Herr Prof. D. Gensichen/Heidelberg, Herr Oberkirchenrat Dr. Krüger/Frankfurt und Herr Oberlandeskirchenrat D. Schmidt/Kiel. Ihnen allen sage ich Dank. Für wertvolle Beratung Veröffentlichung und Druck betreffend danke ich Herrn Dr. Müller-Römheld vom ökumenischen Rat der Kirchen in Genf und dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Der ursprüngliche Titel dieser Arbeit „Die Darstellung der sozialethischen Theologie J. H . Oldhams als Theologie der ,Mittleren Axiome' und ihre Diskussion und Verwendbarkeit innerhalb der christlichen Sozialethik" wurde bei der Drucklegung gekürzt in die obige Titelfassung.
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Inhalt Vorwort . . . . . . . . Einleitung: Joseph Houldsworth Oldham, Pionier und Anreger in der ökumenischen Theologie TEIL
7 13
I
Die Darstellung der sozialethischen Theologie Oldhams als Theologie der „Mittleren Axiome" 1. K a p i t e l : Die Situation des Menschen in der Welt A ) D e r Mensch im Denken Oldhams B) Die Charakterisierung des Personseins innerhalb der Gesellschaft: Alles wirkliche Leben ist Begegnung C ) Die Wirklichkeit des Menschen: Er ist Mensch als Mitmensch D ) D i e Verpflichtung des Menschseins zum mitmenschlichen H a n d e l n innerhalb der konkreten Situationen des Lebens E) D i e in Jesus Christus begründete neue Mitmenschlichkeit als die Wirklichkeit des ethischen „ C o m m i t m e n t s " F) Die Definition des Glaubens innerhalb der säkularen Welt der Ideologien 2. K a p i t e l : Die Kirche Jesu Christi und ihr Dienst an der Welt A ) Der Kirchenbegriff B) Die Forderung der Laizisierung der Kirche als Kritik an der traditionellen Zwei-Reiche-Lehre C ) Zeugnis und H a n d e l n der Kirche im Gemeinschaftsleben
26 26 26 29 32 35 38 41 44 44 45 47
3. K a p i t e l : Die „Mittleren A x i o m e " als Schlüsselproblem A ) D i e „Mittleren A x i o m e " als methodische A u f g a b e der Übersetzung des Liebesgebotes Christi in die Begriffswelt der modernen Gesellschaft
55
55
B) D i e Formulierung von „Mittleren A x i o m e n " als H i l f e n für die weltweite Verantwortung
58
1. D a s Problem der „Verantwortlichen Gesellschaft" 1. D i e P r a x i s des Gemeinschaftslebens
60
2. Eine christliche Lehre v o n der Arbeit
60
3. K o l l e k t i v e Sittlichkeit
64
4. D i e politische A u f g a b e
65
2. Verantwortliche Beziehungen von Kirche und Staat a) D a s Postulat der „Oberhoheit des Persönlichen"
68 68
b) D i e B e d e u t u n g der „ O b e r h o h e i t des Persönlichen" als kritisches u n d k o n s t r u k t i v e s P o s t u l a t in den f ü n f Sektionen v o n O x f o r d
3. Verantwortung in der Erziehung 4. Verantwortung für die Welt
72
77 81
a) D e r evangelistische u n d missionarische C h a r a k t e r der V e r a n t w o r tung f ü r die Welt
81
b) Missionserfahrungen als B e i t r a g f ü r d a s Weltgewissen
85
c) V e r a n t w o r t u n g in der R a s s e n f r a g e
85
5. Zusammenfassung
104 TEIL I I
Die Diskussion der Theologie der „Mittleren A x i o m e " in der evangelischen Sozialethik 4. Kapitel: Sozialethische Entwürfe in der angelsächsischen Ökumene A) Die kommunikative Orientierung der personalistischen Sozialethik bei G. Muelder B) Duffs Differenzierung der „ethic of ends" und der „ethic of inspiration C) Bennetts „christlich sozialer Imperativ"
109 109 109 111 113
5. Kapitel: Die Theologie der Gesellschaft bei Wendland als Weiterführung der „Mittleren Axiome" A) Der universal-eschatologische Ansatz B) Offenheit für neue soziale Wirklichkeitsformen C) Die soziale Aufgabe der „weltlichen Christenheit" D) Die Kraft der Hoffnung E) Die zukünftige Funktion der Sozialethik
117 117 118 120 123 125
6. Kapitel: Die sozialethische Verantwortung des Personalen bei von Oppen
127
7. Kapitel: Paul L. Lehmanns Ablehnung der „Mittleren Axiome" in seiner „Ethik als Antwort"
131
S.Kapitel: Die sozialethische Verantwortung für die strukturelle Ordnung der gesellschaftlichen Institutionen bei A.Rich A) Die Verantwortung für die institutionelle Ordnung der Gesellschaft als Frage nach der Relevanz des Glaubens B) Die Liebe gibt die Zielrichtung gesellschaftsgestaltenden Handelns C) Die Auseinandersetzung mit dem säkularen Messianismus findet die Antwort in einer neuen evangelischen Weltlichkeit D) Das Ziel der kritischen Gesellschaftsdiakonie: dem Menschen dienlichere Ordnungen E) Die eschatologisch orientierte „Theologie der Revolution" begründet die Neuordnung der Gesellschaft vom Handeln Gottes F) Zehn Paradigmen („Maximen sozialer Entscheidung") für die industrielle Arbeitswelt und Wirtschaft 10
133 133 134 134 136 136 138
9. Kapitel: Die Forderung der Überprüfung überholter wirtschaftsethischer Auffassungen in der Wirtschaftsethik Munbys A) Die „Mystische Einheit der Trinität" als Modell für „mutual relations" in der „Verantwortlichen Gesellschaft" B) Das Naturgesetz als die Voraussetzung für „Mittlere Grundsätze" C) Gemeinsames Handeln D) Grundlagen christlichen Gesellschaftsverständnisses E) Sieben Ziele internationaler Wirtschaftsordnung F) Bowens Goals-Reihe G) Christliche Grundsätze 10. Kapitel: Hendrik von Oyens Kritik an den „Mittleren Axiomen" Oldhams als Problem der Sprachgestalt des unbiblischen Geistes A) Die drei Gestalten evangelischer Annäherung an die Sozialproblematik B) Sorge um den biblisdien Inhalt der sozialethischen Denkkategorien C) Philia im Kontext der Anwaltschaft des Geistes
140 140 141 142 142 143 144 144 146 146 148 149
a) Philia, Liebe der O r d n u n g , im Unterschied v o n A g a p e , Liebe der H i n gabe, und Eros, Liebe der E r z e u g u n g
150
b) D i e protologische und esdiatologische Bezogenheit der Anwaltschaft des Geistes
151
11. Kapitel: Betrachtung der Denkschriften der E K i D von der sozialethischen Theologie der „Mittleren Axiome" aus A) Die Eigentums-Denksdirift als Ruf zur ausgleichenden Gerechtigkeit B) Die Landwirtschaftsdenkschrift als partnerschaftlicher und helfender Dienst C) Die Studie „Friedensaufgaben der Deutschen" und die Ost-Denkschrift als Dienst der Versöhnung
154 154 157 159
TEIL I I I
Die Beurteilung der Verwendbarkeit der sozialethischen Theologie der „Mittleren A x i o m e "
164
12. Kapitel: Der Problemhorizont
164
13. Kapitel: Die Frage nach der Radianz der Agape innerhalb der Sinndeutung der sozialen Frage in der Theologie der „Mittleren Axiome"
170
14. Kapitel: Die Frage nach der eschatologischen Ausstrahlung der Agape in den „Mittleren Axiomen"
174
15. Kapitel: Folgerungen
178
Literaturverzeichnis
180
11
EINLEITUNG
Joseph Houldsworth Oldham, Pionier und Anreger in der ökumenischen Theologie Willem A. Visser't Hooft hat einmal von Oldham geschrieben: „Wir verdanken ihm mehr als irgendeinem anderen ökumenischen Führer." 1 Mit John R. Mott, Söderblom, Temple und Bell gehört der „Laie" Oldham unter die führenden Gestalten der ökumenischen Bewegung in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach dem Studium in Edinburgh und Oxford wurde der im Jahre 1874 in Schottland geborene Oldham Sekretär der christlichen Studentenbewegung in England von 1896 bis 1897 2 . In den Jahren 1897 bis 1900 war er Sekretär des Christlichen Vereins Junger Männer in Lahore/Indien 3 . Im Jahre 1908 wurde er nach ökumenische Profile, B a n d I, S. 209. D i e Geburtsangaben differieren: nach Weltkirchenlexikon, 1073, und International Review of Mission, J a n . 1970, S. 8 : Geburtsort Bombay, nach R G G I V , 1624, geboren am 2 0 . 1 0 . 1 8 7 4 in Schottland. Oldham starb am 1 6 . 5 . 1 9 6 9 in St. Leonards 94jährig. 3 R G G I V , 1624. D r . J . W . C . D o u g a l l , schottischer Landsmann und naher Kollege, hat im Januarheft 1970 des International Review o f Mission eine Darstellung vom Leben und Werk Oldhams gegeben. Aus dieser Skizze, die vor allem die Arbeit O l d hams vor und nach der Weltmissionskonferenz Edinburgh berührt, seien einige genauere Angaben über die Entwicklung Oldhams übernommen: 1874 als ältester Sohn des Liet.-Col. und späteren Laienevangelisten G . W . O l d h a m in Bombay geboren, Kindheit in Malabar Hill und Girgaum in Indien, 1881 Heimkehr der Eltern nach Schottland, Schulzeit in Crieff und Edinburgh, 1892 Student im Trinity College in O x f o r d , dort tief beeindruckt durch die bes. aus Amerika und von der Y M C A inspirierte studentische Bewegung der .Student Volunteers for Foreign Missions' ( R . P . W i l d e r , Henry Drummond, J o h n R . Mott, Robert E. Speer), Mitarbeit im ,Student Volunteer Missionary Union' ( = S V M U ) , 1896 Sekretär bei der 1. S V M U Konferenz in Liperpool, 1897 ein J a h r Generalsekretär von ,Student Christian Movement' ( = S C M , aus der S V M U als größere Bewegung entwickelt), daneben Beteiligung an der christlichen Studentenarbeit in der Hochschule (Inter-Collegiate-ChristianUnion, British College Christian Union, World Student Christian Federation), 1 8 9 7 — 1900 im Auftrag des Y M C A in Lahore/Indien, Heirat mit Mary Oldham, Heimkehr infolge Krankheit, nach der Heimkehr 1 9 0 1 — 1 9 0 4 Theologiestudium im N e w College in Edinburgh, während dieser Zeit 1903 „Studies in the Teaching of Jesus" und Reisen nach Deutschland ( K o n t a k t mit Warneck in Halle), 1906 ,Mission Study Secretary' der .United Free Church of Scotland', Verwendung im Predigtdienst ohne Ordination als ,assistant to a minister' in seiner Heimatkirche, 1908 1. Sekretär von .Mission Study Council' seiner schottischen Kirche, Mitarbeit unter Dr. Robson (Herausgeber des ,Missionary Record' und Obersetzer von Warnecks Buch über die Geschichte der protestantischen Missionen), bei den Vorarbeiten für Edinburgh 1910 im Internationalen Kommittee in O x f o r d (ab 1908) zuerst als Sekretär und dann auf Motts Bitte hin mit der vollen Konferenzvorbereitung betraut, bei der Konferenz Chairman der K o m 1
2
13
einer Periode theologischer Studien der Sekretär der Weltmissionskonferenz in Edinburgh. Nach den Weltmissionskonferenzen von Bremen (1866), London (1878) und New York (1900) war die Konferenz von Edinburgh im Jahre 1910 ein neuer Anfang 4 . Die große Repräsentation der Missionsgesellschaften, die Zusammenarbeit und die Schaffung eines Fortsetzungsausschusses mit einem hauptamtlichen Sekretär stärkten den ökumenischen Charakter der evangelischen Weltmission („Evangelisierung der Welt in dieser Generation") 5 . Thunberg kennzeichnet allerdings diese Konferenz als „Konferenz des christlichen Westens". „Den Christen dieser Länder oblag die große Aufgabe, der nichtchristlichen Welt das Evangelium zu geben. Die Botschaft selbst verpflichtete dazu, aber die Notwendigkeit, sie weiterzugeben, wurde auch von den sozialen Verhältnissen unterstrichen. Die nichtchristliche Welt befand sich außerdem durch die industrielle und kommerzielle Expansion des Westens in einem Zustand ständiger Veränderung, auch politisdi auf Grund des heranwachsenden Nationalismus. In dieser Lage erkannte man es als dringender denn je, das Evangelium zu verkünden."® Walter Frey tag charakterisiert die Stunde der Konferenz als eine Zeit, „in der die wirtschaftliche und koloniale Ausbreitung Europas auf einem Höhepunkt angelangt war. Die Welt war im Begriff, eine Einheit zu werden unter abendländischer Herrschaft" 7 . Man dachte in einem unreflektierten und unangefochtenen Überlegenheitsbewußtsein in der Kategorie einer christlichen Zivilisation. „Planung" bedeutete, daß die günstige Stunde („solange es Zeit i s t . . " ) genutzt würde zur Ausbreitung des Evangeliums vom christlichen Abendland über die ganze nichtchristliche Welt 8 . Der Exemission III (Education in Relation to the Christianization of National Life), nach der Konferenz Sekretär des Fortsetzungsausschusses 1910—1921 (in dieser Zeit Veröffentlichung von „The World and the Gospel"), 1921—1938 Sekretär des Internationalen Missionsrates, seit 1920 Afrikafragen (1923 Memorandum über Erziehungspolitik in A f r i k a als Mitglied des ,Advisory Committee on Education in Tropical Africa' an die britische Regierung, in Zusammenarbeit mit Miss Gibson Veröffentlichung von „The Remaking of Man in A f r i c a " , 1924, „Christianity and the Race Problem"). — D a v i d Paton in Lutherische Rundschau Jan. 1970, S. 23: „Oldham war als Presbyterianer in der Kirdie von Schottland aufgewachsen und wurde erst in seinem späteren Leben Anglikaner." 4 Weltkirchenlexikon, 1593, Rouse-Neill, Geschichte der ökumenischen Bewegung, Bd. I, S. 297: Die Missionskonferenz von Edinburgh „stellt die Wasserscheide zwischen den verschiedenartigen ökumenischen Bestrebungen der älteren Vergangenheit und der klar umrissenen ökumenischen Bewegung der jüngeren Vergangenheit dar". 5 Gerhard Brennecke, Weltmission in ökumenischer Zeit, S. 214 ff. (Übersicht der 6 A.-M. Thunberg, Kontinente im Aufbruch, S. 219. Weltmissionskonferenzen). 7 Weltkirchenlexikon, Artikel Weltmissionskonferenzen, 1595, vgl. auch Walter Freytag, Reden und Aufsätze, Teil I, S. 46. 8 Stephen C . Neill, Männer der Einheit, S. 26 Zitat aus der Schlußansprache von John R . Mott: „Das Ende der Konferenz ist der Anfang des Kampfes. Das Ende des Planens ist der Anfang des Handelns." 14
kutivsekretär Oldham, der zusammen mit Mott die Hauptlast der Konferenzarbeit trug und Sekretär des Fortsetzungsausschusses und erster Sekretär des Internationalen Missionsrates wurde, widmete sich in 26 Jahren den Problemen von Edinburgh und der lebendigen Befruchtung der weltweiten christlichen Gemeinschaft mit den von ihr ausgehenden Impulsen. Edinburgh gab den Anstoß, der zu der Weltkonferenz für Glaube und Kirchenverfassung (Faith and Order) führte, aber auch die Bewegung für Praktisches Christentum (Life and Work) verdankt Edinburgh ihre Entstehung. Willem A. Visser't Hooft beschreibt beide Bewegungen: Die historische Tat der Väter von Edinburgh bestand in ihrem Streben, ein klares und greifbares Zeugnis vom Ziel des Universalismus abzulegen, die Verkündigung des Heils in Christus an alle Menschen. Die Faith and Order-Bewegung konzentrierte sich weiterhin auf diese zentrale Wahrheit. In der Life and Work-Bewegung haben wir eine weitere Form des christlichen Universalismus vor uns, einen Versuch, die Herrschaft Christi in allen Lebensbereichen zu verkündigen 9 . Oldham, der im Jahre 1905 in Halle die deutsche Theologie und Kirche kennenlernte und das Vertrauen der führenden deutschen Kirchen- und Missionsmänner erwarb, konnte beitragen, daß auch die „kontinentalen Missionskräfte in eine zunächst vorwiegend anglo-amerikanische Organisation hineinwuchsen" 10 . Oldham, der die Konferenzberichte veröffentlichte, die britischen Missionsgesellschaften zusammenfaßte und die vorhandenen Kräfte koordinierte, plante eine Organisation weltweiten Ausmaßes als logische Entwicklung des Fortsetzungsausschusses11. Im Jahre 1921 fand der Plan „seinen krönenden Abschluß im ,Internationalen Missionsrat', dessen Sekretär Oldham wurde" 1 2 . Groß war der Katalog der Aufgaben: missionarische Fragen, Koordinierung nationaler Missionsorganisationen, gemeinsames Handeln, Einigkeit der christlichen öffentlichen Meinung, Unterstützung der Freiheit des Gewissens, der Religion und Missionsarbeit, Gerechtigkeit in internationalen und zwischenrassischen Beziehungen, Publikation des „International Review of Missions", Förderung des missionarischen Studiums und Vorbereitung und Einberufung der Weltmissionskonferenz 13 . Oldham war erster Generalsekretär des Internationalen Missionsrates bis zum Jahre 1938. Die Weltmissionskonferenz von Jerusalem 1928 wurde durch sorgfältige und umfangreiche Studien vorbereitet. Die Reihe der Themen Schloß religiöse Erziehung, Rassenfrage, Industrialisierung und ländliche • Willem A. Vissert't Hooft, ökumenische Bilanz, S. 188 ff. vgl. Freytag, Reden und Aufsätze, Teil II, S. 155. 1 0 Rouse-Neill, B d . I , S. 489 ff. 1 1 Vgl. seine Bemerkungen über das internationale Missionstreffen im Jahre 1920 in Crans in seinem Buch „The Missionary Situation after the W a r " , S. 50 (Pflicht der Missionen zur Kooperation). 1 2 ökumenische Profile, B d . I , S . 2 1 0 . 1 3 Rouse-Neill, B d . I , S . 5 0 4 .
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Probleme ein. Das „Department of Social and Economic Research and Counsel" und das „International Committee on the Christian Approach to the Jews" wurden geschaffen. Die Bedrohung des Christentums durch den Säkularismus als Weltproblem fand die Hauptaufmerksamkeit. „Der Zusammenhang von Zivilisation und Evangelium war zerbrochen. Diese Erschütterung des Superioritätsbewußtseins war kennzeichnend für die Lage." 14 Wie verhält sich das Evangelium zu den nichtchristlichen Denkund Lebenssystemen? Man mußte sich um die Werte in den nichtchristlichen Religionen mühen und fragen: Was ist unsere Botschaft? Eine Besinnung auf das Wesen der Mission als „church-centred mission" setzte ein. Der erste Weltkrieg hatte die Welt nicht nur äußerlich, sondern audi innerlich verändert. Die Frage nach dem Evangelium war elementar gestellt 15 . Der Mythos des christlichen Abendlandes war nun zerstört. Der Schock war heilsam. Im Gefolge seiner Sekretärsarbeit im Internationalen Missionsrat betreute Oldham die Herausgabe der Zeitschrift „The International Review of Missions", dessen erste Nummer schon im Jahre 1912 erschien. In den zwanziger Jahren schenkte er seine Aufmerksamkeit so gut wie ganz den Afrikafragen. 1926 erschien sein Buch „Christianity and the Race Problem" zwar nicht im Auftrag des Internationalen Missionsrates, aber ganz in dessen Geist. Die internationale Missionskonferenz in Le Zoute in Belgien befaßte sich 1926 mit dem Thema „Die christliche Mission in Afrika". Eine ganze Skala wirtschaftlicher und sozialer Fragen, besonders die Rassenf rage in Südafrika, lagen an 16 . Oldham, der von 1931 bis 1938 Verwaltungsdirektor des Internationalen Instituts für afrikanische Sprachen und Kulturen war, beherrschte den Kontext der Rassenfrage in sozialer, wirtschaftlicher und ideenmäßiger Hinsicht 17 . Er war in dem Gedanken verwurzelt, daß die Kraft des Evangeliums den Menschen sowohl geistlich als auch sozial und politisch freimacht. Die christliche Anschauung vom Menschen, die sich der Weltmission in der säkularen Welt als christliche Aufgabe stellt, wurde zum entscheidenden sozialethischen Motiv. In Asien und Afrika stellt sich das soziale Problem des Menschen, dessen alte Gemeinschaftsformen der Stammes- und Agrarstruktur zerbrechen. Die Anschauung vom Menschen als unauflöslicher Einheit bildet die Grundlage für ein fortschreitend konstruktives soziales Programm 14
Walter Freytag in Weltkirchenlexikon, 1596. Oldham gibt 1929 seinen Aufsatz heraus „Die unchristliche Weltkultur als Menschheitsgefahr" und fragt dort S.2: „In welchem Sinn ist uns Jesus Autorität?" Er fordert einen neuen Weg der Verkündigung, um an die Klassen heranzukommen. Die Frage der Verkündigung ist die nach dem „wirklich christlichen Leben" (S. 3). 16 Vgl. Thunberg S. 221 ff., ferner Anmerkung 6 auf S. 286 in „The International Review of Missions", Juli 1926, Vol. 15, Hinweis auf Material für die Missionskonferenz von Le Zoute, vgl. „Times" May 22, 1969: „Influence on African policy". 17 RGG, Bd. IV, 1624. 15
16
unter dem Namen „comprehensive program" (umfassendes Programm) 1 8 . Oldham, der im Jahre 1928 als Teilnehmer einer Regierungskommission Afrika besuchte, fand in Paton seinen Mitarbeiter, der in jeder Weise geeignet war, die missionarische Gesamtschau mit den sozialethischen Fragen zu verbinden. Oldham hielt enge Verbindung mit dem „ökumenischen Rat für Praktisches Christentum" in Genf. Die Weltkonferenz der Bewegung „Life and Work" in Stockholm im Jahre 1925 war inspiriert durch Nathan Söderblom, für den die religiösen und sozialen Probleme der Kirche untrennbar vereint sind. „Gottesdienst kann nicht von sozialem Dienst getrennt werden. Ein positiv umgestaltendes Interesse für die sozialen Verhältnisse der Menschen liegt in der christlichen Liebe als solcher." 19 Söderblom unterschied zwischen einem „allgemeinen" und einem „besonderen" sozialen Amt der Kirche: das „allgemeine" soziale Amt der Kirche betraf als den Kern der sozialen Frage die Erneuerung des Menschen, das „besondere" soziale Amt der Kirche bedeutete den direkten und konkreten Einsatz im Gemeinschaftsleben. „Stockholm 1925 bezeugte in unmißverständlicher Weise die Verantwortung der Kirchen für das gesamte Leben." 2 0 In Erinnerung an das erste ökumenische Konzil vor 1600 Jahren wurde die Stockholmer Weltkonferenz „Nicäa der Ethik" genannt. Das gemeinsame Handeln angesichts der brennenden Nöte der Welt wurde über die Fragen der Lehre einer wiedervereinigten Christenheit gestellt. Der gemeinsame Dienst der Kirchen bringt einander näher. Das Motto war: ökumenische Gemeinschaft in Anbetung und Dienst. Aber es erwies sich nach dem Urteil von Nils Ehrenström als Illusion, kontroverstheologische Fragen auszuschließen. Die Meinungen über das „social gospel" der amerikanischen Theologie prallten hart aufeinander. In der Frage der Eschatologie über das Verständnis des Reiches Gottes bestand keine Einigkeit 21 . Wilhelm Menn sah in der Stockholmer Konferenz den ökumenischen Durchbruch, der schon im Jahre 1919 bei der Tagung des „Weltbundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen" in Oud-Wassenaar angedeutet war. Damals war der Plan einer ökumenischen Konferenz sichtbar geworden, deren Hauptzweck die gemeinsame theoretische und praktische Arbeit an der christlichen Brüderlichkeit, an der organisierten Einheit der Völker und an der gemeinsamen Stimme des christlichen Gewissens sein sollte. „In der 1924 von Stockholm ausgegangenen Einladung zur Weltkonferenz standen die sozialen Fragen dann vor den internationalen, diese Rangordnung hat die Arbeit der ökumenischen Be1 8 Vgl. Thunberg S. 2 2 7 : das W o r t „comprehensive" gibt die Idee an, die hinter diesem P r o g r a m m liegt: Die Mission schließt alle Bedürfnisse des Menschen in ihre Sorge ein wie christlichen Gemeindeaufbau, Gesundheitspflege, Landwirtschaftsmethoden, Wirtschaft des Dorfes. Die R u r a l Mission praktiziert das P r o g r a m m . 1 9 Thunberg, S. 2 2 3 . 20
2
Rouse-Neill, B d . I I , S. 188.
Kosmahl, Ethik
21
Weltkirchenlexikon,
1167/68.
17
wegung bis heute bestimmt." 2 2 Die offenen Fragen, die um das „social gospel" kreisten, führten zu der Uberzeugung: „Die Lehre trennt, der Dienst aber verbindet." Die Nacharbeit von Stockholm war von dieser Überzeugung inspiriert. Davon zeugen die Einrichtung eines „Sozialethischen Forschungsinstituts" und die Themen der aufeinander folgenden Studienkonferenzen: 1930 London („Die Kirche und die moderne Wirtschaftsgestaltung"), 1932 Basel („Die Kirchen und die Weltwirtschaftskrise"), 1932 Genf („Kirche, Bekenntnis und Sozialethos") und 1933 Rengsdorf („Die Kirche und die Frage der gesellschaftlichen Ordnung"). Im Jahre 1934 wurde Oldham Vorsitzender der Konferenz für Praktisches Christentum. Dieser Vorsitz bedeutete für den Missionsmann die Aufgabe des spiritus rector der Life and Work-Bewegung in den dreißiger Jahren 2 3 . Der Weg führte nun zur zweiten Weltkonferenz für praktisches Christentum (Life and Work) 1937 in Oxford mit dem Thema: „Kirche, Volk und Staat". Oldham hatte die Augen offen für die „Weltreligion des Säkularismus" 24. Sie wurde für ihn zur schockartig bedrängenden Kardinalfrage. Mit R. Mott und Rufus Jones drängte er, diese Frage unbedingt zu beraten und zu durchdenken. Man erkannte, daß der Leiter des Internationalen Missionsrates an die führende Stelle der Vorbereitungsarbeit für die zweite Weltkonferenz der Life and Work-Bewegung in Oxford gehörte. Als Vorsitzender der Forschungskommission sollte er nun Oxford 1937 vorbereiten. Mit dem Thema „Kirche, Volk und Staat" wollte die Konferenz die Kirchen aufmerksam machen auf den „Vormarsch eines säkularisierten Totalitarismus" 2 5 . In der Programmerklärung hieß es: „Durch die außerordentliche Ausdehnung der Funktionen des Staates, die sich in jüngster Zeit auf allen Gebieten durchsetzt, und durch die Entstehung von autoritären und totalitären Staaten in einigen Ländern ist die jahrhundertelange Frage des Verhältnisses zwischen der Kirche und dem Staat in einer neuen und oft sehr zugespitzten Form in den Mittelpunkt des geistigen Ringens getreten. In diesem Ringen geht es um die Existenz der christlichen Kirche selbst." 26 Das Problem war das Verhältnis „zwischen der einer überweltlichen Autorität verpflichteten Kirche und der geschlossenen Einheit des völkisch-staatlichen Lebens" 2 7 . Der Kampf zwischen christlichem Glauben und den säkularen und heidnischen Kräften der Zeit war auf Leben oder Tod angesagt. Der Geist von Stockholm 1925 war — zwar ohne die leibliche Präsenz Söderbloms — im ehrlichen Realismus bei der Oxforder Konferenz gegenwärtig und mächtig. „Oxford 1937 kann man als ökumenische Studienkonferenz auf welt22 24 28
18
Evangelisches Soziallexikon, 781 Thunberg, S. 231. Ebda.
ff.
23 25 27
R G G , Bd. IV, 1624. Weltkirchenlexikon, 1171. Rouse-Neill, Bd. II, S.243.
weiter Ebene kennzeichnen. Es sollte ein Gipfelpunkt innerhalb eines steten Prozesses der Klärung und Zusammenfassung des christlichen Denkens und Handelns hinsichtlich brennender Probleme der Gesellschaft sein." 28 Der Laie Oldham strebte nach dem Urteil seines Mitarbeiters und Freundes Visser't Hooft leidenschaftlich danach, den christlichen Glauben als bedeutsam für die moderne Welt herauszustellen 29 . Er fragte unermüdlich nach dem Denken der Laien in den verschiedensten Lebens- und Arbeitsbereichen. Der analytisch begabte Beobachter großen Stils hatte ein umfassendes Wissen darüber, was die Wissenschaftler, Soziologen, Philosophen und Schriftsteller als die Interpreten der Zeit dachten. Oldham stellte sich der Frage: Entweder stimmt die Aussage der Bibel, daß Gott sein Wesen, seinen Willen und seinen Plan in Christus offenbart hat, oder es gibt keine der Welt und ihren Problemen zugewandte Wahrheit. Entweder eröffnet die Antwort der Christen auf die Gottesoffenbarung eine neue von Gott geschaffene Lebensordnung, oder der Mensch bleibt verlassen und ohne Hoffnung auf Lösung seiner notvollen Fragen 30 . Die neuen Weltideologien standen unversöhnlich im Gegensatz zu der christozentrischen Universalität des Glaubens und Bekennens der Kirchen. In Deutschland war der Kirchenkampf mit der Barmer Theologischen Erklärung des Jahres 1934. Die deutsche Delegation durfte nicht nach Oxford reisen. Die ökumenische Bewegung mußte eindeutig christozentrisch werden. Bewußter denn je mußte die Kirche als Gottes Heils-Werkzeug in der gegenwärtigen Weltsituation interpretiert werden. Nationalsozialismus, Faschismus und Kommunismus forderten die ökumenische Bewegung heraus. So waren beide Impulse „Life and Work" und „Faith and Order" zu einer gemeinsamen Antwort der ökumenischen Kirche gefordert. Nils Ehrenström kennzeichnete die Arbeit der Oxforder Konferenz unter ihrem Inspirator Oldham als eine der „geistigen Höchstleistungen der ökumenischen Bewegung" 31 . Das Gespräch wurde als „Weltgespräch" gestaltet. Wir können von einem sozialethischen Bekenntnis der Ökumene in O x f o r d sprechen. Jüngere amerikanische Theologen wie R. Niebuhr und J. Bennett haben sich daran beteiligt. Die „sozialethische Funktion der Kirche" stand im Vordergrund 3 2 . Das Oxfordgespräch wurde nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgenommen und führte zur 1. Weltkirchenkonferenz des neugegründeten ö k u m e nischen Rates der Kirchen in Amsterdam im Jahre 1948. In Amsterdam stand das Gespräch unter dem Thema: „Die Kirche und die Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung" 3 3 . J.H.Nichols stellte fest, daß die Autorität der Oxfordberichte auf dem Gebiet der protestantischen Sozialethik et28 38 31 33
2*
28 Ebda. S. 246. Vissert't Hooft, ökumenisdie Bilanz, S. 190. Vissert't Hooft, Kein anderer Name, S. 114. 32 Weltkirchenlexikon, 1171. Evangelisches Soziallexikon, 783. Amsterdamer ökumenisches Gespräch, Bd. III.
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was Unerhörtes war. Die dort entwickelte Sachkunde stellte sie neben die besten säkularen Arbeiten 34 . John A. Mackay rief in das Gespräch: „Laßt die Kirche Kirche sein!" Das bedeutete nicht Selbstzweck, sondern eine Dienstaufgabe an allen menschlichen Gemeinschaftsformen. Als erlöste und erlösende Gemeinschaft muß sie hineinwirken in die monolithischen götzendienerischen Glaubens- und Volksgemeinschaften, Rassenund Klassengemeinschaften der Zeit, die ihre Katastrophe im Zweiten Weltkrieg erlebten. Die Kirche unter dem Kreuz mit Verfolgung und Leiden ist Vorbote einer wiedergeborenen und erneuerten Kirche. Sie muß unabhängig sein gegenüber „weltlichen Gegenkirchen" 35 aller möglichen Art. Die theologisch-ekklesiologische Reflexion verbindet sich in Oxford mit der täglichen Erfahrung des Laien 36 . Der Laie erkennt die religiöse Herkunft der sozialen und politischen Fragen im Bereich des Totalitarismus. Hartnäckig und energisch hatte Oldham in Oxford die Uberzeugung vorgetragen, daß „nur durch die lebendige Tat von ungezählten Christen, die täglich in der Verwaltung, in der Wirtschaft, im öffentlichen und sozialen Leben ihren Mann stehen, im sozialen und politischen Leben für Christus Zeugnis" abgelegt werden kann 37 . Von Oxford gehen Impulse zu den „Zehn Friedenspunkten", die im Jahre 1940 führende britische Kirchenmänner verkünden. Der Wille zur Einheit der Kirche, die Verantwortung für den Weltfrieden und die Sachkenntnis des Laienexperten sind seit Oxford 1937 in besonderer Weise charakteristische Verpflichtung der Ökumene geworden. Auf der ökumenischen Ebene verbinden sich Glaubenswissen und Weltbezogenheit zu einer Einheit, die schließlich ihre längst nötige Gestalt in der Bildung des ökumenischen Rates der Kirchen nach dem Zweiten Weltkrieg findet. Er weiß sich als Stoßtrupp im Weltdienst der Kirche. Man kann das Nebenher von Oxford (Life and Work) und Edinburgh (Faith and Order) in den beiden aufeinander folgenden Konferenzen des Jahres 1937 nicht als „Nebenher" bezeichnen, sondern als inneren Zusammenhang. Dieser innere Zusammenhang sollte die darauffolgende Konferenzarbeit anregen und befruchten, so daß schließlich bei der Dritten Weltkirchenkonferenz im Jahre 1961 in Neu-Delhi der ökumenische Rat und der Weltmissionsrat zusammenwachsen. Die sachlichen Ansätze dazu sind schon vor dem Zweiten Weltkrieg vorhanden. Die sozialethische Verantwortung und der Aufbruch der jungen Kirchen sind Symptome für das Neue, das Oldham entscheidende Impulse verdankt. Karl Barth hatte in diesem Vorgang der Frage nach dem Wesen der einen Kirche und nach dem Inhalt ihres Zeugnisses und Dienstes in der 34 35 3e 37
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Nichols, Democracy and the Churches, S. 235, zitiert in Rouse-Neill, Bd. II, S.248. Ebda. S. 249. W.A.Visser't Hooft, Hauptschriften, Bd. II, S.312. Rouse-Neill, Bd. II, S.250.
Welt die Sicht klären helfen. Lange Zeit schien es so, daß der Graben zwischen der amerikanischen und kontinentalen Theologie unüberbrückbar war. Die Vorwürfe der amerikanischen Theologie gegen die kontinentale, sie sei passiv-quietistisch, und die Vorwürfe der kontinentalen Theologie gegen die amerikanische, sie sei aktivistisch-uneschatologisch, hatten das ökumenische Miteinander stark belastet. Nun konnte die Weichenstellung des „social gospel" korrigiert werden. Das Reich Gottes wurde nun nicht mehr gesehen als ein von der Heilsfrage losgelöstes Gesellschaftsideal, das die Kirche als Programm anbieten konnte. Das Reich Gottes war Gericht über alles Menschliche und göttliche Gabe. Die Kirche sah sich in die Buße hineingerufen. Sie war an erster Stelle selbst gerufen, die Gemeinschaft zu verwirklichen, die Menschen an Menschen bindet und alle Mauern zwischen Klassen, Völkern und Rassen durchbricht 38 . Wenn die Kirche im Wissen um ihre sozialethische Aufgabe in den Fragen der Gesellschaft das Wort ergreift, dann nicht in der Absolutheitsform mit einem Programm, sondern in der Gestalt von Formulierungen und Überlegungen, die Oldham „middle axioms" nennt, d. h. in Sätzen, die in einem allgemeinen Rahmen einer allgemeinen Zielsetzung richtungweisend dienen 39 . John C. Bennett nennt die Mittelaxiome in Amsterdam 1948 „allgemeine christliche Prinzipien" und gibt dort ein Beispiel in der Frage der Überwindung der Rassentrennung. Es muß deshalb zu Mittelaxiomen kommen, weil der christliche Laie auf eine allgemeine Rahmenfassung und Richtung angewiesen ist. Seine detaillierten Entschlüsse im täglichen Leben in den verschiedensten Positionen des öffentlichen Lebens der modernen pluralistischen Gesellschaft sind auf brauchbare Hilfesätze aus der theologisch-kirchlichen Denküberlegung angewiesen. „Nur auf dem Wege über die einzelnen Laien nimmt die Kirche Stellung, aber diese ihre Stellung ist eine unumgängliche Pflicht, wenn die Kirche ihre Aufgabe erfüllen soll." 40 Oldham hatte seine Anschauung über die Funktion der Kirche in der Gesellschaft näher ausgeführt 41 . Dieser Beitrag bietet die Weiterführung des Gesprächs zu dem Begriff „Verantwortliche Gesellschaft". Nicht konstante Normenbegriffe, sondern flexible Orientierungshilfen helfen dem Menschen zu seiner Verantwortung des Entscheidens und Handelns. Ethisches Handeln ist in der Ich-Du-Beziehung Antwort auf den Ruf Gottes. Die Ich-Du-Kategorie, die Ebner, Buber in seinem Buch „Dialogisches Leben" und Emil Brunner anwenden, hat eine entscheidende Bedeutung im Denken OldThunberg, S. 235. Encyclopaedia of Religion and Ethics, Artikel „Axiom", S. 2 7 9 : die Bedeutung des Begriffs Axiom wird im sozialen Sinn beschrieben „an opinion which is as a fact, accepted by all who are competent to understand its import". 40 Thunberg, S.236. 41 W . A. Visser't Hooft-J. H. Oldham, The Church and its Function in Society (Church, Community and State, Vol. I, London 1937). 38 39
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hams bekommen. Man hat deutlich die Problematik empfunden, die das Beieinander von mittleren Axiomen als Ausdruck modifizierten Naturrechts anglikanischer Prägung und der Ich-Du-Kategorie der dialogischen Beziehung im Denken Oldhams aufgibt. Gegenüber dem Vorwurf aus dem Lager Karl Barths hatte Oldham auf die transzendente Dimension der „Verantwortlichen Gesellschaft" hingewiesen 42 . Oldhams Ethik ist nicht Normen-, Zweck- oder Wertethik, sondern Inspirations-, Situationsoder Kontextethik. Die Agape ist das einzige Gesetz dieser Ethik 4 3 . Die sogenannte vierte Dimension von Mission und Kirche, das heißt die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Umwelt der Kirche, fordert das christliche Zeugnis in einer Welt im Umbruch heraus. Das war in Tambaram 1938 und in Whitby 1947 deutlich geworden. Die Laien sind „partners in obedience" 44 . Im Nachdenken über die Heilsordnung Gottes inmitten der Unordnung der Welt mußte der christliche Glaube in der Liebe konkret werden. Die Liebe steht über dem Prinzip als Norm. Die Liebe ist der Inhalt der dialogischen Beziehung, die Normen wie Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden zu flexiblen richtungweisenden mittleren Axiomen uminterpretiert. Im Kairos der Entscheidung verlangen die Tatsachen und technischen Gegebenheiten ein sorgfältiges Abwägen um der Liebe zu allen Menschen willen. Oldham vertritt eine Ethik persönlicher Entscheidung und Verantwortung inmitten einer gesellschaftlichen Struktur, die angemessene Schritte zuläßt. Angesichts der hemmungslos wachsenden Kollektivmächte wurde in Amsterdam die „Verantwortliche Gesellschaft" definiert: „Verantwortlich ist eine Gesellschaft, in der Freiheit eine Freiheit für Menschen ist, die sich der Verantwortung für Gerechtigkeit und allgemeine Ordnung unterziehen, und in der die Träger politischer Autorität oder wirtschaftlicher Macht für den Gebrauch derselben vor Gott und vor dem Volk, dessen Wohlfahrt davon abhängig ist, verantwortlich sind." 4 5 Die Personwürde und die Sozialauf gäbe verlangen nach der 3. Sektion von Amsterdam „neue schöpferische Lösungen, die es nicht zulassen, daß Gerechtigkeit und Freiheit sich gegenseitig zerstören" 46 . Kleinere Gemeinschaftsgebilde — Gruppen — bieten den Raum für die personale und soziale Verantwortung des einzelnen als Glied am Leib der Gesellschaft 47 . Das Gruppendenken steht gegenüber dem Blockdenken. Es führt zu einer Neuorientierung gegenüber dem alles kontrollierenden Staat und unverantwortlicher privater Macht. Der Einzelmensch muß in der Ausübung der Verantwortung mitbeteiligt werden. Gegenüber dem D i e Kirche als F a k t o r , S. 229. E b d a . S. 175: „Wenn die Liebe die N o r m ist, handeln wir nach M a x i m e n , nicht nach festen R e g e l n . " 4 4 Thunberg, S. 240. 45 Ebda. S.245. 4 6 Wilhelm Menn, in: Evangelisches Soziallexikon, 784. 4 7 Times, 1 7 . 5 . 1 9 6 9 : " H e h a d a l r e a d y discovered the originality of P a u l Tillich. O l d h a m w a s p a r excellence the ' m i d w i f e ' of group t h i n k i n g . " 42 43
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Vorwurf, daß der Begriff der „Verantwortlichen Gesellschaft" nur kleine Schritte zulasse 48 , ist auf die beiden Gesichtspunkte hinzuweisen, die W. A. Visser't Hooft geltend macht: die Frage nach einer internationalen wirtschaftlichen Gerechtigkeit und die Frage nach dem Schicksal des Menschen bieten Ansatzpunkte für eine neue Exegese dieser Konzeption 49 . Die Verhandlungen in Evanston 1954 in der 6. Sektion mit dem Thema „Der Christ im weltlichen Beruf" griffen auf die Grundlagen zurück, die Oldham in seiner Veröffentlichung „Die Arbeit in der modernen Welt" gelegt hatte. Der arbeitende Laie braucht für seine Verantwortung geistliche Zurüstung durch die Kirche. Die Arbeitswelt ist heute wie nie zuvor der Ort, an dem das Christuszeugnis die Menschen antrifft. Oldham schränkt die institutionelle Gestalt der Kirche mit ihrer vorindustriellen Gemeinde- und Parochiestruktur ein. In der veränderten Welt, die von Technik, Bürokratie und Verbänden bestimmt wird, muß die Christenheit ein lebendiges Zeichen guter und geheilter Ordnung aufrichten. Der eschatologische Akzent des Evanstongesprächs mahnt die Kirche, daß sie Weltfremdheit und konservativen Rückfall überwindet und sich wirkungsvoller der sozialen Aufgaben annimmt. Die kontinentale Theologie der Ordnung mit der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre und die Lehre vom Naturrecht müssen überprüft und auf ihren Wert für die Sozialethik neu untersucht werden 50 . Oldham, Ehrenpräsident des ökumenischen Rats der Kirchen 1961—1969, ist zu sehr von der evangelistischen Verkündigung von Dwight L. Moody geprägt worden, als daß er sich mit einem zweigleisigen Denken abfinden kann 5 1 . Aus der Weltmission ist er in die Weltsituation geführt worden, in der die missionarisch-ökumenische Kirche in der Einheit des Leibes Christi dienen soll. Der Mann der Kirche, der sich mit Söderblom im Jahre 1919 Gedanken machte und vorschlug, den in Aussicht genommenen Weltrat „Weltliga der Kirchen" zu nennen 52 , hat als einer der ersten Führer in der Ökumene die Frage gestellt: „Wie kommen wir heute als einzelne, als Christen miteinander und zusammen mit Nichtchristen zu rechten Entscheidungen?" 53 Das Evangelium öffnet die Augen der Christen für die Interessen der Gesamtheit und zeigt die Wege zur partnerschaftlichen Zusammenarbeit mit allen positiven Gruppen in der Gesellschaft. Mittlere Axiome sind immer neu zu formulierende Versuche der Artikulierung des Liebesgebots im Dialog mit Andersdenkenden um des gemeinsamen Weges willen. Es wäre zu vorschnell, den Vorwurf des billigen Kompromisses zu erheben, der die Rendtorff/Tödt, Theologie der Revolution, S. 13. " Visser't Hooft, Hauptschriften, Bd. I, S. 43 ff. 50 Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 61. 5 1 Seine Unterschrift in „Pfingstbotsdiaft des ökumenischen Rats" vom Jahre 1 9 6 6 : „J. H. Oldham, St. Leonards-on Sea". 52 Jürgen Winterhager, Weltwerdung der Kirche, S. 130. 53 Beiheft zur ökumenischen Rundschau, Nr. 2, 1966, S. 36. 48
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Sache des Evangeliums preisgibt. Vielmehr können mittlere Axiome nur im harten Ringen der Realitäten als Ziele gewonnen werden, die die Liebe in menschen-, sach- und situationsgerechter Weise konkret werden lassen. Charakteristisch für die dialogische Existenz Oldhams ist, daß er den persönlichen Einfluß eines Menschen in hervorragender Stellung auf die öffentliche Meinung für wichtiger und wirkungsvoller ansah, als offizielle Verlautbarungen von kirchlichen und staatlichen Gremien. Seine Arbeit geschah oft im stillen des Einzelgesprächs. Seine Kritiker nannten das „Lobbying". Im Athenäum-Klub in London pflegte er regelmäßigen Umgang mit führenden Politikern und Kirchenmännern seines Landes. Für ihn waren Diskussionen nutzlos, wenn sie keinen Weg des Handelns aufzeigten. Seine Pressearbeit im „Christian Newsletter" und im „Christian Frontier Council" bot über Jahre gebildeteren Christen enorme Information über Vorgänge in der Welt und weckte den Sinn für christliche Ethik vor und im Zweiten Weltkrieg. Oldham lebte an den Grenzen der Kirche, wo er zum Wagnis geistig und geistlich aufforderte. Heute werden in dieses Ringen Stichworte gerufen wie „Liebe durch Strukturen" und „Revolution der Gesellschaft". Die Experten der Sachprobleme der Welt haben in Genf im Jahre 1966 und in Uppsala 1968 weiterführende Richtungshilfen für den Dienst der Kirche als „Faktor der kommenden Weltgesellschaft" gegeben. In Oxford 1937 war laut geworden, daß die „Churches survey their T a s k " : „Kein Rechts-, Staatsoder Wirtschaftssystem ist so schlecht oder so gut, daß es dem Einzelnen die Verpflichtung abnähme, durch Taten christlicher Liebe über das hinauszugehen, was das System von ihm verlangt." 5 4 Der Christ muß mehr kennen als das Minimum der äußeren Ordnung. Er muß die höhere Verpflichtung kennen, die die Forderung der Gerechtigkeit übersteigt: die Liebe als des Gesetzes Erfüllung. Die lutherische Ethik von der Rechtfertigung mit ihrer Unterscheidung von Gesetz und Evangelium, von bürgerlicher und göttlicher Gerechtigkeit, hat eine Personalethik mit der Kraft des Glaubens erfüllt, der in der Liebe tätig ist. „Aber das ausgedehnte Gebiet der körperschaftlichen Strukturen und des institutionellen Lebens ist dadurch oft des normativen Urteils und der Leitung des Gesetzes Gottes beraubt worden, weil die Kirche eine entsprechende Sozialethik vernachlässigt hat: Liebe, die Gerechtigkeit sucht." 55 Joseph Fletcher sieht in den mittleren Axiomen Prinzipien der christlichen Sophia, die die Situation erhellen, aber keine Entscheidungen vorschreiben 56 . Walter G. Muelder spricht genauso vorsichtig von den Umrissen einer Synthese im christlichen Sozialdenken, mehr können mittlere Axiome nicht bieten. Alles, was man aus Fakten, Werten und Deutungen in Theologie und Sozialwissenschaft ergründen kann, muß „ein Teil verantwortlichen 54 55
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Neill, Männer der Einheit, S . l l l . William H . Lazareth, in: Die Kirche als Faktor, S. 67.
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Ebda. S. 177.
Lebens in der säkularen Ordnung werden" 6 7 . Suzanne de Dietrich charakterisiert Oldhams Dienst in den weltweiten Problemen des verantwortlichen Lebens: „Dr. Oldham betonte, daß es notwendig sei, die modernen Probleme vom Standpunkt der Kirche aus zu sehen. Er unterstrich, wie wichtig es für die Menschheit sei, daß es eine Gesellschaft gibt, die ihren Ursprung, ihre Existenz nicht menschlichem Entschluß und Willen verdankt, sondern allein der Erlösungstat Gottes, deren bestimmende Leidenschaft, zentrale Bindung und fundamentales Anliegen der Gottesdienst ist, und die das wahre Wesen der Gemeinschaft bezeugt, eine ,Gemeinschaft in Verantwortung', eine freimachende Gemeinschaft, deren Ziel die Umwandlung ist, kurz: eine universale Gemeinschaft. Sie ist eine Gemeinschaft einfacher Männer und Frauen, in deren Wirken die Früchte des Geistes sich zeigen, die ihre Pflicht im Alltags- und Berufsleben erfüllen und ihre gewöhnlichen menschlichen Verpflichtungen in der Kraft eines neuen Lebens, in der Stärke einer großen Hoffnung und getragen von einer lebendigen Gemeinschaft wahrnehmen. Haben wir hier nicht schon Vision und Programm der späteren Laienbewegungen, zu deren Förderern Dr. Oldham gehören sollte, keimhaft vor uns?" 5 8 Die sozialethische Theologie Oldhams will den Laien der Kirche zurüsten, denn „die Frucht des Evangeliums aber besteht darin, eine neue Kreatur zu schaffen und den Menschen zur Gemeinschaft mit Gott und zum Leben in der Gemeinschaft mit den anderen Menschen tüchtig zu machen" 59 . Darin besteht sein unklerikaler Dienst in der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts. Als Pionier baute er Brücken zu neuen Ufern dienenden Denkens und Handelns e o . 5 8 Gelebte Einheit, S. 36 E b d a . S. 83 . K a t h l e e n Bliss, i n : Gelebte Einheit, S. 175. 8 0 In dem Buch „ K i r c h e n k a m p f und Ö k u m e n e 1 9 3 3 — 3 9 " v o n A r n i m Boyens, das während der Druckarbeiten erschienen und leider nicht ausführlich gewürdigt werden kann, finden sich umfangreiche A n g a b e n über O l d h a m . D a s B i l d der Persönlichkeit und die führende T ä t i g k e i t O l d h a m s während der deutschen K i r c h e n k a m p f z e i t in der Ö k u m e n e bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wird durch die D o k u m e n t a t i o n v o n Boyens deutlich herausgestellt: S. 133 bis 144 Bericht über ökumenische I n f o r m a t i o n e n , K o n t a k t e u n d Studienarbeiten, S. 144 bis 156 und S. 165 bis 170 Darstellung der Weltk o n f e r e n z v o n O x f o r d 1937 und der kirchenpolitisdien H i n t e r g r ü n d e , S. 156 bis 165 das theologische Gespräch. 57
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D e r Gesichtspunkt des ,konziliaren H a n d e l n s ' (S. 229 ff.) w i r d im V o r w o r t v o n Visser't H o o f t eingeschränkt. Boyens versteht das konziliare H a n d e l n in A n a l o g i e zu den V o r g ä n g e n in der Alten Kirche (S. 275) als A b w e h r der bedrohenden H ä r e s i e n in der deutschen Kirche. D e r ökumenische D i a l o g 1933 bis 1939 wird v o n Boyens als Wiedergewinnung des konziliaren H ä n d e i n s der Kirche interpretiert. Mir scheint, d a ß das umfangreiche M a t e r i a l aus A k t e n , Briefen, R e p o r t s , M e m o r a n d e n und Besprechungsvermerken, das Boyens f ü r seine A r b e i t herangezogen hat, das Urteil v o n Visser't H o o f t bestätigt: „ D e r N a m e .Council' w u r d e d a m a l s verstanden als , R a t ' und nicht als ,Konzil'. Im weiteren V e r l a u f des Weges der ökumenischen Arbeit ist der D i a l o g die Vorbedingung f ü r das noch ferne gemeinsam-konziliare H a n d e l n der Kirche."
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TEIL I DIE DARSTELLUNG DER SOZIALETHISCHEN THEOLOGIE OLDHAMS ALS T H E O L O G I E DER „MITTLEREN AXIOME" 1. K A P I T E L
Die Situation des Menschen in der Welt A) Der Mensch im Denken Oldbams Sein Buch „Real Life is Meeting" (erschienen 1942) versteht Oldham als eine Anrede an alle Menschen, die guten Willens sind. Er sagt dort: „Wir müssen den vollen Druck der Mächte kennen, die die moderne Gesellschaft beherrschen." 1 Dieser Druck bedeutet die Krise des Menschen im Leben der Menschheit. Die Existenz des Menschen als Person steht auf dem Spiel. Die Auseinandersetzung um das Menschliche des Menschen ist ein Kampf auf Leben oder Tod des Menschlichen im Menschsein. Als scharfer Beobachter dieser Auseinandersetzung zeigt Oldham die Aufgabe, die darin besteht, die Kreuzungspunkte der Linien zu kennen, auf denen das christliche Verständnis sich in Übereinstimmung oder im Gegensatz zu den Absichten und Zielen der gegenwärtigen Gesellschaft befindet. Er ist der Uberzeugung, daß für die Christen die Antwort auf die tiefste N o t des Menschen in diesem wie in jedem Jahrhundert „in dem historischen christlichen Glauben" 2 gefunden werden kann. Er will es nicht belassen bei einem allgemeinen Verstehen der Beziehung dieses Glaubens auf die besonderen Kategorien der menschlichen Gesellschaft heute 3 und bei einer Interpretation der Wahrheit des christlichen Glaubens als ganzheitliche Weltansicht (world view). Er ist vielmehr an der Relevanz interessiert, die dieser Glaube zu den bedeutenden Bewegungen der Zeit hat. Er glaubt an die schöpferische Arbeit (creative working) des Heiligen Geistes 4 . In den Kämpfen der Zeit sieht er die Bildung einer christlichen Partei nicht als eine Art Allheilmittel an, denn dadurch würde die dynamische Kraft des Heiligen Geistes durch eine erstarrte Institution im Denken und Handeln der Christen gelähmt. Eine solche Partei würde eine „gefährliche Verwirrung in den separaten Sphären von Kirche und 1 3 4
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2 Ebda. S . l . Real Life is Meeting, S.2. Ebda.: „to the particular predicaments of human society to-day". Ebda. S. 4.
Staat darstellen" 5 . Das Ringen um den Menschen geschieht nicht in der monologischen Spekulation, sondern im Dialog. Diese gedankliche Findungsmethode ist charakteristisch für Oldham, der zu einer konzentrierten Anstrengung auf kooperativer Basis aller Kräfte ruft, denen die menschliche Existenz Sorge macht. Oldhams Vorschlag des gemeinsamen Weges auf der Suche nach dem sinnvollen Menschsein ist eine konzertierte Aktion aller Glieder der Gesellschaft für das Menschliche des Menschen. Das paulinische Bild der Gemeinde als Leib ist eine Art Muster für die Interpretation der Gesellschaft als Organismus, der alle Bürger als Glieder des demokratischen Gemeinwesens umfaßt. Die demokratische Verantwortung hat zwei Arbeitsbedingungen: 1. die Bestimmung eines gemeinsamen Glaubens und Ziels und 2. den Kontakt zueinander in der aktiven Bindung der Gemeinschaft (fellowship). Die Verbundenheit der organisierten Religion (der Kirchen) mit den sozialen säkularen Aktivitäten (Denken und Handeln von Philosophen, Soziologen, Psychologen, Wirtschaftlern, Pädagogen, Administratoren und Sozialarbeitern) läßt Bewegung durch Zusammenkommen, Zusammendenken, Teilhabe und Erfahrungsaustausch entstehen und auf eine belebende Integration von Denken und Handeln hoffen. Die dialogische Partnerschaft als Arbeitsmethode entspricht dem Wesen des betrachteten Menschen. Das dialogische Leben des jüdischen Denkens von Martin Buber findet Anwendung im Dialog der Demokratie. Der Mensch kann nicht bewertet werden von seiner Funktion innerhalb des Leistungs- und Wertgefüges eines von der materiellen Perspektive gesehenen Gesellschaftsbildes, sondern trägt seinen allein ihm von Gott verliehenen Wert sui generis in sich. Von der Personwürde des Menschen als dem Kern fächern sich die mitmenschlichen und sozialen Bezüge des Gesellschaftsbildes auf. Alle Dienste und Funktionen des Menschen sind dem personalen Kern zugehörig (incidental) und untergeordnet (subordinate) 6 . Die Personwürde wird Ereignis in der Begegnung mit dem andern Menschen. Die Begegnung ist das wirkliche Leben. Die Begegnung hat eine transzendente, schöpferbestimmte Dimension. Der Mensch handelt in der Gesellschaft mit einem Status, den ihm nicht die Gesellschaft gibt, sondern der Schöpfer. Auf seinem einzigartigen Platz in der Schöpfung ist der Mensch geschaffenes — abhängiges Sein und verantwortliche Person. Nur durch die Religion kann er seinen Weg zur Kultur finden7. Der Mensch wird fortwährend gequält von der Furcht und dem Gefühl der Ziellosigkeit 8 . Von diesem Hintergrund her sind die Zeugnisse Oldhams in den Jahren des Zweiten Ebda. E b d a . S. 2 6 : „personal fellowship (personal life) with one a n o t h e r " 7 The Christian N e w s Letter, Supplement 2 3 7 : Priorität der Person über sozialen Prozeß. 8 T h e Resurrection of Christendom, S. 13: R e t t u n g der Person. 5 6
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Weltkrieges zu verstehen, die das christliche Verständnis des Menschen transparent machen. Das christliche Verständnis vom Menschen sieht zuerst auf die Beziehung Gottes zum Menschen, der ihm die Freiheit und die Verantwortung verliehen hat. Auf diese Anrede Gottes muß der Mensch im Gottesdienst und mit dem Gehorsam seines Lebens antworten. Die zweite Beziehung ist die zum Nächsten, dessen Existenz die Befreiung von Egoismus und konfliktbringenden Wünschen nötig macht. So ist der Dialog mit Gott und mit dem Nächsten der Raum der Begegnung9. Das Rassenproblem hat die Frage nach dem Menschen zum Hauptthema. „Das Christentum ist die stärkste Macht in der Uberzeugung des Werts, der Würde und Heiligkeit der menschlichen Personalität." 10 Die Europäer mit ihren westlich-christlichen Traditionen und Institutionen haben oft die christlichen und westlichen Ideale verleugnet. Hier und dort sind die Afrikaner zu Verteidigern dieser Ideale geworden. Oldham hat sich mit dem Problem der Technik im Verhältnis zum Menschen beschäftigt. Die Menschen sind so absorbiert von technischen Vorgängen, daß sie alles Gewahrwerden verloren haben, daß es etwas gibt, das hinter diesen Vorgängen steht. Das Leben, das nun mit dem Verlust dieses Hintergrundes restlos technischen Prozessen untergeordnet ist, bedeutet die Verleugnung des wahren menschlichen Lebens11. Oldham hält sich an ein Wort Berdjajews: „Die Welt des Geistes ist realer als die objektive Welt." 12 In dem Bericht der Oxfordkonferenz beklagt er, daß die menschliche Seite des Wirtschaftslebens tiefgehend durch die Vorherrschaft des Profitdenkens der menschlichen Arbeitskraft als Ware in Mitleidenschaft gezogen ist. Dort muß nun gelten, daß die Liebe die Verpflichtung mit sich bringt, den Nächsten zu lieben wie sich selbst13. In Amsterdam spricht Oldham die Hoffnung aus, daß die Steigerung von Wissen und Technik die gesellschaftliche Ordnung wiederherstelle. Eben diese Hoffnung ist der stärkste Rivale des Christentums heute. „Dadurch wird der Mensch in zunehmendem Maße seines Menschentums beraubt." 14 Geändert werden muß eine tief eingewurzelte Haltung dem Leben gegenüber. In dieser Krise des Menschen steckt die Frage: Was ist der Mensch in den Augen Gottes und was soll aus ihm nach dem Willen Gottes werden 15 ? Man muß Oldhams Aussagen wie eine Vorwegnahme dessen verstehen, was Margret Mead von der modernen Anthropologie sagt: sie gibt sachliche Hilfen, um den Menschen als wachsendes und sich wandelndes Wesen zu erkennen 1β . 9 11 12 13 14 15
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10 Work in Modern Society, S. 35. N e w Hope in Africa, S. 59 und 60. Life is Commitment, S. 23 (Gabriel Marcel). Ebda. Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, S. 158 und 166. Amsterdamgespräch, Bd. III, II, 17 (Vervielfältigung). 16 Ebd. X , 35. Die Kirche als Faktor, S. 445.
Oldhams Gedanken über das Wesen des Menschen kommen aus dem Protest, den er gegenüber Interpretationen, Maßstäben und Werturteilen in der modernen Gesellschaft formuliert. Sie ordnen den Menschen den Verabsolutierungen von materiellem Reichtum, Macht, Besitz, Eigentum und eigengesetzlichen Notwendigkeiten in Wirtschaft und Politik unter. Sie machen aus dem Unrecht eine Tugend. Diese Verabsolutierungen sind nach Oldhams Urteil verderblicher als konventionelle Unsittlichkeit. Oldham empfindet den Widerspruch zwischen der herrschenden Praxis und der christlichen Lebenshaltung 17 . Aus der Sorge um den Menschen als Geschöpf Gottes und als Nächster und im Gehorsam gegenüber dem Liebesgebot Jesu in Mt. 22,37-40 kann es nicht bei allgemeinen Feststellungen der ethischen Forderungen des Evangeliums bleiben, sondern muß es zu wirksameren Überlegungen kommen, die als „mittlere Axiome" vorläufige Umschreibungen des Ziels sind, das Gott dem Menschen gesetzt hat. „Mittlere Axiome" sind der Versuch, in der säkularen Sachsprache die gute Nachricht Gottes, der will, daß allen Menschen geholfen werde, deutlicher und wirkungsvoller zu Gehör zu bringen, als es die traditionelle Kanzelsprache der Kirche vermag. Der Christ Oldham trifft sich in der Sorge um den Menschen mit allen Menschen guten Willens. B) Die Charakterisierung des Personseins innerhalb der Alles wirkliche Leben ist Begegnung
Gesellschaft:
In „Real Life is Meeting" überschreibt Oldham den 2. Teil des Buchs: „All Real Life is Meeting" 1 8 . Diese Feststellung ist seine Antwort auf die Frage des Verhältnisses von Personen und Funktionen, die John Macmurry gestellt hatte. In dem ganzen „human life", in dem das Personelle und Funktionelle untrennbar miteinander verwoben sind, kann die Funktion zum Vehikel des „intercourse" (Verkehr) zwischen Personen werden. Dieser Verkehr will Bereicherung und Gewinn bringen 19 . Alles hängt davon ab, ob wir primär „human beings" als Mittel zum Bau einer wirksamen „Society" und eines wirksamen „State" betrachten, oder ob wir die reale Bedeutung des Lebens in gegenseitigen Beziehungen der Personen finden, die alle „human activities" fördern und bereichern sollen. Die Frage lautet: Ist der Mensch Mittel zum Zweck oder Geschöpf auf einem Wege mit einer transzendenten Zielbestimmung? Viele wichtige Seiten bei Oldham lesen sich wie Sätze von Martin Buber. Er ist in seinem Denken stark bestimmt von der „Ich und Du"Korrelation des dialogischen Lebens. Ohne diese Denkkategorie würden seine mittleren Axiome Gefahr laufen, immanent-humanitär als ideologi" 18 le
Die Kirche und ihr Dienst an der Welt, S. 200. Real Life is Meeting, S . 2 6 f f . Ebda. S . 2 7 : „mutual enrichment of human beings".
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sches Programm mißverstanden zu werden. Oldham ist der Meinung, daß Martin Buber weitreichende Konsequenzen für das Denken und Leben unserer Zeit hat. Buber sagt: „Denn das Ich des Grundworts Ich-Du ist ein anderes als das Grundwort Ich-Es." 20 „Drei sind die Sphären, in denen sich die Welt der Beziehung errichtet": 1. das Leben mit der Natur, 2. das Leben mit den Menschen (offenbar und sprachgestaltig) und 3. das Leben mit den geistigen Wesenheiten 21 . Beziehung ist Gegenseitigkeit. „Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend." 22 „Du ist mehr, als Es weiß. Du tut mehr, und ihm widerfährt mehr, als Es weiß. Hierher langt kein Trug: hier ist die Wiege des Wirklichen Lebens." 28 „Alles wirkliche Leben ist Begegnung."24 „Jedes geeinzelte Du ist ein Durchblick zu ihm" (ewiges Du) 25 . Der Primat der Du-Welt gegenüber der Es-Welt, der Bubers kritische Haltung gegenüber den historischen Religionen bestimmt, überträgt sich in Oldhams Kritik gegenüber der eigengesetzlichen Es-Welt der modernen Gesellschaft mit den Mächten von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Politik. Nach Buber besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen unseren Beziehungen zu Personen (Subjekten) und zu Dingen (Objekten). Oldham spricht von der zwiefältigen Beziehung des Menschen zur Welt 26 : Grundsätzlich voneinander verschieden sind ethisches Engagement und wissenschaftliche Betrachtung. Er präzisiert diesen Gedanken: Die Welt der Dinge, mit denen der Mensch in Wissenschaft, Industrie, Handel, Ökonomie und Staatsführung umgehen muß, ist die funktionelle Welt. In ihr kann der Mensch eine ungebrochene Beziehung zu den „Es"-Dingen aufnehmen 27 . Hier ist der Mensch Meister: er beobachtet, mißt, wiegt, urteilt, arrangiert und ordnet. Auf die politische Weltsituation angewandt heißt das, daß sowohl im Kommunismus als auch im Kapitalismus der Glaube vertreten wird, daß rationale Prinzipien der physikalischen „Es-Welt" übertragen werden auf die Gestaltung des sozialen Lebens in der „DuWelt" 2S . Diese Ansicht ist fehlerhaft. Die soziale Du-Welt ist nicht raumzeitliche Objektwelt, sondern die Welt eines subjektiven Beziehungsvorgangs in der personalen Begegnung des Ich mit dem Du. Diese Situation ist nicht vom Menschen geschaffen, sondern für ihn geschaffen. Die Begegnung mit dem Phänomen der Stimme des anderen Menschen, die zum Hören und Antworten, zum Dialog, herausfordert, kommt unerwartet 20
Martin Buber, Dialogisches Leben, S. 15. 22 Ebda. S. 18. Ebda. S. 20. 23 24 Ebda. S. 21. Ebda. S. 23. 25 Ebda. S. 83. 26 Life is Commitment, S . 2 6 f f . : Wissen der Natur (objektivierte Welt) in der Ich:Es-Relation, Wissen vom Menschen selbst (Antwort und Entscheidung) in der Ich:Du-Relation. 27 28 Real Life is Meeting, S. 29 ff. Life is Commitment, S. 32. 21
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und unvorhersehbar. Buber hatte in seinem Buch „Dialogisches Leben" gezeigt, wie die drei Sphären, in denen sich die Welt der Beziehung baut, sich am Phänomen der Sprache unterscheiden: im Leben mit der Natur haftet die Beziehung an der Schwelle der Sprache, im Leben mit den Menschen wird die Beziehung sprachgestaltig und im Leben mit den geistigen Wesenheiten ist die Beziehung sprachlos, aber spracherzeugend 29 . Die Begegnung überwindet den Monolog der Einsamkeit. Die Gedanken Oldhams sind eine Entfaltung dessen, was Buber mit der englischen Bezeichnung seines „Dialogischen Lebens" „Between Man and Man" meint: die Herausforderung in den lebendigen Dialog des „meeting" ist unsere Bestimmung als fundamentalontologischer Gegebenheit des Schöpfers. In diesem „meeting" können wir nicht die Arbeitsmethoden aus der „EsWelt" anwenden, sondern müssen antworten. Antworten ist etwas anderes als Messen, Kontrollieren und Ordnen. Die dialogische Relation der „Ich-Du-Welt" gebiert die Personalität des Menschen. Realität ist soziale Ich-Du-Beziehung. In ihr nehme ich Anteil am andern Menschen (sharing). Oldham nennt den Unterschied von Es- und Du-Welt einen Unterschied wie Tod und Leben. Eine Welt ohne Dialog ist eine tote und versteinerte Welt. Die Versteinerung besteht im progressiven Anwachsen der Ausweitung und Herrschaft der Welt der Dinge 3 0 . Der lebendige Geist wird im Wort offenbar. Er wird lebendig in der Begegnung. Nur in der Begegnung mit dem anderen Menschen kann der Mensch im Geist leben. Oldham fragt: Wie können wir geheilt werden 31 ? Er antwortet: Wir müssen frei werden von der Herrschaft des „ E s " in der Gesellschaft. „ E s " ist ein Wort der Separation, dagegen „ D u " der Union. Union ist Gesundheit, Separation Gefahr und Tod. Gesundheit ist „life-giving intercourse of persons living in community" (Leben hervorbringender Umgang von Personen, die in der Gemeinschaft zusammenleben). In Amsterdam hat Oldham gesagt: „Bei dem Versuch, auch die Personen in den Bereich der organisierenden Intelligenz zu bringen, tun wir dem inneren Wesen der Personen Gewalt an. In unseren Beziehungen zu ihnen haben wir ihre unabänderliche Andersgeartetheit anzuerkennen und müssen bereit sein, in fortwährender fruchtbarer Spannung mit ihnen zu leben." 32 Er hat daran erinnert, daß in den wissenschaftlichen Untersuchungen der Beobachter nicht angegriffen wird. Für den gedachten Zweck ist diese Methode richtig und unvermeidlich, aber zu erwarten, daß diese Methode objektiver Distanz alle wesent2 9 M a r t i n Buber, Dialogisches L e b e n , S. 109: » I n jeder Sphäre, in jedem Beziehungsakt, durch jedes uns gegenwärtig Werdende blicken wir an den S a u m des ewigen D u hin." 3 0 T h e Christian N e w s Letter, N r . 112, Supplement ( " T h e w o r d 'It' is a w o r d of separation"). 3 1 R e a l L i f e is Meeting, S. 33 . 3 2 Amsterdamgespräche, B d . I I I , 11,18.
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lichen Dinge des Lebens erfassen kann, ist ein tiefgreifender Irrtum, dem viele heute verfallen. „In Wirklichkeit nämlich ist hierbei der entscheidende Teil des Lebens außer acht gelassen." 33 Der Gedanke, daß alles wirkliche Leben Begegnung ist, hat den Begriff der „Verantwortlichen Gesellschaft" formulieren helfen. Der Gedanke ist zugleich Aufgabe: Die Christen messen „den direkten Beziehungen zwischen Personen größere Bedeutung zu als den kollektiven Verhältnissen, die unser Leben zu beherrschen drohen. Die letzteren sind Instrumente für die ersteren und müssen danach beurteilt werden, in welchem Ausmaß sie ein ursprüngliches persönliches Leben fördern, das zu wahrer Gemeinschaft führt. Institutionen haben einen wesentlichen Platz im menschlichen Leben und können das Hilfsmittel eines persönlichen Lebens werden. Dahin kann es nur kommen, wenn eine revolutionäre Umkehr der Werte stattfindet. Wir schulden Martin Buber Dank dafür, daß er uns beharrlich an die unermeßliche Bedeutung der Lebensbeziehungen zwischen Personen erinnert hat, die der Grundstoff der alltäglichen Existenz sind. Die mächtigen Kräfte, die in der Gesellschaft am Werk sind, könnten heute verlorengehen, ehe Menschen sich des unvergleichlichen Wertes bewußt werden, der in Gefahr ist. Im Sich-Mitteilen wird der Mensch zum Menschen. Für diese tiefe Wahrheit ist das gegenwärtige Zeitalter weithin blind." 3 4 Mit Buber ist sich Oldham einig, daß die falsche Alternative des Denkens der Epoche überwunden werden muß, die zwischen Individualismus und Kollektivismus. Beide können nicht die Substanz des menschlichen Lebens erneuern, das dialogische Leben im sozialen und kulturellen Bereich 35 . Die dritte Möglichkeit bietet die Ich-Du-Beziehung eines reichen und vollentwickelten persönlichen Lebens innerhalb einer gesundeteren Gesellschaft 36 . Die Ich-Du-Korrelation aus dem Werk Martin Bubers ist im Denken Oldhams zur beherrschenden Triebkraft geworden, die ihn davor bewahrt, monologisch und theoretisierend über das Menschsein zu denken. Das dialogische Leben in seiner transzendenten und ontologischen Grundlegung ist die Basis, auf der Oldham die Verantwortung als persönliches Engagement der Christen in der Gesellschaft schärft. Die „Mittleren Axiome" erhalten von dieser Quelle lebendige Kräfte des Denkens. C) Die Wirklichkeit des Menschen: Er ist Mensch als Mitmensch „Der Zusammenhang unserer Erfahrung ist tiefer durch unsere Relationen zu Personen determiniert als durch unsere Relationen zu Dingen." 3 7 In dem Kapitel „Man with M a n " 3 8 gebraucht Oldham ein Bild Weiz33 Ebda. 3 5 Ebda. X , 18. 37 Real Life is Meeting, S. 16.
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Ebda. X , 31. Ebda. X , 32. Life is Commitment, S.26.
säckers: Dieses Bild zeigt zwei halbe Kreise, die voneinander getrennt sind und miteinander verbunden werden müssen. Der eine halbe Kreis bedeutet das Wissen des Menschen von der Natur als objektivierte Welt, der andere halbe Kreis bedeutet das Wissen vom Menschen selbst in seiner Verpflichtung zur Antwort und Entscheidung. Auf der einen Seite steht das individuelle Forscher-Ich in der objektiven Wissenschaft vor uns, auf der anderen Seite der Mensch als ethisch Geforderter in der Beziehung zum größeren Ganzen des Wir der Gemeinschaft und Gesellschaft. Oldham sagt: „Der individuelle Mensch hat nicht das Wesen des Menschen in sich als moralisches oder denkendes Sein. Das Wesen des Menschen wird nur in der Gemeinschaft gefunden, in der Einheit von Mensch — Mitmensch."39 Er zitiert das Wort von Karl Jaspers: „Ich bin nur durch Kommunikation mit dem anderen." Oldham sagt, daß es nicht heißt, der Mensch soll als Mitmensch leben, sondern daß es heißt, er ist Mensch — Mitmensch. Macmurry kritisiert die philosophische Erkenntnistheorie von Descartes (cogito ergo sum) in „Freedom in the modern world". Er kritisiert damit die idealistische Philosophie, die den Menschen von seinem denkenden Selbst her sieht. Macmurry nennt diese Tradition einen Fehler, denn das menschliche Selbst sei primär „agent" (handelnd). Das Selbst des Menschen existiert in seinen Relationen zur Person des anderen Menschen. Grisebach spricht in seinem Buch „Gegenwart" von der Begrenzung des Selbst durch das Selbst des anderen Menschen40. Grisebachs Gedanken aufnehmend, lautet Oldhams Definition: „The real is what limits me" (Das Wirkliche ist das, was mich begrenzt). Ich werde konfrontiert von der anderen Person, die auf die objektive Welt auf dem gleichen Weg bezogen ist wie ich, die den gleichen Wunsch und das gleiche Recht hat wie ich, die Welt zu erforschen und zu besitzen. Entweder kommt es zur Zerstörung des Anspruchs des anderen oder zur Beziehung mit ihm. „I encounter a real limit" (Ich treffe auf die wirkliche Grenze) — das ist die Welt des Gegensatzes, des fortlaufenden Widerstreits verschiedener endlicher Perspektiven — in den Augen Grisebachs: die reale Welt. „When he speaks you have to respond" (Wenn er zu sprechen anfängt, mußt du antworten). Oldham sagt, daß Grisebach der Realität des menschlichen Lebens näher ist als die philosophische Tradition des idealistischen Individualismus 41 . Ähnlich hat sich Gabriel Marcel geäußert: In „The Mystery of Being" sagt er, daß unsere Beziehung mit anderen Personen die Basis darstellt für das Ganze unserer Erfahrung. Das heißt, daß nicht in der objektiven (toten, gegenständlichen) Welt, sondern in dem Netzwerk der Beziehungen zwischen Personen die Wirklichkeit ist, die sich am meisten uns offenbart. Im Netzwerk der Spannungen und Gegen39 40
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Ebda. S. 28. Ebda. S. 29
Kosmahl, Ethik
ff.
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Ebda. S. 31. 33
kräfte zeigt sich eine Erfahrung, von der Sartre in einem Bild spricht: Der andere Mensch im Park, das heißt in der gewollten und gesuchten ichbezogenen Einsamkeit, wird nicht als Partner und Freund empfunden, sondern als Konkurrent und Feind. Er wird als Bedrohung meiner Freiheit angesehen. Die Begegnung mit ihm wird zum Konflikt. Indem wir die Freiheit wollen, entdecken wir, daß diese Freiheit von der Freiheit anderer abhängig ist 42 . Der Mensch steht in der Begegnung mit dem anderen Menschen vor einer Wegscheide: entweder empfindet er „Hölle ist das andere Volk" oder das Miteinander. Die Abgründe des unmenschlichen Denkens, die Oldham in den Beispielen Spenglers, im Begriff des Übermenschen bei Friedrich Nietzsche und in dem von C. S. Lewis angeführten Gedanken der „abolition" (Abschaffung) des Menschen sieht, müssen wir verstehen aus der ständigen Auseinandersetzung Oldhams mit den totalitären-menschenverachtenden Mächten. Beschwörend an das Gewissen der Menschheit lesen sich seine Gedanken, daß der Mensch fundamental und primär nicht ein individuelles, sondern ein soziales Wesen ist. Paul Tillich hat gesagt, daß der Mensch begrenzte, endliche Freiheit ist. Er will zwar unendliche Freiheit, aber seine Existenz steht im tragischen Konflikt zu diesem Wollen 43 . Wie sind die beiden Perspektiven oder wie sind zwei Billionen Perspektiven, mit der in der wirklichen und endlichen Welt Menschen einander widersprechen, hindern und begrenzen, in Einklang zu bringen, ohne daß ein alle verschlingender Konflikt entsteht? Die beiden Möglichkeiten nennt Oldham die beiden „views of life", „the two contrasted ways of living", nämlich Liebe oder antichristliche Macht. Die Liebe ist tolerant. Die tolerante Gesellschaft hat zur Voraussetzung, daß ich nicht glauben darf, daß die ganze Wahrheit im Besitz eines Menschen, einer Gruppe, einer Schule, einer Partei oder einer Nation ist. Von Kind, Eltern, Lehrer, Kirche, Gemeinde und Staat gilt, daß „kein Einziger lauthals erklären kann, er habe das letzte und endgültige Wort" 4 4 . Am Beispiel der Erziehung ist das Gebot der Zusammenarbeit zu sehen. So nennt Oldham drei Grundsätze des Themas „Man with M a n " : 1. die Verbundenheit der Menschen, 2. ihre Beziehung zur Wahrheit und Verantwortung, und 3. die Priorität der Geschichte über den Kosmos. Zum 3. Grundsatz hat Berdjajew gesagt, daß der Kosmos die objektivierte Welt ist, in der der Mensch ein Ding wie alle Dinge wird, und daß die Geschichte die Sphäre der freien Antwort des Menschen auf den Ruf des Mitmenschen ist. Durch den Ruf des Mitmenschen, durch geschichtliche Ereignisse und Umstände redet Gott als der Herr der Geschichte den Menschen an. Die Priorität der Geschichte erklärt den Menschen als schöpferischen Unternehmer in dem ihm zugewiesenen Kosmos als Raum von Antwort und Verantwortung. Oldham interpretiert die Christo42 43
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Ebda. S. 34. The Christian News Letter, N r . 201.
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Life is Commitment, S. 39.
logie Karl Barths so, daß er in der Gestalt Jesu Christi als „the man with men" „the man for men" sieht. Diese „view of Christ" ist die Entfaltung der Gedanken, die in dem wahren und vollkommenen Menschen das große ethische Vorbild sehen. Die Gestalt des Vorbildes Jesus Christus macht dem Menschen seine „created nature" als Abhängigkeit vom Nächsten klar 45 . Die Alternative zur Philosophie der Macht des Ubermenschen ist die Beziehung der Menschen als Söhne Gottes in abhängiger Liebe im Kontext der Gemeinschaft46. Ubermensch oder Sohn Gottes ist die Alternative. Das Christentum ist die stärkste Überzeugung in der Geschichte, daß die Sinnerfüllung des menschlichen Lebens in der Relation liegt. „Life is relationship." Wir haben bei Oldham nicht eine immanente Mitmenschlichkeit vor uns, sondern eine Mitmenschlichkeit mit der transzendenten Bindung zu Gott. Der Heilige Geist ist der „Creator" der „Community and Fellowship". Oldham führt uns an die pneumatische Kraft Gottes, der in der Konfliktsituation den Menschen die Gemeinschaft suchen läßt und auf dieser Grundlage die „Mittleren Axiome" als Sätze eines neuen versöhnenden Miteinanders artikuliert. D) Die Verpflichtung des Menschseins zum mitmenschlichen Handeln innerhalb der konkreten Situationen des Lebens Als Oldham im Jahre 1953 sein Buch „Life is Commitment" als die Zusammenfassung von sechs Vorlesungen unter dem Protektorat der Londoner Religionsschule schrieb, wollte er Auskunft geben über das Thema „Die Bedeutung des Christentums heute". Die Studenten hatten ihn zu einer Darlegung seines Glaubens herausgefordert. In der ersten Vorlesung „Fact and Decision" 47 expliziert er die Situation und die sich daraus ergebende Entscheidung. Worin sah Oldham die konkrete Situation? Die Situation ist geprägt durch das enorme Anwachsen von Wissenschaft und Technik. Schon im Jahre 1948 in Amsterdam hatte Oldham diese Situationsanalyse gegeben48. In dem Vortrag „Technik und Zivilisation" sagt er, daß die Fortschritte der modernen Wissenschaft und Technik im Leben der Menschheit der Welt eine ungeheure Wandlung und Umorganisation des ganzen Aufbaus des menschlichen Daseins hervorgerufen haben. Die Eroberung des Raums vermittelt dem Menschen ein neues Bild oder vielmehr eine Folge von neuen Bildern des Weltalls und einen neuen Begriff von seiner Macht und seinen Möglichkeiten. Das Erscheinen der Maschine ist das Stichwort für einen Entwicklungsprozeß, in dem der Mensch fähig geworden ist, die Naturkräfte zu nutzen: in der 45 46 47
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Ebda. S. 39—42. Real Life is Meeting, S. 35 ff.; The Christian N e w s Letter, Nr. 114. 48 Life is Commitment, S. 14. Amsterdamgespräche, Bd. III, II.
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Holz- und Wasserperiode vom 10. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts der Beginn der Trennung von Energie-Erzeugung und Energie-Anwendung, in der Kohle- und Eisenperiode ab 1750 die Vervielfachung der von der ersten Periode geschaffenen Methoden und Güter als Grundlage der industriellen Revolution, in der Periode der Elektrizität von der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts an viele neue Möglichkeiten der Genauigkeit, Wirtschaftlichkeit, chemischen Reinheit und der organischen Auffassung des Lebens und schließlich im 20. Jahrhundert die Atomspaltung als neue Kraftquelle überdimensionaler Größe. Oldham spricht von den Wohltaten, aber auch von den ungünstigen Wirkungen der Maschine. So sind Kriege immer Hauptanreger von Erfindungen gewesen. Zwischen dem Aufbau der Armee und dem Aufbau der Industrie haben immer enge Beziehungen bestanden. Das Verhältnis der Ausgaben für Rüstung und Wissenschaft, das im Jahre 1940 auf neunzig zu dreißig Millionen Dollar beziffert wird, hat Oldham 1948 in Amsterdam als einen überzeugenden Beweis der Verzerrung der wahren Lebensziele dargestellt. Durch die Verbindung der Technik mit den Mächten des Kapitalismus, des Imperialismus, des modernen Staatstotalitarismus und Nationalismus ist sie dämonisch geworden. Die aufgereizten Machtinstinkte stellen eine abgründige Gefahr dar. Der soziale Fortschritt, z.B. die Stellung des Industriearbeiters, blieb hinter dem technischen Fortschritt vernachlässigt zurück. Diese Angaben gehören zu der faktischen Situationsanalyse, die zu großer Besorgnis Anlaß gibt. Sie muß zu neuen Entscheidungen führen, die sozialethisch notwendig sind. Eine Veränderung in der menschlichen Mentalität, eine neue Haltung dem Leben gegenüber werden sichtbar, die nach Jaspers weder in Asien, noch in der Antike und im Mittelalter sind. Die übersteigerte Ich-Sucht und die Illusion der Heilung des Menschen mit den Mitteln der Wissenschaft rauben dem Menschen seine ethische Subjektivität 49 . Das Christentum hat in dieser Situation die Verpflichtung, den Menschen über die das Zeitalter bestimmenden Kräfte zu stellen. Der Mensch ist nicht Objekt, sondern wissens- und entscheidungsfähiges Subjekt. Die Entscheidungen können nicht allein von den Tatsachen abgeleitet werden. Weder Natur noch Geschichte können uns sagen, was wir tun sollen. Wir haben zu entscheiden, zu welchem „way of life" wir uns verpflichten. Das Leben ist voll von Situationen, auf die ich nur antworten kann mit der Verpflichtung meines ganzen Seins. Der Mensch nimmt nicht nur die Dinge mit seiner wissenschaftlichen und technischen Fähigkeit in die Hand, sondern er muß antworten auf ethische Forderungen. Mit den Nichtchristen ist sich Oldham einig, wieviel vom Menschen abhängt. Der Mensch ist im Zeitalter von Wissenschaft und Technik einer übergroßen ethischen Verantwortung ausgesetzt. Er braucht den 49
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Life is Commitment, S. 18 ff.
Glauben, mit dem er leben kann. Oldham übt Kritik an Baron von Hügel, der in seinem Buch „Das mystische Element in der Religion" den Begriff der Eigengesetzlichkeit anerkennt und die Uberzeugung fördert, daß der Wissenschaftler frei sein müsse von der religiösen Betrachtung. Oldham muß dagegen protestieren, daß die Naturwissenschaft die einzige Realität der Welt und des Lebens ist 50 . In Amsterdam hat Oldham gesagt: „Von der Sklaverei der Maschine können die Menschen nur durch eine revolutionäre Änderung in den bisher angenommenen Wertmaßstäben befreit werden, wobei anstelle der dämonischen Konzentration auf technische Leistungsfähigkeit und das materielle Ergebnis ein vordringliches Interesse auf dem Gedeihen und der Wohlfahrt der Menschen liegen muß." 51 Die Verpflichtung zum ethischen Handeln der Christen hat eine negative Hypothek abzuzahlen, die darin besteht, daß die kirchliche Predigt und Lehre wenig Kontakt findet zu den Gedanken, die sich Männer und Frauen in ihren Bereichen der Verantwortung um die Zukunft der Welt machen. Neben dem Lernen der Sachgebiete besteht die Denkverpflichtung der Kirche darin, daß sie die Brücke baut zu den Menschen, die nicht glauben, daß Jesus Christus die einzige Hoffnung der Welt ist 52 . Es gibt Menschen, die zwar keine Bindung zum christlichen Glauben haben, aber offen sind für die Wahrheit und den Wert des christlichen Glaubens. Oldham in seiner Bindung an das Wort Gottes und offen für sein Gegenüber mahnt die Kirche zum Lernen. In der Demut und Redlichkeit sieht er die Christenheit zum Zeugnis verpflichtet. Das Zeugnis ist schon mitmenschliches Handeln in der konkreten Situation. So hat H.A.Hodges im „Christian News Letter" geschrieben, daß die christliche Aufgabe des missionarisch-diakonischen „Commitment" heute in drei Pflichten besteht: „to make Christianity visible, intelligible and desirable" (sichtbar, verstehbar und wünschenswert) 53 . Oldham interpretiert diese drei Forderungen: „Wir haben das Christentum sichtbar zu machen, das heißt, wir müssen zeigen, daß es ein möglicher Weg ist, die Dinge neu zu sehen. Wir haben das Christentum verstehbar zu machen, daß es eine Bedeutung für das Leben bringt und Vorsorge für einen vernünftigen Weg des Lebens gibt. Wir müssen helfen, daß das Christentum in der heutigen Welt- und Lebenswirklichkeit als wünschenswert dadurch ersdieint, daß es ein frisches und kräftiges Bewußtsein der erforderlichen Notwendigkeiten und Impulse der menschlichen Natur erweckt, die den erforderlichen Aufgaben entsprechen, so daß es als sachdienlich und befriedigend erscheint."54 Oldham klagt über die Mittelmäßigkeit des christlichen Zeugnisses55. Das Zeugnis im menschlichen Leben ist nach Gabriel Marcel 50 51 52 54
Ebda. S. 24 ff. Amsterdamgespräche, Bd. III, 11,11. Life is Commitment, S . 9 f f . The Christian N e w s Letter, Nr. 305.
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Ebda. S. 10 ff. Ebda. Nr. 70.
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von eminenter Wichtigkeit. Zeugnis ist Treue gegenüber einem Licht, gegenüber einem Geschenk, das der Christenheit die Verpflichtung Gottes auferlegt, im Gehorsam gegenüber dem Liebesgebot zu handeln. Wir lernen bei Oldham, daß der Begriff der „Mitmenschlichkeit" als die Summe der „Mittleren Axiome" eine missionarisch-evangelistische und diakonisch-soziale Dimension hat. Er drängt die Christenheit zum bewußten Wollen von Denken, Entscheiden und Handeln, nachdem ihm die verheerende Wirkung von Ahnungslosigkeit, Bedeutungslosigkeit, Ziellosigkeit und Unsicherheit bewußt geworden ist. E) Die in Jesus Christus begründete neue Mitmenschlichkeit als die Wirklichkeit des ethischen „Commitments" Fünf Realitäten konstituieren das Leben des Menschen: Gott, Christus, Natur, Person und Society 56 . Christus ist der „Inaugurator einer neuen Ordnung". Als der wahre und vollkommene Mensch mit und für den Menschen ist er der Mittelpunkt der Welt und ihrer Geschichte. Er bringt dem „human life" „a spiritual energy of unparalleled power" 57 . Der Begriff „spiritual" kommt bei Oldham oft vor. Beide Sinndeutungen von „geistlich" und „geistig" stecken in ihm. Eine geistliche Entscheidung hat für Oldham immer eine geistige Auswirkung auf der Ebene der begrenzten Immanenz. Oldham denkt in ungebrochener Vitalität. Auch das Wort „energy" zeigt, daß er vom Glauben als realer Kraft konkrete Veränderung erwartet. Die Energie des Geistes Christi rettet Menschen in ihrer Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Sünde. Oldham interpretiert Kreuz und Auferstehung Jesu Christi fundamentalistisch als Fakten der Uberwindung der Macht des Bösen. Er erwartet die Überwindung des antimenschlich Bösen als Auswirkung der spirituellen Energie des Glaubens. Diese spirituelle Energie wird zur Kraft im Bewußtsein des Christen, der in der Gesellschaft seinen Platz hat. So sagt er, daß das Bewußtsein der Vergebung in der Politik und in den Sozialkämpfen eine Kraft ist, die selbstgerechten Fanatismus schwächt. Die Vergebung auf der internationalen Ebene ist mehr als Vergessen der vergangenen Fehler. Sie enthält eine klar bestimmte Wiederherstellung einer kooperativen Beziehung, um in ihr unser gemeinsames Leben zu erneuern 58 . Für den glaubenden Christen ist die letzte Realität seiner ganzen Existenz die Beziehung zu Christus. Der Glaube ist die befehlende und unausweichliche Realität des menschlichen Lebens. Die Christusbotschaft ist eine den Menschen erleuchtende und befreiende Kraft 59 . Die Frage nach dem Verhältnis des histo56
57 Real Life is Meeting, S. 12 ff. Ebda. S.20. The Christian N e w s Letter, November 1939, Zitat in Bennetts Buch „Christian Realism", S.45. 59 Life is Commitment, S. 61. 58
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rischen Jesus und des gegenwärtigen Christus löst Oldham so, daß er sagt, der christliche Glaube ruhe nicht allein auf dem historischen Beweis, sondern auf der Erfahrung des Christentums als ein Leben, das in der Gemeinschaft gelebt und bezeugt wird. Die Leben-Jesu-Forschung Albert Schweitzers ist eine wichtige Informationshilfe f ü r die Kenntnis der durchschlagenden Personalität und Botschaft des historischen Jesus. Es ist wichtig, daß auf diesem Wege der Nichtglaubende einen allgemeinen Eindruck bekommt für sein Verhältnis zu Jesus, der auch für ihn Bedeutung hat. Basil Willey hat gesagt, daß Jesus ein Leben lebte, das im äußersten Sinne dem Willen Gottes unterworfen war. Er hat den Willen Gottes so vollendet exemplifiziert, daß sein Leben beschrieben werden könnte als das Leben Gottes auf der Erde. Mit Albert Schweitzer sagt Oldham, daß von Jesus eine mächtige geistige und geistliche Kraft ausgeht und durch unsere Gegenwart strömt. Seine Gestalt muß als Herausforderung empfunden werden. Man ist versucht, Oldhams Christologie im Sinne eines Vorbildes ethischer Genialität und Einzigartigkeit zu charakterisieren. Aber zu dem Bild der bedeutsamen Vorbild-Person Christi und zu der personal-ethischen Interpretation des 2. Artikels kommt ein weiterer wichtiger Akzent, den wir nicht übersehen dürfen. Oldham interpretiert die paulinische Theologie mit dem Begriff der „neuen Schöpfung" von l . K o r . 13. Die Liebe Gottes inkarniert sich in der existenziellen Glaubenserfahrung. An Christus glauben, das ist identisch mit dem Glauben, daß Liebe die letzte Sinndeutung des Lebens ist. Melville Chaning-Pearce hat in „The Kingdom of Real" gesagt, daß Rettung (Salvation) „lieben mit der Liebe" (love with Love) und Verdammnis (Damnation) „außerhalb der Liebe lieben" (out of love with Love) ist. Dadurch, daß mit John Middleton Murry nach dem Leben und Sterben Jesu die Welt eine andere geworden ist, trat eine neue spirituelle Energie in den Prozeß des menschlichen Lebens. Die Struktur der Gnade ist die der geschenkten Liebe. Das Böse sitzt in der Personalität des Menschen. Das Ich trennt den Menschen von der Liebe. Die rettende Liebe Christi bringt den Menschen in den Kreis der Liebe zurück. „Der Mensch ist primär eine geliebte Seele." 60 Das kleine Büchlein „Studien zur Lehre Jesu" des jungen Oldham des Jahres 1903, in dem er sich um exegetische Hilfen zum Bibellesen der drei ersten Evangelien bemüht, darf in diesem Zusammenhang das Verhältnis der Gestalt Jesu Christi zu dem Begriff des Königtums Gottes erhellen. Das Reich Gottes ist der Begriff, in dem die Uberzeugungen Oldhams von der großen Bedeutung der Lehre Jesu in dem Interesse f ü r das Denken des Zeitalters auf einen Nenner gebracht werden. In der Diskussion mit intellektuellen Laien erweist sich die Wahrheit und Kraft der Lehre Jesu 00
Ebda. S. 77 (Rosenstock-Huessy).
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heute in unsterblicher Frische. Die Lehre Jesu ist kein akademisches Gedankensystem, sondern das Wort des Lebens. In aphoristischen, paradoxen und einprägsamen Wortsentenzen benutzt Jesus die Alltagssprache. In einseitiger und kontradiktorisdier Art gibt Jesus Einblick in das Herz der Dinge. Gegenüber einem pharisäisch-kasuistischen System äußert sich Jesus nicht in Regeln, sondern — wie Oldham sagt — in „Grundsätzen" β1 . Er verlangt von den Jüngern die Annahme dieser Grundsätze in geistlicher Rezeptivität. Der Gedanke des Königtums Gottes bedeutet die souveräne Herrschaft Gottes über die Herzen der Menschen, über die Ordnung der Dinge und als das „summum bonum". In dieser Realität sind die Christen als die Söhne Gottes verwurzelt. Das Königtum Gottes, dessen Wesen geistlich, universal, gegenwärtig und zukünftig ist, ist das neue Lebensfundament, das die Annahme des göttlichen Geistes als Voraussetzung für die Antwort der Liebe hat. Oldham spricht von den Segnungen des Königtums Gottes, die im großen Wert des Menschen, in seinem wahren Leben, in seiner Rettung aus den Bindungen an die Mächte der Schuld und des Todes, in der Vergebung der Sünden und in der Sorge des himmlischen Vaters für die Menschen bestehen. Die Gerechtigkeit dieser Königsherrschaft ist die Sache des Herzens, das positive Prinzip und die Beziehung des Menschen zum Mitmenschen in der Liebe. Oldham meint, daß die Lehre Jesu über soziale Fragen die Konkretisierung des Liebesgebots als des Gebots der Königsherrschaft Gottes 62 darstellt. Das Gebot „liebe deinen Nächsten wie dich selbst" nennt Oldham „religious maxim". Jesus betrachtet die sozialen und politischen Fragen, die Ordnungen und die Güter des Lebens vom Licht der Ewigkeit, das heißt von der Perspektive der Verwandlung des Personlebens durch die Kraft des Glaubens. So hat Jesus der alttestamentlidien Gottesoffenbarung eine neue geistliche Bedeutung gegeben. Die Bedingungen zum Eintritt in das Königtum Gottes sind Reue und Umkehr, Annahme der guten Nachricht Christi und Verzicht auf die alten Machtansprüche des Ich. Das Königtum Gottes konstituiert als „summum bonum" die höchste Lebensaufgabe 63 . Jesus ist als der König der Menschensohn. Er ist der Menschensohn in der Solidarität und im Dienst der Menschheit. Er ist der Gottessohn im Zeugnis der Jünger, die seine Botschaft der Liebe des Vaters gehört und angenommen haben. Jesus Christus als der König entsprechend dem Königtum, das er proklamiert, ist Retter, Erlöser, auferstandener — gegenwärtiger Herr und zukünftiger Richter. Aus seinem Leben und 81 Studies on the Teaching of Jesus, S. 4: "Jesus, on the contrary, laid down not rules, but principles." 82 Ebda. S. 106f.: Kingdom of God = social ideal. "Its righteousness consists in love and service." 63 Ebda. S. 128: "It is a gift whose appropriation and use constitute man's highest life-task."
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Dienen resultieren die irdischen Entwicklungen der Königsherschaft Gottes. Das alte jüdische Vorstellungsgut eines nationalen Königtums wird überwunden durch die weltweite Wirkung der Mission in der Kraft des Pfingstgeistes. In der Auseinandersetzung mit dem Bösen entwickelt sich das Königtum Gottes graduell und vital auf das große herrliche Ziel hin. Die Wachsamkeit des Glaubens nimmt die große Hoffnung ernst, die mit dem Gedanken an das Jüngste Gericht letztlich auf die Rettung aller zielt 64 . Diese Gedanken des jungen Oldham, die Jesus Christus als den Inaugurator des aus der Ewigkeit in die Zeit eingestifteten Reiches Gottes verstehen, gehören zu der Richtung, die wir als „social gospel" bezeichnen. In ungebrochener Weise wird die dynamische Wirkung der Christuspersonalität als die Auslösung eines Universalismus der sozialethischen Entfaltung des Liebesgebots deutlich gemacht. Wenn wir von der personalistisch-dynamischen Christologie den Weg Oldhams zu seinem Anliegen der „Mittleren Axiome" verfolgen, dann wird klar, daß er die materiale Füllung der formalen Begriffe aus dem Naturrecht nicht vernachlässigen will. Der christologische Aspekt in seinem Denken gehört zum Kontext der „Mittleren Axiome" als Denkversuche, sich in den Dienst des Reiches Gottes inmitten der aktuellen Lage der Menschheit zu stellen. Ohne die meditative Vorarbeit würden wir Oldham mißverstehen und ihn vorschnell als Wegbereiter christlicher Ideologie verdächtigen. F) Die Definition des Glaubens innerhalb der säkularen Welt der Ideologien In seiner kleinen Schrift „Die unchristliche Weltkultur als Menschheitsgefahr" 65 beschreibt Oldham den Begriff „Säkularismus" als die neue Weltkultur, die zur Grundlage die angewandte Naturwissenschaft und eine gleichartige Lebensauffassung bei allen Gebildeten der ganzen Welt hat. Prof. Kemp Smith hat die Auffassung publiziert, daß der Glaube an Gott für einen Gebildeten nicht länger möglich sei'®. Die „Säure der Modernität" β7 fordert die christliche Welt- und Lebensauffassung in der Tiefe ihres Denkens. Die säkulare Zivilisation stellt dem christlichen Glauben die Frage nach der Existenz des persönlichen Gottes. Äußerungen wie in H . G. Wells „Offene Verschwörung" („Religion ist Menschheitsdienst. Die Art Gott, die du im Sinne hast, ist für mich überflüssig.") und in Walter Lippmanns „Vorrede zur Ethik" (die Forderung, den persönlichen Gottesglauben aufzugeben) 68 rufen Oldham auf den Plan. Er macht 64 05 116 67 68
Ebda., Studies I—CXII, S. 11—175. Deutsche Übersetzung von „The N e w Christian Adventure", London 1929. Life is Commitment, S. 44. Die unchristliche Weltkultur als Menschheitsgefahr, S. 1. Ebda. 41
geltend, daß der Verlust des Gottesglaubens einen Schwund ungeheurer geistlicher Werte aus dem menschlichen Leben bedeutet. Die Interpretation des persönlichen Gottesglaubens verlangt einen neuen Einsatz des Denkens, der mit dem Interesse an der Weltaufgabe des Christentums verbunden ist. Daran will Oldham nicht rütteln lassen, daß die Zukunft der Welt von der Wahl zwischen dem Glauben an den Menschen und dem Glauben an Gottes Güte abhängt 69 . Es ist also die Wahl zwischen Ideologie und Gottesglauben. So kommt es zur Definition des Glaubens: Oldham glaubt an Gott als dem Herrn der Geschichte. So sagt er im Jahre 1941, daß die Basis dieses Glaubens nicht beeinträchtigt werde durch den Ausgang des Krieges. Gott ist nicht Teil der Welt, sondern ihr Herr 70 . Er ist in seiner Welt und in seiner Kirche am Werk. Seine Macht ist stärker als irgendwelche materielle Macht. Er bringt dem Menschengeist neue Erleuchtung. Der erste Schritt zur Wiederentdeckung eines starken und lebendigen Glaubens ist die Erkenntnis, daß wir arm am Geiste Gottes sind. Gottes Geist läßt neue geistliche Energien hineinströmen in eine moribunde Gesellschaft. Der Mensch, der an seine leibliche Existenz gebunden ist, erfährt die Natur als Realität der physikalischen Welt. Nun sieht er kraft des ihn erleuchtenden Geistes Gottes die physikalische Welt als Schöpfung Gottes und die maschinelle Zivilisation und die Reichtümer der Erde als Gaben des Schöpfers. Von seinem Glauben sagt Oldham: „Aber ich versuche daran zu glauben, und in der Tat, ich muß daran glauben. In irgendeinem Ausmaß glaube ich das genug, daß ich willig bin, das Risiko zu übernehmen." 71 Es gibt eine Herrschaft in der Geschichte, die stärker als materielle Macht ist. In der Weltsituation des Säkularismus wird die Frage nach Gott unausweichlich, wenn die Frage gestellt wird, was die Gründe der Hoffnung des Menschen in seinem Leben sind. Ganz wie bei Luther heißt es bei Oldham: Woran ( = Gold, Macht, Nationalismus, Klassenlose Gesellschaft, Demokratie und Wissenschaft) du dein Herz hängst, das ist dein Gott. „Ich muß irgend etwas haben, worauf ich mein Vertrauen setze." 72 „Ich weiß nicht, ob ich an Gott glaube, aber ich denke, ich antworte Ihm." 7 3 Die Definition des Glaubens findet Oldham im Dialog mit Nichtchristen. Die Christen müssen lernen, mit den Atheisten zu sprechen. Der Atheismus ist der Kyros in der Hand Gottes. Oldham ist zornig über gewisse junge Theologen, denen es an Demut und Lernbereitschaft fehlt, so daß sie das Gespräch mit Nichtchristen durch Alleswisserei belasten. 69
Life is Commitment, S. 45. The Christian N e w s Letter, Nr. 69: "Creator. H e is the ultimate ground both of physical nature and of spiritual values." 71 72 Real Life is Meeting, S. 15. Life is Commitment, S. 56. 73 Ebda S.52: „Vielleicht ist ein bekennender Atheist ein besserer Gläubiger als ein bekennender Christ." 70
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Ihnen sagt Oldham, daß wir gar nicht über Gott reden können, sondern nur zu ihm. Alles bäumt sich in Oldham dagegen auf, wenn er genauso auf der atheistischen Seite Arroganz und Besserwisserei spürt. So empört ihn Nicolai Hartmann maßlos, der lehrt, daß die Ethik auf dem Postulat des Atheismus begründet sei. Hartmann spricht von der Eliminierung der Freiheit und Verantwortlichkeit des Menschen durch den Gottesglauben. Oldham wirft Hartmann vor, er sähe in Gott einen Tyrannen: er wisse nichts von der Liebe. Mit Tillich sagt er zu Hartmann: „Die Einheit des Personalen mit dem Bedingungslosen oder des Ethischen mit dem Religiösen ist die Manifestation der endgültigen Realität." 74 Wir begegnen Gott in den Erfahrungen des Lebens. Oldham geht hier mit von Hügel konform, der mit seinen „Selected Letters" Oldhams Denken beeinflußt. Der Glaube an Gott ist also die mutige Uberzeugung, daß die väterliche Güte, Treue und Liebe die letzten Realitäten überhaupt sind. Die Alternative dazu ist der Dienst an Idolen 75 . Die Definition des Glaubens inmitten des Widerstreits der säkularen Ideologien, die eine Art Glaubensersatz anbieten müssen, fällt bei Oldham personalistisch — pneumatisch aus. Fast in pietistischer Einfalt interpretiert er das Vertrauen zu Gott. Der dialogische Charakter seines Glaubensbegriffes, der auf das Gebet als Dialog mit Gott weist, bewahrt ihn vor der weltfremden, weltverneinenden Interpretation. Der Nichtchrist findet bei Oldham eine erstaunliche Beachtung im Gespräch um den Kern des Gottesglaubens. Der Glaubensbegriff ist nicht spekulativ, sondern aktivierende Überzeugung. Der Glaubensbegriff reißt in fast optimistischer Weise den Horizont der Zukunft der Welt auf: Gottes Liebe ist letzte Realität 76 . 74 75
Ebda. S. 56. Ebda. S. 57.
78
Ebda. S. 72.
43
2. K A P I T E L
Die Kirche Jesu Christi und ihr Dienst an der Welt A) Der
Kirchenbegrijf
In dem Buch „Die Kirche und ihr Dienst an der Welt" 1 macht Oldham grundsätzliche Ausführungen über die Definition seines Kirchenbegriffs 2 : Er unterscheidet die Kirche des Glaubens von der Kirche als Institution, also Kirche als Leib Christi von Kirche als göttlich-menschliche Organisation. Die Troeltsche Unterscheidung von Kirchen- und Sektentypus ist ihm bewußt. Alle bestehenden Kirchen sind mehr oder weniger gemischte Gebilde, die beide spezifische Eigenarten in sich vereint haben: die für die Kirche typische Betonung des Evangeliums als etwas objektiv Gegebenem und die Universalität des Evangeliums auf der einen Seite und andererseits die für die Sekte typische Betonung des persönlichen Glaubensaktes und der individuellen Entscheidung. Die organisierte Kirche unterscheidet sich von allen anderen Formen des menschlichen Gemeinschaftslebens durch ihre Sorge für den Gottesdienst und die christliche Unterweisung. Kirche hat im Gottesdienst ihre lebendige Mitte. Von dieser Mitte aus muß die Kirche in der Welt tätig werden. In „Life is Commitment" 3 finden wir eine Beschreibung des Wesens der Kirche: 1. Die Kirche ist die auf Gott bezogene „Society", die sich mit der letztgültigen Bestimmung des Menschen befaßt und ihren Ausdruck im Gottesdienst findet. 2. Die Kirche ist die präsente Manifestation in der historischen Wirklichkeit der Geschichte, daß Gott Liebe ist. Die Gnade und die Wahrheit Gottes sind durch Jesus Christus in die Wirklichkeit geschichtlichen Lebens gekommen. Die Kirche sagt die freudige Nachricht der Liebe Gottes als weltbezogene Gotteswirklichkeit weiter. 3. Die Kirche ist die sich fortsetzende Verkörperung des neuen Christuslebens. Die Erinnerung, die Erfahrung und das Leben der Jünger setzen sich im lebendigen Strom der kirchlichen Tradition fort. 4. Die Kirche ist im pneumatisch-theologischen Wächteramt berufen, das Evangelium vor Irrtum zu schützen. 1 Dr. W. A. Visser't Hooft und Dr. J . H . Oldham haben dieses Buch gemeinsam im Jahre 1937 veröffentlicht als eine ökumenische Kirchenkunde der Gegenwart: Der erste Teil stammt von Visser't Hooft und ist überschrieben „Die Kirche und die Kirchen", den zweiten Teil S . 9 3 f f . hat Oldham verfaßt unter der Überschrift „Der Dienst der Kirche". г Ebda. S. 107 3 Life is Commitment, S . 7 9 f f . ff.
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In „Die Kirche und ihr Dienst" 4 heißt es von den Aufgaben der Kirche: 1. Die konstitutive Aufgabe der Kirche hat eine rezeptive und eine aktive Seite. Sie hat zuerst das gegebene, durch Gottes Gnade und Handeln empfangene Evangelium, Wort und Sakrament zu bewahren, rein zu halten und zu hüten, ehe sie das Empfangene aktiv missionarisch-diakonisch weitergibt. 2. Die Aufgabe der Darstellung ihres inneren Lebens sieht Oldham in vier Aspekten: a) sie ist anbetende Gemeinde, b) sie ist Gemeinschaft der Liebe, c) sie ist Gemeinschaft des Denkens und d) sie ist sozialer Organismus. Oldham sieht in dieser Selbstverwirklichung der Kirche ein gewaltiges Reservoir von Energien, die in die Lage kommen können, die moribunde Welt zu erneuern. So hat er in der Selbstbeschreibung der Kirche ihren Dienst an der Welt bereits im Auge, wenn er z.B. das Stichwort Anbetung auf den Kampf gegen die Ungerechtigkeit richtet, die Kennzeichnung Gemeinschaft der Liebe auf die Kirche als Gruppe angewendet wissen will, die an den Dienst der Liebe den Mitmenschen der Gesellschaft gegenüber gebunden ist, in die Denkarbeit Theologen und Laien aufeinander angewiesen sieht, und den sozialen Organismus mit Verfassung, Verwaltung und Finanzen unter die Forderung stellt, daß im eigenen Haus Ordnung herrsche. 3. Die Aufgaben der Kirche im Blick auf die Welt sieht er in drei Forderungen: a) die Kirche steht unter dem Missionsauftrag der Evangelisation, b) sie steht unter dem diakonischen Liebesgebot Christi und c) sie hat eine eschatologisch-sozialethische Verantwortung an der Gesellschaft. B) Die Forderung der Laizisierung der Kirche als Kritik an der traditionellen Zwei-Reiche-Lehre In „Die Kirche und ihr Dienst an der Welt" 5 fordert Oldham, daß die Kirche laizisiert werden müsse, um die Einheit von Gottesdienst und Arbeit neu zu sehen. Der christliche Glaube müsse das Handeln der Menschen formen und bestimmen, die im geschäftlichen und politischen Leben stehen. Gottesdienst und Unterweisung der Kirche müssen also einen unmittelbaren Bezug auf die Felder der Weltwirklichkeit nehmen, auf denen die Glieder der Kirche, die Laien in ihren weltlichen Berufen und Verantwortungen, entscheiden und handeln müssen. Oldham sieht eine Wechselbeziehung zwischen geistlichem Amt in der Kirche und Laienapostolat in der Welt. Dem Zeugnis und Handeln der christlichen Laien mißt er größeres Gewicht zu als der Lehräußerung der Träger des geistlichen Amtes. Er spricht von der Verlegenheit der Kirche, die darin besteht, daß in der säkularen Welt die christliche Botschaft auf taube Ohren stoße. Jedem Zeitalter aber muß der christliche Glaube neu gedeutet 4 5
Die Kirdie und ihr Dienst an der Welt, S. 114 ff. Ebda. S. 112. 45
werden. Die Kirche muß ihr Zeugnis ablegen und ihre Sendung erfüllen. Sie muß Bote der erlösenden Gnade für die Welt sein. Die Krise in der säkularen Welt hat auch die Kirche in ihrem traditionellen Selbstverständnis betroffen. So fordert Oldham, daß der geistlich-seelsorgerliche Dienst der Kirche unmittelbarer und enger mit den besonderen Aufgaben des Gemeinschaftslebens in Beziehung gesetzt wird, daß die christliche Gemeinde eine Leitungs- und Zurüstungsaufgabe an allen ihren Gliedern übernimmt, und daß die Schaffung vieler kleiner Gruppen von Christen zu gegenseitiger Hilfe, Tat und Zeugnis im Vielerlei und in der Unübersichtlichkeit der sozialen Themen der Gesellschaft erforderlich ist. Hier bieten „Zellen" die Möglichkit der aufbauenden Kraft. Der Beitrag in diesem Prozeß der Umorientierung, den das geistliche Amt zu leisten hat, liegt darin, daß der Theologe als Lehrender und Lernender die Laienglieder der Gemeinde stärkt, fördert und zurüstet. Sie sollen dadurch fähig werden, geistliche Verantwortung im missionarisch-diakonischen Dienst der Kirche an der Welt zu übernehmen und konkret auszuführen. Diese Gedanken Oldhams sehen und ordnen den Dienst des Theologen in der Kirche neu. Wenn der Gesichtspunkt der Laizisierung der Kirche als Kritik an der traditionellen Zwei-Reiche-Lehre empfunden wird, dann dadurch, daß bei Oldham ein neues Gefälle des Verhältnisses Kirche: Welt sichtbar wird. Nicht allein das geistliche Amt steht im Zeugnisdienst, sondern alle Glieder der Gemeinde in ihren Wirkungsbereichen innerhalb der säkularen Welt und ihrer Gesellschaft. Harnack hat das Evangelium als „das Evangelium der Liebe und Hilfeleistung"® genannt. Oldham nimmt diese Kennzeichnung auf und gibt zu bedenken, daß trotz staatlicher Sozialarbeit ein großes Maß des Dienstes von Mensch zu Mensch bleibt 7 . Zum Begriff der Welt 8 sagt Oldham, daß sie Gottes Schöpfung ist. Gott ist der Herr der Natur und Geschichte. Durch die Sünde ist sie verderbt. Die Mächte der Finsternis stehen im klaren Gegensatz zum Reich Gottes. Gottes Wille besteht darin, daß er die Welt retten will. Der Welt gilt seine erlösende Liebe. Oldham kritisiert den Typus der Vermischung von Kirche und Welt in den sozialen und politischen Lehren der päpstlichen Enzykliken. Seine Stellung zum Programm des „Social Gospel" hat sich in den dreißiger Jahren verändert. Er kritisiert jetzt den Typus der Durchdringung von Kirche und Welt. Auch der dritte Typus der Trennung von Kirche und Welt in der Theologie Karl Barths, der gegen jede Vermischung des Evangeliums mit den sozialen Bestrebungen und Utopien gebrochen hat, findet nicht Oldhams Zustimmung. Wie ist Old6 von Harnack, Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten, Bd. I, S. 105 ff. 7 Die Kirche und ihr Dienst, S. 132. 8 Ebda. S. 139 ff.
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hams Haltung zu kennzeichnen im Blick auf diese drei Typen? Er ist von der Theologie der Königsherrschaft Christi zu verstehen. Von Calvin hat Oldham gelernt, daß die Liebe die Kirche drängt, so tief und so weit wie möglich in das Leben der Menschheit einzudringen. Die Wahrheitselemente aus den verschiedenen Lehrmodellen der kirchengeschichtlichen Tradition dienen Oldham dazu, seine Überzeugung zu festigen: Aus dem Schema Natur — Ubematur der katholischen Scholastik des Thomas von Aquin der Gedanke von der Majestät Gottes in der Bezogenheit auf die Welt, aus der Theosis-Mystik der Orthodoxie der Gedanke der Einigung der Welt mit Gott, aus dem Gegensatz von Kirche und Welt bei Anselm von Canterbury die Realität des von Gott trennenden Bösen und aus dem Nebeneinander von Kirche und Welt bei Gogarten und Hirsch die Ordnungen als Ausdruck der Willensoffenbarung des Schöpfers innerhalb der Immanenz. Die Größe Gottes als des Herrn der Welt, die Bindung der Welt an Gott, die Erkenntnis des Bösen und die Bedeutsamkeit der irdischen Ordnungen sind die wichtigen Aspekte für das dogmatische Denken Oldhams. Sie verbinden sich mit der Tendenz der Ablehnung einer absoluten Eigengesetzlichkeit der Wirk- und Arbeitsbereiche, in denen Christen und Nichtchristen stehen. Die Theologie der Königsherrschaft Christi ist eine Theologie des Universalismus. In allen Bereichen haben die Christen Anteil am neuen Sein, das mit Jesus Christus in die Welt gekommen ist, um die Welt umzuformen. Ihr Handeln muß dem Willen Gottes konform sein. Das Priestertum der Gläubigen ist bei Oldham Weltverantwortung. Deshalb ist Oldham gegenüber der ZweiReiche-Lehre des Luthertums sehr kritisch, weil er die universale christliche Verantwortung für die Welt durch sie eingeengt empfindet. Ein starres Schema blockiert die Lebendigkeit dieser Verantwortung in der Politik, Wirtschaft und Sozialarbeit 9 . C) Zeugnis und Handeln der Kirche im
Gemeinschaftsleben
Was ist das „Wesen des Gemeinschaftslebens" in der Sicht Oldhams? Das fünfte Kapitel in dem Buch „Die Kirche und ihr Dienst an der Welt" 1 0 widmet Oldham dieser Frage. Hier will er die Aufmerksamkeit gerichtet wissen auf bestimmte Züge des Gemeinschaftslebens, die für das christliche Handeln von Wichtigkeit sind. Das Gemeinschaftsleben ist eine organische Größe. Menschen schaffen sie und werden in sie hineingeboren. Das Leben des Einzelnen ist unlösbar in einem biologischen und geschichtlichen Zusammenhang verwurzelt. Der Zusammenhang ist die Ver9 Ähnlich äußert sich W i l l i a m H . L a z a r e t h in seinem A u f s a t z „Luthers Z w e i - R e i d i e Lehre, eine Ü b e r p r ü f u n g " in: Die Kirche als F a k t o r einer kommenden Weltgemeinsdiaft, S. 5 6 ff. 10
Die Kirche und ihr Dienst an der W e l t , S. 1 6 7 ff.
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bindung des Gliedes mit dem Leib. Diese Bindung des Gliedes am Leibe ist konfliktgeladen. Die Christen müssen mit den Nichtdiristen in Verbänden und Gruppen zusammenarbeiten. Die christliche Zielsetzung stößt auf den Widerspruch anderer Zielsetzungen. Das Gemeinschaftsleben ist vom Einfluß der Eigengesetzlichkeit der Dinge abhängig, die den menschlichen Zwecken als Mittel dienen. Das Engagement in der von der Eigengesetzlichkeit der Dinge ausgerüsteten Gemeinschaft verlangt Weisheit im sachgerechten und verantwortlichen Umgang mit Gesetzen und Dingen. Das ganze System der Ethik muß im Blick auf die komplizierte Gestalt der modernen Gemeinschaftsbeziehungen umgedacht werden. Das Gemeinschaftsleben, das in eine komplizierte Struktur eingebaut ist, scheint von Kräften beherrscht zu sein, die mit dem Geist der christlichen Liebe unvereinbar sind. Wo soll die Ethik ansetzen? Die Sachgebiete Technik, Wirtschaft, Politik und öffentliches Leben bringen dort die Berührungen mit den Fragen der Ethik, wo Menschen weittragende und die Gemeinschaft betreffende Entscheidungen fällen müssen. Wenn die Ethik dort versagt, dann versagt sie innerhalb des Gemeinschaftslebens überhaupt. Die Ausübung des Zeugnisses und Handelns der Kirche im Gemeinschaftsleben ist sowohl der organisierten Kirche als audi der weltlichen Christenheit auferlegt. Die organisierte Kirche hat den Auftrag der Welt gegenüber, öffentlich von der Wahrheit über den Sinn und den Zweck des menschlichen Lebens nach der Offenbarung Jesu Christi Zeugnis abzulegen. Ihre Erinnerung an den wahren Zweck und das wahre Ziel des Menschseins ist die Entfaltung und Erklärung der Lehre von der Gemeinschaft. Gegenüber Individualismus und Egoismus glaubt und verkündigt sie, daß diejenigen Menschen, die im Glauben der Erlösung teilhaftig sind, durch einen unentrinnbaren Zwang zum Dienst an ihren Mitmenschen verpflichtet sind. Der Kern dieser Lehre, das Evangelium Jesu Christi, ist kein Sittenkodex oder ein neues Gesetz, sondern die Botschaft eines neuen Lebens als die geschenkte Wirklichkeit der Gnade und Liebe. Es ist die Aufgabe des prophetischen Lehramtes der Kirche, die sittlichen Folgerungen der christlichen Lebensauffassung darzulegen und die Lebensführung zu verdeutlichen, zu der der Glaube an das Evangelium treibt 11 . Die Ausübung des Zeugnisses und Handelns der Kirche als „weltliche Christenheit" beschreibt Oldham in seinem Buch „The Resurrection of Christendom": Angesichts des Neuheidentums, das mit dem Christentum bricht und die Gesellschaft auf neue Fundamente stellen will, müssen die Christen aktiv werden. Sie sind überzeugt, daß das Wohl der Menschheit an das christliche Verständnis des Lebens gebunden ist. Diese Überzeugung muß im öffentlichen Leben gesucht und verwirklicht werden. Die Werte dieser Uberzeugung müssen ihre Anwendung und Konkretisierung in der 11
48
Ebda. S. 197 ff.
Politik finden. Dieses Mühen muß eine neue Skala von Aktivitäten in Bewegung bringen. Allgemein christlicher Geist muß im öffentlichen Leben wachsen. Der Austausch der Gedanken und Anregungen vieler christlicher Denker gehört in ökumenische Konferenzen. Oldham fordert die Schaffung eines „Council on the Christian Faith and the Common Life", das heißt eines ökumenischen Weltrates, der die beiden Bewegungen von „Faith and Order" und „Life and Work" zusammenschließt. Auf diese Weise erhofft Oldham im zweiten Jahr des Zweiten Weltkrieges eine wirksamere Mobilmachung einer konzentrierten christlichen Aktivität auf neuer Basis. Nicht die abstrakte Diskussion, sondern die Entscheidung in den praktischen Fragen macht aus dem Zuschauer einen Mitkämpfer. Die Kriegsereignisse fordern die Christen heraus, ihre verantwortliche Aufgabe für die Welt neu zu begreifen. Das Christentum ist Herausforderung an unsere Voreingenommenheiten. Sein Geheimnis und seine Gewalt liegen in der Forderung der völligen Bekehrung des Geistes12. Weil das Christentum die Botschaft vom Handeln Gottes hat, deshalb ruht der schöpferische Glaube auf der Grundlage der Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit als Inhalt des Evangeliums ist unabhängig vom Wollen und Wählen der Menschen. Kein Mensch hat die Macht, diese Wirklichkeit, die Gott vollbracht hat, zu verändern. Der Universalismus des Christentums umfaßt alle Bereiche der Welt. Das Kreuz von Golgatha ist die göttliche Antwort auf die Liebe der Menschen zur Macht, die Auferstehung Jesu Christi ist die Grundlage des Vertrauens auf die Macht Gottes. Die Macht Gottes erneuert das Leben der Welt. Angesichts der Vorherrschaft anonymer Mächte in der modernen Gesellschaft spricht Oldham von der Notwendigkeit eines „sozialen und politischen Glaubens" der weltlichen Christenheit 13 . In dem Buch „Life is Commitment" betrachtet Oldham die drei Kriterien Tillichs in der Beziehung der Kirche zur Zivilisation: Autonomie, Heteronomie und Theonomie. Innerhalb des Kontextes eines sozialen und politischen Glaubens bieten diese drei Kriterien Denkhilfen. Die Autonomie bringt das Wachstum des Menschen zur Reife. Die Heteronomie zeigt die von der Eigengesetzlichkeit bestimmte Situation, in der der Mensch unter dem Licht des göttlichen Wortes sich vorfindet. Die Theonomie erhellt die letztgültige Sinndeutung der Existenz als ewigen Bezug zu Gott, der durch alle Formen des Denkens und Handelns, in denen die Christen beteiligt sind, hindurchschimmert 14 . Der soziale und politische Glaube ist die Voraussetzung und das Vorzeichen für die Verwandlung des Lebens. Er ist lebendiger Glaube, der zur Gestaltung führt. Dieser Glaube, der in einer „definitiven sozialen Philosophie" 15 artikuliert wird, ist nicht identisch mit einem politischen 12 13 14
4
The Resurrection of Christendom, S. 10 ff. Ebda. S . 2 2 f f . 15 Life is Commitment, S. 82 ff. The Resurrection of Christendom, S. 22 ff.
Kosmahl, Ethik
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Programm. Es geht um einen konstruktiven sozialen Glauben als eine das Ganze betreffende Zielsetzung. Er wird getragen durch die Uberzeugung, daß die Christen der Menschheit nur durch soziale Aktionen dienen können 1 6 . Er verbündet sich deshalb mit ähnlichen Uberzeugungen aus anderen Richtungen, wenn gewährleistet ist, daß die Gemeinschaft aller vor den Gefahren geschützt wird, die das höhere Leben der Personalität des Menschen bedrohen. Die „gemischte Gesellschaft" muß besorgt sein um das Selbstverständnis des Menschen. Da die Christen in der „gemischten Gesellschaft" in der Minderheit sind, müssen sie sich mit anderen Gruppen verständigen. Ihr Bekenntnis und die natürliche Vernunft müssen den gemeinsamen Nenner finden. Bei diesem redlichen Bemühen muß das letzte Urteil Gottes und die reine Wahrheit des Evangeliums unangetastet bleiben. Oldham arbeitet deshalb an der Vereinbarung der Heiligkeit göttlicher Wahrheit mit vernünftigen Grundsätzen aus dem Bereich des Naturrechts. Diese Grundsätze, die er „Mittlere Axiome" nennt, müssen der neuen wiedergutgemachten Lebensordnung des Liebesgebots Christi entsprechen. Diese Mühe wird dann zum harten Ringen, wenn sich Situationen öffnen, die keine christliche Lösung versprechen. Dann sind die Ziele, die man verfolgt, im fundamentalen Sinne falsch. Das Königtum Gottes mit der „neuen wiedergutgemachten Ordnung" 1 7 kann aber nicht uminterpretiert werden um eines unechten Kompromisses willen. Die Gefahr des Kompromisses ist der Stachel in der Versuchung der Säkularisierung. Oldham liegt an der Unterscheidung der Leitbilder einer christlich und einer säkular gesteuerten Gesellschaft. Die christliche Aktionsgruppe muß deshalb dem Königtum Gottes verbunden bleiben. Der Unterschied zwischen dem religiös motivierten bedingungslosen Gehorsam und der politisch motivierten Relativität der Entscheidungen auf der Grundlage der Abstimmung darf nicht verwischt werden. Das Königtum Gottes und die sündige Ordnung können niemals identifiziert werden. Die Identifizierung des Christentums mit den höchsten Gütern der politischen Moral wird sich verhängnisvoll auswirken. Ein „positiver sozialer Glaube" 1 8 steht vor der Aufgabe, die Abhängigkeit des Menschen im Raum der Erfahrung und des Wissens wieder zu entdecken. Der Mensch bleibt von Gott abhängig. Oldham mahnt zur Bescheidenheit in der Benutzung des Wortes „christlich". Er will diese Bezeichnung innerhalb der weltlichen Verantwortung belegt wissen mit der Mühe um einen sozialen und politischen Glauben, das heißt eine allgemein von der Verantwortung um den Menschen zu bildende Überzeugung, Meinung und Ziel, die allen Partnern in der gemischten Gesellschaft dienen. Es ist schwer, an dieser 16 17 18
50
The Christian News Letter, N r . 10. The Resurrection of Christendom, S. 24 ff. The Christian News Letter, N r . 40 und 42.
Stelle seines Denkens den Vorwurf des Aufbaus einer Ideologie zurückzuweisen. Macht nicht jede Weltanschauung den Versuch, das Denkbewußtsein mit doktrinären Werten ihrer Weltanschauungslehre zu erfüllen? Oldham will die „Gemischte Gesellschaft" mit den Werten des christlichen Verständnisses vom Menschen „durchsäuern". Insofern gilt der Vorwurf nicht, da er die Absolutsetzung der Ideologien ablehnt und die „Mittleren Axiome" im relativen und jederzeit korrigierbaren Sinne als Hilfen zu einem besseren Miteinander versteht. Diese Bescheidenheit schützt ihn vor der Versuchung eines ideologischen Weltanschauungssystems. Er will die Christen aus der Passivität reißen und sie zur Initiative im öffentlichen Leben aktivieren. Das kann er nur, indem er um der Liebe zu den Menschen willen den Gestalten der Ideologien so weit wie möglich entgegenkommt. Es ist ein Risiko, das institutionelle Gefüge der Gesellschaft zu kritisieren, das unter die eigengesetzlichen und sich dämonisch gebärdenden Mächte geraten ist. Oldham will die Kräfte des Evangeliums für die Gesellschaft mobilisieren. Er ist überzeugt von der Wirkung der Heilung, des Friedens und der Gerechtigkeit durch das Evangelium. Das christliche Verständnis des Menschen, das über allen Ideologien stehen muß, erweist sich als Schutz für das Ganze. Die Freiheit und Würde des Menschen verlangen die Überprüfung aller Ziele, die die Machtträger der Gesellschaft propagieren. Die „soziale und politische Philosophie" ist ethische Lebensgestaltung aus dem Glauben in der säkularen Welt. Die weltliche Christenheit braucht eine „Ethik des gemeinsamen Handelns" für die Zusammenarbeit mit anderen. Oldhams „Mittlere Axiome" sind Riciitungshilfen, die auf die jeweilige Konkretisierung warten. Das Zeugnis und Handeln der Kirche und der ihr zugehörigen weltlichen Christenheit muß in die säkular sich verstehende Welt wirken: 1. Alle Menschen sind Söhne Gottes und können ihr Leben in der Freiheit und Verantwortlichkeit der Person nur in den Beziehungen zueinander finden, die von gegenseitigem Vertrauen, Gehorsam und Dienst erfüllt sind. 2. Der Gesichtspunkt der Toleranz verbietet, daß eine Gruppe sich absolut setzt und in extremer Weise die Achtung vor den anderen verleugnet. 3. Jede Zeit steht vor der Aufgabe, soziale Gerechtigkeit für alle Menschen zu erarbeiten. 4. In der pluralistischen Gesellschaft als eine Gemeinschaft des Miteinanders sind die Minoritäten genauso wichtig wie die Majoritäten, um die Menschen zur Initiative und Verantwortung zu erziehen. 5. Die Achtung vor der Natur hat zum Inhalt die Erkenntnis, daß die materiellen Werte nicht Mittel zur Befriedigung von grenzenlosen Wünschen Einzelner sind, sondern Werte zum allgemeinen Nutzen aller. 4»
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6. Die Rechte der Familie müssen den Rechten des Staates vorangestellt werden. 7. Die universale Kirche ist als Wächter der Wahrheit mit ihrer ökumenisch-internationalen Erfahrungs- und Wissensweite zum uneigennützigen Dienst an der ganzen Menschheit als dem Objekt der Liebe Gottes diakonisch verpflichtet. Nicht Provinzialismus, sondern Weltweite ist das Kriterium des Welt- und Menschheitsdienstes der Kirche als „universale Gesellschaft" 1β . In diesen sieben Punkten sieht Oldham die Ansätze für die „christlichen Fragen an die Gesellschaft" 20 . Ich will diese Gedanken axiomatische Überzeugungen nennen, die zum Ausgang für die weitere Entwicklung von „Mittleren Axiomen" dienen. Oldhams Ethik bemüht sich, der Welt Bestes zu suchen. Er beginnt sein Vorhaben in allgemein gehaltenen christlichen Uberzeugungen. Hier leuchtet die Konzeption eines „neuen Christentums" 2 1 auf: Die Assoziation der Christen mit anderen verantwortlich denkenden Gruppen auf der Basis akzeptabler und redlicher Zusammenarbeit ist ein neuer Weg, eine neue Methode christlichen Handelns. Eine bloße Individualethik ist unbrauchbar für die Entscheidungen im Alltag 2 2 . Oldham formuliert die „Bedeutung eines neuen Christentums" innerhalb der gemischten Gesellschaft als den starken und wirkungsfähigen Faktor, der dieser Gesellschaft im Licht der göttlichen Offenbarung den „common sense", das heißt, den allgemeingültigen Sinn und die das Ganze umfassende Zielsetzung gibt. T.S.Elliot entfaltet den Begriff der „christlichen Gesellschaft" in drei Richtungen 23 : 1. Die öffentlichen Angelegenheiten werden nach christlichen Standpunkten behandelt innerhalb der Gesamtwirklichkeit, die er „christliches Netzwerk" nennt. 2. Die öffentliche Meinung wird vom christlichen Verständnis des Lebens beeinflußt. 3. Die christliche Gemeinde bringt durch ihr Zeugnis und durch ihren Dienst den christlichen Geist zum Ausdruck. Oldham beruft sich auf diese drei Aspekte des Begriffs der „christlichen Gesellschaft" von Elliot und beschreibt die fünf Aufgaben, die das methodische Instrumentarium der Arbeit der Christen darstellen 24 : 1. Die religiöse Aufgabe besteht im wagemutigen Lebenszeugnis der Christen als Gottes- und Nächstendienst. 19 2U 21 23
52
The Resurrection of Christendom, S . 2 9 f f . Ebda. S. 27. 2 2 Ebda. S. 38. Ebda. S. 52 ff. 2 4 Ebda. S. 55 ff. Ebda. S. 53ff.
2. Die soziale Philosophie als Ausdruck überzeugenden Lebenszeugnisses profiliert die Vorstellungen der Christen zu den Fragen der Gesellschaft. 3. Die politische Aktion als Mittel der erstrebten Veränderung der Gesellsdiaftsstruktur konkretisiert die Vorstellungen der Christen in den ethischen Fragen der Gesellschaft25. 4. Die demokratische Idee hat zur Grundlage die weitausgestreute Initiative als die schöpferische Kraft in lokaler und zentraler Hinsicht. 5. Die Arbeit der wissenschaftlichen Fachleute als Glieder der christlichen Bruderschaft muß mit der allgemein christlichen Aufgabe an der Gesellschaft verbunden werden. Oldham sieht die Wiedererweckung des Christentums angesichts der Unterhöhlung der geistigen Grundlagen der westlichen Zivilisation in der Zusammenarbeit der christlichen Kirchen mit den Kräften und Bewegungen der sozialen Verantwortung, des sozialen Dienstes, der internationalen Freundschaft, des guten Willens und des Friedens. Die Herstellung dieser Zusammenarbeit des organisierten Lebens der aktivierten Kirchen und der säkular-sozialen Kräfte braucht die Bildung der Kommission für internationale Freundschaft und für soziale Verantwortung. Oldhams Vorschlag für die britische Christenheit, daß ein britischer Christenrat auf interdenominationaler Grundlage geschaffen wird, gilt audi für die internationale Ebene. In den Geist der Nation muß die Idee der Wiedererweckung des Christentums eingepflanzt werden2®. Oldham schwebt die Bildung eines Weltrats der Kirchen vor, der als ein zentraler Sammelpunkt auf dem Wege der generellen und komprehensiven Funktion alle dem gemeinsamen Ziel verpflichteten Aktivitäten zusammenfaßt. Dieser Weltrat muß zu einem bedeutsamen Impetus in der Wirklichkeit der Menschheit werden. Seine Bedeutung liegt darin, daß er ein Ferment des verantwortlichen Denkens und Planens ist und einen Kodex gemeinsamen Verhaltens erwarten läßt. Das „Projekt eines neuen Christentums" 27 , das heißt einer erneuerten Gesellschaft, steht oder fällt mit der Wahrheit, daß Gott das Licht und das Leben für alle Menschen ist. Angesichts des Neuheidentums, das mit dem Christentum brechen und die Gesellschaft auf neue Grundlagen stellen will, besteht für die Christen die Pflicht, daß die zentralen Uberzeugungen und Einsichten des christlichen Glaubens und damit neue geistige Energien für die Erneuerung und Stärkung der kranken Gesellschaft mobilisiert werden 28 . Das geschieht auf der Basis des Dialogs der „fellowship of responsible persons". Das Miteinander wird ernährt und in lebendiger Weise erneuert ö
The Christian N e w s Letter, Nr. 14: Erziehung ist soziale Philosophie in Aktion. The Resurrection of Christendom, S. 63. " E b d a . S. 70. » Ebda. S. 2 ff. M
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durch die geistigen und geistlichen Energien der neugewonnenen Bruderschaft der Menschen, die sich mit ihren Kenntnissen und Erfahrungen der Gesamtverantwortung widmen. Die Mächte von Liebe und Haß, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ringen miteinander. Der Dienst der Christenheit ist auf die internationale Ordnung bezogen: auf Gesundung und auf Frieden der Welt. Zeugnis und Handeln der Christenheit im Gemeinschaftsleben, die der Rettung des Menschen gelten, erstreben die Anwendung der Lehre Christi mit den „Grundsätzen des Lebens in einer neuen, wiedergutgemachten Ordnung" 29 . Der Einsatz von Zeugnis und Handeln der Christenheit weiß um die beiden Wahrheiten, daß die wahre Heimat des Menschen nicht in dieser Welt ist, und daß die Christen als Söhne Gottes in dieser Welt Verantwortung haben 30 . Die Herzen, die um eine Realität außerhalb von Zeit und Raum kreisen, müssen aktiv und tapfer teilnehmen in den gegenwärtigen Kämpfen der Menschheit. Die Christen sind nicht Zuschauer, sondern Mitkämpfer gläubigen Wagnisses. Ihre Entscheidungen müssen wahrhaftige Antworten der Beziehung des Glaubens auf die gegenwärtigen Probleme sein. l»
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Ebda. S. 24.
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Ebda. S. 8.
3. K A P I T E L
Die „Mittleren Axiome" als Schlüsselproblem A) Die „Mittleren Axiome" als methodische Aufgabe der Übersetzung des Liebesgebotes Christi in die Begriffswelt der modernen Gesellschaft Der Begriff „Mittlere Axiome" (Zwischen-Axiome) zeigt den Standort des Christen in einer zwiefachen Bindung: Er lebt in der Bindung des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung des Reiches Gottes. Er ist an die Ordnung der Welt gebunden, die auf rationaler, wissenschaftlicher und technischer Grundlage Unrecht, N o t und Elend der Menschheit zu überwinden trachtet. In situations-, menschen- und sachgerechter Weise muß die Christenheit sich kritisch und wegweisend den Fragen der Menschheit in der gefährdeten Weltlage stellen. Die auferlegte Denkanstrengung schließt in sich eine hermeneutische Aufgabe. Allgemeine Redewendungen vom Liebesgebot Christi und unkonkrete Appelle für die soziale Gerechtigkeit helfen wenig. Der einzelne Christ fragt in der jeweiligen Situation, was er tun soll. Er ist gefordert und nicht in der Lage, sich die Forderung abnehmen zu lassen. Zum Studium des Problems muß die aus der Christusgabe fließende Agape als Aufgabe von der rational sittlichen Grundlage der Ordnungen unterschiedlich gesehen werden. Emil Brunner sagt, daß christologisch nur die Agapeforderung, das heißt der aus dem Zuspruch erfolgende Anspruch, ist. „Die Ordnungen, an denen der Christ, der in der Welt lebt, partizipiert, sind gerade nicht christologisch zu begründen, darum, weil die Welt als Welt der Ekklesia als das Andere gegenübersteht." 1 Er sagt weiter: „Das Liebesgebot bleibt als einzige Weisung in Geltung. Der Christ steht unter der alleinigen Herrschaft seines Herrn, aber er soll die Liebe, die ihm von diesem Herrn geboten wird, in den Ordnungen der Welt auswirken und kann erst dann daran denken, diese Ordnungen selbst menschlicher zu gestalten. Für diese Gestaltung aber kommt nicht das Liebesgebot selbst als Norm in Frage, sondern vielmehr dessen Vernunftanalogie. Die Agape ist nur der Antrieb, die weltlichen Ordnungen nach dem der Vernunft immanenten Gesetz der Anerkennung der gleichen Personwürde im Sinn der Vermenschlichung zu verbessern. Die Verbesserung der Ordnung aber kann im besten Falle nur ein Hinweis auf das 1
Emil Brunner, Dogmatik III, S. 352.
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kommende Reich der Liebe, nie aber dessen Verwirklichung sein." 2 Ich interpretiere den Begriff „Mittlere Axiome" in doppelter Hinsicht: 1. In materialer Hinsicht: Die christliche Verantwortung bedarf des Zwischenstücks, das die allgemein gültige sittliche Grundlage als Prinzip der Ordnungen der menschlichen Gesellschaft, also das allgemeine sittliche Vernunftgesetz mit dem Moment der Gegenseitigkeit, und die Agape aus dem Glauben an den uns in die Nachfolge rufenden Christus als das Ende des Gesetzes miteinander verbindet 3 . 2. In formaler Hinsicht: Der gewonnene hermeneutische Inhalt ethischer Exegese bedarf der Vermittlung der theologischen Arbeit in die praktische Anwendung, also des Geistlichen zum Laien. Als kirchengeschichtliches Beispiel mag hier die Beobachtung dienen, daß in den USA die Demokratie die Lebensformen der menschlichen Gesellschaft aus dem Leitbild der Ekklesia gewann 4 . Was ist ein Axiom? Ein Axiom ist ein Satz, der ohne Beweis von allen denkenden Menschen als wahr, wert und angemessen anerkannt für gültig erklärt und angenommen ist. Was ist ein mittleres Axiom? Ein mittleres Axiom ist ein Satz aus der christlichen Ethik, das heißt aus dem Bereich des Denkens, das sich an die Agape Christi als Gabe und Aufgabe gebunden hat, der ohne Beweis als Satz der christlichen Weltverantwortung von allen verantwortlich denkenden Menschen für die Erreichung des Wohls der Menschheit als wahr, wert und angemessen anerkannt, für gültig erklärt und angenommen ist. Den materialen Aspekt finde ich in dieser Äußerung Oldhams: „Wir haben schon betont, daß die Formulierung von Zwischenaxiomen, die die Art und Weise kennzeichnen, wie zu einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Verhältnissen das christliche Liebesgebot den angemessensten Ausdruck findet, in der Gegenwart ein dringendes Bedürfnis ist. Solche Gesamturteile über das, was christliche Lebensführung bedeutet, sind nicht nur erlaubt, sondern notwendig." 5 Der Skopus dieser Äußerung Oldhams liegt in der hermeneutischen Aufgabe der Verdeutlichung und Konkretisierung dessen, was das Liebesgebot Christi sagen will. Das christliche Liebesgebot soll den angemessensten Ausdruck finden. Das heißt doch, daß innerhalb der eigengesetzlichen und rationalen Ordnungsstrukturen der Gesellschaft das Liebesgebot den Menschen in seiner Lebenswirklichkeit der Sachzwänge erreichen muß. Eine Ethik gemeinsamen Handelns muß „some standard" ( = eine gewisse Regel) als wirkliche Hilfe in den Entscheidungen des Menschen der Industrie, Verwaltung und Politik anbieten können®. 2 4 5 6
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3 Ebda. S. 349. Ebda. S. 352. Ebda. S. 360. Die Kirche und ihr Dienst an der Welt, S. 228. The Resurrection of Christendom, S. 38 und 39.
Den formalen Aspekt finde ich in dieser Äußerung Oldhams: „Es ist nicht Aufgabe der Geistlichen, den Laien zu sagen, wie sie in öffentlichen Angelegenheiten zu handeln haben, sondern sie der christlichen Forderung gegenüberzustellen und sie zur richtigen Anwendung auf das eigene Leben zu ermutigen. Deshalb bedarf es zwischen der bloß allgemeinen Feststellung der ethischen Forderungen des Evangeliums und den Entscheidungen, die im Einzelfall getroffen werden müssen, wie ich es nennen möchte, der Zwischenaxiome. Sie erst geben der christlichen Ethik einen klaren Bezug. Sie sind ein Versuch, die Richtung zu bestimmen, in der der christliche Glaube sich in einer besonderen Gesamtlage auswirken muß. Sie binden nicht für alle Zeiten, sondern sie sind vorläufige Umschreibungen der Art von Lebensführung, wie sie in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen von Christen gefordert wird." 7 Der Skopus dieser Aussage liegt in der methodischen Aufgabe der Zusammenarbeit des Theologen mit dem Laien. Der Dialog bemüht sich um die Richtung christlicher Ethik, die als theologische Reflexion auf Erfahrung und Vorschlag des Laien angewiesen ist. Die Frage „Was sollen wir tun?" steht am Anfang der gemeinsam aufgewendeten Mühe eines gangbaren Weges. Die gemeinsam versuchten Antworten auf die Fragen der Gegenwart bleiben vorläufige Festlegungen und können jederzeit korrigiert werden. Eine vorindustrielle Personal- oder Individualethik kann diese Aufgabe nicht erfüllen. Aber auch die Kriterien einer kasuistischen Ethik oder einer Ethik der Werte sind nicht ausreichend, um eine Hilfe geben zu können. Ich will den Weg Oldhams als Ethik verantwortlichen Denkens und Handelns in der Gemeinschaft aller, die guten Willens sind, nennen. Die bisherigen Ethiken waren Ethiken des Monologs, Oldham deutet uns die Umrisse einer Ethik des Dialogs an. Was macht diese Ethik so dringlich? Oldham ist tief bewegt von dem krassen Widerspruch zwischen der christlichen Lebensauffassung und den sittlichen Maßstäben der säkularen Gesellschaft. Diese Maßstäbe und Werte sind materieller Reichtum, politische Macht, Verabsolutierung von Besitzrecht und Eigentum, Unterwerfung des Menschen unter Eigengesetzlichkeit und Sachzwang, die brutale Wirklichkeit des Kapitalismus, die Interpretierung von Unrecht als Tugend, innere Unsicherheit im Widerstreit von Nationalismus, Kommunismus und humanistischem Liberalismus und konventionelle Unsittlichkeit in den Verhaltensmustern der Gesellschaft. Er beklagt, daß der demokratische Grundsatz der Gleichheit zur Gleichmacherei umgewandelt ist. Gleicher Wert des Menschen ist zu differenzieren von gleichen Fähigkeiten, Aufgaben und Bedürfnissen. So tritt er dafür ein, daß alle Kinder gleiche Bildungsmöglidikeiten erhalten. Dieser Gesichtspunkt ist ihm vom Wert der Menschenwürde von großer Bedeutung. 7
Die Kirdie und ihr Dienst an der Welt, S. 199 ff.
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Dieses Beispiel aus dem Verständnis des Begriffs der Gleichheit zeigt uns, daß die „Mittleren Axiome" Klarheit in Begriffe bringen, die leicht Schlagwörter werden können. Die Begriffswelt der Gesellschaft bedarf dieses klärenden Dienstes. Das Beharrungsmoment innerhalb der Interpretation flexibel veränderlicher Begriffe bleibt bei Oldham die Bindung an den Inhalt des Liebesgebotes Christi. Er fragt nach dem Willen Gottes in der gegenwärtigen Situation. Vom Zentrum des Glaubens will er in die Begriffswelt der säkularen Welt und in das Denken des bindungslos gewordenen Menschen hineinsprechen. Die Nachfolge Christi als Denkimpuls ist bei ihm der stärkste Faktor. Fremd jeden Systems von Thomismus, „Social Gospel", Kasuistik oder christlich verbrämter Ideologie stellt er sich als Mensch „sub specie aeternitatis" den Tagesfragen. Die Weite der analytisch erarbeiteten Kenntnisse von der Wirklichkeit der Menschheit und die aus der Liebe geborene Verantwortung für die Welt verbinden sich in seinem Denken. Biblische Forderung und konkrete Erfordernisse sucht er im Ringen um den gemeinsamen Weg zu verbinden und in Einklang zu bringen. Dabei geraten christlicher Weltdienst und säkulare Weltgestaltung miteinander in eine fruchtbare Spannung. Ich glaube, daß es sich das Buch von Günter Howe und Heinz Eduard Tödt zu leicht macht, wenn Oldhams Beurteilung der säkularisierten Welt als zu negativ empfunden wird und ihm gegenüber festgestellt wird: „Säkulare Strukturen haben eine gottgegebene Funktion." 8 Bei ihm sind die säkularen Strukturen die vorgefundene Wirklichkeit, in die hinein er in dynamischer Weise das Liebesgebot Christi auf dem Wege von „Mittleren Axiomen" bekanntzumachen versucht. B) Die Formulierung von „Mittleren Axiomen" weltweite Verantwortung
als Hilfen für die
1. Das Problem der „Verantwortlichen Gesellschaft" Der Begriff „Verantwortliche Gesellschaft" ist von Oldham 1948 in Amsterdam geprägt worden. Dieser Begriff hat die „rechte Ordnung der menschlichen Gesellschaft" 9 zum Inhalt. Wolfgang Schweitzer sagt: „Als ein solches mittleres Axiom ist der ebenfalls von Oldham 1948 geprägte Begriff verantwortliche Gesellschaft' anzusehen, der auf der Weltkirchenkonferenz von Amsterdam 1948 (syntaktisch etwas problematisch, sachlich aber gut) so definiert wurde: ,Eine verantwortliche Gesellschaft ist eine solche, in der Freiheit die Freiheit von Menschen ist, die sich für Gerechtigkeit und öffentliche Verantwortung verantwortlich wissen, und in der jene, die politische Autorität oder wirtschaftliche Macht besitzen, 8 Günter Howe-Heinz Eduard Tödt, Frieden im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, ökumenische Theologie und Zivilisation, S. 17. 9 Amsterdamer ökumenisches Gespräch, Bd. III, X ff.
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Gott und den Menschen, deren Wohlfahrt davon abhängt, für ihre Ausübung verantwortlich s i n d . ' " 1 0
Dieses Zitat steht im Bericht der III. Sektion, die sich mit dem Thema „Die Kirche und die Auflösung der gesellschaftlichen Ordnung" beschäftigte. Der Sektion I I I lag im 3. Vorbereitungsband der Beitrag von Oldham vor, der überschrieben war: „Eine verantwortliche Gesellschaft": Oldham untersucht dort zuerst die Krisis des Menschen. Die Krisis der Gesellschaft ist eine Krisis des Menschen selbst. Durch die fortschreitende Wissenschaft und Technik haben die Menschen völlig neue Fähigkeiten gewonnen, ihre Umgebung zu formen und sich selbst zu verwandeln. Im Bewußtsein ihrer Erfolge bei der Umwandlung der N a t u r gehen sie an die umfassende Aufgabe, die Gesellschaft und die Menschen in ihr umzugestalten. Oldham fragt deshalb: „Wie haben wir vom christlichen Standpunkt aus diese radikale Revolution im Leben des Menschen zu beurteilen, mit der er im Bewußtsein wachsender Macht seine Zukunft in die eigene H a n d n i m m t ? " 1 1 Nicolai Berdjajew fordert, daß das christliche Denken den schöpferischen Gaben des Menschen gerecht werden müsse. Michael Foster hat aufmerksam gemacht, daß der Mensch durch die erworbenen neuen K r ä f t e sich in hohem Maße von der Vormundschaft der Natur, der sozialen Umwelt und der kulturellen Uberlieferung frei gemacht hat. P . de Lubac sagt in seinem Buch „Der neue Mensch", daß wir heute Zeugen sind nicht nur von außerordentlichen Veränderungen auf der Erdoberfläche, sondern von dem Heraufkommen eines neuen Menschen. Dieser neue Mensch verwandelt die bisherige Idee des Menschen, seiner Geschichte und Zukunft. Oldham zieht aus diesen Feststellungen die Konsequenz: „Es muß eine Erweiterung der christlichen Denkkraft eintreten, die begreift, daß der Bereich menschlicher Freiheit ausgedehnter ist, als man annahm." 1 2 Die künstliche Welt, die der Mensch geschaffen hat, nennt Oldham die „zweite N a t u r " . Sie stellt sich als ein riesiges Netzwerk von K r ä f t e n und verwickelten Organisationen dar. Sie ist dem Menschen zu einer gefährlichen N a t u r geworden. Die Verantwortung des Menschen in dieser zweiten N a t u r ist riesengroß. D i e atheistische Philosophie will eine Möglichkeit bieten, diese Verantwortung ohne Hilfe, ohne Sicherheit und aus sich selbst heraus zu tragen. Oldham stellt die Frage: Ist es zuletzt der Untermensch, der die Entscheidung für die Zukunft des Menschen in der H a n d hat? Die J a g d nach dem Wissen als einem Mittel größerer Macht und die Gier nach Reichtum und Ausbeutung sind die Symptome für den Abbau der Substanz des Menschen. D e r Mensch hört auf zu fragen, wofür die Fähigkeit gut ist, die Hilfsquellen der Erde zu nutzen. „Er hat infolgedessen in weitem Umfang sogar die Fähigkeit verloren, Sinn und Bedeutung von Zwecken zu begreifen, die sich nur in der Sphäre persönlichen Lebens ergeben, nämlich durch verantwortliches Zusammenleben mit anderen Menschen und in gehorsamem Eingehen auf den Anspruch Gottes. E r hat sich alles Wissen angeeignet, aber nicht die Liebe. D e r Verlust seines wahren Seins ist die Krisis des Menschen." 1 3 Mit dieser düsteren Analyse schließt sich Oldham den Beobachtungen Albert Schweitzers an, der vom Anwachsen einer intellektuellen und religiösen Ermüdung spricht. R G G V I , 165; Amsterdamer ökumenisches Gespräch, Bd. V , S. 100. Amsterdamer ökumenisches Gespräch, B d . I I I , X : 2 . . In „The Christian News Letter", N r . 64, bezeichnet Oldham die wahre Gemeinschaft als eine lebendige geistige Ordnung („a living spiritual order"). 1 2 Amsterdamer ökumenisches Gespräch, Bd. I I I , X : 3 . 1 3 Ebda. X : 5. 10
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Die Krise des Menschen ist verbunden mit einer tiefen und weitreichenden Krise der Kultur, das heißt des ganzen Lebens der Menschheit westlicher Zivilisation. Mit Erzbischof Temple ist sich Oldham einig, daß die gegenwärtige schwierige Lage unserer Gesellschaft aus dem Zusammenbruch der natürlichen Formen der Verbundenheit und des kulturellen Stils, der weithin unter dem christlichen Einfluß seine Gestalt gewann, entstanden ist 14 . W o liegen die Ansätze zur Überwindung der Krise? „Wenn die Kirche die Krise entsprechend beantworten will, so muß sie vier Hauptaufgaben ihre Aufmerksamkeit und ihre Kraft widmen." 15 1. Die Praxis des Gemeinschaftslebens „Die erste unabdingbare Aufgabe besteht darin, der menschlichen Person durch die Wiedererweckung des persönlichen Lebens im lebendigen Geben und Nehmen, in der gegenseitigen Verpflichtung und Verantwortung einer Personengemeinschaft wieder Substanz zu geben. Wenn unsere Diagnose richtig ist, so kann die Welt nicht von oben her, sondern nur von unten her in Ordnung gebracht werden. Nur durch Leben kann Leben wieder Substanz und Tiefe erhalten!" 1 6 Die Kunst des Zusammenlebens in kleinen Gruppen, vor allem in der Familie, muß gelernt werden. In diesen kleinen Gruppen finden „die höheren Fähigkeiten der Liebe und des schöpferischen Dienstes einen Boden für ihr Wachstum" 17 . Die Kirche soll ein Mittelpunkt sein, in dem kleine Gruppen von Menschen „diese Erfahrung der Erneuerung erleben und einander in christlichem Leben wie im Handeln in weltlichen Berufen unterstützen" l e . Alles spricht für „eine Politik der Förderung und Pflege kleiner Gruppen" 1 9 .
Der Bericht der III. Sektion hat diese Gedanken aufgenommen und axiomatisch festgestellt: „Der Mensch ist geschaffen und berufen, ein freies Wesen zu sein. Eine verantwortliche Gesellschaft ist eine solche, in der Freiheit die Freiheit von Menschen ist. Der Mensch darf niemals zum bloßen Mittel für politische oder wirtschaftliche Zwecke gemacht werden. Daher verwerfen wir: jedes Versagen der Möglichkeit, an der Gestaltung der Gesellschaft Anteil zu nehmen, denn dies ist eine Pflicht, die mit der Verantwortlichkeit des Menschen gegenüber seinem Nächsten gesetzt 2. Eine christliche Lehre von der Arbeit „Die Krisis des Menschen wird nicht ohne eine christliche Lehre von der Arbeit bewältigt werden." 21 Diese Aufgabe hat Oldham nicht nur in Amsterdam, sondern auch in den Jahren nach Amsterdam beschäftigt. In Amsterdam will er die Bedeutung dieser Aufgabe unterstreichen als den Versuch, ein neues soziales Fundament zu legen. „Die Arbeit füllt beim Menschen einen so großen Teil des wachen Lebens, daß ein christlicher Glaube nur geringe lebendige Bedeutung für ihn haben kann, wenn er nicht dem, was der Mensch in seinen Arbeitsstunden tut, Sinn zu verleihen vermag." 2 2 Das alte Wort ,laborare est orare' ist des 14 16 18 20 21
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Ebda., Bd. III, X : 6 . Ebda. Ebda. Ebda., Bd. V, S. 100 ff. Ebda. Bd. III, X : l l .
" Ebda. X : 7. 17 Ebda. X : 8. 19 Ebda. X:10. 22
Ebda.
Nachdenkens wert. Es bezeugt, daß die Arbeit als Akt schöpferischer Freude gleichzeitig gottesdienstlicher Akt sein kann. Das industrielle Großunternehmen vermittelt weithin diesen Charakter der Arbeit nicht mehr. Die Arbeit als Mittel menschlicher Verständigung, als Ausdrude des Allgemeinwohls und gezielter Liebe scheint in der modernen Produktion der vorindustriellen Vergangenheit des goldenen Handwerks anzugehören. Oldham mahnt deshalb zur Aufarbeitung des Aspekts der Arbeit als Nächsten- und als Gottesdienst. Diese Aufarbeitung ist eine Hilfe, die sich revolutionär im Denken der Menschen auswirken muß.
Der Sektionsbericht III hat in Amsterdam festgestellt: „Wir müssen den unbedingten Vorrang der Person gegenüber rein technischen Erwägungen sicherstellen, indem wir alle wirtschaftlichen Vorgänge und sorgsam gewahrten Rechte den Bedürfnissen der Gemeinschaft als Ganzes unterordnen. Andererseits müssen wir dem kleinen Mann in der großen Gesellschaft die Möglichkeit eines befriedigenden Lebens sichern."23 In seinem Buch „Work in Modern Society" hat Oldham im Jahre 1950 den Versuch gemacht, eine Theologie der Arbeit vorzulegen. Dieses Buch ist als eine Frucht der Nacharbeit der Amsterdamgespräche geschrieben worden, nachdem das „Study Department Committee of the World Council of Churches" ein Studienprojekt begann, das der „christlichen Aktion in der Gesellschaft" gewidmet wurde. Ein Teil dieses Studienthemas betrifft die „Arbeit in der modernen Gesellschaft": Einleitend stellt Oldham zwei Fragen: 1. Gibt das Christentum den arbeitenden Menschen unter dem Drude und in den Konflikten ihres politischen und industriellen Lebens ein Verständnis des Lebens, durch das und mit dem sie leben können? 2. Verhilft dieses Verständnis zur rechten Entscheidung bei einer Wahl zwischen vielen Wegen? Die Situation ist die, daß die Arbeit eine zentrale Wirklichkeit der Existenz ist. Diese zentrale Wirklichkeit leidet unter der Kluft von Glaube und Leben. Der christliche Glaube beansprucht, zur effektiven Kraft innerhalb dieser zentralen Lebenswirklichkeit zu werden. N u r durch die Entscheidungen von Menschen in dieser Wirklichkeit kann der Glaube das werden. Die christlichen Laien brauchen deshalb als die Träger von Entscheidungen theologische Führung und Instruktion.
So ist es dringend notwendig, daß das christliche Denken zu Zielen kommen muß auf einem neuen, noch nicht beschrittenen Wege, um den Bedingungen des arbeitenden Menschen in der Industriegesellschaft gerecht zu werden. Es steht die Würde und der Wert des Menschen, der Sinn seines Lebens überhaupt und sein Überleben angesichts der leviathanischen Bedrohung durch die Mittel der Technik auf dem Spiel. Deshalb müssen auf internationalem Gebiet politisch-menschliche Zielsetzungen angestrebt werden 24 . Eine Theologie der Arbeit finden wir im zweiten Kapitel des Buchs, das Oldham unter die Überschrift stellt: „Der christliche Zugang zu der Be" Ebda., Bd. V, S.99.
24
Work in Modern Society, S.5—7.
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deutung der Arbeit". Diese Bemühung will eine theologisch informierende Hilfe für den christlichen Laien in der modernen Arbeitswelt geben. Da geht es Oldham zunächst um die christliche Sicht des Menschen: a) Die Dimension des Dialogs mit G o t t : H i e r wird gefragt, ob in der Arbeitswelt auf der Grundlage der technischen Rationalität als Normprinzip der Mensch die K r ä f t e besitzt, die ihn zur Mitarbeit an Gottes kreativer Absicht für die Welt befähigen. b) Die Dimension des Dialogs mit dem Mitmenschen: Welches dominierende Ziel gilt? Ist das dominierende Ziel die maximale Produktion, die den Menschen von dem Aspekt der singulären Funktion sieht, oder ist das dominierende Ziel die Gemeinschaft auf der Grundlage der Dualität des Menschen? Die christliche Sicht steht in der Antithese zu der vorherrschenden Praxis. c) D i e Welt als Gottes Schöpfung: Die technische Rationalität als Normprinzip ist ein Teil von Gottes Schöpfungs- und Erhaltungsordnung. d) Die Dimension der Transzendenz: D i e christliche Sicht des säkularen Lebens bezieht die irdische Immanenz auf die göttliche Transzendenz. Das bedeutet, daß der helfende Einfluß der christlichen Sicht das Ziel hat, daß jede Arbeit als Gottesdienst angesehen wird. D i e Reintegration der Bereiche der säkularen Arbeitswelt in die Bereiche des Glaubens ist eine der größten Aufgaben, die das christliche Denken heute hat. e) D e r neue Ä o n : Die Kirche muß bezeugen, daß das wahre Leben in der Gemeinschaft der Liebe neue Wirklichkeitsdimensionen zeigt. Die Kirche selbst als Gemeinschaft der Liebe ist das Zeichen des neuen Äon, des gegenwärtigen Reiches Gottes.
Aus diesen Überlegungen der christlichen Sicht des Menschen ergibt sich nun die Entfaltung der christlichen Sicht der Arbeit: a) Die Arbeit als Bestimmung Gottes: D e r Mensch ist zur Mitarbeit an der göttlichen Erhaltungsordnung der Welt bestimmt. b) Die Arbeit als Dienst: D i e Freude an dem Dienst für die Gemeinschaft nennt Oldham das „Beiprodukt der Arbeit". D i e Erziehung und Planung muß diesem Ziel dienen. c) Die Arbeit als Mittel der Transformation der W e l t : Nicht der Ich-Ehrgeiz des Menschen, sondern die Freude als Abbild der Freude Gottes an seinem vollendeten Schöpfungswerk schenkt die Gewißheit, daß die technischen Leistungen der Absicht Gottes dienen. d) Die Arbeit als Gebet: D i e Arbeit will Antwort sein auf die Forderungen Gottes. Sie will zur Liebe anleiten. e) Die Grenze der Arbeit: Sie ist kein Selbstzweck. D e r Mensch soll nicht nur arbeiten, sondern auch ruhen. f) Die Arbeit als Berufung (Vokation) und Funktion: Vokation (Berufung zum Dienst Gottes) und Funktion (occupation, Besetzung, Position) sind aufeinander bezogen. Die Arbeit hat eine theologische und soziologische Bedeutung. Oldham fordert die Beziehung des Vokationsgedankens auf die industrielle Welt.
Das zweite Kapitel schließt mit einer Reihe von Konsequenzen, die Oldham vorlegt: 1. Verbindung des christlichen Glaubens mit dem aktuellen Leben, 2. Verantwortung des Christen für alle Bereiche der industriellen Arbeitswelt, 3. Beziehung eines erneuerten Gottesdienstes auf die Wirklichkeit des arbeitenden Menschen,
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4. fundierte Lehre der Kirche von dem Wesen der Arbeit, 5. neue theologische Denkanstrengung, die Ewiges und Zeitliches, Heiliges und Säkulares aufeinander bezieht 2 5 .
Nach dieser theologischen Grundlegung einer Ethik der Arbeit als eines der Fundamente der „Verantwortlichen Gesellschaft" scheint es sachlich richtig zu sein, den Skopus der Gedanken von Oldham im 1. K a pitel seines Buchs hervorzuheben, das er mit den Worten „Arbeit in der modernen Gesellschaft" überschreibt: Oldham untersucht dort die Erscheinung der Dehumanisierung des arbeitenden Menschen. Durch das Anwachsen von den unpersönlichen Mächten der Technik und Industrie ist das personale und gemeinschaftliche Leben des Menschen in einem Grade wie nie zuvor in Frage gestellt. Diese anonymen Mächte beherrschen die Zukunft (outlook = Aussicht) der Menschheit. Verwaltung, Managertum, Bürokratisierung, Kontrollierung, zentrale Steuerung und Regulierung als Symptome des Normprinzips der „funktionellen und technischen Rationalität" trennen die Arbeit vom Personleben. Die Arbeit hört auf, personale und moralische Aktivität zu sein. „In bezug auf den transformierenden Einfluß ist die Wissenschaft mit dem Christentum in Vergleich zu bringen." 26 Trotzdem gibt es Gegenkräfte in der Industrie selbst: z.B. existiert das Team „familienhaft". Die technische Welt besitzt ein Ethos eigener Art, das die Ideen der gemeinschaftlichen Arbeit, der Abstufung, der Anonymität, des Dienstes, der Verantwortlichkeit, des Bewußtseins der Solidarität und der Gruppe enthält. Oldham erkennt, daß aus diesem Ethos Kräfte gefunden werden können, die den Versuch des Mißbrauchs der technischen Macht überwinden. Er spricht von der Verbindung der Entwicklung der Technik mit der Entwicklung von wachsenden demokratischen Institutionen. Er untersucht das Verhalten der Arbeiter und die Stellung der Frauen und hebt hervor, daß die Forderung der partnerschaftlichen Mitbestimmung eine legitim soziale Forderung ist. Diese Forderung gilt in den beiden gegensätzlichen Welten des Kapitalismus und Kommunismus. Überall stellt sich die Forderung einer Verantwortlichkeit des Arbeiters für das ganze Unternehmen. Zu dem Gedanken der partnerschaftlichen Struktur als ein Zielbild der freien Assoziation von freien Menschen kommt die Frage, ob die Produktion für den Menschen da ist oder der Mensch für die Produktion. Das Ziel der industriellen Produktion ist die Belieferung der Gesellschaft mit materiellen Gütern in so wirksamer Weise wie nur möglich. Wie erfüllt die Industrie diese Aufgabe, ohne daß sie dabei die wahren Ziele des sozialen Lebens opfert? Ist die Produktion Selbstzweck oder Mittel eines sozialen Aufbaus der Gesellschaft? Die Person des Menschen muß geschützt werden vor Versklavung durch Ziele, die letztlich unmenschlich sind. 25
Ebda., 2. Kapitel, S.32—61.
29
Ebda. S.U. 63
Eine Theologie der Arbeit beginnt bei grundsätzlichen Überlegungen und muß schließlich auf den Menschen schauen, für dessen Menschlichkeit eine Transformation der Strukturen der industriellen Arbeitswelt Gebot der Liebe sein kann. „Mittlere Axiome" sind die Ausführungen Oldhams über die Unterordnung dienlicher Strukturen unter die Würde und Freiheit des Personseins und über die dialogischen Formen der Partnerschaft und Mitbestimmung als Lebensformen des arbeitenden Menschen 27 . Sie wenden sich gegen die Übertragung der funktionellen oder technischen Rationalität als das Normprinzip in die Lebenssphäre der menschlichen Personalität und Gemeinschaft und die damit verbundene Dehumanisierung des Menschen zur anonymen und auswechselbaren Nummer. Sie sind eine Mahnung an die „sozialen Ingenieure" der Gesellschaft, unter Mißachtung des Untersdiieds von Natur und Geschichte den Menschen zu objektivieren und so die Humanität zu verfälschen. 3. Kollektive Sittlichkeit In der modernen Gesellschaft sind die Entscheidungen von Tragweite Gruppenentscheidungen. Dem Einzelnen und seiner Freiheit ist viel zu wenig Raum zu unabhängigen verantwortlichen Entscheidungen gewährt: „Die Art der von ihnen täglich zu vollziehenden Akte wird durch jenseits ihrer Verfügungsgewalt liegende Gegebenheiten bestimmt, und wo sie als Mitglieder einer Partei, einer Gewerkschaft oder eines Arbeitgeberverbandes eine teilweise oder wenigstens nominelle Verantwortung haben, mag die Fähigkeit eines Einzelnen zur Beeinflussung der kollektiven Entscheidung oft als kaum vorhanden erscheinen." 2 8
Oldham klagt darüber, daß die Bedeutung dieses Wandels von der Kirche nur unzureichend verstanden wird. Sie muß sich bemühen, den von Middleton Murry in seinem Buch „The Free Society" beschriebenen „vergesellschafteten Menschen" stärker in den Blick zu bekommen. Die Individualethik und der Liberalismus vermögen diesem Menschen nicht mehr gerecht zu werden. Das Problem liegt darin, daß das freie Denken des Einzelnen im Widerspruch stehen kann zu dem allgemeinen Zwang des Handelns. „Er mag als Individuum denken, was ihm gefällt, er mag eine ganze Menge sagen, was den herrschenden Gedankengängen entgegen ist; aber im Bereich des Handelns ist er gezwungen zu tun, was die Gesellschaft als Ganzes tut." 2 9 „Das bedeutet nicht, daß ein Einzelner, selbst wenn er von der Partei abweicht, nicht recht daran tut, ihrem kollektiven Urteil mehr Gewicht beizumessen als seinem eigenen. Aber es bedeutet, daß für einen Menschen, der in all seinem Tun entschlossen ist, Gott zu gehorchen, Weisung nicht an die Stelle verantwortlicher Entscheidung treten kann." 3 0
Das Problem liegt ferner im Verhältnis der Gerechtigkeit als der höchsten Norm einer Gruppensittlichkeit zu der Liebe als dem leitenden Grundsatz der persönlichen Sittlichkeit. „In einer Gesellschaft, in der 27 28 29
64
Ebda., 1. Kapitel, S. 11—31. Amsterdamer ökumenisches Gespräch, B d . I I I , X : 1 4 und 15. 3 0 Ebda. X : 16. Ebda. X : 15.
Christen in der Minderheit sind, können wir nicht erwarten, kollektive Entscheidungen würden direkt und entschlossen auf Grund christlicher Voraussetzungen getroffen, die die Mehrheit der an ihnen Beteiligten nicht teilt. Wir können nicht hoffen, daß unter den heutigen Umständen die kollektiven Entscheidungen der Gesellschaft von dem vollen Licht des christlichen Glaubens her gefunden werden, sondern, wie Jacques Maritain sagt, in seinem irgendwie gebrochenen Licht." 31 Oldham will die Kirche dazu bewegen, daß sie zu ethischer Führung in den kollektiven Entscheidungen hilft. Die Aufgabe der Formulierung von „Mittleren Axiomen" wird hier als „ethische Führung" bezeichnet, die die Beziehungen zwischen den Gruppen vor dem nackten Machtkampf bewahrt. Die Individualethik muß durch eine Ethik des Handelns im Rahmen der Gruppe ergänzt werden. Es muß eine Sittlichkeit geben, die die Menschen bei ihren Entscheidungen und ihrem Handeln im Leben der Gruppe leitet. Sie soll helfen, den Zusammenhang zwischen dieser aktiven Sittlichkeit und dem christlichen Glauben zu erkennen. Eine doppelte Aufgabe besteht für die Christen: 1. die Förderung des Wachsens einer Gruppenethik auf den verschiedenen Gebieten des sozialen Lebens, 2. die Bewahrung einer kritischen Haltung gegenüber einer Gruppenethik, die niemals identisch ist mit der christlichen Ethik. „Christen müssen in ihrem eigenen Leben ein Beispiel geben und alles tun, was in ihrer Macht steht", die Tugenden der Ehrlichkeit, der Fairneß, der Duldsamkeit und des allgemeinen Anstandes „bei kollektiven Entscheidungen zur Geltung zu bringen, aber sie können sich nicht damit begnügen" 32 . Diese Gruppenethik als Ethik der „Mittleren Axiome" muß als neuer Sauerteig, das heißt als eine neue Gestalt von Entscheiden und Handeln, offen sein für die Begegnung mit unerwartet Andersdenkenden. Das bedeutet keine Anpassung, sondern Wandlung im Leben und in den Arbeitsmethoden der Kirche. Nicht allein sozialethische Lehrstühle, sondern vor allem die Bedeutung der Menschen, die an dem gesellschaftlichen Handeln beteiligt sind, hat eminent praktische Wichtigkeit. 4. Die politische Aufgabe Angesichts der verwirrenden Schwierigkeiten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg sind viele Christen versucht, „die Hände zu falten und das Christentum als etwas anzusehen, das es nur mit persönlichen Beziehungen und privater Sittlichkeit zu tun hat. Es gibt ein pietistisches wie ein liberales laissez-faire. So fromm auch die Absicht sein mag, sie ist eine Leugnung des Reiches Gottes in der Welt, der Herrschaft Christi über die Geschichte." 3 3 31 33
5
Ebda., Bd. III, X : 1 6 . Ebda., Bd. III, X : 18 und 19.
Kosmahl, Ethik
32
Ebda. X : 17.
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D a s beherrschende politische Problem ist das der Ost-West-Spannung. In diesem Gegensatz sind viele vitale menschliche und christliche Interessen eingeschlossen. Die Kirche muß darin unabhängig bleiben. Sie weiß, daß alle gesellschaftlichen Systeme unter dem Gericht stehen. „ D i e christliche A u f g a b e liegt darin, Elemente der Wahrheit und des Guten zu erkennen, wo immer man sie finden kann, und Unrecht in jedem Lager zu entlarven und anzuprangern." 3 4 Die Kirche lebt in der Welt als Organ der Versöhnung. Der Kommunismus ist sowohl politisch-wirtschaftliches System, als auch totale Beherrschung des Lebens. Man mag vom Kommunismus als politisch-wirtschaftlichem System viel lernen, aber seine totale Beherrschung des Lebens ist für die Christen nicht akzeptabel. Die kommunistische Ideologie sieht den Sinn des menschlichen Lebens ganz in seiner irdischen Geschichte, während das Christentum den zentralen Sinn des menschlichen Lebens in seiner transzendenten Beziehung zu Gott sieht. Der unversöhnliche Gegensatz zwischen dem marxistisdien und dem christlichen Menschenbild ist das Ergebnis einer langen Entwicklung in der Geistesgeschichte des Abendlandes. In dieser Entwicklung der Emanzipation des Menschen aus der transzendenten Bindung hat der Liberalismus den Glauben an die übernatürliche Wirklichkeit untergraben und die ganze Bürde der Weisung für das Leben auf die Schultern des Menschen gelegt 3 5 . Atheismus ist also das Charakteristikum des ganzen Zeitalters. Die Heilslehre des Kommunismus ist Irrtum. D a v o n ist zu trennen das Anliegen von M a r x : die geistige und soziale Befreiung des Menschen. Zu diesem Anliegen sagt Oldham: „Es gibt keine christlichen Gründe, die Bemühungen der Menschen zu verdammen, mit denen sie ihr irdisches Los zu bessern suchen." 3 8 Aber der Geist des militanten Atheismus erhebt in einer totalitären Ideologie das Kollektiv zum Selbstzweck der Macht. Der Mensch muß „nach dem Bild der Gesellschaft geformt werden" 3 7 . Die praktische politische Alternative zum Kommunismus ist in der Gegenwart die liberale, kapitalistische Gesellschaft des freien Unternehmertums. D a z u gehört der Versuch, eine neue Synthese zwischen den Forderungen nach Freiheit und Gleichheit in der Form eines demokratischen Sozialismus auszuarbeiten 3 S .
Oldham ist jedem Freund-Feind-Schema abhold: Er hebt hervor, daß die marxistische Bewegung in ihren Anfängen eine sittliche Empörung gegen die Ungerechtigkeiten eines Systems war, „in welchem der Mensch durch den Menschen ausgebeutet w u r d e " 3 e . „Wir können den totalitären Systemen nicht die Idee einer ,freien Gesellschaft' entgegenstellen, ohne daß wir ständig den zweideutigen Begriff Freiheit klarstellen." 4 0 Freiheit kann heißen: 1. Gott zu gehorchen und seinen Nächsten nach seinem Gewissen zu dienen, 2. Begehrlichkeit und Willkür zu dulden, den Schwachen auszubeuten, Freiheit mehr des Eigentums als des Menschen 41 .
„Es muß die Frage gestellt werden, in welchem Ausmaß es ,freien Gesellschaften' wirklich gelingt, Freiheit zu schaffen." 4 2 34 39 38 40
66
Ebda. X : 19. Ebda. X : 22. Ebda., Bd. III, X : 2 4 . Ebda.
Ebda. X : 2 1 . Ebda. X : 23. 3 » Ebda. Ebda. X : 2 5 . 35
37
41
42
Ebda.
Die soziale Ordnung, die Christen auf Grund ihres Glaubens erstreben, sieht Oldham in sieben Leitgedanken (Mittleren Axiomen): 1. Sie müssen f ü r die Freiheit des Menschen einstehen, G o t t zu gehorchen und nach seinem Gewissen zu handeln. 2. Die Menschen, die G o t t gehorchen wollen, müssen frei sein, die Wahrheit zu suchen, auszusprechen, sich einander durch gemeinsames Suchen der Wahrheit zu erziehen. 3. Die Grundlage w a h r e r Toleranz ist die religiöse Achtung des Menschen. 4. Die direkten Beziehungen zwischen Personen haben größere Bedeutung als die kollektiven Verhältnisse. Die kollektiven Verhältnisse müssen als Instrumente der personalen Beziehungen gesehen werden. 5. Die Erkenntnis der Sünde verlangt die Beschränkung des unverantwortlichen Machtgebrauchs, die Verteilung der Macht und die Förderung der Initiative in der Gemeinschaft. 6. Das Höchstmaß von Unabhängigkeit der religiösen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Betätigungen des Menschen verspricht das mächtigste Bollwerk gegen die allumfassenden Ansprüche des omnipotenten Staates zu sein. 7. Eine gerechte Gesellschaft muß die V e r a n t w o r t u n g f ü r alle Glieder ausüben und sicherstellen, d a ß der materielle Lohn der gemeinsamen nationalen Unternehmung gleichmäßig verteilt wird.
Die soziale Ordnung, die Oldham mit diesen sieben Mittelaxiomen beschreibt, kann sich nur auf dem Boden der politischen Freiheit bilden. Die politische Freiheit hat in der christlichen Freiheit ihren Ursprung. Der wahre Kampf für die Freiheit geht quer durch alle bestehenden Fronten der Gesellschaftssysteme hindurch. Der Konflikt zwischen Freiheit und Unfreiheit ist nicht identisch mit dem Konflikt zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Der Unterschied zwischen einer Gesellschaftsordnung, die auf Gewalt gegründet ist, und einer Gesellschaftsordnung, die auf dem Boden der Toleranz steht, ist für den menschlichen Geist der Unterschied zwischen Leben und Tod. „Trotz der Relativität, die allen politischen Systemen und politischen Handlungen anhaftet, kann die Verteidigung der politischen Freiheit und der Dienst für sie die Form einer unausweichlichen religiösen Entscheidung annehmen." 43 Der Sektionsbericht I I I hat diese Gedanken Oldhams aufgenommen und festgestellt: „Die christlichen Kirchen sollten die Ideologien beider verwerfen, des K o m m u nismus und des Laissez-faire-Kapitalismus, und danach trachten, die Menschen von der falschen Vorstellung zu befreien, diese beiden Extreme stellten die einzige Alternative dar." Kapitalismus und Kommunismus sind Ideologien; die eine betont wirtschaftliche Gerechtigkeit und verheißt die Freiheit aus der Vollendung der Weltrevolution (Kommunismus), die andere betont die Freiheit und verheißt Gerechtigkeit aus der freien Wirtschaft (Kapitalismus). „Es gehört zu der V e r a n t w o r t u n g der Christen, neue schöpferische Lösungen zu suchen, die es nicht zulassen, d a ß Gerechtigkeit u n d Freiheit sich gegenseitig zerstören." 44 43
5»
Ebda. X : 2 8 — 3 5 .
44
Ebda., B d . V , S. 104. 67
„Eine internationale Ordnung hat eine geistige Basis." 45 Die IV. Sektion von Evanston 1954 hat auf dieser Basis in 9 Punkten eine Politik der Koexistenz gefordert 4 *. Die 9 Gesichtspunkte sind: verantwortlicher Machtgebrauch, internationales Recht, Vertragstreue, internationales Schiedsgericht, Sanktionen gegen Aggressoren, Achtung und Schutz der Menschenwürde, Selbstbestimmungsrecht, Entwicklungshilfe, Kultur- und Wirtschaftsaustausch. In Neu-Delhi 1961 hat Dr. Nolde in 7 Punkten die Richtung der Friedensaktivität mit dem Ziel der allgemeinen und vollständigen Abrüstung bestimmt 47 . Noldes 7 Punkte sind: Die Kirche soll die Identifizierung mit der ganzen Menschheitsfamilie erleichtern, den Anstoß für ein internationales Ethos geben, ein Friedenszeugnis an alle entwerfen, eine offene Gesellschaft in der ganzen Welt anregen, zu friedlicher Zusammenarbeit in einer geteilten Welt verhelfen, der sozialen Gerechtigkeit für alle Vorrangigkeit geben und den Zynismus mit dem moralischen Druck der Weltmeinung überwinden helfen. Wir stehen vor der Verantwortung weltweiter Gesellschaft 48 .
2. Verantwortliche Beziehungen von Kirche und Staat a) Das Postulat der „Oberhoheit des Persönlichen" Mit diesem Problemkreis des Verhältnisses von Kirche, Volk und Staat lernen wir Oldhams Arbeit kennen, die er als der führende Kopf der ökumenischen Weltkonferenz von Oxford im Jahre 1937 geleistet hat. Oldham war dem ökumenischen Rat für Praktisches Christentum verpflichtet, diese Konferenz vorzubereiten. In den Vorbereitungsschriften der Forschungsabteilung befindet sich die von ihm im Jahre 1936 veröffentlichte Schrift „Kirche, Volk und Staat, ein ökumenisches Weltproblem". Dort sagt er: „Eine der ausdrucksvollsten Veränderungen der letzten hundert Jahre ist eine ungeheure Ausdehnung der Funktionen des Staates gewesen." 49 Zu den säkularen Tendenzen gehört in Rußland, Italien und Deutschland der Totalitätsanspruch des Staates. Die Kirche war in eine Kampfsituation hineingestellt. „In diesem Kampf steht die Existenz der christlichen Kirche in besonderer Weise an einem Marterpfahl!" 50 Der totale Staat will den ganzen Menschen besitzen. Seine Autorität ist die einzige Autorität. Er lehnt es ab, die Unabhängigkeit von Religion, Kultur, Erziehung und Familie anzuerkennen. Er versucht allen Bürgern eine bestimmte Ideologie aufzuzwingen. Er ist bestrebt, auf dem Wege über alle Organe der öffentlichen Meinungsbildung und Erziehung einen bestimmten Menschentyp in Übereinstimmung mit seinem eigenen Verständnis vom Ziel und vom Sinn der menschlichen Existenz zu schaffen. „Ein Staat, der solche Ansprüche erhebt, behauptet für sich selbst nicht 45
The Christian N e w s Letter, Nr. 5. Evangelische Theologie, Heft 9. 1965, S. 506. 47 Ebda. S. 507 und 508. 48 Vgl. die Kennzeichen des Begriffs „weltweite Gesellschaft" in: Die Diakonie der Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft, S . 2 I f f . 49 Kirche, Volk, Staat — ein ökumenisches Wcltproblem, S. 7. 50 Edward Duff, The Social Thought of the World Council of Churches, S. 34. 46
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nur Staat, sondern auch Kirche zu sein." 5 1 Die weitreichende Säkularisierung des Denkens und Lebens ist die Voraussetzung für die weitere totalitäre Entwicklung. Der erwünschte Menschentyp ist, wie Duff sagt, die Verkörperung der Ideologie der totalitär interpretierten (Gemeinschaft. Oldham erkennt die Herausforderung. E r schreibt unter dem Thema „Die christliche Hoffnung": „Unsere einzige Verantwortung besteht darin, in geschöpflicher Gebundenheit jeden Tag in den Verhältnissen, in die wir hineingestellt sind, die uns zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen und alles andere Gott anzuvertrauen." 5 2 Die christliche Hoffnung treibt zum Handeln. Einige der Hauptprobleme, die bei der Neubesinnung über die Beziehung zwischen Kirche, Volk und Staat klar ins Auge gefaßt werden müssen, sind diese: 1. Es „ist zu unterscheiden zwischen den Oberzeugungen über das Wesen von Volk und Staat, die ihren Ursprung im Evangelium haben und von da ihre Autorität herleiten, und den Folgerungen aus einer besonderen sozialen oder politisdien Anschauung, zu der man von rationalen, den Christen wie den Nicht-Christen gemeinsamen Grundlagen aus k o m m t " . 2. Es besteht ein Unterschied „zwischen der Anschauung und Haltung, die den Christen gemeinsam sein sollte, und der Anschauung und Haltung, die wir vernünftigerweise von denen, die nicht Christen sind, erwarten dürfen" 5 3 . 3. Gibt es ein spezifisch christliches Verständnis des Staates? Oder gehört der Staat „der natürlichen rationalen Sphäre menschlichen Lebens a n " M , und hat er wie Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Moral eine relative Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von der religiösen Sphäre? H a t er eigene Wachstumsgesetze? Besteht das Wesen oder Sein des Staates in der Verkörperung eines allgemeinen Zwecks, des Rechts? 4. Welches Verhältnis hat die Freiheit zur Autorität? „Worin besteht das christlidie Verständnis der Freiheit und ihr Verhältnis zur Autorität? Welche Beziehungen bestehen zwischen der christlichen Freiheit und der bürgerlichen und der politischen Freiheit, und welche Verbindungslinien gibt es von da her zu den modernen Theorien der Toleranz und der Freiheit? H a t das christliche Verständnis vom Sinn und Ziel menschlicher Existenz irgendeinen Beitrag zu der Lösung der Frage zu geben — vielleicht der Zentralfrage des modernen Lebens" 5 5 — wie die wachsende gesellschaftliche Organisation mit ihren Sachzwängen als Grundlage und Sicherung der Freiheit sich vereinigen läßt mit der Freiheit des Denkens, Redens, Handelns, die für ein wahrhaft menschliches Leben wesentlich ist? Oldham stellt fest: „Es gibt indessen nach christlicher Auffassung nicht nur religiöse, sondern auch allgemein menschliche Elemente in der N a t u r des Menschen, die nach Gottes Willen die Möglichkeit freier Entwicklung haben." » 5. Was ist das Wesen des Volks oder d i r Nation? Im Englischen gibt es kein Wort, das den genauen Sinn dessen wiedergibt, was der Deutsche unter den Begriffen ,Volk' oder .Volkstum' versteht. Oldham übersetzt das deutsche Wort , V o l k ' 5 7 mit dem engKirche, Volk, Staat, S. 9 — Vgl. Edward Duff, The Social Thought, S. 35, Anm. 2. Kirche, Volk, Staat, S. 19. и Ebda. S. 21. " Ebda. S. 22. 5 4 Ebda. S. 23. »· Ebda. S. 24. 5 7 Vgl. Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, S. 200, Anm. 1 : zur deutschen Ü b e r setzung von ,community'. 61 52
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llschen Wort .community'. Troeltsch hat schon a u f m e r k s a m gemacht auf den Unterschied deutscher und westeuropäischer, amerikanischer A u f f a s s u n g e n . D a s westeuropäische und amerikanische D e n k e n ist dem dominierenden G e d a n k e n der unter dem Naturrecht stehenden universalen O r d n u n g verpflichtet, w ä h r e n d das deutsche G e d a n k e n g u t von der A u f f a s s u n g der Geschichte als eines immer flutenden Stromes bestimmt w i r d , der einen Reichtum v o n völkischen I n d i v i d u a l i t ä t e n erzeugt. Troeltsch sah in beiden A u f fassungen Wahrheitselemente, die in einer Synthese ausgesöhnt werden sollten. Was f ü r eine B e d e u t u n g hat die V o l k s i n d i v i d u a l i t ä t ? Welche B e d e u t u n g hat das V o l k f ü r den P l a n Gottes? Welches Verhältnis nimmt die Kirche zu dem Leben des V o l k s ein, mit dem ihr eigenes Leben verflochten ist? 6. D i e P r o b l e m e der internationalen Beziehungen mit K r i e g und Frieden verlangen ein S t u d i u m der F r a g e n , „inwieweit die Beziehungen zwischen G r u p p e n den Beziehungen zwischen Einzelnen vergleichbar sind, und ob ohne weiteres auf beide die gleichen M a ß s t ä b e a n w e n d b a r s i n d " 5 8 . Ist jede G e w a l t a n w e n d u n g zu v e r d a m m e n ? K a n n G e w a l t a n w e n d u n g in irgendeiner F o r m mit dem christlichen G e s e t z der Liebe vereint werden? 7. Wie steht es mit der Kirche selbst? K a n n v o n ihr in der gegenwärtigen S t u n d e ein wirksames Zeugnis erwartet w e r d e n ? Ist sie eine freie Vereinigung f ü r religiöse Zwecke oder ist sie Volkskirche? H a t sie ohne irgendeinen Anspruch auf politische A u t o r i t ä t das Recht und die Pflicht, politische Urteile abzugeben?
Diese hier aufgezeigten Probleme sind theologische Probleme. „ I m Blick auf diese theologischen Fragen bestehen weitgehende Unterschiede der Anschauungen zwischen den Christen. Jeder wird die beunruhigende Entdeckung machen, daß die ökumenische Christenheit in einem Augenblick, da sie in einem K a m p f um ihre Existenz verwickelt ist, sich selbst tief gespalten sieht." 5 9 Drei zentrale Fragen machen die theologischen Unterschiede offenkundig: 1. die ordnung 2. die 3. die
F r a g e über d a s Verhältnis zwischen S c h ö p f u n g s o r d n u n g und Versöhnungsoder zwischen N a t u r und G n a d e , F r a g e nach dem Verhältnis v o n Gottesreich und Geschichtswelt, F r a g e nach dem Menschen selbst.
Die erste theologische Frage hat Emil Brunner in seiner Ethik „ D a s Gebot und die Ordnungen" hervorgehoben. Er stellt dem Gebot Gottes, das immer persönlich ist, die Ordnungen der Familie, der Wirtschaft, des Staates, der Zivilisation und der Kultur gegenüber. In den niemals endenden Spannungen zwischen dem persönlichen Gebot und den Erfordernissen der Ordnung hat die Sozialethik ihre Wurzel. Die zweite theologische Frage lautet: „Ist das Gottesreich ein Ziel, das in der Geschichte durch das gemeinsame Handeln aller guten Menschen zu verwirklichen ist", oder kann das Gottesreich nur durch Gott allein ohne irgendwelche menschlichen Bemühungen zustande kommen 8 0 ? Die dritte theologische Frage ist die: Was ist der Mensch? Ist das Wesen des Menschen in der Vernunft, in der tierischen Welt, in der materiellen Wirklich58
70
Kirche, V o l k , S t a a t , S . 2 6 .
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Ebda. S.28ff.
Ebda. S.31.
keit der sozialen Umwelt, im geschichtlichen Leben der Nation, in der Rasse oder in der Liebe Gottes zu finden? Auf diese Fragen muß die Kirche „ein wegweisendes Wort für unsere Zeit" sagen 6 1 . D a s muß sie tun von der zentralen Überzeugung aus, daß das Leben des Menschen seinen Sinn und seine Erfüllung in einer Gemeinschaft von Personen findet. „Die Liebe zu Gott und die Liebe zu unserem Nächsten sind untrennbar voneinander." 6 2 Gerade dieses Verständnis wird von allen anderen Anschauungen verneint. Dieses zentrale Element im Christentum nennt Oldham „die Priorität und Oberhoheit des Persönlichen" e 3 . „ D i e Oberhoheit des Persönlichen behaupten, ist das Gleiche wie zu sagen, daß der wahre und tiefste Sinn des Lebens in der Begegnung liege. Es ist die Haltung der Ehrfurcht und der Verantwortung vor dem anderen Ich." 6 4 Es ist die Antithese gegen jede Form der individuellen und kollektiven Interpretation der Stellung des Menschen in Volk und Staat. Schon im Jahre 1934 hat Oldham das zentrale Anliegen der .Oberhoheit des Persönlichen' in den „Elf Thesen" bei der Arbeitskonferenz in Fanö zum Ausdruck gebracht. Dort sagt er: „Das zentrale Problem besteht heute darin, ob wir den Vorrang und den ersten Platz der Gruppe oder den in echten Gemeinschaftsbeziehungen lebenden Einzelnen einräumen." Er beschreibt in den Thesen 1 bis 7 die die individuelle Person gefährdenden Wirkungen des omnipotenten Staates, in These 9 den Vorrang persönlicher Verantwortung und in den Thesen 10 und 11 die aufgegebenen Sachanalysen der Situation und der auf die Situation unvorbereiteten Kirche 6 5 . In dem Bericht von der Konferenz in O x f o r d teilt Oldham mit, daß „Wert und Würde des Menschen" in mehreren Vorträgen eine hervorragende Rolle gespielt haben β β . Der Wert und die Würde des Menschen als Postulat der Oberhoheit des Persönlichen ist der Weg, um das genuin christliche Anliegen in die Konferenzdebatte zu bringen. Das eigentümlich Christliche kann nur in den Kategorien des Personhaften ausgedrückt werden (Brunner). Oldham sieht sich bestätigt, wenn er hört, daß sowohl Τ. Z. K o o als auch Runestam in O x f o r d ausgeführt haben, wie materielle Zwecke und sogar christliche Interpretationen von Rasse und Volk, aber auch die zu starke Betonung der Transzendenz Gottes, den Einzelnen entwerten. Runestam hatte deshalb gefordert, daß die Konferenz nach einer Lebenserneuerung der Kirche selbst streben solle. Diese könne nur durch Menschen kommen, die der Geist Gottes verwandelt hat und die sich so dem Dienst hingeben. Auch der Beitrag van Dusens entspricht Oldhams Urteil: Das Evangelium muß im praktischen Leben Gestalt gewinnen. Leben hat überzeugende Kraft. Würde und Wert des Menschen aus seinem Verhältnis zu Gott haben für das Leben allergrößte Bedeutung.
D a s Postulat der Oberhoheit des Persönlichen, also Wert und Würde des Menschen, ist nicht nur Gabe, sondern Aufgabe: die Gerechtigkeit zu lieben, das Recht zu üben, die Barmherzigkeit zu tun und das Unrecht zu hassen. Die Bindung an die Wahrheit Gottes hilft die Leidenschaft des Ich6 2 Ebda. S. 34. Ebda. S. 33. 64 Ebda. S. 36. ·» Ebda. S. 35. 6 5 Die Kirche und das Staatsproblem der Gegenwart, S. 214—216. β β Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, S. 44. 61
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willens im Gewissen der Menschheit überwinden. Das Oxfordgespräch ist eine „gedankliche Besinnung", die nur die Aufgabe hat, den Weg zu bereiten und die Hindernisse für das Handeln zu beseitigen67. „Dann muß es zur Bildung einer sich rasch vervielfachenden Zahl von ,Zellen' kommen — kleiner lebendiger Kreise von Männern und Frauen, die sich zusammenfinden, um einander bei der Erkenntnis und Erfüllung ihrer Christenpflicht in Haus, Nachbarschaft, bürgerlichem Leben, in Beruf und Wirtschaft, sozialer Fürsorge und auf dem politischen Kampfplatz zu helfen" 68 . Diese Besinnung ist eine Aufgabe der Heilung und Rekonstruktion innerhalb politischer Gegnerschaft09. b) Die Bedeutung der „Oberhoheit des Persönlichen" als kritisches und konstruktives Postulat in den fünf Sektionen von Oxford Die Sektionen in Oxford haben sich mit folgenden Themen beschäftigt: I. Kirche und Gemeinschaftsleben, II. Kirche und Staat, III. Kirche, Volk und Staat in ihrer Beziehung zur Wirtschaftsordnung, IV. Kirche, Volk und Staat auf dem Gebiet der Erziehung, V. Kirche Christi und die Welt der Nationen. In der deutschen Übersetzung des Oxfordberichts 70 finden wir für die Sektionen I und II je einen ausführlichen Bericht und je einen von den Mitgliedern nach Überarbeitung gebilligten kürzeren Sektionsberidit, für die Sektion III den überarbeiteten und von den Mitgliedern gebilligten Sektionsbericht und einen zusammenfassenden Bericht und für die Sektionen IV und V die Sektionsberichte. Das ausführlich dargestellte Konferenzmaterial der Sektionen unter der Leitung von Walter Moberly, Max Huber, John Maud, Henry Sloane Coffin und John Mackay ist eingerahmt durch die Einführung von Oldham und durch die Konferenzbotschaft an die christlichen Kirchen. Die Sektion I (Kirche und Gemeinschaftsleben) ist davon bewegt gewesen, daß die Kirche unter der Verpflichtung steht, die Wahrheit auszusprechen, daß der Zerfall des Gemeinschaftslebens darin seine Hauptwurzel hat, daß der Mensch an dem Versuch zerbricht, die Einheit auf einer säkularen und humanistischen Grundlage aufzubauen, ohne nach dem göttlichen Willen und der göttlichen Macht zu fragen, die über ihn ist und über ihn hinausreidit. Dem Versuch des Menschen, sich selbst genug und Gesetz zu sein, und der dämonischen Steigerung seiner Macht als unerlösten Menschen kann nur durch Buße, das heißt Änderung des Denkens, begegnet werden 7 1 . Die Analyse der Welt von heute zeigt eine „Zersetzung des Gemeinwesens" 72 . „Sowohl der Einzelne als auch das Volk sind in Stücke gegangen." 73 „Heutige Versuche des sozialen und sittlichen Wiederaufbaus" 74 sind die Versuche des Kommunismus mit der klassenlosen Gesellschaft nach streng rationalen Prinzipien und des Nationalismus mit dem völkischen Bewußtsein als der herrschenden, sammelnden und einigenden 67
68 Ebda. S. 47. Ebda. S. 49. Bennett, Christian Realism, S. 111. 70 Englische Ausgabe: The Churches survey their Task, Vol.14, Deutsche Ausgabe: Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, 12. Band. 71 Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, S. 107. 72 73 Ebda. S. 54. Ebda. S. 56. 74 Ebda. S. 57. 69
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Kraft. Der amtliche Sektionsbericht sagt: „Wenn das Ganze zusammenbricht, bricht gewöhnlich audi der Einzelne zusammen, er leidet, er fühlt sich enttäuscht und hat das niederschmetternde Bewußtsein der Leere und Sinnlosigkeit seines Daseins." 75 Der ausführliche Sektionsbericht behandelt nach der Analyse der gegenwärtigen Lage die Verpflichtung der Kirche als „Ruf an die Kirche". „Die Kirche steht unter der Verpflichtung, die Wahrheit zu verkünden, daß der Zerfall des Gemeinschaftslebens eine Hauptwurzel hat. Die Menschen sind mit sich selbst und miteinander uneins, weil sie mit ihrem Schöpfer uneins sind." „Das ist die Rache einer Uberschätzung der Macht und der Selbstgenügsamkeit menschlicher Vernunft." ™ „Das Leben der Kirche ist tief von derselben Krankheit angesteckt, an der die Menschheit leidet. Die höchste, schwerste Sünde besteht darin, Gott zu gebrauchen, anstatt sich von ihm gebrauchen zu lassen." 77 Gegenüber dem Angriff der neuen Religionen (Pseudoreligionen des Kommunismus und Nationalismus) gilt die Mahnung: „Die Kirche muß jeden Einzelnen, jedes Volk dazu rufen, Gottes Willen zu gehorchen und aus seiner Barmherzigkeit zu leben. Auf keine andere Weise kann wirklich neue Gemeinschaft entstehen." 78 Der ausführliche Bericht hebt die „Vorherrschaft des Unpersönlichen im modernen Leben" und das Werk von dämonischen Kräften in der menschlichen Gesellschaft hervor und fragt, wie aus der persönlich verantwortlichen Ich:Du-Beziehung eine christliche Haltung im Gemeinschaftsleben möglich werden kann. Der Bericht deutet einige maßgebende Richtlinien an: 1. Die Souveränität Christi als das Fundamentalprinzip. 2. Der moralische Normalkodex (Naturrecht) als eine mögliche gemeinsame Grundlage für Christen und Nichtchristen. Zu der Frage des persönlichen Kompromisses einzelner Christen und christlicher Gruppen innerhalb des Gemeinlebens gibt es keine klare, einfache Lösung. Entscheidend ist hier: Der Christ „gibt seinem Nächsten einen absoluten Wert, nicht weil er der und der ist, mehr oder weniger sympathisch oder mehr oder weniger sittlich, sondern einfach, weil er der Bruder Mensch und deshalb ein Kind Gottes ist, und ebenso wie er selbst einer, für den Christus gestorben ist" 7 *. Der kürzere von den Mitgliedern angenommene Sektionsbericht hebt drei Sonderfragen hervor: 1. Kirche und Volk: „Die Kirche betrachtet die Tatsache des Volkstums ungeachtet seiner Vergiftung durch die menschliche Sündhaftigkeit wesensgemäß als Gottes Gabe an den Menschen." 2. Kirche und Rasse: „Die Sündhaftigkeit des Menschen offenbart sich im Rassenstolz, Rassenhaß und in der Verfolgung und Ausbeutung anderer Rassen." Diesen Erscheinungen muß die Kirche unerbittlichen Trotz bieten. 3. Kirche und gemeines Leben: „An die Kirche ergeht heute ein dringender Ruf, die enge Fühlung mit dem gemeinen Leben der Leute wiederherzustellen, unter denen sie zu arbeiten berufen ist." 80 In den praktischen Vorschlägen der beiden Sektionsberichte der Sektion I 8 1 wird an die Uberwindung von trennenden Schranken zwischen Klassen, Ständen, Rassen und Nationen durch den einigenden Geist Gottes, an das Einstehen der Christen für aus75
7 Ebda. S. 107. « Ebda. S. 62. 78 Ebda. S. 63 und 64. Ebda. S. 67 und 68. 7 » Ebda. S. 76. 80 Ebda. S. 110 ff., ebda. S.98 (gewisse Grundsätze zum Rassenproblem). 81 Ebda. S. 100—105, S. 113—114. 77
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gestoßene, enterbte, verfolgte und verachtete Menschen innerhalb und außerhalb des Volkes, an das gemeinsame Zeugnis der Christen für die Welt in Gottesdienst und Arbeit, an die christliche Versöhnungsaufgabe innerhalb der Spannungen, an die Pflicht des Wagnisses neuer sozialer Versuche, an die heilende und versöhnende Rolle der Kirche, an gemeinsames Studium und brüderliches Handeln, an die Kraft des Gebets im Alltag, an die Verantwortung im politischen Leben und an den Zusammenhalt und an die Zusammenarbeit erinnert. Diese Ratschläge, die gewisse Grundsätze („Mittlere Axiome") für das Rassenproblem und für den Einsatz der Christen im Gemeinschaftsleben formulieren, gehen von der Uberzeugung aus, daß allen Menschen geholfen werden soll. An die Stelle der Egoismen muß nach Gottes Willen eine brüderlichgemeinschaftliche Gestaltung des Gemeinschaftslebens treten. Die Sektion I I (Kirche und Staat) geht davon aus, daß die Christen als Glieder der Kirche, des Leibes Christi in universaler und übernationaler Gemeinschaft, und als Glieder der vielen verschiedenen Sonderkirchen die bestehenden Staaten als geschichtlich gegebene Größen anerkennen. Sie alle besitzen höchste politische Autorität, aber stehen unter der Autorität und dem Gericht Gottes. Die wachsende Entchristlichung der Gesellschaft und die totalitären Tendenzen des Staates verlangen ein neues Durchdenken des Verhältnisses von Kirche und Staat. Innerhalb der staatlichen Ordnung mit der politischen N o r m , jedem das Seine gerechterweise zukommen zu lassen, muß sich die Kirche in Buße auf ihre Aufgaben besinnen: Gebet für den Staat, Treue gegenüber dem Staat, Ungehorsam gegenüber dem totalen Staat mit seinem gott-widrigen Anspruch an den Menschen, Zusammenarbeit zum Wohl der Bürger, Kritik in der Situation der Gefährdung, Betonung der christlichen Menschenwürde in Fragen der Gesetzgebung, Durchdringen der Öffentlichkeit mit dem Geist Jesu und Förderung zwischenstaatlicher Beziehungen. Die Kirche soll auf staatliche Machtmittel für ihre Aufgaben verzichten. Die Grundsätze der Freiheit und Gerechtigkeit verlangen von der Kirche, mit oder gegen den Staat für die Menschen ohne Unterschied einzutreten. „Darum wird der verborgene Sinn der Rechtsordnung nur dort erfüllt, wo die vielen schweren Aufgaben und Verantwortungen des politischen Lebens dem Gebot des liebenden und heiligen Gottes unterstellt werden. Denn die Liebe ist des Gesetzes E r f ü l l u n g . " 8 2 D i e Kirche ist Treuhänderin der Heilsbotschaft Gottes, der Staat Hüter von Ordnung, Gerechtigkeit und bürgerlicher Freiheit 8 3 . Die Sektion I I I (Kirche, V o l k und Staat in ihrer Beziehung zur Wirtschaftsordnung) begründet ihr christliches Interesse an der Wirtschaftsordnung vom Standpunkt ihres Glaubens an die Offenbarung Gottes in Christus. Sie sagt: „Der Mensch ist vor allem dazu bestimmt, in Arbeit und Leben wie im Gottesdienst G o t t zu preisen, zu ehren und zu lieben. Diese Liebe bringt die Verpflichtung mit sich, unseren Nächsten zu lieben wie uns selbst." 8 4 „Bei dem Urteil über die relativen Vorzüge wirtschaftlicher Regelungen und sozialer Gestaltung gibt der Maßstab des Liebesgebots, das freilich hier die Sprache der Gerechtigkeit redet, positive Weisung, wenn es auch über die Wirklichkeit jeder denkbaren sozialen Verfassung hinausgreift." 8 5 So muß das Gewissen der Christenheit beunruhigt sein, wenn einzelne ohne Rücksicht auf ihre gesellschaftliche Leistung Vorrechte genießen, während große Massen von Menschen der sicheren ExistenzgrundEbda. S. 136. Ebda. S. 153. — The Christian News Letter, N r . 3 : Schutz der Freiheit des menschlichen Geistes gegen unrechtmäßige Eingriffe, Gebrauch staatlicher Macht entsprechend dem Wachstum der christlichen Freiheit. (Die doppelte Aufgabe der Freiheit der Meinung und der Freiheit der Person.) 8 4 Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, S. 158. 8 5 Ebda. S. 163. 82 83
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läge beraubt sind. Punkte, die im Widerspruch zu christlicher Lebensauffassung stehen, sind: 1. 2. 3. 4.
die Steigerung der Profitsucht, Ungleichheiten, verantwortungsloser Besitz wirtschaftlicher Macht, die Zerstörung des christlichen Berufsbewußtseins.
Die W ü r d e des Einzelmenschen ist in der Wirtschaftsfrage das kritische und konstruktive Postulat der christlichen Ethik. „Es ist daher ganz offenbar christliche Pflicht, nicht nur die persönliche Lebensführung und den sittlichen Wert des Privatlebens, sondern auch das institutionelle Gefüge der organisierten Gesellschaft an den G r u n d lagen des Glaubens n a c h z u p r ü f e n . " 8 ' „Die christliche Verkündigung m u ß sich mit Zielen im Sinne von Zielen auf lange Sicht — mit N o r m e n u n d Grundsätzen befassen, in deren Licht jede konkrete Situation und jeder Besserungsvorschlag zu p r ü f e n i s t " 8 7 : 1. Jede wirtschaftliche Regelung, die die rechte Gemeinschaft von Mensch zu Mensch als Voraussetzung der Gemeinschaft des Menschen mit G o t t unmöglich macht oder beeinträchtigt, muß abgeändert werden. 2. O h n e Rücksicht auf Klasse und Rasse muß jedes Kind und jeder heranwachsende Mensch gleiche Bildungsmöglichkeit erhalten. Der Schutz der Familie als eine Gemeinschaftszelle m u ß ein dringliches Anliegen der Gemeinschaft sein. 3. Kranke, Gebrechliche und Alte müssen Gegenstand besonderer Fürsorge sein. 4. Die Arbeit hat inneren Wert und Würde. Sie ist keine Ware. Der Arbeiter hat A n spruch auf auskömmlichen Lohn. 5. Der Reichtum der E r d e ist Gabe Gottes f ü r die gesamte Menschheit. In der Frage der Eigentumsordnung müßte das christliche Denken folgenden Gesichtspunkten nachgehen: 1. Alles menschliche Eigentumsrecht trägt bloß relativen und zufälligen Charakter, sofern der Mensch von G o t t dem Geber u n d Schöpfer abhängt. 2. Die heutige Eigentumsordnung und Eigentumsverteilung müssen von nichtmoralischen Vorgängen, durch die sie entstanden sind, kritisiert werden. 3. Individuelle Eigentumsrechte dürfen niemals ohne Rücksicht auf die sozialen Folgen auf Kosten der Gesamtheit ausgeübt werden. 4. Alles Eigentum, das gesellschaftliche Macht darstellt, verlangt in besonderer Weise sittliche P r ü f u n g . Die christliche Verkündigung muß „wie ein Scheinwerfer" die wirkliche Lage und die im Menschenherzen der Gerechtigkeit entgegenstehenden Hindernisse aufzeigen 8 8 . Die Sektion IV (Kirche, Volk und Staat auf dem Gebiet der Erziehung) formulierte das Wesen der Erziehung als den Vorgang, durch den die Gesellschaft die einzelnen Menschen, die ihr angehören, in ihr Leben einzuführen versucht und sie in den Stand setzen möchte, an ihm teilzunehmen. Die Kirche erblickt in der Persönlichkeit „etwas Heiliges". „Demgemäß lehnt sie eine Erziehung ab, die die Menschen lehrt, sich einer menschlichen Instanz als der höchsten Autorität zu unterwerfen. Sie legt Wert auf die Verpflichtungen, die der Einzelne der Gemeinschaft gegenüber hat, und baut um den Einzelnen seine Pflichtbereiche in konzentrischen Kreisen auf — Haus, Heim, Nach86
87 Ebda. S. 175. Ebda. S. 181. Ebda. S. 185 und 186. — Die Kirche als F a k t o r einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 16 und 17: P a u l Abrecht sagt, d a ß in O x f o r d die Ethik der Grundsätze und die persönliche Ethik der Erlösung einer ,christlichen Ethik der Gerechtigkeit' R a u m geben mußte. Er beschreibt die Gerechtigkeit als ,relativen Ausdruck des Liebesgebots'. 88
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barschaft, Nation und Welt." 8 9 Die Kirche als eine Gemeinschaft freier Personen unter Christi Gebot stellt die Gewissen der Menschen unter das Gebot der christlichen Liebe. Die Kirche als erlösende Gemeinschaft sieht ihr Hauptanliegen darin, daß jedes Kind und jeder Erwachsene unter den Befehl Jesu Christi gestellt werden kann, der aus ihnen einen neuen Menschen macht. Als übernationale Gemeinschaft muß die Kirche ihre Glieder dazu erziehen, sich selbst als Menschen zu betrachten, die in erster Linie Gott und seiner allgemeinen Kirche und erst in zweiter Linie ihrer Nation angehören. Die Kirche als über den Rassen stehende Gemeinschaft lehrt, daß alle Rassen in den Augen Gottes gleichen Wert haben. Dazu hatte Sektion I gesagt: 1. Anerkennung des Wertes jeder Person, 2. Recht auf die für ein personhaftes Leben wesentlichen Lebensbedingungen, 3. vollberechtigte Teilnahme an der Gemeinschaft, 4. aktive Zusammenarbeit und Gemeinschaft zwischen den Rassen, 5. Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber weniger privilegierten Personen, 6. gleichberechtigte Lebensmöglichkeiten für alle Rassen auf wirtschaftlicher und sozialer Grundlage 9 0 . Die Kirche als über den Klassen stehende Gemeinschaft muß die Kinder beschützen, denen die Community eine Erziehung vorenthält, die sie instand setzen würde, alle ihre Kräfte zu entfalten. Die Kirche als ewige Gemeinschaft sieht in den Menschen nicht nur Bürger, die für die kurze Spanne ihres irdischen Lebens der irdischen Community und dem irdischen Staat verbunden sind, sondern solche Menschen, die einmal Bürger der ewigen Gottesstadt werden sollen. Der Staat befaßt sich mit der Bildung der Bevölkerung, weil von ihren landwirtschaftlichen, industriellen und kaufmännischen Fähigkeiten seine wirtschaftliche Wohlfahrt und seine nationale Kraft abhängig ist. Die Community gestaltet durch ihre Lebensformen in weitem Maße die Persönlichkeit ihrer Glieder. „Das Gewebe von Beziehungen sozialer, wirtschaftlicher und politischer Art ist ein viel wirksamerer Erziehungsfaktor als irgendwelche schulische Beeinflussung im engeren Sinn." 91 Christliches Anliegen ist es, die Formen des Volkslebens der Menschen so zu gestalten, daß sie zu christlicher Erkenntnis und Lebenshaltung angeleitet werden. „Brennende Fragen" sind: 1. Freiheit: „Das Ziel der Kirche besteht darin, daß freie Menschen unter dem Gesetz Christi" herangebildet werden 9 2 . 2. Die innere Auflösung der Gesellschaft: „Die Kirche hat der Verweltlichung" mit dem Zerfall des Familienlebens „allzusehr nachgegeben". Der Druck der nichtchristlichen Weltanschauungen ist Gottes Weg zur Neuentdeckung der Wahrheiten und Ideale, deren Treuhänderin die Kirche ist 93 . 3. Beherrschung der Jugendbewegungen: Die Kirche muß der Jugend aller Länder Jesus Christus als den Herrn vor Augen stellen. 4. Moderne Wissenschaft, Methodik und Technik: Keine Methode wird für sich die Aufgabe erfüllen können, den ganzen Menschen von innen her aufzubauen. Die unmittelbaren Erziehungsaufgaben der Kirche sind: 1. gegenwartsnahe Theologie, 2. eine Philosophie und Psychologie der Erziehung, 89 00 92
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Kirche und Welt in ökumenischer Sicht, S. 202. 91 Ebda. S. 98. Ebda. S. 208. 93 Ebda. S. 212 und 213. Ebda. S. 215.
3. die Erziehung der Christen (Elternhaus, Schule, Kindergottesdienst, Religionsunterricht, Universitätsarbeit, Erwachsenenbildung, Kommunikationsmittel, Stärkung des Gottesdienstes). „Der wichtigste Erziehungsauftrag der Kirche wie ihr höchster Dienst für das Leben der Menschen überhaupt ist ihr Evangelium, seine Deutung des menschlichen Daseins und die aus ihm strömenden K r ä f t e der Heiligung." 9 4 Die Sektion V (Die Kirdie Christi und die Welt der Nationen) sah die ökumenische Kirche mitten in der Ratlosigkeit der Zeit als ein Zeichen der Hoffnung. „Der Ausdruck international' nimmt notwendig die Zerteiltheit der Menschheit in getrennte Völker als eine natürliche, wenn nicht gerade endgültige Gegebenheit hin. Der Ausdruck .ökumenisch' bezieht sich auf die Art und Weise, wie die Tatsache der Einheit der Kirche in der Geschichte zum Ausdruck kommt. Der eine geht aus von der Tatsache der Geteiltheit, der andere von der Tatsache der Einheit in Christus." 9 5 Die echte ö k u m e n i z i t ä t setzt dem zerstörenden Nationalismus und dem angreiferischen Imperialismus die Tatsache der in der Liebe Gottes geeinten Menschheit gegenüber. Die Sorge der ökumenischen Kirche gilt vornehmlich dem Menschen. Die Weltprobleme haben ihre Wurzeln letztlich in den Herzen der Menschen, die von neuem geboren werden müssen. „Die Welt braucht nichts so nötig wie neue Menschen." 9 6 Keine internationale Ordnung kann mit dem Reich Gottes identifiziert werden. Jede staatliche Ordnung steht unter der Weltregierung Gottes. „Christen obliegt es deshalb in besonderem Maße, sich hingebend darum zu bemühen, daß durch freiwillige Schritte ihrer Nationen solche Veränderungen auf dem Gebiet der internationalen Ordnung vorgenommen werden, wie sie von Zeit zu Zeit erforderlich sind, um Ungerechtigkeit zu vermeiden und eine gleichmäßige Lebens- und Betätigungsmöglichkeit für jeden Einzelnen in der ganzen Welt zu schaffen." 9 7 Die Christen sollen ihre Regierungen für eine Politik der sinnvollen Gleichheit der wirtschaftlichen Möglichkeiten beeinflussen. Versuche, eine internationale Ordnung zu schaffen, sind zu unterstützen wie Völkerbund, Ständiger Internationaler Gerichtshof, Verträge und kirchliche Friedensarbeit. In der Frage des Krieges mit seiner erzwungenen Feindschaft, der teuflischen Vergewaltigung der menschlichen Persönlichkeit und der willkürlichen Verzerrung der Wahrheit sollte der Christ zweierlei vor Augen haben: 1. das Liebesgebot Jesu und 2. die Verpflichtung zu dem Tun, was diesem Gebot in der konkreten Lage am nächsten kommt. Das Zeugnis der Kirche hat in sieben Aufgaben praktische Bedeutung: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Beseitigung von Rassenschranken, religiöse Freiheit, gegenseitige Unterstützung der Kirchen, ökumenische Erziehung, Erziehung zum Frieden, Abrüstung, Bildung eines ökumenischen Rates der Kirchen 9 8 .
3. Verantwortung
in der
Erziehung
Oldham hat in dem Band „Kirdie und Erziehung — Beiträge zur Krisis und Problematik der christlichen Erziehung" gesagt, daß in Oxford deutlich geworden ist, wie die Gesamtentwicklung dahin geht, wo die Kirchen 94 95
"
Ebda. S. 235 Ebda. S. 241 Ebda. S. 246
9
« Ebd. S. 242. Ebda. S. 2 5 5 — 2 5 9 .
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das wahre Wesen der tiefgreifenden Auseinandersetzung zwischen dem christlichen Glauben und den säkularen und heidnischen Strömungen der Zeit klarer erfassen. „Die christlichen Grundlagen der abendländischen Kultur sind in einigen Ländern fortgerissen und sind überall bedroht. In diesem Kampf geht es um die großen Gemeinsamkeiten im Verständnis des Lebens, ohne die kein Gemeinwesen bestehen kann." 9 9
So kommt gerade auf dem Gebiet der Erziehung der Konflikt zwischen dem christlichen und nichtchristlichen Denken am allerdeutlichsten zum Ausdruck 100 . Auf dem Gebiet der Erziehung treten die Fragen nach dem Verhältnis, daß heißt nach der verantwortlich gestalteten Beziehung von Kirche, Volk und Staat am schärfsten in das Bewußtsein. Die Krise der Kultur mit Glaubensüberzeugungen, Wertmaßstäben und Sitte kommt bewußt in der Schule zum Ausdruck, in der staatlichen Institution, die den Bildungsauftrag wahrnimmt. Totalitäre Staaten bedienen sich der Schule als Erziehungsfaktor, um den neuen Menschentyp hervorzubringen. „Das Hauptkennzeichen der heutigen Lage, dem die Kirche Rechnung zu tragen hat, ist die Tatsache, daß das christliche Lebensverständnis für viele Menschen keine bindende Bedeutung mehr hat." 1 0 1
Die Erziehung soll mit neuen Methoden und Zielen begründet werden. Die Rolle der Kirche wird in totalitären Staaten als fortschrittsfeindlich und zersetzend dargestellt. Christliche Grundüberzeugungen wollen aber dem Zusammenhang der Volksgemeinschaft dienen. Aber an die Stelle abgelehnter christlicher Grundüberzeugungen müssen irgendwelche Mythen treten. Diese Entwicklung ist vorbereitet worden durch den Liberalismus, in dessen Perspektive das Christentum als eine unter vielen Welt- und Lebensanschauungen angesehen wurde. Das menschliche Dasein kommt in der Hingabe des Herzens zu seiner Erfüllung. „Die Aufgabe des Erziehers besteht unter diesen Umständen darin, den Menschen dazu zu verhelfen, daß sie irgend etwas finden, dem sie sich ganz hingeben können." 102 Das Kernproblem aller Erziehung ist das von Autorität und Freiheit. Das humanistische Ideal ist gewiß ein Ideal großen Stils, doch der unverbindlich individuelle Akzent hat keine gemeinschaftsbildende Kraft. Grisebach ist einer der schärfsten Kritiker des humanistischen Erziehungsideals, weil darin die unwirkliche Welt um den Mittelpunkt des menschlichen Ichs kreist. Die wirkliche Welt ist die Welt der Begegnung mit dem anderen Ich. „Diese Erfahrung von der Begegnung zwischen Person und Person, vom Zusammenstoß von Willen mit Willen ist es, was die wirk89 101
78
Kirche und Erziehung, S. 7. Ebda. S. 14.
100 102
Ebda. S. 13. Ebda. S. 17.
liehe Erziehung ausmacht." 103 Die totalitäre Erziehung hebt die Freiheit des Menschen auf. Deshalb müssen die Christen nach einem tieferen Verständnis dessen suchen, was Freiheit ist. Christliche Freiheit ist innere Freiheit, Freiheit von der Ichsucht. Sie ist die Freiheit derer, die Vergebung empfangen haben und darum auch wieder vergeben können. Die Kirche muß von dieser Freiheit Zeugnis ablegen und sie im Leben ihrer Glieder beweisen 104 . Der Gedanke „der mystischen Einheit der Bruderliebe" ist der Inhalt der christlichen Freiheit, die sich im freudigen Dienst für Gott und um seinetwillen auch im Dienst für den Nächsten verwirklicht. „Das Problem des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft findet also nur in der Beziehung der Liebe seine Auflösung." 1 0 5 Ohne Liebe enden die Menschen entweder in einem anarchischen Individualismus oder in einem totalitären Staat. „Die größte Aufgabe der Kirche besteht darin, den Menschen den wahren Sinn der Freiheit und den eigentlichen Grund der Gemeinschaft wieder vor Augen zu führen." 1 0 6 Der Religionsunterricht erschöpft sich nicht in intellektueller Wissensvermittlung, sondern hat den Auftrag, den Glauben und das Leben des Christen darzustellen 107 . Die Unterrichtsmühe muß der Gemeinschaft dienen. Die Kirche muß kleine Übungszellen echten Gemeinschaftslebens bilden, in denen man durch wechselseitige Hilfe und Dienstleistung verbunden ist. In der Frage nach dem Wesen des Menschen vertreten kirchliche, staatliche und gesellschaftliche Erziehungspolitik verschiedene Auffassungen. Von der Beantwortung der Frage hängt die Zukunft des Menschengeschlechts ab. Die Beziehung der christlichen Auffassung von der Erziehung zur allgemeinen Aufgabe der Erziehung muß neu durchdacht werden. Die Kirche darf nicht gleichgültig bleiben gegenüber den anderen Einflüssen, die auf das heranwachsende Kind wirken. Ihre Aufmerksamkeit muß dem ganzen Menschen gelten. Ihr muß es um die Freiheit gehen, die in der lebendigen Beziehung zu Gott gefunden wird. Geistliche, Ärzte, Psychiater, Sozialarbeiter und Lehrer müssen sich in der Zusammenarbeit finden. „Die Zugehörigkeit des christlichen Religionsunterrichts zum öffentlichen Erziehungssystem hat den großen Vorteil, daß man der gesamten Bevölkerung eine Kenntnis der geschiditlidien Tatsachen und der Lehre des Christentums mitteilen k a n n . " 1 0 8 Aber demgegenüber darf die Bedeutung kirchlicher Schulen und christlicher Unterweisung in den öffentlichen Schulen nicht überschätzt werden. „Der Unterschied zwischen Kirchenschulen und Staatsschulen ist oft viel kleiner als wir meinen." 10 * Morris berichtet, daß z . B . die Kirchenschulen in England die wirklich lebendigen Gegensätze der Gesellschaft nicht mehr darstellen und zum Ausdruck bringen. 1M Ebda. S. 19. 108 Ebda. S. 24. 1 0 7 The Christian News Letter, N r . 6 9 : nicht life" — N r . 7 6 : Lehren ist Interpretation von 1 0 8 Kirche und Erziehung, S. 29. 109 103 105
Ebda. S . 2 1 . Ebda. erlernen von Fakten, sondern „a way of Erfahrung. Ebda.
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Das Christentum der Zukunft wird nur dann eine wichtige Rolle spielen, wenn es sich für etwas Besonderes, ganz und gar nicht Selbstverständliches und höchst Bedeutsames einsetzt. Das komprehensive Ziel der christlichen Erziehung besteht in der Heilung der durch die Zivilisation entstandenen Schäden und in der Hilfe zu rechten Relationen der Menschen 110 . Wenn eine christliche Schule eingerichtet wird, die echtem christlichen Lebensverständnis im Gegensatz zum Denken und Handeln der weltlichen oder heidnischen Gesellschaft Ausdruck verleihen soll, kommt es darauf an, daß die Lehrerschaft aus gläubigen Christen besteht. Beispiele aus der Missions-Schulpraxis zeigen, daß es im Wesen christlichen Schul-Engagements liegt, aus der Schule eine christliche Lebensgemeinschaft zu machen. Wo Schulen dazu benutzt werden, um der gesamten Bevölkerung eine Weltanschauung aufzuzwingen, überschreiten sie ihre Grenzen. Ihre eigentliche Aufgabe und ihr Dienst bestehen darin, der Volksgemeinschaft ein bestimmtes Maß von Wissen und Fertigkeiten zu vermitteln. Der reguläre Schulbetrieb ist dafür die Voraussetzung. Oldham unterscheidet zwischen der Verantwortlichkeit des christlichen Lehrers als Person und als Lehrer 1 1 1 . Der Lehrer hat seine besondere Berufung darin, daß er gründlich seine fachliche Aufgabe erfüllt jenseits jeder Weltanschauung. Zum Wesen seines Berufs gehört der Umgang mit jungen Menschen in der Zeit ihrer Bildsamkeit. Diese personale Verantwortung legt ihm die Pflicht auf zum Zeugnis des Glaubens in Wort und Tat. In der christlichen Schule kann die gesamte Schularbeit einer beherrschenden Zielsetzung untergeordnet werden. In der Schule, in der die Behörden oder die Eltern keinen christlichen Einfluß wünschen, muß sich der Lehrer ganz auf seine Fachaufgabe beschränken. Die Spannung zwischen der Fachaufgabe und dem christlichen Zeugnis ist die des Konfliktes von der nicht-oder halbchristlichen Gesellschaft mit dem Evangelium. „Der christliche Lehrer kann sich nicht in zwei Hälften aufteilen." 1 1 2 Das Erziehungsproblem bestärkt den Wunsch nach einer theologischen Ethik, die den besonderen Bedürfnissen und Aufgaben der Gegenwart entspricht 113 . Die Gedanken Oldhams spiegeln einen Ausschnitt aus der ökumenischen Diskussion. Seit der Weltkirchenkonferenz von Stockholm 1925 ist die Erziehung Thema gewesen. Oldham hat die Verantwortung der Erziehung in die Auseinandersetzung mit dem humanistischen Liberalismus und mit dem staatlichen Totalitarismus gestellt. Beide Bewußtseinsmächte sehen nicht die eigentlich sozial-pädagogische Aufgabe, die das Bild des Menschen in seiner lebendigen Beziehung zu verantwortlicher Gemeinschaft zu deuten versucht. „Alle Pädagogik ist soziale Funktion." 1 1 4 In Oxford ist die Krise der Erziehung als Krise der säkularisierten Kultur gesehen worden. Einerseits ist die Ver110 111 112 114
80
The Christian News Letter, N r . 72. Kirche und Erziehung, S. 32. 1 1 3 Ebda. S. 34. Ebda. Johannes Harder in Artikel „Sozialpädagogik", E v . Soziallexikon, 952.
schiedenheit der christlichen Erziehung v o n der allgemeinen Erziehung betont worden, andererseits die intensive Zusammenarbeit mit dem Staat und mit dem Volk. In der ökumenischen Auffassung haben das christliche Elternhaus und die christliche Familie große Bedeutung 1 1 5 . Edward Duff ruft zu einer realistischen Prüfung der Werte auf, um die Elemente der europäischen Zivilisation und der christlichen Konzeption in Erziehungsvorgänge einzuführen 1 1 β .
4. Verantwortung
für die Welt
a) Der evangelistische und missionarische Charakter der Verantwortung für die Welt Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hat Oldham sein Buch „The World and the Gospel" veröffentlicht. Dieses Buch steht in der Leidenschaft des Willens zu der weltweiten evangelistischen und missionarischen Verantwortung der Bewegung des „social gospel" nahe. Der beendete Weltkrieg wird als das 'Gericht Gottes über die Menschheit gedeutet. Er trennt zwei Epochen. Die Krankheit des pervertierten Selbstvertrauens endete in der Selbstzerstörung. Der Krieg ist eine Herausforderung an die Christenheit, an ihre Evangelisation und Mission117. Diese Herausforderung, durch die Gott zur Menschheit spricht, verlangt die Buße in den Denkvorstellungen. Er verlangt die Neubesinnung auf die Evangeliumsbotschaft. Die ganze Menschheit ist vereint in einem Leib, der viele Glieder hat 118 . Das Gebot der Nächstenliebe ist „ein neues und vitalisierendes Prinzip" 119 . Im Königtum Gottes ist das Ziel enthalten, daß alle Menschen als Brüder leben sollen zum Wohl ihrer Nächsten. In dem christlichen Ideal liegt die soziale Gesundheit, das heißt die Lösung der Probleme von Industrie und Politik der „Großen Gesellschaft". Der Begriff „Great Society" beschreibt die riesige weltweite Organisation der menschlichen Existenz 120 . Oldham fragt, warum die Kirche, die um das Geheimnis der sozialen Gesundheit gewußt hat, nicht wirksam genug gegen die Krankheit der Selbstzerstörung protestiert habe. Das Wachsen dieser „Great Society" legt auf die Christen die Notwendigkeit des Versuchs, die soziale Ordnung zu christianisieren. Die missionarische Verantwortung der weltweiten Evangelisationspflicht erhält eine soziale Dimension. Innerhalb des allumfassenden sozialen Systems verlangt das christliche Leitbild, die unvermuteten Kräfte eines neuen Opfergeistes zu aktivieren. Nur eine Kirche, die leidenschaftlich bei der Realität des Opfergeistes beharrt, kann die Welt evangelisieren. Evangelisation ist nicht nur verbale 115
Leo Weber in Artikel „Erziehung", Weltkirchenlexikon, 359/360. Edward Duff, The Social Thought of the World Council of Churches, S. 304. 117 The World and the Gospel, S. 1. 118 Ebda. S. 5. 119 Ebda. S. 8 (new and vitalizing principle), vgl. International Review of Mission, Jan. 1970, S. 19: „A revolutionary force in society". 120 Ebda. S. 13: Der Ausdruck stammt v o n Graham Wallas. 116
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Kosmahl, Ethik
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Verkündigung, sondern Erweis von Taten heilender und erneuernder Kraft. Der Missionsbefehl ist zugleich diakonischer Sozialbefehl: „Der christliche Protest gegen unchristliche K r ä f t e im sozialen und nationalen Leben muß klarer, schärfer und offener sein als in der Vergangenheit. Die größte N o t wendigkeit unseres Zeitalters ist eine tiefere Erfassung Gottes. Diese tiefere Erfassung Gottes kann nur dadurch gewonnen werden, wie wir uns dafür einsetzen, Seinen Willen auf Erden zu tun, wie er im Himmel geschieht." 1 2 1
DieGewißheit, eine Botschaft zu haben, ist der Nerv der missionarischen Arbeit. In der christlichen Botschaft ist ein Schatz unvergleichlichen Wertes enthalten: Die Realität Gottes und „Seine moralische Weltregierung" 1 2 2 , die in dem Begriff der Gerechtigkeit zum Ausdruck kommen, sind notwendiger Teil des ,Gospel', das niemals mehr benötigt wird als in der Gegenwart. „Das .social gospel' ist die Botschaft der bewahrenden Macht Gottes für die Gesellschaft und für das Individuum in der Gesellschaft, eine neue Konzeption der Heilung des Einzelnen in der Gemeinschaft durch die Transformation der sozialen Bedingungen." 1 2 3 Christus hat G o t t als die Liebe offenbart. Diese Offenbarung wird nicht durch den Intellekt ergriffen, sondern durch den ganzen lebendig antwortenden Menschen. Sie überwindet die trennenden Schranken. Sie ermöglicht die Erfahrung der ,Sohnschaft' (Gotteskindschaft). Christus verkündet das Reich Gottes als schon in der Welt gegenwärtig. Seine Auferstehung kündet eine neue kreative Epoche in der Menschheitsgeschichte an. Der Christusglaube ist Eintritt in die neue Lebenswirklichkeit. Die Gabe des Heiligen Geistes ist die .Energie' dieser neuen Lebenswirklichkeit. Die Weltliebe Gottes bedeutet nicht nur Wiedergutmachung, sondern Rettung und Heilung. Rettung und Heilung führen in die brüderliche Gemeinschaft und in den sich hingebenden Dienst 1 2 4 . Der Begriff ,Weltliebe des Vaters' vereinigt .mystische' und ethische Elemente, das heißt: die Gegenwart des Königtums Gottes in der Heiligen Kommunion und für die .Mitglieder einer Familie' einen sozialen Auftrag. D e r soziale Auftrag ist die Christianisierung und Verwandlung der gesamten Society in der Konformität der Gnade und des göttlichen Ziels. „Die U m stände der Welt heute lassen keine Alternative zu als die des Versuchs der Evangelisierung der ganzen W e l t . " 1 2 5 „Das Christentum arbeitet durch Fermentation." 1 2 6 Nicht materielle Quellen sind wirkkräftig, sondern die menschlichen Herzen als Gefäße des Geistes Gottes. „Der Geist ist das Einzige, das geschieht." 1 2 7 Beispiele aus der Missionspraxis beweisen diesen Satz. D e r Christ muß an die Möglichkeiten geistlicher Erneuerung und an den Ausbruch neuer Energien glauben. Die Inspiration neuer großer Ideale ist nötig, wenn die Kirche die besten und fortschrittlichsten Gedanken der Zeit anbieten will. Die Liebe Gottes ist das stärkste Motiv und die größte Inspiration. Das Christentum ist eine ,missionarische Religion'. Ihr Ziel ist es, daß alle Menschen in das Wissen und in die Erkenntnis dieser Liebe eintreten, um in ihr „das erneuernde, stärkende Prinzip für ihr nationales und soziales Leben" zu erfahren 1 2 8 .
122 Ebda. S. Ebda. S. 2 1 — 2 2 . „The International Review of Missions", 1915; Mathews, „The Individual and the Social Gospel". 124 The World and the Gospel, S . 4 7 (fellowship and 125 Ebda. S. 55. 128 Ebda. S. 127 Ebda. S. 64. 1 2 8 Ebda. S. 75 (regenerating, quickening principle). 121
123
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27. Buchbesprechung von Shailer service). 61.
Aus der Erfahrung der Missionsarbeit in den verschiedensten Bereichen der Welt (Asien und Afrika) macht Oldham die Sorge um eine neue „spiritual" (geistig-geistliche) Basis der Society geltend: F ü h r e n d e K ö p f e J a p a n s sagen, d a ß intellektuelle E r z i e h u n g ungenügend sei, um zu einer ,spiritual' Grundlage der Gesellschaft zu kommen. Aus C h i n a k o m m t die F e s t stellung: „Das wirkliche P r o b l e m der Erziehung ist die C h a r a k t e r b i l d u n g . " 1 2 9 Die Situation in Indien ist die: „Der Geist Indiens t r ä u m t von der Freiheit, der Geist des Nationalismus ist a m E r w a c h e n . " 1 3 0 Indien leidet unter dem sozialen Druck der Massen außerhalb des Hinduismus, unter der konfliktgeladenen U n r u h e unter den Gebildeten und unter der Benachteiligung der F r a u . D i e moralischen und geistlichen N ö t e der Moslems müssen neu gesehen werden unter dem vergebenden E v a n g e l i u m , obwohl der ,missionarische E r f o l g ' unter den Moslems g a n z gering ist, und es naheliegt, das E v a n g e l i u m aus dem Bereich dieser überaus schwierigen Arbeit g a n z wegzuziehen. A b e r der Missionsauftrag ist stärker als die negative E r f a h r u n g . „ W i r können die Moslems nicht außerhalb der Reichweite der Liebe lassen, die G o t t in Christus offenbart hat. W i r würden etwas v o n unserem Glauben an das Vermögen, die Fülle und die U n i v e r s a l i t ä t der göttlichen Liebe verlieren." 1 3 1 D a s unruhige A f r i k a fordert die Sicherung der Eingeborenenrechte und den Schutz der Arbeit. I m Blick auf die W e l t weite des Suchens und der Sehnsucht können die Christen nicht indifferent bleiben. Gemeinschaft und Bruderschaft müssen aus dem evangelistisch-missionarisdien Christusglauben in diese W e l t kommen.
Die „Kirche auf dem Missionsfeld" ist das strategische Instrument dieser Evangelisation, die den Menschen eine neue Lebensgrundlage anzubieten hat. Oldham fordert die „missionarische Erziehung der Kirche" 1 3 2 . Kirche ist die einheimische Kirche in der Zusammenarbeit mit den Missionen. Die Kirche muß ganz der weltzugewandten Liebe Gottes verpflichtet sein, indem sie zeigt, daß die Gemeinschaft zur größeren Realität gemacht werden kann, daß energisch Mißstände überwunden werden können, und daß der Dienst von erneuerten Menschen zu einer lebendigen Society führen muß. Das Leib-Christi-Sein der Kirche als der „göttlichen Society" ist die sichtbare Gestalt der Liebe Gottes, die sich in den mitmenschlich-sozialen Beziehungen inkarniert. Die Kirche hat eine „Politik der missionarischen Erziehung" nötig, um mit allen Gliedern fähig zu werden, Recht, Humanität und Liebe im nationalen und sozialen Leben zu verwirklichen. Die Erziehung der öffentlichen Meinung muß gegenseitige Vorurteile, Ausbeutung und Diffamierung abbauen helfen. Der Dienst der Versöhnung, Brüderlichkeit und Gerechtigkeit nimmt hilfreichen Einfluß auf die öffentliche Meinung, fördert Freundschaften von Studenten in der interrassischen Begegnung, schult Verwaltungsfachleute und Kaufleute für ihren christlichen Beitrag der Sympathie, Freundschaft und Fairneß und intensiviert den Beitrag der Missions129
E b d a . S. 82.
131
E b d a . S. 1 1 5 .
132
E b d a . S. 1 7 6 ; vgl. International R e v i e w of Mission, J a n . 1970, S. 1 4 : „The Church
130
E b d a . S. 9 2 .
U n i v e r s a l conceived as a Missionary C o m m u n i t y " .
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gesellschaften für die ganze Menschheit. Die Menschheit ist in Wahrheit eine große Familie und ist zu einem liebenswerteren Leben als bisher berufen 133. Die entferntesten Teile der Welt müssen zu einer untrennbaren Einheit verbunden werden. Der Glaube an die Liebe Gottes zu allen Menschen ist das Wesen der christlichen Religion und die „Seele" der Hoffnung. Die Alternative der Kirche ist die: entweder muß sie sich erheben zur vollen Entfaltung ihrer Weltmission oder sie muß eingestehen, daß Gottes Liebesmacht nicht ausreicht für die weltweite Verantwortung. Das Eingeständnis der Schwäche gefährdet ihr eigenes Leben.
Der neue „way of life" ist die einzige Konsequenz des Geistes der Sohnschaft. Er wird getragen und erneuert „durch das Studium der Schrift, durch Gemeinschaft mit Gott im Gebet und durch das Sakrament der Heiligen Kommunion" 134 . Der Auftrag, das heißt die Anwendung des „Gesetzes Christi", ist dringend, denn der Krieg hat die Schäden der Society aufgedeckt. Auf die Erfüllung des Liebesgebots wartet die Welt. Die Bewegung des „Social gospel" verband Evangelisation, Mission und soziale Diakonie miteinander, um auf diesem Wege die Hoffnung des Reiches Gottes in den irdischen Verhältnissen zu aktenzuieren und zu konkretisieren 135 . Der evangelistische und missionarisch-diakonische Charakter der Weltverantwortung kommt in den beiden Zeitschriften zum Ausdruck, die Oldham herausgegeben hat. Ab 1912 gab er „The International Review of Missions" und ab 1939 „The Christian News Letter" heraus. Er treibt auf diesem publizistischen Wege christliche Öffentlichkeitsarbeit. Seine Pressearbeit war sach- und problemgerecht und fand während der Kriege und in den Nachkriegszeiten große Beachtung. Mit seinen Fragen und Vorschlägen hat er über Jahrzehnte hinweg die Kirche und die Welt begleitet. Er betrieb in den aktuellen Tagesfragen politische Diakonie. Die Zeitschrift „The International Review of Missions" will die Nacharbeit der Edinburgher Missionskonferenz fördern. In den Bemerkungen des Herausgebers steht, daß die Absicht des Review das ernsthafte Studium der Fakten und Probleme der missionarischen Arbeit unter den nichtchristlichen Völkern ist. Eine neue Missionswissenschaft, die ihren Horizont in den weltweiten Menschheitsfragen findet, soll Hilfe zum Ausbau erfahren. Die missionarische Christusbotschaft hat eine Beziehung zu jeder nichtchristlichen Religion. Die Zeitschrift bekommt ihren besonderen Akzent dadurch, daß Oldham ganz bewußt die interdenominationelle Aktion koppelt mit den undenominationellen und extradenominationellen Aktionen, das heißt: der Erfahrungsaustausch der Kirchen wird verbunden mit den Erfahrungen nichtkonfessioneller und 133
Ebda. S. 139—198 (Die Kirche auf dem Missionsfeld). Ebda. S. 2 1 / . 133 Ebda. S. 198—220 (Schlußfolgerungen); vgl. S. 15: "In the world as it now is we cannot be Christians in the full sense without setting ourselves to Christianize the social order." 134
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nichtchristlicher Aktivitäten. Sowohl die Erfahrungen im Bereich der nichtchristlichen Welt als audi die K r ä f t e des Evangeliums wollen dem Leben der Menschheit dienen 1 3 e . In der Zeitschrift „The Christian News Letter" beschreibt Oldham das Ziel der Pressearbeit in der Überbrückung des Grabens zwischen der organisierten Religion und dem allgemeinen Leben der Gesellschaft. Die Zeitschrift ist deshalb notwendig, weil die Gegenwart (1939) voller Gefahren ist. Wenn ein aktiver Glaube einer untergehenden Zivilisation neue Hoffnung bringen will, dann muß jetzt alles an verwendbaren K r ä f t e n des christlichen Verstehens zu einer gemeinsamen Einsicht und Uberzeugung vereinigt werden. Die Zeitschrift will unterrichten über christliches Denken, Leben und Handeln in allen Weltkontinenten. D i e zentrale Absicht ist das Verstehen aller Vorgänge im Licht des Evangeliums. Neben Oldhams Briefen und Kommentaren erscheinen Aufsätze von Fachleuten über die religiöse Deutung von Gegenwartserfahrungen, moralische und soziale Kriegsprobleme, Jugendfragen, konstruktive Hilfen für eine neue Weltordnung, ökumenische Aufgaben, Proteste gegen religiöse und bürgerliche Freiheitsbeschränkungen und Prinzipien für einen gerechten und dauerhaften Frieden. Als kooperatives Unternehmen will die Zeitschrift einen Beitrag leisten für die christliche Verantwortung an der Welt und an der Gesellschaft. Sie will der .universalen christlichen Society' dienen und besonders den Aufgaben ihre Beachtung schenken, die befreiend und konstruktiv den gegenwärtigen Kriegszustand überwinden helfen. Als Aufruf an das Weltgewissen schärft die Zeitschrift den Glauben an das von G o t t geschenkte Leben. Sie will das Prinzip eines neuen Weges aus der Perspektive der hingebungsvollen Bruderschaft zeigen. Das Christentum bietet die Freiheit von der Furcht in der Gewißheit, daß G o t t sein Werk vollenden wird. Obgleich dieser Weg vielen Menschen verborgen ist, sind die K r ä f t e der Wahrheit und Liebe realer und auf lange Sicht stärker als die K r ä f t e des Bösen. „Unsere individuellen Leben werden durch eine Macht getragen, der wir absolut vertrauen k ö n n e n . " 1 3 7 In weitgestreuter Beobachtung nimmt Oldham in vielen Notizen Stellung zu Tagesfragen. Als ökumenischer Christ stellt er sich den internationalen Problemen und versäumt nicht, klare Stellung zu beziehen in der klugen und ausgereiften Form einer christlichen Verantwortung für die leidende Menschheit.
b) Missionserfahrungen als Beitrag für das Weltgewissen Oldham hat nach dem Ersten Weltkrieg einen Rechenschaftsbericht veröffentlicht über die missionarische Situation. E r stellt in diesem Rechenschaftsbericht fest, daß die Regierungen sich in ihrer H a l tung gegenüber der Arbeit der christlichen Missionen in ihren Hoheits- und Einflußgebieten unterscheiden. V o r dem Kriege hatten die katholischen Mächte Portugal, Spanien und Frankreich die christlichen Missionen als Teil ihrer kolonialen Expansion betrachtet. Bei den protestantischen Staaten Groß-Britannien, Holland und Dänemark war die Verbindung von politischer Zielsetzung und Missionsarbeit schwächer. In G r o ß Britannien ist die Religions- und Gewissensfreiheit in der Verfassung verankert. Die Regierung hielt im J a h r e 1834 die T ü r für die Missionen offen. Sie unterstützte die philanthropische und erzieherische Seite. In Holland liegen die Verhältnisse ähnlich. Wir hören dort von dem Vorbehalt der Regierungskontrolle. Das deutsche Kolonialgesetz vom J a h r e 1900 legte der Mission keinerlei gesetzliche Behinderung auf. D i e Kolonialpolitik der U S A wahrte volle religiöse Toleranz bei vollkommener Abhängigkeit von Kirche und Staat. Grundverschieden von den bisherigen Beispielen beschreibt Oldham das Verhalten der französischen Kolonialpolitik. Sie war gegenüber der protestantischen Missionsarbeit feindlich eingestellt. Die antiklerikale Partei be136 137
The International Review o f Missions, Jg. 1912. The Christian News Letter, 1 8 . 1 0 . 1 9 3 9 .
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kämpfte die Missionsarbeit der protestantischen Kirchen in Indochina und Madagaskar. Ähnlich sah es in Rußland aus: nur die Tätigkeit der orthodoxen Kirchen war anerkannt, andere religiöse Propaganda war strafbar. Im Jahre 1905 trat eine Lockerung ein. Japan hat bis etwa 1850 bei Todesstrafe das Christentum verboten. Im Jahre 1873 trat eine Milderung ein. Die Religionsfreiheit wurde im Jahre 1889 gebilligt. In den islamischen Ländern kam schließlich trotz intoleranter Ablehnung der Gedanke der Religionsfreiheit a u f 1 3 8 .
Auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen von Regierungen und missionierenden Kirchen gilt das Kongoabkommen vom Jahre 1885 nach Oldhams Meinung als die fruchtbarste Verbindung von Staat und Mission. Dieses Abkommen, das von Großbritannien, Deutschland und Portugal abgeschlossen wurde, bot die allgemeinste und beste Erkenntnis der missionarischen Freiheit. Die religiösen, wissenschaftlichen und karitativen Organisationen wurden für das Kongogebiet als Segnungen der Zivilisation geschützt. Garantiert wurden Schutz der Missionen, Gewissensfreiheit, religiöse Toleranz, Zulassung aller Gottesdienstformen ohne Beschränkung. Nach dem Ersten Weltkrieg hat sich das alles geändert. Nationale und rassische Gegensätze zerrissen die Völker. Die deutschen Missionare wurden von den Missionsfeldern verbannt. Im Jahre 1919 wurden von den USA, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan und Portugal erklärt, daß die Garantien des Kongoabkommens (Berlin-Akte) vom Jahre 1885 nur für die Mitgliedsstaaten des Völkerbundes Gültigkeit haben. Das britische Auswärtige Amt beschnitt die Toleranz und religiöse Freiheit. Es verlangte, daß jeder Ausländer für philanthropische, pädagogische und medizinische Tätigkeiten auf britischem Mandatsgebiet eine staatliche Erlaubnis haben müsse 139 . Oldham berichtet, daß die Pionierarbeit der Missionen auf dem Gebiet des Erziehungswesens in weiten Bereichen Afrikas und Asiens weithin anerkannt ist. In einigen Bereichen trägt die Mission die alleinige Erziehungsverantwortung. Neue Systeme national-staatlicher Erziehung sind entstanden, die die staatliche Kontrolle über private Schulinstitutionen verlangen, zu denen die Missionsschulen gerechnet werden. Japan hat ein voll entwickeltes nationales Erziehungssystem. Die Elementarerziehung ist praktisch Staatsmonopol. Die christliche Mission ist nur in einigen Zweigen der Mädchenerziehung tätig. Korea hat sei dem Jahre 1915 staatliche Vorschriften und Lehrplanrichtlinien. China hat infolge der unsicheren Lage keine definitive Regierungspolitik, die das Erziehungswesen ordnet. In Indien ist die Privatinitiative erwünscht. In Ceylon ist Religion kein ordentliches Lehrfach. Südamerika spielt in dem Report Oldhams keine Rolle 1 4 0 .
Oldham kommt nach seiner Analyse der Situation zu der Schlußfolgerung, daß die Arbeitsaufgaben der Missionen und Kirchen bewußt erweitert werden müssen. Sichtbaren Ausdruck fand dieser Wunsch in derGrün138 139
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The Missionary Situation after the War, S. 7 — 1 4 . 1 4 0 Ebda. S. 34 ff. Ebda. S. 15 ff.
dung des Internationalen Missionsrats im Jahre 1921. Diese Erweiterung zur weltweiten Verantwortung inmitten der internationalen Rivalitäten hat zur Voraussetzung „das Prinzip der Freiheit der ganzen christlichen Kirche, um die Christusbotschaft in die ganze Welt zu tragen" 141 . Diese Forderung hatten die Missionskonferenzen in Großbritannien (1919) und USA (1920) gestellt. Toleranz und Dienst stehen auf dem Boden der Humanität. Aus der Perspektive der Freiheit erhalten das Studium der Fakten, die gegenseitige Unterstützung der Missionen und die Förderung des Völkerbundes größere Würdigung. Die Missionen sind zur Loyalität der Regierungen verpflichtet. Die Missionen werden die internationalen Rivalitäten und Konflikte genau beobachten müssen, um zu helfen, daß in der Welt die Kriegsgefahr entschärft wird. Besonderes Augenmerk verdienen die Lebensverhältnisse der Eingeborenen und deren Sprachen. Persönliche Kontakte der Missionare mit den Regierungsbeamten sind nötig. Die Mission muß in ihrem Gebiet der Stadt Bestes suchen. Die theologische Bemühung um die Verkündigung des Evangeliums genügt nicht. Die Mission muß sich um eine Erarbeitung des ganzen sozialen Kontextes bemühen. Das geistliche Leben der christlichen Gemeinde ist mit nationalen, moralischen und sozialen Kräften verbunden 142 . Die Mission ist ohne politische und ökonomische Interessen und folglich freier als andere Gruppen zu Kooperation, Konsultation und partnerschaftlicher Freundschaft. In politischen Fragen braucht der Missionar eine bessere Zurüstung, um wirksamer für Frieden und Versöhnung auf internationalem Spannungsfeld wirken zu können. Es ist ein Unterschied, ob er auf Seiten der Beherrschten oder Herrschenden steht. Die Verquickung von Mission und Politik ist um der weltweiten Verantwortung legitim. Oldham erinnert an den Einfluß, den amerikanische Missionen auf die japanische Regierungspolitik ausgeübt haben. Alle Einflußnahmen müssen „in einer christlichen Richtung" geschehen143. In Afrika muß die Mission gegen eine unchristliche Ausbeutungspolitik protestieren. „Politische Entscheidungen und Handlungen von europäischen Regierungen, die vom wirtschaftlichen Fortschritt der Bürger der herrschenden Macht bestimmt sind, ohne an die Interessen der Beherrschten zu denken, sind im Wesen unchristlich." Hier müssen die Missionare zu Anwälten des Rechtes der Eingeborenen werden. Die britische Missionskonferenz hat dem britischen Staatssekretariat für die Kolonien erklärt, daß eine Politik des privaten Profits moralisch ver141
Ebda. S. 43 ff. The International Review of Missions, Jg. 1914, S.284 und 506. 143 The Missionary Situation after the War, S.52; vgl. audi: Rudolf Wessler, „Sozialethische Aspekte in der Mission" in: „Christliche Gemeinde und Gesellschafts wandel", S.236. 142
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werflich und falsch ist144. Christliche Grundsätze („standards") wollen dem Wohl der ganzen Bevölkerung dienen, die aus Eingeborenen und Weißen besteht. Britische und amerikanische Missionen haben gegen Übergriffe der früheren Kongoverwaltung protestiert. In Indien fragen sich die Missionen, wieweit sie teilhaben sollen an politischen Protesten und Aktionen. Die Gefahr der Vermischung von Politik und Verkündigung ist nicht von der Hand zu weisen. Bei schwerwiegendem Gewaltmißbrauch, brutalen Mitteln und Massakern muß die Mission im Land protestieren von der Grundüberzeugung her, daß der christliche Glaube Liebe zur Person des Menschen, gleich wer er sei, gebietet. In ihrem politischen und sozialethischen Engagement müssen die Missionen sich leiten lassen „von höchster menschlicher Wohlfahrt und der Vervollkommnung haltbarer Reformen" 145 . Um dieses Zieles willen ist auf seiten der Missionen gemeinsame Beratung und sorgfältiges Studium der nationalen Bewegungen erforderlich. Die Mission muß auf ihren fundamentalen Grundsätzen beharren, um die Politik der Nation, aus dessen Kirche sie kommt, und die Bewegung der Eingeborenen, für die sie die Verantwortung trägt, in einer christlichen Richtung zu beeinflussen. Auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen sieht sich die christliche Mission als ein Faktor, der internationales Recht, interrassische Hilfe und guten Willen auf allen Seiten fördert. Hier ist die Zusammenarbeit mit dem Völkerbund ein dringendes Anliegen, um Frieden, faire und humane Lebensbedingungen, Sicherung der Arbeitsplätze, Bekämpfung von Krankheit und Elend und Kontrolle der Mißstände allen Feindschaften zum Trotz zu fördern. Die Mission ist als Partner des Weltgewissens verpflichtet, ihre Erfahrungen, Gedanken, Vorschläge und Empfehlungen der Weltöffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Während der Kriegsjahre ist Oldham in vielen versöhnlichen Äußerungen über Deutschland zu einer Stimme der christlichen Humanität inmitten von Haß und Zerstörung als Anwalt der christlichen Weltverantwortung tätig geworden 148 . c) Verantwortung in der Rassenfrage Oldham hat immer wieder zur Rassenfrage Stellung genommen. Er hat sich dabei von der Überlegung leiten lassen, die er im Jahre 1926 in einem Vorwort geschrieben hat: „Kann die christliche Kirche einen Beitrag leisten zur Lösung der Fragen, die in der Berührung der verschiedenen Rassen in der Welt heute enthalten sind? Wie muß dieser Beitrag aussehen?" 147
Nach dem Urteil von David Stirling war Oldham zu diesen Überlegungen qualifiziert, denn er ist ein Mann, der ein tiefes Verstehen der 144 145 147
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The Missionary Situation after the War, S. 53. 146 Ebda. S. 58. The Christian N e w s Letter, Jg. 1941—1944. Christianity and the Race Problem, 1926, Vorwort.
„human relations" und die „experience of a lifetime" aus der Missionsarbeit mitbringt 148 . Welche Ursachen haben zu den Rassengegensätzen geführt? Rassenvorurteile sind im Leben der Völker eine ernste Tatsache. An der Predigt des Rassenhasses haben alle Rassen mitgeholfen. Die Bücher von Graham Wells „Human Nature in Politics" und von L. Putnam Weale „The Conflict of Colour" geben darüber Aufschluß: Die Majorität der weißen Menschen hat eine definitive unabänderliche Meinung über farbige Menschen. Diesem Vorurteil dienen Gründe, die nicht primär rassischer Natur sind. Sie kommen aus dem Bereich der interrassischen Begegnung als Beobachtungen mit dem Urteil, daß farbige Menschen anders sind. Dieses Urteil ist nicht der Menschennatur angeboren, sondern gewachsen. Ursprünglich hat es nach Lord Bryce „Race Sentiment as a Factor in History" keine rassische Opposition gegeben. Kinder kennen kein Vorurteil. Die suggestive Beeinflussung der Erwachsenenwelt lassen bei Kindern schließlich Negativurteile gegenüber andersrassischen Menschen entstehen. Die Atmosphäre der Kameradschaft in der Schule und im College stumpft das Aufkommen von rassischen Antipathien ab. In der Propaganda des Rassenhasses wird die Beobachtung der Unterschiede der Rassen immer negativ ausgelegt. Man findet Gründe zum Rassengegensatz auf allen Gebieten: im Verhältnis des weißen Unternehmers zu seinen farbigen Arbeitern, in den durch weiße Herrschaft begründeten Schwierigkeiten, in den Unterschieden von Charakter und Mentalität, in Sitten, Familiengewohnheiten, Institutionen, Konventionen, Sprache, in Empfindungen von Superiorität und Inferiorität und im Widerwillen gegen die rassische Mischehe. Dort überall liegen fundamentale Vorurteile. Zu allen Vorurteilen sagt Oldham: „Es gibt keine Veranlassung, die Existenz eines spezifisch universalen Instinkts der rassischen Antipathie zu postulieren. Alle diese Gründe sind mehr moralischer Natur als rassisch bedingt." 149 Pauschal generalisierende Urteile, die die Pluralität in der Singularität ausdrücken wie „der Inder etc.", und Emotionen sind Fehlurteile 150 . Worin ist die Bedeutung der Rasse zu sehen? Die Rasse als letzte Trennungslinie zwischen den Menschen ist ein fundamentaler und entscheidender Faktor in den menschlichen Angelegenheiten. Die Anstrengungen des menschlichen Denkens, die Triumphe der Kunst und die politischen Institutionen haben ihre Quellen in den Rassen. Lothrop Stoddard sagt in seinem Buch „The Rising Tide of Colour", S. 300: „Die Zivilisation ist der Körper, die Rasse ist die Seele." Die moderne Vererbungswissenschaft zeigt, daß unsere anatomische, physiologische und не jsjew H o p e in Africa, 1955, Vorwort. 14
· Christianity and the Race Problem, S. 41 und 42. Ebda. S. 30—45 („Die Gründe des Rassengegensatzes").
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psychologische Originalität bereits in den Keimzellen prädestiniert ist. Diese Hauptwesensmerkmale können durch Erziehung und Hygiene nicht verändert werden. Im Unterschied zu diesen mitgegebenen Erbgütern wird der Mensch in das soziale Erbgut hineinerzogen ш . Entgegen jeder „Sündenbocktheorie" 152 verneint die Vererbungswissenschaft, daß eine Rasse mehr Rang besitzt als die andere Rasse, und daß Rassenmischung notwendigerweise schlecht ist 153 . Die unterschiedlichen Rassen illustrieren die „Tatsache der Ungleichheit". Die natürlichen Begabungen bestehen in ungleicher Weise unter Individuen und Rassen. Es ist noch nicht genügend erforscht, wieweit hierzu angeborene Begabungen und äußere Umstände an dem bunten Bild der Ungleichheiten beteiligt sind. Vielmehr muß in einer Sozialethik, die sich mit der Rassenfrage beschäftigt, der „Tatsache der Ungleichheit" 154 die „Wahrheit der Gleichheit" 1 5 5 gegenübergestellt werden. Die Wahrheit der Gleichheit spricht von der Einheit der menschlichen Natur. Sie sagt, daß die grundlegenden Qualitäten des menschlichen Geistes überall dieselben sind. Die Differenzen sind Teile des Zusammenhangs der Humanität. Alle Menschen besitzen Sprache, Vernunft, Moral und Wahl zu Entscheidungen. Die französische Nationalversammlung des Jahres 1789 hat die Menschenrechte Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit für alle Menschen gefordert. Die Gleichheit vor Gott und die Gleichheit vor dem Gesetz sind die christlichen Grundlagen der Demokratie. Demgegenüber ist die „Ethik des Empire" das unchristliche Gesetz des Stärkeren in der Geschichte, die nach Darwins Theorien die Menschheit in Führer-Ubermenschen und Sklaven-Untermenschen aufteilt. Die Skrupellosigkeit weißer Eroberer in Afrika, Asien und Südamerika stellt die Anwendung dieser Ethik vor Augen. Gegen die „Ethik des Empire" sagt Oldham: „Die öffentliche Meinung muß darauf beharren, daß die Regierung getragen wird von der aufmerksamen Betrachtung des Wohls aller Menschen und nicht von den egoistischen Interessen des Überlegenen und Stärkeren." 1 5 6 Sie muß für den materiellen und moralischen Fortschritt der kleinen schwachen Leute eintreten. Von diesem christlichhumanitären Grundprinzip des Schutzes der Schwachen muß der Sklavenmarkt bekämpft werden und eine konstruktiv-komprehensive Politik der Erziehung, Landwirtschaft und Hygiene geführt werden 157 . In dem Buch „White and Black in Africa" hat sich Oldham im Jahre 1930 kritisch mit den Rhodes-Vorlesungen des General Smuts auseinandergesetzt: 151 152 153 154 155 156
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N e w Hope in Africa, S . 3 2 f f . („Rasse"). Thunberg, Kontinente im Aufbruch, S. 79. New Hope in Africa, S. 32. Christianity and the Race Problem, S.60—75. Ebda. S. 80—93. Ebda. S. 99. i " E b d a . S. 94—107.
Seine Kritik erfolgte spontan auf Grund von Presseberichten, ohne daß er die Buchveröffentlichung abgewartet hat. Smuts ging in seinen Vorträgen davon aus, daß die Leute über die Bedeutung Afrikas nachdenken. Ein Drittel Afrikas gehörte im Jahre 1930 zum britischen Weltreich. Sein Reichtum an Mineralien, Gold, Diamanten, N a h rungsquellen und Rohstoffen läßt bei den Weißen die Versuchung wachwerden, daß sie die Afrikaner als Mittel für ihren eigenen ökonomischen Gewinn ansehen. „Aber ökonomische Interessen sind nur ein Teil der Bedeutung des Lebens. Die Afrikaner haben ihren Wert nicht bloß als Erzeuger und Verbraucher, sondern als menschliche Wesen." 158 Die Frage, die Smuts stellt, ist die: Erkennen die Weißen, daß ihre Pflicht und Verantwortung darin besteht, den Afrikanern zur höchsten Entwicklung zu verhelfen, zu der sie fähig sind? Zu dem Problem des „südafrikanischen Präzedenzfalls" hatte Smuts ausgeführt, daß der Fortschritt Afrikas nur möglich sei durch die Anregung und durch die Unterstützung der fortgeschrittenen Zivilisation Europas. Dieser Konflikt ist in dem Aufeinanderprall von zwei Rechtsansprüchen entstanden: die weiße Seite betont ihren Herrschaftsanspruch und die farbige Seite das Prinzip der Mitbeteiligung an den Privilegien der Gesellschaft.
Die Sympathie des Generals gilt der weißen Herrschaft. Er sagt, daß der Fortschritt Afrikas nur möglich sei nach dem Grundsatz der „Apartheid". Die Gemeinschaft der Europäer muß sich von der farbigen U m gebung abheben. Die Rassen sollen sich in territorial separate Gebiete mit eigenen Institutionen absondern. Den Farbigen soll eingeräumt werden, daß sie sich „entlang ihrer eigenen Linien" (Trennungsgrenzen) entwickeln dürfen. Smuts war zu diesem Vorschlag gelangt, nachdem er zwei falsche Methoden aus der Vergangenheit abgelehnt hatte: die Methode der unter-humanen Bewertung und Behandlung der Farbigen und die andere Methode der Verbrüderung der Rassen. Smuts hatte seinen Vorschlag begründet mit der Feststellung: „Es wurde geglaubt, daß Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit den bösen Afrikaner in einen guten Afrikaner verwandeln könnten." 1 5 9 An anderer Stelle 1 , 0 setzt sich Oldham mit dem General über die Frage der Macht auseinander: Die Geschichte ist ein K a m p f von konkurrierenden vitalen Mächten. Der Wille zur Macht zeigt den natürlichen Wunsch des Menschen nach einem volleren Leben, das sich individuell und kollektiv entfaltet. Macht ist ein Bollwerk gegen die Anarchie. Soziale Macht ist Macht über und für Menschen. Der neue Macht-Realismus der westlichen Zivilisation mit der Ideologie der Arbeit und Leistung ist das Streben der Vernunft, alles zu kontrollieren. Diesem Gedanken Smuts hält Oldham entgegen: Die Kirche ist im Prinzip die Gesellschaft jener Menschen, die sich freiwillig entschlossen haben zu dem Machtverzicht in der Konformität des Geistes Jesu.
Oldham fragt in seinem Buch „White and Black in A f r i c a " , inwieweit sein Vorschlag inhaltlich gefüllt ist mit der Achtung für die Rechte der Eingeborenen und inwieweit sein Vorschlag überhaupt durchführbar ist. 15 » Ebda. S. 34 ff. White and Blade in Africa, S. 1. The Christian News Letter, Supplement 212: „Christianity and P o w e r " ; vgl. auch: Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S . 3 8 7 f f . (Selby N c g o b o : „Wirtschaftliche Entwicklung und Rassenbeziehungen"), S. 462 ff. (Daisuke K i t a g a w a : „Der Mensch als Glied einer Rassengemeinschaft"). 138
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Leistet Smuts Vorschlag nicht Entwicklungen Vorschub, die zu einer Art Ausrottung führen könnten? Die Segregation ist undurchführbar, weil die Masse der Afrikaner außerhalb der Reservate lebt und nicht in Reservate zurückgehen kann. Nicht Apartheid, sondern „ökonomische Assimilation" bietet die konstruktive Lösung des Problems. Weiße und Schwarze müssen zum Wohl Afrikas miteinander partnerschaftlichen Kontakt üben. Wenn Smuts feststellt, daß in Afrika ein Menschentyp mit wundervollen Charaktereigenschaften lebt, und daß diese in hohem Respekt zu bewahren und zu entwickeln seien, dann nimmt Oldham diese Feststellungen auf und empfiehlt der weißen Politik, daß sie diese wertvollen Elemente in der Gesellschaft der Eingeborenen zu erhalten sucht und Vorsorge treibt für ein Wachstum dieser menschlichen Werte zum Wohle Afrikas.
Das fundamentale Regierungsgeschäft ist in Afrika die Erziehung. Erziehung ist sachliche Hilfe zur Förderung von Medizin, Landwirtschaft, Schulen und Sozialarbeit. Diese Hilfe schließt allerdings eine gewisse Kontrolle nicht aus, um Katastrophen zu vermeiden. Das Ziel ist dies: die Afrikaner müssen ihr Leben selbst meistern. Die Kooperation zwischen Europäern und Afrikanern ist die Vorbedingung des Erfolgs. Die „Entwicklung Afrikas" 1 6 1 muß zu einer neuen Politik führen, die einen eigenen afrikanischen Beitrag an die Welt hervorbringt. Smuts verkennt den Afrikaner als „Kindheitstyp" (nach dem Buch von Moton, „Was der Neger denkt"), er verkennt das „politische Problem" 1 6 2 und träumt weiterhin von der Vorherrschaft der Weißen. „Die Linien einer Lösung" 1 6 3 bietet er nicht. Gegen diese „Ethik des Empire" stellt Oldham die christliche Ethik der Demokratie auf der Basis verantwortlicher Politik in Ökonomie und Erziehung. Auf dieser Basis kann die weiße Elite mit ihrer Erfahrung von Wissenschaft und Technik einen großen Beitrag für den Fortschritt Afrikas leisten. Die Gedanken Oldhams aus dem Jahre 1930 sind wertvolle Anregungen für die Gegenwart. Rapide haben sich die Verhältnisse in Afrika besonders in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts verändert. Weithin sind die Weißen abgetreten und haben hinter sidi ein gefährliches Chaos hinterlassen. A f r i k a leidet an Bürgerkriegen. Die Katastrophe im K o n g o und in Nigeria sind Beispiele. Wichtig bleibt der Schatz von Erfahrungen, den Oldham Jahrzehnte vor diesen Vorgängen der Öffentlichkeit unterbreitet hat. Nicht allein Wissenschaft und Technik sind die Fundamente eines Gemeinwesens, sondern das Vertrauen und der Wille zur Zusammenarbeit der K r ä f t e und Gruppen. Besonders sind zu beherzigen die Vorschläge über die weitere Rolle der Weißen. Aus diesen Überlegungen führt ein gerader Weg zu der Entwicklungshilfe als H i l f e zur Selbsthilfe, zu der nicht nur die reichen Staaten mit ihren Regierungen, sondern mit ihren Aktionen die Kirchen und freiwillig karitativen Organsationen sich verpflichtet wissen. Das Ziel ist die bessere Gestalt von menschlich-verantwortlidien Beziehungen auf der internationalen Ebene. 1 6 1 White and Black in Africa, S . 3 4 — 4 4 ; vgl. International Review of Mission, J a n . 1970, S. 16: " W h e n he mentioned Africa his first thought was education." 1 6 2 Ebda. S. 4 5 — 5 5 . 1 6 3 Ebda. S. 5 6 — 7 2 .
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Die internationale Missionskonferenz in Zoute/Belgien im Jahre 1926 hat diese Aufgabe bereits gesehen und den Plan gefaßt, daß ein internationales Institut für afrikanische Sprachen und Kulturen eingerichtet wird. Der Wunsch des General Smuts, die Aktivität der Missionen in eine „Ethik des Empire" einzugliedern, konnte sich nicht erfüllen. Die Missionen haben längst begriffen, daß sie auf dem Wege sind vom Kolonialismus zur Ökumene 104 . Die Alternative Oldhams gegenüber der Ethik des Empire des General Smuts ist die Ethik der „Great Society". In dem Buch Oldhams aus dem Jahre 1926 „Christianity and the Race Problem" wird der Gedanke der „verantwortlichen Gesellschaft" sichtbar, der 22 Jahre später in Amsterdam eine große Rolle spielen sollte. Das Zeitalter der kolonialen Expansion, die blutigen Auseinandersetzungen der Rassen mit dem Tod des amerikanischen Negerführers Dr. Martin Luther King im April 1968, das starre Festhalten an alten Denkvorstellungen und Vorurteilen muß durch das Zeitalter der Großen Gesellschaft überwunden werden. Die physische Einheit der Welt, die Anarchie im westlichen Denken und die Notwendigkeit neuer allumfassender moralischer Werte verlangen die Suche nach dem besseren Weg. „Die Welt ist eine einzige große Gesellschaft."185 Die „Great Society" muß als Leitbild auf der Grundlage einer Glaubensüberzeugung stehen. Dieses Leitbild ist deshalb notwendig, weil nach Albert Schweitzers Kulturethik die gegenwärtige innere Leere und das Fehlen einer Theorie des Universums das Elend der Menschheit verschuldet haben. Oldham hält sich an Schweitzers Buch „The Decay and the Restoration of Civilisation" und sagt, daß wir vor allem eine starke und wertvolle Theorie des Universums finden müssen, um wieder fähig zu werden zur Hervorbringung einer Zivilisation. Der Begriff der „Großen Gesellschaft" bedeutet das Bild der durch die Kräfte von Wissenschaft und Technik solidarisch gewordenen Menschheit und die ethische Aufgabe, die Menschen in diesem riesigen Zusammenhang mit moralisch harmonischen Kräften des Friedens zu verbinden. Drei christliche Prinzipien müssen auf die Great Society einwirken: 1. der Gedanke, daß moralische Werte vorrangig sind, 2. der Gedanke des Wertes der menschlichen Persönlichkeit, 3. die Interpretation des Dienstgedankens ιββ . Diese drei Grundsätze müssen in die Natur und Geschichte der Menschheit einwirken. Diese drei Grundsätze — „Mittlere Axiome" für den Zusammenhang der Menschheit in Gegenwart und Zukunft — leiten sich aus der Glaubensüberzeugung ab, daß die Menschheit das Objekt der 1,4 165 166
Stephen Neill, Mission zwischen Kolonialismus und Ökumene. Christianity and the Race Problem, S. 1. Ebda. S. 14. 93
Liebe Gottes ist. Diese dienende Liebe überwindet die Schranken zwischen den Rassen 1β7 . Oldham fragt nach dem zukünftigen Verhältnis des britischen Commonwealth zu Indien. Er sieht drei Möglichkeiten: 1. Separation (Rückzug der Engländer), 2. Restauration (Wiederaufrichtung der alten aristokratisch-kolonialen Herrschaft), 3. Kooperation (Partnerschaft und Zusammenarbeit). Die dritte Lösung kann nur aus dem guten Willen beider Seiten verwirklicht werden 1β8 . Die Tatsache, daß die weißen Rassen hauptsächlich verantwortlich sind für die asiatische und afrikanische Einwanderung in die westliche Welt, ist eine weitere Variante des Rassenproblems. Das ökonomische Motiv der Erschließung neuer Reichtümer und des Nutzens billiger Arbeitskräfte forcierte die Importierung der Farbigen in die USA. Indische Kulis arbeiten in Natal, Chinesen in den USA und in Kanada als Landarbeiter und Bergleute. Der Sklavenmarkt mit seinen Kopftaxen ist durch die unterbezahlte Tarifentlöhnung der Farbigen abgelöst worden. Die Diffamierung der Behandlung farbiger Arbeiter und die soziale Ungerechtigkeit verlangen eine neue soziale und gerechte Ordnung. Die Menschheit darf nicht mehr in Überlegene und Unterlegene aufgeteilt werden. Oldham erinnert an das Wort eines japanischen Premiers: Es ist klar, daß die Prinzipien des Wohlstands und der Gleichheit, die die Grundelemente der Sittlichkeit darstellen, niemals harmonisieren können mit dem Versuch, in unfreier Weise die Menschheit in superiore und inferiore Rassen zu differenzieren und zu diskriminierender Behandlung ja zu sagen. Wohlstand und Gleichheit basieren auf Gerechtigkeit und Humanitätш.
Gegenüber Haß und Überheblichkeit 170 müssen die Kirchen am gerechten Interessen-Ausgleich mitarbeiten. Zur Frage der rassischen Mischehe gibt Oldham zu bedenken, daß die führenden Nationen der Welt alle aus Mischungen verschiedener Volksstämme stammen. Manche Erscheinungen sind gewiß tragisch: der Mulatte muß in seiner Natur zwei konträre Erbgüter tragen — den Stolz des weißen Mannes und das Gemeinschaftsgefühl des Farbigen. Im Unter1 6 7 Ebda., Kapitel „Die christliche Sicht und ihre Beziehung zu den Tatsachen", S. 15—30. 1 9 8 Ebda., Kapitel „Indien und das Britische Commonwealth", S. 1 0 8 — 1 2 5 ; vgl. International Review of Mission, Jan. 1970, S. 16 'on the basis of Indian experience far more could be done for the African people by the judicious use of voluntary effort than by State management of all schools', S. 1 8 : 'partnership not control'. 1 0 9 Ebda., Kapitel „Einwanderung", S. 126—142. 1 7 0 The Christian News Letter, Nr. 68.
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schied zu den freieren romanischen Franzosen besteht bei den Angelsachsen ein starkes Vorurteil. Aber audi bei ihnen haben sexuelle Impulse die Schranke des Rassenvorurteils niedergerissen. Von sehr großer Bedeutung sind religiöse Unterschiede. Es gibt geographische Gesichtspunkte: je größer die Unterschiede in Zivilisation, Tradition, Moral und Religion bei zwei Menschen sind, um so größer ist der Hinderungsgrund für eine glückliche Ehe. Aber trotz angemessen sachlicher Vorbehalte gegen die rassische Mischehe gilt, daß der menschliche Geist in allen Rassen grundlegend konstituiert ist 171 . In der Ethik der Great Society ist der soziale Ausgleich zwischen den Rassen eine Weltfrage 172 . Damit verbunden ist das Ziel der politischen Gleichheit 173 . O l d h a m sieht sich um und stellt g a n z verschiedene Verhältnisse fest: D i e französische Politik f a ß t Frankreich und die französischen K o l o n i e n zu einem V a t e r l a n d zusammen. In den U S A sind intolerante Verhältnisse. T r o t z der V e r f a s s u n g des J a h r e s 1870 beschränken in den S ü d s t a a t e n Gesetze die N e g e r . D i e F r a g e der Wahl ist in S ü d a f r i k a kompliziert durch die Anwesenheit einer indischen Gemeinschaft. J a m a i c a kennt keine Rassenschranken.
Es heißt bei Oldham: „Wir haben das Recht der weißen Rasse, ihre eigenen Institutionen zu schützen und ihr eigenes Leben zu führen, bedacht. Aber die andere Rasse oder die anderen Rassen haben ein ähnliches Recht zur freien Entwicklung. Dieses Recht wird verleugnet, wenn die anderen Rassen von jedem Anteil an der politischen Macht ausgeschlossen werden. Das Machtmonopol, das die weiße Rasse als ihr Verteidigungsziel proklamiert, kann nicht als Instrument der Aggression und Oppression erklärt werden. Die Erfahrung hat erwiesen, wie schnell aus der Behauptung, daß kein Neger wählen soll, die Behauptung werden kann, daß kein Neger lernen, arbeiten und leben soll." 1 7 4 Das Prinzip der permanenten Subordination, daß die eine Rasse zur Dienerin der Interessen der anderen Rasse macht, muß durch das Prinzip der Partnerschaft in einem gemeinsamen Leben überwunden werden. Das Wahlrecht mit der Frage der Wahl von Frauen ist von entscheidender Bedeutung. In der Kommunal-Repräsentation gilt nicht mehr das Privileg einer Gruppe 1 7 5 . Wie steht Oldham zu der auf uns zukommenden „Bevölkerungslawine"? Dieses Problem wird die kommende Weltgesellschaft zutiefst 1 7 1 Christianity a n d the R a c e P r o b l e m , K a p i t e l „Mischheirat", S. 143 ff.; vgl. in „ R a s s e , Kirche und H u m a n u m " , K l a u s - M a r t i n Beckmann, ,Die H e r a u s f o r d e r u n g der Kirchen durch die R a s s e n f r a g e . D i e R a s s e n f r a g e in der Geschichte der ökumenischen Bewegung.' S . 3 4 2 f . : Im G e g e n s a t z zu dem nachbarschaftlich-gesellschaftlichen V o r urteil gegen die .Intermarriage' und gegenüber leichtfertiger Eheschließung sagt O l d h a m letztlich ja, „wenn einzelne Personen mit offenen A u g e n f ü r die K o n s e q u e n z e n sich entscheiden, dieses Abenteuer zu w a g e n und miteinander in H a r m o n i e zu leben." 1 7 2 E b d a . , K a p i t e l „ S o z i a l e Gleichheit", S. 158—174. 1 7 3 E b d a . , K a p i t e l „Politische Gleichheit", S . 1 7 5 — 1 9 5 . 1 7 4 E b d a . S. 189—190. 1 7 5 E b d a . S. 195.
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bewegen. Die menschliche Natur ist sehr fruchtbar. Bald wird es mehr Menschen geben als Nahrungsmittel. Der Zugang zu den Rohstoffen ist den Nichtweißen schwerer gemacht als den Weißen. Ohne ein christliches Prinzip muß dieser ökonomische Wettlauf zu einem brutalen Ringen werden. Die Weißen verdoppeln sich in 80 Jahren, die Gelben und Braunen in 60 Jahren und die Schwarzen in 40 Jahren. [Verantwortliche Familienplanung und gerechtere Verteilung der Mittel des Lebens sind die Gesichtspunkte an dem weltweiten Problem der Übervölkerung 17e . Im Ringen mit den Sachproblemen der Rassenfrage sind „leitende Prinzipien": 1. die Rasse darf nicht ignoriert oder unterschätzt werden, 2. die Rasse darf nicht die Einheit und den Wert des Individuums ausschalten, 3. die Rassenunterschiede müssen der Erfüllung eines allgemeinen Zwecks oder Ziels dienen. Die Faktoren, die die Rassen voneinander trennen oder aufeinander beziehen, sind nicht ethnologischer oder biologischer Natur, sondern ethischer Natur. Den Beitrag des Christentums in der Lösung sozialer und rassischer Probleme, den Troeltsch in seinem Werk über die Soziallehren der christlichen Kirchen in neuen Konzeptionen gesehen hat, sieht Oldham in der Konzeption der Ehrfurcht des Lebens bei Albert Schweitzer. Die Quelle und die Inspiration der Ehrfurcht vor dem Leben liegt im christlichen Glauben. Dieser Glaube muß sich revolutionär auswirken. Das bestätigt auch Adolf von Harnack in seinem Buch „Die Mission und die Ausbreitung des Christentums": die revolutionäre Beurteilung des Menschenwertes hatte zur Folge, daß die Christen für den sozialen, moralischen und geistig-geistlichen Fortschritt der Menschheit eingetreten sind. Das revolutionäre Christentum bittet das Weltgewissen, seine Augen zu Gott zu erheben und trotz aller psychologischer Hindernisse den Menschen in jedem Menschen zu lieben. „Unsere Liebe gründet sich nicht auf einer absurden und unmöglichen Bemühung, sondern auf einer tiefen und sicheren Wirklichkeit." 177 Die Menschheit mit den Rassen gleicht einem Leib mit vielen Gliedern, von denen sich kein Glied über das andere erheben kann. Alle Rassen gehören zum „Commonwealth" des göttlichen Königs. Der Reichtum dieses Commonwealth der Wahrheit, Liebe und Gerechtigkeit besteht in der Vielfalt von Rassen und Völkern. Der Gedanke an die Königsherrschaft Gottes will die Trennung überwinden, die durch falsche Ideen im Bewußtsein der Menschen entstanden sind. Der Wandel des menschlichen Geistes führt die zertrennte Menschheit zurück 176 177
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Ebda., Kapitel „Bevölkerung", S. 197—213. Ebda., Kapitel „Führende Prinzipien", S.223.
in die Schöpfung der Harmonie und in die Gemeinsamkeit des Gottesdienstes. In allen will Christus leben 178 . Die praktischen Schritte zur Lösung des Rassenproblems macht Oldham von fünf Forderungen abhängig: 1. E r f o r d e r t eine U m k e h r des menschlichen Geistes durch die kreative Macht des Geistes Christi. D e r erneuerte Geist setzt über Regierungsaktionen personale K o n t a k t e . Freundschaft ist der Schlüssel z u m Verstehen. 2. E r f o r d e r t , d a ß falsche Vorstellungen durch sachliches S t u d i u m der Wirklichkeit überwunden werden. D i e Kirche d a r f nicht mehr durch Schweigen versagen. 3. E r f o r d e r t interrassische Z u s a m m e n a r b e i t in Wort u n d T a t . 4. E r ruft Erziehung und Presse zur B i l d u n g der öffentlichen Meinung auf. 5. E r ruft zum missionarisch-diakonischen Zeugnis der Christenheit a u f . Sie muß die christliche Botschaft allen Menschen bekanntmachen, die F u n d a m e n t e der ewigen O r d n u n g zeigen und Bruderliebe v o r l e b e n 1 7 e .
Die Ethik der Great Society hat als Leit- und Zukunftsbild „die universale Gemeinschaft des Loyalen". Inmitten von nationalen Rivalitäten gibt es heute Gemeinschaft und Zusammenarbeit von Menschen loyaler Gesinnung, die als die Verheißung eines besseren Tages bereits existiert. Diese wirkliche Gemeinschaft braucht Stärkung. An diesem Ort der Weltwirklichkeit haben Glaube und Liebe der Kirche ihre Aufgabe. Das Band, das Christus einigend um Rassen, Klassen und Geschlechter legt, ist mächtiger als alle Kräfte des Bösen „,Fellowship' (Freundschaft) ist ein Bei-Produkt des missionarischen Christusgeistes." 180 Die neue Basis der Assoziation ist eine religiöse Basis: Das Christuswort ,wer den Willen tut meines Vaters im Himmel, der ist mein Bruder, meine Schwester und meine Mutter' sieht Gottesdienst und Zusammenleben und -arbeiten als eine Einheit. „Die Schöpfung einer Gemeinschaft, in der Menschen zusammen leben in gegenseitiger Hilfe und im Dienst füreinander als Brüder, und in der ihre Unterschiede eine Quelle gegenseitiger Bereicherung sind, ist möglich, weil sie schon da ist. Wahrheit und Güte, Verstehen und Liebe können im Leben der Menschen manifestiert werden, weil sie zu einer Welt gehören, die jenseits der Zeit existiert. Die universale Gemeinschaft des Loyalen (— der aufrichtig brüderlichen Gesinnung) ist eine Möglichkeit und eine Aktualität, denn diese Gemeinschaft bezieht ihr Leben von Gott und lenkt ihr Leben zu Gott, der des Menschen ewige Heimat ist." 1 8 1 Zehn Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg hat Oldham in seinem Buch „New Hope in Africa" den Zielen der CAS ( = Capricorn Africa Society) 1 7 8 E b d a . , K a p i t e l » F ü h r e n d e P r i n z i p i e n " , S. 2 1 4 — 2 2 9 . " » E b d a . , K a p i t e l „Praktische Schritte", S. 2 3 1 — 2 4 6 . 1 8 0 E b d a . S. 258. 181 Ebda., Kapitel „ D i e universale Gemeinschaft des L o y a l e n " , S. 2 4 7 — 2 6 5 ; vgl. International R e v i e w of Mission, J a n . 1970, S . 2 0 " O l d h a m felt it to be his vocation to remove the barriers between religion a n d the life of the w o r l d . "
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Kosmahl, Ethik
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neue Tiefe und Bedeutung gegeben. Diese Bewegung der Sammlung von Menschen aller Rassen und Konfessionen betreibt die Politik der Schaffung einer integrierten und interrassischen Gesellschaft 182 . Sie setzt sich auseinander mit dem unnachgiebigen Anspruch der Weißen auf Vorherrschaft und mit dem afrikanischen Nationalismus. Sie will eine Gesellschaft ohne Rassendiskriminierung mit gleichen Möglichkeiten und mit gleicher Verantwortung für alle. Sie will die besten Normen und Traditionen der westlichen Zivilisation und des einheimischen Afrika zu einer fruchtbaren Synthese bringen. Oldham sieht in der CAS einen neuen Weg. Die Entwicklung von „Capricorn Africa", d.h. des Afrika südlich der Sahara, verlangt eine immense Anstrengung der menschlichen Intelligenz und Energie. Hier liegt eine Aufgabe unerhörter Größe vor, die der Öffnung des amerikanischen Kontinents entspricht. Noch nicht genutzter Reichtum, Gesundheitswesen, Technik, Erziehung, die Vielfalt von Hunderten von Sprachen und die drei großen um Afrika ringenden Mächte — afrikanischer Nationalismus, westliche Zivilisation und asiatischer Kommunismus — verlangen gewaltige Anstrengungen zum Wohl Afrikas. Europäer und Asiaten müssen sich mit afrikanischen Bestrebungen vereinen. Dies gehört zu der lebendigen Kraft einer neuen Idee 1 8 3 . Die U N E S C O (United Nations Educational Scientific and Cultural Organization) bietet der C A S Erfahrungen und Anleitung für das Wachstum einer Gesellschaft auf der Basis von interrassisiher Kooperation.
Die Politik der CAS, die davon ausgeht, daß alle Menschen trotz unterschiedlicher Anlagen gleich geboren sind, gleiche Würde vor Gott haben und gemeinsame Pflichten füreinander haben, fordert die Freiheit von der Rassendiskriminierung. Sie will ihr Ziel erreichen 1. durch die Schöpfung eines allgemeinen Patriotismus, der notwendigerweise die Rassendiskriminierung überwindet, 2. durch die Wirksamkeit der Normen der Zivilisation.
Dieser politische Weg ist wesentlich menschlicher Natur. Der Respekt vor jedem Menschen und das Vertrauen zwischen den Rassen bauen die neue feste und progressive Gesellschaft. In Toleranz und Geduld muß die Gesetzgebung die Fundamente legen für die interrassische Gesellschaft 184 . Die Normen der Zivilisation sind die gleichen Rechte und Pflichten für alle Menschen. Die Grundlage der Gesellschaft ist nicht die Macht, sondern das Recht. Besondere Beachtung verdient der Übergang aus dem relativen Kollektivismus des Stämmetums in die freie Gesellschaft der verantwortlichen Individuen. Die freie Gesellschaft muß eine religiöse Grundlage haben. Ist die Grundlage nur ökonomischer Natur, dann läuft sie Gefahr, ein kollektiver und totalitärer Staat zu werden. Das Christentum ist die stärkste Macht in der Überzeugung des Wertes, der Würde und Heiligkeit der menschlichen Person. So gibt es auf allen Seiten Afrikaner 182 183 184
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New Hope in Africa, S. 13. Ebda., Kapitel „Greatness", S. 2 4 — 3 1 . Ebda., Kapitel „Freiheit von der Rassendiskriminierung", S. 4 1 — 5 2 .
und Weiße, die in geistiger Auseinandersetzung die Personwürde des Menschen gegen die kollektive oder totalitäre Verleugnung verteidigen 185 . Ein interrassischer, allgemein-afrikanischer Patriotismus ist zum rechten Gebrauch der Macht geeignet 186 . Die Erziehung durch Eltern und Schule ist von überragender Bedeutung 187 . Die Zukunft Afrikas hängt von der Erziehung der Menschen ab. „Schlüssel, die die Sache gewinnen", das heißt, die zum Erfolg der Politik der CAS führen, sind alle Fakten, die in die Grundlegung einer interrassisch reichen Gesellschaft eingegliedert werden müssen: die natürlichen Schätze und Kräfte der Erde, Erziehung und Gemeinschaft der Menschen, sozialgerechte Nutzung der Mittel und eine gerechte Verteilung des Kapitals 188 . Afrika ist ein Kontinent des Umbruchs. Die CAS will in eine neue Richtung weisen, denn der Haß zerstört den Kontinent. Die christliche Humanität führt in die Partnerschaft. Die Lösung der Annäherung der Rassen muß aus Afrika selbst kommen. Wissenschaft, Technik, Industrie und Wirtschaft müssen ihr dienen. Sie wird geboren aus einer neuen Geisteshaltung, aus einem neuen Gemeinschaftsbewußtsein und aus dem Willen zur gemeinsamen Verantwortung. Die Menschen sollen ihre Humanität durch Beziehungen mit anderen Menschen verwirklichen. Paul Tillich hat gesagt, daß Macht, Liebe und Recht zusammen die Wirklichkeit sind. Die neue vitale Bewegung der „Capricorn Africa Society", die die wachsende Unterstützung von Menschen aller Rassen und Konfessionen erhält, ist ein Fingerzeig, daß keine Zeit zu verlieren ist. Das Morgen ist schon das Heute 189 . Die Bewegung der CAS arbeitet an der zukünftigen Gestaltung des Lebens der interrassischen „Great Society". Der entscheidende Faktor hierfür ist die Erziehung. In seinem Buch „Die Erneuerung des Menschen in Afrika" aus dem Jahre 1931 behandelt Oldham den Beitrag der christlichen Erziehung an der Zukunftsgestalt Afrikas 1 8 0 : In der gegenwärtigen Öffnung des afrikanischen Kontinents, dessen Fruchtbarkeit und Bodenschätze von höchster Bedeutung sind, ist die Sphäre der „human relations" zwischen Weißen und Schwarzen von außerordentlicher Wichtigkeit. Wird der A f r i kaner an der Entwicklung seiner K r ä f t e gefördert oder gehindert? Er muß seinen Beitrag leisten für das .common life of mankind'. Seine spiritual future' steht auf dem Spiel. Julian Huxley hat in „Africa View" hervorgehoben, daß A f r i k a als Kontinent gleichrangig an Bedeutung und Mannigfaltigkeit ist wie seine Sdiwesternkontinente. ,Aber er ist der einzige Kontinent, der noch nicht auf die ihm gemäßen Wege gestellt worden ist.' A f r i k a hat die Möglichkeit der Entwicklung einer eigenen charakteristischen Zivilisation, ohne daß das Alte zerstört werden müßte. ,So ist unsere Betrachtung die Erneuerung (Wiedergeburt) des Menschen als Individuum und als Glied der 185 186 187 188 189 190
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Ebda., Kapitel Ebda., Kapitel Ebda., Kapitel Ebda., Kapitel Ebda., Kapitel The Remaking
„Normen der Zivilisation", S . 5 3 — 6 1 . „Zur Selbstregierung", S. 62—70. „Die menschliche Ware", S. 71—76. „Chiels that winna ding", S. 77—83. „Die verändernde Flut", S. 84—97. of Man in Africa, 1931.
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Gemeinschaft. Die Rolle der Schule ist wesentlich. Neben der Schule erhält die Öffentlichkeitsarbeit die Rolle eines Erziehungsfaktors. In die Verantwortung der Erziehung sind die europäischen Regierungen, die Weißen in Afrika, die christlichen Kirchen und die Afrikaner selbst einbezogen.
Gewiß ist der Anteil der Erziehungsarbeit der christlichen Missionen groß gewesen, doch die Situation hat sich verändert. Regierungen, Industrie und Handel haben der Mission die alleinige Erziehungsarbeit aus der Hand genommen. Das bedeutet nicht, daß die christlichen Missionen sich kraftlos und gleichgültig zurückziehen dürfen. Vielmehr liegt der Beitrag der christlichen Erziehung darin, daß sie die progressive Evolution einer koordinierten Politik im Licht der missionarischen Verantwortung ernst nimmt und sie auf die lebendigen Kräfte des modernen Afrika bezieht 191 . Oldham beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Erziehung und missionarischem Ziel. Was ist Erziehung? Erziehung ist nicht nur Wissensvermittlung, sondern bereits in der Schule „Er-ziehung", das heißt Hinlenken auf ein geistliches und geistiges Ziel (spiritual purpose) innerhalb einer Gemeinschaft des Lernens und Strebens (fellowship of learning and striving). Der christliche Glaube will nicht nur in einen religiösen Wissensstoff einführen, sondern in ein neues Leben, in die Rettung (salvation) des Menschen. Die Kirche muß sich dafür interessieren, ob die Schule sowohl in technischer wie geistig-geistlicher (charakterlicher) Hinsicht eine echte Lebenswirklichkeit aufzeigen kann. Die christliche Schule muß das Ziel sein, in der die Kinder die wahre Bedeutung des Christentums für ihr Leben kennenlernen. Die Welt, die Gott geschaffen hat, faßt nicht allein Individuen, sondern Rassen, Stämme und Nationen in den Schöpfungszusammenhang. In der Perspektive des interrassischen Schöpfungszusammenhangs geht es um die Bedeutung der Verantwortung, Loyalität und Bindung an die Gemeinschaft. Eine Elite muß in Selbstdisziplin die fundamentalen Überzeugungen von der Bedeutung und dem Ziel des Lebens vertreten 192 . Oldham empfiehlt für Afrika in der Erziehung eine Synthese von Staatsaufsicht und Privatinitiative. Es gibt zwei Gründe des christlichen Widerstands gegen ein Erziehungsmonopol des Staates: 1. Die Zielsetzung (outlook) der modernen Gesellschaft ist weithin säkular. Die führenden Verwaltungs- und Schulbeamten sind aggressivoppositionell gegenüber der Religion eingestellt. 2. In der säkularen Gesellschaft wird die Erziehungsverantwortung weitgehend aus der technisch-utilitaristischen Perspektive betrachtet, ohne an das christliche Lebensverständnis zu denken. Der christliche Erzieher ist der Außenseiter. Der Beitrag des Staates zu einer christlichen Er181 11)2
100
Ebda., „Einführung", S.9—16. Ebda., „Erziehung und missionarische Zielsetzung", S. 17—26.
ziehung hängt davon ab, ob er die Gesellschaft als eine „community" ansieht, in der die Religion lebendige und praktische Realität ist. Das Mißverständnis, daß das Christentum eine Zusammenfassung von Fakten und Lehren (a body of facts and doctrines) ohne einen lebendigen Bezug zum praktischen Leben sei, resultiert aus gewissen traurigen Erfahrungen, die in einem abschreckenden Religionsunterricht an ärmlichen Missionsschulen zu suchen sind. Durch eine negative Missions-Erziehungspraxis ist der Graben von Lehre und Leben vertieft worden. Demgegenüber fordert Oldham, daß die kreativen Energien im christlichen Glauben freigelegt werden, um die Grundlage der gesamten Erziehung mit den beteiligten menschlichen Institutionen neu zu überprüfen 193 .
Was ist christliche Erziehung? Von der christlichen Schule muß ein kreativer Einfluß in das Leben Afrikas ausgehen, denn Christus ist die Mitte der Erziehung. Die wahrhaftigste Erziehung kommt aus der Verbindung mit Personen. Die christliche Schule muß ihre Schüler in den lebendigen Kontakt mit der Wahrheit und Gnade bringen. Sie muß in eine lebendige Gemeinschaft einführen, die von Vertrauen, Liebe und Antwort regiert wird. Die Lehre der Bibel interpretiert das Menschenleben nicht als bindungslosen Individualismus, sondern als Gemeinschaft, in der Christus offenbar gemacht wird. „Christentum ist in seinem Wesen eine Beziehung von Liebe und Vertrauen." 1,4 Die christliche Schule muß die Eingeborenen dahin führen, daß sie für ihr Volk und Leben einen neuen Weg sehen lernen. „Die Teilhabe am Leben einer solchen Gemeinschaft und die Annahme ihres Geistes ist von größerem Einfluß auf die Charakterbildung als die direkte Belehrung." 195 Die christliche Erziehung führt zunächst den Menschen in die Begegnung Gottes. In dieser Begegnung haben Gehorsam und Freiheit ihre Wurzeln. Der Mensch findet sein wahres Leben in der Liebe und im Gottesdienst. Das Vertrauen auf die Kraft des Heiligen Geistes ist ein wichtiger Faktor in der christlichen Erziehung 19β . Die Schüler müssen die Bedeutung des Gottesdienstes in der Gemeinde und im persönlichen Leben begreifen lernen. Der Gottesdienst einer christlichen Schule sollte Ausdruck aller ihrer Aktivitäten sein. Disziplin und Lehrplan mit bestem sachgerechten Unterricht dienen diesem Ziel 197 . Die Arbeit der Schule kann nicht getrennt werden vom Leben der Volksgemeinschaft. Afrikas eigenes Erbe und Zivilisation des Westens sind Faktoren in dem größeren Ganzen. Die afrikanische Gesellschaft ist eine lebendige organische Einheit. Knak hat die Missionen gefragt, ob ihre Erziehungsarbeit das Individuum aus der lebendigen organischen Einheit der sozialen Lebenswirklichkeit Afrikas herauslösen will. Oder will sie dem Individuum helfen, daß es in und für die Gemeinschaft lebt? Knak war zu diesen Fragen bewegt durch Gutmanns Feststellung, daß ein falscher individua193 194 197
Ebda., „Kann die Erziehung dem Staat überlassen werden?", S. 27—37. 195 194 Ebda. S. 40. Ebda. S. 42. Ebda. S. 44. Ebda., S. 48 („Was ist christliche Erziehung?", S.38—49).
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listischer Zug innerhalb des christlichen Erziehungsprogramms die konstitutiven Ordnungen der Familie, der Sippe und des Stammes zerstören kann. Die beiden Bücher Gutmanns „Freies Mensdientum aus ewigen Bindungen" und „Gemeindeaufbau aus dem Evangelium" wenden sich gegen die sublimste Form von Arroganz des Weißen und sagen, daß die hauptsächliche Aufgabe des Missionars nicht die Belehrung ist, sondern die Gemeinschaft.
Oldham bekennt sich zu diesen Feststellungen: das christliche Ziel muß sein, daß die lebendigen Energien des alten Afrika erneuert und verlebendigt werden durch die Berührung mit dem Evangelium. Der Respekt vor dem Erbe und der Individualität des Afrikaners verbieten die Zerstörung des Alten, das heißt der Muttersprache, der Traditionen und Lebensgewohnheiten. Das Evangelium will in die Lebensbereiche des Afrikaners kommen, um ihn darin von der Macht des Bösen, der Korruption und der Verstümmlung seines wahren Lebens zu befreien 198 . Es ist unmöglich, daß die christlichen Missionen die ganze Verantwortung für die Erziehung der Menschen in Afrika tragen. Sie wissen, daß weithin die dörfliche Gemeinschaft die am meisten die Menschen prägende Kraft ist. Im Dorf werden die Kenntnisse und Erfahrungen der Alten an die Jungen überliefert. Die Grundlagen dieser patriarchalischen Erziehung waren die Kräfte des Stammeslebens, die Treue zur Blutsverwandtschaft und die Achtung der Alten. Westermann hat auf diese überlieferte Form der afrikanischen Stammeserziehung aufmerksam gemacht. Die Schule steht mitten im Stamm. Sie muß neues Wissen von Medizin, Landwirtschaft, Tierzucht, Frauenbildung und Sozialarbeit vermitteln. In dieser bäuerlich-dörflichen Gemeinschaftsform haben die Trennungslinien von profanem und sakralem Bereich aus der westlichen Zivilisation kaum Bedeutung. Die bäuerlich-dörflichen Ideale der Missionen haben die ganze Gemeinschaft im Auge 199 . Die Erziehung soll grundsätzlich durch das Medium der Muttersprache geschehen. Die Bildung in europäischen Sprachen kommt nur in der höheren Schulbildung in Frage 200 . Die Lehrerbildung ist sehr wichtig. Sie sind die Vermittler des Neuen in die alten Lebensformen. Die Kirche muß sich um die Zurüstung von Katecheten bemühen. Um den Landlehrer im Blick auf seine Aufgabe im Dorf, im Arbeitsleben, für das soziale Klima und für seine christliche Unterweisung auszubilden, schuldet ihm die Mission die beste Hilfe. Die Seminare müssen leicht erreichbar sein. Afrika hat bisher unter unfähigen Buschlehrern gelitten. Die Missionspolitik muß sich von den beiden Gesichtspunkten leiten lassen: 1. die Missionen müssen ihre eigenen Lehrer selbst ausbilden, und 2. muß die Ausbildung erstklassig sein 201 . 188 199 200 201
102
Ebda. S. 49—63, „Das Neue und das Alte". Ebda., „Kirche, Schule und Gemeinschaft im afrikanischen Dorf", S. 6 4 — 7 1 . Ebda. S. 1 4 9 — 1 5 1 . Ebda., „Die Ausbildung der Lehrer", S . 7 2 — 8 5 .
Neben der Lehrerbildung ist die Förderung der Elite in Afrika wichtig. Die Erziehungsverantwortung der Missionen gilt hier den Universitäten. In der Universität müssen Afrikaner und Europäer partnerschaftlich in der Kooperation und Konzentration verbunden sein, um die eingeborenen Kulturkräfte und die nationalen Tendenzen konstruktiven Zielen dienstbar zu machen 202 . Die Erziehung von Frauen und Mädchen in der einfachen Hilfe wie in der regulären Schulbildung soll der Familie und dem sozialen Leben zugute kommen 203 . Die Mitarbeiterschulung ist um der Aufgabe willen zu fördern, die dieser Stab in der gesamten Erziehungsverantwortung einnimmt. Die Erziehenden müssen selbst Vorbild sein in der Freude am Lernen und Dienen, in der Übernahme von Verantwortung, Verpflichtung und Liebe zu ihren Landsleuten. Christlicher Glaube und Vertrauen müssen in ihrer Gemeinschaft präsent sein. Die europäischen Mitarbeiter müssen von der Bruderliebe zu den Afrikanern erfüllt sein. Zur guten Allgemeinbildung der Missionare gehören neben Bibel und Theologie Kenntnisse des bäuerlichen Lebens, der Landwirtschaft, der Ökonomie, der Anthropologie und der Institutionen der Gemeinschaft der Eingeborenen 204 . In einem Uberblick zeigt Oldham die Situation des Verhältnisses von Mission und Regierung in Afrika: In den britischen Gebieten wird die Z u s a m m e n a r b e i t gefördert, die südafrikanische U n i o n zeigt Wohlwollen, im K o n g o schützt die belgische R e g i e r u n g die Mission unter dem G r u n d s a t z der religiösen Gleichheit v o n K a t h o l i k e n und Protestanten in einem weitreichenden System v o n Busch-Schulen, Stationsschulen u n d Zentralschulen. D i e französischen M a n d a t s g e b i e t e halten a m S t a a t s m o n o p o l des Unterrichtswesens fest. Ähnlich v e r f ä h r t P o r t u g a l . Grundsätzlich gilt, d a ß die Missions-Erziehungspolitik die S t a a t s k o n t r o l l e anerkennt, aber Partnerschaft und Z u s a m m e n a r b e i t erstrebt. Sie lehnt die kirchliche B e v o r m u n d u n g ab, denn „ w a h r e D e m u t w i r d nie die Perspektive der Ziele G o t t e s verlieren, die größer als unsere Ziele sind u n d nicht allein in der Arbeit der institutionellen Kirche erfüllt werden, sondern d a r ü b e r hinaus in V e r w a l t u n g , Industrie, H a n d e l u n d W i s s e n s c h a f t . " 2 0 5
Das Problem der Erziehung in Afrika verbietet die Haltung des Zuschauers. Die christliche Konzeption schließt die Fortschritte von Wissenschaft und Technik ein. Wenn die Kirche aufhört, sich für ökonomische, soziale und intellektuelle Fortschritte der Afrikaner auf humanitärem Gebiet zu interessieren und sich allein auf die kirchliche Seelsorge beschränkt, dann würde sie der Trennung von religiösem und menschlichem Wachstum Vorschub leisten und leugnen, daß in Gottes Erlösungsziel der humanitäre Fortschritt eingeschlossen ist. Eine koordinierte Erziehungs202 203 204 205
Ebda., Ebda., Ebda., Ebda.,
„Afrikanische Führerschaft", S. 86—96. „ D i e Erziehung von Frauen und M ä d c h e n " , S . 9 7 — 1 0 7 . „ D a s Finden und die Schulung der M i t a r b e i t e r " , S. 108—117. „Missionen und R e g i e r u n g e n " , S. 118—136, bes. S . 1 3 6 .
103
politik der Missionen und Kirchen ist um der gemeinsamen Verantwortung für den afrikanischen Menschen dringend nötig, denn Erziehung ist die Qualität unseres Lebens mit Gott und Mitmenschen20e.
5.
Zusammenfassung
Die zusammenfassende Betrachtung der sozialethischen Theologie Oldhams enthält die Frage nach dem Standort Oldhams inmitten der theologischen Lehrrichtungen. Zweifellos ist er dort zu suchen, wo auf der protestantischen Seite an einer Erneuerung des Naturrechts gearbeitet wird. Von Oldham gilt das gleiche, was Hans Welzel in seinem Buch „Naturrecht und materiale Gerechtigkeit" in dem Kapitel „Die Erneuerung des Naturrechts und die Rechtstheologie" von Emil Brunner schreibt als dem führenden Theologen in der Bemühung um die Naturrechtsinterpretation: „Die Erneuerung des Naturrechts auf katholischer Seite hat ihr protestantisches Gegenstück in dem Buche über ,Gerechtigkeit' des Züricher Theologen Emil Brunner gefunden. In ihm unternimmt Brunner, ein aristotelisch-stoisches Naturrecht auf der Grundlage der göttlichen Schöpfungsordnung mit höchst konkreten Inhaltsbestimmungen zu entwickeln. Jedem Geschöpf sei mit der Schöpfung und mit der in der Schöpfung sich manifestierenden Seinsgestalt sein Lebensgesetz gegeben. Hinter dem Naturgegebenen stehe ein heiliger Gotteswille; dieser sanktioniere die Naturtatsache als etwas, das von uns respektiert sein will. Eine Ordnung, die der Ungläubige einfach eine Naturordnung nennt, wird im Glauben anerkannt als etwas, das nicht nur so ist, sondern so sein soll. Das Natürliche müsse als ein Gottgewolltes beachtet und anerkannt werden. Das Naturgemäße wird als ,gottgeschaffene Naturordnung' also wieder zum Wertkriterium des sozialen Verhaltens." 207 Welzel sagt in seinem Buch, daß das evangelische Rechtsverständnis allein auf die Schrift verwiesen ist. Das Bemühen, von der Schriftaussage das Recht zu formulieren, ist zweifellos bei Oldham vorhanden. Die Bedeutung der Offenbarung läßt audi bei Oldham die Rechtsinhalte thetisch verstehen. An welche Teile der Offenbarung soll die Rechtserkenntnis ansetzen? Es gibt hierfür drei Ansätze: 1. der noachitische Bund als Offenbarung des göttlichen Erhaltungswillens, 2. die Erlösungstat Christi als die Offenbarung der Königsherrschaft Gottes und 3. die militärische Beziehung der Erhaltungsordnung auf die Erlösungstat Christi. Oldhams Denken geht vom zweiten Ansatz aus, den Welzel als den christologischen Ansatz beschreibt. Mit Karl Barth, Ernst Wolf und Jacques Ellul wird hier der Gedanke deutlich gemacht, daß Christus der König aller Mächte und Gewalten ist. Zu diesem Ansatz gehört die Kritik gegenüber 208 207
104
Ebda., „Aktion", S. 1 3 7 — 1 4 8 . Hans Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 224.
dem Staat. Die Kirdie als die legitime Inhaberin der Heiligen Sdirift ist das Medium der Rezeption des göttlichen Rechts im weltlichen Bereich. Die Theologen, die diesem Denktypus zugehören, gehen alle davon aus, daß die biblisdien Weisungen zwar keine Rechtssätze, aber doch Rechtsgrundsätze für die Rechtsgestaltung enthalten. Die biblischen Weisungen füllen die formalen Schemata des Gerechtigkeitsgedankens mit eindeutig verpflichtendem Gehalt. Die Führung und Leitung des Heiligen Geistes ist entscheidender als Vernunft und Gewissen für die Beantwortung der Frage, welche biblischen Weisungen überzeitlich und welche Worte zeitbedingt sind. „Gegen die Auswertung der Bibel zur Gewinnung überzeitlicher Weisungen' für das Recht macht die christologische Richtung geltend, daß damit das Nein zum Naturrecht nicht radikal ausgesprochen werde. Das göttliche Gebot sei in der Bibel eine geschichtliche Wirklichkeit und keine zeitlose Wahrheit. Kein Wunder, daß man es, wo man es als zeitlose Wahrheit verstehen wollte, faktisch immer nur in irgendeiner auch dem Text gegenüber mehr oder minder willkürlichen Deutung und unter allerlei Erweiterungen und Zusätzen aus dem Schatz des Naturrechts und der Tradition wirklich anwendbar und gebrauchsfertig machen konnte." 208 „Der Gedanke, aus dem Liebesgebot eine juristische Generalklausel zu machen, verbietet sich von selbst. Vom Grundgedanken aus, daß Christus der Herr über Kirche und Staat ist, kommt Karl Barth zu dem Schluß, daß Kirdie und Staat sich wie zwei konzentrische Kreise verhalten: Die rechte Kirdie und der rechte Staat stünden wie Urbild und Abbild zueinander." 209 „Die heidnische Bürgergemeinde lebt davon, daß eine solche Führung der Blinden ihren Bestand und ihre Funktion immer wieder möglich gemacht hat." 210 Es ist hervorzuheben, daß der Gedanke der „verantwortlichen Gesellschaft" oder der „großen Gesellschaft" in der Sozialethik Oldhams den Darlegungen Barths sehr verwandt ist. Die Kirche hat als das Medium der Rezeption der biblisdien Botschaft für die Welt des Rechts nach Ernst Wolf einen einzigen Maßstab: die von Christus vorgenommene Auslegung des Dekalogs durch das Liebesgebot. Erik Wolf unterscheidet sidh von Ernst Wolf dadurch, daß er den Dekalog als Quelle der biblischen Weisungen völlig zurücktreten läßt. Dasselbe gilt auch von Oldham. Die Liebe ist nicht mehr Grenze des Rechts, sondern Grund der Daseinsneuordnung. Die Nächstenliebe wird zur Grundlage des Nächstenrechts. Sowohl Ernst Wolf als auch Erik Wolf wissen um die Aufgabe für den Christen, daß er sich bemüht, konkrete Formulierungen der Weisungen angesichts bestimmter Verhältnisse zu ermitteln. Erik Wolf nennt diese Formulierungen „Maximen als moralische Postulate". Diese Auffassung kritisiert die lutherische Sündenlehre, die keine positive Wür208 209
Ebda. S. 231. Ebda. S. 231.
21
° Ebda. S. 232.
105
digung der natürlichen Rechtserkenntnis zuerkennt. Die Annäherung an die natürliche Rechtserkenntnis, die in der Formulierung von Maximen zum Ausdruck kommt, hat 1950 in Treysa zu der Uberzeugung geführt, daß Gott sich auch den Heiden nicht unbezeugt gelassen hat. Karl Barths Weg einer „inklusiven Christologie" gibt die Möglichkeit einer außerchristlichen Rechtseinsicht zu, „weil alles, was der natürliche Mensch an Humanität, Wahrheit und Güte in sich selbst zu haben meint, als Ausstrahlung des in Jesus Christus gegebenen Gnadenhandelns aufzunehmen ist" 211 . Oldham hat auf diesem Wege weitergedacht, der von anderen Theologen viel vorsichtiger angedeutet wurde: Die Darlegung der sozialethischen Theologie Oldhams ist ausgegangen von der Beschreibung der Situation des Menschen in der Welt. Die Gefährdung des Menschen, in der Praxis an vielen Stellen der Weltwirklichkeit unter den Ansprüchen der totalitären Ideologien offenkundig, ist von Oldham als Herausforderung verstanden worden. Martin Bubers Kennzeichnung des Menschen als dialogisches Leben verbindet sich bei Oldham mit der Betrachtung der Gestalt Jesu Christi als des Menschen für den Mitmenschen. Die „Oberhoheit des Persönlichen" hat hier ihren Kerninhalt als die wichtigste fundamental-ontologische Erkenntnis. Der zweite Gedankenkreis fragt nach dem Wesen und der Funktion der Kirche als des lebendigen Leibes Christi in der Welt. Die Kirche als Empfängerin der Botschaft des Heils soll nicht nur verwalten und hüten, sondern ihre alle Weltbereiche umfassende Verantwortung aktiv wahrnehmen. Hier finden die erkenntnistheoretischen Denkelemente über die dialogische Existenz des Menschen ihre Anwendung und praktische Umsetzung im Ringen um die Gemeinschaft als des spirituellen Prinzips der Gesellschaft in der Beschreibung der Wichtigkeit des Laien. Das Zeugnis und der Dienst des Laien gilt der ganzen Gesellschaft als der Welt, der die Liebe Gottes und die Botschaft des Reiches Gottes gilt. Im dritten Gedankenkreis erscheint das Naturrecht als die vorgefundene Grundlage einer Gesellschaft, die sich auf der Basis eines demokratischen Agreements gebildet hat. In die demokratisch gebildete Gesellschaft als der einzig möglichen Form des Zusammenlebens versucht Oldham das Liebesgebot Jesu in der Form von „mittleren Axiomen" zu interpretieren. Er ist der Uberzeugung, daß diese Mühe dringend notwendig ist, weil das Evangelium die Botschaft des Friedens, der Versöhnung und der Gerechtigkeit für alle Menschen ist. Wir haben gesehen, daß der Begriff der „verantwortlichen Gesellschaft" mit den vier Aufgaben Gemeinschaftsleben, Arbeit, kollektive Sittlichkeit und Politik den großen Gedankenkreis absteckt, in dem jeweils zu den Einzelproblemen 211
106
Ebda. S. 234.
„Mittlere Axiome" die gemeinsame Denkrichtung aufzuzeigen versuchen. In der Frage der Beziehung von Kirche, Volk und Staat liegt die Veranlassung zu einem ganzen Bündel von „Mittleren Axiomen" als Bemühung um Konkretisierung der christlichen Uberzeugung vom Wert des Einzelmenschen und seiner Beziehung zu der Gemeinschaft. Die Oxforddiskussion gilt als Beispiel einer verantwortlichen Denkgemeinschaft verantwortlicher Christen. Sie haben nicht nur über Kirche, Gemeinschaftsleben, Staat gesprochen, sondern auch über Wirtschaft, Erziehung und internationale Fragen. In allen Teilproblemen finden sich Leitsätze, die Oldham „Mittlere Axiome" nennt. Die Verantwortung in der Erziehung und die Verantwortung für die Welt, besonders in der Rassenfrage, zeigen die besondere Denkarbeit Oldhams, der versucht hat, in die gegebenen Positionen der naturrechtlich begründeten Lebensgrundlage und Weltwirklichkeit die befreiende und erneuernde Kraft einer Denkverantwortung zu bringen, die aus dem Glauben zu Nüchternheit und Hoffnung ruft. Die „Mittleren Axiome" sind nicht statische Begriffe eines ideologisierten Besserungsprogramms, sondern Formulierungen einer dynamischen Entschlossenheit zum Tun des vor Gott Rechten in der gegenwärtigen Situation. Der Formulierungsversuch der „Mittleren Axiome" muß das „Proprium" der christlichen Ethik bewahren und darf nicht der Versuchung anheimfallen, pragmatische, rationale und moralische Maximen aus einem immanent-empirischen Naturrecht für Sätze aus der Offenbarung Gottes auszugeben. Oldham hat sich mit den Aspekten aus der Personalethik, der Inspirationsethik und der Situationsethik — die bei ihm in dem weitgesteckten Denkrahmen seiner Sozialethik zu erkennen sind — um das Proprium der christlichen Ethik bemüht. Er sagt Nein zu jeder Art von Selbsterlösung, wenn auch nicht ausgeschlossen werden kann, daß manche seiner Sätze sich illusionistisch und optimistisch anhören. Für ihn ist der Mittelpunkt aller materialen Forderungen die Liebe. In der Botschaft Jesu ist für ihn das Liebesgebot die normative Summe. Er versucht die sachgemäße Anwendung des Liebesgebots unter der Bedingung, daß die geschichtlich wandelbare Wirklichkeit und die menschlichen Daseinsentwürfe erkannt und gedeutet werden 212 . Wendland sagt: „Darin liegt die Grenze, aber zugleich audi die Stärke und die positive Bedeutung dieser ökumenischen Dokumente. Sie versuchen, zu konkreten Forderungen an das sozialethische Handeln der Kirche und zum Erweis konkreter Möglichkeiten solchen Handelns zu gelangen, zu jenen „Mittleren Axiomen" der christlichen Ethik, die 2 1 2 Zeitschrift f ü r ev. Ethik, M a i 1967, A u f s a t z von F r a n z Böckle, S. 148 „ W a s ist das P r o p r i u m einer christlichen E t h i k ? "
107
seinerzeit D r . O l d h a m mit gutem G r u n d als erforderlich bezeichnet hat. Er zielt auf die sach- und menschengerechte Konkretisierung der G e b o t e der Liebe u n d der Gerechtigkeit in sich w a n d e l n d e n , geschichtlichen Situationen. Er m a r k i e r t e die Richtung des sozialethischen Denkens, das w e d e r technische Einzelanweisungen geben k a n n noch bei allgemeinen Prinzipien stehenbleiben d a r f . " 2 1 3 O l d h a m lieferte brauchbare K r i t e r i e n f ü r die weitere A r b e i t der C h r i s t e n 2 1 4 . Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 41. Vgl. Hans Berthold, Sozialethische Probleme des Wohlfahrtsstaates, S.41ff. in dem Teil der Münsteraner Dissertation „Der Wohlfahrtsstaat als theologisches und kirchliches Problem" bes. den Satz „Wichtige Zusammenhänge bestehen zwischen der großen Tradition der englischen Sozialethik und der Entwicklung und Ausprägung des englischen Wohlfahrtsstaates" (William Temple und J . H . Oldham). Ferner: „Dieser Sozialethik und insbesondere dem Einfluß von Temple und Oldham ist es zuzuschreiben, daß der Wohlfahrtsstaat bei englischen Theologen durchweg eine andere Wertung erfahren hat als in der deutschen Theologie und Kirche." (Berthold setzt sich mit Thielickes Urteil auseinander.) 213
214
108
T E I L II DIE DISKUSSION DER THEOLOGIE DER „MITTLEREN AXIOME" IN DER EVANGELISCHEN SOZIALETHIK 4. K A P I T E L
Sozialethische Entwürfe in der angelsächsischen Ökumene A) Die kommunikative bei G. Muelder
Orientierung
der personalistischen
Sozialethik
Walter G. Muelder sagt in seinem Buch „Religion and Economic Responsibility": Drei Prinzipien müssen die christliche Religion wirksam machen in der Welt der industrialisierten Technologie: 1. das Prinzip der Personalität, 2. das Prinzip der Gemeinschaft, 3. das Prinzip der letztgültigen Sinnerfüllung des Menschen und der Welt. Diese drei Grundsätze oder Ziele sind für den Methodisten Muelder maßgebend für die Entfaltung der religiösen Berufung. Ähnlich beschreibt Oxnam die christliche Berufung als universale Verpflichtung zur Arbeit, als Engagement im Sozialzusammenhang, als Weg zur Uberwindung der Not und als Gottesdienst l . Muelder versucht, die Ideen der Religion, der Ökonomie und der Verantwortung in eine lebendige Beziehung zueinander zu bringen. Er verwendet die Oldhamschen „Mittleren Axiome" für eine „communitarian orientation of personalistic social ethics". Er beruft sich auf Erzbischof Temple, der während des Zweiten Weltkrieges in einem Vortrag über „Social Justice and Economic Reconstruction" ausgeführt hat, daß der Mensch als religiöses Wesen die Bedeutung der göttlichen Berufung für sich und andere Menschen weiter entwickeln muß. Das grundlegende Prinzip einer christlichen Lehre der Arbeit ist die Personalität. Golden und Ruttenberg haben dieses Prinzip auf die Wirtschaft bezogen und von einem adäquaten Plan des Lebens mit dem angemessenen Maß von Arbeit und Lohn, 1 Oxnam, The Christian Challenge, in: Bennet/Bowen/Brown/Oxnam, Christian Values and Economic Life, S. 34.
109
in psychologischer Hinsicht von der Entfaltungsmöglichkeit der Person und in sozialer Hinsicht von Gruppenbeziehungen im Gemeinschaftsleben gesprochen.
Die „dreifache Dimension der religiösen Berufung" ist dem Oldhamschen Gedanken von der „Oberhoheit des Persönlichen" sehr nahe und auf die Situation des Arbeiters bezogen 2 . Muelder beschäftigt sich in seinem Buch mit den Dialogen von Oxford und Amsterdam, die sich auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens um die Probleme der Gewinnsucht, der Ungleichheiten, des unverantwortlichen Besitzes von wirtschaftlicher Macht, der Bedeutung der christlichen Berufung in der Wirtschaftswelt, der Spannungen und Konflikte der Zielsetzungen und der integralen Verantwortung bewegt haben. Muelder fragt nach dem Verhältnis von der religiösen Berufung zu dem Unternehmertum, nach den ethischen Funktionen des kollektiven Geschäfts, nach der religiösen Konzeption des Eigentums und nach dem Ziel einer verantwortlichen Weltwirtschaft. Für die Gestaltung einer verantwortlichen Weltwirtschaft stellt er acht Leitgedanken heraus: 1. die religiöse Sicht der Welt, des Menschen und der Gesellschaft, 2. die Wechselwirkung von wertbestimmten Glaubensüberzeugungen und Techniken, 3. die Abhängigkeit aller Menschen voneinander, 4. die Wirtschafts- und Entwicklungshilfe für Hungerländer, 5. die Achtung des Menschen und die Idee der freiwilligen Vereinigung für das Wohl der Menschheit, 6. die moralische Verpflichtung, 7. neue Instrumente für die Kooperation und für einander unterstützende Entwicklung von Handel und Nationalwirtschaften, 8. der Geist der nachbarschaftlichen Freundschaft unter den Nationen, die für das Wohl der Menschen zusammenarbeiten 3 . In seinem Beitrag „Theologie und Sozialwissenschaft" für die Weltkonferenz in Genf 1966 spricht Muelder von den gemeinsam von der Theologie und Sozialwissenschaft anerkannten Tatbeständen: „1. daß der Mensch in einer sozialen Umwelt lebt, 2. daß diese Umwelt kulturell und historisch bedingt ist, 3. daß Gesellschaft und Geschichte mit der Natur durch die biophysische Verfassung des Menschen fest verwoben sind, 4. daß die Persönlichkeit erforscht werden muß in Begriffen wie Tiefe, Entscheidung und rationale Ganzheit, 5. daß das Selbstsein eine das Selbst transzendierende Freiheit einschließt, 6. daß letzte Ich-Du-Beziehungen bedeuten, persönlich vor Gott als Schöpfer und Versöhner zu stehen, ebenso wie man durch die Gesellschaft, die Geschichte und die N a t u r vor ihm steht." 4 2 Walter G. Muelder, Religion and Economic Responsibility, 2. Kapitel gious Vocation — The Worker", S. 32—34. a Ebda. 4 Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 68 ff.
110
„Reli-
Muelder liegt an den Umrissen einer Synthese im christlichen Sozialdenken — oder in seinen „Mittleren Axiomen". Eine verantwortliche Sozialordnung muß so gestaltet sein, daß die Menschen wirklich nach dem Willen ihres Schöpfers leben können. (Alles, was man aus Fakten, Werten und Deutung in der Theologie und in der Sozialwissenschaft ergründen kann, muß ein Teil des verantwortlichen Lebens in der säkularen Ordnung werden 5 . B) Duffs
Differenzierung
der „ethic
of ends" und der „ethic
of
inspiration"
Der römische Katholik gibt in seinem Buch „The Social Thought of the World Council of Churches" einen Überblick über die ökumenische Sozialethik. Das angelsächsische und das kontinentale Denken sind zu differenzieren. Diese Differenzen begleiten die beiden Bewegungen „ Faith and Order" bei der Suche nach der Einheit der Kirche in Glaube und Ordnung und „Life and Work" mit der Besinnung der Christen auf die ökumenisch-soziale Verantwortung. In dem geschichtlichen Uberblick über das Zustandekommen des Weltrats der Kirchen beschreibt Duff die Rolle, die das Gedankengut des „Social gospel" einnahm. Ragaz, Rauschenbusch und Shailer Mathews haben davon gesprochen, daß das Ideal des Reiches Gottes in fortschreitender Entwicklung eine soziale Ordnung verwirklicht, in der die Beziehung der Menschen zu Gott die der Söhne und zu den Mitmenschen die der Brüder ist. Dieses Ideal ist nicht außerhalb der Reichweite des Menschen, sondern die natürliche Möglichkeit für die sozialen Fähigkeiten und Kräfte des Menschen®. Der „klare Ton der Alarmglocke des social gospel" kündet an, daß die Religion Jesu in allen Aktivitäten der Menschen herrschen sollte 7 . Die Oldhamsche Eschatologie ist von dieser Auffassung ausgegangen, bis sie später in der Bemühung um „Mittlere Axiome" für die pluralistische Gesellschaft eine Abschwächung erfährt. Innerhalb der „sozialen Philosophie" des Weltrats der Kirchen besteht eine sehr tiefe Differenz. Sowohl in der Ekklesiologie als auch in der Ethik behaupten sich zwei theologische Positionen in unversönlichem Gegensatz zueinander: Die „ethic of inspiration" behauptet, daß die christliche Moralhaltung nicht verpflichtet ist zum Gehorsam gegenüber feststehenden Normen, sondern eine freie und lebendige Antwort zu einer lebendigen Person innerhalb der Gemeinschaft mit Gott darstellt. Gottes Wille kann nur in der personalen Entscheidung erfüllt werden. Die „ethic of ends" hat die Idee der rationalen Ordnung zur Grundlage mit einer Hierarchie feststehender Werte. Als eine statische Kon5
Ebda. S. 83. « Edward Duff, The Social Thought of the W C С, S. 24. 7 Christian Values and Economic Life, S. 4 ff. Oxnams Aufsatz „The Christian Challenge".
Ill
zeption bietet sie Normen, die die Elemente einer verbesserten Gesetzgebung und Aktion darstellen. Das Funktionsprinzip bietet die Analyse und Prüfung von Ursache und Wirkung. Schrey bezeichnet diese Ethik als statische Zweckethik, die die rational-naturrechtliche Gesellschaftsordnung begründet 8 . Zu diesem Konflikt sagt Joseph Fletcher, daß das meiste, was im ö k u menischen Rat über Ethik erarbeitet wurde, Inspirations-(Gesinnungs-) ethik und nicht Zweckethik gewesen ist. „Mit,Inspiration' meinte Oldham die Motive der Nächstenliebe, der Agape, und mit,Zweck' die Theologie der aristotelisch-thomistischen Naturrechtslehre." 9 So ist nach dem Bericht von Duff der Amsterdam-Report über soziale Fragen weitgehend bestimmt von einer „ethic of ends". Die Kirche inspiriert ihre Glieder zu einem neuen Weg der Verantwortung. Erklärungen gegen das Unrecht rufen prophetische Worte wach. Andererseits kommt der Begriff der „verantwortlichen Gesellschaft" nicht ohne eine „ethic of ends" aus, eine feste Konzeption der objektiven Grundlage der Sozialordnung. Paul Abrecht meint in „Christian Action in Society", daß beide Ethiken vereinbar sind, doch Duff stellt nüchtern fest: „Es gibt und wird wahrscheinlich keine volle Übereinstimmung geben über die Prinzipien und Maßstäbe, die von Christen gebraucht werden, um ihr Denken über soziale Fragen zu lenken." 10 Im Anhang des Buchs von Duff über den sozialen Gedanken des Weltrats der Kirchen, den er den katholischen und protestantischen Aspekten widmet, heißt es, daß die beiden gegensätzlichen Konzeptionen der katholischen und der protestantischen Tradition entstammen. Duff reiht Emil Brunner in den Bereich der „ethic of ends" ein, während er K a r l Barth der „ethic of inspiration" zuordnet. Das katholische Lehrgebäude der „ethic of ends" besteht aus der Zuordnung von Naturordnung und Gnadenordnung mit der Werthierarchie, während die protestantische Lehre die dämonische Macht des Bösen in der Welt ernst nimmt und die befreiende Macht des lebendigen Glaubens als das Geschenk der Gnade bezeugt. K a r l Barth bekämpft die Theologie der Anknüpfung und Analogie, die Brunner vertritt 1 1 . Fletcher schwächt dieses Urteil weitgehend ab, indem er sagt, daß audi Brunner nur mit halben Herzen das Naturrecht bejaht habe. Aus Fletchers Aufsatz „Die anglikanische Theologie und die Ethik des Naturrechts" wird deutlich, welche Fragezeichen an das überlieferte Naturredit gesetzt werden. Eine theologische Besinnung über diesen Begriff unterscheidet die ontologisch-sachliche Seite von der erkenntnistheoretisch-kognitiven Seite des Problems. Die erste Seite kann beibehalten werden, aber die erkenntnistheoretische Seite der Lehre, die auf der Vernunftoffenbarung ruht, hat ihre Gültigkeit eingebüßt. Wenn wir Duffs Charakterisierung der „ethic of ends" und der „ethic of inspiration" von Fletchers Kritik betrachten, dann 8 Edward Duff, The Social Thought of the W C С, S.93—96, 224, Weltkirchenlexikon, 1351. » Die Kirche als Faktor, S. 171. 10 Duff, The Social Thought of the W C С, S.95. 1 1 Ebda. S. 309, 319.
112
ergibt sich in der Situationsethik der Weg, der die Ansätze der legalistischen Lösung (ethic of ends) und der antinomistischen Lösung (ethic of inspiration) überbietet: „Der einer Situationsethik Verpflichtete fällt seine Entscheidung auf der Grundlage allgemeingültiger Prinzipien, aber mit der Bereitschaft, jedes Prinzip oder jede allgemeine Regel zu modifizieren, aufzugeben oder gar zu durchbrechen, wenn das Gebot der Nächstenliebe dadurch in der gegebenen Situation besser befolgt werden kann. Wenn die Liebe die Norm ist, handeln wir nach Maximen, nicht nach festen Regeln." Die grundsätzliche Differenz zwischen der Situations- oder Kontextethik und der Naturrechtslehre besteht in der Wertfrage. „Nach der Situationsethik dagegen ist das in einer gegebenen Situation am meisten der Liebe Entsprechende das Richtige und Gute — nicht nur das entschuldbare kleinere Übel. Die Agape ist das einzige Gesetz der Situationsethik. Die Prinzipien der christlichen Sophia sind bestenfalls als Maximen zu werten, niemals als Regeln oder Vorschriften, und sie erhellen die Situation, aber sie schreiben keine Entscheidungen vor. Temple und Oldham nannten sie bereits 1937 ,mittlere' Axiome." „Situationsethik ist weder Inspirations- noch Zweckethik, sondern Entscheidungsethik. Sie ist theonom oder genauer: christonom." Temple hat die Gebrochenheit des Naturrechts empfunden. Er hat fast alles an ethischen Werten aus der Dogmatik abgeleitet. Seine Prinzipien der Naturordnung fanden in abstrakter Form in den Begriffen Gehorsam Gott gegenüber, Achtung und Würde des Menschen, Freiheit, Gemeinschaft und Dienst ihren Ausdruck. Diese Begriffe waren die Konsequenzen der Dogmatik 1 2 .
C) Bennetts „christlich sozialer
Imperativ"
Bennett stellt die Bedeutung der christlichen Ethik für die sozialen Probleme dar 13 . Die soziale Botschaft des Evangeliums, deren Ursprung im amerikanischen Protestantismus liegt, ist durch Erzbischof William Temple auf dem europäischen Kontinent bekanntgemacht worden. Ihre drei Wesenszüge sind: 1. das besondere Gewicht der Haltung der Christen gegenüber sozialen Einrichtungen und Entscheidungen auf sozialem und politischem Gebiet, 2. die Erwartung einer revolutionären Umwälzung großen Stils, 3. der Versuch, die Welt vom Standpunkt der unterdrückten oder minderbewerteten Klassen und Rassen aus zu sehen. Diese drei Merkmale sind charakteristisch für den „christlich sozialen Imperativ". „Wir dürfen sie nicht aus den Augen verlieren, wie immer auch wir über die soziale Botschaft des Evangeliums denken." 14 In dem Buch „Christianity and Communism" kommt treffend zum Ausdruck, was Bennet mit dem Begriff „christlicher Sozial-Imperativ" meint. Der Begriff wird dort gebraucht als die Antwort auf die Herausforderung des Kommunismus als einer totalen Lebensphilosophie. Bennett sagt, daß die dialektisch-materialistische Interpretation der Geschichte im Kommunismus verbunden ist mit der Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit. Diese Leidenschaft ist aus der jüdisch-christlichen Tradition in den Kommunismus hineingeflossen und zeigt ihn als christliche Häresie. Bennett versteht den Kom" Die Kirche als Faktor, S. 175, 177, 178. 13 John C. Bennett, Christentum und Gemeinschaft, erstes Buch „Grundlagen einer christlichen Ethik", zweites Buch „Die christliche Ethik in ihrer Bedeutung für die sozialen Probleme", Churdi World Service. 14 Ebda. S. 149. 8
Kosmahl, Ethik
113
munismus als Erinnerer der sozialen Verantwortung der Christen. Gegenüber der atheistischen Auffassung der sozialen Gerechtigkeit formuliert Bennett den christlichen Beitrag: „Die Basis des christlichen Sozial-Imperativs kann gesehen werden in Gottes Absicht für seine Schöpfung und in der Bedeutung der christlichen Liebe." 1 5 Der christliche Sozial-Imperativ muß gesehen werden im Kontext der christlichen Ethik. Dort hat er ultimative Bedeutung, die in allen anderen Bewegungen fehlt, die nur auf die Veränderung der Gesellschaft gerichtet sind 1 6 . Die drei Werte — Ordnung, Gerechtigkeit und Freiheit — müssen transformiert werden durch die Liebe.
„Die christliche Liebe involviert einen doppelten Imperativ. Auf der einen Seite ist er ein Imperativ gegen die Gewalt, aber auch auf der anderen Seite macht er uns verantwortlich für die Einschränkung des Bösen." 1 7 Bennett kennzeichnet das „social gospel" als die durchdringende Tendenz des christlichen Sozial-Imperativs. Er ist die auf die Situation bezogene Fassung der Forderungen der christlichen Liebe. Der christliche Sozial-Imperativ verlangt eine christliche Sozialstrategie 18 . Bennett unterscheidet die katholische Strategie, die Strategie des Rückzugs, die Identifikation des Christentums mit partikularen Sozialprogrammen, den doppelten Standard für das persönliche und öffentliche Leben und die Relevanz der christlichen Ethik auf die Sozialpolitik. Die letztgenannte fünfte Strategie entspricht dem Weg der „Mittleren Axiome". Bennett spricht hier 1. von der kontrollierenden Wirkung des christlichen Glaubens und der christlichen Ethik innerhalb der Beweggründe der Entscheidungen, 2. von der Bedeutung der christlichen Demut und Kritik in der Anleitung zu christlichen Entscheidungen mit dem zentralen christlichen Motiv der Liebe, 3. von der kritischen Funktion der christlichen Liebe innerhalb der schwierigsten sozialen Probleme und 4. von der Beziehung der sozialen Ziele auf das Heilsziel Gottes 1 9 . Die ethische Rolle der Kirche in der Gesellschaft verlangt, daß die Kirche von ihrem Gottesdienst aus direkt einwirken muß auf das soziale Leben. Die „Mittleren Axiome" sind die Ziele, welche die Forderungen der christlichen Liebe für unsere Generation repräsentieren 20 . Wenn wir Bennett fragen nach der Bedeutung des Naturrechts in seiner Sozialethik, dann beruft er sich auf Rom. 2,14 und 15 und nennt sechs Gesichtspunkte: 1. Es gibt eine moralische Ordnung in der Welt, die mit variierenden Graden der Klarheit neben der Offenbarung erkannt werden kann. 13 18 17 18 19
114
Bennett, Christianity and Communism, 1951, S. 74. Ebda. S. 84. Bennett, Christian Realism, S. 101. Bennett, Christian Ethics and Social Policy, S. 32—57. 20 Ebda. S. 89—115. Ebda. S. 77—83.
2. Das Wissen von dieser moralischen Ordnung hat eine breitere Basis als der diristliche Glaube. 3. Die Tatsachen der Erfahrungen neben dem christlichen Glauben können diese Erkenntnis unterstützen. 4. Folgende allgemeine Erfahrungen und Überzeugungen werden anerkannt: die Einheit der Menschheit, die Offenheit der Gesellschaft für jede Kritik aus ihr selbst und Gerechtigkeit für alle. 5. Alle Menschen haben als Personen eine Würde. 6. Die Anwendung dieser allgemeinen Prinzipien in der konkreten Situation stellt viele Fragen an die Christen 2 1 .
Bennett illustriert die Bedeutung der Mittelaxiome auf vier Gebieten: 1. Das Gebiet der internationalen Beziehungen zeigt in der Arbeit der Kommission für gerechten und dauerhaften Frieden des Federal Council of Churches unter der Leitung von John Foster Dulles während des 2. Weltkrieges den Weg von leitenden Prinzipien wie Kooperation und Gemeinschaft der Nationen als religiöse und sittliche Grundlage einer neuen Weltordnung zu politischen Vorschlägen der Säulen des Friedens: die erste Säule stellt ein gutes Beispiel eines „Mittleren Axioms" dar, indem sie zum Inhalt den Satz hat, daß der Frieden den politischen Rahmen bestimmen muß für die dauernde Zusammenarbeit der Vereinigten Nationen, der neutralen und feindlichen Nationen. Zuletzt wird festgestellt, daß die Organisation der Vereinigten Nationen die einzig wirksame Gegenmaßnahme gegen Isolierung und Anarchie ist. Bennett hebt die drei Phasen als Nacheinander von leitenden Prinzipien, mittlerem Axiom und politischem Programm hervor und sagt, daß mit jedem der drei Schritte die Autorität der christlichen Ethik schwächer wird 2 2 . 2. Auf dem Gebiet der Wirtschaftsordnung sind die Prinzipien des Oxfordberichts als leitende Grundsätze hervorzuheben: 1. Vorrang der Gemeinschaft, 2. gleiche Ausbildungsmöglichkeiten für alle Kinder, 3. soziale Fürsorge für Erwerbsunfähige, 4. Wert und Würde der Arbeit, 5. gerechte Verteilung der Bodenschätze und Rohstoffe als Gaben Gottes. Diese fünf leitenden Prinzipien als schonungslose Kritik an der gegenwärtigen Wirtschaftsstruktur mit den Tendenzen des rücksichtslosen Erwerbstriebes, der Ungleichheit, der Zentralisierung der Wirtschaftsmacht und des Abbaus der christlichen Berufung haben einen Streit verursacht zwischen Unternehmertum und Sozialplanung. Der Streit betrifft besonders die amerikanische Wirtschaft. Als zwei „Mittlere Axiome" gelten: 1. Die nationale Gemeinschaft hat in der Zusammenarbeit von Regierung, Industrie, Arbeiterschaft und Landwirtschaft die Verantwortung für die Vollbeschäftigung. 2. Die nationale Gemeinschaft soll alle privaten Zentren der Wirtschaftsmacht daran hindern, stärker als die Regierung zu werden. Diese beiden „Mittleren Axiome" sind Konkretisierungen von leitenden Grundsätzen und somit erstrebbare Ziele (goals) 23 . 21
Ebda. S. 116 ff. Bennett, Christentum und Gemeinschaft, S. 184 ff.; ders., Christian Ethics and Social Policy, S.77ff. 23 Ebda. 22
8»
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3. In der Rassenfrage hat Oxford auf den Reichtum und den Wert der Rassen aufmerksam gemacht. Aus dieser allgemein gehaltenen Feststellung leiten sich zwei „Mittlere Axiome" ab: 1. gleiche Möglichkeiten aller Rassen für Beschäftigung, Behausung, Erziehung, Rechtsschutz und politische Freiheit, 2. Überwindung der unfreiwilligen Absonderung und Demütigung der minderen Rasse. Bevor die Kirche auf diesen „Mittleren Axiomen" besteht, muß sie in ihrem eigenen Hause mit gutem Beispiel vorangegangen sein. 4. Auf dem Gebiet des öffentlichen Lebens, also des Verhältnisses der christlichen Ethik zur Demokratie, sind folgende Ziele anzustreben: 1. die potentielle Würde aller Menschen als Kinder Gottes, 2. der konstitutionelle Schutz des Einzelnen und der Minderheiten, 3. der Ausgleich der Machtinteressen der Gruppen. Die Christen sollen die Demokratie als die beste aller möglichen Staatsformen anstreben 24 .
Wichtig für alle Grundsätze ist, daß das moralische Gesetz im Kontext des christlichen Glaubens zu seinem eigentlichen Wesen kommt. Die Quellen im Christentum verhindern eine einseitige und verzerrte Anwendung. Allein auf der Basis der selbstherrlichen Vernunft ohne Glauben und Liebe können moralische Gesetze eine allgemeine Destruktion nicht verhindern 25 . Die transzendente Öffnung der christlichen Ethik rechnet mit der menschlichen Sünde und mit der Eigengesetzlichkeit bei der Durchführung einer Sozialpolitik 26 . Ein Spielraum der Freiheit ist die Voraussetzung für die Begegnung der Menschen unter dem Gebot der Liebe. Hier fällt der Kirche eine Aufgabe zu, die Bennett so formuliert: „Wir bedürfen ihrer als eines Gemeinwesens innerhalb der Nation, als eines Gemeinwesens, dem im Hinblich auf seine Eigenschaft als Kirche die Freiheit des Wortes zukommt, da diese Gesellschaft Gott, der mächtiger ist als irgendeine irdische Gewalt, zur unbedingten Ergebenheit verpflichtet ist. Wir bedürfen ihrer schließlich auch als einer Organisation, innerhalb derer es möglich ist, die das menschliche Leben formenden christlich-sittlichen Ideale in weiterem Umfange zu verwirklichen, als dies in der Gemeinschaft schlechthin geschehen kann." 2 7 Die Soziallehre der Kirche und die sittliche Haltung der Gemeindeglieder dienen der Klarstellung, was „christliche Liebe von unserer Generation verlangt" 2S . Der Angriff von Bowen auf die „Mittleren Axiome" und auf die Sozialethiker, die sie vertreten, mit der Behauptung, sie seien sentimentale Moralisten, verkennt das legitime Anliegen dieses Denkens 2 9 . 24 Bennett, Christentum und Gemeinschaft, S. 184 ff., Christian Ethics and Social Policy, S . 7 7 f f . 2i Bennett, Christian Ethics and Social Policy, S. 123. 26 Bennett, Christentum und Gemeinschaft, S. 185. 27 28 Ebda. S. 209. Ebda. S. 221. 28 Bennett, Christian Values and Economic Life, S. 199 ff.
116
5. K A P I T E L
Die Theologie der Gesellschaft bei Wendland als Weiterführung der „Mittleren Axiome" A) Der universal-eschatologische
Ansatz
Das Ethos der Gemeinde, von dem der Weg der Sozialethik bei Wendland ausgeht, hat seine Grundlage im Empfang der Vergebung Gottes und seinen Auftrag in der Vergebung und Liebe. Die pneumatologische Ethik des Christusgeistes ist christologische Ethik der Liebe. Als sakramentale Ethik ist sie vom Christusgeschehen der Taufe und als eschatologische Ethik von der Gegenwart und Zukunft des Heils begründet. Wie kommt Wendland zu dieser Grundlegung? Er zeigt uns im Neuen Testament die apokalyptische Perspektive von Kirche und Welt. Die Apokalyptik hat die Welt als Zeit und Geschichte gedacht, das heißt, als ein einmaliges, unumkehrbares, endgerichtetes Geschehen, das Leben und Richtung allein dem Handeln Gottes verdankt. Protologie (alte Schöpfung) und Eschatologie (neue Schöpfung) stehen in einem gebrochenen Dualismus zueinander. Ethik ist Handeln der Liebe und Hoffnung mitten im alten Äon. Die Haltung des Christen bezeichnet Wendland „ethisch relativierte 'Apokalyptik" und „eschatologisch gebrochene Ethik". Die Haltung des Christen ist weder Weltverneinung noch Weltbejahung. „Der Schöpfer bringt sein Werk in der Erlösung zum Ziel und zur Erfüllung. Von hier aus kommt die christliche Ethik und die in der Menschen- und Bruderliebe an der Welt handelnde Kirche in Sicht." 1 Auf der Grundlage des Ethos der Gemeinde werden Individuum und Gemeinschaft weder antithetisch noch synthetisch gegenübergestellt. Das Ethos der Gemeinde gibt für das Individuum und die Gemeinschaft eine Dimension jenseits von Kollektivismus und Individualismus. Die Kirche als geistliche Einheit und Bruderschaft macht den Einzelnen im Akt des Glaubens zu einer Person, das heißt, erhebt ihn über ein bloß gliedhaftes Dasein zu einem von Gott aufgerufenen, einmalig-geschichtlichen Menschsein. Der Christ ist frei in der Welt und für die Welt. Ohne die Freiheit ist die christliche Personalität nicht denkbar. „Die Freiheit ist zunächst die eschatologische Freiheit ,νοη der Welt', das heißt die aus der Gnade geborene Freiheit, die den Menschen von der Macht der Sünde in allen 1
Wendland, Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 15.
117
ihren Formen des Verfallens an die Welt und des Widerstreits gegen Gottes Willen losmacht: Freiheit ist also Folge und Form der Erlösung. Als Freiheit von der Welt ermöglicht sie nämlich zwei neue Formen der Freiheit: die Freiheit des Christen innerhalb der Welt und seine Freiheit für die Welt, nämlich im Dienste der menschlichen Gesellschaft." 2 Wenn wir bei Oldham oft den Begriff Sozialphilosophie als die Voraussetzung für die „Mittleren Axiome" lesen, ist bei Wendland zunächst nicht von einer Sozialphilosophie die Rede, sondern von der Verkündigung des Reiches Gottes als des Indikativs der Heilszusage, von dem der Imperativ der Ethik abhängig ist. Der Imperativ der Ethik ist ein „Imperativ der Gnade" 3 . B) Offenheit für neue soziale
Wirklichkeitsformen
Die geschichtlich vorgegebenen Ordnungen werden nicht aufgelöst. Das Gesetz Gottes erhält die menschliche Gesellschaft bis zum Tage des Gerichts. Ohne diese Schutzmacht, ohne diesen Deich vor der Flut, könnte die Gesellschaft keinen Tag bestehen. Aber die sozialen weltlichen Ordnungen bleiben bis zum Ende der Welt qualitativ gegenwärtig begrenzt' 4 . Gott faßt das Leben der Menschen in die Ordnungen oder Stiftungen, durch die er sie erhält und regiert. Diese Ordnungen sind: 1. der Staat als die Ordnung der weltlich-politischen Gewalt oder der Mitmenschlidikeit als politische Existenz 5 , 2. die Ehe als die Ordnung des Verhältnisses der Geschlechter oder der Mitmenschlichkeit von Mann und Frau", 3. die irdische Arbeit als die Beherrschung der Erde zum Nutzen aller Güter, als Mandat der Sachherrschaft über diese irdische W e l t 7 .
Diese drei Fundamentalstiftungen dienen der Erhaltung der Gesellschaft. Sie sind vorgegebene Strukturen, in denen sich die christliche Freiheit und Liebe bewähren. Die christliche Freiheit ist die ewige Bestimmung, die Gott dem Menschen verliehen hat, daß er ihm und den Nächsten dient. „Wir haben entschieden an der Einsicht Hegels festzuhalten, daß die Freiheit des Menschen sich in sittlichen Ordnungen realisiert und ohne diese gar nicht zu bestehen vermag. Aus dieser These ergibt sich dann die weitere Frage, an welchem Orte sich denn innerhalb solcher Ordnungen ein freier Spielraum für die Interessen des Einzelnen, zum Beispiel die wirtschaftlichen, finde beziehungsweise einbauen lasse." 8 Die Liebe relaWendland, Person und Gesellschaft in evangelischer Sicht, S. 12 ff. Wendland, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, S. 41. 4 Ebda. S. 42 und 43. 5 Ebda. S. 81, Botschaft an die soziale Welt, S. 167. ® Die Kirche in der modernen Gesellschaft, S. 81, Botschaft an die soziale Welt, S. 167. 7 Die Kirche in der modernen Gesellschaft, S. 81, Botschaft an die soziale Welt, S. 167. 8 Wendland, Person und Gesellschaft in evangelischer Sicht, S. 17. 2 9
118
tiviert einerseits alle Bindungen in Familie, Staat und Gesellschaft, mögen sie rationaler oder transrationaler Struktur sein, andererseits aber zerstört sie solche Bindungen nicht, weil sie sich als Dienst versteht, der frei in die welthaften Bindungen hineingeht, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Die sogenannten Fundamental-Institutionen haben verpflichtenden Rang, während die sogenannten Sozialgebilde, die schöpfungsbedingt, geschichtlich und rational begründet sind, in ständigem Wechsel begriffen sind'. So ist der soziologische Sinn der Gesellschaft, das heißt die Gesamtheit aller sozialen Gebilde, Institutionen und Beziehungen, vom engeren Sinn der zweckhaft-rationalen Gesellschaft als ,sekundäres System' zu unterscheiden 10. Die moderne Gesellschaft kommt in Gefahr, ihre organischen und gemeinschaftlichen Zusammenhänge wie Familie, Volk, Beruf und Stand durch die stärkeren Kräfte eines sekundären, künstlichen und gemachten Systems zu verlieren. Die Kennzeichnung des Soziologen Hans Freyer, daß die sekundäre Gesellschaft eine Gesellschaft funktionaler Zusammenhänge sei, zeigt das eigentliche sozialethische Problem. Die Funktionalisierung gefährdet die personhafte Mitmenschlichkeit11. Nicht das Naturrecht, sondern die Gottes- und Nächstenliebe rettet den Menschen vor der Bedrohung. Die sekundären, künstlich geschaffenen Institutionen, die nicht die gleiche Dignität wie die göttlichen Fundamentalstiftungen oder Urordnungen besitzen, sind auf ein bestimmtes Zeitalter zugeschnitten. Sie haben die denkbar größte Bedeutung für den heutigen Menschen. Jeder Mensch ist Funktionsträger. Die Tendenz der Gleichförmigkeit beschneidet die Freiheit und Eigenart der Person. Das Verlangen nach Sicherheit und Wohlstand führt zum Materialismus und Nihilismus gegenüber sozialen Bindungen 12 . Wendland charakterisiert die sekundäre Gesellschaft: 1. Der Mensch wird durch seine Funktion definiert. 2. Die mündige Welt kennt eine entleerte Freiheit. 3. Die Herrschaft der Verbände terrorisiert die Gesellschaft. 4. Säkularistische Ideologien wirken als Ersatzreligionen. 5. Der allgemeine Konformismus hebt die Personalität auf 13 . Die Arbeitsmethoden des protestantischen und humanistischen Individualismus, der kirchliche Konservativismus, die Neutralität der Kirche und die Parochieverfassung sind für die sekundäre Gesellschaft unbrauchbar. Die Probleme der Entpersönlichung, der Mündigkeit, der weltweiten 9 10 11 12 13
Wendland, Einführung in die Sozialethik, S. 16. Wendland, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, S. 37. Wendland, Botschaft an die soziale Welt, S. 124 ff. Ebda. S. 170 ff. Ebda. S. 129—133.
119
Verantwortung und der neuen sozialen Strukturen verlangen neue Wege 1 4 . Wendland nennt die Fehlansätze: der Gegensatz von christlicher Innerlichkeit und Eigengesetzlichkeit, die Idealisierung der Schöpfungsordnungen und der soziale Chiliasmus 15 . Aspekte der Überwindung der Fehlansätze sind die Vermeidung einer exklusiven Trennung der beiden Reiche, das Streben nach einem vertieften kritischen Begriff des Naturrechts, Abkehr von der statischen Interpretation des Ordo-Begriffs und die Analyse der dämonischen Pervertierung der Gesellschaft. Vor allem geht es um die Bildung der „Mittleren Axiome", das heißt um Weisungen der christlichen Gemeinde für konkrete gesellschaftliche Aufgaben. Heute ist nur ein diakonisches Verhältnis der Kirche zur Welt möglich 16 . C) Die soziale Aufgabe der weltlichen
Christenheit
„Die Liebe gebietet Maximen und setzt Ziele der Humanität im Dienst der Wohlfahrt aller Menschen." 17 Dieser Satz visiert das Zielbild der zukünftigen Gesellschaft als eine geschichtsbedingte reale Utopie an, dem die Kirche „im rastlosen Kampf mit allen Gestalten der Unfreiheit und Ungerechtigkeit zu dienen" hat 1 8 . Die Kirche muß als diakonischer Anwalt der Menschlichkeit durch ihre Sozialethik Forderungen allgemein humanen Charakters entwickeln. Dies entspricht der Bewegung der Agape. Ihre guten Werke müssen menschengerecht, sachgerecht und situationsgerecht sein. Dieses Handeln der Liebe nennt Wendland „soziale Humanität" 1 9 . „Die Grundbestimmungen der christlichen Humanität" sind kritische Leitbilder der menschengerechten Sozialgestaltung: 1. Aus Mitmenschen werden Nächste. 2. Der Mensch muß in seiner institutionellen Existenz erfaßt werden. 3. Die Freiheitsrechte des Menschen gründen im Urrecht der Personalität. 4. Die Liebe ist die Meisterin der Gesetze. 5. Die Herrschaft Christi wird im Wort und in der Tat bezeugt 20 . Diese Grundbestimmungen beziehen die Sozialethik auf die konkreten Nöte und Aufgaben der Gesellschaft. Auf die geschichtliche Konkretisierung der „Leitbilder der sozialen Gestaltung" kommt es an 2 1 . Ohne Leitbilder der sozialen Gestaltung ist ein Handeln in Wirtschaft und Staat nicht möglich. Das kritische Leitbild der verantwortlichen Gesellschaft 14 15 16 17 18 20 21
120
Ebda. S. 125 ff. Wendland, Die Kirche in der modernen Gesellschaft, S. 6 4 — 6 9 . Wendland, Christliche Soziallchren, in: Weltkirchenlexikon, 1354—1358. Wendland, Person und Gesellschaft in evangelischer Sicht, S. 60. Ebda. S. 63. « E b d a . S. 68. Ebda. S. 8 5 — 1 0 8 . Wendland, Einführung in die Sozialethik, S. 6.
ist geeignet, Pervertierungen aufzudecken, die die Gesellschaft bedrohen 22 . Die Analyse leistet der Kritik die Vorarbeit. Die Kritik gilt nicht nur der Welt, sondern auch falschen Vorstellungen der Kirche. Die herauszubildenden Weisungen konkretisieren das Liebesgebot in der gegenwärtigen Situation. „ D i e G e m e i n d e soll und muß wissen, w a s im Dienste der Gerechtigkeit und Liebe zu tun sei, f ü r seine soziale O r d n u n g , die beiden . S o z i a l p a r t n e r n ' gerecht wird, f ü r die .Wiedergutmachung an den J u d e n , f ü r die Eingliederung der Flüchtlinge', f ü r menschliches Betriebsklima, , f ü r den Frieden zwischen den V ö l k e r n und die Festigung übernationaler O r d n u n g e n ' . " 2 3 D i e G e m e i n d e vollzieht die kritische Scheidung von G u t und Böse aus der Erkenntnis des Heiligen Geistes.
Die Leitbilder haben ihren Ursprung nicht im Naturrecht, sondern in der pneumatischen Christusethik. „Die Gegenwart der Herrschaft Christi ist charakterisiert durch seine Herrschaft als Kyrios der Gemeinde und der Welt, also eine Herrschaft in zwei Reichen." 24 Das Leitbild der neuen evangelischen Soziallehre ist die Zukunft der Person. Ihr geht es „um das wahre Menschsein des nach Gott geschaffenen Menschen" 25 . Wendland spricht von „neuen Dekalogen", das heißt: neue Maßstäbe für das soziale und institutionelle Handeln. Die Gemeinde Christi zerbricht den Dualismus der beiden Reiche und Rechte und handelt in der Welt aus der göttlichen Liebe nach dem Gesetz Christi 26 . Die pneumatisdie Kraft und Fülle des Gottesdienstes muß auf das Sozialethos ungebrochen bezogen werden 27 . Das Leitbild der Partnerschaft in der „Verantwortlichen Gesellschaft" ist ein wesentliches Element der Lehre von der Bewahrung und Bewährung des Menschen in der sekundären Gesellschaft. In der sachkundigen Mitwisserschaft kritisiert die Sozialethik mit den Leitbildern der sozialen Gestaltung die Ideologien und ihre Heilsangebote. Die Mitwisserschaft ist Solidarität mit den funktionalisierten Menschen. Die Leitbilder haben einen begrenzten Charakter. „Sie sind ,Mittlere Axiome' im Sinne der Folgerungen aus den fundamentalen, dogmatisch-ethischen Sätzen, die angesichts dieser gesellschaftlichen Struktur geboten sind, in Hinsicht der Sozialethik und ihrer Weisungen im engeren Sinne Konkretionen des ewigen Gebots der Liebe, die sich in unzählbaren Gestalten des Dienstes wandeln kann, da sie immer für die Gegenwart und den wirklichen Menschen lebt, der jeweils der Kirche gegenübersteht." 28 Die Leitbilder kritisieren die Normbegriffe der Gesellschaft, einen ontologischen Konservativismus, den Utopismus eines verweltlichten Chiliasmus, die 22 23 24 28 27 28
E b d a . S. 120—123. Wendland, D i e K i r d i e in der modernen Gesellschaft, S. 36. 2 5 E b d a . S. 63. E b d a . S. 51. E b d a . S. 91. E b d a . S. 101, Botschaft an die soziale Welt, S. 133 ff. (Sozialtheologie). W e n d l a n d , Botschaft an die soziale Welt, S . 1 3 9 f .
121
Unterschätzung der Sünde und die Überbewertung der menschlichen Persönlichkeit 29 . Der Begriff der Partnerschaft ist für die „Verantwortliche Gesellschaft" der Hauptbegriff: „Die Partnerschaft setzt die Freiheit und Menschenwürde der einzelnen Person voraus. An dem Begriff Partnerschaft zeigt sich jetzt sehr deutlich das dialektische' Verhältnis der Nächstenliebe zur Humanität." 3 0 Die Partnerschaft ist der Rahmen für das Tun der Liebe. Die christliche Gemeinde muß selbst eine partnerschaftliche Struktur erstreben. Im Miteinander der Verantwortung ist die Partnerschaft Zusammenarbeit von sozial unterschiedlichen Kräften. Die kooperative Partnerschaft hilft, daß soziale Gegensätze, die in Rechtsinstitutionen eingeordnet sind, entideologisiert und vermenschlicht werden. „Partnerschaft ist eine begrenzte, geschichtlich bedingte Realisierung sozialer Humanität unter der Voraussetzung der Ungleichheit sozialer Positionen." 31 Die Partnerschaft erhält ihren Impuls aus der von Christus geschenkten Agape. Die Agape zerbricht das Prinzip des „do ut des" und schafft so durch und durch personal brüderliche Gemeinschaft. Sie realisiert sich in Taten der Hilfe 3 2 . Die Kirche als Partner in der Gesellschaft muß auf dem Boden der personalen Begegnung im Dialog und in der Diakonie offen sein für die Kooperation mit allen Gruppen der Gesellschaft 33 . Die Partnerschaft ist ein sozialkritischer Begriff, der in der engsten Beziehung steht zu dem Bild des freien Menschen in der Beziehung zum Mitmenschen. Wendland kennt Partnerschaft als Begriff des „kritisch-realistischen Humanismus der christlichen Kirche" 3 4 . Es handelt sich um die Vorentscheidung, die die Sozialethik davor bewahrt, daß Kirche und Gesellschaft auseinandergerissen werden. Der christliche Humanismus ist die Klammer, die die Kirche mit der sozialen Wirklichkeit der Gesellschaft verbindet. Er bezeugt die Einheit der Menschheit von Gott her. Gott hat den Menschen als sein Ebenbild geschaffen und ihm die letzte Bestimmung verliehen, daß er teilhat an seinem Reich. Der christliche Humanismus ist Glaube, Liebe und Hoffnung im Dienst der Menschen. Er ist realistisch, das heißt, er sieht den Menschen leibhaft, sterblich und geschichtlich35. Er ist tätige, das heißt dem Menschen dienende Erwartung des Reiches Gottes als der endgültigen Befreiung des Menschen. Hier unterscheidet er sich vom bürgerlichen und marxistischen Humanismus. Er unterscheidet sich von jeder Wertethik. „Die Wiederherstellung des 29 30 31 32 33 34 35
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E b d a . S. 151. W e n d l a n d , Person und Gesellschaft in evangelischer Sicht, S. 47, 49. W e n d l a n d , D i e Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 104. W e n d l a n d , Person und Gesellschaft in evangelischer Sicht, S. 15. Wendland, Botschaft an die soziale Welt, S. 175. E b d a . S. 233. W e n d l a n d , E i n f ü h r u n g in die Sozialethik, S. 17 und 18.
Menschen in Christus ist sein Ausgangspunkt." 38 Das neue Sein ist das Vorzeichen der kommenden Vollendung. Der eschatologisdie Inhalt der Christusdiakonie macht die Distanz zur Welt zur Voraussetzung 37 . Diese Distanz gibt dem christlichen oder sozialen Humanismus eine kritischantidämonische Denkrichtung und unterscheidet ihn von einem Vernunftethos mit seinem Glauben an die Güte, die Erziehbarkeit und die Vollkommenheit des Menschen38. Das revolutionäre Handeln des christlichen Humanismus ist in der prophetischen Kampfansage des Reiches Gottes begründet für das Wohl und das Heil der Welt 39 . D) Die Kraft der Hoffnung Die Liebe erstrebt im relativen Sinne, die geschichtlichen Verhältnisse zu bessern. Der revolutionäre christliche Humanismus hat folgende Wahrheitselemente: „1. in seiner Geschichtlichkeit, das heißt in seinem Realansatz in der geschichtlichen Gesellschaft, 2. in seiner Richtung auf das realisierbare Ziel- und Leitbild der relativ neuen, geschichtlichen Gesellschaft, 3. im Ethos des aktiven verantwortlichen Handelns der Liebe und der Gerechtigkeit, 4. in der Entbindung dieses Ethos aus der eschatologischen Erwartung des kommenden und in der Geschichte des schon gegenwärtigen Reiches Gottes, 5. in der sich täglich in die praktische Humanität der Hilfe und der Reform verwandelnden Liebe." 40 Die Weltkirchenkonferenz von Evanston hatte mit dem Thema „Christus, die Hoffnung der Welt" die Frage nach dem Verhältnis von Eschatologie und Sozialethik zur Diskussion gestellt. Im Gegenüber zu den falschen Menschheitshoffnungen der Ideologien wird deutlich, daß eine christliche Weltdiakonie nur aus der Kraft der Hoffnung möglich ist. „Was Gott in Rechtfertigung und Heiligung an seiner Gemeinde tut, ihr Leben im Glauben und in der Liebe, das alles kommt erst in dem zukünftigen Reiche Gottes durch den Sturz aller dämonischen Gewalten zu seinem Ziel." 41 Die christliche Hoffnung in den Taten der Liebe fordert um des Menschen willen eine ständige Reformation der Gesellschaft. Heinrich Vogel unterschied in Evanston die große Christushoffnung von den kleinen, geschichtlich-sozialen Hoffnungen. 3
« Ebda. S. 25. Ebda. S. 41. 38 Wendland, Die Kirche 89 Wendland, Kirche und 40 Wendland, Die Kirche 41 Wendland, Die Kirche 37
in der modernen Gesellschaft, S. 161. Revolution, in: „Appell an die Kirchen", S. 84ff. in der revolutionären Gesellschaft, S. 96. in der modernen Gesellschaft, S. 109.
123
Zu dem Problem von Protologie und Eschatologie sagt Wendland: „Wir können nicht ontologische Definitionen des Seins geben, als ob keine neue Schöpfertat Gottes bevorstände." 42 Die Lehre von eigengesetzlichen Urordnungen ist zu verwerfen. Christliches Hoffen geschieht im status corruptae, im dritten theologischen Zeitmodus, in der Zeit von Gesetz und Evangelium. Der Begriff der Eschatologie umfaßt alle drei Artikel, denn „die Schöpfung zielt ja über Sünde und Tod hinweg auf die neue Schöpfung, auf das Reich der Herrlichkeit" 43 . 'Alles steht im Licht „des eschatologischen Zielwillens Gottes" 44 . Die vier eschatologischen Hauptaussagen — Reich Gottes, Weltenrichter, Vollender des Gottesreiches und neue Gemeinde als Mittelpunkt der neuen Einheit von Kirche und Gesellschaft — enthalten eine Fülle sozialethischer Aussagen. Sie bewahren die Sozialethik vor der Verfälschung in Utopie, sehen die Diakonie aus der Perspektive der zukünftigen Herrschaft Gottes und lassen den Gedanken der Aussöhnung von Kirche und 'Gesellschaft legitim erscheinen. Aus diesen vier eschatologischen Hauptaussagen leitet Wendland die Folgerungen der eschatologischen Freiheit, der Selbstkritik und der Arbeit an der Erneuerung und Umbildung der Gesellschaft im Sinne der sozialen Gerechtigkeit ab. Der eschatologische Status der Kirche besteht darin, daß sie in der Welt, aber nicht aus der Welt lebt, die Welt liebend, aber nicht ihrer Herrschaft preisgegeben ist, im Dienste der Menschen, aber nicht im Dienste der Sünde lebt 45 . Besonders wird der eschatologische Charakter der Sozialethik in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus deutlich: Der Kommunismus ist eine Utopie. Die Weltrevolution ist die Entscheidungsmitte der Weltgeschichte. Er ist eine Art Erlösungskampf, ein messiasloser Messianismus. Das Böse ist die Ausbeuterklasse. Das Proletariat ist das Volk der Heiligen. Der Mensch des Paradieses ist der sich selbst vergötzende Mensch. Der Kommunismus stellt die Kirche vor die Frage, ob sie auf die kommende Herrschaft Gottes ausgerichtet ist. „In welchem Sinne kann und muß die Welt verändert werden?" 46 Der eingeengte eschatologische Horizont in der Zwei-Reiche-Lehre ist in Frage gestellt durch die Liebe aus dem Geiste Christi, die sich auf die relative Veränderung dieser geschichtlichen Welt r i c h t e t S i e erwartet die wahre, absolute Revolution Gottes, nämlich die Erschaffung der neuen Welt, in der die Gerechtigkeit wohnt, die mit der göttlichen Liebe eins ist. Tillich sah die eschatologische Erwartung des Urchristentums auf die ganze Menschenwelt umgestaltend bezogen. „Es ist also ein eschatologisches Ethos, das allen Weltverhältnissen mit der radikalen Forderung und Macht der Liebe entgegentritt, die sich selbst nach den Zeiten und Ge42 43 45 47
124
Wendland, Botschaft an die soziale Welt, S. 143. 44 Ebda. S. 155 . Ebda. S. 156. 46 Ebda. S. 164. Ebda. S. 197. Ebda. S. 211.
gebenheiten schöpferisch wandelt." 4 8 Revolutionäres Denken bedeutet, daß die Christen das Zukunftselement des christlichen Handelns und der Weltverantwortung aufzeigen 49 . Die Begriffe der politischen Revolution, der sozialen Revolution und der totalen Revolution sind vom eschatologisch-revolutionären Denken der Christen zu differenzieren 50 . Innerhalb einer Theologie der Revolution als Konsequenz des eschatologischen Verständnisses der Sozialethik sind die „Mittleren Axiome" einzuordnen. Im Sinne der Oldhamschen Richtungsgedanken spricht Wendland davon, daß das Richtungsdenken die traditionellen Konzeptionen und Vorstellungen durchbrechen muß, wenn es um den Welthorizont (der dritten Welt) geht, der von der Christenheit eine gemeinsame Aussage in einer gemeinsamen christlichen Sprache verlangt 5 1 . „Es liegt auf der Hand, daß der Terminus ,Axiom' hier metaphorisch, in Übertragung auf die Forderungen der christlichen Ethik und auf deren Bezug zu den Realitäten der modernen Gesellschaft, verwendet wurde; er zielt auf die sach- und menschengerechte Konkretisierung der Gebote der Liebe und der Gerechtigkeit in sich wandelnden, geschichtlichen Situationen, er markiert die Richtung des sozialethisdien Denkens, das weder technische Einzelanweisungen geben kann, noch bei allgemeinen Prinzipien stehen bleiben d a r f . " 5 2 Als Nacharbeit der Genfer Konferenz empfiehlt Wendland folgende Aufgaben: 1. eine Reihe von Teilproblemen genauer zu studieren, z . B . das Problem der U r banisation, 2. die Begriffe der Prognose und Planung mit dem Zielbild einer menschenwürdigeren Gesellschaft zu überprüfen, 3. den Begriff der totalen Revolution oder des revolutionären Zeitalters vor M i ß verständnissen zu sichern, die der Herstellung einer besseren und gerechteren sozialen Gesamtordnung im Wege stehen 5 3 .
E) Die zukünftige
Funktion
der
Sozialethik
Wendland verneint, daß die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft eine zentrale Stellung haben kann. Die beiden Aspekte der Partnerschaft und des eschatologischen Humanismus verdeutlichen die diakonische Rolle der Kirche. Innerhalb des unorganischen rationalen Aufbaus der .Gesellschaft mit Interessengruppen, Verbänden, Parteien, Technik, Wissenschaft und Weltanschauungen ist die Kirche in den Pluralismus eingeordnet 54 . „Alles diakonische Handeln ist nur in der Beziehung zur Situation zu Wendland, Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 91. Appell an die Kirchen, S. 88 (Wendland, Kirche und Revolution). 50 ' Wendland, Die Kirche in der revolutionären Gesellschaft, S. 78 ff. 5 1 Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S . 4 0 f f . (Wendland, Die verantwortliche Gesellschaft als Problem der ev. Sozialethik). 5 2 Ebda. S. 41. 5 3 ökumenische Rundschau 1967, Heft 1, S. 8 (Wendland, A u f dem Wege zur ökumenischen Sozialethik). 5 4 Wendland, Einführung in die Sozialethik, S . 5 5 . 48
49
125
verstehen." 55 Die Diakonie hat eine weltweite Dimension. Wendland spricht von der Solidarität der christlichen Gemeinde mit der Welt im Sinne einer „relativen, begrenzten Einheit von Kirche und Gesellschaft" 5e . Wendland will das Konzept der verantwortlichen Gesellschaft weiterbilden im Sinne einer realen Utopie 5 7 . Das Projekt eines internationalen Ethos ist das Ziel der Zusammenarbeit der Christen mit den Nichtchristen inmitten der Unruhe rapider Umwälzungen. „Der Mensch geht über jede Institution." 58 Die Amsterdamer Postulate Freiheit und Gerechtigkeit werden in Evanston dem erlösenden Handeln Gottes in Christus konform interpretiert. Wie Oldham fordert Wendland eine bessere Gruppenethik als Arbeitsmethode des verantwortlichen Handelns. Die Verantwortung der Kirche umschließt die Konfrontation des Kerygma mit der Ordnung als göttliche Anordnung und als dämonische Desintegration, die Bindung des Menschen an Gott und Nächsten und das Verfallensein des Menschen an die absolut gemachten weltlichen Mächte und Gewalten 59 . Freiheit und Verantwortung sind die Ausgangsposition für die Suche neuer Wege der sozialen Integration und für den Bau neuer Institutionen der Gesellschaft. Die Liebe macht die Humanität zum Ziel, ihre Verantwortung schließt die Verantwortung für die Gesellschaftsstruktur ein. Das Ziel ist die relativ bessere Gesellschaftsordnung 60 . So sind übernationale Rechtsordnungen für ein patriotisches Weltbürgertum nötig, die den Menschen als Cooperator Dei in der Gestaltung der Welt bezeichnen61. Der Dienst der Liebe geschieht über gesellschaftliche Institutionen. Wendland spricht von der institutionellen Vermittlung der Liebe. Alle menschliche Existenz ist institutionelle Existenz 82 . Uber die institutionellen Zwischengrößen gelangt die diakonische Arbeit zum Einzelmenschen 63 . Bonhoeffer hat die priesterliche und beratende Seelsorge differenziert, Wendland versteht das Wohl und das Heil nicht getrennt 64 . 55 56 57 58 59 60 61 92 63 64
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Wendland, Botschaft an die soziale Welt, S. 294. Wendland, Die Kirdie in der revolutionären Gesellschaft, S. 68. ökumenische Rundschau, Jan. 1967, S. 21. Wendland, Person und Gesellschaft in evangelischer Sicht, S. 55. Wendland, Botschaft an die soziale Welt, S. 54. Christian Social Ethics in a Changing World, S. 135 ff. Wendland, Die Kirdie in der revolutionären Gesellschaft, S. 166 ff. Ebda. S. 175 ff. Kirche in der Zeit, Juli 1966, S.302. Bonhoeffer, Communio Sanctorum, S. 187.
6. K A P I T E L
Die sozialethische Verantwortung des Personalen bei von Oppen Dietrich von Oppen hält die „Verkündigung durch Verantwortung" vordringlich. Die lebendige und praktische Verantwortung macht das Evangelium in der personal-menschlichen Glaubwürdigkeit sichtbar. „Wenn der weltliche Fachmann auch mit Worten verkündigen will, so kann das nur in seltenen Stunden geschehen und steht allzuleicht in der Gefahr ideologischer Formelhaftigkeit. Die menschliche Glaubwürdigkeit ist hier die stärkere Sprache." 1 Die personale sozialethische Verantwortung ist den Gliedern der verantwortlichen christlichen Gemeinde aufgetragen, die im wesentlichen aus den zwei gleichberechtigten Gruppen besteht, den weltlichen und theologischen Fachleuten. Beide Gruppen stehen unter den gleichen menschlichen und geistlichen Forderungen. Was ist personales Leben in der Ära der Organisation? Diese Frage stellt von Oppen in seinem Aufsatz „Das Zeitalter des Persönlichen" für den Dialog in Genf 1966. Die zwei Zentren der verantwortlich menschlichen Leitung sind die Institution und die Person. „Die Organisationen heute stehen oder fallen entsprechend der Ausdehnung und Qualität der personalen Verantwortung, die sie erfüllen. Das institutionelle Netzwerk kann niemals ausgeschaltet werden, seine funktionelle Zuverlässigkeit hängt in ultimativer Weise ab von der personalen Verantwortung in der Gruppe." 2 Die personale Verantwortung umschließt die Objektivität, Partnerschaft und Verantwortung für sich selbst. Objektivität, Partnerschaft und Selbstvertrauen sind die Pfeiler des Dialogs. Alle Formen der Assoziation wie Klub, Unternehmen und Staat als die Grundtypen der säkularen Organisation fordern die Kommunikation bezogen auf alle Bereiche des Lebens und der Arbeit. „Das aktuelle Zentrum der Verantwortung liegt in uns selbst und nicht länger in der Institution." 3 Die personale Haltung, deren Ursprung im Evangelium liegt, relativiert das institutionelle Leben. Die alte institutionelle Ordnung verliert den absoluten Charakter durch 1 Dietrich von Oppen, Verantwortliche Gemeinde, in: Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 96. 2 Dietrich von Oppen, The Era of the Personal, in: Man in Community, S. 161. 3 Ebda. S. 162.
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die Begegnung mit dem lebendigen und persönlichen Gott. Die Begegnung mit Gott macht den Menschen zu einem Individuum und ihn fähig, die etablierte Ordnung zu transzendieren auf die neue Realität und mit dem Nächsten auf dem Boden der drei personalen Elemente Herz, Seele und Geist die Gefahren der personalen Gemeinschaft Totalitarismus und Versachlichung zu überwinden. In diesem Zusammenhang hat die christliche Gemeinde innerhalb des organisatorischen Kontextes der Gesellschaft eine Pionieraufgabe, indem sie das personale Leben als Muster für die personale Gemeinschaft innerhalb der pluralistischen Gesellschaft praktiziert. Sie hat die Überzeugung in die Bereiche der Organisationen und Institutionen zu tragen, daß die Existenz der Welt von den spirituellen-personalen Kräften abhängig ist. Hier spricht von Oppen von der Krise der Gemeinde, die klar gesehen werden muß: „Unsere heutige Krise besteht darin, daß das Wort droht, nur gesprochenes Wort zu bleiben und nicht gelebtes Wort zu werden." 4 Die Strukturen der Welt sind nachchristlich. Sie gelten bedingt und begrenzt. Diese Feststellung hat zur Folge, daß zur Wirklichkeit der verweltlichten Welt die schwebende Doppelexistenz" 5 zwischen Norm und Offenheit gehört, daß Gemeinsamkeit und Vereinzelung miteinander und gegeneinander durchgehalten werden müssen, daß innerhalb der Rangordnungen Ungleichheit und Gleichheit miteinander durchgehalten werden müssen, und daß die menschliche Existenz Dasein auf der Grenze mit dem Ziel ist, daß man für eine Zeit stehen kann, ohne in einem fest Begrenzten eingeschlossen zu sein. Die Gemeinde muß zu einer offenen Gemeinde werden. In ihr ist das Sachgespräch geeignet, der Gemeinschaft in ihr einen neuen Ansatz und eine ausstrahlende Kraft zu geben. In der inneren Freiheit der Kinder Gottes bedeutet der zu vollziehende Machtverzicht, daß sie das vorlebt und verkündigt, wovon die Welt nun lebt. Sie pflegt die Form um des Menschen willen und opfert nicht den Menschen der Form. Sie ist Träger solcher Freiheit, die nicht Gehorsam erzwingen will, sondern selbst Freiheit ausstrahlt und schafft und sich damit zuletzt als die stärkste Macht erweist®. Diese Gedanken von Oppens, die die christliche Gemeinde zur Tat und zur christlichen Beeinflussung durch personal vorgelebte Verantwortung rufen, schließen die Fragen der Struktur in der mobilen Welt ein. Als Träger und Empfänger des Evangeliums hat sie die Aufgabe entsprechend unserem Dasein so zu verkündigen, daß diese Verkündigung uns anrührt. Die Gemeindebildung ist ein dialogischer Vorgang, ein wechselseitiger Bezug von Evangelium und Sozial Wissenschaft. „Von ihrem Ursprung her hat die christliche Gemeinde in die bestehende Institutionswelt ein neues Element getragen", das in der nachchristlichen Geschichte die Völkerwelt 4
Dietrich von Oppen, Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 89. Ebda. S. 92. « Ebda. S. 89—98. s
128
in Bewegung gesetzt und verwandelt hat. Das Element der Bewegung enthält fünf Momente: 1. die Entzauberung und Entsakralisierung der Ordnungen, 2. die Öffnung des Blicks für die Zukunft, 3. die Gleichheit aller ihrer Glieder, 4. die Nichtbeachtung verschließender Grenzen, 5. die Freiheit des Einzelnen von Gruppen- und Standesbindung. Diese fünf Momente widersprechen dem Prinzip der Institution 7 . Eine doppelte Frage war aufgeworfen: die Frage der Gestalt der Gemeinde und die Frage nach ihrem Verhältnis zu der sie umgebenden Sozialwelt. Die Urgemeinde war in ihrem eschatologischen Enthusiasmus gleichgültig gegenüber den Ordnungen der Welt, und die alte und mittelalterliche Kirche zog aus der sie enttäuschenden Parusieverzögerung die Konsequenz, daß sie die Verantwortung für das Leben und den Bestand der Umwelt ohne einen Spielraum für das Gewissen des Einzelnen übernahm. Eine dritte Antwort entsteht. Ihre Grundzüge sind schon erkennbar. „Wieder geht es dabei um die Gestalt der Gemeinde selbst, um ihr Verhältnis zur Sozialwelt und um das Bild dieser Sozialwelt selbst." 8 Alle drei sind miteinander in die Krise geraten und suchen nach einer neuen Abstimmung. An die Stelle der traditionellen Ordnung ist das neuartige Prinzip der Organisation getreten. Dieses Prinzip ist ein Prinzip der Bewegung. Die Einzelperson ist darin die sinngebende und tragende Einheit. Kein Staatswesen und kein Verband können unbedingte und unantastbare Geltung beanspruchen. Dieses Bedürfnis kommt der Gemeinde entgegen. Kollektivierung, Reglementierung und Funktionalisierung müssen in den ihnen zukommenden Grenzen gehalten werden zugunsten einer lebendigen Gewissensverantwortung. Die christliche Gemeinde ist der Ursprung dieser sozialen Strukturforderung. Hier sieht von Oppen die von Logstrup geforderte Entsprechung der Verkündigung und der Anforderungen des praktischen Lebens. Die Verkündigung muß dem Menschen einen Standort außerhalb der Organisationen zeigen. Mit dem bloßen Gesetzesgehorsam kommt der Mensch nicht aus. Er muß fähig sein zu schöpferischer Erfindung, zum Friedenstiften, zum Schenken. Die sozialethische Verantwortung des Personalen drängt zu freien Leistungen, die sich jeder Festlegung entziehen und niemals erzwingbar sind. Sie müssen zu den gesetzlichen Leistungen treten. Christliches Handeln ist Handeln wie Gott, weil Gott zuerst an uns so gehandelt hat. Von Oppen lehnt christliche Verhaltensnormen und Hoffen auf fortschreitende Ver7 Dietrich v o n Oppen, Strukturfragen der christlichen Gemeinde in der mobilen Welt, Zeitschrift für Evangelische Ethik, S. 293 ff. (1961). 8 Ebda. S. 298.
9
Kosmahl, Ethik
129
christlichung der Welt ab. Er spricht vielmehr von dem neuen Gebot ganz andersartiger Qualität, als die Normen der alten ständisch-traditionellen Ordnungen waren. Er wehrt sich gegen falschen und oberflächlichen Optimismus und sieht die christliche Verantwortung in ihrem Zentrum, mitten in dem großen und kleinen Alltag des Lebens der Familie, des Betriebs, der Schule, der Verbände, der Behörden und der Parlamente. Dort sind die Christen das Salz der Erde, Glieder der Kirche, die eine dienende Rolle eingenommen haben 9 . Von Oppen übt an Oldham und Wendland scharfe Kritik dadurch, daß er sagt, daß keine Möglichkeit mehr besteht, unser Leben unbedingt bindend in eindeutigen und letztgültigen Normen zu verfassen. „Und jeder Versuch, die vorläufigen und nur begrenzt gültigen Normen als unbedingt bindend anzusehen, endet in der Groteske. Darum kann es auch heute keine spezifisch ,christlichen' Haltungen und Verhaltensweisen geben, denn das müßten unbedingt verbindliche Normen sein. Die kirchliche Verantwortung für die Welt kann nicht mehr im Aufrichten und Einschärfen ,christlicher Normen' geschehen." 10 9 10
130
E b d a . S . 293 ff. Christliche G e m e i n d e und Gesellschaftswandel, S . 9 4 .
7. K A P I T E L
Paul L. Lehmanns Ablehnung der „Mittleren Axiome" in seiner „Ethik als Antwort" Wir haben in Lehmanns Buch „Ethics in a Christian Context" (Ethik als Antwort) nach dem Urteil von Ringeling 1 eine Situationsethik in heilsgeschichtlicher Perspektive. Der Bonhoeff erschüler gehört zu den Wegbereitern einer Theologie der Revolution. Im Mittelpunkt steht der christliche Revolutionär mit seinem Charisma. Die Bezeichnungen „Kontextethik", „Koinoniaethik" und „Theologie des Messianismus" gelten für den Weg, den Shaull und Lehmann zeigen wollen. Lehmann sagt: „Der Koinonia-Charakter der christlichen Ethik ist von dem Wesen der Kirche als Leib Christi abgeleitet." 2 Der Begriff „Reife" beschreibt das vital-organische Wachstum der Liebe innerhalb des Beziehungsfeldes der Kirche zur Welt. Gottes Handeln in Christus macht die Kirche zum Beziehungsfeld und zur Hüterin des Geheimnisses der menschlichen Reife. Menschsein bedeutet, zu der neuen Menschlichkeit, zu dem zweiten Adam, unterwegs sein. Das Unterwegssein kommt in der Wiederkunft Christi zur Erfüllung. Das Beziehungsfeld, nicht ein Absolutismus von Normen und Prinzipien, ist das Konstituens der christlichen Ethik. Diese Ethik ist nicht Imperativisch, sondern indikativisch. Christus wirkt durch die ethische Wirklichkeit der Koinonia. Ethisches Handeln geschieht nicht in rationalen Prinzipien, sondern als Zeichen, das heißt als Hinweis des Handelns Gottes mit dem Ziel der Vermenschlichung der Welt. Die Verantwortung des Menschen ist ein Element der Politik Gottes. Die Verantwortung des Menschen ist Antwort des von Gott geforderten personalen Zentrums des Menschen. Lehmann beurteilt die „Mittleren Axiome" Oldhams und Bennetts als taktische Formulierungen von Urteilen und Zielen, die für Christen und Nichtchristen eine gemeinsame Verfahrensweise festsetzen wollen, ohne mit Motiv und Geist identisch zu sein, die das christliche Handeln bestimmen. Sie können nicht von der christlichen Liebe allein abgeleitet werden. Lehmann wirft ihnen die bekannte Mischung christlicher und nichtchristlicher rationalistischer Elemente vor, die die christliche Ethik in Unklarheit verwickelt. 1 2
9*
ökumenische Rundschau, Januar 1967, S. 12. Paul. L. Lehmann, Ethik als Antwort, S.42. 131
Im Modellfall der Rassenintegration will Lehmann zeigen, daß die Maxime der rassischen Gerechtigkeit einer streng logischen Ordnung von ethischen Prinzipien folgt. Das „Mittlere Axiom" ist die Brücke zwischen einem allgemeinen ethischen Prinzip (zum Beispiel: christliche Liebe) und einer komplexen und konkreten sozialen Situation (zum Beispiel: rassische Gerechtigkeit). Rassenintegration ist ein „Mittleres Axiom" der rassischen Gerechtigkeit. Diese Logik verwirft Lehmann, denn die Anwendung ethisch formulierter Prinzipien auf konkrete Situationen ist unrealistisch. Ethik ist nicht Sache der Logik, sondern Sache des Lebens. Vielmehr deckt die Beschreibung des Beziehungsfeldes die konkrete menschliche Wirklichkeit auf. Rassenintegration ist konkretes menschliches Handeln als Zeichen des göttlichen Handelns. Alle Zeichen der Umwandlung der Welt nach Gottes Ziel trennen und vereinigen die Menschheit. Die ethische Bedeutsamkeit eines Zeichens ist nicht von universaler Einmütigkeit oder von einheitlichem Verfahren und von Grundsätzen des Handelns abgeleitet. Das Verhalten des Christen soll die Tatsache ans Licht bringen, daß die Rassenintegration ethisch bedeutsam ist, weil sie auf das verweist, was Gott in der Welt tut, um die Vermenschlichung des Menschen zu erreichen. Lehmann behauptet, daß die Koinonia-Ethik ein klareres Bild dessen besitzt, was Gott tut und was der Mensch tun soll, als eine Ethik der Prinzipien oder „Mittleren Axiome" zu bieten vermag. Eine Situation ist dadurch ethisch bedeutsam, weil sie durch das Beziehungsfeld des Handelns Gottes gestaltet wird und darum Teil seines Handelns ist. Lehmann wirft Bennett vor, daß er die ethische Bedeutsamkeit nicht sieht. Die „Mittleren Axiome" sind als verkümmerte Reste der naturrechtlichen Tradition für die Ethik entbehrlich. Gegenüber Lehmann ist zu sagen, daß er in schwärmerischer Vereinfachung die ganze Problematik verzerrt. Rendtorff sagt zu ihm „Die Notwendigkeit übergeordneter Kriterien läßt sich nun einmal nicht beseitigen." 3 Es ist unrealistisch, die analytischen Ergebnisse zu verwerfen, die die Sozialethik der „Mittleren Axiome" erbracht hat. 3
132
ökumenisdie Rundschau, Januar 1967, S. 87.
8.
KAPITEL
Die sozialethische Verantwortung für die strukturelle Ordnung der gesellschaftlichen Institutionen bei A. Rieh Nach den beiden kritischen Stimmen von Oppens und Lehmanns haben wir in der Sozialethik des Züricher Gelehrten A. Rieh eine Weiterführung der Theologie der Gesellschaft vor uns.
A) Die Verantwortung für die institutionelle Ordnung der Gesellschaft als Frage nach der Relevanz des Glaubens Rich lenkt die Aufmerksamkeit auf ein Teilproblem der Theologie der Gesellschaft. Bei ihm liegt die Einsicht zugrunde, „daß die Sozialethik erst dann im Vollsinn des Wortes .wirkliche Sozial-, das heißt die Wirklichkeit des Sozialen treffende Ethik' ist, wenn sie das Verhältnis von Ich und Du, von Mensch und Mensch, von Gruppe und Gruppe etc. in der Weise verantwortlich ins Auge faßt, wie es durch die institutionellen Ordnungen der Gesellschaft vermittelt wird" 1 . Die Person ist niemals ohne Institution überhaupt auch nur denkbar. Rieh ist die Unterscheidung der Begriffe „Individuum" und „Person" wichtig für das theologische Problem der institutionellen Ordnung der Gesellschaft 2 . Er sagt, daß das Individuum der Mensch zu sich selbst ist, und daß die Person der Mensch zu dem Mitmenschen ist. „Die so verstandene Sozialethik setzt nun voraus, daß alle institutionellen Ordnungen im gesellschaftlichen Sein des Menschen ihrer konkreten Gestalt nach vom Menschen erzeugt, somit nicht als schlechthin objektive Größen von Gott gegeben oder von der Natur gesetzt sind." 3 Rieh fragt nun, ob der christliche Glaube sich mit institutionellen Gestaltungen abfinden kann, die durch ihre objektiv wirkende Struktur mitmenschliches Leben in antimenschliches Leben verkehren. Es ist für ihn wesentlich, daß „für den verpflichtenden Inhalt der Institution die personale Relation entscheidend" 4 ist. 1 г 3 4
Christian Walther, Theologie der Gesellschaft, S. 1 5 3 / 1 5 4 . A.Rich, Glaube in politischer Entscheidung, S. 114ff. Ebda. S. 1 1 5 / 1 1 6 . R G G III, Artikel „Institution", 784.
133
B) Die Liebe gibt die Zielrichtung gesellschaftsgestaltenden
Handelns
Der Glaube stellt an die gesellschaftliche Ordnung die Frage: Ist sie so beschaffen, daß sie von einem seiner sozialen Verantwortung bewußten Christen rezipiert werden kann? Die Bibel gibt kein normatives Muster einer Sozialordnung. Der Hörer des Wortes Gottes steht in einem Dialog mit der Anrede Gottes in Gesetz und Evangelium. Die Gestalt der Welt vergeht. Sie gehört zum Vorletzten. Letztcharakter hat das Reich Gottes. Das Reich Gottes ist das Unverfügbare, das sich in punktuellen Aspekten als Gottes Herrschaft und als Liebesanspruch dem Hörer des Wortes erschließt. Friedrich Naumann hat die eigengesetzliche Struktur vom Bereich des Personlebens getrennt und die Ganzheit des Menschen in zwei Hälften geteilt. Rieh sagt gegen Naumann, daß die neutestamentliche Agape (Liebe des Glaubens) sich nicht mit dieser Teilung abfinden kann. Die Eigengesetzlichkeit ist für sie kein Tabu. Sie ist die prüfende Instanz, die in concreto zu entscheiden hat, was recht und was unrecht ist. Liebe und Recht stehen in Verbindung. Das Hauptkriterium ist die Mitmenschlichkeit. „Diese Prüfung hat immer wieder neu zu erfolgen in ständiger Bezogenheit auf die Realität" 5 Deshalb gibt es kein fertiges Bild von einer christlichen Ordnung der Gesellschaft. Es gibt nur Kriterien als Hilfen der kritischen Prüfung in der geschichtlichen Situation, die keine ewigen naturrechtsartigen Maximen sind, sondern Maximen der sozialen, mitmenschlichen Entscheidung vom Impuls der Liebe des Glaubens her. C) Die Auseinandersetzung mit dem säkularen Messianismus findet die Antwort in einer neuen evangelischen Weltlichkeit Rieh nennt den säkularen Messianismus auch „sozialistischen Maximalismus", der in der Idee der klassenlosen Gesellschaft als ein Ausdruck der totalen Gemeinschaft, des Kollektivismus, erscheint®. „Es ist schon hinreichend deutlich geworden, daß sich dahinter ein Stück christlicher Reich-Gottes-Hoffnung in säkularisierter Gestalt verbirgt." 7 Die politische Entwicklung der Geschichte, deren Kern die politische Anstrengung des Menschen ist, ist das Objekt dieser säkularisierten eschatologischen Hoffnung. Dagegen erwartet der christliche Glaube das Letzte, die Erlösung und Vollendung, nicht vom Menschen, sondern von Gott. Aber auch die andere Form des säkularisierten Messianismus, der liberale Messianismus, will alles vom Menschen ableiten. Das Ziel ist dort die vernünftige Gesellschaft als Ausdruck der totalen Freiheit des Individuums. „Sein Leitbild ist der freie, mündige, durch die eigene Vernunft 5 9 7
134
A. Rieh, Glaube in politischer Entscheidung, S. 125. A. Rieh, Christliche Existenz in der industriellen Welt, S. 220 ff. Ebda. S. 221.
bestimmte Mensch, der sich mit seinesgleichen zu einem gesellschaftlichen Verband zusammenschließt, ohne dabei die individuelle Unabhängigkeit preisgeben zu müssen." 8 Diese Gestalten des säkularen Messianismus sozialistischer oder liberaler Form nennt Rieh „Gemeinschaftskollektivismus ohne reale Freiheit" und „Freiheitsindividualismus ohne wirkliche Gemeinschaft". Zu beiden Messianismen sagt der christliche Glaube Nein. Beide Messianismen stellen ein Stüde Gericht über den Menschen dar, der das aus sich selbst heraus schaffen will, was Gott allein in Jesus Christus schaffen kann und wird. Die Bitte Jesu um das Kommen des Reiches Gottes zielt darauf, daß „Gottes freimachender Liebeswille wie im Himmel so auch auf Erden zur Herrschaft kommt" e . Die christliche Antwort auf die modernen säkularistischen Messianismen besteht in einer „neuen evangelischen Weltlichkeit". Sie weiß sich in dieser Zeit für diese Welt verantwortlich, weil ihr die Erlösung durch die Gottesherrschaft zugesprochen ist. „Es ist die jeder Dehumanisierung entgegengesetzte ,menschliche' Gestaltung der Gesellschaft."10 Der christliche Glaube kann keine Freiheit bejahen, die auf Kosten mitmenschlicher Gemeinschaft geht, und keine Gemeinschaft, die sich um den Preis der Freiheit der menschlichen Person verwirklicht. Der messianische Sozialismus als totalitäre Ideologie muß von dem Sozialismus als gesellschaftliche Revolution klar unterschieden werden. Als gesellschaftliche Revolution stellt der Sozialismus die Aufgabe der bleibenden Neuordnung der Gesellschaft, um dem industriellen Menschen zu seinem Recht, das heißt zu einem menschlich-mitmenschlichen Status in der Arbeit, zu verhelfen. Das Problem der rechten Struktur der gesellschaftlichen Ordnung bleibt eine theologisch relevante Frage. Rieh ist bescheiden genug, daß er diese Frage nicht als maximalistische Frage nach der endgültig wahren Gestalt der Gesellschaft versteht, sondern als die viel bescheidenere Frage, „welche Strukturmöglichkeiten sozialer Ordnung unter den Bedingungen des Industriezeitalters zu rezipieren oder neu anzustreben s i n d " u . Der industriell Arbeitende muß menschlich in seine Arbeit integriert werden, um ihm ein hinreichendes Maß sozialer Sicherheit zu gewähren und ihn in seiner alltäglichen Arbeitssituation aus einem dinghaften Produktionsmittel zu einem mitverantwortlichen Arbeitspartner werden zu lassen. „Diese Frage ist die Frage der Liebe des Glaubens, die sich in all ihren sozialen Entscheidungen vom Grundkriterium der Mitmenschlichkeit leiten läßt." 12 8 β 10 11 12
A.Rich, Christliche Existenz in der industriellen Welt, S.221. Ebda. S. 223. Walther, Theologie der Gesellschaft, S.158. A. Ridi, Christliche Existenz in der industriellen Welt, S. 227 ff. Ebda. S. 228.
135
D) Das Ziel der kritischen Gesellschaftsdiakonie: dienlichere Ordnungen
dem
Menschen
Die Liebe des Glaubens erklärt die Diakonie zur kritischen Funktion der Kirche. Die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft auf dem Boden der säkularisierten Welt übt als Partnerin kritische Diakonie. Rieh unterscheidet die Begriffe „Säkularisation" und „Säkularismus". Unter „Säkularisation" versteht er die „relativiert echte Weltlichkeit", den offenen Lebensraum für alle ohne religiöse oder antireligiöse Interpretierung. „Säkularismus" ist dagegen der Hang zur unechten, sich selbst übersteigenden und so überhöhenden Weltlichkeit. Hier wird die Welt zum ideologisierten Raum 13 . Diese Unterscheidung ist wichtig, um die kritische Diakonie zu verstehen, die die „Maximen der sozialen Entscheidung" formuliert. Die drei Seiten des kritisch-diakonischen Auftrags der Kirche in der säkularisierten Welt sind: 1. Jede Verabsolutierung von Weltlichem muß unter offene Kritik genommen werden (Nationalismus, Sozialismus, Liberalismus). 2. Die Diakonie anerkennt die institutionelle bzw. strukturelle Mitgestaltung der Gesellschaft als Aufgabe und nimmt ihre Verantwortung im Vorletzten vom Letzten her ernst. „Es gilt die Gesellschaft weltlich und nur weltlich zu ordnen, aber so, daß die Liebe des Glaubens die jeweiligen Ordnungsmöglichkeiten an ihren eigenen, nicht an fremden Maßstäben mißt und je nachdem zu deren Bejahung oder auch Verneinung kommt." 14 Die Beteiligung der Christen im öffentlichen Leben muß eine kritische Mitbeteiligung sein. 3. Die kritische Diakonie wird zur Sozialpolitik, die in die tatsächlichen Verhältnisse eingreift. Nicht Prinzipien und Privilegien gilt es zu verteidigen, sondern das Recht der bedrohten, bedrängten und benachteiligten Mitmenschen. E) Die eschatologisch orientierte „Theologie der Revolution" begründet die Neuordnung der Gesellschaft vom Handeln Gottes In der Nacharbeit der Konferenz von Genf 1966 beurteilt Rieh die Theologie der Revolution: Die Theologie der Revolution will „die Frage einer strukturell besseren Neuordnung von Gesellschaft und Welt als ihre verantwortliche Aufgabe heute erkennen und ergreifen" 15 . Die drei Revolutionen (technologisch-industriell, politisch, sozial) vereinigen sich heute im turbulenten Selbstfindungsprozeß der sogenannten „Dritten Welt". Die dritte Welt ist die im explosiven Sinne revolutionäre Welt. „Das Gegenwärtigsein der Herrschaft Christi zerbricht die Ungerechtig13 14 15
136
A. Rich, Die Weltlichkeit des Glaubens, S . 3 4 f f . Ebda. S. 97. Lavanchy/Rich/Riebcn/Visser't Hooft, Kirche und Gesellschaft, S. 14.
keit in der bestehenden Ordnung und ruft uns zur Teilnahme am Neuwerden der Welt." 1 6 Das Revolutionäre tritt ein in den Verantwortungsbereich des Christen. Die Frage ist die, woher weiß der Christ, was in der revolutionären Situation positiv geboten ist. Weiß er es aus einer biblizistischen beziehungsweise naturrechtlichen Normenethik oder aus einer normenlosen Situationsethik? Das ist das Problem. Mit Wendland, Mehl und Shaull ist sich Rieh darin einig, daß das Revolutionäre des Weltverständnisses der christlichen Existenz unter der Herrschaft Gottes als eschatologisches Ereignis darin besteht, daß sich christliche Existenz im Zuspruch des Evangeliums von Jesus Christus schon jetzt von der kommenden Gottesherrschaft in Anspruch genommen weiß D a die heutigen Ordnungen nicht mehr als gottgegeben, schöpfungsmäßig und natürlich verstanden werden können, muß eine neue Strategie der Revolution gefunden werden. Die christliche Brüderlichkeit muß Fleisch werden, sie muß mit Opfersinn und Verantwortungsbereitschaft in das Säkulare eingehen. Das hat Konsequenzen für das Verhalten des wirtschaftlich Stärkeren auf dem Weltmarkt und für die Entwicklung supranaturaler Institutionen. Die sozialethische Verantwortung gilt sowohl für die personalethische als audi für die gesellschaftspolitische Ebene. Das christlicheschatologische Weltverständnis (die Hoffnung des Glaubens wirkt die Liebe) drängt auf der Ebene der personalen Liebe zum Opfer und auf der Ebene der sozialen Liebe zur strukturellen Verfassung des Sozialen. Neben dem verantwortlichen Gebrauch der Mittel tritt die Partizipation als Strukturprinzip auf, um der Liebe im Bereich mitmenschlicher Strukturen zum Durchbruch zu verhelfen. Die Revolution, die heute geboten ist, ist Kampf um gerechtere Strukturen 18 . E b d a . S. 25. " E b d a . S. 43. E b d a . S. 54, vgl. A p p e l l an die Kirchen der Welt, S. 57, 69, 104, vgl. Christian Walther, D i e A u f g a b e n der Kirchen in der G e s t a l t u n g der Gesellschaft, i n : Lutherische M o n a t s h e f t e , J a n u a r 1968, S. 12. Weiterführende G e d a n k e n finden sich in dem Büchlein v o n Christian Walther „Christenheit im A n g r i f f . Z u r Theologie der R e v o l u t i o n " : Walther setzt sidi mit dem ,Prinzip der N e g a t i o n ' in der Theologie der R e v o l u t i o n auseinander (S. 20). „ D e n n d a s N e u e , d a s hier g e f o r d e r t w i r d , k a n n das bestehende A l t e überhaupt nur disqualifizieren" ( S . 2 7 ) . „ D a s P r o b l e m steckt also im D e t a i l , oder besser: in der mühseligen Kleinarbeit, die großen und sicher richtigen Erkenntnisse in die notwendigen kleinen, aber praktisch vollziehbaren Schritte u m z u f o r m e n " (S. 34). Eine „neue V e r b i n d u n g v o n Christentum und politischer V e r n u n f t " ( S . 5 1 ) ist geboten, die die „absolute U t o p i e der guten Gesellschaft des Reiches G o t t e s " in „die relative U t o p i e einer besseren Gesellschaft, für die wir arbeiten sollen" ( S . 5 5 ) , ü b e r f ü h r t (so nach H e l m u t G o l l w i t z e r in seinem S y n o d a l v o r t r a g „ D i e W e l t v e r a n t w o r t u n g der Kirche in einem revolutionären Z e i t a l t e r " in „ D i e Z u k u n f t der Kirche und die Z u k u n f t der W e l t " E K D - S y n o d e 1968, S. 73). D i e Ridische Z u o r d n u n g v o n Freiheit und B i n d u n g eröffnet einen H o r i z o n t , „in dem Freiheit und P l a n u n g (glaubende, planerische Vernunft) nicht mehr als theologisch einander ausschließende G e g e n s ä t z e erscheinen" (S. 57). D i e christliche H o f f nung setzt „ a u s sich den geplanten Ausgriff in die Z u k u n f t f r e i " (S. 57). „ I n dieser 18
18
137
F) Zehn Paradigmen („Maximen sozialer Entscheidung") für die industrielle Arbeitswelt und Wirtschaft Die „Maximen der sozialen Entscheidung" sind Leitlinien für die strukturelle Ordnung bzw. Ordnungsveränderung in der modernen Arbeitswelt 19 . Diese Maximen lassen sich christlich verantworten und beanspruchen verbindlichen Charakter. Sie nehmen sozialistische und liberale Elemente auf, um nun in thesenartiger und paradigmatischer Fassung Hinweise zu sein, um zu sozialem Handeln zu verhelfen. Die kritischprüfende Liebe des Glaubens bemüht sich in der Konfrontation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit um die mitmenschliche Verantwortung 20 . Das Ziel der Maximen in einem sozialethischen Entwurf ist die Ermöglichung einer personbestimmten Mitmenschlichkeit in den Institutionen. Die Liebe des Glaubens stellt den Rahmen der Entscheidungen auf. Die „Maximen der sozialen Entscheidung" sind: 1. Das Ziel optimaler Produktivität der Wirtschaft erhebt die menschlich-mitmenschlichen Belange über die anonyme Eigengesetzlichkeit. 2. Die Forderung, daß einer des andern Last trägt, verlangt, daß soziale Sicherheit für alle erstrebt wird. 3. Das Prinzip der Bedarfsdeckung gibt der Arbeit mitmenschlichsoziale Bedeutung. 4. Freiheit und Bindung von Arbeitgeber und Arbeitnehmer müssen in ein sich gegenseitig bedingendes und begrenzendes Verhältnis gebracht werden. Ein Vergleich von freier Marktwirtschaft mit kommunistischer Zentralverwaltungs- und Planwirtschaft ergibt den Gesichtspunkt der „gelenkten Marktwirtschaft als der relativ besten Ordnung" 21 . 5. Eine verantwortliche Rahmenplanung (dezentralisierte Planung, die der freien Initiative Spielraum gibt) kann christlich geboten sein, um die Wettbewerbswirtschaft vor einem blindwütigen Konkurrenzkampf zu bewahren 22 . 6. Die Eigentumsfrage muß partnerschaftlich bewältigt werden, indem der Arbeitspartner Eigentumspartner werden muß. Die Politik der breiten Eigentumsstreuung muß sich jenseits einer liberal-kapitalistischen und einer kollektiv-kapitalistischen Konzeption bewegen23. Beziehung bedeutet Planung in ihrer allgemeinsten Form den Entwurf .rationaler Direktiven' für ein in die nächste Zukunft ausgreifendes und sie gestaltendes Handeln" (S. 58/59). Hier sieht Walther den Ansatz für eine „neue Dienststrategie" (S. 8) der Christenheit. Gollwitzer verpflichtet die kirchliche Autorität zum kritischen Anwalt des Zwecks im Bereich der Mittel (S. 90 EKD-Synodalbericht). 19 A. Rieh, Christliche Existenz in der industriellen Welt, S. 228. 20 Ebda. S. 261. 21 Ebda. S.231. A. Rieh, Glaube in politischer Entscheidung, S. 127 f. 22 A.Rich, Christliche Existenz in der industriellen Welt, S. 233. 23 Ebda. S. 235, Glaube in politischer Entscheidung, S. 128. 138
7. Mit Phantasie muß jede Möglichkeit gesucht werden, die dem Menschen im Produktionsprozeß einen Entscheidungsraum gewährt und ihn davor bewahrt, daß er zum bloßen Zubehör der Maschine und zur toten Seele degradiert wird 2 4 . 8. Die hierarchisch-herrschaftliche Struktur im Privat- wie im Staatskapitalismus muß vom Prinzip genossenschaftlich-demokratischen Miteinanders geprüft werden 25 . 9. Die Macht muß geteilt werden. An die Stelle einseitiger Machtposition müssen Solidarismus und Partnerschaft treten 26 . 10. Die industrielle Welt muß nach außen den Charakter einer mitmenschlichen Dienstleistung gewinnen 27 . Diese zehn Maximen wollen zu einer verantwortlichen Gestaltung des Lebens in Industrie und Wirtschaft auffordern. Die Liebe des Glaubens wird soziales Handeln am arbeitenden Menschen. A . Rieh, Christliche E x i s t e n z in der industriellen Welt, S. 238 ff. E b d a . S. 240, G l a u b e in politischer Entscheidung, S. 128 ff. (dort sind die 7. und 8. M a x i m e verbunden zur M a x i m e der Mitbestimmung), v g l . Christliche G e m e i n d e und Gesellschaftswandel, S. 267 ff., 278 ff. 2 6 A . Rieh, Christliche E x i s t e n z in der industriellen Welt, S . 2 5 8 , G l a u b e in politischer Entscheidung, S. 130. 2 7 A . Rieh, Christliche E x i s t e n z in der industriellen Welt, S. 260, vgl. Walther, Theologie und Gesellschaft, S. 163 ff. A p p e l l an die Kirchen der Welt, S. 91. 24
25
139
9. K A P I T E L
Die Forderung der Überprüfung überholter wirtschaftsethischer Auffassungen in der Wirtschaftsethik Munbys Der englische Wirtschaftswissenschaftler D. L. Munby gibt in seinem Buch „Christ und Wirtschaft" eine Grundlage für eine gründliche Uberpüfung der herrschenden, oft aber überholten wirtschaftsethischen Auffassungen. Heinz-Dietrich Wendland hat die deutsche Ubersetzung dieses Buchs mit der Feststellung eingeführt, daß seit der ersten und bisherig letzten deutschen „Evangelischen Wirtschaftsethik" von Georg Wünsch im Jahre 1927 kein Gesamtüberblick aus der christlichen Sicht vorgelegt worden sei. Hier helfe Munby einem allgemeinen Mangel ab. Das Buch nimmt das ökumenische Leitbild der „Verantwortlichen Gesellschaft" auf und entwickelt es weiter. A) Die „Mystische Einheit der Trinität" als Modell für „mutual relations" in der „Verantwortlichen Gesellschaft" Der Laie Munby bezeugt, daß nur durch den Heiligen Geist das Wort der Heiligen Schrift als das Wort Gottes erkannt werden kann. Der Heilige Geist zeigt Jesus Christus als das fleischgewordene Wort. Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, also die Trinität, ist nicht eine starre Lehrformel, sondern Gegenseitigkeit und Gemeinschaft. Vater, Sohn und Geist stehen zueinander wie die Glieder einer Familie in „mutual relations" und „in society". Dieser Interpretation der Trinität entspricht Munbys Sicht der menschlichen Existenz: Der Mensch, aus der stofflichen Welt gemacht, ist aufgerufen zur Gemeinschaft mit Gott und mit den Mitmenschen in gegenseitigen Beziehungen und in der Gesellschaft. Da die Gottesbeziehung abgebrochen ist, hat der Mensch seine Mitte verloren und befindet sich auf dem exzentrischen Weg der Selbstverherrlichung. Jesus Christus hat das Verlorene wiedergebracht: die Gemeinschaft mit Gott. Munby bezeichnet die Gliedschaft am Leib Christi und die Verbundenheit mit den anderen Christen als „mystische Einheit" 1 . In der „mystischen Einheit" ist die Liebe das Verbindende. Die Eschatologie Munbys trägt teleologischen Charakter: „Christen schauen in der Tat vorwärts auf das Ende der Welt." 2 Die immanenten Munby, Christ und Wirtschaft, S.21. Ebda. S. 23, vgl. Christian Social Ethics in a changing World, S. 274 (Verweis auf Munby, G o d and the Rich Society). 1 2
140
Hoffnungen des Fortschritts und die Christushoffnung sind zwei verschiedene Hoffnungen. Die Christushoffnung gilt auch da, wo die immanenten Hoffnungsinhalte illusorisch werden. „Im christlichen Glauben geht es zuerst und zuletzt um Gott und seine Taten." 3 „Im christlichen Denken steht das Sein immer über dem Handeln." 4 Das Gebot des Evangeliums, daß wir unsere Nächsten lieben sollen, ist die Aussage von dem, wie wir als Menschen sein sollten. Das „Modell" ( = Urbild) Mensch, das zwar durch den Sündenfall beschädigt ist, ist nicht völlig verloren. Um „Ebenbild Seines Sohnes" zu werden, muß der Mensch sich täglich zu Gott orientieren. Das ist ein täglicher Prozeß, bei dem wir unsere Erlösung schaffen, bei dem Gott in uns wirkt 5 . Glaube, Hoffnung und Liebe sind „eingegossene Tugenden". Wir sollen diese Tugenden wirken lassen. B) Das Naturgesetz
als die Voraussetzung
für „Mittlere
Grundsätze"
Der Anglikaner Munby steht dem Naturrecht positiv gegenüber. Zwar sagt Fletcher von Munby, daß er sich zwar auf das Naturrecht berufe, es aber praktisch ignoriere®, aber in folgenden Punkten ist ihm das Naturrecht wichtig: 1. Der Mensch ist nach einem bestimmten Modell geschaffen und findet darin seine Erfüllung. 2. Dieses Modell ist in dem sündigen Menschen noch erkennbar, wenn auch in verkehrter Form. 3. Die Christusgnade stellt das ursprüngliche Modell in uns her. „Natürliches Gesetz in dem Sinne, in dem wir den Ausdruck gebrauchen, ist nicht in erster Linie ein Gesetz im rechtlichen oder moralischen Sinn. Es beschreibt das Modell des menschlichen Lebens, wie Gott es machte und wie er es haben will, in Beziehung auf die unmittelbaren Ziele des zeitlichen Daseins. Die empirischen Angaben der Sozialwissenschaften beschreiben dieses Modell in der von der Sünde verkehrten Gestalt. Das Modell selbst ist uns enthüllt durch die Vernunft, die durch die göttliche Offenbarung erleuchtet wurde." 7 Natürliches Gesetz ist die empirische Beschreibung einer metaphysischen Wirklichkeit. Es kann nur insofern als ein moralisches Gesetz bezeichnet werden, als die Menschen moralisch verpflichtet sind, in Ubereinstimmung damit zu handeln. Es verschafft die moralische Rechtfertigung für menschlidie Gesetze in einem korrekten Gesetzessystem. Der Christ steht vor einem zweifachen Problem: Er muß im Hinblick auf die unmittelbaren Ziele handeln, deren direkte Beziehung Munby, Christ Ebda. S.28. 8 Die Kirche als Munby, Christianity 7 Munby, Christ 5
4
and Wirtschaft, S. 25. 5 Ebda. S. 30/31. F a k t o r einer kommenden Weltgerneinschaft, S. 168 (Verweis auf and Economic Problems). und Wirtschaft, S . 3 7 .
141
zum Glauben nicht leicht zu erkennen ist, und er muß zusammen mit Nichtchristen handeln, die seine fundamentalen Vorurteile über das Wesen der Welt nicht teilen 8 . Infolge der Parusieverzögerung mußten die Christen der Urkirche sich in der immanenten Welt einrichten. So muß der Glaube in ein vereinbares und positives Verhältnis mit den immanenten Zielen der Gesellschaft kommen wie materielle Existenzsicherung, politischer Frieden, wirtschaftliche Produktion, Gesundheit, Erziehung, Gemeinschaftsaufbau, Recht und Gerechtigkeit zwischen Personen und Gruppen und ordnungsmäßige Regierungsformen. Im Zusammenleben und in der Zusammenarbeit mit Nichtchristen gab es nun Ziele, über die die Christen sich mit allen Menschen verständigen mußten. C) Gemeinsames
Handeln
Die Notwendigkeit besteht nun darin, daß Christen und Nichtchristen „in gewissen ,mittleren Grundsätzen' (middle axioms) übereinstimmen, die eine Grundlage für ein gemeinsames Handeln schaffen" 9 . Sie stehen zwischen den Wahrheiten des Glaubens, mit denen sie übereinstimmen, aber von denen sie nicht unmittelbar abzuleiten sind, und der konkreten Anwendung von Prinzipien auf bestimmte konkrete Situationen. Sie sind Sätze aus dem natürlichen Gesetz, die im Dialog als Übereinkunft verschiedener Positionen gewonnen werden und eine christliche Basis für soziales Handeln und ein Mittel für das gemeinsame Handeln von Christen und Nichtchristen darstellen. D) Grundlagen christlichen
Gesellschaflsverständnisses
Die „Mittleren Grundsätze" sind gewisse Prinzipien des christlichen Gesellschaftsverständnisses und wahre Prinzipien des menschlichen Wesens innerhalb der Gemeinschaft, also die Grundlage für eine christliche Stellungnahme zu den sozialen Problemen: 1. Die materielle Welt ist Gottes Gabe, die der Mensch in Dankbarkeit und Freude nutzen soll, ohne sie oder sich zu vergötzen. 2. Die doppelte Haltung zur Natur besteht darin, daß der Mensch als Krone der Schöpfung Repräsentant der Natur von Gott ist und wie ein Schöpfer die Dinge seinen Zwecken dienstbar machen kann. 3. Der Besitz ist sowohl für den Menschen notwendig, aber er kann audi einen verderblichen Einfluß ausüben als Quelle des Mißbrauchs, des Stolzes, der Verachtung und der Herzenshärtigkeit. 4. Die menschlichen Gemeinschaften sind Teile des gottgegebenen Lebens der Menschen. Die christliche Vorstellung von der Gesellschaft ist pluralistisch. In ihren Gruppen sollen die Menschen zur vollen Verantwortlichkeit heranwachsen. Die Gruppen spiegeln das reiche Gefüge des menschlichen Wesens. 8
Ebda. S. 38. Ebda. S. 40, vgl. den Hinweis auf Munby in: Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 81. 9
142
5. Es muß den Staat mit seiner Madit geben, um gemeinsame Regeln für das allgemeine Wohl durchzusetzen und die Allgemeinheit vor Unordnung zu bewahren. Die Gefahr der Korruption als Versuchung der Regierenden muß erkannt werden 9 ".
Munby widmet sich als Wirtschaftsexperte den Wirtschaftsproblemen der Gegenwart. Diese Probleme sind Reichtum und Armut, Vollbeschäftigung und Inflation, Preissystem, Unternehmer- und Arbeiterinteressen. Das Denken der Life and Work-Bewegung stellt den ernsthaften Versuch an, die sozialen Probleme zu durchdenken: Das Recht der sittlichen Persönlichkeit des Menschen steht im Widerspruch zu den vier Notständen, Vergrößerung der Gewinnsucht, Ungleichheit, unverantwortlicher Besitz von Macht und Beseitigung des christlichen Berufsethos. In Anknüpfung an die fünf Ziele von Oxford 1937 (rechte Gemeinschaft, angemessene Ausbildung aller Kinder, Fürsorge, Anerkennung der Würde der Arbeit und Kennzeichnung der Rohstoffe als Gottes Gaben) und an die Amsterdam-Interpretation der „Verantwortlichen Gesellschaft" kommt Munby zu der Feststellung, daß die damals getroffenen Grundsatzentscheidungen heute nicht mehr anwendbar sind. Evanston hatte bereits gesagt, daß die christlichen Sittengesetze in einer Zeit formuliert wurden, als die gesellschaftlichen Beziehungen von der Art des direkten Gegenübers bestimmt gewesen sind. Heute sind die Menschen in unpersönlichen Beziehungen verbunden 10 . E) Sieben Ziele internationaler
Wirtschaftsordnung
„Bevor wir einige mehr oder weniger annehmbare Regeln über die Wirtschaftsordnung aufstellen, müssen wir ihre Ziele betrachten: 1. Vollbeschäftigung, 2. Maximum des Realeinkommens der Welt, dynamisch ausgedrückt in dem maximalen Entwicklungsgrad, 3. Maximum des realen Volkseinkommens, auch dynamisch ausgedrückt, 4. gerechte Verteilung des Realeinkommens der Welt, 5. gerechte Verteilung des realen Volkseinkommens, 6. relative Stabilität des Einkommens für die Erzeuger, 7. Vermeidung von inflationären Preiserhöhungen. Es gibt keine Garantie dafür, daß diese Ziele ohne Konflikte erreicht werden können." 1 1 „Die Länder liegen nicht nur in Konflik miteinander, sie stehen auch auf verschiedenen Stufen der Entwicklung." 1 2 „Eine geordnete internationale Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet ist nur zu erreichen, wenn die Länder auf einige Sonderinteressen verzichten, um langfristige Vorteile zu gewinnen." 13 9a 10 12
Munby, Christ und Wirtschaft, S . 4 0 f f . Ebda. S. 101. Ebda. S. 203.
11 13
Ebda. S. 201. Ebda. S. 207. 143
F) Bowens Goals-Reihe Die elf dem Ideal der Liebe untergeordneten Ziele des Wirtschaftslebens aus der Reihe von Bowen umfassen den gleichen Bereich, den Munby in seiner Entfaltung der christlichen Grundsätze behandelt 14 . Sie sind: 1. Überleben und physisches Wohlergehen, 2. Brüderlichkeit, 3. Würde und Demut, 4. Aufgeklärtheit, 5. ästhetische Freude, 6. Schöpfertum, 7. neue Erfahrung, 8. Sicherheit, 9. Freiheit, 10. Gerechtigkeit und 11. Persönlichkeit15. Dieser Reihe dient Munbys Interesse, weil die Frage hinter diesen elf Punkten ganz seinem Anliegen entspricht: Was für Ziele können im Sinne dessen gelten, was als gut und böse von den Institutionen, politischen Wegen und Entscheidungen angesehen werden sollte. Die Ziele des Wirtschaftslebens sind nicht getrennt von den Zielen des Lebens1β. G) Christliche
Grundsätze
Munbys christliche Grundsätze wollen die beiden Erfahrungsbereiche, die ökonomisch-soziale mit der theologischen Erfahrung verbinden: 1. Freiheit und Verantwortung gehören zu der Grundstruktur des menschlichen Lebens. Die Toleranz und die Ausübung der Verantwortlichkeit sowohl des Produzenten als auch des Konsumenten verhindern einschränkende Maßnahmen 17 . 2. Sicherheit und soziale Stellung gehören zu dem Rahmen, innerhalb dessen die Menschen ihre Fähigkeiten voll auswerten können 18 . 3. Schöpferische Kraft und Initiative gehören zu dem Bild, nach dem Gott den Menschen geschaffen hat. Der Unternehmer trägt im Namen der Gesellschaft die erste Verantwortung für schöpferische Leistungen des Menschen in der Wirtschaft 1β . 4. Gleichheit bedeutet, daß die Menschen als Gleiche zu behandeln sind. In Evanston wurde dieser Grundsatz im Blick auf arm und reich in der Welt als gerechte Verteilung interpertiert 20 . 5. Vereinigungen und Gruppen sind Erziehungskräfte gegen den egoistischen Isolationismus. Der Staat muß Sorge tragen, daß die Gruppen nicht in Konflikt geraten 21 . 6. Staat und Gesellschaft stellen die Aufgabe der Erneuerung des Lebens in der Gemeinschaft der industriellen Welt und die Schaffung neuer 14 Ebda. S. 221, vgl. Bennett/Bowen/Brown/Oxnam, Christian Values and Economic Life, S. 45 ff. 15 Munby, Christ und Wirtschaft, S.221. " Bennett/Bowen/Brown/Oxnam, Christian Values and Economic Life, S.46. 17 Munby, Christ and Wirtschaft, S.244. 18 Ebda. 18 Ebda. S. 245. 21 20 Ebda. Ebda. S. 246.
144
Modelle des Lebens. Oxford 1937 hatte auf diesen Gedanken aufmerksam gemacht, der heute gekoppelt werden muß mit dem Erfordernis der materiellen Sicherung durch das Instrument der Wirtschaft. Sie sichert die Voraussetzung für Wohnung und Städtebau, in denen sich ein gesundes Gemeinschaftsleben entwickeln kann 22 . 7. Der Mensch als Sünder zeigt die Zersetzung des menschlichen Geistes. Durch diese Erkenntnis wird die Analyse der Gesellschaft beeinflußt. Sie zeigt Mißstände und Konflikte 23 . Munby ist als Wirtsdiaftsethiker davon überzeugt, daß der christliche Glaube die Einsicht in einige grundlegende Faktoren des menschlichen Lebens vermittelt, die wir mißachten 24 . Die christliche Hoffnung und die Erkenntnis der Sünde geben seinen „Mittleren Grundsätzen" Zielrichtung und realistische Einschätzung. 22 23 24
10
Ebda. Ebda. Ebda. S. 249.
Kosmahl, Ethik
145
10. K A P I T E L
Hendrik van Oyens Kritik an den „Mittleren Axiomen" Oldhams als Problem der Sprachgestalt des unbiblischen Geistes A) Die drei Gestalten evangelischer Annäherung an die
Sozialproblematik
Van Oyen beschreibt in seinem Aufsatz „Fundamentalprobleme der evangelischen Sozialethik die drei Gestalten der evangelischen Annäherung an die Sozialproblematik Die erste Gestalt ist die Theologie der Gesellschaft, die vom christlichen Naturrecht ausgeht (Wendland) und als Hintergrund das „Social Gospel" hat. Die zweite Gestalt ist die Theologie der Existenz. In der existentiellen Subjektivierung des personalen Zeitalters (Gogarten, Grisebach, Logstrup, von Oppen) ist der mündige Mensch der Anwalt der Säkularisierung als legitimer Folge des christlichen Glaubens 2 . Der Mensch steht als der erkennende Mensch unter der paulinischen Feststellung „alles ist euer". Er ist in der Bindung an die Geschichte der Erbe Gottes. „Jedes Erkennen ist ein Entfalten des Wesens des Selbst." 3 Die dritte Gestalt ist die Theologie der Heilsgeschichte. Das concretissimum der Heilsgeschichte integriert die Wirklichkeit sakramental vom Recht Gottes. Karl Barth lehnt die Zwei-Reiche-Lehre des Luthertums ab. Er sagt, daß die Schöpfung ganz auf den Bund bezogen ist. Isolierte Schöpfungs- und Erhaltungsordnungen werden als sogenannte „Als-auchOffenbarungen" mit einer Eigengesetzlichkeit für unmöglich erklärt. Die Bergpredigt gilt ganz und überall. Die Heiligung ist die Gestalt der Versöhnung. Sakramente kennt das Neue Testament nicht. Das Neue Testament kennt nur das gebotene Handeln. Gebet, Taufe und Abendmahl sind gebotenes Handeln. Die Taufe bedeutet das selbstverantwortete Bekenntnis des Gläubigen. Das Gesetz ist Form des Evangeliums. Die Lebensaufgabe erfolgt im ergriffenen Gebot 4 . 1 Hendrik van Oyen, Fundamentalprobleme der evangelischen Sozialethik, Junge Kirche, Heft 8/1962, Sonderdruck, S . 8 f f . 2 Dorothee Solle, „Friedrich Gogarten", in: Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert, S. 291 ff.; vgl. Jörg Rothermundt, Der Segen der Säkularisation (Bericht über das internationale cekumenische Seminar 1969 in Straßburg), in: Lutherische Monatshefte 11/1969. 3 K . E . L o g s t r u p , Artikel „Grisebach", R G G , Bd. 2, 1879. 4 Helmut Traub, „Karl Barth", in: Tendenzen der Theologie im 20. Jhdt., S. 264if.
146
Diese drei Gestalten der evangelischen Annäherung an die Sozialproblematik (Theologie der Gesellschaft, Theologie der Existenz mit Personalismus und Existentialismus, Theologie der Heilsgeschichte mit der Dialektik der Gnade und des göttlichen Zorns in der Geschichte) versuchen, aus statischen und metaphysischen Projektionen der Sachbereiche wegzukommen und „sie auf die Glaubensentscheidungen zu beziehen, sie in ihrer jeweiligen Veränderlichkeit, Beweglichkeit, Offenheit und Modernität dennoch aus der einen Botschaft Jesu Christi von der Versöhnung durch Kreuz und Auferstehung als der Garantie (,arabon') des kommenden Reiches zu verstehen und zu erhellen"5. Van Oyen spricht von den beiden Brennpunkten der weltlichen und wirklichen Existenz, die nicht als zwei Reiche zu verstehen sind, sondern als die beiden Brennpunkte der einen Ellipse: „Der eine Brennpunkt der Ellipse ist das Gesetz. Der andere Brennpunkt ist der neue Mensch in Jesus Christus."6 Für den Glauben ist die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit die Wirklichkeit, die der Herrschaft Christi unterworfen ist. Das, was das Neue Testament „kosrnos" nennt, steht dieser Herrschaft entgegen. Die Verkündigung ist öffentliche Proklamation der Weltherrschaft Christi. „Der Öffentlichkeitsauftrag" der Kirche „ist in erster Linie Erwählung, Ausgrenzung anderer Möglichkeiten absoluter Zugehörigkeit, Erweckung zu einem neuen Sein." 7 Jesus Christus ist das Wort, das die Gemeinde in der Zeit der Verheißung baut. Die Zeit der Verheißung ist die Zeit des Angelds des Geistes. Van Oyen ist darüber besorgt, daß die gebräuchlichen Begriffe wie Freiheit, Verantwortlichkeit und Person keine biblischen Begriffe sind, sondern naturrechtliche Denkkategorien. Wenn von Freiheit gesprochen wird, muß an das Wirken des Geistes gedacht werden. Der Begriff der Verantwortung steht in der Nähe des Begriffs der Heiligung. Der Personbegriff fordert zum Nachdenken über die alttestamentliche Wendung „liphne Jahve", das heißt vor Gottes Angesicht sein, auf, aber auch über den neutestamentlichen Sarx-Begriff8. Der Begriff der Gemeinschaft findet sich im Neuen Testament in dem Begriff „Koinonia", das heißt die Teilhabe am Leib Christi. „Liebe läßt sich nur als Teilhabe (koinonia) am Heilswerk Christi verstehen. In dieser geheiligten und heiligenden Liebesgemeinschaft kündigt sich freilich audi der Ordnungswille Gottes zur konkreten Gestaltung der mitmenschlichen Beziehungen (Ordnungen) an. Der Christ lebt mit dem Geist als Unterpfand auf die Vollendung und Neuwerdung aller Dinge hin. Zugleich aber hat er das 5 6 7 8
10*
Van Oyen, Fundamentalprobleme, S. 8. Ebda. S. 9. Van Oyen, Öffentlichkeitsauftrag der Ev. Kirche, in: RGG, B d . 4 , 1565. Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, S. 228 ff. 147
schon gekommene Reich in seinem Tun zu verwirklichen." 9 Der Heilige Geist ist der „Christus praesens als Angeld auf das eschatologische Kommen des Reiches" 10 . Das Handeln im Auftrag von Gesetz und Evangelium ist „die Zeugenschaft des Herrn als gegenwärtigen Christus, der in der Einwohnung des Heiligen Geistes in der Gemeinde diese auf seine Zukunft hin erhält, sie zu konkreten Entscheidungen in der Welt befähigt und umgekehrt die Welt auf seine Herrschaft und Zukunft hin bewahrt und in Stand hält (der Geist als Paraklet)" u . B) Sorge um den biblischen Inhalt der sozialethischen
Denkkategorien
Van Oyen fordert, daß die sozialethischen Probleme von dem Geist der Philosophie, namentlich des Idealismus, befreit werden müssen. Diese Forderung verlangt die Orientierung auf die biblische Sprache. Van Oyen erinnert an die große Bewegtheit der biblischen Verkündigung. Noordman spricht von einem „pluralistic universe", oder man kann von einer „trinitarischen Bewegtheit" des Wortes reden. Van Oyens Einwand gegen die Begrifflichkeit der modernen sozialethischen Theologie ist das Problem der Sprachgestalt eines unbiblischen Geistes, der sich der metaphysischen Erstarrung von naturrechtlich geprägten Ordnungen und Gesetzen bedient. Er vermeidet den Ausdruck „Mandat" 1 2 oder Schöpfungsinstitution. An den Begriffen der Ordnung, des Standes und Amtes haftet eigengesetzliche Dignität. Viel besser ist es, von der Mandatarschaft des Menschen zu reden, die den Menschen als Beauftragten Gottes ohne irgendwelche Zwischenmächte sieht. Es geht um die Begegnung des beschenkten und schuldigen Menschen mit dem Worte Christi. Die Tendenz, die Anthropologie in die Christologie aufgehen zu lassen und alles auf den Nenner des Rechtes Gottes in der Gnade zu bringen, eliminiert die Fülle der irdischen Gaben und der mitmenschlichen Begegnungen in Staat, Eros, Beruf und Philia mit ihren Formen des Rechts und des Schutzes. Die Bedeutung der eigengesetzlichen Dämonie im Gefüge der Gesellschaft hat ihren Ursprung nicht nur in der dynamischen Potenz der Sachbereiche, sondern in der Abkehr des Menschen von Gott, in seiner Sünde und Schuld. Van Oyen fragt: „Wenn der Mensch Gott für tot erklärt und meint frei zu sein, wieso gibt er sich selbst wieder ein Gesetz und macht sich dadurch unfrei?" 1 3 Das Moralisch-Rechtliche kann nicht durch die pauschale Disqualifizierung als sündig-dämonisch gekennzeichnet werden. Paulus empfiehlt in 1. Kor. 14,40 der Gemeinde, daß alles ehrbar und ordentlich zugehe. Es gibt somit allgemeine Regeln, die für alle gelten wie 9 10 11 12 13
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Van Oyen, „Ethik", in: RGG, Bd. 2, 713, 715. Van Oyen, „Selbstverleugnung", in: RGG, Bd. 5, 1681. Van Oyen, Öffentlichkeitsauftrag, in: RGG, B d . 4 , 1565. Dietrich Bonhoeffer, Ethik, S. 222 ff. Van Oyen, Fundamentalprobleme, S. 10 .
Freiheit, Gerechtigkeit, Bruderschaft und Menschenrechte. Ob man nun wie Oldham — nach van Oyens Beschreibung nicht sehr glückliche Grundsatzhilfen — von „Mittleren Axiomen" für die Zusammenarbeit von Christen und Nichtchristen spricht oder wie Karl Barth von horizontalen Anordnungen der Existenz 14 , so muß doch Richard Shaulls Kritik an van Oyen als überzeichnet beurteilt werden, der fragt, ob das Ideal der Vernunft (so mißversteht er van Oyens Ordnung der Philia) im revolutionären Prozeß wirksam sein kann 15 . Das christliche Handeln kommt nicht von selbst, sondern geschieht immer nur aus Buße und Glauben in der Kraft und Anwaltschaft des Geistes. Die anima ist nicht naturaliter christiana, sie bedarf des Heiligen Geistes. Darin liegt das Anliegen van Oyens an die Sozialethik. C) Philia im Kontext der Anwaltschaft des Geistes Van Oyen wirft den Begriff der Philia in die Debatte. Hier ist anders als bei den „Mittleren Axiomen" der Gedanke der Liebe, der Gnade als Chesed miteingerechnet. Neben Eros (Ich-Liebe) und Agape (Gottes- und Nächstenliebe der selbstlosen Hingabe) ist Philia die Liebe der Freundschaft. Chesed ist Huld und Loyalität. Yoder hat gesagt: „Die mittleren Axiome sind keine Maßstäbe neben der Liebe, sondern sie sind die Gestalt, mittels derer der augenblickliche Anspruch in die Begriffe des Angeredeten (des Nichtglaubenden) übersetzt wird." 16 Van Oyen gliedert nun von der Anwaltschaft des Geistes her den Begriff Liebe nach den griechischen Begriffen Agape, Philia und Eros. Diese Gliederung ist sehr wichtig. „So wie der Eros die Lebenshaltung und die Idealität der antiken Welt prägt, so die Agape die der biblischen Welt. Die Philia steht dazwischen und wird in beiden Welten gekannt, sie gleicht aus und hält die Waage zwischen Eros und Agape." 17 Die Agape ist die Liebe der Hingabe. Sie leuchtet erst auf in der Gemeinschaft mit Gott durch Christus. „Es ist die Liebe, die in freier Bestimmung sich im Sohn an die Welt gibt und im Geiste der Anwaltschaft Einwohnung in die Existenz des Menschen sucht." 18 Sie ist „Gabe, ehe sie zur Aufgabe wird, sie ist geschenkt, ehe sie gefordert wird" 1 9 „Die Agape möchte etwas von Gottes Wesen in die Menschheit hineintragen." 20 So bleibt für den Christen die Frage nadi der Einheit mit sich selbst als Konformität mit Christus „eine nie zur 14
Karl Barth, Kirchliche Dogmatik IV/2, § 68 „Der heilige Geist und die christliche Liebe", S. 825 ff. 15 Christian Social Ethics in a Changing World, S. 39. 16 Van Oyen, Fundamentalprobleme, S. 11. 17 Van Oyen, Evangelische Ethik I, S. 115. 18 Ebda. S. 127. « Ebda. S. 130. 20 Van Oyen, Botschaft und Gebot, S. 64
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Ruhe kommende Paraklese" 2 1 . Die Agape ist die Aufgeschlossenheit für den Mitmenschen als Bruder. Sie ist erweckende Liebe. Die Vergebung ist heilende Kraft, die leiblich und seelisch zur Gesundung beiträgt. „Glaube ist Auferstehungskraft, neue Schöpfung und neue Lebensfreude." 2 2 Mensch und Nächster begegnen sich in der Liebe der Hingabe neu. Das ist Anwaltschaft des Geistes, Leben aus der begnadenden Liebe Christi. a) Philia, Liebe der Ordnung, im Unterschied von Agape, Liebe der Hingabe, und Eros, Liebe der Erzeugung Während die Agape christologische und eschatologische Bedeutung hat, sind Philia und Eros die Kräfte der Liebe, die auf Existenzgestaltung mitten in dieser Weltzeit ordnend und zeugend wirken. Ordnung heißt: Gott beauftragt den Menschen, daß er sich als sein Beauftragter auf dieser Erde einrichten soll und die Erde bewohnbar machen soll 23 . Der Mensch muß dabei einen Kompromiß mit der Welt eingehen 24 . Sein Handeln harrt auf Gerechtigkeit 25 . Calvin unterscheidet die „vocatio" von den „vocationes": Die „vocatio" ist die eigentliche, ursprüngliche Berufung Gottes in den Dienst als „relatio ad Deum vocantem" im Sinne der Mandatarschaft in der Gottebenbildlichkeit, während die „vocationes" als fächerartige Berufungen Ausstrahlungen der „vocatio" darstellen und in den Formen der Freundschaft, der aufgeschlossenen Gesinnungen, der Familie und des Zusammenlebens der Menschen der Philia bedürfen. Die Philia bindet die Menschen in gegenseitiger Verantwortlichkeit. Daß es Menschen guten Willens gibt, ist Anwaltschaft aus der freien Gnade Gottes, die eine Liebe der Ordnung und eine Liebe zur Ordnung ermöglicht. Die Philia ist in der Ethik der Anwaltschaft des Geistes für alles aufgeschlossen, was den Menschen betrifft. Die Philia als Gestalt der Sittlichkeit empfängt hauptsächlich ihre Prägung von der sozialen Rechtsordnung als „iustitia communicativa". Sie besitzt Wir-Erlebnis und situationsgebundenen Charakter, der von der Es-Welt geprägt ist. Während Agape ereignishaften Charakter hat, besitzt die Philia einen gesetzlich-kontinuierlichen Gehalt. Sie besteht auf Gerechtigkeit und Mäßigung 2e . Sie arbeitet an einer provisorischen und relativen Gerechtigkeit in dieser ungerechten Welt 27 . Die Philia wirkt in den öffentlichen OrdVan Oyen, „Gesinnungsethik", in: R G G , Bd. 2. Van Oyen, Liebe und Ehe, S. 67. 2 3 Van Oyen, Evangelische Ethik I, S. 149. 24 Van Oyen, „Freundschaft", in: R G G , Bd. 2, 1128 ff. 2 5 Van Oyen, „Kompromiß", in: R G G , B d . 3 , 1745. 28 Vgl. Hans-Joachim Barkenings, „Der Frieden als A u f g a b e " , Evangelische Theologie, Heft 9, 1965, S. 498. 27 Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S.26 (Roger Mehl: „Die Grundlage der christlichen Sozialethik"). 21 22
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nungen des Rechtes, der Sitte, der Arbeit und des Staates. Die Ordnungen sind sichtbar gewordene Philia um des Menschen willen. Als Liebe zur Ordnung gewährt sie den Raum und die Freiheit zum Leben. Van Oyen vermißt in der theologischen Beschreibung des Eigentums in der Theologie der Gesellschaft den Hinweis auf die Nachfolge, die das Eigentum unter dem Vorzeichen des „epousion" versteht. Das heißt, daß der Umgang mit dem Eigentum nur vom Glauben aus in Stellvertreterschaft besteht. Das bedeutet die Bereitschaft, mit den eigenen Gütern für den andern Menschen zur Stelle zu sein. Eigentum ist weniger von der Perspektive der Struktur zu sehen, sondern von der Lebendigkeit der Philia, die das Eigentum nicht verabsolutiert, sondern unter dem Anspruch Gottes begreift. Die Lehre vom Eigentum kann sich nicht im Nachdenken über eine gerechte Sozialordnung erschöpfen. Hier liegen offene Fragen an die Lehre der christlichen Humanität in der Theologie der Gesellschaft. In bezug auf das politische Handeln nach Römer 13 lehnt van Oyen eine staatsmetaphysische Lehre der Obrigkeit ab. Mit Strobel versteht er die „exousiai" im relativen Sinne als Behörden der damaligen Staatsverwaltung. Römer 13 muß von Römer 12 aus interpretiert werden, um zu verstehen, daß es Paulus um die „logike latreia" geht, das heißt um die christliche Hingabe des Dienstes in der öffentlichen Ordnung, die auf das Wohl der Menschen verpflichtet ist. So sagt er über den Begriff des Wertes: „Das Werthafte ist nicht das, was der Mensch erfolgreich zustande bringt, sondern was Gott dem Geschöpf im weltlichen Leben schenkt. Die Wertantwort ist ein In-Verantwortung-Gestelltsein von und vor Gott und den Mitmenschen." 28 Die staatsbürgerlichen Pflichten, die der Christ mit dem Nichtchristen teilt, sind in die ordnungsliebende Philia eingeordnet, ohne daß eine bestimmte Form der Obrigkeit als exklusiv christlich postuliert werden kann. Philia ist „personal-ontisches Gefüge zu einer geordneten Lebensgestalt" 2e . b) Die protologische und eschatologische Bezogenheit der Anwaltschaft des Geistes Die Ethik der Anwaltschaft des Geistes ist gebunden an die missionarische Dimension der sozialen und diakonischen Aktivität der Christen. „Die Kategorien Welt, Gesellschaft, Institutionen sind grundsätzliche Möglichkeiten für die Missionierung: das Reich Gottes umfaßt sie protologisch und eschatologisch; das Vorordnen Gottes in der Schöpfung ist ein Tun, das trotz der Sünde, die die Welt vor Gott aufgebrochen und dämonisiert hat, einmal das universale Ende in der eschatologischen Erfüllung der Herrschaft Christi über alle Dinge zustande bringen wird. Indem die Welt zwischen Schöpfung und Erlösung steht, ist sie wandlungsfähig für 28 29
Van Oyen, „Wertethik", in: RGG, Bd.6, 1650. Van Oyen, „Selbstbehauptung", in: RGG, Bd. 5, 1671. 151
Verkündigung und Handeln aus der christlichen Botschaft." 30 Man kann also die gegebene Situation als die gottgegebene Chance verstehen, die auf den Christen, auf die Kirche wartet, um auf die Herrschaft Christi eschatologisch ausgerichtet zu werden. Statt vom Naturrecht mit seinem Begriffssystem Freiheit, Verantwortlichkeit, Maßstab, Ordo sollte vom Gottesrecht gesprochen werden. In der christlichen Sozialethik handelt es sich um die Erhaltung und Bewährung der eschatologischen Ausrichtung der Ordnungen Gottes, um die Bezogenheit von Protologie (alte Schöpfung) zur Eschatologie (neue Schöpfung) im Heilsplan Gottes. Van Oyen vermißt in der Theologie der Gesellschaft das Hören auf das schaffende und gebietende Wort Gottes. Das Hören des lebendigen Gotteswortes führt in die kritisch denkende und handelnde Liebe. In der Anwaltschaft des Geistes empfängt die Liebe der weltlichen Christenheit ihren Raum zum rechten Tun. Diesen Gedanken van Oyens kritisiert von Heyl, der van Oyen vorwirft, daß seine Position für die Ausgestaltung der konkreten Normen in der Sozialethik wenig brauchbar ist. Es werde zwar Gemeindeaufbau im theologischen Sinne dadurch ermöglicht, aber nicht der Aufbau einer realen Sozialgemeinschaft31. Diese Kritik übersieht, daß van Oyen die sozialethischen Begriffe nicht vom Menschen trennen kann, der mit ihnen zu leben versucht und des Geistes Gottes bedarf. Die Ethik der Anwaltschaft des Geistes wendet sich an die Menschen, die in der gefallenen Welt leben, um sie zu öffnen für die Kraft des Geistes in den Beziehungen der Philia. Van Oyen geht es um die pneumatische Existenz in dieser Welt. Pneumatologie und Eschatologie sind die theologischen Grundlagen der Ethik aus der Anwaltschaft des Geistes. Die „konkrete Verwirklichung der Gebote Gottes in der jeweiligen kulturell-geschichtlichen Situation", also in den Ordnungen als den Sachbereichen der gefallenen Welt, ist „eine der Hauptfragen theologischer Ethik" 32 . Der Mensch als Imago Dei ist das durch das Wort angeredete und zur Erneuerung berufene Gegenüber Gottes. Protologie und Eschatologie als die beiden Aspekte, die in der Ethik der Anwaltschaft des Geistes miteinander verbunden sind, sind etwas anderes als Interimsethik mit dem Verlust der Bezogenheit auf das Ende. 2. Kor. 4,4 spricht vom hellen Licht des Evangeliums von der Klarheit Christi, des Ebenbildes Gottes, das den Menschen erleuchtet und sein Denken und Handeln abheben muß von anderen Voraussetzungen. Van Oyen empfindet, daß die „Mittleren Axiome" Oldhams und die „Maximen sozialer Entscheidung" in der Sozialethik von Wendland und Rieh aus der Voraussetzung formuliert sind, die der pneumatologisch30
Van Oyen, Fundamentalprobleme, S. 4. Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 27 und 28. 32 Van Oyen, „Güterethik", in: RGG, Bd. 2, 1905; vgl. „Theologie und Kultur", in: Forschung und Bildung, S. 15. 31
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eschatologischen Dimension der christlichen Existenz nicht gerecht wird. Die protologische und eschatologische Bezogenheit der Anwaltschaft des Geistes ist zu wenig in den Begriffen zum Ausdruck gebracht. Eine aus dem philosophisch humanistischen Naturrecht herrührende Begrifflichkeit hat die biblischen Begriffsinhalte überspielt und zur Seite gedrückt. Die sozialkritischen Analysen, die die Ethik der „Mittleren Axiome" geleistet hat, warten auf einer pneumatischen Grundlage des Denkens innerhalb einer Ethik der Anwaltschaft des Geistes, einer Sozialethik des Heiligen Geistes auf eine biblisch angemessenere und entsprechendere Verwendung. Der Geist Gottes, der alles neu macht, bricht den alten Äon auf, nicht nur seine Strukturen, sondern vor allem den Menschen, dem er in göttlicher Gnade die Begegnung mit der alles erneuernden Vergebung schenkt 33 . 3 3 Die gleiche Sorge, wenn auch von anderer Warte als des Ethikers, begegnet uns sehr pointiert in dem Buch des Missionstheologen Georg Vicedom „Mission in einer Welt der Revolution": Vicedom widmet den 3. Vortrag in seinem Buch, das sich mit der christlichen Mission in der säkularen Welt und mit dem Fortschrittsglauben als der religiösen Ideologie beschäftigt, der Frage „Bekehrung im säkularen Zeitalter". Hier kommt die Sorge des Missionstheologen am deutlichsten zum Ausdruck: „Wenn also die Bekehrung der grundlegende Akt Gottes zur Erneuerung des Menschen ist, dann dürfen wir, wo sie vermieden wird, keine Früchte des neuen Lebens erwarten." (S. 66) „Sie ist, wie es W. Freytag einmal definierte, die Einbruchsstelle des Heiligen Geistes in die Welt." (S. 67) Er empfindet die geforderte Humanisierung des Lebens (Liebe in Strukturen) als diesseitiges Heil. Dieses Ziel ist monistisch und hat das dualistische Verständnis des Gegenübers von Missionsauftrag und Welt verlassen. Damit ist der Weg geöffnet in den Verlust der Substanz des kirchlichen Auftrags. Die Identität von Mission und Säkularisierung ist nach Vicedom eine Herausforderung an die Christenheit, die sich klar werden muß, ob sie den biblischen Heilsglauben zugunsten eines säkularen Fortschrittsglaubens preisgeben will. „Bekehrung aber stellt das autonome Menschsein von Gott her in Frage. Der Begriff wird als unzeitgemäß empfunden." (S. 59) Es entsteht eine Futurologie, die die christliche Hoffnung verdrängt. Das Buch ist eine Besinnung zu der Frage, ob die Kirche innerlich wahrhaftig bleiben kann, wenn sie auf eine klare Sinngebung ihrer Hilfe verzichtet. Die Mission ist geschichtsbestimmendes Handeln, gebunden an den universalen Retterwillen Gottes. Das geheiligte Leben muß in das Alltagsleben hineinwirken. Der alte Mensch in neuen Strukturen ist nicht das Ziel des Missionsauftrags, vielmehr der neue Mensch in einer neuen Welt Gottes.
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11. K A P I T E L
Betrachtung der Denkschriften der'EKiD von der sozialethischen Theologie der „Mittleren Axiome" aus Die drei Denkschriften der Sozialen Kammer der EKiD über 1. „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung" (1962), 2. „Die Neuordnung der Landwirtschaft" (1965) und 3. „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" (1965) und die Studie „Friedensaufgaben der Deutschen" (1968) geben eindrucksvolle Beispiele sozialethischer Beratung der deutschen evangelischen Kirche in aktuellen Fragen und Nöten der Gesellschaft der Bürger der Bundesrepublik Deutschland. Die erwähnten Schriften sind Dokumente sozialer und politischer Diakonie. Sie wollen dem sozialen Ausgleich, der Situation der Landwirte, der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn und dem Frieden dienen. Die soziale Kammer hat sich mit diesen Schriften zur öffentlichen Diskussion in der Überzeugung gemeldet, daß ein sachlicher Dienst der öffentlich-sozialpolitischen Verantwortung der Christen in der Gesellschaft notwendig ist. Die Denkschriften sind in der Öffentlichkeit diskutiert worden, wobei das Diskussionsklima verschieden temperiert war: irenische Sachdiskussion, geklärte und kritisch fundierte Gegenposition und exzessiv ausbrechende Verleumdung und demagogische Verteufelung des Andersdenkenden 1 . A) Die Eigentums-Denkschrifl
als Ruf zur ausgleichenden
Gerechtigkeit2
In dieser Denkschrift entfalten dreißig Artikel die soziale Problematik der westdeutschen Industriegesellschaft. Aus der theologischen Glaubensperspektive werden Aussagen gemacht, die sich in der Sachproblematik auswirken sollen. Der Mensch und sein Eigentum gehören Gott. Als Verwalter des Eigentums Gottes soll der Mensch die Erde sich Untertan machen. Das Eigentumsrecht Gottes relativiert die Freiheit und Verantwortung des Menschen. Gottes Recht und Gottes Erlösung machen das Eigentum zur Gabe Gottes. Das Eigentum soll dienen, Vorsorge für den Menschen und seinen Nächsten zu treffen, seine Gaben und seine Schaffenskraft in Freiheit zu entfalten, seine sitt1 Siehe: Joachim Bedemann, „Recht und Grenze sozialethischer Stellungnahmen der Kirche", in: Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 11 ff.; siehe audi: A u f gaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen, E K D - D e n k 2 schrift 1970. H o r s t Dahlhaus, „Zur Bilanz ev. Sozialarbeit", in: Ebda. S. 335ff.
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lichen Entscheidungen in größerer wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu treffen, die Rechte des Einzelnen und der Gesellschaft gegenseitig zu begrenzen und zu sichern und in Wirtschaft und Gesellschaft verantwortlich mitzubestimmen. Der Mensch soll „mein" sagen, um frei zu sein. In der Nachfolge Jesu muß er „dein" sagen können, um frei, das heißt, in Verzicht und Opfer gegenüber H a b und Gut zu leben, als hätte er sein Eigentum nicht. Es besteht die Spannung zwischen der Freiheit zum Erwerb und der Freiheit zum Verzicht. Das durch das "Wort Gottes geschärfte Gewissen muß in der Frage von Recht und Unrecht unterscheiden lernen. Die Analyse der sozialen Situation zeigt, daß der Einzelne nicht mehr Eigentümer der Arbeitsmittel sein kann. Diese moderne Arbeitsstruktur in der Industriewelt braucht nicht den Einzelnen an der Verantwortung und Freiheit zu hindern, aber seine Freiheit und Verantwortung wird durch die einseitige Wahrnehmung der Macht und der Güter in wenigen Händen beeinträchtigt 3 . Eine Ordnung, die eine einseitige Anhäufung von Eigentum an Produktivvermögen begünstigt, die große Masse der Arbeiter aber davon ausschließt, kann der Stärkung der Produktivkraft der Wirtschaft dienlich sein, entspricht jedoch nicht der gerechten Verteilung des Sozialprodukts. So muß allen Mitbürgern die Möglichkeit gegeben werden, den Ertrag ihrer Arbeit wieder nutzbringend in Produktivvermögen anzulegen. Die Denkschrift stellt fest, daß nach dem Zusammenbruch und der Demontage 1945 die Besitzenden des produktiven Vermögens einseitig für eine beschleunigte Vermögensbildung begünstigt und bevorzugt wurden, während die anderen sozialen Schichten benachteiligt wurden. Eine breitere Eigentumsverteilung zugunsten der Benachteiligten ist deshalb am Platz. Die Empfänger von Lohneinkommen müssen in wachsendem Maße selbst Eigentum an Produktionsmitteln bilden und vermehren können. Die Rechtsordnung hat somit die haushälterische Aufgabe des Bewahrens und Förderns 4 . Sie kann keine Schicht benachteiligen. Ein Teil des Gewinns muß künftig f ü r besondere Maßnahmen herangezogen werden, um eine gerechtere Eigentumsordnung einzuleiten. Hierher gehören Sparbegünstigungen f ü r Arbeitnehmer. Der Gesetzgeber, der Wille der Arbeitgeber und der Wille der Arbeitnehmer für eine gerechtere Eigentumsverteilung und Eigentumsbildung müssen das Eigentum in einem mündigen Volk zum Segen werden lassen. Die apostolische Weisung, daß einer des andern Last tragen soll, wird in dieser Denkschrift zur Maxime der Politik in Industrie, Wirtschaft und 3 D i e Kirche als Faktor einer k o m m e n d e n Weltgemeinschaft, S . 3 4 1 (Prestons H i n weis der Strukturänderung seit O x f o r d 1937), Gerhard Breidenstein, D a s Eigentum und seine Verteilung, S. 68 ff. 4 D i e Kirche als Faktor einer k o m m e n d e n Weltgemeinschaft, S. 400 ff. (Kuin über Wirtschaftswachstum). Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 2 4 7 ff. (Support über das Preissystem).
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Sozialverhältnissen erklärt. Aus der Glaubensperspektive des Eigentums als Gottes Gabe wird der wirtschaftliche und soziale Ausgleich zum „Mittleren A x i o m " erklärt, das heißt zu einem Grundsatz, dem alle zustimmen können. Dieser gute Maklerdienst inmitten großer sozialer Spannungen ist nötig um aller Wohl willen 5 . Die Studie „Sozialethische Erwägungen zur Mitbestimmung in der Wirtschaft der Bundesrepublik Deutschland" vom J a h r e 1968 führt das Gespräch weiter, das mit der Eigentumsdenkschrift vom J a h r e 1962 begann: Die Frage der Eigentumsverteilung führt in der Diskussion um die Produktionsmittel auf die Betrachtung der Verantwortungsfähigkeit und Freiheit des Menschen. Aus einem bloßen Lohnarbeiter in der industriellen Gesellschaft muß ein Mitarbeiter werden. „Darum müssen die gegenseitigen Abhängigkeiten so gestaltet werden, daß sie zu einem fruchtbaren Zusammenwirken kommen, in dem jeder in eigener Mitverantwortung seinen Beitrag leisten kann." (S. 14) „Der Sinn der Mitbestimmung liegt aber nicht nur in dem Recht des Arbeitnehmers, Vertreter seiner Interessen zu bestellen. Es soll zugleich bewirkt werden, daß jeder seinen Fähigkeiten entsprechend auch eigene geistige Beiträge zum Betriebsgeschehen erbringen kann." (S. 18) D i e Studie leitet die Berufung zur Mündigkeit und zur Weltgestaltung von der besonderen Würde ab, die dem Menschen durch die Liebe Gottes zugeeignet ist und in der Liebe von Menschen erfahren wird. „Diese Liebe will uns ein Leben in Freiheit und Mitverantwortung zur Gestaltung dieser Welt eröffnen." (S. 20) Die Vertreter von Kapital und Arbeit sind die Partner, die vor der Aufgabe stehen, die Wirtschaft als einen Lebensbereich zu gestalten, in dem der Mensdi seine ihm von G o t t gegebenen Anlagen entfalten kann. Eine „klare Ordnung der Weisungsbefugnisse" (S. 31) ist unentbehrlich. „Eine persönliche Mitverantwortung der Arbeitnehmer kann nur erwartet werden, wenn die Arbeitnehmer in dem Umkreis ihrer unmittelbaren Einsichten und Verantwortungen mehr als bisher an den Überlegungen und Entscheidungen über den Ablauf der Arbeit beteiligt werden." (S. 33) Die Erkenntnisse der Gruppendynamik, der methodischen Gesprächsführung, der Betriebspsychologie und der Arbeitswissenschaft sind auszunutzen. „Von den Arbeitnehmern muß die Bereitschaft erwartet werden, sich bei Veränderung der Marktlage umzustellen. Von den Kapitaleignern muß erwartet werden, daß sie die menschlichen Folgen wirtschaftlicher Entscheidungen im Auge behalten." (S. 51) Es müssen Formen des Zusammenwirkens gefunden werden, die der wirtschaftlichen Vernunft und der sozialen Gerechtigkeit zum Erfolg verhelfen. Es soll mehr als bisher darauf geachtet werden, „daß die menschlichen Angelegenheiten der Beschäftigten ebenso beachtet werden wie wirtschaftliche und technische Fragen". ( S . 9 0 ) Es müssen Formen der Meinungs- und Willensbildung gefunden werden, in denen bei gutem Willen ein wachsendes Vertrauen entstehen kann. „Dies setzt voraus, daß die Leitenden die Kunst beherrschen, verschiedenartige Kenntnisse und Meinungen zu gemeinsamen D e n k vorgängen zusammenzuführen und deren Ergebnisse zu verwirklichen." (S. 98) D i e Studie will eine hoffnungsvoll begonnene Periode der „Partnerschaft und Kooperation zwischen den Sozialpartnern" (S. 100) unterstützen h e l f e n 6 . Eine bemerkenswerte und sachkundige K r i t i k an der Eigentumsdenkschrift der E K D übt Gerhard Breidenstein in seiner 1968 erschienenen Marburger theologischen Dissertation „Das Eigentum und seine Verteilung. Eine sozialwissenschaftliche und evangelischsozialethische Untersuchung zum Eigentum und zur sozialen Gerechtigkeit": 5 Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung, Denkschrift der E K i D , vgl. D i e Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 329 ff. (Sumiya: Entwicklungsländer). 6 „Mitbestimmung in der Wirtschaft", Studie der E K D .
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Breidenstein trennt die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit von dem Problem der Eigentumsverteilung. Die .Eigentumsideologie' der Denkschrift verfehlt und verfremdet die Wirklichkeit. Das Produktivvermögen ist in der bisherigen Diskussion weithin ausgelassen worden. „Am weitesten eingeschränkt ist die Freiheitsfunktion bei dem breit gestreuten Eigentum an Produktionsmitteln, um das es ja in der Eigentumsdiskussion vor allem geht. Die Stellung der abhängig Erwerbstätigen in der Wirtschaft kann nicht durch qualitativ und quantitativ unbedeutendes Miteigentum an den Produktionsmitteln verbessert werden." (S.51) Breidenstein bezweifelt, daß ein „unlösbarer Zusammenhang zwischen .freiheitlicher Gesellschaftsordnung' und breiter Streuung des Produktivvermögens besteht." (S.229) Er konstatiert das Fehlen der sauberen Unterscheidung von Gebrauchs- und Produktionsmitteleigentum. Der undifferenzierte Eigentumsbegriff führt zu zahlreichen Verwischungen und Täuschungen. (S. 231) Wirtschaftliche Mitverantwortung kann nicht auf dem Wege der Streuung des Eigentums erreicht werden. Die Macht bleibt in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Eigentumsstruktur bei dem Produktionsmittelbesitzer, der seine Interessen verfolgt. Demgegenüber verhält sich die Denksdirift unkritisch, die daran vorübergeht, daß die ungerechte Vermögensverteilung geradezu ein Merkmal der Struktur ist. (S. 230) „Deshalb ist die entscheidende Fage der sozialen Gerechtigkeit nicht mehr die nach der gerechten Verteilung der Einkommen und Vermögen, sondern die nach Verteilung von Freiheit, Sicherheit und sozialem Rang. Gerecht ist eine Sozialordnung, wenn sie die Grundbedingungen und Entfaltungschancen der Existenz gleich verteilt." (S. 324) „Die soziale, politische Freiheit hängt heute nicht mehr am Eigentum." (S.264)
B) Die Landwirtschaftsdenkschrift und helfender
als partnerschaftlicher Dienst
Hier wird die menschliche N o t der Minderheitsgruppe der deutschen Bauern in der Gesellschaft beleuchtet. Diese menschliche N o t ist Folge der Agrar-Strukturveränderung. Sie ist als gesellschaftliche Aufgabe aller angesprochen. Die Denkschrift will zu einer Korrektur der bäuerlichen Lebens- und Arbeitsform innerhalb des Kontextes der industriellen Welt um der bedrängten Bauern willen verhelfen. Das ganze Problem ist nicht nur technisch-politisch, sondern auch psychologisch. „Die Schwierigkeiten der deutschen Landwirtschaft können nicht isoliert betrachtet werden, sondern müssen im gesamtwirtschaftlichen und internationalen Zusammenhang gesehen werden." 7 Die Denkschrift wirbt um mitverantwortliches Interesse. „Geholfen werden kann hier nur, wenn alle den Mut haben, alte Vorstellungen abzubauen und bessere Einsichten vorzubereiten. Zu diesem Mut ruft das Evangelium." 8 Der Mensch steht nach 1. Mose 1,28 unter dem Auftrag, die Welt menschlich zu gestalten. Die Welt steht heute in Gefahr, den Menschen zu einer Sache, zu einem Teil einer Apparatur zu degradieren. Die Technisierung verlangt nicht nur eine äußere, sondern auch eine innere Umstellung. Das Evangelium schenkt die Freiheit, die Widerstände zu überwinden, die aus den hemmenden Kräften der Gewohnheit, der Blindheit, der Angst und dem Unglauben kommen. „Vor Gott sind die gewaltigen 7
Die Neuordnung der Landwirtschaft, S. 1.
8
Ebda. Ziffer 3. 157
Kräfte der Technik und die gesellschaftlichen Umwälzungen der Gegenwart Mittel, die rasch wachsende Menschheit zu erhalten." 9 Realismus und Solidarität wollen den bäuerlichen Familien die Umstellung und Anpassung erleichtern helfen. Die Landwirte sollen in der Einkommensentwicklung nicht zurückstehen. Die Bauern fordern höhere Agrarpreise. Der Wettbewerb begrenzt die Möglichkeiten. Höhere Preise regen zwar zur Produktionssteigerung an, aber erschweren den Absatz. Das Strukturpendel steht dann im Mißverhältnis zur tatsächlichen Lage. Die Verklammerung der deutschen Landwirtschaft mit der EWG läßt eine landwirtschaftsbegünstigte staatliche Preispolitik nicht zu. Die Arbeitszeit wird verlängert. Die Rationalisierung verursacht Kosten. Größere Wirtschaftseinheiten werden erstrebt. Dadurch entstehen für viele in persönlicher und sachlicher Hinsicht Härten. Die Jungen wandern ab. Hofbesitz bietet keine Sicherheit. Verbitterung beherrscht den bäuerlichen Beruf. Was ist zu tun? „Heute ist es eine vordringliche Aufgabe, die Landwirtschaft selbst zu verbessern." 10 Die Landwirtschaft muß an die Technik, an die EWG und an den Weltmarkt angepaßt werden u . Die agrarpolitischen Förderungsmaßnahmen müssen die Selbstverantwortung stärken. Selbsthilfe geht vor Staats- und Fremdhilfe. Die Neuordnung sollte im Rahmen der Raumordnung und Landesplanung vor sich gehen. Menschenleere bedeutet in rein ländlichen Gegenden Schwäche und Hilflosigkeit. Andererseits bergen die Ballungszentren der Städte Gefahren in sich. Eine umfassende Regionalpolitik muß den Gefahren entgegentreten. Die Denkschrift fordert nichtlandwirtschaftliche Arbeitsplätze auf dem Lande als zusätzliche Erwerbsquellen für Kleinbauern, Hilfen für Anpassung und Aufstockung, soziale Maßnahmen, Landschaftspflege, bessere Bildungsmöglichkeiten und intensivere Betriebsberatung. Der Hof sollte auf jeden Fall eine sinnvolle Wirtschaftseinheit sein. Die Gedanken Railfeisens müssen weiterentwickelt werden, die freie Zusammenschlüsse empfehlen. „Die Freiheit, zu der Gott den Menschen beruft, ist die Voraussetzung für ein vernünftiges Zusammenleben." 12 Die Denkschrift ruft die Kirche zur sachgebundenen Seelsorge an den bäuerlichen Gliedern ihrer Gemeinden auf dem Lande auf. Hierzu gehören Kenntnisse, Bereitschaft, Sachverstand und Mut zu neuen Arbeitswegen aus der Liebe zum Menschen. Der Glaube, daß nur Gottes Macht diese Welt zu heilen und zu vollenden vermag, befreit von Angst, Ichsucht und Selbstüberschätzung. Er führt zu einem kraftvollen gemeinsamen Tun. 9
10 Ebda. Ziffer 6. Ebda. Ziffer 25. Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 363 (Elliott: „Ethische Fragen im Kräftespiel der Wirtschaftsentwicklung"). 12 Die N e u o r d n u n g der Landwirtschaft, Ziffer 43. 11
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Die Denkschrift versucht in eine Situation hineinzusprechen, die strukturell und psychologisch ein äußerst heißes Eisen ist. Viele negative Hypotheken belasten die Landwirtschaft. Die 8 % bäuerlich Tätigen fühlen sich unverstanden. Die Denkschrift ruft die Gesellschaft zum partnerschaftlichen Denken und Helfen auf. Wo ein Glied leidet, da müssen alle Glieder mit leiden. Die Denkschrift macht auf Schadstellen in der Gesellschaft kritisch aufmerksam und erinnert daran, daß das Evangelium die Menschen, die betroffen sind, zu einer neuen Lebens- und Entfaltungsmöglichkeit freimachen kann. Das Gebot der Liebe verlangt die brüderliche Nähe der Stände und Schichten zu dem einen Stand und zu der einen Schicht. Aus dieser Verpflichtung zur sachgebundenen Gemeinschaft kommen die Vorschläge zur Neuordnung, die man Maximen besserer landwirtschaftlicher Strukturen nennen könnte. Die alte Struktur gefährdet den Menschen, um seinetwillen muß die Struktur neugeordnet werden — diese Aufgabe darf sich ihren Weg nicht zu leicht machen. C) Die Studie „Friedensaufgaben der Deutschen" und die Ost-Denkschrift als Dienst der Versöhnung Diese beiden jüngsten Denkschriften haben viel positive und negative Beurteilung in der Öffentlichkeit erfahren. Besonders leidenschaftlich wurde die Ostdenkschrift diskutiert. Diese Denkschrift versucht der Frage der Aussöhnung und Vergebung im Spannungsverhältnis Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn nachzugehen. Die Friedens-Studie versucht einen Weg des Zusammenlebens der Deutschen in dem geteilten Land aufzuzeigen. Beide Denkschriften üben politische Seelsorge und soziale Diakonie an den Deutschen, die über ihr politisches Schicksal ehrlich und illusionslos unter der Perspektive von Gottes Gericht und Heil nachzudenken bereit sind. So sagt Bischof Scharf im Vorwort der Ost-Denkschrift: „Die Kirche hält es daher um ihrer Verantwortung für diese Menschen willen, aber auch im Blick auf den ihr an ihrem Ort aufgetragenen Dienst für den Frieden zwischen den Völkern für ihre Pflicht, diesen Problemen und den Wegen zu ihrer Lösung nachzugehen. Sie kann und will sich damit nicht an die Stelle der zum politischen Handeln Berufenen setzen, aber sie kann hoffen, einen Beitrag zur Versachlichung der Diskussion und zur Urteilsbildung zu leisten, einige der bestehenden Spannungen zu beseitigen und damit die Wege zum politischen Handeln zu ebnen." 13 Professor Raiser sagt von der Friedens-Studie: „Sie ist aus einer Zusammenarbeit evangelischer Christen in beiden Teilen Deutschlands hervorgegangen. Sie bemüht sich um eine Haltung, welche die Position beider Seiten kennt und ernst nimmt, aber auch wägt und dem Ziel der Friedenserhaltung unterordnet." 1 4 13 Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen 14 östlichen Nachbarn, S. 5. Friedensaufgaben der Deutschen, S. 5.
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„Im Zentrum der deutschen Aufgaben steht die Suche nach einem Frieden unter den Deutschen. Das bedeutet, daß die Deutschen auch im Verhälntis zu allen anderen Völkern, vor allem ihren Nachbarn und ehemaligen Kriegsgegnern, Frieden gewähren und erhalten. Die deutsche Frage läßt sich jedoch nicht isoliert lösen, sie ist mit den Friedensaufgaben in Europa und der Welt eng verknüpft." 15 In diesem Rahmen muß sich der kirchliche Beitrag bewegen. Die Motive der öffentlichen Mitverantwortung des Dienstes am Menschen in Liebe und Versöhnung müssen erkennbar gemacht werden. Liebe und Versöhnung sind mitgestaltende Faktoren der politischen Vernunft. Der Weltfriede beruht heute auf der Erkenntnis, daß die Durchsetzung politischer Ziele mit allen militärischen Mitteln zum Selbstmord führt. Das Gleichgewicht der Abschreckung ist zwiespältig und labil. Die größte Aufgabe der kommenden Zeit ist der soziale Weltfrieden. Der weltweite Lastenausgleich von den Industrienationen mit den Völkern der Dritten Welt ist für den Frieden unerläßlich. „Langsam muß aus dem politischen Wettbewerb der beiden Lager in der Dritten Welt eine Kooperation entstehen, ohne die keine ernsthafte Chance für den sozialen Weltfrieden besteht." 18 Der souveräne Nationalstaat in Europa als oberster politischer Wert ist erfolglos geblieben. Statt dessen müssen die europäischen Nationalstaaten in größere Einheiten eingeordnet werden, die ökonomisch, technologisch und wissenschaftlich zusammenarbeiten, über die Blockgrenzen hinweg Maßnahmen der Friedenssicherung treffen, zwischen den Ideologien und gesellschaftlichen Systemen in den Dialog eintreten und übernationale Zusammenschlüsse schaffen. Diese Entwicklung ist der einzige Weg zur Weltgemeinschaft17. In diesem Rahmen liegt die Friedensaufgabe der Deutschen. In welchem Sinne gehören die Deutschen zusammen? Die Grenze ist willkürlich gezogen. Beide Teile haben eine gemeinsame Geschichte. Sie können sich nicht voneinander lossagen. Sie haben ein gemeinsames kulturelles Erbe. Die Deutschen gehören im Bewußtsein der anderen Völker zusammen. Von ihrer Haltung hängt der Abbau der Spaltung Europas ab. Das Gegeneinander der beiden Teile Deutschlands muß zu einem kooperativen Neben- und Miteinander werden mit betont föderativem Charakter des Zusammenlebens der beiden Sozialstrukturen. Zunächst muß ein geordnetes Nebeneinander hergestellt werden. Die Stimmen aller Parteien müssen im Bundestag und in der Volkskammer Gehör finden. Ohne die Mitwirkung aller Parteien in beiden Teilen ist eine politische Gemeinschaft aller Deutschen nicht denkbar. Die Deutschen müssen den langen Mut gewinnen, den sie auf ihrem Weg in eine gemeinsame Zukunft nötig haben. 15 17
160
10 Ebda. S. 8. Ebda. S. 10. Kriegsverhütung und Friedensstrukturen, S. 8—16.
Hinter den Deutschen liegt die große Katastrophe des Zweiten Weltkrieges. Die Ostdenkschrift betrachtet die menschliche Seite der Katastrophe des deutschen Ostens. In Millionen von Einzelschicksalen wiederholte sich mit dem Verlust der Heimat der 'Verlust beinahe jeglichen äußeren Besitzes und in vielen Fällen auch der Verlust der Angehörigen. Das Potsdamer Abkommen ist als vorläufig anzusehen, denn eine völkerrechtliche Dauerregelung der Grenzfrage ist noch nicht erfolgt. Das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn ist tief zerrüttet worden. Der frühere Austausch ist völlig zum Erliegen gekommen. Dieser Zustand der noch ausstehenden Versöhnung ist ein Unruheherd. Ohne Lösung der deutschen Frage gibt es keine Entspannung in Mitteleuropa. Die noch nicht vollzogene volle Eingliederung der Vertriebenen in die Gesellschaft trägt zu dieser Unruhe bei. Die Vertriebenenführer fordern das Recht auf die ostdeutsche Heimat. „Die Vorgänge um die ostdeutschen Ostgebiete und das Vertreibungsschicksal anderer Völker rufen in der Tat nach einer umfassenden internationalen Erörterung der Frage, wieweit künftig durch eine völkerrechtliche und politische Verwirklichung eines neu zu formulierenden Menschenrechts derartige Massenkatastrophen verhindert werden können." 1 8 Die theologische Ethik steht vor der politischen Aufgabe der Versöhnung. Diese Aufgabe hat zu einem Prinzipienstreit zurückgelenkt, der in der evangelischen Theologie zu Fragen der politischen Ethik in den letzten eineinhalb Jahrzehnten geführt worden ist. Die Theologie der Ordnungen will die Strukturen der gefallenen Welt als Notordnungen stärker berücksichtigt wissen. Die Theologie der Herrschaft Gottes wirft dem Ordnungsdenken die Anerkennung immanenter Eigengesetzlichkeiten vor. Der Respekt gegenüber den Ordnungen entzieht die Christen dem unmittelbaren Anspruch Christi. Die Ethik der Ordnungen wird als Ethik der Resignation, die Ethik der Herrschaft Gottes als Ethik ohne klare Kriterien bezeichnet. Dieser Prinzipienstreit zeigt die Spannung innerhalb der politischen Ethik. Im Begriff der Heimat wird die Spannung offenkundig. Die Denkschrift fragt, ob Heimat allein naturrechtlich-seinsmäßig interpretiert werden kann. Heimat ist Gabe Gottes und kein pseudo-religiöser höchster Lebenswert. Die mobile Gesellschaft kennt ein überhöhtes Heimatverständnis nicht mehr. Gott kann aus der alten Heimat herausführen und durch die Heimatlosigkeit hindurch wieder neue Heimat schenken. „Der Glaube an Gott begründet ein solches Verhältnis zur Heimat, daß der Christ zum gehorsamen Gebrauch ihrer Güter ebenso in der Lage ist, wie er zum Verzicht auf sie bereit sein muß." 1 9 1 8 D i e L a g e der Vertriebenen und d a s Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen 1 8 E b d a . S. 34. östlichen N a c h b a r n , S. 8.
11
Kosmahl, Ethik
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Der Denkschrift geht es um eine internationale Friedensordnung auf der Grundlage von Wahrheit und Gerechtigkeit, die die Interessen aller Seiten berücksichtigt und von der Versöhnung her einen Anfang macht. Es gibt zwei Auffassungen: Die Lübecker Thesen des Ostkirchendienstes sagen, daß Unrechtsakte das geltende Recht nicht aufheben können. Die Bielefelder Thesen der Kirchlichen Bruderschaften empfehlen die theologisch begründete Preisgabe eines deutschen Anspruchs um des Friedens willen. Die Ergebnisse des Potsdamer Protokolls können nicht rückgängig gemacht werden. Wer Recht verwirklichen will, darf nicht neue Schuld verursachen. Der Versöhnungsgedanke der Bielefelder Thesen ist aus der geschichtlichen Situation Deutschlands abgeleitet worden. Beide Thesen sind nach der Meinung der Denkschrift korrekturbedürftig. Die Lübecker Thesen vertreten die Auffassung, daß der Verzicht von Rechtsansprüchen vor Gott nicht identisch ist mit dem Verzicht auf das irdische Recht. Die Bielefelder Thesen erinnern, daß von der Versöhnung her eine künftige Friedensordnung in Europa nicht ohne gewisse Opfer Deutschlands möglich ist. In der neuen Friedensordnung werden sich also Recht und Versöhnung als Gestaltungsprinzipien durchdringen müssen20. Politisch wirksam wird die Versöhnung durch die Partnerschaft. Die Überwindung der Zwietracht geht beide Partner an (Girgensohn). Nicht nur die Unrechtsakte der deutschen Besatzung in Osteuropa, sondern auch die gewaltsamen Veitreibungsmaßnahmen und Gebietsveränderungen der Sieger waren Verstöße gegen elementare sittliche Gebote. Deutschland und seine Nachbarn müssen sich neu sehen lernen unter der höheren übergeordneten Gerechtigkeit Gottes 21 . Die Denkschrift würdigt nicht nur die Lage der Vertriebenen, sondern auch die polnische Seite des Grenzproblems. In der Diskussion um die Denkschrift ist der Teil verschwiegen worden, der anschließend an eine Situationsanalyse des Vertriebenenschicksals konstruktive Hilfe leistet für die Eingliederung der Vertriebenen in seelsorgerlicher und diakonischer Weise. Diese Gedanken erinnern an den Zorn und die Gnade Gottes. Die Denkschrift erinnert an die Westverschiebung des polnischen Staates. Für 9 Millionen polnische Menschen sind die Westgebiete zu einer Existenzfrage geworden. 180000qkm hat Polen durch die Russen im Osten verloren. 103 028qkm deutsches Land hat Polen übernommen. Insgesamt sind Polen von seinem Staatsgebiet des Jahres 1937 76 904 qkm verlorengegangen. 9 Millionen Deutsche sind vertrieben worden, 9 Millionen Polen wurden angesiedelt. Die Denkschrift erinnert an die Lebensinteressen dieser 9 Millionen Polen. Die Denkschrift mahnt zu fundierten völkerrechtlichen Erwägungen, die an die Stelle eines bloßen Wunschdenkens treten müssen. Die ethische Frage lautet: War die Vertreibung Rechtens? Leider wird die Antwort 20 Appell an die Kirchen der Welt, S. 157, Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel (Wolfgang Schweitzer), S.238.
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durch die Tatsache erschwert, daß Deutschland im Deutsch-Sowjetischen Vertrag vom 23.8.1939 (Ribbentrop-Molotow-Pakt) der Annexion Ostpolens durch Rußland zugestimmt hat und sich mit der Teilung einverstanden erklärte. „Darum muß eine deutsche Regierung heute zögern, einen Rechtsanspruch auf die Rückgabe von Gebieten zu erheben, deren Besitz wegen des Verlustes von Ostpolen zu einer wirtschaftlichen Lebensnotwendigkeit für Polen geworden ist." 22 „Die Opfer, die von dem deutschen Volk erwartet werden, leistet es nur, wenn es geschichtlich denkt und sich darin der Einsicht in eine höhere Notwendigkeit beugt." 23 Wir haben in der sogenannten Ostdenkschrift einen politisch-diakonischen Rat vor uns, der das Ganze des Verhältnisses Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn zu erhellen versucht. Der Begriff der Versöhnung ist der Rahmen- und Richtungsbegriff, „das mittlere Axiom", der den Horizont der künftigen Friedensordnung abzustecken versucht. Der Richtungsgedanke der Versöhnung will Salz und Licht in den Dialogen des ganzen Problems sein. Die Aussöhnung Deutschlands mit seinen westlichen Nachbarn macht trotz aller Widerstände Mut, den Weg der Aussöhnung auch zum Osten zu gehen. Die Denkschrift will nicht Parteipolitik treiben, sie will aber starre Rechtsansprüche und Selbstgerechtigkeiten fragwürdig machen durch das Gebot der Stunde: Versöhnung und Frieden. Dieser Dienst an der politischen Bewußtseinsbildung ist hoch anzuerkennen 24 . In der Thesenreihe „Der Friedensdienst der Christen" (1970), die im Anschluß an die Studien der Kammer der E K D f ü r öffentliche V e r a n t w o r t u n g zum Thema „Kriegsverhütung und Friedenssicherung" (1968) im Sinne einer Wegbereitung zu einer Ethik des Friedens herausgegeben wurde, geht es d a r u m , dem Gespräch z u r Sicherung des Friedens ethische Kriterien anzubieten und neue Impulse zu geben: „In den letzten Jahrzehnten hat vor allem die Einsicht in die verheerenden physischen, sozialen, politischen, und moralischen Folgen moderner Kriege die Kriegs- und Friedensfrage zu einem zentralen Thema gesellschaftlicher V e r a n t w o r t u n g werden lassen." (S. 7) „Ein Weltfriede auf Kosten benachteiligter Staaten und G r u p p e n , d . h . ein Frieden auf Kosten sozialer Gerechtigkeit, ist ein Scheinfriede." (S. 8) Den Krieg begünstigen der Vorsprung der Technologie vor der Ethik und Politik, der K a m p f um Machtpositionen, die K o n k u r r e n z feindlicher Ideologien, die egoistische Selbstbehauptung jedes gesellschaftlichen Systems, die Einschränkung bestimmter persönlicher Bedürfnisse von Menschen und die Atmosphäre der Aggressivität. D e r Friedensdienst kann nur als Versöhnung geschehen und schließt O p f e r ein. „So k o n k r e t aber der Friedensdienst sein muß, so universal ist seine Aufgabe. D a r i n ist er mit dem missionarischen Verkündigungsauftrag der Christen identisch." (S. 12) „Es ist dringend erforderlich, d a ß nichtmilitärische Formen des Friedensdienstes geschaffen werden, die eindeutig den Zielen internationaler Solidarität dienen." (S.21) D a v o n w i r d in der Empfehlung 7 bis 10 in der europäischen Denkschrift gesprochen, die von der „Gerechtigkeit und Solidarität in den Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den Entwicklungsländern" handelt. Der Weltfriede ist nicht allein eine ökonomische Aufgabe, sondern die einer ethischen Zielvorstellung. 21 Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen 22 östlichen Nachbarn, S.31—41. Ebda. S.29. 23 24 Ebda. S. 43. Kriegsverhütung und Friedensstrukturen, S. 19.
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T E I L III DIE BEURTEILUNG DER VERWENDBARKEIT DER SOZIALETHISCHEN THEOLOGIE DER „MITTLEREN AXIOME" 12. K A P I T E L
Der Problemhorizont Die sozialethischen Arbeiten der Ökumene sind in der Sorge um die Menschheit geschrieben worden. Die beiden Weltkriege haben verursacht, daß die theologische Arbeit sich den elementaren Gefahren der Welt zugewendet hat. Wir finden in diesen Arbeiten, zu denen Oldham maßgeblich beigetragen hat, keine selbstgerechte Verurteilung der entstandenen Verhältnisse, sondern den Geist der Buße, des Mitgefühls mit den betroffenen Menschen, der Verantwortung und Hoffnung. Das Christentum erscheint als „demütiger, aber bedeutsamer Partner" 1 . Die theologischen Überlegungen wollen das Leben der Menschen zum Guten umgestalten helfen. So gibt sich die Sozialethik große Mühe um sachliche Analysen der Situation, um sie mit der kirchlich-theologischen Position zu konfrontieren. Aus dieser Konfrontation des Evangeliums Jesu Christi in der Verkündigung des Reiches Gottes und im Liebesgebot mit der erarbeiteten Analyse der Weltsituation werden praktische Leithilfen und Folgerungen formuliert, die dem Weltgewissen vorgelegt werden. Doornkaat beobachtet, daß dieser Weg sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt verdichtet und vertieft hat. Während die Arbeit in Stockholm 1925 den Charakter der Kundgebung gehabt hat, wird in Oxford 1937 ein Dialog der sozialen Verantwortung geführt und in Amsterdam 1948 bestimmten Einzelfragen das Interesse gewidmet 2 . Die Konzentration von Amsterdam hat Weltweite angenommen, die in Genf 1966 sichtbar wurde. Dort wurden die Dynamik der jungen Nationen im politischen und wirtschaftlichen Bereich, der Friede im Zeitalter der atomaren Technik, der Kampf um eine neue, weltverbindende kulturelle Gesinnung, 1 2
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Appell an die Kirchen der Welt, S . 8 0 (Thomas: „Neue kulturelle Gesinnung"). Hans ten Doornkaat, Die ökumenischen Arbeiten zur sozialen Frage, S. 225 ff.
die revolutionäre Umformung der Gesellschaft und die Zukunftsplanung in allen Sachaspekten beleuchtet3. Die Theologie der „Mittleren Axiome" ist ein Dienst, der nicht verabsolutiert werden darf. „Mittlere Axiome" sind Riditungshilfen in den bestimmten Situationen des Gefordertseins. Oldham stand vor dem Problem des Totalstaates in Europa und vor dem Niedergang aller Werte am Ausgang des Zweiten Weltkrieges. Heute sind Riditungshilfen nötig für die sozialethische Verantwortung inmitten rascher sozialer Umwälzungen 4 . Gottes erste Sorge ist und bleibt der Mensch. Dieser Gedanke steht hinter der Theologie der „Mittleren Axiome". Die Christen sind berufen, in menschlicher Tragik und Hoffnungslosigkeit unter dem Liebesgebot den Dienst an dieser Welt anzunehmen, den Gott ihnen aufträgt 5 . Wolfgang Schweitzer betont nachdrücklich, daß es durchaus möglich ist, bestimmte „Mittlere Axiome" zu formulieren, die heute für alle Christen verbindlich sind. Das Bemühen geht darauf hinaus, daß die Christen mit den Nichtchristen zu rechten Entscheidungen kommen. Er spricht von den Institutionen als „gefrorenen moralischen Entscheidungen" und erhebt von einer Theologie des Anspruchs Gottes aus die Forderung der Nachfolge Jesu als Hilfe am Menschen. Die Konstanz des göttlichen Gebietens schließt den rechten Gebrauch der Vernunft ein, die die Einzelinformationen im Kontext des Ganzen sieht. Die „Verantwortung des Christen in einer technisierten Welt" 6 ist die Rolle des Dienenden. Die Sachaussagen der Experten helfen den Dienst sachverantwortlich zu machen. Oldham versucht hier in redlicher Offenheit, die Christen zum Hören dessen zu bewegen, was in den maßgebenden Bereichen der Weltsituation erarbeitet worden ist. In diesem Sinne hat Oldhams Theologie einen Stil, den wir im demokratischen Hearing finden. Er verschanzt sich nicht hinter doktrinären Kategorien. Die theologische Arbeit der Zukunft wird diese Zurückhaltung nötig haben. Leicht verfällt sie in die Gefahr des Vorbeiredens. Ebeling sagt zu dieser Redeart kirchlicher Verlautbarung treffend: langweilige Belanglosigkeit trotz sachlicher Richtigkeit. Die „Mittleren Axiome" sind keine fertigen Prinzipien, sondern Stationen des theologischen Denkweges, der sich an die Verantwortung für die Welt unter dem Gebot der Liebe gebunden weiß. Es wird gewagt, in der Begrifflichkeit der vorgefundenen politischen, wissenschaftlichen, technologischen und wirtschaftlichen Wirklichkeit zu reden um des Wortes willen, das Fleisch wird. Mögen die Begriffe aus dem philosophischen Naturrecht kommen und säkular gebraucht werden, entscheidend für die s
Howe/Tödt, Frieden im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, S.36fT. Wolfgang Schweitzer, Christen im rasdien sozialen Umbruch heute, S. 46 if. 5 Botsdiaft der Konferenz von Genf, ökumenische Rundschau, Heft 1/1967, S. 1 ff. Bericht der Sektion III von Genf, Ebda. S. % ff. β Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 102 ff. (Harvey Сох). 4
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christliche Sozialethik ist, daß in das Gehäuse der Begriffe die Kraft und das Wesen der vom Evangelium her gebotenen Agape eingeführt wird. Das ist ein Wagnis, alles zu gewinnen oder alles zu verlieren. Entscheidend ist der Geist, aus dem „Mittlere Axiome" formuliert werden. Entweder sind es reine immanent-empirische Zweckbegriffe oder Begriffe, die die transzendente Öffnung einer letzten Verantwortung vor Gott haben 7 . Hans ten Doornkaat sagt: „Die Ökumene ist eine Gestalt kirchlicher Wirksamkeit, die als verantwortliche Antwort auf die Heilstatsache der Incarnatio die in ihr begründete Einheit der Kirche und den in ihr erhobenen universalen Herrschaftsanspruch Gottes bezeugt." 8 Die Kirche ist um der Welt willen da. Die Agape Christi ist in Fortsetzung begriffen um des ganzen Kosmos willen. Die Lehre internationaler Bruderschaft sieht die Kirche nicht als Selbstzweck, sondern inmitten sich selbst vergessender Liebe. Diese Tendenz finden wir im Denken von Nathan Söderblom. Die 2. Barmer These ruft zu freiem und dankbarem Dienst an Gottes Geschöpfen auf. Friedrich Karrenberg hat diese Barmer These als die Grundlage der evangelischen Sozialethik immer wieder betont. Hartmut Weber hat an diese These erinnert 9 . Er hat gewarnt, vorschnell Bindungen dieser Welt als gottlos anzusprechen. Die heutige Situation ist eine offene Situation im Unterschied zu der totalitären Situation des Dritten Reiches. Weber fragt: Wie aber soll der Laie entscheiden, was von den biblischen Weisungen noch Gültigkeit hat oder nicht? Wir lesen bei Hillerdahl: „Wenn ich diese Einstellung zum Wort der Bibel als ,unreflektiert' bezeichne, dann meine ich folgendes: Wer in der angegebenen Weise in der Schrift die Lösung sozialethischer Fragen sucht, übersieht das Historische und Menschliche des Bibel worts." 1 0 Karl Barths Ableitung des menschlichen Rechts von der Rechtfertigung des Sünders und Ernst Wolfs Gedanke von der Ermöglichung des Menschseins als Gabe und Aufgabe machen es nötig, die Versuchung der Formulierung bloßer Leerformeln zu überwinden. Die Sozialethik kann unter gar keinen Umständen auf die Analyse sozialer Tatbestände und auf den Dialog mit den Sozialwissenschaften verzichten. Die „Mittleren Axiome", ursprünglich als Orientierungshilfen gedacht, müssen jetzt mit begründeten und kontrollierbaren 7 Vgl. ö k u m e n i s c h e Rundschau, J a n u a r 1967, S. 11; diese Feststellung sehe ich in der Denkschrift „ Z u r R e f o r m des Ehescheidungsrechts in der Bundesrepublik Deutschl a n d " g e f ä h r d e t . Macht es sich nicht die Denkschrift zu leicht, wenn sie auf S. 11 feststellt, „ d a ß es eine Scheidung nur d a n n geben d a r f , wenn die eheliche Gemeinschaft nach menschlichem Urteil endgültig zerstört ist"? 8 H a n s ten D o o r n k a a t , D i e ökumenischen Arbeiten, § 1 (Ökumene). 9 H a r t m u t Weber, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspolitik in der sozialen Marktwirtschaft, S. 7. D i e Kirche als F a k t o r einer k o m m e n d e n Weltgemeinschaft, S. 118 ff. ( G u s t a f s o n : „ T h e o l o g i e der christlichen Gemeinschaft?") 1 0 G u n n a r H i l l e r d a h l , Kirche und Sozialethik, S. 22.
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analytischen und normativen Aussagen gefüllt werden n . In dieser Situation des Dialogs des Theologen mit dem sachkundigen Laien ist die Ethik der „Mittleren Axiome" verankert. Sie sucht Normen f ü r die gemeinsame Gestaltung der Welt. Sie braucht dazu die sachkundige Information. In der Verbindung von Liebesgebot und sozialwissenschaftlicher Arbeit sucht die Ethik der „Mittleren Axiome" vorläufige Umschreibungen der Richtung des sozialen Handelns zu bestimmen. Das christliche Denken sucht das säkulare Denken. Im Vorfeld der Reich-Gottes-Botschaft sucht diese Ethik verantwortlich-sachliche Arbeit zu leisten. Sie ist überzeugt, daß die vergebende Agape der wertvollste Beitrag in der modernen und offenen Gesellschaft ist 12 . Yoder hat auf den hermeneutischen Aspekt der „Mittleren Axiome" aufmerksam gemacht: Die „Mittleren Axiome" wollen die Agape in die begriffliche Denkmöglichkeit der Weltsituation übersetzen. Die Agape dringt in die Begriffswelt der technisch-wissenschaftlichen Welt ein. Das Liebesgebot will in der konkreten Situation praktisch helfen 1 3 . In diesem Sinne hat Rieh die „Maximen der sozialen Entscheidung" formuliert. Die „Mittleren Axiome" oder sozialen Entscheidungsmaximen haben eine kritische und eine konstruktive Funktion. Sie bieten in ihrer Verwendbarkeit Hilfen zur Bewältigung der sozialen Probleme der Gegenwart. Die naturrechtliche Herkunft der „Mittleren Axiome" versperrt nicht die Möglichkeit, diakonisch und missionarisch aus der eschatologischen Christusliebe zu wirken. Für die Weiterarbeit in dem weltweiten Problemhorizont sind alle Möglichkeiten zum Tun des Gebotenen und Notwendigen offen. Die Nachfolge Christi will sich darin auswirken 14 . Die Ebene, auf die sich die christliche Sozialethik begibt, ist für sie Neuland. Nach Weber muß sich an die Formulierung von Maximen sozialer Entscheidung der Versuch anschließen, konkrete wirtschaftspolitische Ziele zu erstreben. Das alles geschieht im Wissen um die Vorläufigkeit. Hierher gehört die zukunftsweisende Überzeugung, die das Buch von Howe/Tödt vertritt: „Wissenschaft als verantwortliche Gesellschaft' zu treiben, ist zunächst einmal ein praktisches Problem, Koordination von Wissenschaften und Kontrolle der Anwendungen wissenschaftlicher Ergebnisse sind organisatorische Aufgaben. Es ist weiter ein politisches Problem, man muß die Anwendung von Wissenschafttsergebnissen durch das Forum der öffentlichen Diskussion und durch geeignete Instanzen regulieren. Es ist schließlich aber, alle anderen Aspekte zu11 Christian Walther, „Zum Problem von Theologie und Gesellschaft", in: Glaube und Gesellschaft, S. 15. Gerhard Weisser in: Christliche Gemeinde und Gesellschaftswandel, S. 71 ff. 12 Hoch, „Die heilende Gemeinschaft", in: Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 495. 13 Hartmut Weber, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspolitik in der Sozialen Marktwirtschaft, S. 8, 14 Paul Abrecht in: Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S.21.
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sammenfassend, ein wissenschaftliches Problem — denn es handelt sich im Grunde um das Selbstverständnis der Wissenschaften, um das, was man die Idee der Wissenschaft und das Ethos der wissenschaftlichen Weltgestaltung nennt." 1 5 Mit der Rolle der Wissenschaft als ,Big Science' verbindet sich eine ethische Verantwortung. Ringeling sagt zu dem Buch von Howe/Tödt, es schlage vor, die Tradition von Amsterdam, eben das Postulat der verantwortlichen Gesellschaft, und die von Evanston, Christus die Hoffnung der Welt, in einem Aktionsprogramm mit dem Ziel des Friedens in einer künftigen Weltgemeinschaft zur Synthese zu bringen. Die Christenheit könne diese Synthese beispielhaft vorwegnehmen 1 '. Die Wissenschaftler selbst fragen nach Sätzen dieser Verantwortung in Möglichkeiten und Grenzen. Vernichtung oder Weiterbestehen machen für die Zivilisation die außerordentliche moralische Anstrengung notwendig. In dieser Mühe liegt die Verwendbarkeit und Weiterentwicklung des methodischen Weges der „Mittleren Axiome" in der Zukunft. Diesen Hinweis hatte bereits 1948 Oldham gegeben, aber die traditionelle Denkweise in Amsterdam brachte den Weg nicht weiter. Der Stellenwert der „Mittleren Axiome" liegt in der Begegnung von intellektueller Redlichkeit mit der Überzeugung (Axiom) der christlichen Liebe. „Wir sind verpflichtet, nach der Absicht Gottes für unsere Zeit zu suchen. Denn die christliche Ethik leitet uns, die Ziele zu bestimmen, von denen wir im Glauben dafür halten, daß sie die Absicht Gottes für unsere Zeit darstellen." 17 Der Glaube an den Gott, der Christus zum Herrn gemacht hat, ist nicht ein Element neben anderen Elementen, sondern das kontrollierende Prinzip der ganzen Struktur. Shaull folgert daraus, daß Werte umgesetzt werden in spezifisch soziale Ziele 18 . Der Problemhorizont hat sich riesig ausgeweitet. Walther sagt: „Die Gesellschaft in ihren geschichtlichen Veränderungs- und Differenzierungsprozessen ist in den Zukunftshorizont der auf die — dem Menschen unverfügbare — Vollendung seines Reiches zugehenden Geschichte Gottes mit den Menschen hineingenommen." 19 Sittler spricht von der unberechneten, häufig unbewußten, aber starken Auswirkung des kosmischen Ausmaßes und der Durchdringungskraft der physikalischen Welterkenntnis unserer Zeit, die die traditionellen Ausrichtungspunkte des Menschen zerstört. „Der Raum des Möglichen hat sich unermeßlich ausgedehnt." 20 Tor Aukrust erinnert an die beiden Bedrohungen des manipulierten MenHowe/Tödt, Frieden im wissenschaftlichen Zeitalter, S. 37. ökumenische Rundschau, Januar 1967, S. 14. 1 7 Elmer J . F. Arndt, „Auf dem Wege zu einer ev. Sozialethik", in: Die Freiheit des Evangeliums und die Ordnung der Gesellschaft, S . 7 3 f f . 18 Shaull in: Appell an die Kirchen der Welt, S.98. 19 Glaube und Gesellschaft, S . U . 20 Ebda. S. 20. 15
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sehen und der totalen Selbstausrottung der Menschen als Elemente der Struktur der modernen Welt. Die Spannung zwischen Staat und Gesellschaft bedarf einer Theologie der Rechtsgemeinschaft21. Diese Stichworte machen das Anliegen der Sozialethik der „Mittleren Axiome" in der Zukunft legitim: Die Wahrheit des Glaubens als Wahrheit für die Welt muß in die Sprache der Welt, und das heißt nach aller Möglichkeit in die Sprache der Vernunft übersetzt werden. Die Sozialstrukturen der Zukunft stellen uns durchweg vor neue Aufgaben der theologischen Erkenntnis, die zu einem großen Teil ohne Traditionen sind. Das Verhältnis der Sachfragen und der ethischen Fragen verlangen Überlegungen von Fall zu Fall. Trillhaas schreibt: „Es ist meine tiefgegründete Überzeugung, daß wir gerade in dieser Frage einer materialen Normierung der praktischen Sozialethik aus der Undeutlichkeit herauskommen müssen, die zwischen ,erbaulichen' Beteuerungen und unzureichender Begründung aktueller öffentlicher Stellungnahme hin und schwankt." 22 Die Rolle der Kirche ist die der das Ganze überschauenden Dienerin, die die Probleme kennt, die aktuellen Tendenzen auf die Person des Menschen abzuschätzen vermag, Gottes Wort unverändert verkündet, das Ziel der Gesellschaft beschreibt, ihre Glieder zu einem sachgerechten und überzeugenden Handeln erzieht und beispielhaft sich von der Versuchung der Macht abkehrt 23 . In diesem Sinne bleiben „Mittlere Axiome" nicht Elemente einer Sozialtheorie, sondern stellen alle unter die soziale Forderung des Evangeliums 24 . 2 2 Ebda. S. 76. " E b d a . S. 26 ff. 2 3 Ebda. S. 82. 24 Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 41 (Hans Werner Bartsch), "Bericht aus Uppsala 68", S . 4 5 f f . , S . 6 2 f f . (Sektion III und IV).
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13. K A P I T E L
Die Frage nach der Radianz der Agape innerhalb der Sinndeutung der sozialen Frage in der Theologie der „Mittleren Axiome" Die naturrechtliche Interpretation unterstreicht den Gedanken des Lebensrechts. Die Agape anerkennt das Lebensrecht, das im Streben nach Sicherheit, Freiheit, Bildung und sozialer Hilfe zum Ausdruck kommt. Die Schöpfungslehre der christlichen Tradition bezieht das Lebensrecht als Gabe auf die Liebe des Schöpfers und Erhalters. Daraus leitet sich das Gebot der Anerkennung des Lebensrechts jedes Menschen ab. So begegnen sich die Forderungen des säkularen Humanismus mit der christlichen Lehre vom Menschen. Die Theologie der „Mittleren Axiome" will von der protologischen Seins-Struktur her jedem Menschen zu einem menschlichen Leben verhelfen. Kaum eine Generation hat in diesem Jahrhundert wie die gegenwärtige erleben müssen, auf welch vielfältige Weise Menschenleben durch Gewalt zertreten worden sind. Albert Schweitzers „Ehrfurcht vor dem Leben" ist ein beschwörender Ruf zur Vernunft, die von der Liebe regiert wird. Der Dialog von Oxford handelt von der gefährdeten Freiheit und Würde des Menschen, der durch totalitäre Ideologien bedroht ist. Amsterdams Konzeption von der „Verantwortlichen Gesellschaft" ist eine neue diakonische Konzeption für eine Gesellschaft, die in die Brüche gegangen ist. Wichtige Impulse sind aus den ökumenischen Überlegungen in die sozialen Fragen gekommen. Humanitäre Gesetze sind durch ökumenische Überlegungen beeinflußt worden. Diese ganze Arbeit ist eine Illustration der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter. Die Entwürfe von Oldham, Rich, Wendland u.a. sind in ihrer Radianz Hilfen für die Menschen angesichts totalitärer Gefährdungen. „Mittlere Axiome" zeigen die schrittweisen Überlegungen der Hilfe. Wenn die Sozialethik zur bloßen Mitmenschlichkeit absinkt ohne den Bezug zur Agape des Neuen Testaments, dann müssen sich die Wege trennen zwischen einer verflachten Mitmenschlichkeit und einem diakonischen Denken im Horizont der Christusliebe und Reich-GottesHoffnung. Es wird deshalb immer wieder die theologische Aufgabe der Sozialethik sein müssen, die „Mittleren Axiome" vor der Verflachung zu bewahren. 170
Die theologische Aufgabe sieht van Oyen mit Recht in der Ethik der Anwaltschaft des Geistes, die die missionarische und diakonische Dimension der ethischen Arbeit der Christen in der Welt aufschließt. Die Denkkategorien des Naturrechts sind hierfür das Arbeitsmaterial, das dem Dienst der Liebe in der Welt zur Verfügung steht. Dieser Dienst geschieht innerhalb des Ordnungs- und Strukturgefüges der Weltwirklichkeit als Philia. Hinter der Philia leuchtet allerdings die Agape auf, aber die Philia macht die Vorläufigkeit und Gebrochenheit des Dienstes sichtbar. Das sozialethische Denken der Christen muß mit den Quellen des Glaubens, der Liebe und der Hoffnung verbunden bleiben. Die Anwaltschaft des Geistes zeigt den Menschen als Kind Gottes. Wer Liebe in Strukturen ohne das pneumatische Leben erstrebt, der macht aus der Gemeinschaft einen Sozialmechanismus, in dem der Mensch das Leben verloren hat, das ihm der Geist Gottes schenkt. Der Gefahr einer Bürokratisierung tritt eine pneumatische Sozialethik entgegen 1 . Die Anwaltschaft des Geistes schenkt den Zugang zum offenbarten Willen Gottes und will einen lebendigen Dialog um die Sachfragen bewirken. Die Öffentlichkeit wird von geistigen Kräften gesteuert und beeinflußt. Die Christenheit hat die Pflicht, auf diese Sphäre des Miteinanders in der Öffentlichkeit durch ihr Zeugnis und durch ihr Handeln einzuwirken. Ein christusloser Sozialdienst ist nicht im Sinne Gottes. Daß es zur Radianz der Liebe auf dem Weg der „Mittleren Axiome" kommt, liegt in der Verantwortung der Christen, die vom Gottesdienst her in der Welt dienen sollen. Die Predigt hat eine Aufgabe der Zurüstung. Die „Mittleren Axiome" müssen so als Impulse des diakonischen Weltund Menschheitsdienstes interpretiert werden. Ein Handeln allein aus der Vernunft birgt immer die Gefahr in sich, daß die begrenzten Einsichten des Menschen verabsolutiert werden. Dann können wir von einer Ideologie reden. Im Gegenteil: In der Ethik der Anwaltschaft des Geistes muß es sich um die Befreiung von eigengesetzlichen Zwängen handeln. Im Pneuma wird der Anspruch Gottes im Leben des Einzelnen empfangen. Dieser Anspruch will sich in den „Mittleren Axiomen" auswirken. Das Pneuma macht das Imago-Dei-Sein des Menschen deutlich. In den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen des kommunikativen Seins steht der Mensch im Dienst Gottes und des Nächsten. Ein vollkommen reguliertes Sozialgehäuse wartet auf den Menschen, der seine Erneuerung durch den Geist Gottes erfährt. Das Pneuma ist Gabe und Kraft Gottes. In l . K o r . 2 , 6 — 1 6 wird gesagt, daß es die Bedeutung des Heilshandelns Gottes am Kreuz Christi erschließt. Die neue Schöpfung ist der Inhalt der Hoffnung inmitten der 1 Van Oyen, „Die Grenzen des W o h l f a h r t s s t a a t e s " , S. 3 : „Das W ä c h t e r a m t der Kirche sei es eben, die geistige Situation des Wohlfahrtsstaates geistlich sichtbar zu machcn." Vgl. auch: „Affluence and the C h r i s t i a n " , S . 2 9 .
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alten Schöpfung. „Das Wunder besteht darin, daß ein Mensch glauben darf, daß in Jesus Christus Gott für ihn ist." 2 Pneuma ist ,pneuma tes pisteos'. Die Aussage von 2. Kor. 4,13 muß die Voraussetzung bleiben von verantwortlich christlichem Denken in „Mittleren Axiomen". In 2. Kor. 5,5 und 7 redet Paulus vom ,arrabon tu pneumatos' als dem Pfand Gottes für ein ,dia pisteos peripatein'. Von diesem pneumatischen Hintergrund der christlichen Weltexistenz her gesehen bleibt ein sozialethischer Entwurf von „Mittleren Axiomen" in Richtungshilfen und Kompromißentscheidungen immer ein vorläufiger Entwurf. Der Christ bleibt Glied des Leibes Christi. Nach 1. Kor. 2,12 und Rom. 8,16 wird ihm darin das Heil Christi zugesprochen. Der Christ lebt in seiner irdischen Existenz von diesem Zuspruch. Gollwitzer hat recht, wenn er sagt, daß der Christ nicht ein System von christlichen Grundsätzen gleichsam auf politischem Wege durchzusetzen versucht, sondern in die Welt und in die Politik geht, um als ein Erkennender und Beschenkter der von seinem Herrn geliebten Menschheit zu dienen3. Er muß unter der Herrschaft Christi und damit im Wirkungsfeld des Geistes Gottes bleiben und leben. Pneuma sagt dem verabsolutierten Vertrauen auf die Sarx ab. Der Christ erhebt Bedenken gegenüber der Auffassung, daß der Mensch mit der Hilfe von naturrechtlichen Kategorien das vollbringen kann, was er soll. ,Pneumati enarchesthai' (Gal. 3,3) bedeutet die indikativische Feststellung, daß der Mensch nicht aus der eigenen Kraft, sondern aus dem Vertrauen zu der Kraft Gottes leben kann. Diese Kraft Gottes ist die Norm des Lebens (Phil.3,3). Der Verzicht auf die Sophia z.B. im gnostischen Intellektualismus bedeutet die Abkehr von der Verabsolutierung aller menschlichen Maßstäbe. Nach Gal. 5,17 ist der Mensch in die Spannung von Sarx und Pneuma gestellt. Das bedeutet die Spannung von Fluch und Segen. Es ist nach Gal. 6,8 entscheidend, ob der Mensch auf das Pneuma oder auf die Sarx sät. Rom. 8,4 ff. spricht vom ,peripatein kata sarka' oder ,kata pneuma'. Das bedeutet, daß die befreiende Norm des Pneuma in der Tatsache besteht, daß Gott gehandelt hat und das erfüllt hat, was der Nomos nicht vermochte. Gott ermöglicht von seiner Liebe her das neue Leben 4 . Pneuma ist die Offenheit für Gott und für den Nächsten. Freiheit von der ,palaiotes grammatos' heißt ,duleuein en kainoteti pneumatos' (Rom. 7,6). Nach Gal. 5,13-25 ist die Agape das Leben im Geist, das freigeworden ist vom Vertrauen auf die Sarx. Das Kittel, Theologisches Wörterbuch, Bd. VI, S . 4 2 3 . Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft, S. 280 ff. (Gollwitzer: „Einige Leitsätze zur christlichen Beteiligung am politischen Leben"). Vgl. audi Gollwitzers Gedanken in „Die Zukunft der Kirche und die Zukunft der Welt" S . 9 0 f f . : dort geht er weiter, indem er sagt, daß die Kirche ,parteilich' sein müsse, ohne parteiisch' zu sein, wenn es um den „pressure group"-Dienst der Kirche für die Stummen in Entwicklungsfragen geht. 2
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Kittel, Theologisches Wörterbuch, Bd. VI, S. 428 ff.
Pneuma bringt die Radianz der Agape zur Wirkung. Der sozialethisdie Dienst der Christenheit kann nur aus der Kraft und aus der Erleuchtung des Pneuma geschehen. Christus, das ,eikon tu theou' (2. Kor. 4,4 und Kol. 1,5), macht den Willen Gottes mit dieser Welt offenbar. Oldham hat auf diesen Gedanken wiederholt aufmerksam gemacht. Wenn in Gen. 1,27, Rom. 8,29, 2. Kor. 3,18 der Mensch als das Bild Gottes genannt wird, dann machen uns Stellen wie l.Kor. 15,45ff. und Kol. 3,10 klar, daß die Wiedergewinnung der schöpfungsmäßigen Gottes-Ebenbildlichkeit identisch ist mit der Herstellung der Christusgemeinschaft. Da ist die Gegenwart eschatologisch verankert 5 . Paulus redet deshalb vom verblendeten Sinn der Ungläubigen und von der Erkenntnis des christlichen Glaubens, die vom hellen Licht des Evangeliums die Klarheit Christi, das heißt seine einzigartige Bedeutung für die Welt, begreift und dieses Licht leuchten läßt vor den Leuten. Vom Licht der Erkenntnis Christi findet die Interpretation des Menschseins in seiner kommunikativ-sozialen Bestimmung Gabe und Aufgabe. Diese pneumatische Christus-Dimension ist von der Sozialethik der „Mittleren Axiome" nicht zu trennen (2. Kor. 4,6). Es kann doch nur die christliche Gemeinde — und nicht irgendein Normensystem — sein, die in ihre Mit- und Umwelt in missionarischer und diakonischer Weltverantwortung sich um „Mittlere Axiome" als gemeinsamer Basis mit den Gruppen und Kräften der Gesellschaft müht. Die Frage nach der Radianz der Agape in den sozialen Fragen ist die Frage nach evangeliumsgebundenem Denken und Handeln einer weltlichen Christenheit im Gehorsam zu Gott und in der Liebe zu den Menschen. 5
Ebda., Bd. II, S. 394 ff.
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14.
KAPITEL
Die Frage nach der eschatologischen Ausstrahlung der Agape in den „Mittleren Axiomen" Jürgen Moltmann hat den Satz geschrieben: „Es wird darauf ankommen, die Sozialethik der mittleren Axiome und der verantwortlichen Gesellschaft in den weiteren Kontext der eschatologischen Geschichte Gottes zu stellen und darin die Zukunft kritisch und antreibend mit der Gegenwart zu vermitteln." 1 Das heißt doch, daß die eschatologische Relevanz der „Mittleren Axiome" von einer Theologie erfolgt, die den Kontext der Geschichte aufzuzeigen vermag, in dem die „Mittleren Axiome" ihren Stellenwert haben. Moltmann spricht auf der Position eines Programms der Theologie als utopische Tendenzkunde. Diese Position steht der neuen ökumenischen Geschichtstheologie nahe 2 . Das Denken Oldhams hat seinen Ausgang genommen von einem Typ der ökumenischen Eschatologie, dem „Social gospel" 3 . Die Impulse, die von Stockholm 1925 ausgegangen sind, lassen heute die „Mittleren Axiome" als soziale Vorstellungen und Vorsätze der Christenheit erscheinen, die auf der Überzeugung formuliert werden, daß Gott in der Gesellschaft am Werk ist und sein Reich-Gottes-Ziel mit ihr zu vollenden trachtet. In dieser Hoffnung erfahren die „Mittleren Axiome" Bedeutung in einer letztgültigen revolutionären Weltverantwortung. Die Nachfolge Jesu will sich dieser richtungweisenden Denkmarken bedienen, um schöpferische menschheitshelfende Nachfolge zu sein 4 . Es werden weiterhin „Mittlere Axiome" für eine Ausweitung des Ansatzes der Verantwortung nötig werden im Rahmen einer evangelischen Proexistenz und Solidarität mit der Menschheit der Zukunft. Die Theologie der Revolution fordert, daß der persönliche ,social service' in den Ordnungen der Gesellschaft zu einer schöpferisch-revolutionären ,social action' an den Ordnungen der Gesellschaft werden muß. Ohne „Mittlere Axiome" ist dieses Vorhaben nicht denkbar. 1
M o l t m a n n , in: Kirche in der Zeit, X X I , 7, v g l . ö k u m e n i s c h e Rundschau 1/1967,
S.13. ö k u m e n i s c h e Rundschau, J a n u a r 1967, S . 1 3 . D i e Kirche als F a k t o r einer k o m m e n d e n Weltgemeinschaft, S. 15 (Abrecht: „ D i e Entwicklung einer ökumenischen S o z i a l e t h i k " ) . 4 Christliche G e m e i n d e und Gesellschaftswandel, S. 32 (Schrey: „Evangelische S o z i a l ethik und N a c h f o l g e C h r i s t i " ) . 2
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Die theologische Besinnung wird daran festhalten, daß der kommende Äon bereits im gegenwärtigen Äon präsent ist. In seiner „Theologie der Hoffnung" spricht Moltmann von der Exodusgemeinde. Die gelebte eschatologische Hoffnung und die aus ihr resultierende Aktivität der Agape ist der Leitgedanke des dynamischen Begriffs der Exodusgemeinde. Mit dem Begriff der Exodusgemeinde kennzeichnet Moltmann das „eschatologische Verständnis der Christenheit in der modernen Gesellschaft" 5 . Das wandernde Gottesvolk glaubt, liebt und hofft in der Kirche, in der Gemeinde und in den weltlichen Berufen. Zwar sind die Werte der Gesellschaft religionsneutral, und das Christentum hat den Charakter als „cultus publicus" eingebüßt, aber um so stärker ist der eschatologische Glaube in die ethische Wirklichkeit hineinlokalisiert, die von Entscheidungen und Begegnungen des Menschen geprägt ist. Dort ist der Bereich der Religion als Kult der neuen Subjektivität oder der Mitmenschlichkeit. Das Zeugnis der Liebe in diesem Bereich hat eschatologische Relevanz. Die Christenheit lebt im Erwartungshorizont des Reiches Gottes. Ihr Tun zielt auf die kommende Gerechtigkeit, auf den kommenden Frieden, auf die kommende Freiheit und auf die Würde des Menschen. Weil heute die Gesellschaft in einer gemeinsamen Geschichte lebt, steht vor uns die Frage nach der geistlichen und sozialen Basis für das Leben in einer kommenden Weltgemeinschaft 6 . Die Hoffnung schließt die Arbeit am Recht, an der Humanisierung des Menschen, an der Sozialisierung der Menschheit und am Frieden der ganzen Schöpfung nicht aus. „Der Erwartungshorizont, in welchem eine christliche Lehre vom Handeln entfaltet werden muß, ist der eschatologische Erwartungshorizont des Reiches Gottes, seiner Gerechtigkeit und seines Friedens mit einer neuen Schöpfung, seiner Freiheit und seiner Humanität für alle Menschen." 7 Dieser Erwartungshorizont greift prägend ein in die Gegenwart in schöpferischer Nachfolge (E. Wolf) und schöpferischer Liebe (Pannenberg). Die Hoffnung interpretiert die Schöpfung vom eschatologischen Christusereignis in und für diese Welt, die in Gott das Ziel und die Vollendung ihres geschichtlichen Weges unter dem Gericht und unter der Gnade des Heils finden wird. Ohne die eschatologische Radianz wird ein Denken mit „Mittleren Axiomen" ausgehöhlt zu einer immanent naturrechtlichen Theorie. Die konsequente Eschatologie, die heilsgeschichtliche Eschatologie und die präsentische Eschatologie 8 werden in ihrem Sozialbezug auf die „Mittleren Axiome" zurückgreifen. Man fragt nach der Verheißung und Gegenwart Christi in der Geschichte. In ihr soll sich das Evangelium als die Kraft der Emanzipation, der Pfeil des Humanum (Teilhard de Chardin) bewähren. Man sucht nach 5 0 7 8
J ü r g e n M o l t m a n n , Theologie der H o f f n u n g , S. 280 ff. ö k u m e n i s c h e Rundschau, J a n u a r 1967, S. 14, 21. J ü r g e n M o l t m a n n , Theologie der H o f f n u n g , S. 308. Walter Kreck, D i e Zukunft des G e k o m m e n e n , S. 14 ff.
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den Zeichen Gottes, die den unsicheren Weg markieren und die Wahl erleichtern e . Die Zuordnung von Protologie und Eschatologie ist der abgesteckte Rahmen des Kontextes, der in den Problemen der Arbeit, der Wirtschaft und des Eigentums die eschatologische Agape zur Sinndeuterin der gottbezogenen Existenz des Menschen werden läßt. In diesem Kontext haben die „Mittleren Axiome" die Bedeutung von Funktionsaussagen. Im Dialog mit den säkularen Sinndeutungen muß klar herausgearbeitet werden, was die Verantwortung der Christenheit für die Welt heute bedeutet. Die „Mittleren Axiome" sind Hilfe-Sätze für den Menschen, der in der Welt als ihm von Gott zugewiesenen Lebensraum Gottes Willen tun soll. Oldham spricht gern von der letzten Wirklichkeit der Liebe. Von der Liebe her interpretiert er das Existenzverständnis. In Mt. 11,26 sagt der Sohn ja zu der „eudokia" des Vaters. „So macht das in der Verkündigung des Schöpfers liegende Gegenüber von Schöpfer und Geschöpf dieses zu einem wollenden; denn Geschöpf sein heißt gewollt sein, gewollt sein schließt in sich, zu einem Ziel gewollt sein, zum Wollen aufgerufen sein, zu dem Wollen nämlich, zu dem es geschaffen ist." 10 Die Schöpfung ist der „mataiotes" und der „phtora" unterworfen (Rom. 8,19ff.). Von ihr geht der Reiz der Versuchung aus. In dieser gefallenen Welt kann der Mensch Gott nur durch Christus erkennen. Er erkennt durch Christus die Schuld. Er erkennt das Heil „pro kataboles kosmu" (Eph. 1,4; l.Petr. 1,20)". Der Vater Jesu Christi trägt in seiner Liebe diese Welt. Er soll und darf diese Welt als Mensch nutzen und gebrauchen. Er darf alles benutzen, was ihn als Geschöpf erhält. „Mittlere Axiome" wollen dieser Schöpferbestimmung dienen. In den „Mittleren Axiomen" sind Problemkontext und Glaubenskontext gegenübergestellt12. Im Menschen hat das Böse seinen Kern. Das Ebenbild Gottes ist durch den Ich-Trieb verdorben. Die Reich-Gottes-Botschaft verkündigt die Befreiung durch Christus. Der Psychikos-Mensch steht dem PneumatikosMenschen gegenüber. Pneuma ist das Lebensprinzip der Welt Gottes. Die neue Kreatur hat ihre Existenz im Geist. Das neue Leben ist jetzt verborgen mit Christus in Gott (Kol. 3,3). Das neue Verhältnis zu Gott durch Christus kann nicht ohne Auswirkung auf das Verhalten des Menschen bleiben (Rom. 6,1 ff.) 13 . Von einer rein moralischen Begründung der „Mittleren Axiome" muß abgesehen werden. Der „tertius usus legis" leitet den Imperativ von dem Indikativ ab. Der Gehorsam ist ein Geschenk des Christusgeistes. In den angelsächsischen Naturrechts-Kategorien 9 10 11 12 13
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ökumenische Rundschau, Januar 1967, S . l l . Theologisches Wörterbuch, Bd. III, S. 1028. Ebda. S. 1032. Appell an die Kirchen der Welt, S. 251—255. Theologisches Wörterbuch, Bd. III, S. 1033.
kommt die eschatologisch-christologische Perspektive zu kurz. Das gilt auch in gewisser Weise von Richs „Maximen sozialer Entscheidung" Mit Christi Kommen in die Welt bricht sich das Reich Gottes Bahn (Mt. 12,28). Eph. 2,15 spricht von der Einigung der getrennten Menschheit zu dem einen neuen Menschen. Das Ziel, dem die „Mittleren Axiome" dienen sollen, ist letztlich die neue Schöpfung in Christus. In der Hoffnung auf dieses Ziel hin ist die1 Verantwortung der Christen begrenzt und real noch gebunden an die gottwidrigen Mächte. Die Vollendung mit der Offenbarung Christi steht noch aus (Kol. 3,4). Rom. 8,21 spricht von der Freiheit der Kinder Gottes. „Dann wird sich Christus als ,pneuma zoopoioun' in der Gesamtheit der Welt offenbaren." 14 „Gott schenkt seinem Partner das Wort der frohen Botschaft von der Weltversöhnung und der kommenden Weltbefreiung. Das Gesetz jedoch beseitigt die Verharmlosung der Weltlage und enthüllt schonungslos die Heilsnotwendigkeit des Evangeliums." 15 Jesus Christus ist die geschichtliche Aktion der Gottesliebe. In diesem Menschen kommt die Liebe Gottes in leibhafter Gestalt in die unmittelbare Tuchfühlung und Nähe zur abtrünnigen Menschheit. Die „Mittleren Axiome" müssen dem christologischen Kerygma verhaftet sein, um brauchbare Kriterien im Zusammenhang von Protologie und Eschatologie zu sein. „Die in Jesus Christus, dem Kyrios, aufstrahlende Imago Dei macht erst klar, was echte humanitas überhaupt bedeutet. Das Urmodell des Schöpferentwurfs kommt in dem ,zweiten', dem ,letztenAdam', dem Anfänger einer neuen Menschheit, zur Erfüllung. Gott will in seiner Liebe diese Herrlichkeit nicht für sich zurückbehalten, sondern die Menschen, die Welt, verherrlichen." 1β Der Schöpfungsplan Gottes kommt in der Neuschöpfung zum Ziel. " Ebda. S. 1034. 15 Walter Künneth, Glauben an Jesus?, S. 235. i$ Ebda. S. 240, vgl. „Neu-Delhi-Dokumente", S. 300 ff.
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Kosmahl, E t h i k
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15. K A P I T E L
Folgerungen Die beiden Kapitel über die Radianz der Agape innerhalb der Sinndeutung der sozialen Frage und über die eschatologische Ausstrahlung der Agape in den „Mittleren Axiomen" im Gegenüber zur Darstellung der sozialethischen Theologie Oldhams (Teil I) und der Diskussion der Theologie der „Mittleren Axiome" in der evangelischen Sozialtehik (Teil II) lassen für den weiteren Dialog folgende Konsequenzen wichtig erscheinen: I Die evangelische Sozialethik ist eine Funktion der Arbeit der Christenheit an und für die Welt. Die Verkündigung der Kirche entfaltet das Zeugnis von der Liebe Gottes in Christus. Zum missionarischen Wort kommt das Zeugnis der liebenden und helfenden Tat. Das Tatzeugnis muß aus der Beengtheit der Kategorie des Einzelnen befreit werden und ein Tatzeugnis in der weltweiten Verantwortung werden. Die Kategorie des Einzelnen, die von Oppen beschreibt, genügt nicht. Sie ist ein wertvolles Element des größeren Zusammenhangs, in dem heute wirksamer an der Welt gehandelt werden kann. Wie auch immer das Tatzeugnis in noch ungewohnten Dimensionen des Denkens in der Zukunft der Menschheit zu bewähren ist, entscheidend ist immer die Bindung an das Wort Gottes. Oldhams Konzept von der „Verantwortlichen Gesellschaft", Wendlands Bild der weltlichen Christenheit, Munbys und Richs Bemühungen um eine menschliche Wirtschafts- und Sozialstruktur, Lehmanns Beziehungsfeldethik, van Oyens Deutung der Philia als Liebe zur Ordnung und die Arbeit der Denkschriften der EKiD um Auswege aus gegenwärtigen Nöten der Gesellschaft der Menschen im geteilten Deutschland, der Wirtschaft, Landwirtschaft und in ihrem Verhältnis zu den ehemaligen Kriegsgegnern — immer geht es dabei um die Bemühung, Schritt für Schritt die aus dem Evangelium gebotene Humanisierung des Menschen zu fördern. Naturrechtliche Kategorien als Vorlage für die „Mittleren Axiome" helfen für diesen Weg um des Menschen in seiner Bedrohung willen den sachlichen Blick der Liebe schärfen. 178
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Das Denken in den „Mittleren Axiomen" zwingt die evangelische Sozialethik auf dem Gebiet der aktuellen und konkreten sozialen und politischen Auseinandersetzung zu einer Kenntnis der Sachgegebenheiten in der gegenwärtigen Weltsituation wie nie zuvor. Hier ist die Empfehlung Oldhams, daß Laien und Theologen zusammenarbeiten müssen, von unschätzbarer Wichtigkeit. Der Dialog ist vielleicht die wichtigste Methode, in angemessener Form zu arbeiten und helfende Ergebnisse der Menschheit zur Verfügung zu stellen. Die wissenschaftlich-technische Zukunft verlangt mehr denn je von der Christenheit, die ihr verliehene Gabe der Interpretation der geschichtlichen Situation, der Beurteilung der Zeichen der Zeit und der Unterscheidung der Geister zu aktivieren. „Nur so können wir für den Teil der Zukunft, der in unsere Hand gegeben wird, verantwortlich entscheiden. Die Zwielichtigkeit unserer Situation nötigt uns zu einem behutsamen Vortasten auf Wegen, deren endgültiges Ziel Gott allein weiß. Im Bewußtsein dessen, daß wir Gottes endgültiges Ziel mit der Welt in unserem menschlichen Wissen nicht vorwegzunehmen imstande sind, müssen wir uns darauf gefaßt machen, daß nicht eine zielstrebige Geradlinigkeit des Handelns auf einen bestimmten Wert hin von uns gefordert werden könnte, sondern womöglich ein Wechsel von Fall zu Fall zwischen entschlossener Förderung bestimmter Entwicklungen und besonnenem Widerstand gegen sie." 1 Die Christenheit muß die Wissenschaft und die Technik um des Nächsten und seines Überlebens willen entschlossen fördern. Die Christenheit muß der Welt klarmachen, daß der Krieg kein Recht in der Zivilisation mehr hat. Die Hoffnung auf das kommende Friedensreich gibt der Christenheit die Veranlassung zum entschlossenen Handeln im Konfliktsfall zu Dialog und gewaltlosem Widerstand. Um dieser Weltinnenpolitik und um des weltweiten sozialen Friedens und Ausgleichs zwischen reichen und armen Völkern willen sind die „Mittleren Axiome" ein Ausdruck von Gottes erster Sorge, dem Menschen in seinem bedrohten Wohl und unter seiner Berufung zu dem Heil in Christus zu dienen. Oldham hat für diese Aufgabe einer ökumenischen Verantwortung für die Menschheit die Anregung gegeben2. 1
Howe/Tödt, Frieden im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, S. 75. Sepp Schelz, Weltkirche in Aktion, S.70: „Forderung nach gesteigertem prophetischem Ausdrude christlichen Glaubens in einer Zeit revolutionären Wandels" seit Genf 1966 und Uppsala 1968. 2
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OTTO SCHNÜBBE,
als Fortsetzung: FORSCHUNGEN ZUR SYSTEMATISCHEN UND ÖKUMENISCHEN THEOLOGIE Herausgegeben von Edmund Schlink 9:
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13: 14: 15: 16: 17:
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V A N D E N H O E C K & R U P R E C H T IN G Ö T T I N G E N UND Z Ü R I C H