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German Pages 344 [346] Year 2015
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
53
Nina Hahne
Essayistik als Selbsttechnik Wahrheitspraxis im Zeitalter der Aufklärung
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Robert Fajen, Wolfgang Hirschmann, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Peter Hanns Reill Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Landesforschungsschwerpunktes Sachsen-Anhalt: Aufklärung – Religion – Wissen. Transformationen des Religiösen und des Rationalen in der Moderne. Zugl.: Phil. Diss. Univ. Halle-Wittenberg, 2013. Redaktion: Ricarda Matheus
ISBN 978-3-11-037868-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040048-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040053-3 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck 앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier 앪 Printed in Germany www.degruyter.com
Den Betreuern dieser Dissertation, Daniel Fulda und Jost Schneider, meinen Kollegen, Freunden und Eltern danke ich von Herzen.
Inhalt
I.
Einleitung ........................................................................................................1
1.
Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik: Methodische Grundlagen ...............3 1.1. Selbsttechnik und Wahrheitspraxis........................................................6 1.2. Die Kulturgeschichte der Subjektformen ............................................12 1.3. Selbsttechnik, Autobiographie und Essay ...........................................19 Gattungstheoretische Überlegungen .............................................................24 2.1. Die Interdiskursivität des Essays .........................................................24 2.2. Das Genre Aufklärungsessay: eine flexible Definition.........................26 2.3. Die nicht-fiktionale Textsorte Essay. Einige Einwände im Hinblick auf das essayistische Ich ......................30 Forschungen zum Essay: Anknüpfungspunkte und Abgrenzungen ..............35 Zum Aufbau dieser Untersuchung ................................................................45
2.
3. 4. II.
Aufklärungsessayistik unter dem Paradigma der Wahrheit der „gesunden Vernunft“: das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik ....................................................................49
1.
Essayistik als selbstreflexive Praxis des frühbürgerlichen Moralsubjekts................................................................................................49 Francis Bacons Essay Of Truth und der Rückgriff auf die stoische therapeutische Selbsttechnik .........................................................................54 Michel de Montaignes Essais: eine Ästhetik des Selbst ...............................63 Die Neubestimmung des Essays um 1700 im Kontext der Frühaufklärung........................................................................................67 4.1. Wegbereiter eines moralistischen Interdiskurses .................................67 4.2. Gattungsreflexion durch Essayisten I: Joseph Addisons klassizistische Konzeption der Spectator-Essays als therapeutische Selbsttechnik ..............................73 4.3. Gattungsreflexion durch Essayisten II: Nicolas Charles Joseph Trublets klassizistische Konzeption des Essays ............................................................................................86 4.4. Gattungsreflexion durch Essayisten III: Shaftesburys „Business of Self-Dissection“ ........................................89
2. 3. 4.
VIII
Inhalt
5.
Deutschsprachige Essayistik als moralistischer Interdiskurs bis 1750 ..........94 5.1. Moralistische Essayistik und Erbauungsliteratur .................................96 5.2. Therapeutische Selbsthermeneutik in Moralischen Wochenschriften ...........................................................100 5.2.1. Die „sokratisch-katechetische Methode“ und Die Discourse der Mahlern (1721‒1723) ....................... 100 5.2.2. Die „sittliche Universalhermeneutik“ und Der Gesellige (1748–1750) ................................................... 120 5.3. Grenzen der Repräsentation: Die moralistische Essayistik Christiana Mariana von Zieglers (1731/1739) und die querelle des femmes ..............................................................132
III.
Aufklärungsessayistik unter dem Paradigma der „ästhetischen Wahrheit“: das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik ............................................................147
1.
„Schöne Erkenntnis“: Der Paradigmenwechsel in der Kunsttheorie bei Alexander Gottlieb Baumgarten und seine Bedeutung für die Essayistik .........................................................................................148 „Seine ganze Natur ist Gedanken.“ Die erste deutschsprachige Übersetzung der Essais Montaignes von Johann Daniel Tietz (1753/54) .............................................................151 Ein „penelopisches Gewebe“: Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele (1754) antwortet auf La Mettries L’Homme Machine (1748) ..........................................................................156 3.1. Die Seele, ein „Mittelding“, oder Monada Creuziana.......................163 3.2. Experimentelle Selbstästhetik durch „innere Erfahrung“ ..................173 3.3. Geglückte Aufklärung: Ironie versus Melancholie ............................179 3.4. „Ein Blitzstral der Mitternacht“: Creuz, betrachtet durch die Brille der Genieästhetik .........................188
2. 3.
IV.
Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik ........................193
1.
Zum Verhältnis von Selbsttechnik und Gattungsreflexion über den Essay in der Konstituierungsphase der Genieästhetik ..........................193 1.1. „The Stranger within thee“: Selbstermächtigung bei Edward Young (1759) .................................193 1.2. Die genieästhetische Bewertung Montaignes durch Alexander Gerard in seinem Essay on Genius (1774) .......................194 1.3. Eine Fundstelle: die Bezeichnung „Eßayist“ in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (1772) ............................................195
Inhalt
IX
2.
Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang..........................197 2.1. Das exemplarische Ich in Goethes Essay Von deutscher Baukunst (1773).........................................................202 2.2. „Standpunkt“ und Dialogizität: die souveräne Verfügungsgewalt des exemplarischen Ichs ...............210 2.3. Der Fehler des Kunstwerks als Auslöser der Selbstästhetik ..............219 2.4. Geschichtsphilosophische Relativierung exemplarischer Subjektivität: Herders Essay Shakespear (1773) ...............................224 2.5. Ironische Subversion exemplarischer Subjektivität in Lenz’ Essay Über die Veränderung des Theaters im Shakespear (1776)....229
V.
Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung durch Essayisten im späten 18. Jahrhundert ...........................................................................239
1.
Die Kontinuität der experimentellen Selbstästhetik ....................................240 1.1. Christoph Martin Wielands Essay Fragmente von Beyträgen (1778): Kosmopolitische Selbstbildung zum Ideal der Humanität ...........................................................................240 1.2. Irritationen des Wahrheitssinns in der Essayistik Georg Forsters ......246 Yorick/Montaigne. Die zweite deutschsprachige Übersetzung der Essais von Johann Joachim Christoph Bode (1793‒95) .............................255 Essayistik als Selbsttechnik und populäres Philosophieren: eine Verhältnisbestimmung.........................................................................259 3.1. Popularphilosophie um 1800: Christian Garve und Johann Christoph Greiling .................................................................267 3.2. „Poesie, die sich in Philosophie auflöset“: Garves Verbindung von Selbstästhetik und therapeutischer Selbsthermeneutik in seinen Versuchen (1792‒1802) .......................278
2. 3.
VI.
Fazit und Ausblick ......................................................................................295
VII. Literaturverzeichnis ....................................................................................309 1. 2.
Primärliteratur .............................................................................................309 Forschungsliteratur .....................................................................................317
VIII. Abbildungsnachweis ...................................................................................335
I. Einleitung Wir alle sind lebende und denkende Subjekte. Wogegen ich mich wende, ist die These, daß zwischen der Sozialgeschichte und der Geistesgeschichte ein Bruch bestehe. Demnach soll die Sozialgeschichte beschreiben, wie Menschen handeln ohne zu denken, und die Geistesgeschichte soll beschreiben, wie Menschen denken ohne zu handeln. Aber jeder Mensch handelt und denkt zugleich.1
1797 erscheint in Berlin eine französische Essay-Sammlung unter dem Titel Fragmens moraux et littéraires. Zu den Subskribenten des Werkes zählen neben der preußischen Königsfamilie auch weitere bekannte Persönlichkeiten wie zum Beispiel Johann Heinrich Samuel Formey, der ständige Sekretär der Berliner Akademie der Wissenschaften, und Anne Louise Germaine de Staël-Holstein. Verfasser des Buches ist Anne-Henri Cabet de Dampmartin, ein ehemaliger Angehöriger des französischen Militärs, der während der Revolution nach Preußen emigrieren musste.2 Im ersten Essay seines Werkes geht Dampmartin dem Thema De la Nature des Essais nach. Er blickt auf das vergangene Jahrhundert zurück und plädiert unter dem Eindruck der Terreur für eine literarische Gattung, welche die politisierte und traumatisierte Gesellschaft wieder zur Wertschätzung der Schönen Künste, der Wissenschaften und der Philosophie führen soll. Als „Lektionen der Weisheit“ („des leçons de sagesse“3) könne sie die Aufmerksamkeit der Menschen von den Erinnerungen an die Gewalteskalationen ablenken, Aufklärung leisten und auf diese Weise zum Heilmittel einer Zeit werden, der das Vertrauen in eine natürliche politische Ordnung – in Dampmartins Vorstellung die Aristokratie als Ausdruck des göttlichen Willens – abhandengekommen sei.4 In seinen Ausführungen unterscheidet Dampmartin zwischen früheren Formen essayistischen Schreibens, die sich durch Bescheidenheit („modestie“) und eine gewisse geistige Widerständigkeit („une défiance intéressante“) auszeichneten,5 1
2
3 4 5
Michel Foucault in: Wahrheit, Macht, Selbst. Ein Gespräch zwischen Rux Martin und Michel Foucault (25. Oktober 1982). In: Luther H. Martin, Huck Gutman u. Patrick H. Hutton: Technologien des Selbst. Aus dem Amerikanischen übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt a.M. 1993, S. 15–23, hier S. 20f. Vgl. den Eintrag zu Dampmartin in der Nouvelle biographie générale: depuis les temps les plus reculés jusqu'a nos jours, avec les renseignements bibliographiques et l'indication des sources a consulter. Hg. v. Jean Chrétien Ferdinand Hoefer. Bd. 12. Paris: Firmin Didot Frères 1855, Sp. 891–893. Vgl. Anne-Henri Cabet de Dampmartin: Fragmens moraux et littéraires. Berlin: Decker 1797, S. 9. Vgl. ebd., S. 2f. Vgl. ebd., S. 4.
2
I. Einleitung
und dem jüngeren Modephänomen, die eigenen ‒ qualitativ fragwürdigen ‒ Schriften unrechtmäßig mit dem Titel Essai zu schmücken: Lors de nos derniers temps, une espèce d’épidemie littéraire a produit des milliers d’écrits sous la dénomination d’Essai. Trop souvent l’exterieur modeste ne prouvoit plus, comme autrefois, des vastes connoissances; au contraire, un vernis de choquante présomption couvroit mal l’extreme frivolité.6
Angesichts dieser Entwicklung bekennt Dampmartin in der Einleitung seines Buches, dass er Abstand davon genommen habe, dieses mit dem Titel Essais zu versehen. Er schildert dem Kammerherrn Baron Keith, dem er das Werk widmet, seine Befürchtung, dass das übersättigte Publikum es in diesem Fall nicht annehmen würde: Vous serez peut-être surpris de ne pas trouver le titre d’Essais, que le premier des numéros semble annoncer; mais le public se sent depuis quelques années à tel point suffoqué par les Essais, qui sont, pour ainsi dire, jetés de toute part à sa tête, que j’ai cru devoir par prudence choisir un autre nom.7
Auch wenn Dampmartin außer einem „Mangel an Ordnung“ („le défaut d’ordre“8) keine präzisere formale Beschreibung des Essays zu geben vermag, zeigt ein von ihm angefertigter literaturgeschichtlicher Abriss, dass am Ende des 18. Jahrhunderts die Bedeutung des Essays für die Literatur der Aufklärung außer Frage steht. Von den antiken Quellen essayistischen Schreibens bei Cicero, Seneca und Plutarch über die herausragende Leistung Montaignes in seinen dreibändigen Essais bis hin zur multiplikatorischen Funktion der englischen Wochenschriften für den Essay des 18. Jahrhunderts benennt Dampmartin zentrale Punkte der Gattungsgeschichte und bewertet die Schriften von bekannten englischen und französischen Essayisten der Aufklärung (unter anderem von Nicolas Charles Joseph Trublet, Voltaire, David Hume, Oliver Goldsmith und Samuel Johnson).9 Ein Zitat aus Etienne Bonnot de Condillacs Essai sur l’origine des connaissances humaines (1746), welches das freie Spiel der Gedanken („ces momens de rêverie“10) beschreibt, leitet Dampmartins Ausführungen ein und wird als Lektüreanweisung für die Rezeption essayistischer Schriften gedeutet: „C’est ainsi que le sage Condillac prépare son élève à la lecture des Essais; cette image fidelle semble
6 7 8 9
10
Dampmartin, Fragmens, S. 4. Ebd., S. XX. Vgl. ebd., S. 1. Zur Bedeutung der Wochenschriften hält Dampmartin fest: „Les Essais se sont multipliés en Angleterre sous la forme d’ouvrages périodiques. Presque tous ont à leur naissance joui d’un succès brillant, & plusieurs, enrichis de beautés du premier ordre, acquièrent chaque jour de nouveaux admirateurs.“ (Ebd., S. 11.) Es handelt sich um eine Übernahme des Beginns von § 49 im vierten Kapitel des zweiten Teils des Essai sur l’origine des connaissances humaines. Vgl. ebd., S. 1.
1. Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik
3
prouver que le temps où nous nous trouvons, est propre à un genre de livre trèsrare chez les François.“11 Den Abschluss bildet wiederum ein Zitat, dieses Mal eine Übersetzung aus Johnsons Wochenschrift The Rambler (1750–52), das die besonderen literarischen Anforderungen darstellt, denen ein Essayist sich bei der Komposition seiner Texte ‒ im Gegensatz zu einem kompilierenden Gelehrten oder einem Romancier ‒ ausgesetzt sehe: Les plus fréquentes difficultés qui fatiguent les auteurs des pièces détachées, viennent de la demande perpétuelle d’objets nouveaux & variés. Le compilateur d’un système quelconque de sciences, laisse son invention se reposer. Il n’emploie que son jugement, de toutes nos facultés celle qui s’exerce avec les moins de fatigue. Même dans un roman, une fois que les principaux caractères sont bien établis, que les événemens sont liés avec ordre, l’auteur voit les incidens & les épisodes se presser pour ainsi dire dans sa tête. Chaque pas ouvre de nouveaux points de vue. Tout s’enchaîne, de sorte que la dernière partie de l’histoire naît facilement de celles qui la précèdent; mais l’écrivain jaloux d’intéresser ses lecteurs par des morceaux isolés trouve après chaque nouvelle production le poids de son entreprise plutôt augmenté qu’allégé.12
Auf solche Weise eingerahmt, verbindet der Text die französische und englische Essayistik der Aufklärung miteinander. Auf deutschsprachige Essays und Essayisten verweist er hingegen nicht. Dies bedeutet keinesfalls, dass die deutschen Leserinnen und Leser von Dampmartins Fragmens moraux et littéraires 1797 mit Gedanken über eine literarische Gattung konfrontiert werden, die ihnen gänzlich unbekannt ist. Im Gegenteil verweist gerade die Kolloquialität, mit der Dampmartin Condillac und Johnson zitiert und mit der er verschiedene bekannte Essayisten anführt, auf die Vertrautheit seines Publikums mit Essayistik als einer literarischen Praxis. Seine Unkenntnis sowohl der deutschsprachigen essayistischen Produktion des 18. Jahrhunderts als auch der deutschsprachigen Reflexion über essayistisches Schreiben ist eher symptomatisch für die Tatsache, dass sowohl Produktion als auch Reflexion essayistischer Schriften hier wesentlich impliziter stattfinden als in England und Frankreich und meistens bereits in Auseinandersetzung mit einer englischen oder französischen Quelle.
1. Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik: Methodische Grundlagen Die deutschsprachige Essayistik der Epoche der Aufklärung wird von Dampmartin in seinen Fragmens vollständig ausgespart. Zugleich ist sie jedoch durch den Erscheinungsort Berlin und das literarisch gebildete Lesepublikum seines Werkes merkwürdig präsent. Daraus ergibt sich die Frage, auf welche Weise der Essay als 11 12
Dampmartin, Fragmens, S. 2. Ebd., S. 12. Hierbei handelt es sich um einen ins Französische übersetzten Ausschnitt aus dem 184. Stück des Rambler vom 21. Dezember 1751.
4
I. Einleitung
literarische Gattung im 18. Jahrhundert auch in der deutschsprachigen literarischen Öffentlichkeit einen festen Platz finden kann, ohne dass über seine Aufgaben und Ziele reflektiert wird – oder ob eine solche Reflexion nicht doch in größerem Umfang stattfindet, als es auf den ersten Blick erscheint. Die Debatte über die deutschsprachige Essayistik der Aufklärung erschließt sich dann, wenn man davon ausgeht, dass der Essay bereits im frühen 18. Jahrhundert zum Instrument einer textbasierten Selbsttechnik innerhalb der entstehenden bürgerlichen Subjektkultur avanciert. Der Essay, der ursprünglich im aristokratischen Milieu entstanden ist, entwirft und vermittelt im 18. Jahrhundert genuin bürgerliche Werte, die wiederum auch für den Adel attraktiv werden. Die Eigenschaft der Essayistik, als Selbsttechnik Verwendung zu finden, bestimmt ihren sozialen Ort, ihre thematische Ausrichtung und die textuellen Verfahren, die in ihr zum Einsatz kommen. Wenn im 18. Jahrhundert über Essayistik theoretisch reflektiert wird, dann geschieht dies vor dem Hintergrund ihrer Funktion als Selbsttechnik. So spricht auch Dampmartin in seinen Fragmens dem Essay das Potenzial zu, im Selbstverständnis des Einzelnen und damit letztlich im Selbstverständnis der gesamten Gesellschaft eine Umkehr herbeizuführen und therapeutische Wirkungen zu entfalten. Als philosophisch-literarisches Genre problematisiert der Aufklärungsessay das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst und zur Gesellschaft über sein Verhältnis zur Wahrheit. Dieser Wahrheitsbezug führt jedoch nicht dazu, dass in der Essayistik eine bestimmte soziale Wirklichkeit möglichst realistisch abgebildet würde. Im Gegenteil bewirkt er gerade den utopischen Charakter und die idealisierende Überhöhung (beziehungsweise die polemische Abwertung) unterschiedlicher Aspekte der dargestellten gesellschaftlichen Wirklichkeit. In der Essayistik werden individuelle und kollektive Zielvorstellungen formuliert. Die Epoche der Aufklärung, die für diese Untersuchung vor allem als „formative Phase des deutschen Bürgertums“ (1680–1815) interessiert,13 fällt mit der Etablierungsphase der deutschsprachigen Essayistik zeitlich zusammen. Da sich die Überzeugung, dass eine deutschsprachige Essayistik – wenn überhaupt – erst ab den 1750er Jahren langsam entsteht, nach wie vor in der Forschungsliteratur hält,14 soll der Blick besonders auf die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts gelenkt werden. Den Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung bildet die Fragestellung, auf welche Weise das essayistische Ich beschrieben werden kann, das sich in den Texten konstituiert. Denn dieses essayistische Ich bezeichnet jeweils eine bestimmte Subjekt-
13 14
Vgl. Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996. Vgl. etwa Christian Schärf: Essay. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 3: Dynastie ‒ Freundschaftslinien. Im Auftrag des Kulturwissenschaftlichen Instituts (Essen) und in Verbindung mit den Fachwissenschaftlern herausgegeben von Friedrich Jaeger. Stuttgart u. Weimar 2006, Sp. 554‒562.
1. Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik
5
form und steht als Schnittpunkt der Reflexion und als identifikatorisches Potenzial im Zentrum der Texte. In den letzten Jahren ist verstärkt die Frage in den Blick der kultursoziologischen Forschung gerückt, wie neue Subjektformen entstehen und sich durchsetzen. Eine Untersuchung von Subjektformen ermöglicht es, kulturelle Transformationen und gesellschaftliche Umbrüche genau dort zu untersuchen, wo sie sich ereignen: an der Schnittstelle von institutionalisierten Machtbeziehungen und dem Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst. Die Untersuchung der Subjektformen und ihrer Geschichte ist somit ein interdisziplinäres Projekt.15 Auch in der Literaturwissenschaft ist ein Bewusstsein dafür entstanden, dass verschiedene nicht-fiktionale Textsorten, die sich unter dem Sammelbegriff Ego-Dokumente fassen lassen (zum Beispiel Briefe, Autobiographien und eben Essays), Repräsentationen von Subjektformen konstituieren. Diese können sich die Verfasser und Leser solcher Texte anhand bestimmter Subjektivierungsweisen aneignen. Ausgehend von einer typologischen Beschreibung der Ich-Formen in der Aufklärungsessayistik werden daher in dieser Untersuchung historische Konzeptionen des Essays durch Essayisten selbst sowie deren Texte auf ihren Anteil an den Subjektivierungspraktiken des entstehenden Bürgertums in der Aufklärung untersucht. Hinsichtlich der Bestimmung des Begriffs Selbsttechnik und seiner historischen Facetten orientiert sich die Untersuchung an Michel Foucaults späten Forschungen zu den textbasierten Selbsttechniken der Antike und des frühen Christentums. Den Ausgangspunkt für die Untersuchung der Subjektformen in den essayistischen Texten bildet eine literaturwissenschaftliche Adaption der praxeologischen Untersuchung historischer Subjektformen durch Andreas Reckwitz. Auch Christian Mosers Studie zu den lektürebasierten Selbsttechniken von der Antike bis zu Montaignes Essais liefert durch ihre komparatistischen Textanalysen wichtige Hinweise auf die Entwicklung der Selbsttechniken in autobiographischen Schriften, die mit dem Essay in enger Beziehung stehen. Die folgenden Ausführungen machen deutlich, auf welche Weise diese Verfahrensweisen zueinander in Beziehung gesetzt werden können und welche Impulse sich für die Untersuchung der Essayistik der Aufklärung aus ihnen gewinnen lassen.
15
Dokumentiert wird dieses Projekt beispielsweise durch folgende Publikationen: Reiner Keller, Werner Schneider u. Willy Viehöver (Hg.): Diskurs – Macht – Subjekt. Theorie und Empirie von Subjektivierung in der Diskursforschung. Wiesbaden 2012; Andreas Gelhard, Thomas Alkemeyer u. Norbert Ricken: Techniken der Subjektivierung. München u.a. 2013; Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde u. Dagmar Freist (Hg.): Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013.
6
I. Einleitung
1.1. Selbsttechnik und Wahrheitspraxis Der für diese Untersuchung zentrale Begriff der Selbsttechnik wurde von Foucault geprägt, der in seinem Spätwerk, besonders in den (posthum veröffentlichten) Vorlesungsmitschnitten unter den Titeln Hermeneutik des Subjekts16 (1981/82), Die Regierung des Selbst und der anderen17 (1982/83) und Der Mut zur Wahrheit18 (1983/84) (= Die Regierung des Selbst und der anderen II) sowie im dritten Teil von Sexualität und Wahrheit – Die Sorge um sich19 (1984) die Selbsttechniken der Antike und des frühen Christentums rekonstruiert und miteinander vergleicht. Die Auseinandersetzung mit den Technologien des Selbst bildet im Anschluss an die Untersuchung der Technologien von Macht und Herrschaft den Abschluss seines Programms einer historischen Ontologie. Foucault geht es dabei vor allem darum, in dem antiken Konzept der „Sorge um sich selbst“ ein Potential individueller Gestaltungsfreiheit des eigenen Lebens aufzudecken, welches er auch als „Ästhetik der Existenz“ oder „Kultur des Selbst“ bezeichnet.20 Diese Überlegungen beruhen auf seinem Verständnis des Subjekts als „kulturelle Form“.21 Foucaults Überlegungen zu den antiken Selbsttechniken können den philosophiegeschichtlichen Hintergrund für die Untersuchung der Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik liefern, da die bekanntesten Autoren der antiken textbasierten Selbsttechniken (vor allem Seneca und Cicero, aber auch Epiktet, Marc Aurel und Plutarch) als kanonisierte Autoritäten einen Zitatenfundus für die Aufklärungsessayistik bereitstellen. Foucault untersucht in der Hermeneutik des Subjekts die Sorge um sich selbst als eine Selbsttechnik, die vom 5. Jahrhundert v. Chr. bis ins 5. Jahrhundert n. Chr. eine bedeutende Rolle sowohl in der griechisch-römischen Philosophie als auch 16 17 18
19 20
21
Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts. Vorlesungen am Collège de France (1981/82). Aus dem Französischen übers. v. Ulrike Bokelmann. Frankfurt a.M. 2009. Michel Foucault: Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am Collège de France 1982/83. Aus dem Französischen übers. v. Jürgen Schröder. Frankfurt a.M. 2012. Michel Foucault: Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesung am Collège de France 1983/84. Aus dem Französischen übers. v. Jürgen Schröder. Frankfurt a.M. 2010. Michel Foucault: Die Sorge um sich (= Sexualität und Wahrheit 3). Aus dem Französischen übers. v. Ulrich Raulff. Frankfurt a.M. 21991. Vgl. Michel Foucault: Eine Ästhetik der Existenz. Gespräch mit A. Fontana. In: Michel Foucault. Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Frankfurt a.M. 2007, S. 280‒286. So wendet sich Foucault gegen die Idee einer vorgängig gegebenen, unveränderlichen Subjektivität: „Als Erstes denke ich tatsächlich, dass es kein souveränes, stiftendes Subjekt, keine Universalform Subjekt gibt, die man überall wieder finden könnte. Ich bin sehr skeptisch und sehr feindselig gegenüber dieser Konzeption des Subjekts. Ich denke im Gegenteil, dass das Subjekt durch Praktiken der Unterwerfung oder, auf autonomere Weise, durch Praktiken der Befreiung, der Freiheit konstituiert wird, wie in der Antike, selbstverständlich ausgehend von einer gewissen Anzahl von Regeln, Stilen, Konventionen, die man im kulturellen Milieu vorfindet.“ (Foucault, Ästhetik der Existenz, S. 283.)
1. Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik
7
danach im frühen Christentum gespielt habe.22 Grundlegend für die Praktiken der Selbstsorge ist nach Foucault die „Geistigkeit“,23 also die Überzeugung, dass sich das ideale, wahrheitsfähige Subjekt nur durch bestimmte Übungen, eine „Arbeit an sich selbst“,24 konstituieren könne. Die Selbstpraxis beziehe zentrale Lebensbereiche, Diätetik, Ökonomie und Erotik mit ein.25 Ihre personale Verkörperung finde die Selbstsorge in der prophetischen Figur des platonischen Sokrates, der die Menschen zur „Hinwendung zu sich selbst“ (zur „epistrophe“) auffordere.26 In Platons Dialog Alkibiades sieht Foucault in der auf die universelle Forderung „Erkenne dich selbst“ („gnothi seauton“) gestützten Selbstsorge eine grundlegende und spannungsvolle Differenz verankert: Zum einen werde darin eine Selbsterkenntnis beschrieben, die den Einzelnen in einen tugendhaften Staatsbürger verwandele und die „politische“ Funktion der Selbsttechnik bezeichne. Zum anderen favorisiere Sokrates die Selbsterkenntnis im Sinne einer Reinigung, die den Einzelnen befähige, „mit dem Göttlichen Kontakt aufzunehmen und in sich selbst das göttliche Element zu erkennen“, also eine Selbsttechnik mit „kathartischer“ Funktion.27 Diese spannungsvolle Differenz wird sich auch in den Subjektformen der Aufklärungsessayistik wiederfinden. In der stoischen Selbsttechnik, die Seneca in seinen Briefen an Lucilius ausführt, identifiziert Foucault das konkrete technische Element der Selbstsorge. Die stoische Selbsttechnik ist für ihn insofern interessant, als sie das Subjekt nicht der Herrschaft einer Wahrheit unterwerfe, sondern eine „Wahrheitspraxis“ darstelle, in der sich das Subjekt in einem bewussten Prozess für eine selbstgewählte Wahrheit entscheide.28 Die Bindung an die Wahrheit ist nach Foucault jedoch gleichbedeutend mit dem sprachlichen Akt, in dem die Wahrheit zuerst enstehe. Diesen Vorgang bezeichnet er als „Alethurgie“ und bestimmt die Untersuchung der Formen alethurgischen Sprechens als Ziel seiner Forschung: Es würde sich also keinesfalls um eine Untersuchung der Frage handeln, welche Diskursformen dafür verantwortlich sind, daß der Diskurs als wahr anerkannt wird. Die Frage lautet vielmehr: Auf welche Weise konstituiert sich das Individuum selbst in seinem Akt des Wahrsprechens, und wie wird es von den anderen als Subjekt konstituiert, das einen wahren Diskurs hält, auf welche Weise stellt sich derjenige, der die Wahrheit sagt, in seinen eigenen Augen und in den Augen der anderen die Form des Subjekts vor, das die Wahrheit sagt. Die Untersuchung dieses Bereichs könnte man im Unterschied zur Untersuchung erkenntnistheoretischer Strukturen als Untersuchung der „alethurgischen“ Formen bezeichnen. […] Etymologisch be-
22 23 24 25 26 27 28
Vgl. Foucault: Hermeneutik, S. 27. Vgl. ebd., S. 37. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 209. Vgl. ebd., S. 264. Ebd., S. 220f. Vgl. ebd. S. 389. In diesem Sinne lässt sich die folgende Beschreibung der askesis (der stoischen Selbsttechnik) durch Foucault interpretieren: „Die askesis ist in Wirklichkeit eine Wahrheitspraxis. Die askesis ist nicht eine Weise, das Subjekt einem Gesetz zu unterwerfen; die askesis stellt vielmehr eine Art und Weise dar, das Subjekt an die Wahrheit zu binden.“ (Ebd.)
8
I. Einleitung trachtet, ist die Alethurgie die Schöpfung der Wahrheit, der Akt, durch den sich die Wahrheit offenbart.29
Durch die stoische (schriftliche) Meditation, die sich in der Erkenntnis der Gegenstände des vernünftigen Kosmos übe, gelange der Einzelne zur „Konstituierung eines Wissens von der Welt als geistige Subjekterfahrung“.30 Foucault setzt die stoische Meditation, durch die sich der Einzelne als ethisches Wahrheitssubjekt konstituieren soll, in einen Gegensatz zur christlichen Meditation einerseits und zur intellektuellen Methode seit René Descartes andererseits. Sei die stoische Prüfung der eigenen Gedanken auf deren Inhalt ausgerichtet, frage die christliche Meditation nach der „guten“ oder „bösen“ Herkunft dieser Gedanken.31 Der hermeneutische Prozess der Selbstsorge basiere somit darauf, dass sich das Subjekt als vernünftig reflektierendes Wesen erfahre, während die christliche Selbsthermeneutik nach Foucault vom Gedanken der menschlichen Sündhaftigkeit ausgehe und letztlich auf einen Verzicht des Subjekts auf sich selbst hinauslaufe.32 Gestatte die geistige Übung eine „[f]reie Bewegung der Vorstellung“ und prüfe die Wahrheit stets in ihrer Beziehung auf das Subjekt,33 so sei die intellektuelle Methode auf Objekterkenntnis ausgerichtet und unterwefe die Vorstellungen einem systematischen, logischen Gesetz.34 Neben der platonischen Reflexionsform der „Gedächtnisreflexion“ und ihrer Ausrichtung auf das „Wiedererkennen“ der Wahrheit, handele es sich bei der stoischen Meditation und der intellektuellen Methode um die bedeutendsten Reflexionsformen des Abendlandes.35 Foucault betrachtet die intellektuelle Methode als die zentrale Reflexionsform der Epoche der Aufklärung. Sie habe die auf Geistigkeit basierende Prüfung vollständig verdrängt. Descartes habe sich bewusst von den geistigen Übungen – besonders von der Stoa – abgrenzen wollen, indem er das Subjekt der Selbsttechniken durch ein reines Wissenssubjekt (das cogito) ersetzte.36 Mit der Verwandlung des geistigen Wissens in Erkenntniswissen
29 30 31 32 33 34 35 36
Foucault: Mut zur Wahrheit, S. 15. Foucault: Hermeneutik, S. 391. Vgl. ebd., S. 371. Vgl. ebd., S. 392f. Vgl. ebd., S. 362. Vgl. ebd., S. 362f. Vgl. ebd., S. 561. Vgl. ebd., S. 363. Den Übergang von einem Subjekt der Selbsttechniken zu einem Wissenssubjekt beschreibt Foucault folgendermaßen: „In der abendländischen Kultur bis zum 16. Jahrhundert sind die Askese und der Zugang zur Wahrheit immer in mehr oder weniger dunkler Weise verbunden. Damit brach Descartes, als er sagte: ‚Um zur Wahrheit zu gelangen, genügt es, daß ich irgendein Subjekt bin, das sehen kann, was evident ist.‘ An dem Punkt, wo das Selbstverhältnis und das Verhältnis zu anderen und zur Welt sich berühren, wird Askese durch Evidenz ersetzt. Das Selbstverhältnis braucht nicht mehr asketisch zu sein, um mit der Wahrheit ins Verhältnis zu treten. Damit ich definitiv die Wahrheit erfasse, genügt es, daß das Selbstverhältnis mir die augenfällige Wahrheit dessen, was ich sehe, offenbare.“ (Hubert L. Dreyfus u. Paul Rabinow: Interview mit Michel Foucault. In: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik. Mit einem Nachwort von und einem Interview mit Michel
1. Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik
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sei die Selbsttechnik durch das Fortschrittsdenken vollständig verdrängt worden.37 Eine Untersuchung der Essayistik der Aufklärung zeichnet hier jedoch ein anderes Bild. Foucaults Hinwendung zu den Technologien des Selbst präsentiert sich zunächst als starker Bruch innerhalb seines Werkes. Die Frage, ob sich aus diesem neuen Ansatz unauflösbare Widersprüche ergeben oder ob er – wie Foucault dies selbst betonte – vielmehr folgerichtig ist, soll an dieser Stelle nicht ausführlicher behandelt werden.38 In Der Mut zur Wahrheit zieht Foucault von seiner Untersuchung der Praktiken der Macht bis hin zu den Selbsttechniken eine Verbindungslinie und stellt dar, dass die Untersuchung der Formen des „Wahrsprechens“ (hier als „Veridiktion“ bezeichnet) eine unumgängliche Ergänzung der Untersuchung von Machtpraktiken in seinen analytischen Hauptwerken bilde. Besonders grenzt er sich von Interpretationen seines Werkes ab, die dieses auf eine Untersuchung rein äußerlicher (körperlicher) Machtbeziehungen reduzierten: Insofern es darum geht, die Beziehungen zwischen Veridiktionsmodi, Techniken der Gouvernementalität und Formen der Selbstpraxis zu analysieren, sehen Sie auch, daß die Präsentation solcher Untersuchungen als Versuch, das Wissen auf die Macht zu reduzieren, um innerhalb von Strukturen, in denen das Subjekt keinen Platz hat, aus dem Wissen die Maske der Macht zu machen, nur eine reine und schlichte Karikatur sein kann. Im Gegensatz dazu geht es um die Analyse komplexer Beziehungen zwischen drei unterschiedlichen Elementen, die sich nicht aufeinander reduzieren lassen, die sich nicht ineinander auflösen, sondern deren Beziehungen füreinander konstitutiv sind. Diese drei Elemente sind: die Gestalten des Wissens, insofern sie in der Besonderheit ihrer Veridiktion untersucht werden; die Beziehungen der Macht, insofern sie nicht als Ausfluß einer substantiellen und zudringlichen Macht, sondern anhand der Verfahren erforscht werden, durch die das Verhalten der Menschen regiert wird; und schließlich die Modi der Konstitution des Subjekts aufgrund der Selbstpraktiken. Durch diese dreifache theoretische Verschiebung – vom Thema der Erkenntnis zu dem der Veridiktion, vom Thema der Herrschaft zu dem der Gouvernementalität, vom Thema des Individuums zu dem der Selbstpraktiken – kann man, so scheint mir, die Beziehungen zwischen Wahrheit, Macht und Subjekt untersuchen, ohne sie jemals aufeinander zu reduzieren.39
Pierre Hadot hat gegen Foucaults Argumentation eingewandt, dass die Deutung der stoischen Wahrheitspraxis als Selbstästhetik beziehungsweise Foucaults Betonung
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Foucault. Aus dem Amerikanischen übers. v. Claus Rath und Ulrich Raulff. Weinheim 21994, S. 263‒292, hier S. 291.) Vgl. Foucault: Hermeneutik, S. 381. Eine implizite Kontinuität in der Behandlung des Problems der Freiheit – auch in den Frühschriften Foucaults – rekonstruiert Petra Gehring: Foucault’sche Freiheitsszenen. In: Petra Gehring u. Andreas Gelhard (Hg.): Parrhesia. Foucault und der Mut zur Wahrheit. Zürich 2012, S. 13‒31. Foucaults Hinwendung zu den Techniken der Subjektivierung wird auch von Dreyfus und Rabinow als folgerichtige Konsequenz dargestellt. In der ihrem Band als Nachwort angehängten Selbstreflexion Foucaults stellt dieser im Rückblick auf seine Arbeit fest: „Es [das Ziel meiner Arbeit, N.H.] war nicht die Analyse der Machtphänomene und auch nicht die Ausarbeitung der Grundlagen einer solchen Analyse. Meine Absicht war es vielmehr, eine Geschiche der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden.“ (Michel Foucault: Warum ich Macht untersuche: Die Frage des Subjekts. In: Dreyfus u. Rabinow, Michel Foucault, S. 243‒261, hier S. 243.) Foucault: Mut zur Wahrheit, S. 24f.
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I. Einleitung
der Autonomie in der stoischen Selbsttechnik historisch unzulässig sei.40 Er weist darauf hin, dass in den antiken Selbsttechniken der Bezug auf eine äußere Wahrheit, die „universelle ratio“, und damit nicht die Individualisierung, sondern die „Selbstüberschreitung“ entscheidend sei.41 Die antike (schriftliche) Selbstkultur solle keine Individualisierung leisten, sondern im Gegenteil den Einzelnen von seiner Individualität befreien und ihn universalisieren: Derjenige, der schreibt, hat das Empfinden, irgendwie angeblickt zu werden, er ist nicht mehr allein, sondern Teil der menschlichen Gemeinschaft, die schweigend anwesend ist. Indem man seine persönlichen Handlungen schriftlich formuliert, wird man einbegriffen ins Räderwerk der Vernunft, der Logik und der Universalität. Man objektiviert das, was verworren war und subjektiv.42
Wenn Hadot Foucaults Verständnis der Selbstästhetik als „Dandytum“ bezeichnet,43 ist dies jedoch einem Verständnis von Ästhetik geschuldet, das Foucault nicht teilt. Foucault leugnet nicht, dass sich das (stoische) Subjekt an einer universalen Rationalität ausrichte; er bezeichnet die Selbstästhetik ja auch gerade als „Wahrheitspraxis“. Entscheidend ist vielmehr die Art und Weise, auf welche die Wahrheit sich äußert. Um diesen Punkt deutlich zu machen, ist ein Rückgriff auf Foucaults Definition des Begriffes Moral hilfreich. In Der Gebrauch der Lüste weist Foucault darauf hin, dass das Wort zweideutig sei. Es könne erstens – in präskriptivem Sinne – „ein Ensemble von Werten und Handlungsregeln“, den „Moralcode“ bezeichnen, und zweitens – in deskriptivem Sinne – „das wirkliche Verhalten der Individuen in seinem Verhältnis zu den Regeln und Werten, die ihnen vorgesetzt sind“.44 Foucault unterscheidet beide Bedeutungsweisen scharf voneinander und betont, dass das konkrete „Moralverhalten“ den gesamten Interpretations- und Handlungsspielraum der Subjekte in einer Gesellschaft umfasse. Diesem Bereich seien die Ethik und die Selbsttechniken als Subjektivierungsformen zuzuordnen. Auf der Basis dieser Unterscheidung formuliert Foucault die These, dass es Moralen gebe, in denen eher ein Moralcode dominiere, und solche, in denen der
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Pierre Hadot: Überlegungen zum Begriff der „Selbstkultur“. In: François Ewald u. Bernhard Waldenfels (Hg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken. Frankfurt a.M. 1991, S. 219‒228. Vgl. ebd., S. 221. Die gleiche Kritik formuliert Maria Moog-Grünewald in der Einleitung des von ihr herausgegebenen Bandes: Autobiographisches Schreiben und philosophische Selbstsorge. Heidelberg 2004, S. vii‒xv. Eine „Kultur des Selbst“ im Sinne einer Selbstkonstitution sei in der Antike nicht vorgesehen. Vgl. ebd., S. ix. Ebd., S. 225. Vgl. auch Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform. Geistige Übungen in der Antike. Aus dem Französischen übers. v. Ilsetraut Hadot u. Christiane Marsch. Berlin 1991. Vgl. ebd., S. 226. In Philosophie als Lebensform macht Hadot deutlich, dass er den Ausdruck „Ästhetik der Existenz“ deswegen ablehne, weil dieser im modernen Sprachgebrauch von der Ethik losgelöst sei und daher falsche Assoziationen wecken könne. Vgl. ebd., S. 179. Vgl. Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste (= Sexualität und Wahrheit 2). Frankfurt a.M. 2 1991, S. 36f.
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Schwerpunkt auf den Selbsttechniken und der Ethik liege.45 In der Moral der griechischen und griechisch-römischen Antike sieht Foucault den Schwerpunkt auf der Selbstkultur.46 Wenn er somit die antiken Selbsttechniken als „Selbstästhetik“ bezeichnet, bezieht er sich auf dieses zweite Verständnis des Begriffes Moral. Die Selbsttechniken orientieren sich an der Wahrheit der rationalen Ordnung des Kosmos. Diese Wahrheit äußert sich jedoch nicht in Form von Geboten und Verboten, sondern sie gibt lediglich eine ungefähre Richtung vor, in die der Einzelne sein Denken und Handeln zu lenken hat. Die Art und Weise, in der er seine sinnliche Wahrnehmung und sein Leben auf das Prinzip der Vernunft ausrichtet – und damit die Frage, wie er den Begriff Vernunft letztendlich versteht – bleibt dem Einzelnen (bis zu einem gewissen Grade) selbst überlassen. „Selbstästhetik“ bezeichnet somit letztlich die individuelle Ausgestaltung eines Handlungsspielraumes in einem vorgegebenen Prozess der Universalisierung, der gerade deshalb Individualität zulässt, weil er niemals abgeschlossen werden kann.47 Somit geht Hadots Kritik an Foucaults Überlegungen vorbei, da Foucaults Verständnis der Selbstkultur als Wahrheitspraxis immer die ethische Dimension von Wahrheit bezeichnet, also Wahrheit als das Verhältnis des Menschen zu sich selbst und zu anderen Menschen und nicht als reinen Selbstbezug oder bloßen Selbstgenuss definiert. Darüber hinaus zieht Foucault in seiner wissenschaftlichen Programmatik einer kritischen Ontologie eine Linie von der antiken Selbstkultur über die Epoche der Aufklärung, aus der er das kritische Ethos herausprepariert, bis in die Gegenwart und die Formulierung der Notwendigkeit einer „Arbeit an den Grenzen“ mit perpetuierender Selbstüberschreitung.48 Diese Untersuchung möchte deutlich machen, dass die Essayistik der Aufklärung ein Verständnis der Selbsttechnik als Wahrheitspraxis im Sinne Foucaults zur Anwendung bringt und ihr Verfahren auch über konkrete Bezüge auf die antiken Selbsttechniken reflektiert. Foucault selbst weist indirekt auf diese Funktion von Essayistik hin, wenn er in
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Vgl. Foucault: Gebrauch der Lüste, S. 41f. Vgl. ebd., S. 42. Foucault betont dabei die untrennbare Verbindung von Freiheit und Ethik: „Die Freiheit ist die ontologische Bedingung der Ethik. Aber die Ethik ist die reflektierte Form, die die Freiheit annimmt.“ (Michel Foucault: Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit. Gespräch mit Helmut Becker, Raúl Fornet-Betancourt u. Alfred Gomez-Müller am 20. Januar 1984. In: Foucault: Ästhetik der Existenz, S. 253–279, hier S. 257.) Vgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Bd. 4: 1980–1988. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange. Frankfurt a.M. 2005, S. 687–707, hier S. 702‒707. Ulrich Johannes Schneider bestreitet in seiner Auseinandersetzung mit Foucaults Wahrheitsverständnis, die sich gegen eine kulturgeschichtliche Anverwandlung Foucaults richtet, die Existenz eines solchen Programms. Vgl. Ulrich Johannes Schneider: Foucaults Analyse der Wahrheitsproduktion. In: Internationale Zeitschrift für Philosophie (2000), Heft 1, S. 5–17, hier S. 9. Foucault präsentiert die historische Ontologie in seinem Aufklärungs-Aufsatz jedoch in einem programmatischen Modus (das heißt als konkrete Arbeitsaufforderung).
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I. Einleitung
Der Gebrauch der Lüste den Essay (hier aus dem Französischen übersetzt als „Versuch“) folgendermaßen definiert: Der „Versuch“ ‒ zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu Zwecken der Kommunikation ‒ ist der lebende Körper der Philosophie, sofern diese jetzt noch das ist, was sie einst war: eine Askese, eine Übung seiner selbst, im Denken.49
Eine schlüssige Auflösung der Problematik des Subjektbegriffs bei Foucault bietet Peter Bürger an. Bürger geht davon aus, dass Foucault einen „gespaltenen Subjektbegriff hat, der einander widerstreitende Momente verknüpft“.50 In Foucaults Arbeiten präsentiere sich das Subjekt als „ein Schema der Unterwerfung unter Praktiken der Macht und eines der Selbstgestaltung“.51 Während Foucault beide Subjektverständnisse in unterschiedlichen Werkphasen bevorzugt habe, sieht Bürger es als eine Notwendigkeit an, „sie zusammenzudenken“.52 Ein solches Zusammendenken kann für die Essayistik der Aufklärung dadurch ermöglicht werden, dass eine Einordnung der Gattungsentwicklung in den übergeordneten Zusammenhang der Kulturgeschichte der Subjektformen durch Einzeltextanalysen ergänzt wird, die den Charakter jedes Essays als singuläres Denkereignis betonen.
1.2. Die Kulturgeschichte der Subjektformen Andreas Reckwitz hat mit seinem Projekt einer dekonstruktiven Kultursoziologie der Moderne einen methodischen Ansatz entwickelt, dessen Grundelemente sich für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung der Aufklärungsessayistik im 18. und frühen 19. Jahrhundert in besonderem Maße eignen. Reckwitz versteht Kulturgeschichte als eine Abfolge von Subjektformen, die in den alltäglichen Praktiken des gesellschaftlichen Lebens realisiert werden. In seiner Studie Das hybride Subjekt (2006) zeichnet er die Entwicklung der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne bis zur Postmoderne nach. Da Reckwitz von der zentralen Prämisse ausgeht, dass sich die Kultur der Moderne in Form von Subjektformen manifestie49
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Foucault: Gebrauch der Lüste, S. 16. Im Nachwort zu Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 177–181, findet sich unter der Überschrift „Ein unvollendetes Gespräch mit Michel Foucault“ eine alternative Übersetzung der Essay-Definition Foucaults, die die Funktion des Essays als Selbsttechnik noch deutlicher macht: „Der Essay – den man als einen in der Einübung der Wahrheit das eigene Ich modifizierenden Versuch und nicht als eine zum Zweck der Kommunikation vereinfachende Besitzergreifung des Anderen auffassen muß – ist die lebendige Verkörperung der Philosophie, wenn diese wenigstens heutzutage noch ist, was sie einst war, das heißt eine ‚Askese‘, eine Übung des Ichs, die aus Denkakten wird.“ (Ebd., S. 178.) Peter Bürger u. Christa Bürger: Das Verschwinden des Subjekts/Das Denken des Lebens. Fragmente einer Geschichte der Subjektivität. Frankfurt a.M. 2001, S. 21. Ebd. Vgl. ebd.
1. Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik
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re, die als „kontingente Sinngeneratoren“ fungierten,53 konzentriert er sich in erster Linie darauf, die Bedingungen und die Struktur von Subjektbildungsprozessen darzustellen. Als Subjekt versteht Reckwitz dabei gemäß der (an Foucault angelehnten) Begriffsdefinition „die kulturelle Form, die das ‚Individuum‘, der ‚Einzelne‘ selber in einem bestimmten historischen Kontext wie selbstverständlich erhält“.54 Daraus ergebe sich für die historische Analyse folgende Aufgabenstellung: Die Form des Subjekts wird […] in Alltagspraktiken hervorgebracht, trainiert und stabilisiert; sie kann und muss anhand dieser Praktiken rekonstruiert werden ‒ dies schließt die Analyse von gesellschaftlich relevanten Diskursen und ihren Subjektrepräsentationen, die mit diesen Praktiken verknüpft sind, nicht aus, sondern ein.55
Reckwitz geht davon aus, dass die Geschichte des Subjekts in der Moderne eine Geschichte zunehmender Individualisierung sei, wobei das Individuum ebenfalls eine bestimmte kulturelle Form darstelle, die durch Praktiken der Individualisierung eingeübt werde. Seine Sichtweise entspricht damit historischen Rekonstruktionen des Prozesses der Individualisierung wie derjenigen Richard von Dülmens, der die Ausbildung eines Bewusstseins von Individualität (im Sinne einer Annahme der Einzigartigkeit und geistigen Autonomie des Einzelnen) aus der gesellschaftlichen Disziplinierung des einzelnen Menschen in der frühen Moderne erklärt.56 Allerdings betont van Dülmen dabei wesentlich stärker die fortschreitende Abgrenzung des Einzelnen vom Staat und seine zunehmende Konzentration auf das persönliche Eigeninteresse. Er stellt diese Entwicklung als eine zunehmende Befreiung des Bürgers dar.57 Reckwitz nimmt eine solche Wertung nicht vor. Die Rekonstruktion von Subjektrepräsentationen ermöglicht eine Interpretation des Über-sich-selbst-Redens im Essay, das die zentralen Aspekte des Textes wie Themenstellung, rhetorische Ausführung und Verwendungszusammenhang sinnvoll miteinander verbindet. Jedoch kann gerade die Selbstverständlichkeit und Eigendynamik der Subjektkonstitution, die in Reckwitz’ Subjekt-Begriff zum Ausdruck kommt, durch eine Praxis essayistischen Schreibens und Lesens relativiert
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Vgl. Andreas Reckwitz: Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Weilerswist 2006, S. 11. Andreas Reckwitz: Subjekt. Bielefeld 2008, S. 15. Ebd., S. 16. Vgl. Richard van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums 1500–1800. Frankfurt a.M. 1997, S. 61f. Vgl. ebd., besonders S. 146–149. Van Dülmen verwendet den Begriff Subjekt allerdings auf eine teils widersprüchliche Weise. Seine Darstellung changiert zwischen einer – durch den Titel seines Buches bereits suggerierten – (ontologischen) „Entdeckung“ und einer (kultursoziologisch begründeten) „Erfindung“ des Individuums. Einen ontologischen Ansatz verfolgt auch Manfred Frank, der die Irreduziblität von Individualität subjektphilosophisch begründet. Das Individuum sei eine „in keinen Begriff auflösbare Singularität“. Vgl. Manfred Frank: Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Reflexionen über Subjekt, Person und Individuum aus Anlaß ihrer ‚postmodernen‘ Toterklärung. Frankfurt a.M. 1986, S. 16.
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I. Einleitung
werden. Wie Foucault weist auch Reckwitz auf den medialen Entstehungsort des Subjekts als eines Knotenpunktes von Fremd- und Selbstbestimmtheit hin: Als Träger medialer Praktiken stellt sich das medienverwendende Subjekt aus praxeologischer Perspektive weder als ein bloßes Objekt medialer Informationsströme dar, noch als völlig ungebunden hinsichtlich seiner individuellen Instrumentalisierung von Medien. Vielmehr lässt sich das mediennutzende Subjekt nun als jemand analysieren, dem die Techniken des Mediengebrauchs zu Techniken des Selbst werden, so dass sich durch die medialen Praktiken bestimmte „innere“ Kompetenzen und Dispositionen aufbauen.58
Das gezielte Einwirken auf das eigene Selbst in der Praxis des Verfassens und Lesens von Essays entspricht daher insofern ganz besonders dem programmatischen Selbstverständnis der Aufklärung, als es die Voraussetzungen der jeweiligen Subjektrepräsentation bewusst macht. Normen werden explizit thematisiert und hinterfragt und damit ein selbstreflexives Wissen vermittelt. Als Selbst wird dabei von den Aufklärungsessayisten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunächst die Kontinuität des Bewusstseins verstanden, aus der mithilfe des Gedächtnisses die persönliche Identität hervorgeht, so wie John Locke es in seinem Essay Concerning Human Understanding am Ende des 17. Jahrhunderts definiert hat.59 Dem Bewusstsein geht nach Locke eine bestimmte Art des intuitiven Wissens – das „Selbst-Bewusstsein“ – voraus, welches eine unmittelbare Gewissheit der eigenen Existenz bezeichne, die eine Vorbedingung jeglicher Wahrnehmung oder Reflexion darstelle.60 Das Selbst-Bewusstsein entzieht sich in seiner Beschaffenheit der menschlichen Erkenntnis und dem direkten Einfluss, doch das Selbst wird als nahezu unbegrenzt formbar vorgestellt. Aus dieser Formbarkeit ergibt sich für die Aufklärungsessayistik eine Verpflichtung des Einzelnen, an seiner moralischen Vervollkommnung zu arbeiten. Aleida Assmann hat dementsprechend darauf hingewiesen, dass (gezielten) Veränderungen des Selbst bei der Konstituierung von Identität im Anschluss an Locke große Bedeutung zukommt: Lockes self ist Selbstbewußtsein von sich als einem Wesen, das sich durch unterschiedliche Zustände hindurch in der Zeit als identisch durchhält. […] Lockes Begriff von Identität stellt Wandel in der Zeit nicht still, sondern setzt ihn voraus und überwölbt ihn durch das Bewußtsein, das sich diese verschiedenen Zustände zuzurechnen vermag. Um dieses Bewußtsein zu entwickeln, muß das Selbst reflexiv werden: a self to itself.61
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Andreas Reckwitz: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken. In: Ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, S. 97–130, hier S. 105f. Diese Interpretation der Bestimmung des Selbst bei Locke entwickelt Udo Thiel: The Early Modern Subject. Self-consciousness and personal identity from Descartes to Hume. New York 2011, S. 121–126. Vgl. ebd., S. 118–120. Aleida Assmann: Identität und Authentizität in Shakespeares Hamlet. In: Peter von Moos (Hg.): Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Köln, Weimar u. Wien 2004, S. 411–427, hier S. 420.
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Die Essayistik der Aufklärung verfügt über das Potential, sich kritisch mit den jeweils aktuell verhandelten Subjektentwürfen auseinanderzusetzen. Die Aufforderung, das eigene Welt- und Selbstverständnis kritisch zu prüfen, ist auf unterschiedliche Weise Bestandteil aller Subjektrepräsentationen der Essayistik im 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die kritische Prüfung wird dabei in ihrer Eigenschaft als „Deutungswissen“ selbst zum Gegenstand der Reflexion. Reckwitz bestimmt als Deutungswissen „interpretative Schemata, die routinisierte Sinnzuschreibungen gegenüber konkreten und abstrakten Gegenständen ermöglichen“, also auch „Interpretationen gegenüber der eigenen Person, ein spezifisches Selbstverstehen“.62 Die Essayistik der Aufklärung dient der reflektierten Einübung eines solchen kritischen Selbstbezugs. Reckwitz’ Typologie historischer Subjektivationen bildet einen geeigneten Anknüpfungspunkt, um das Ich als literarische Kategorie in der Praxis essayistischen Schreibens kulturgeschichtlich zu verorten, auch wenn die Ergebnisse seiner Analyse nicht in jedem Fall mit den Ergebnissen dieser Untersuchung zur Deckung kommen. Diachron identifiziert Reckwitz in der Moderne drei dominante Subjektordnungen: Erstens das „moralisch-souveräne, respektable Subjekt“ der bürgerlichen Moderne im 18. und 19. Jahrhundert, zweitens das „extrovertierte Angestelltensubjekt“ der organisierten Moderne von den 1920er bis in die 1970er Jahre und schließlich drittens das „kreativ-konsumtorische“ Subjekt der Postmoderne seit den 1980er Jahren.63 Synchron sieht er jeweils drei soziale Felder an der Subjektivation beteiligt: Erstens die „ökonomischen Praktiken der Arbeit“ (sie bilden das „Arbeitssubjekt“), zweitens die „Praktiken persönlicher und intimer Beziehungen“ (sie bilden das „Intimitätssubjekt“) und drittens die „Technologien des Selbst“, das heißt jene Aktivitäten, in denen das Subjekt jenseits von Arbeit und Privatsphäre unmittelbar ein Verhältnis zu sich selber herstellt und die vor allem Praktiken im Umgang mit Medien (Schriftlichkeit, audiovisuelle und digitale Medien) sowie im 20. Jahrhundert Praktiken des Konsums umfassen.64
Als ein bedeutender Bestandteil dieser Technologien des Selbst muss die Essayistik der Aufklärung verstanden werden. Wie Reckwitz ausführt, entsteht die bürgerliche Subjektkultur zu Beginn des 18. Jahrhunderts durch Beanspruchung einer kulturellen Hegemonie gegenüber der aristokratischen Subjektivität, ohne sich jedoch zunächst institutionell absichern zu können.65 Ihre Mitglieder definierten sich in diesem Prozess der Selbstbestimmung zuallererst als Moralsubjekte, die im Gebrauch ihrer Rationalität die eigene Souveränität erführen. Sie grenzten sich diskursiv sowohl gegen die als irrational und abhängig erfahrene Volkskultur als auch gegen die höfische Kultur ab, die als amoralisch und auf oberflächlichen Schein 62 63 64 65
Reckwitz: Subjekt, S. 136f. Vgl ebd., S. 15f. Reckwitz: Hybrides Subjekt, S. 16f. Vgl. ebd., S. 97.
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I. Einleitung
ausgerichtet wahrgenommen werde.66 Von gleicher Bedeutung sei ihr Selbstverständnis als wertschöpfende Arbeitssubjekte67 und als gesellschaftsbezogene, in gleichberechtigte Freundschaftsbeziehungen eingebundene Intimitätssubjekte,68 wobei die Diskurse und Praktiken, die sich in diesen Subjektrepräsentationen verbinden, überlagerten. Im Zuge der Leserevolution seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und des Übergangs von einer intensiven zu einer extensiv-kursorischen und damit in erster Linie hermeneutischen Lesepraxis69 entwirft sich das bürgerliche Selbst nach Reckwitz auf der Grundlage unterschiedlicher schriftbasierter Selbsttechniken wie zum Beispiel der Autobiographie und des bürgerlichen Romans.70 Das Lesen und Verfassen essayistischer Texte fällt in die Reihe dieser Selbsttechniken und beansprucht in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts unter ihnen sogar eine prominente Stellung, da der Essay sich bevorzugt als moraldidaktische Gattung eignet. Wesentlich expliziter als in anderen literarischen Textsorten, die ihren selbstbildenden Effekt über die Rezeption der fiktionalen und nicht-fiktionalen Darstellung von Handlungssequenzen ausüben, artikuliert sich im Essay die selbstbildende Funktion, da er Denkprozesse vorführt und ganz unmittelbar auf die Aushandlung des Verhältnisses von Subjekt und Wahrheit fokussiert ist. Das „moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt“,71 das Reckwitz als Repräsentation bürgerlicher Subjektivität begreift, findet sich im Essay der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als ein spezifisches essayistisches Ich, das hier aufgrund seiner noch näher zu bestimmenden Eigenschaften als repräsentatives Ich bezeichnet werden soll. Nach Reckwitz wird das bürgerliche Subjekt durch Selbsthermeneutik zur Verinnerlichung der allgemeingültigen Subjektstruktur trainiert, die sich in der rationalen Moral verkörpere.72 Dementsprechend sei […] das egoorientierte Verfassen von Tagebüchern oder vergleichbarer, im regelmäßigen Rhythmus verfasster Texte der Selbstbeobachtung und des Selbstkommentars, welches sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert hinein im bürgerlichen Milieu institutionalisiert, eine prototypische bürgerliche Praktik des Selbst; das ‚Selbst‘ stellt sich hier sowohl als Thema wie auch als Adressat dar und ist zugleich ein sinnhaftes Produkt dieser Praktiken. Das Schreiben ist eine performative Praktik, die in ihrem Vollzug das, wovon sie spricht, realisiert: das ‚Selbst‘ als eine fokussierbare und damit reflektierbare und gestaltbare Sinneinheit.73
Reckwitz macht jedoch auch deutlich – und dies ist für die Praxis essayistischer Reflexion in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidend – dass die Bil66 67 68 69 70 71 72 73
Vgl. Reckwitz: Hybrides Subjekt, S. 104f. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 161. Vgl. ebd., S. 156. Vgl. ebd., S. 134. Vgl. ebd., S. 179. Ebd., S. 168.
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dung einer idealen Subjektrepräsentation über die Darstellung von Negativbeispielen („Anti-Subjekten“74) auch zu dem Umstand führen kann, dass das eigentlich Abgelehnte, Andersartige „affektiv mit Faszination aufgeladen“ wird.75 Dies zeige sich besonders im spannungsvollen Verhältnis des entstehenden Bürgertums zur höfischen Adelskultur, deren Amoralität und Exzessivität einerseits strikt verworfen und durch die Werte der Tugendhaftigkeit und Mäßigung konterkariert würden. Zugleich ahme die bürgerliche Subjektkultur jedoch das aristokratische Ideal der souveränen Selbstregierung nach, wodurch die „Differenzmarkierung“76 brüchig werde und eine Subjektform in ihr Gegenteil umschlagen könne. Reckwitz bezeichnet dies als kulturelle „Inversion“77 oder ein „Kippen“78 zwischen dem Primären und Sekundären und untersucht solche Kippbewegungen vor allem in Konzepten radikaler ästhetischer Subjektivität wie der Romantik, den Avantgarden und im Postmodernismus. Er weist jedoch darauf hin, dass die dominante Subjektform der Aufklärung bereits „quasi-ästhetische Selbstradikalisierungen“ enthalte,79 eine eher vorsichtig formulierte These, die sich für die Essayistik der Aufklärung in ihrer Funktion als Selbsttechnik jedoch als sehr wichtig erweist. Reckwitz’ Darstellung hat die Tendenz, das 18. Jahrhundert allein auf die Entstehung der Romantik und ihre ästhetische Individualität hin zu analysieren und ästhetische Anteile in früheren Phasen der bürgerlichen Subjektivität als Fremdkörper zu deklarieren. Vor allem irritiert seine Entscheidung, den literarischen Sturm und Drang – den eigentlichen Entstehungsort einer ästhetischen Individualität in der deutschsprachigen Literatur – uneingeschränkt der Romantik zu subsumieren.80 Dieses Vorgehen führt aus literaturgeschichtlicher Perspektive – aber auch hinsichtlich der in den entsprechenden literarischen Bewegungen verhandelten Subjektformen – zu einer verzerrten Darstellung, die durch eine Rekonstruktion der Subjektformen in der Essayistik der Aufklärung korrigiert und ergänzt werden kann. Denn hinsichtlich der romantischen Subjektform stellt Reckwitz fest: Der Subjektivitätscode der Romantiker, der mittelfristig, im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts, in domestizierter und hochselektiver Form in die bürgerliche Subjektkultur transferiert 74 75 76 77 78 79
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Vgl. Reckwitz: Hybrides Subjekt, S.85. Ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 86. Vgl. ebd., S. 640. Vgl. ebd., S. 641. In Die Erfindung der Kreativität (2012) betont Reckwitz jedoch wesentlich stärker, dass eine erste Phase der ästhetischen Radikaliserung bereits seit den 1750er Jahren mit der entstehenden Genieästhetik einsetze. Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. Berlin 2012, S. 77–81. Reckwitz verweist hierbei auf die Gleichursprünglichkeit der Subjektformen von Sturm und Drang und Romantik, die Jochen Schmidt in seiner Geschichte des Genie-Gedankens darlege. Schmidt interpretiert die ästhetische Subjektivität tatsächlich einseitig als Gegen-Aufklärung. Vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Heidelberg 3 2004, S. 96–119.
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I. Einleitung wird, stellt sich langfristig als erste Version jener Sequenz kultureller Gegenbewegungen dar, die den Universalitätsanspruch der jeweils dominierenden bürgerlichen bzw. nach-bürgerlichen Subjektkulturen dekonstruieren und dabei das – wiederum sich selbst universalisierende – Gegenmodell ästhetischer Subjektivität forcieren.81
Reckwitz verzichtet darauf, zu erklären, wie die radikale ästhetische Subjektivität im historischen Prozess entsteht. Die Romantik erscheint daher in seiner Darstellung als das plötzlich auftretende völlig Andere und als eindeutige Opposition zur bürgerlichen Subjektform. Diese These kann zumindet aus einer Untersuchung der Subjektrepräsentationen innerhalb der Essayistik der Aufklärung nicht bestätigt werden.82 Auch die von Karl-Siegbert Rehberg angemerkte „harmonisierende Tendenz“ der Darstellung bei Reckwitz, welche die „Interessenkollisionen und konkreten sozialen Kampfkonstellationen und die mit ihnen verbundenen dramatischen Feindsetzungen, samt allen Ressentimentbildungen“ nicht ausreichend mit einschließe,83 muss hier kritische Berücksichtigung finden. Problematisch ist in Reckwitz’ Praxeologie, dass er jegliches menschliche Handeln ausschließlich auf die innerne Logik von Praktiken zurückführen will, weshalb Rehberg auch von „dekonstruktivistischem Hegelianismus“ spricht.84 Das „Vetorecht der historischen Details“,85 das Rehberg – in Anlehnung an Reinhart Kosellecks „Vetorecht der Quellen“ – einfordert, soll daher in den Einzeltextanalysen dieser Studie berück81 82
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Reckwitz: Hybrides Subjekt, S. 204. Dass die ästhetische Subjektivität ebenfalls durch Brüche gekennzeichnet ist, bemerkt Reckwitz allerdings auch. Vgl. Andreas Reckwitz: Die Erfindung des Kreativsubjekts. Zur kulturellen Konstruktion von Kreativität. In: Ders.: Unscharfe Grenzen. Perspektiven der Kultursoziologie. Bielefeld 2008, S. 235–257, hier S. 256f. Reckwitz verweist auf die Notwendigkeit einer „Archäologie des Kreativsubjekts“, welche diese Brüche im Detail rekonstruieren müsse (vgl. ebd.). Diese Studie versteht sich als Beitrag zu einer solchen Rekonstruktion von Brüchen innerhalb der ästhetischen Subjektrepräsentation in der Essayistik der Aufklärung. Karl-Siegbert Rehberg: Dekonstruktivistischer Hegelianismus? Anmerkungen zu Andreas Reckwitz: „Das hybride Subjekt“. In: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008. Bd. 2. Wiesbaden 2010, S. 751–761, hier S. 759. Verschiedene Formulierungen bei Reckwitz legen die Annahme eines deterministischen Subjektverständnisses nahe. Vgl. vor allem ders.: Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 121f.: Hier sind es die Eigenschaften der Praktiken selbst, die Veränderungen der Praxis „erzwingen“ oder „ermöglichen“, während Subjekte nicht befähigt seien, „Praktiken außer Kraft zu setzen“ oder sich mit veränderndem Impetus von diesen abzugrenzen. An anderer Stelle betont Reckwitz zwar, die Theorie sozialer Praktiken vertrete keinen Determinismus (vgl. ebd., S. 125). Für die Bildung einer Dichotomie von eigentlicher Aktivität (der kulturellen Codes, welche die Praktiken formen) und uneigentlicher Aktivität (des reflektierenden Handelns der konkreten Akteure) gibt es letztlich kein überzeugendes Kriterium. Van Dülmen betont für den konkreten Einzelfall den individuellen Gestaltungsspielraum. Vgl. Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben. Köln, Weimar u. Wien 22001, S. 44–47. Diese gegenläufige Bewertung führt jedoch in die gleichen Aporien. Zur Unentscheidbarkeit dieser Problematik vgl. auch Bürger, Das Verschwinden des Subjekts, S. 17. Rehberg: Dekonstruktivistischer Hegelianismus, S. 759.
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sichtigt werden. Die essayistischen Texte müssen immer wieder auf ihre proklamierte und ihre tatsächliche Funktion sowie auf die konflikthaften Grenzen der darin verhandelten Subjektformen befragt werden. Auf diese Weise wird gezeigt, dass die in der Aufklärungsessayistik ausgehandelten Subjektformen vielfältig sind, dass sie auseinander hervorgehen und untereinander konkurrieren. Bereits nach 1750 wird das „moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt“ durch stärker ästhetisch geprägte Subjektformen ergänzt, sodass die Aufklärungsessayistik bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts sehr heterogene Formen des reflexiven Selbstbezugs hervorgebracht hat, deren Nachwirken bis in die Essayistik der Gegenwart hinein beobachtet werden kann. Diese Studie will nicht zuletzt dazu beitragen, das Identifizieren von Grundannahmen und Denkmustern, die auf die Essayistik der Aufklärung zurückzuführen sind, auch in der Gegenwartsessayistik zu ermöglichen.
1.3. Selbsttechnik, Autobiographie und Essay Während Reckwitz den Ansatz Foucaults für eine makrohistorische Analyse der Abfolge von Subjektformen verwendet, hat Christian Moser eine solche Abfolge anhand einer Reihe von komparatistischen Textanalysen aus dem Bereich der EgoDokumente rekonstruiert. Wie Hadot warnt er in seiner Studie zu den lektürebasierten Selbsttechniken von der Antike bis zu Montaigne vor einer ästhetisierenden Interpretation der antiken Selbsttechniken.86 In direkter Auseinandersetzung mit den Thesen Foucaults konzentriert er sich auf die zentrale Bedeutung des Schreibens und der Lektüre für die Selbsttechniken seit der Antike. Moser versteht seine Untersuchungen als Beitrag zur problemgeschichtlichen Autobiographieforschung und zeichnet anhand seiner Textanalysen die Transformation der Lektüretechniken von der Antike (Platon und Seneca) bis zum späten Renaissance-Humanismus (Montaigne) nach. Da er seine Analyse auf die Essais Montaignes als Endpunkt der Argumentation ausrichtet, berührt er auch immer wieder das Gebiet essayistischen Schreibens und gibt Einblick in den gemeinsamen Entstehungszusammenhang von Essayistik und Autobiographie. Besondere Aufmerksamkeit widmet Moser der Frage, wie in den Lektüretechniken die Verbindung von Selbsttechnik und Selbsterkenntnis gestaltet ist, also auf welche Weise die Aneignung von Wahrheiten mithilfe des Textes erfolgen soll. Moser legt dar, dass die ethische Praxis der Antike sowohl bei Platon als auch bei den Stoikern auf den Erwerb eines lebendigen Wissens ausgerichtet sei, durch welches das Individuum in die kosmische Ordnung integriert werden solle. Hieraus 86
Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und der Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen 2006.
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ergebe sich auch Platons Kritik an der schriftlichen Unterweisung, welche die „Vergegenständlichung“ des im Text unterbreiteten Wissens verurteile und den Dialog zwischen Lehrer und Schüler als einzig mögliche Form des Wissenserwerbs propagiere.87 Da Platon diese Kritik jedoch selbst im Medium der Schrift formuliere, erkennt Moser hier eine Inkonsistenz im Programm der antiken paideia. Die Gegenständlichkeit des Wissens könne niemals umgangen werden, da die angestrebte Wahrheitserkenntnis die ethische Haltung bereits voraussetze: Der als Einheit konzipierte Vorgang der ethischen paideia teilt sich auf in einen dogmatisch ausgerichteten Unterricht einerseits, eine Praxis asketischer Selbstformung andererseits. Die Zerspaltung des Bildungsvorgangs impliziert die Vergegenständlichung sowohl des Wissens als auch des Selbst; sie bedroht somit dessen Einbindung in den teleologisch strukturierten Ordnungszusammenhang.88
Um dieser Bedrohung zu begegnen, bemühten sich die antiken Techniken der Subjektivierung darum, die unvermeidbare Gegenständlichkeit des Wissens zu „verschleiern“. Platons literarische Schriftkritik sei ein Beispiel für dieses Verfahren.89 Durch die asketische Einübung des Gelesenen solle sich der Schüler mit diesem identifizieren und die ethischen Normen auf sein Handeln applizieren. Die Identifikation mit dem Gelesenen lösche die Differenz zwischen Text und Selbst aus: Die Lektüre gehört also zu jenen meditativen Techniken, denen die Aufgabe zukommt, gegenständliches Wissen zu assimilieren und in eine innere Seelenhaltung umzuwandeln. Lesen ist mehr als bloßes Sinnverstehen, mehr als das Nachvollziehen eines vorgegebenen Bedeutungszusammenhangs. Lesen ist eine intensiv und systematisch betriebene Aktivität, die den Text in seiner Integrität nicht bestehen läßt, sondern ihn auf bestimmte Weise zurichtet und manipuliert. Die meditative Lektüre ist selbst eine Art von Schreiben, ein [sic!] Art von Komposition: Der gelesene Text wird in fragmentarische Bedeutungseinheiten zerlegt, um ihn im Selbst des Lesers und als dieses Selbst wieder neu zusammensetzen zu können. Das Selbst ist der Text, der aus der meditativen Arbeit der Zergliederung und der Rekomposition hervorgeht.90
Auch die absolute Metapher der „mächtigen Wahrheit“, die Hans Blumenberg für die Antike aufgezeigt hat,91 ist nach Moser vom inneren Widerspruch der antiken Subjektkonstitution betroffen: Sie stelle keineswegs eine mentalitätsgeschichtliche Tatsache, sondern eine Wirkungsstrategie dar: Indem die Wahrheit als unmittelbar zugänglich und allgegenwärtig beschrieben werde, solle der Prozess der Verinnerlichung befördert werden.92 Doch nicht nur die Rezeption, sondern auch die Produktion von Texten falle unter die lektürebasierten Selbsttechniken. Der Schreibende werde zum Leser seines eigenen Selbst. So stellt Moser für Senecas Briefe an Lucilius die Tendenz fest, dass diese als ein dialogisches Lehrer-Schüler87 88 89 90 91 92
Vgl. Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 44. Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 70. Ebd., S. 70. Vgl. Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt a.M. 1998, S. 14–22. Vgl. Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 68.
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Modell begännen, dann jedoch mehr und mehr die Form eines reinen Selbstgesprächs annähmen. Der Adressat Lucilius habe zum Schluss nur noch den Status einer „imaginären Projektion“ Senecas,93 die notwendig sei, um das Selbstgespräch in Gang zu setzen. Während das platonische Modell die innere, auf sich selbst beschränkte Rede als mangelhaft betrachte und neue Erkenntnis erst im dialogischen Austausch für möglich halte, schätze Seneca das Selbstgespräch als Befreiung von störenden Elementen, denen der philosophische Dialog ausgesetzt sei.94 Die Abgeschlossenheit und Sachorientierung der einzelnen Briefe veranlasst Moser dazu, sie als „Essays“ zu bezeichnen.95 Entscheidend für diese stoische Lektürepraxis sei die Verbindung von Produktion und Rezeption: „Im Wechsel von Lesen und Schreiben, von Selbstentäußerung und Selbsteinkehr verleiht das Individuum seinem habitus die notwendige Spannkraft. Der habitus des stoischen Moralsubjekts bildet und erhält sich im Umgang mit dem Medium Schrift.“96 Anhand der Selbstgespräche Marc Aurels führt Moser vor, wie dieser versuche, „therapeutisch“ auf sein Selbst einzuwirken und wie er die Selbsterkenntnis literarisch inszeniere.97 Moser rekonstruiert in seiner historischen Untersuchung den Prozess einer zunehmenden „Ästhetisierung des Selbstverhältnisses“, der in Montaignes Essais seinen Höhepunkt erreiche. Den Ausgangspunkt bilden nach Moser die Soliloquia und die Confessiones von Aurelius Augustinus. Augustinus entwickle das Modell einer „karitativen Selbsthermeneutik“ in Abgrenzung zu den antiken Lektüretechniken.98 Entscheidend ist nach Moser die christliche Annahme, dass der Schreibende nicht allein zur Erkenntnis gelangen oder sein eigener „Seelenarzt“ sein könne. Die christliche Wahrheit, die er verinnerlichen wolle, sei nun Arzt und Medizin zugleich.99 Dabei komme es zu einer Spaltung des Subjekts: Die Vernunft (ratio) löse sich von der Seele (anima) ab und trete mir dieser in Dialog, wodurch die Vernunft zur Lehrer- und die Seele zur Schülerinstanz werde.100 Im Selbstgespräch gelinge es der Vernunft jedoch nicht, die Seele von ihrer Unsterblichkeit zu überzeugen. Moser sieht hier ein Scheitern der Konzeption des christlichen Selbstgesprächs. Daher öffne Augustinus seine Lektürepraxis zur „karitativen Hermeneutik“: Das Subjekt müsse sich schriftlich mitteilen, um sich im Hörer selbst verstehen zu können.101 Die Adressaten-Projektion bei Seneca und Augustinus stimmten insofern überein, dass sie ein funktionales Element der Selbsttechnik bildeten, zugleich jedoch auch als Leerstellen für den tatsächlichen Leser das Element der pai-
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Vgl. Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 297. Vgl. ebd., S. 306. Vgl. ebd., S. 296. Ebd., S. 299. 97 Vgl. ebd., S. 310–313. 98 Vgl. ebd., S. 407–419. 99 Vgl. ebd., S. 377. 100 Vgl. ebd., S. 347–355. 101 Vgl. ebd., S. 418f.
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deia repräsentierten, da sowohl Seneca als auch Augustinus ihre Texte als zu verinnerlichende Muster konzipierten. Mit Petrarca, dem letzten von Moser detailliert untersuchten Autor, wird ein Philosophentypus vorgestellt, der die größte Nähe zum Selbstverständnis der Aufklärungsphilosophie hat. Petrarca betrachte die Philosophie als eine Lebenskunst, zu deren Legitimation er wiederum Bezug auf die Stoiker Cicero und Seneca nehme.102 Moser sieht darin den Versuch, die antiken und christlichen Selbsttechniken miteinander zu verbinden. In seinen Schriften bilde Petrarca den Denkprozess als eigenständige Erfahrung ab: „Er [Petrarca] denkt beim Schreiben, er macht seinen Adressaten unmittelbar zum Zeugen seiner Gedankenarbeit.“103 Der Text solle die Persönlichkeit des Autors widerspiegeln und könne daher auch Widersprüche inkorporieren. Aufgabe des Lesers sei es, die Autor-Persönlichkeit aus dem Text zu rekonstruieren und mit dieser – auch kritisch – in Dialog zu treten. Hierin sieht Moser eine gravierende Abweichung vom stoischen Lektüreverfahren: Die aneignende Lektüre Senecas ziele darauf ab, sich den Text einzuverleiben und ihn vollständig von seinem Autor zu trennen. Widersprüche im Text seien mit dem stoischen Ideal der Beständigkeit nicht vereinbar.104 Moser weist jedoch darauf hin, dass Petrarca neben seinem eigenen auch das stoische Lektüreverfahren anwende.105 Entscheidend für Petrarcas lektürebasierte Selbsttechnik sei die Ästhetisierung der Selbsterkenntnis: Petrarca sei nicht wirklich an der hermeneutischen Entzifferung seiner eigenen Sündhaftigkeit interessiert, sondern mache diese „zum Objekt einer interesselosen Schau“.106 Der ästhetische Genuss, der durch diese Selbstbetrachtung entstehe, fungiere als „Selbstbetäubung“, und die Literatur verwandle sich zu „einer eigenständigen, alternativen Lebenssphäre“.107 Die Petrarca-Analyse verdeutlicht Mosers Verständnis einer autonomen Ästhetik, welches seinem Begriff der Selbstästhetik zugrunde liegt.108
102 103 104 105 106 107 108
Vgl. Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 601. Ebd., S. 624. Vgl. ebd., S. 632. Vgl. ebd., S. 633. Vgl. ebd., S. 710. Vgl. ebd., S. 724. Die Interpretation von Petrarcas Selbstästhetik als Betäubung ist von Jörg Dünne in seiner Rezension der Buchgestützten Subjektivität kritisiert worden. Dünne zweifelt die Möglichkeit einer ausschließlich ästhetischen Subjektform an, die er als eine Form der radikalen Isolation und Entwicklungsstillstellung versteht. Vgl. Jörg Dünne: Subjektgeschichte und Schreibpraktiken. Eine Vorgeschichte der literarischen Autobiographie. Rezension über Christian Moser: Buchgestützte Subjektivität. Literarische Formen der Selbstsorge und Selbsthermeneutik von Platon bis Montaigne. Tübingen: Max Niemeyer 2006. In: IASLonline [16.01.2007], Absatz 15. URL: http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=1734 [05.01.2013]. Es besteht jedoch kein notwendiger Zusammenhang zwischen Selbstbetäubung und ästhetischer Subjektivität, wie die Analyse der Aufklärungsessayistik zeigt.
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Mit einem Ausblick auf Montaignes Essais schließt Moser seine Untersuchung ab. Er stellt fest, dass Montaignes Selbsttechnik sich von den bereits untersuchten dadurch unterscheide, dass Montaigne nicht verändernd auf sein eigenes Selbst einwirken wolle, sondern stattdessen die bereits bestehende Form seines Selbst möglichst getreu beschreibe und dabei permanente Selbstverfremdungen produziere.109 Karlheinz Stierle bringt diesen Umstand auf den Punkt, wenn er Montaignes Essays als „Überwindung der Autobiographie“ bezeichnet und den Essay als „Supplement der unmöglichen Autobiographie“ charakterisiert.110 Indem Montaigne die Unmöglichkeit der Autobiographie – verstanden als Selbstaneignung durch Vergangenheitsbewältigung – erweist, legt er den Grundstein für eine neue (zukunftsorientierte) Form anthropologischen Schreibens. Man kann die Essais daher als eine Schwelle verstehen, an der sich essayistisches und autobiographisches Schreiben auseinander entwickeln, wobei beide Schreibformen letztlich stets auf einen gemeinsamen literarischen Stammbaum rekurrieren. Diese Feststellung leistet auch einen wertvollen Beitrag für die Begründung der Entscheidung, die Gattung Essay als eigenständige Textform erst mit den Essais Montaignes und der Adaption des Gattungsnamens durch Francis Bacon beginnen zu lassen. Moser selbst hat wiederholt darauf hingewiesen, wie fruchtbar eine Engführung der Konzepte Essayistik und Selbsttechnik sein kann.111 Während seine Studie mit Montaigne endet, muss diese Untersuchung mit der ‚Erfindung‘ des Essays um 1600 beginnen, da die Essays Montaignes und Bacons den Ausgangspunkt und die Folie der essayistischen Produktion und Reflexion in der Aufklärung bilden. Eine Untersuchung, die das Konzept der Selbsttechnik auf die Essayistik der Aufklärung überträgt, muss davon ausgehen, dass die lektürebasierte Praxis der Subjektivierung auch nach Descartes noch existiert und dass sie in der Essayistik sogar einen bedeutenden Platz erhält. Auch Charles Taylor führt diesen Punkt aus, wenn er von der Existenz zweier konfligierender und immer wieder interagierender Vorstellungen des Selbst seit der späten Renaissance spricht: einem Selbst der subjektiven „self-exploration“ in der Nachfolge Montaignes und einem Selbst der „disengaged reason“ im Sinne Descartes’, das den instrumentellen Vernunftgebrauch ermögliche und die Eigenverantwortung des Menschen betone.112 Allerdings geht Taylor davon aus, dass der explorative Selbstbezug seit Montaigne völlig von (natur)wissenschaftlichen Formen der Erkenntnisfindung losge109 110
Vgl. Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 736 u. 740‒742. Vgl. Karlheinz Stierle: Cura sui? Montaigne und die Autobiographie. In: Moog-Grünewald: Autobiographisches Schreiben, S. 127‒138, hier S. 132 u. 137. 111 Wie eine solche Übertragung des Konzeptes aussehen kann, hat Moser selbst vorgeführt. Vgl. Christian Moser: „The Humour of My Irregular Self”. Sir Thomas Brownes Religio Medici ‒ Ein Bekenntnis unter Vorbehalt. In: Moog-Grünewald: Autobiographisches Schreiben, S. 73‒ 94. Vgl. außerdem: Christian Moser: Angewandte Kontingenz. Fallgeschichten zu Kleist und Montaigne. In: Kleist-Jahrbuch (2000), S. 3‒32. 112 Vgl. Charles Taylor: Sources of the Self. The Making of the Modern Identity. Cambridge 1989, S. 163‒165.
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löst sei.113 Die naturwissenschaftliche Objekterkenntnis wird in der Aufklärungsessayistik jedoch in die Selbsttechnik integriert. Dabei werden die unterschiedlichen Techniken der Subjektkonstitution für gewöhnlich als „Methode des Denkens“ bezeichnet, womit jedoch nicht das Verständnis der Methode nach Descartes gemeint ist. Der zeitgenössische Gebrauch des Begriffs Methode ist sehr weit und verweist nicht unbedingt auf ein logisch-systematisches Verfahren. So können zum Beispiel auch Verfahren, die sich auf angenommene psychologische Notwendigkeiten gründen, als „Methode“ bezeichnet werden. Entscheidend für das Methodenverständnis der Aufklärung ist vielmehr, dass ein als Methode bezeichnetes Verfahren in seinen einzelnen Elementen mit denjenigen Eigenschaften übereinstimmen muss, die dem Erkenntnisvermögen zugesprochen werden, auf das es sich gründet. Dieses Erkenntnisvermögen kann auch die als irrational angesehene Imagination sein.114 Dieser weite Gebrauch des Methoden-Begriffes, den man als ein Weiterdenken oder auch als Gegenreaktion auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Methode durch Descartes verstehen kann, ist für die Essayistik der Aufklärung insofern von Bedeutung, als er dort den Zusammenhang von wissenschaftlicher Erkenntnis und Ethik garantiert.
2. Gattungstheoretische Überlegungen Nachdem der methodische Rahmen der Untersuchung festgelegt wurde, soll im Folgenden der Essay der Aufklärung gattungstheoretisch als historisches Genre bestimmt werden. Dies ist notwendig, um zu zeigen, welche besonderen Eigenschaften der Essay aufweist, die bei seiner Untersuchung als Selbsttechnik eine entscheidende Rolle spielen. Eine Verbindung der Definition des Aufklärungsessays mit seiner funktionsanalytischen Bestimmung als Selbsttechnik wird durch den Ansatz Rolf Parrs möglich, der Essay und Essayismus als eine eigenständige Form des Interdiskurses bestimmt.
2.1. Die Interdiskursivität des Essays In den letzten Jahren haben sich Bände wie Essayismus um 1900 oder Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900‒1920) auf einen be113
Vgl. Taylor: Sources of the Self, S. 181: „Montaigne therefore inaugurates a new kind of reflection which is intensely individual, a self-explanation, the aim of which is to reach selfknowledge by coming to see the screens of self-delusion which passion or spiritual pride have erected. It is entirely a first-person study, receiving little help from the deliverances of thirdperson observation, and none from ,science‘.“ 114 Vgl. zur Methode als Wissensform der Aufklärung auch Silke Förschler u. Nina Hahne (Hg.): Methoden der Aufklärung. Ordnungen der Wissensvermittlung und Erkenntnisgenerierung im langen 18. Jahrhundert. München u. Paderborn 2013.
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reits älteren Lexikonartikel zum Essay von Klaus Günther Just aus dem Jahre 1954 berufen und eine stärkere Historisierung des Verständnisses von Essay und Essayismus gefordert.1 So benennen Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann als Leitthese zukünftiger Essayismus-Forschung: Erst wenn ein engerer Zeitraum abgesteckt und in ihm ein dichtes Beziehungsfeld untersucht würde, ließen sich die spezifischen Themen und Formen, Medien und Funktionen des essayistischen Denkens und Redens hinreichend genau bestimmen.2
Ganz in diesem Sinne verwendet Rolf Parr die literaturwissenschaftliche Interdiskurstheorie im Anschluss an Jürgen Link,3 um die Gattung Essay als eine eigenständige Art des Interdiskurses zu bestimmen und Essayistik auf diese Weise in ihren jeweiligen historischen Kontexten beschreibbar zu machen. Parr erklärt die reflexive Freiheit und spontane Willkür, mit der im Essay unterschiedliche Wissensbereiche immer wieder neu untereinander verbunden werden, zur spezifischen Eigenart des essayistischen Interdiskurses: Erstens zeichnen sich Essays bzw. essayistische Schreibweisen dadurch aus, daß sie sowohl ungebrochen spezialdiskursives Diskursmaterial als auch hochgradig interdiskursives, insbesondere literarisches Diskursmaterial zugleich verarbeiten. Dadurch treffen – zweitens – auf Eindeutigkeit zielende wissenschaftliche Passagen auf vieldeutige und mehrfach anschließbare Elemente, Spezialdiskurse auf Interdiskurse. Beide werden – drittens – nicht immer und nicht immer vollständig interdiskursiv vermittelt, sondern nur teilweise, so daß der Essay manche Übergänge auch in Form von gewollten Brüchen realisiert, etwa wenn – viertens – innerhalb eines Essays in der Regel mehrmals mit neuen Denkbewegungen angesetzt wird, so daß interdiskursive Brückenschläge immer nur für den Augenblick Gültigkeit haben und meist sofort wieder durch anders und neu zusammengefügte imaginäre Ganzheiten abgelöst werden.4
Aus dieser Feststellung ergibt sich nach Parr für die Essay-Forschung die Aufgabe, für einen jeweils gewählten Untersuchungszeitraum nachzuvollziehen, „wie er [der Essay, N.H.] die Zusammenführung welcher Praktiken und Diskurse betreibt“.5 Durch eine solche Vorgehensweise wird es auch möglich, ein Genre wie den Essay der Aufklärung kulturgeschichtlich zu bestimmen. Die Interdiskursivität eines Textes ergibt sich nach Jürgen Link aus dessen Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit.6 Parr sieht die Aufgabe des essayistischen 1
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Vgl. Wolfgang Braungart u. Kai Kauffmann (Hg.): Essayismus um 1900. Heidelberg 2006; Marina Marzia Brambilla u. Maurizio Pirro (Hg.): Wege des essayistischen Schreibens im deutschsprachigen Raum (1900‒1920). Amsterdam u. New York 2010; Klaus Günther Just: Essay. In: Wolfgang Stammler (Hg.): Deutsche Philologie im Aufriss. Bd. 2. Berlin 21960, Sp. 1897‒1948. Just forderte hier die Historisierung der Beschäftigung mit dem Essay in den Modi „Begriffsgeschichte“, „Stoffgeschichte“ und „Formgeschichte“. Vgl. ebd., Sp. 1946. Braungart u. Kauffmann: Essayismus um 1900, S. IX. Vgl. Rolf Parr: „Sowohl als auch“ und „weder noch“. Zum interdiskursiven Status des Essays. In: Braungart u. Kauffmann (Hg.): Essayismus um 1900, S. 1‒14. Ebd., S. 10f. Ebd., S. 11. Vgl. Jürgen Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik. In: Jürgen Fohrmann u. Harro Müller (Hg.): Dis-
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Interdiskurses vor allem darin, dass er der Trennung von Spezial- und Interdiskursen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts „kompensatorisch“ entgegenwirke.7 Die gesellschaftliche Bedeutung des Essays besteht nach Parr somit in seiner „Integrationsleistung“,8 die zu einer gleichzeitigen Teilhabe an Wissenschaft und Kunst führe. So zeichne sich der Essay an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert – beschrieben als Interdiskurs – durch ein „formierend-historische[s] Projekt der integrierten Praxisbereiche in der Verknüpfung von Natur- und Ingenieurswissenschaften mit Populärphilosophie, Populärreligion und Kunst als möglichst umfassend praktizierter Lebens(re)form“ aus.9 Auch eine Analyse der Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik, die diesem Modell folgt, muss ihren Ausgang gerade von der Frage nach dem jeweiligen Modus der Verbindung von Spezial- und Interdiskursen nehmen, der die Praxis essayistischen Schreibens konstituiert.10
2.2. Das Genre Aufklärungsessay: eine flexible Definition In der literaturwissenschaftlichen Gattungstheorie hat sich seit den 1970er Jahren nach und nach ein konstruktivistischer Ansatz durchgesetzt. Gattungen werden nicht mehr als universelle Ideen angesehen, die auf anthropologische Konstanten verweisen,11 sondern sie interessieren in erster Linie als Hilfsmittel zur Erzeugung und Beschreibung von Textkorpora.12 Da Kriterien zur Gattungsbildung – je nach Forschungsinteresse – auf sehr unterschiedlichen Ebenen angesiedelt werden kön-
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kurstheorien und Literaturwissenschaft. Frankfurt a.M. 1988, S. 284‒307. Nach Link dominiert der interdiskursive Charakter in allen „Textsorten der Popularisierung“ (vor allem in der Journalistik und Literatur; vgl. ebd., S. 293). Vgl. Parr: Interdiskursiver Status, S. 4. Vgl. ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Auf den interdiskursiven Status des Essays verweist auch Pedro Cerezo Galán: „Recoge [el ensayo, N.H.] la pulsación de la vida cotidiana lo mismo que los secretos de la convivencia, la ética y la política. Se abre, en general, a todos los registros de lo humano, los prácticos fundamentalmente, pero también los theóricos, tentiendo así el puente entre el espíritu del humanismo y la nueva ciencia.“ (Pedro Cerezo Galán: El espíritu del ensayo. In: Juan Francisco García Casanova (Hg.): El ensayo, entre la filosofía y la literatura. Granada 2002, S. 1‒32, hier S. 5.) Emil Staiger entwickelt dieses Gattungsverständnis ursprünglich an Goethes triadischem Konzept der „Naturformen der Poesie“, Epos, Lyrik und Drama (vgl. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich 1946). Klaus W. Hempfer erläutert den konstruktivistischen Gattungsbegriff folgendermaßen: „‚Gattungen‘ sind in dieser Perspektive also weder apriorische Entitäten noch rein aposteriorische Klassifikationen, sondern Konstrukte, die auf der Basis rekurrenter Eigenschaften von Texten und der im Zusammenhang historischer Poetologien vorfindlichen Vorstrukturierungen synchron und diachron distinktive Textgruppen konstituieren. Dabei geht es keineswegs um die Projizierung einer ahistorischen Systematik auf ein historisches Objekt, sondern ganz im Gegenteil um die Modellierung je historischer Kommunikation, die deren Spezifität allererst verstehbar macht.“ (Klaus W. Hempfer: Ontologie und Gattung. In: Rüdiger Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart u. Weimar 2010, S. 121‒123, hier S. 123.)
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nen, lässt sich ein einzelner Text auch mehreren Gattungen zuordnen, das heißt er kann an unterschiedlichen Gattungsbegriffen partizipieren. Der Essay der Aufklärung kann – ausgehend von einem solchen konstruktivistischen Gattungsverständnis – gemäß einer flexiblen Definition bestimmt werden, wie sie Harald Fricke in Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur (1981) und erneut in dem von Rüdiger Zymner herausgegebenen Handbuch Gattungstheorie (2010) vorgestellt hat. Frickes Konzept der flexiblen Definition beruht auf dem Grundgedanken, dass die historische Ausdifferenzierung einer bestimmten Gattung – also das Genre als „historisch begrenzte literarische Institution“13 – nur durch die Kombination einer systematischen (und damit ahistorischen) Textsortendefinition mit den jeweils historisch auftretenden Merkmalen der Texte adäquat beschrieben werden könne.14 Die Textsorte solle auf der Basis bereits bestehender Gattungsdefinitionen bestimmt werden und sich dabei am Kriterium der „wissenschaftlichen Zweckmäßigkeit“ orientieren.15 Diese Forderung ist so zu verstehen, dass die Textsortenbestimmung derart beschaffen sein muss, dass sie für das jeweilige wissenschaftliche Erkenntnisinteresse möglichst gewinnbringend ist, also zum Beispiel das Textkorpus weder zu weit noch zu eng bestimmt. Ausreichend flexibel wird die Textsortenbestimmung nach Fricke dadurch, dass sie einige notwendige Merkmale bestimmt, die ein Text aufweisen muss, um einer Textsorte zugerechnet zu werden, und dass sie einige zusätzliche Kriterien bestimmt, von denen jeweils eines oder mehrere, aber nicht alle notwendigerweise zusammen auf einen Text zutreffen müssen.16 Es handelt sich also bei dieser flexiblen Textsortendefinition um eine Kombination von obligatorischen und optionalen Merkmalen. Fricke selbst verwendet diese Begriffe hier nicht, doch er hat schon 1984 bei seiner Definition des Aphorismus zwischen “notwendigen“ und „alternativen“ Merkmalen unterschieden.17 Im Anschluss an diese Textsortendefinition kann ein Text nach Fricke dann einem historischen Genre zugeordnet werden, wenn er (etwas zusammenfassend ausgedrückt) einer eindeutig bestimmbaren Textsorte angehört, die im jeweiligen Untersuchungszeitraum fest etabliert ist. Dass eine Textsorte etabliert ist, lässt sich anhand von Lesererwartungen (beispielsweise aus Rezeptionszeugnissen) und aus Signalen im Text (wie der Verwendung einer feststehenden Gattungsbezeichnung) rekonstruieren.18 Hinzuzufügen ist – und dieser Umstand wird aus Frickes Defini-
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Harald Fricke: Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur. München 1981, S. 132. Vgl. Zymner (Hg.): Handbuch Gattungstheorie, S. 7‒10 (= (A) Aspekte der literaturwissenschaftlichen Gattungsbestimmung. 1. Methodische Aspekte, Harald Fricke: „1.1. Definitionen und Begriffsformen“), hier S. 9. Vgl. Fricke: Norm und Abweichung, S. 134. Vgl. ebd., S. 146. Vgl. Harald Fricke: Aphorismus. Stuttgart 1984, S. 14. Vgl. Fricke: Aphorismus, S. 133.
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tion nicht deutlich – dass die Erwartungshaltung eines konkreten Lesepublikums genauso wie die Verwendung von Signalen durch den Verfasser oder die Verfasserin eines Textes in der Regel auf das historische Genre bezogen bleiben. Die Textsorte als Ergebnis einer literaturwissenschaftlichen Abstraktionsleistung ist nur demjenigen bekannt, der auch über das entsprechende literaturgeschichtliche Wissen verfügt (welches wiederum durch dessen historischen Standpunkt und methodisches Vorgehen bestimmt wird). Frickes flexible Definition greift auf Wilhelm Voßkamps Ansatz einer „sozialund funktionsgeschichtlich orientierten Gattungstheorie“ von 1977 zurück.19 Voßkamp begreift Gattungen als „literarisch-soziale Institutionen“, deren Merkmale zugleich durch eine funktionsbedingte Kontinuität und eine funktionsunabhängige „relative Autonomie“ bestimmt seien (womit Voßkamp den ästhetischen Eigenwert meint).20 Gattungsgeschichtsschreibung bedeutet für Voßkamp somit, den Prozess der „Institutionalisierung“ und „Entinstitutionalisierung“ eines historischen Genres nachzuzeichnen, wobei besonders die Erwartungshaltungen sowohl auf Seiten der Verfasser als auch der Leser aus den Texten selbst und dem Kontext rekonstruiert werden müssten.21 Gleichermaßen sollten jedoch auch die auftretenden Diskontinuitäten in diesem Prozess veranschaulicht werden (als „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“).22 Der Essay kommt ursprünglich von der Rhetorik her. Er ist eine Redegattung und daher an eine persuasive Intention gebunden, selbst dann (und vielleicht gerade dann), wenn eine solche Intention im Text geleugnet wird. In der Gattungsgeschichte des Essays gelten Montaigne und Bacon mit ihren Essaysammlungen historisch durchgängig als Initiatoren und zentrale Autoritäten. Ihre Texte sind somit an der Konstituierung des gattungsspezifischen Erwartungshorizontes maßgeblich beteiligt. Vergleicht man die sehr unterschiedlichen Schreibweisen beider Autoren miteinander, so ergeben sich lediglich zwei sehr allgemeine Gemeinsamkeiten, die als obligatorische Merkmale der Textsorte Essay benannt werden können: erstens die reflexive Struktur ihrer Texte, die einen Gedankengang argumentativ entwickeln, und zweitens die lebensweltliche Erfahrung als Basis der Reflexion und Grundlage neuer Erkenntnis (wobei neben der persönlichen Erfahrung des Verfassers auch allgemeine Erfahrungswahrheiten aus anderen autorisierten Quellen angeführt werden können).
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Vgl. Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. (Zu Problemen sozialund funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie). In: Walter Hinck (Hg.): Textsortenlehre ‒ Gattungsgeschichte. Heidelberg 1977, S. 27‒44, hier S. 29. Vgl. ebd., S. 30. In der beigefügten Diskussion präzisiert Voßkamp diesen Punkt und erläutert den ästhetischen Eigenwart literarischer Texte als „Polyvalenz“ und „Inkommensurabilität“. Vgl. ebd., S. 44. Vgl. ebd., S. 30‒32. Vgl. ebd., S. 44.
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Reflexion und Erfahrungsbezug sind jedoch für eine Definition der Textsorte Essay nicht ausreichend, denn sie sagen noch nichts über das Ziel oder die Richtung eines solchen Schreibens aus. Daher müssen zu diesen notwendigen Attributen noch zwei optionale Merkmale hinzukommen: erstens die Fokussierung einer subjektiven Perspektive (die durch die häufige Verwendung des essayistischen Ichs deutlich wird) und/oder eine Abstraktionsleistung des Denkens, das sich auf ein anthropologisches Erkenntnisziel hin ausrichtet. Während Montaigne in seinen Essais sowohl eine starke subjektive Perspektivierung vornimmt als auch immer wieder zu allgemeinen Feststellungen mit anthropologischem Gehalt gelangt, wird die Subjektposition bei Bacon fast unkenntlich gemacht. Er macht in seinen Essays nicht unmittelbar deutlich, welche seiner Erfahrungswahrheiten aus antiken Quellen entnommen sind oder welche er aus seiner persönlichen Beobachtung gewonnen hat. Diese sehr weit und allgemein gehaltene Bestimmung des Essays als Textsorte erlaubt es, heterogene Essay-Konzeptionen und ihre Ausführungen unter einem Gattungsbegriff zusammenzufassen und vergleichbar zu machen. Zugleich ist sie ausreichend, um den Essay von benachbarten Textsorten wie dem Traktat abzugrenzen (das nicht auf der Basis lebensweltlicher Erfahrung argumentiert). Die Definition verweist auch auf die gattungstheoretisch problematische Nachbarschaft des Essays zu journalistischen Formaten wie dem Kommentar, der sich durch eine starke Subjektposition auszeichnet und sich zumeist in der Stellungnahme zu tagesaktuellen Fragestellungen erschöpft. Gerade das offensichtliche Fehlen eines anthropologischen Erkenntnisinteresses, das der Behandlung einer (aktuellen) Thematik ihre ‚zeitlose Tiefe‘ gibt, führt häufig dazu, dass einem Text der Status Essay abgesprochen wird. Da aber auch solche Texte sehr häufig durch die Herausgeber als Essays gekennzeichnet und damit von eventuellen Lesern als solche rezipiert werden, ist es von einem literaturwissenschaftlichen Standpunkt aus nicht sinnvoll, diese Texte von vornherein aus einer literaturgeschichtlichen Untersuchung auszuschließen. Wie einseitig politisch oder populistisch ein Essay sein kann, hängt auch immer mit dem historischen Genreverständnis zusammen. Die Eigenschaft der Essayistik der Aufklärung, der explizit so benannte Ort einer bürgerlichen Selbsttechnik zu sein, bildet somit weder ein obligatorisches noch ein optionales Merkmal der Textsorte Essay, sondern ist allein vom historischen Kontext abhängig und damit als Genre-Eigenschaft fakultativ. Die Funktion als Selbsttechnik setzt jedoch eine ausgeprägte Verwendung des essayistischen Ichs und ein starkes anthropologisches Erkenntnisziel voraus. Daher sind die optionalen und fakultativen Merkmale des Genres Aufklärungsessay nicht scharf voneinander zu trennen. Die Realisierung eines optionalen Merkmals verweist immer schon auf die konkrete historische Erscheinungsweise der Textsorte als Genre. Weitere fakultative Eigenschaften der Aufklärungsessayistik (wie zum Beispiel ihre dialogische
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Struktur oder die Ausrichtung an einem allgemeinverständlichen, populären Stil) können ebenfalls durch ihre Funktion als Selbsttechnik erklärt werden.23 Während für die Textsortendefinition die obligatorischen Merkmale somit an erster Stelle stehen, ist für die Charakterisierung des historischen Genres die spezifische Kombination der optionalen und der fakultativen Merkmale des Textes entscheidend. Somit vertritt diese Untersuchung nicht die These, dass sich aus jedem Essay der Aufklärung notwendig explizite Elemente einer Selbsttechnik herauspräparieren lassen, sondern sie will zeigen, dass Texte in besonderem Maße von Zeitgenossen als Essays wahrgenommen und diskutiert werden, wenn sie die genannten Genremerkmale erfüllen. Wenn Essayistik hier als Selbsttechnik untersucht wird, handelt es sich somit um eine Interpretation, die gezielt aus einem umfangreichen zur Verfügung stehenden Textkorpus die aussagekräftigsten Beispiele auswählt. Aufgrund der populären philosophischen Grundanlage des Essays der Aufklärung ist das jeweilige Wahrheitsverständnis als Referenzpunkt entscheidend. Ein Rückgriff auf die Geschichte des Wahrheitsbegriffs anhand der jeweils individuellen terminologischen Konzeptionen einzelner Philosophen ist dabei wenig ergiebig, da der Variationsspielraum von Wahrheitsdefinitionen letztlich begrenzt ist und sich die individuellen Konzeptionen dem korrespondenz- oder kohärenztheoretischen Ansatz im engeren oder weiteren Sinne zuordnen lassen. Die eigentliche ‚Geschichte der Wahrheit‘ in ihrer soziokulturellen Dimension, die für diese Studie ausschlaggebend ist, spielt sich, wie Hans Blumenberg in den bereits erwähnten Paradigmen zu einer Metaphorologie dargelegt hat, auf der Ebene der mit dem Wahrheitsbegriff assoziierten Metaphern ab, denen auch für die Interdiskursivität des Aufklärungsessays eine zentrale Bedeutung zukommt.24
2.3. Die nicht-fiktionale Textsorte Essay. Einige Einwände im Hinblick auf das essayistische Ich Eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Essay, die sich von der Beschränkung auf die klassische Gattungs-Trias Epik, Dramatik und Lyrik löst, entsteht seit den 1960er Jahren. Dies äußert sich beispielsweise im Versuch der Etablierung einer vierten „Großgattung“ durch Wolfgang Victor Ruttkowski (1968), die 23
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Zum historischen Verhältnis von Dialog, Essay und Selbsttechnik vgl. auch Bernd Häsner: Dialog und Essay. Zwei ‚Weisen der Welterzeugung‘ an der Schwelle zur Neuzeit. In: Klaus W. Hempfer (Hg.): Grenzen und Entgrenzungen des Renaissancedialogs. Stuttgart 2006, S. 141‒203. Indem Blumenberg die mit dem Wahrheitsbegriff verbundenen Metaphern analysiert, stellt er auch die gesellschaftliche Dimension des Wahrheitsbegriffs dar. Aus dieser ist eine Geschichte des Wahrheitsbegriffs (als Abfolge des gesellschaftlichen Bedeutungswandels) rekonstruierbar, die mit historischen Subjektivationen in Verbindung gebracht werden kann (vgl. Blumenberg: Metaphorologie, S. 14).
2. Gattungstheoretische Überlegungen
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er als „artistisch“ bezeichnet, da sie sich durch eine primär rhetorisch-wirkungsästhetische Funktion auszeichne, aus der sich auch ihre sprachkünstlerische Gestaltung herleite.25 Einen alternativen Ansatz liefert Klaus Weissenberger mit seiner Etablierung einer Kategorie der „nicht-fiktionalen Kunstprosa“ (1985), unter der er neben dem Essay andere Textformen wie zum Beispiel den Brief und den Reisebericht subsumiert.26 Die Zugehörigkeit des Essays zum Bereich der Literatur, das heißt seine spezifisch literarische Qualität (im Gegensatz zu ausschließlichen ‚Gebrauchstexten‘), wird hier aus seiner sprachkünstlerischen Gestaltung abgeleitet, während seine Nicht-Fiktionalität ihn aus dem engeren Kreis des literarischen Kanons ausschließt. Noch in der dritten Auflage des Reallexikons der Literaturwissenschaft von 1997 definiert Heinz Schlaffer in seinem Artikel Essay die Textform als „schriftliche[n] Diskurs eines empirischen (d.h. nicht-fiktionalen) Ich über einen kulturellen Gegenstand“, und er hält fest, „daß der Essay nicht zu den literarischen Formen im engeren Sinne zählt, die durch Fiktionalität gekennzeichnet sind“.27 Da die Frage nach der Fiktionalität einer literarischen Textform für gewöhnlich eng mit der Frage nach ihrer Narrativität verbunden ist und Beispiele für fiktionale Texte in der Regel aus dem Arsenal der epischen Genres entnommen werden,28 wird der Essay aufgrund seiner reflexiven (oder nach Schlaffer: diskursiven) Anlage zumeist als faktuale Kunstprosa klassifiziert.29 Es wird entweder (produktionsästhetisch) argumentiert, dass das Subjekt der Reflexion tatsächlich mit dem Ich des empirischen Autors identisch sei, oder (rezeptionsästhetisch bzw. kommunikationstheoretisch) dass es entscheidend sei, dass eine solche Identität aufgrund des Fehlens von Fiktionalitätssignalen durch den Leser angenommen werde.30 Die 25 26 27 28 29
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Vgl. Wolfgang Victor Ruttkowski: Die literarischen Gattungen – Reflexionen über eine modifizierte Fundamentalpoetik. Bern u.a. 1968. Vgl. Klaus Weissenberger (Hg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nichtfiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985. Heinz Schlaffer: Essay. In: Klaus Weimar u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. 1. Berlin u. New York 31997, S. 522‒525, hier S. 522. Vgl. dazu Zymner: Handbuch Gattungstheorie, S. 30. Vgl. dazu zum Beispiel Bruno Berger, der den historischen Erkenntniswert des Essays gerade aufgrund seiner angenommenen Nicht-Fiktionalität gegenüber der Erzählliteratur vorzieht: „Auf jeden Fall wird die jeweilige Essayistik einer Epoche (sowie sie echt ist und von überragend stehenden Autoren stammt) ein deutlicheres Bild der Epoche spiegeln, als es die erzählende Literatur der Zeit bieten kann, da sie die denkende Auseinandersetzung ungehinderter vornimmt.“ (Bruno Berger: Der Essay. Form und Geschichte. Bern u. München 1964, S. 89.) Hier ist insbesondere René Pfammaters Studie zu nennen, die das Sprachhandlungsmuster des Essays als nichtfiktional bestimmt. Daher erwarte der Leser vom Essay folgende Qualitäten: „Wirklichkeitsentsprechung“/„Referenzialisierbarkeit“, „Identität“, „Rationalität“, „Aufrichtigkeit“/„Wahrhaftigkeit“, „Wahrheit“, „Konsistenz“/„Kohärenz“, „Interpretativität“, „situative Verbindlichkeit“. Vgl. René Pfammater: Essay – Anspruch und Möglichkeit. Plädoyer für die Erkenntniskraft einer unwissenschaftlichen Darstellungsform. Hamburg 2002, S. 46–48. Pfammater führt aus: „Im Essay spricht der Autor als er selbst. […] Der Autor entläßt im Essay nicht – wie das für andere Gattungen gelten mag – durch einen ästhetisierenden und/oder fiktionalisierenden Anspruch aus seiner Verantwortung gegenüber dem Gesagten und gegen-
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I. Einleitung
These von der Nichtfiktionalität des Essays kann jedoch von verschiedenen Seiten und mit unterschiedlichen Angriffspunkten in Frage gestellt werden. Das schlagendste Argument liefert dabei die Feststellung, dass eine vorschnelle Identifizierung des essayistischen Ichs mit dem Verfasser nicht legitim ist, da die Kategorie essayistisches Ich dem Verfasser den gleichen gestalterischen Spielraum einräumt wie im Falle des lyrischen Ichs oder des Ich-Erzählers. Georg Stanitzek hat darauf hingewiesen, dass das essayistische Ich potentiell fiktiv ist, auch wenn er bei der Formulierung seiner Hypothese eher vorsichtig verfährt: Besonders für den Essay ist nämlich festzuhalten, dass er fiktionale Momente aufweist, schon deshalb, weil in ihm der Möglichkeit nach die Figur der fictio personae immer präsent ist. Sie realisiert sich keineswegs nur in poetischer Prosa. Schwache, aber umso interessantere Fiktionalitätseffekte stellen sich unweigerlich bereits dann ein, wenn die Bedeutung der grammatischen Ersten Person im Essay diskutiert wird.31
Radikaler und plakativer formuliert es Carl H. Klaus, der das Ich in einem Essay als eine Art literarischen Charakter („a character of sorts“32) bezeichnet, den der Essayist frei wählen und gestalten könne. Der Essay konstituiere eine ganz eigenständige Art von Literatur, deren mimetische Funktion sich nicht auf die Darstellung von Handlungssequenzen, sondern auf die Abbildung mentaler Abläufe beziehe. Diese können vollständig fiktiv sein und müssen nicht mit den Ansichten des Verfassers übereinstimmen. Der Essay sei: „The literature of interiority. The story of thought. The drama of mind in action. Thought and the process of thought united in a single text.“33 Neben dieser produktionsästhetischen These, die das essayistische Ich (zumindest potentiell) als eine „literarische Maske“ betrachtet,34 kann die Argumentation
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über den Kommunikationspartnern. […] Essays sind keine anonymen Texte, sondern tragen das Signum ihres Urhebers. Das Prinzip der betonten Subjektivität im Essay ist immer absichtsvoll auf einen potentiellen Rezipienten hin ausgerichtet.“ (Ebd., S. 50.) Georg Stanitzek: Essay – BRD. Berlin 2011, S. 12f. Carl H. Klaus: The Made-Up Self. Impersonation in the Personal Essay. Iowa City 2012, S. 1. Klaus: The Made-Up Self, S. 20. In seinem 2013 erschienenen Leitfaden: A Self Made of Words. Crafting a Distinctive Persona in Nonfiction Writing (Iowa City 2013) führt Klaus diesen Ansatz fort. Zu den Verwendungweisen „literarischer Masken“ in der philosophischen Literatur (auch im Essay) vgl. Christiane Schildknecht: Philosophische Masken. Literarische Formen der Philosophie bei Platon, Descartes, Wolff und Lichtenberg. Stuttgart 1990. Schildknecht untersucht anhand der ausgewählten Autoren das jeweilige Verhältnis von propositionaler und nichtpropositionaler Wissensbildung und weist nach, dass auch ein Philosoph wie Christian Wolff, der mit seiner mathematisch-demonstrativen Methode den Gegenpol zu literarischen Formen des Philosophierens darzustellen scheint, auf nicht-propositionales Wissen (auch auf fiktionale Elemente) zurückgreife. Die propositionale Sprachhandlungsstruktur, das heißt der Versuch, Subjektivität im Text auszuschalten, werde zu einer „literarischen Maske“, die diese Anteile verberge. Vgl. ebd., S. 171. In gleichem Maße kann die forcierte Verwendung eines essayistischen Ichs die Subjektivität des Wissens unterstreichen und als „literarische Maske“ die Wirkung von Authentizität (im Sinne einer angenommenen Identität von essayistischem Ich und Verfasser) erzeugen.
2. Gattungstheoretische Überlegungen
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jedoch auch auf der radikalen These aufbauen, dass die Herstellung der Authentizität des essayistischen Ichs, selbst dann, wenn sie durch den Verfasser angestrebt wird, letztlich gar nicht möglich sei. In diesem Fall dienen Montaignes Essais, die sich an dem Versuch einer solchen Herstellung der Identität des schreibenden Selbst mit dem aufgeschriebenen Ich abarbeiten, als prägnantestes Beispiel.35 Eng verbunden mit der Problematisierung der fiktiven Anteile des essayistischen Ichs ist die Frage nach der Fiktionalität einer Aussagestruktur, die durch die Anlage dieses Ichs organisiert und geprägt wird. Einen sehr ähnlichen Zusammenhang hat Filippo Smerilli anhand einer kognitionsnarratologischen Untersuchung der Aphorismen Franz Kafkas deutlich gemacht. Smerillis Aussagen sind auf den Essay übertragbar, da sie anhand des Aphorismus eine reflexive Aussagestruktur untersuchen, die sich ebenfalls – und weitaus extensiver – im Essay findet. Smerilli vertritt die These, dass es sich beim Aphorismus um „eine besondere Form der fiktionalen Bewusstseinsdarstellung“ handele.36 Ausgehend von David Hermans Grundlagentext Basic Elements of Narrative (2009), in der die Bewusstseinsrepräsentation beziehungsweise „die spezifische Erfahrungsqualität des erlebenden Bewusstseins“ als zentrales Kriterium der Bestimmung von Narrativität gewertet werde,37 zeigt Smerilli, dass sich in Kafkas Aphorismen ein „fiktives denkendes Selbst“ finde,38 das sich wesentlich von Kafkas biographischem Selbst unterscheide.39 Dieses fiktive Selbst „erzähle“ Denkakte, die als imaginär anzusehen seien und damit den Status fiktionaler Rede erfüllten. Die unwillkürliche Identifikation der Aussagen des Aphorismus mit den Ansichten des empirischen Verfassers erklärt Smerilli aus der Tatsache, dass der Aphorismus sich am Modell mündlicher Rede orientiere, also aus der dialogischen Kommunikationssituation, die als Authentizitätssignal wahrgenommen werde.40 Smerillis These: „Aphorismen können vom Denken erzählen“,41 trifft in besonderem Maß auch auf den Essay zu, dessen Eigenschaft, einen Denkprozess abzubilden, in der Forschungsliteratur geradezu den Stellenwert eines Topos erlangt hat. Seine Schlussfolgerung, dass es sich daher bei Aphorismen um ein „erzählendes Genre“ handele,42 kann jedoch nicht überzeugen. Smerilli zeigt lediglich, dass Aphorismen (und davon ableitbar: auch Essays) aufgrund ihrer Eigenschaft, eine
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Vgl. hier zum Beispiel: Stierle, Cura sui, S. 137. Wie bereits in Kapitel 1.3. erwähnt, führt Stierle aus, dass Montaignes Versuch der Abbildung des eigenen Selbst aufgrund der Unmöglichkeit des Unterfangens letztlich zur „Überwindung“ der Autobiographie führe. Vgl. Filippo Smerilli: Nachdenken über das Denken. Eine kognitionsnarratologische Betrachtung der Aphorismen Franz Kafkas. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 56/2 (2009): Einfache Prosaformen der Moderne, S. 177–199, hier S. 186. Vgl. ebd., S. 182 und David Herman: Basic Elements of Narrative. Chichester (UK) 2009. Smerilli: Nachdenken über das Denken, S. 187. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 196f. Ebd., S. 188. Vgl. ebd., S. 186.
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I. Einleitung
spezifische individuelle Erfahrungsqualität des Denkens abbilden zu können, indem sie die Transformationen dieses Denkens sequentiell vorführen, eine wesentliche Qualität mit Erzähltexten teilen.43 Bei der Gleichsetzung der literarischen Darstellung von Handlungssequenzen und von mentalen Akten kann es sich jedoch stets nur um eine Analogiebildung handeln. Wenn für den Essay vom „erzählten Denken“ oder der „dramatischen Qualität“ des Gedankengangs die Rede ist, handelt es sich somit nur um Vergleiche und nicht um eine Zuweisung des Textes zu erzählender oder dramatischer Literatur (sonst ist man gattungstheoretisch wieder bei Emil Staiger und seinen drei „Grundbegriffen“ lyrisch, episch und dramatisch angelangt). Der Hinweis auf die Teilhabe des Essays an einer wesentlichen Eigenschaft von erzählenden oder dramatischen Texten kann jedoch dazu dienen, das fiktive Potential von Essays hervorzuheben und – über den Aspekt der künstlerischen Sprachverwendung hinaus – ihre Literarizität nachzuweisen. Dabei geht es nicht in erster Linie um eine Aufwertung der Textform gegenüber dem klassischen literarischen Kanon, sondern um eine Sensibilisierung gegenüber Textstrategien, die für die – auch historische – Untersuchung des Essays unerlässlich ist. Die These von der Identität des essayistischen Ichs mit dem Ich des Verfassers und die Frage nach den fiktiven – und gegebenenfalls auch fiktionalen – Anteilen des Essays bedürfen stets der Problematisierung. Authentizität als (auch emotionale) Wirkungsweise eines essayistischen Textes muss somit als Ergebnis eines expliziten Gestaltungsprozesses wahrgenommen werden und nicht als quasi natürliches Begleitprodukt einer bestimmten Kommunikationssituation. Mirko-Alexander Kahre macht die weiterführende Bedeutung dieses Umstandes für die literaturgeschichtliche Analyse deutlich, wenn er die gesellschaftliche Dimension essayistischen Schreibens thematisiert und postuliert, im Essay werde die Trennung von Subjekt und Objekt aufgehoben: „Der Essay, so kann man pointieren, beschreibt primär nicht eine ‚natürlich‘ gegebene Wirklichkeit, er generiert vielmehr textuell, im Verfahren einer spezifischen ‚Kommentierung‘, semiotischen ‚Verarbeitung‘ einen eigenen, ausschnittshaften imaginären Raum sozialer Wirklichkeit.“44 Die Eigenschaften dieses imaginären Ausschnittes sozialer Wirklichkeit sind dabei maßgeblich von der Beschaffenheit des verwendeten essayistischen Ichs als einer literarischen Kategorie abhängig. Abschließend sei an dieser Stelle noch auf die Anthologie Essayists on the Essay (2012) verwiesen, die von Carl H. Klaus und Ned Stuckey-French erstellt wur-
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Auf diese Weise argumentiert auch Herman: „[…] capturing what it’s like to experience storyworld events constitutes a critical property of but not a sufficient condition of narrative.“ (Herman: Narrative, S. 139.) Mirko-Alexander Kahre: „Ein in die Zeit gehängtes Netz“. Der Essay als glaubwürdige Form der Moderne. Konstanz (Univ. Diss.) 2002, S. 27. URL: http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2002/858/pdf/Diss.pdf [12.11.2012].
2. Gattungstheoretische Überlegungen
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de. Diese Anthologie, die sich als forschungsorientiertes „source book“ versteht,45 leistet einen unschätzbaren Beitrag zur Aufarbeitung historischer Konzeptionen des Essays, indem sie Reflexionen von Essayisten über ihr eigenes Schreiben zusammenträgt und – thematisch geordnet – auf eine große Anzahl weiterer Fundstellen verweist. In seiner Einführung plädiert Klaus für eine „collective poetics of the Essay“ und macht deutlich,46 dass es möglich ist, historisch fundierte poetologische Aussagen über den Essay aus solchen Selbstaussagen zu gewinnen. Aus dem zusammengetragenen Material zieht Klaus den Schluss, dass Essayisten dahingehend übereinstimmen, dass sie das Phänomen einer gleichzeitigen Übereinstimmung und Divergenz zwischen ihrer individuellen Identität und der im Essay verwendeten Stimme (dem essayistischen Ich) betonen: “Paradoxically, then, essayists apparently conceive of the essay as embodying a multistable impression of the self, in the process of thought and in the process of sharing thought with others. Interiority and exteriority simultaneously manifest.”47 Klaus’ Feststellung verweist noch einmal in besonderem Maße auf das Potential des Essays, als Selbsttechnik zu fungieren. Diese Untersuchung kann aufgrund ihres methodischen Ansatzes als ein Beitrag zur Archäologie der Subjektformen in der Aufklärung gelesen werden. Ihren wichtigsten Adressaten sieht sie allerdings in der bereits existierenden Forschungsliteratur zum Essay beziehungsweise zum Essayismus, der sie durch diesen Ansatz einen neuen Impuls geben möchte. Bevor der analytische Teil beginnen kann, soll daher in einem Überblick gezeigt werden, an welche Forschungsergebnisse sie anknüpft und welche leitenden Fragen sich daraus für die Analyse ergeben.
3. Forschungen zum Essay: Anknüpfungspunkte und Abgrenzungen Die Studien zum Essay sind umfangreich und können daher hier nur in einer Auswahl vorgestellt werden. Trotz ihrer großen Anzahl findet in der deutschsprachigen Essay-Forschung leider noch immer nur eine begrenzte Kenntnisnahme der Autorinnen und Autoren untereinander statt. Der Wunsch, das Rad (das heißt in diesem Fall: den Essay) immer wieder neu zu erfinden, ist für viele Untersuchungen prägend, während sich im angloamerikanischen Bereich die – auch germanistische – Essay-Forschung wesentlich homogener darstellt. Einen Eindruck davon vermittelt die von Tracey Chevalier herausgegebene, ungefähr eintausend Seiten umfassende Encyclopedia of the Essay von 1997. Sie verzeichnet neben Portraits bedeutender internationaler Essayisten und der Darstel45 46 47
Vgl. Carl H. Klaus u. Ned Stuckey-French (Hg.): Essayists on the Essay. Montaigne to Our Time. Iowa City 2012, S. xi. Vgl. Carl H. Klaus: Toward a Collective Poetics of the Essay. In: Klaus u. Stuckey-French (Hg.): Essayists on the Essay, S. xv‒xxvii, hier S. xv. Ebd., S. xxvi.
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I. Einleitung
lung nationalsprachlicher Essayistik (zum Beispiel des British Essay, French Essay oder Chinese Essay) auch Einträge zu den zentralen, mit dem Essay assoziierten Schlagwörtern (zum Beispiel zu Dialogue und Periodicals oder Personal Essay). Den Artikel German Essay hat John A. McCarthy verfasst.1 Seit 1945 verläuft die deutschsprachige Forschung zum Essay in mehreren Phasen:2 Die ersten Monographien in den 1960er und 1970er Jahren3 nähern sich der Textform mit einem Gattungsverständnis, das Gattungen als Universalien begreift.4 Sie fassen die bisherigen Untersuchungen zusammen (Ludwig Rohners umfangreiche Materialsammlung lässt sich als Bericht der gesamten Forschung zum Essay bis 1965 lesen) und sind um eine ahistorische Typologie des Essays bemüht. Die Studien zur Essayistik der Aufklärung bis zum Ende der 1980er Jahre verstehen sich als Beitrag zu einer Rehabilitierung der Aufklärung,5 die als ein Programm intellektueller Emanzipation begriffen wird, und sind mehr oder weniger stringent historisch-systematisch angelegt. Die Studien zum Verfahren des Essayismus in den 1990er und frühen 2000er Jahren wiederum konstruieren Essayismus als eine ahistorische und gattungsübergreifende Haltung des Essayisten und belegen diese These mit ausgewählten Beispielen aus der Literaturgeschichte.6 Besonders in der universalisierenden Gattungstheorie und in der Rekonstruktion des Essayismus gibt es eine normative Komponente, die in einer wertenden Unterscheidung des 1 2
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Vgl. John A. McCarthy: German Essay. In: Tracy Chevalier (Hg.): Encyclopedia of the Essay. London u. Chicago 1997, S. 322–336. Renate Hof rekonstruiert für den englischsprachigen Raum drei Phasen der Häufung von Anthologiebildungen zum Essay: 1920–30, 1960–70 und die 1990er Jahre. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Gattung sei in den 1950er und 1960er Jahren besonders stark gewesen und erreiche im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts einen neuen Höhepunkt. Vgl. Renate Hof: Engendering Authority: Das wiedererwachte Interesse am Essay. In: Renate Hof u. Susanne Rohr (Hg.): Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay. Tübingen 2008, S. 209–229, hier S. 210. Vgl. Peter M. Schon: Vorformen des Essays in Antike und Humanismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Essais von Montaigne. Wiesbaden 1954; Bruno Berger: Der Essay. Form und Geschichte. Bern u. München 1964; Ludwig Rohner: Der deutsche Essay. Materialien zur Geschichte und Ästhetik einer literarischen Gattung. Neuwied u. Berlin 1966; Gerhard Haas: Studien zum Essay und zu seinen Vorformen im Roman. Tübingen 1966; Dieter Bachmann: Essay und Essayismus. Stuttgart u.a. 1969; Gerhard Haas: Essay. Stuttgart 1969; ders.: Zur Geschichte und Kunstform des Essays. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik VII/1 (1975), S. 11–39. Zur Abgrenzung der (ahistorisch verfahrenden) „universalistischen“ von der (historisch arbeitenden) „konzeptualistischen“ Gattungstheorie vgl. Hempfer: Ontologie und Gattung, S. 121– 123. Vgl. Heinrich Küntzel: Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18. Jahrhundert. München 1969; Joachim Schote: Die Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays im 18. Jahrhundert. Freiburg i.Br. (Univ. Diss.) 1988; John A. McCarthy: Crossing Boundaries. A Theory and History of Essay Writing in German 1680–1815. Philadelphia 1989. Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus. Berlin 1995; Christian Schärf: Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno. Göttingen 1999. Die Eigenschaft des Essayismus, Gattungsgrenzen zu überschreiten, bemerkt schon Dieter Bachmann: Essay und Essayismus. Stuttgart u.a. 1969, S. 19.
3. Forschungen zum Essay
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‚guten‘ und des ‚schlechten‘ Essays, des ‚falschen‘ und des ‚echten‘ Essayisten zum Ausdruck kommt. Ansätze zur qualitativen Hierarchisierung der untersuchten Texte finden sich allerdings auch in den primär historisch angelegten Studien, denen jedoch insgesamt stärker daran gelegen ist, bestimmte Autoren nicht von vornherein aus ihrem Textkorpus auszuschließen. Diejenigen Studien, die bei ihrer Beschäftigung mit dem Aufklärungsessay einen historisch-systematischen Ansatz gewählt haben, stellen die wichtigste Grundlage dieser Untersuchung dar. Zu ihnen gehören Heinrich Küntzels Studie Essay und Aufklärung (1969), Joachim Schotes Die Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays im 18. Jahrhundert (1988) sowie vor allem John A. McCarthy’s Crossing Boundaries. A Theory and History of Essay Writing in German 1680– 1815 (1989). Diese Studien sind bestrebt, das vernichtend-kritische Aufklärungsbild der Dialektik der Aufklärung durch eine neue Perspektivierung zu relativieren und die Einheitlichkeit der Idee eines mündigen, kritischen Denkens von der Frühaufklärung bis in die Romantik hinein darzustellen. Durch die Betonung des antisystematischen Verfahrens innerhalb der Aufklärungsessayistik wollen sie der Aussage begegnen, Aufklärung sei „die Philosophie, die Wahrheit mit wissenschaftlichem System gleichsetzt.“7 Heinrich Küntzel erklärt das Entstehen und die Entwicklung des deutschen Essays im 18. Jahrhundert mit einem stilgeschichtlichen Ansatz. Auf der Basis der zeitgenössischen theoretischen Ästhetik weist er die Kontinuität einer aufklärungsspezifischen Theorie der „originellen Prosa“ nach. Besonders hervorzuheben ist dabei Küntzels These einer „Korrespondenz von einander konträren Begriffen – wie Schönheit und Genauigkeit, Gedanke und Gefühl bzw. Verstand und Einbildungskraft, Natürlichkeit und Präzision der Sprache –“ im Konzept der originellen Prosa.8 Diese Korrespondenz wird als stilistische Anforderung an den Essayisten gedacht und realisiert sich nach Küntzel besonders bei Shaftesbury, Lessing und Diderot.9 In diesem Stilideal sieht Küntzel eine Kontinuität der Aufklärung jenseits von literarisch gegen den Rationalismus opponierenden Strömungen wie Empfindsamkeit, Sturm und Drang oder Romantik. Die originelle Prosa sei von der Frühaufklärung bis zur Romantik stets anti-dogmatisch.10 Ein Popularphilosoph wie Christian Garve zählt daher nach Küntzel nicht zu den Essayisten, da dessen Prosa streng systematisch aufgebaut und um einen Anspruch auf Allgemeinheit der dargestellten Erkenntnisse bemüht sei.11 Küntzels Monographie rekonstruiert sehr überzeugend und bibliographisch umfassend aus den verstreuten, häufig nur implizit in poetologischen Schriften (Rhe7 8 9 10 11
Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 142003, S. 92. Küntzel: Essay und Aufklärung, S. 28. Vgl. ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 36. Vgl. ebd., S. 34.
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I. Einleitung
toriken, Regelpoetiken und Ästhetiken) anzutreffenden Aussagen das Prosaideal der Aufklärung. Er konzentriert sich dabei ausschließlich auf die theoretische Ebene und analysiert keine Essays. Diese Beschränkung auf theoretische Schriften führt allerdings dazu, dass ihm gerade die Konzeptionen des Essays durch Essayisten und in den Essays selbst entgehen, welche die Texte gesellschaftlich und erkenntnistheoretisch verorten. Außerdem führt die Beschränkung auf Stilgeschichte zu einer mangelnden Berücksichtigung der Begriffsgeschichte von Schlüsselwörtern wie Witz oder Genie, Poesie und Prosa. Erscheint deren Verwendung in einem unmittelbaren Vergleich von poetologischen Formulierungen in den unterschiedlichen Phasen der Aufklärung zunächst sehr ähnlich, so erweist eine Berücksichtigung der jeweiligen historischen Semantik tiefgreifende Unterschiede in der Bedeutung und Verwendung dieser Begriffe. Joachim Schote untersucht die Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays anhand von Portraits bedeutender Essayisten und einer Analyse ausgewählter Essays, beginnend mit der Moralischen Wochenschrift Der Patriot (1724–26) und endend bei Friedrich Schlegels retrospektiven gattungstheoretischen Äußerungen im Rahmen der frühromantischen Ästhetik. Im Gegensatz zu Küntzel stellt Schote eine gravierende Veränderung des essayistischen Schreibens in der Frühromantik fest, die er an der geänderten Einstellung zum Lesepublikum festmacht. Schlegels Essays wiesen eine „Wendung ins Intime und Persönliche“ auf,12 die mit dem „unpersönlichen“ Aufklärungsessay nicht vereinbar sei.13 Auch der wachsende „Primat der Schrift gegenüber dem gesprochenen Wort“ und die damit einhergehende Abwendung vom Ideal der geselligen Konversation als stilistischem Vorbild der Aufklärungsessayistik führten zu einer „Mystifizierung“,14 die gemäß dem Ideal des Symphilosophierens dem Leser nicht mehr die Begegnung mit dem Anderen ermögliche, sondern stattdessen nur „immer wieder seine eigene virtuelle Unendlichkeit“ spiegele.15 Differenz zwischen den Subjekten als Charakteristikum der Aufklärungsessayistik sowie Aufhebung dieser Differenz als Prozess der Kritik im romantischen Essay bildeten zwei unvereinbare Modelle im 18. und frühen 19. Jahrhundert.16 Diskussionsbedürftig an Schotes Vorgehen ist, dass er die Essayistik in den Moralischen Wochenschriften als defizitäre Vorstufe einer ‚eigentlichen‘ Essayistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts abwertet. Wie Küntzel spricht auch er Christian Garves Essay-Sammlung Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben (1792–1802)‚ das Essayistische‘ ab und verbannt Garve aus dem Kreis der Essayisten. Garve negiere „alle Kriterien des essayistischen Schreibens […]: Originalität des Denkens, Indi12 13 14 15 16
Schote: Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays, S. 82. Vgl. ebd., S. 181. Ebd., S. 184. Ebd., S. 187. Vgl. ebd.
3. Forschungen zum Essay
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vidualität des Ausdrucks, Darstellung und Entwicklung eines Gedankengangs“.17 Diese Beurteilung kommt wie auch bei Küntzel dadurch zustande, dass Schote zwar einerseits eine Geschichte des Essays anhand der historischen Ausdifferenzierungen und Konzeptualisierungen der Gattung schreiben möchte, gleichzeitig jedoch an seine eigene Vorstellung vom ‚echten‘ Essay gebunden bleibt. Während Küntzel sich vor allem an Diderot und Lessing orientiert und deren freie, individuelle Ausdrucksweise nach dem Vorbild des „dramatischen Dialogs“ lobt,18 bezieht sich Schote vor allem auf Friedrich Schlegels Beschreibungen des Essays, die natürlich immer im Dienst der frühromantischen Programmatik stehen. Wo Küntzel keinen Entwicklungsgedanken ausführt, zeichnet Schote letztlich eine Entwicklungsgeschichte anhand herausragender Essayisten-Persönlichkeiten (Lessing, Winckelmann, Herder, Forster, Schlegel) und lässt eine gleichzeitige Existenz einander widersprechender Gattungskonzeptionen nicht zu. Diese Studie möchte der Problematik der ‚großen Vorbilder‘ begegnen, indem sie sich an den historischen Essaykonzeptionen orientiert, den Fokus auf die Diskontinuitäten der Gattungsentwicklung legt und auch unbekanntere Essayistinnen und Essayisten in die Darstellung mit aufnimmt. Sie soll keine Aufreihung von Essayisten-Porträts sein und muss daher auch auf die Behandlung einiger bedeutender Essayisten des 18. Jahrhunderts (wie zum Beispiel Lessing und Schiller) verzichten. John A. McCarthy liefert in seiner Studie eine Darstellung essayistischen Schreibens in der Zeit von 1680 bis 1815 (von Christian Thomasius bis Adam Müller), wobei er die diskursive Kontinuität des Zeitalters der Aufklärung betont. Es geht ihm nicht um eine Gattungsgeschichte des Essays als Textform, sondern um die Rekonstruktion einer essayistischen Schreibweise als Anleitung zum kreativen, das heißt hier: zum kritischen Denken. Allerdings untersucht er hauptsächlich kurze, reflexive Prosatexte und bleibt darum mit seinem Textkorpus weitestgehend im Bereich des Essays als Textform. McCarthy versteht essayistisches Schreiben in Anlehnung an Habermas als kommunikatives Handeln und rückt in seinem kommunikationstheoretischen Ansatz das Verhältnis von Verfasser, Text und Leser ins Zentrum seiner Untersuchung. Im Sinne eines Verständnisses von Aufklärung als Prozess wird die enge Verbindung essayistischen Schreibens mit dem philosophischen Skeptizismus der Aufklärung betont.19 Das Verfassen und Lesen von Essays sei Teil einer affektiven Kommunikation, deren unmittelbares Ziel eine Einstellungsveränderung des Lesers und langfristig der gesellschaftliche Wandel sei.20 Die Zeit zwischen 1680 und 1815 wird als das klassische Zeitalter deutschsprachigen essayistischen Schreibens vorgestellt.
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Schote: Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays, S. 172. Vgl. Küntzel: Essay und Aufklärung, S. 38. Vgl. McCarthy: Crossing Boundaries, S. 7. Vgl. ebd., besonders Kap. 5: „The Ethics of Writing and Reading“, S. 94–129.
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I. Einleitung
McCarthys herausragender Untersuchung kommt das Verdienst zu, eine auf umfassender Kenntnis basierende Studie zur Essayistik der Aufklärung verfasst zu haben, die Essayistik als eine funktionale Form geschriebener Kommunikation versteht. Die Betonung der Einheitlichkeit essayistischen Schreibens blendet jedoch die Auswirkungen des radikalen epistemologischen und poetologischen Wandels zwischen 1700 und 1800 auf die Essayistik aus.21 McCarthys zentrale These lautet: „The essayist’s ultimate purpose is to link up with another’s mind in order to teach critical thinking, but to do it in an aesthetically pleasing manner. It seems obvious that the quality of purposeful consciousness raising must be viewed as a major mark of all essayistic writing.“22 Diese Studie schließt sich McCarthys These an, doch versteht sie die Funktion der Aufklärungsessayistik vor allem als Bewusstmachung von Subjektrepräsentationen und Subjektivierungsweisen. Mithilfe einer Analyse des jeweiligen essayistischen Ichs und der vorgestellten Selbsttechnik können auch die Verschiebungen im Verhältnis von Verfasser, Text und Leser beschrieben und Konfliktkonstellationen berücksichtigt werden. Während die bislang genannten Studien sich dem Essay als literarischer Gattung widmen, haben Wolfgang Müller-Funk und Christian Schärf das gattungsindifferente oder gattungssprengende Phänomen Essayismus untersucht, das sie – aus einer produktionsästhetischen Perspektive – als eine Haltung oder ein kritisches Ethos des Verfassers verstehen. Wie Müller-Funk in seiner Studie Erfahrung und Experiment. Studien zu Theorie und Geschichte des Essayismus (1995) am Beispiel der Aphorismen Georg Christoph Lichtenbergs darlegt, ist der Essayismus historisch betrachtet eine Folgeerscheinung der anti-rationalistischen Selbstkritik der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und daher jünger als der Essay als Textform, dessen Bedeutung mit der Entstehung des Essayismus zurückgegangen sei.23 Zeichne sich der klassische neuzeitliche Essayismus durch einen Fortschrittsoptimismus und die affirmative Stellung zur Gesellschaft aus (hier dargestellt anhand von Lichtenberg und Novalis), entstehe der Essayismus der Moderne „vornehmlich negatorisch, aus der polemischen Abgrenzung von Kultur und Gesellschaft“.24 Nach Müller-Funk kulminiert diese Haltung in der Position Adornos, dessen Theorie der Entfremdung ebenso „totalitär“ sei wie die großen philosophischen Systeme, und dessen Selbstverständnis als der „letzte Essayist“ eine Überwindung der negatorischen Position und eine Neuverortung des Essayismus nötig gemacht 21
22 23 24
So weist Mark W. Roche in seiner Rezension zu Crossing Boundaries von 1989 darauf hin, dass neben der Einheitlichkeit in der Entwicklung essayistischen Schreibens auch die Brüche und Widersprüche in dieser Entwicklung stärkere Berücksichtigung finden müssten. Notwendig sei eine Rekonstruktion der „unity of unity and diversity“. Vgl. Mark W. Roche: McCarthy, John A. Crossing Boundaries: A Theory and History of Essay Writing in German, 1680‒1815 […]. In: German Quarterly 64/2 (1991), S. 245. McCarthy: Crossing Boundaries, S. 43. Vgl. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment, S. 134. Ebd., S. 16.
3. Forschungen zum Essay
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habe.25 Diese Neubestimmung, die Müller-Funk programmatisch vertritt, verstehe Essayismus als „Denken dritter Ordnung“, als „Szientologie“,26 die sich einerseits in der Tradition der romantischen Kritik an einer wissenschaftlich-systematischen Philosophie versteht und andererseits den aufklärerisch-kritischen Impuls auf die Wissenschaft selbst richtet.27 Dementsprechend diagnostiziert Müller-Funk eine zunehmende Essayisierung der Wissenschaften, die sich sowohl programmatisch als auch auf der Darstellungsebene äußere.28 Diesen Vorgang versteht Müller-Funk als neue Stufe eines Aufklärungs-Projektes. Entscheidend sei dabei das Verhältnis des Essayismus zum philosophischen System. Mit Rückgriff auf Lukács und Adorno weist Müller-Funk auf die Abhängigkeit des Essayismus vom System hin: Wollte man pointieren, so könnte man auch behaupten, daß sich das Verhältnis von System und Essay umgekehrt habe. Galt bis zum frühen Lukács, daß der Essay eine Vorlage zum System, der Entwurf die Vorstufe zum großen Wurf sei, so könnte man überspitzt sagen, daß das System zur Vorlage und Voraussetzung einer radikal essayistischen Denklage geworden ist, die um das Spiel von Konstruktion und Dekonstruktion weiß: die Systemiker sind – tendenziell – Essayisten geworden, und ob sich unser Gesellschafts,system‘ wirklich als ein solches nahtlos beschreiben läßt, bleibt zweifelhaft.29
Es ist auffällig, dass trotz der von Müller-Funk herausgearbeiteten Problematik der Position Adornos dessen Text Der Essay als Form (1958) in vielen deutschsprachigen Studien noch immer als Referenztext mit nahezu unumschränkter Autorität zitiert wird. Wenn Adornos Text als wissenschaftliche – das heißt um Objektivität bemühte – Analyse missverstanden wird, ignoriert der Leser, dass Adorno selbst bewusst die Form des Essays wählt, um sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Das Ergebnis seiner Reflexionen ist ein emphatischer, mit Ironie durchsetzter und sehr politischer Entwurf eines persönlichen Gattungsideals. Adorno begreift den Essay als eine Form des begrifflichen Denkens, deren Aufgabe es sei, die „Sache aufzuschließen“.30 In seinem Text zitiert er mehrmals aus Georg Lukács’ Über Wesen und Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper (1911). Er adaptiert für sein Gattungsverständnis vor allem Lukács’ Aussage, dass der Essay ausschließlich bereits kulturell Vorgeformtes behandle, also Begriffe, die jedoch – wie Lukács ausführt – „als unmittelbare Wirklichkeit, als sentimentales Erlebnis“ erfahren würden.31 Darüber hinaus unterscheiden sich Adornos und Lukács’ Konzeption jedoch wesentlich hinsichtlich der Funktionsbestimmung des Essays. Während Adorno in einer paradoxen Wendung die Darstellung des freien 25 26 27 28 29 30 31
Vgl. Müller-Funk: Erfahrung und Experiment, S. 242–244. Vgl. ebd., S. 277f. Vgl. ebd., S. 269–291. Vgl. ebd., S. 281. Ebd., S. 283. Vgl. Theodor W. Adorno: Der Essay als Form. In: Ders.: Noten zur Literatur II. Frankfurt a.M. 1997, S. 9–33, hier S. 13. Georg Lukács: Über Wesen und Form des Essays: Ein Brief an Leo Popper. In: Ders.: Die Seele und die Formen. Essays. Neuwied u. Berlin 1971, S. 7–31, hier S. 15.
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I. Einleitung
Denkens in seiner Funktionslosigkeit zur gesellschaftskritischen Funktion des Essays erhebt, betrachtet Lukács den Essay als eine Kunstform, deren ästhetische Gestaltung gerade den Wert der Gattung ausmache, da im Essay „die Form zum schicksalschaffenden Prinzip“ werde.32 Lukács’ Essay-Verständnis beruht auf der Darstellung der großen Persönlichkeit, des individuellen Schicksals und sieht im Essayisten die – auch von Müller-Funk angsprochene – „Sehnsucht nach dem System“ am Werk.33 Adorno hingegen grenzt die begriffliche Erkenntnis des Essays von der begriffslosen Erkenntnis der Kunst ab. Der Essay ist gemäß seiner Aufklärungskritik, die Aufklärung mit Systemdenken und damit letztlich – auf der Basis eines an der Geschichte des 20. Jahrhunderts geschulten, negativen Menschenbildes – mit der Herrschaft der instrumentellen Vernunft in allen Lebensbereichen identifiziert,34 gerade systemfeindlich und versteht Kritik nicht als Kunst-, sondern als Gesellschaftskritik. Als Form der „Unverantwortlichkeit“ zeichne sich essayistisches Denken dadurch aus, dass es sich weder „in der Verantwortung gegenüber dem Bestehenden verbraucht“ – also sich nicht, auch nicht für den ‚guten Zweck‘, funktionalisieren lasse –,35 noch sich zum Instrument des „etablierten Bewusstseins“ machen und damit ideologisch vereinnahmen lasse.36 In seiner Unverantwortlichkeit komme daher letztlich eine besondere ethische Verantwortung zum Ausdruck: Angesichts der Erfahrung der überwältigenden Macht des Bestehenden könne der einzelne Schriftsteller an die Möglichkeit einer Aufklärung, die mit der Erziehung zur Autonomie des Ichs gleichgesetzt wird, nicht mehr glauben. Ihm bleibe es nur, aus der Position der Opposition heraus, in der Form essayistischer „Ketzerei“,37 seine Ohnmacht zu artikulieren. Diese Erziehung des „Madig-Machens“ des Bestehenden ist nach Adorno Ausdruck der Ortlosigkeit der Kritik innerhalb ideologischer Systeme.38 Dass dieses Essay-Verständnis sehr stark zeitgeschichtlich geprägt ist, liegt auf der Hand. Eine wissenschaftliche Adaption von Elementen aus Adornos Argumentation ist daher nur dann möglich, wenn man genau angibt, wie man sich zu den zentralen Prämissen des Essays positioniert. Schärf untersucht in seiner Monographie Geschichte des Essays. Von Montaigne bis Adorno (1999) das genealogische Verhältnis der Textform Essay zur geistigen Haltung des Essayismus. Seiner Ansicht nach entsteht der Essayismus im „Übergang zur Hochmoderne“ und wird von der Textform Essay unabhängig.39 Durch das Auftreten essayistischer Elemente auch in anderen literarischen Gattun-
32 33 34 35 36 37 38 39
Lukács: Wesen und Form des Essays, S. 16. Ebd., S. 30. Vgl. Horkheimer u. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 92. Adorno: Essay, S. 13. Vgl. ebd., S. 13. Vgl. ebd., S. 33. Vgl. ebd. Vgl. Schärf: Geschichte des Essays, S. 10.
3. Forschungen zum Essay
43
gen sei ein entscheidender Beitrag zur Überwindung der Regelpoetiken und zur Auflösung von Gattungsgrenzen überhaupt geleistet worden.40 Der historische Anspruch von Schärfs Studie besteht darin, anhand bedeutender Essayisten die jeweilige, kontextuell bedingte Interpretation und Realisation des Verhältnisses der Textform Essay zum Essayismus darzustellen. Während die Textform Essay seit Montaigne und Bacon bestehe und auch in deutscher Sprache bereits im 18. Jahrhundert Essays verfasst worden seien, ist nach Schärf jedoch erst Friedrich Schlegel der erste tatsächliche deutsche Essayist, also ein Schriftsteller, der die essayistische Lebenshaltung vollständig verkörpere.41 Lessing hingegen verdiene den Namen eines Essayisten nicht wirklich, da seine stark rhetorisch überformte Sprache und sein Mangel an Skeptizismus mit dem Essayismus nicht kompatibel seien.42 Inhaltlich und formal kommt der Essayismus nach Schärf als das „Sprachund Gedankenexperimentelle“ zur Darstellung.43 Als zentrale Kennzeichen sowohl des Essays als auch des Essayismus benennt Schärf einen „utopischen“ und einen „ästhetischen“ Impuls.44 Utopisch sei die produktionsästhetische Funktion von Essay und Essayismus, die „Selbstbehauptung des Subjekts im Kontext seines Wissens“,45 gegründet auf einen „genuin neuzeitlichen Skeptizismus“.46 Essay und Essayismus könnten dieser Funktion nur gerecht werden, indem sie „aus dem gedachten Gedanken einen ästhetischen Gegenstand“ machten.47 Der klassische Essay bildet sich nach Schärf erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus (während McCarthy ihn in der Aufklärung verortet). Zwischen 1830 und 1900 seien vorzugsweise populärwissenschaftliche Abhandlungen von geisteswissenschaftlichen Fachgelehrten veröffentlicht worden. Im Zuge des Historismus komme es zu einem Auseinandertreten von Essay und Essayismus: Der „klassische Essay“ richtete sich in dieser Phase unverkennbar nach den Bedürfnissen des Marktes; zudem war er vor allem darin klassisch zu nennen, daß er dem Zug zur stilisierten Klassizität, der sich an Goethe und Schiller ausrichtete, widerstandslos nachgab.48
Erst das Erscheinen des Essayismus bei Nietzsche führe Essay und Essayismus wirklich zusammen, denn Nietzsche konzipiere den Essay als „primäre Sprachschöpfung“.49 Da Schärf hier eindeutig ein persönliches Ideal in der Ausformung des Essays ansetzt, ist seine Darstellung des Essays im 18. und frühen 19. Jahrhundert dementsprechend auf Nietzsche hin ausgerichtet. Die Weiterentwicklung 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49
Vgl. Schärf: Geschichte des Essays, S. 37. Vgl. ebd., S. 107–129. Vgl. ebd., S. 109f. Vgl. ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 17. Ebd., S. 109. Ebd., S. 23. Ebd., S. 143. Vgl. ebd., S. 163.
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I. Einleitung
des Essays bis in die Gegenwart hinein wird dann als Verfallserscheinung dargestellt, da der Essayismus der Gegenwart auf die „vollständige Auslöschung des Subjekts“ hin ausgerichtet sei (wobei Schärf mit dem Ausdruck Subjekt offensichtlich die Idee des autonomen Individuums bezeichnet).50 Die inflationäre Ausbreitung des Essayismus als einer „Unterhaltungsschriftstellerei“ habe letztlich sein utopisches Potenzial in Vergessenheit geraten lassen: Was als Durchbruch zum totalen Essayismus im gegenwärtigen Kulturzustand erscheint, ist gleichbedeutend mit der radikalen Destruktion des Essays, wie er über vierhundert Jahre gewachsen war.51
Obgleich Schärf in seiner Studie historisch-systematisch bedeutende und sehr heterogene Konzeptionen des Essays differenziert darstellt, macht er von Anfang an deutlich, dass für sein Verständnis des Essays nur diejenigen Ausdifferenzierungen der Gattung relevant sind, in denen die Textform und sein Verständnis einer essayistischen Haltung zur Deckung kommen. Er geht dabei von der Unmöglichkeit aus, den Essay gattungsgeschichtlich zu untersuchen, da die essayistische Haltung „das Schematische und Klassifikatorische als den kontraproduktiven Endpunkt des Schreibens überhaupt begreift“.52 Eine solche Absage an die Gattungsgeschichte verschiebt jedoch das klassifizierende Vorgehen lediglich von der Ebene der Gattung auf die Ebene der Haltung. Eng verbunden mit der Problematik eines letztlich unzulässigen Gelungenheitskriteriums bei der Zuordnung eines Textes zur ahistorischen Textgruppe oder zu einem historischen Genre ist auch die Frage, ob es sich beim Essay primär um eine Kunstform oder eine philosophische Textsorte handelt. Diese Frage ist, wie aufzuzeigen sein wird, bereits im 18. Jahrhundert ein Topos in der Auseinandersetzung mit dem Essay. Die neuere Forschungsliteratur bevorzugt die Einschätzung der Essayistik als einer eigenständigen, hybriden Diskursformation, deren Funktion es sei, Brücken zwischen Spezialdiskursen zu schlagen. Auch McCarthy bringt diese Sichtweise bereits durch den Titel seiner Studie Crossing Boundaries zum Ausdruck. Der Ansatz, Essay-Forschung als Essayismus-Forschung zu betreiben, ist von Peter V. Zima in seiner Untersuchung Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne (2012) fortgeführt worden.53 Mit dem essayistischen Schreiben in deutscher Sprache und seiner Geschichte haben sich zuletzt Mirko-Alexander Kahre in seiner Dissertation „Ein in die Zeit gehängtes Netz“. Der Essay als glaubwürdige Form der Moderne (2002) und Georg Stanitzek in seiner Studie Essay – BRD (2011) beschäftigt, wobei der 50 51 52 53
Vgl. Schärf: Geschichte des Essays, S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 19. Vgl. Peter V. Zima: Essay/Essayismus. Zum theoretischen Potenzial des Essays: Von Montaigne bis zur Postmoderne. Würzburg 2012.
3. Forschungen zum Essay
45
Schwerpunkt auf dem Gegenwartsessay liegt. Beide Autoren kommentieren die Fokussierung der Literaturwissenschaft und der literarischen Öffentlichkeit auf den Essayismus sehr kritisch.54 So stellt Stanitzek etwa fest: „Mittlerweile kann man sagen, dass sich das literaturwissenschaftliche Interesse am Essay in diese Obsession mit dem Essayismus geradezu aufgelöst hat.“55 Angesichts der bereits genannten historischen Bemühungen ist diese These glücklicherweise nicht mehr ganz zutreffend. Auch Stanitzeks Behauptung einer theoretischen und methodischen Zurückgebliebenheit der Essayforschung erscheint mit Blick auf das breite Spektrum methodischer Ansätze bei der Untersuchung des Essays doch etwas hart.56 Sowohl auf Kahre als auch auf Stanitzek trifft zu, dass sie den Essay im Hinblick auf die Frage untersuchen, inwiefern essayistisches Schreiben die mediale Bedingtheit von Wirklichkeit reflektiere. Nach Kahre macht der Essay „textuell die Wahrnehmungs- und Denkmuster des modernen Menschen als kulturell geformte“ transparent,57 eine These, die – als Frage nach dem Modus dieses Verfahrens formuliert – die Analyse der Aufklärungsessayistik als Selbsttechnik anleiten kann.
4. Zum Aufbau dieser Untersuchung Die Etablierungsphase einer deutschsprachigen Essayistik fällt in den Zeitraum, in dem Foucault in Die Ordnung der Dinge (1966) den Übergang von der Episteme der Repräsentation zur modernen Episteme (beziehungsweise zur Episteme des Menschen) verortet und als radikalen Bruch beschrieben hat. Die Essayistik der Aufklärung in ihrer Funktion als Selbsttechnik organisiert ihr Wissen entsprechend diesen epistemischen Voraussetzungen und bildet ihnen korrespondierende Subjektformen. Allerdings ereignet sich in den Transformationen der Selbsttechniken kein umfassender Bruch. Die Neuordnungen des Wissens in der Essayistik lassen sich stattdessen angemessener mit Reckwitz’ Ansatz als eine Serie sukzessiver Umwertungen beschreiben. Brüche manifestieren sich im einzelnen Essay als Verstehensbarrieren zwischen den Wissensordnungen. 54
55 56 57
Kahre setzt sich einleitend mit Peter Sloterdijks Rede Essayismus in unserer Zeit auseinander, die Sloterdijk 1993, anlässlich seiner Entgegennahme des Ernst-Robert-Curtius-Preises für Essayistik, gehalten hat. Zwar ist es zutreffend, dass Sloterdijk hier eine elitäre Konzeption des Essayisten entwirft, der als intellektueller Pionier und Lehrer der Öffentlichkeit vorgestellt wird, doch spricht Sloterdijk dem Essayisten keineswegs den von Kahre attestierten „monologischen Herrschaftsanspruch“ zu (vgl. Kahre: Essay als glaubwürdige Form, S. 7). Sloterdijk geht es vielmehr um die Beschreibung einer Medienrevolution und die Frage, inwiefern und von wem Informationsfluten überhaupt noch in sinnvolles und lebendiges Wissen umgewandelt werden können. Vgl. Peter Sloterdijk: Essayismus in unserer Zeit. In: Ders.: Medien-Zeit. Drei gegenwartsdiagnostische Versuche. Stuttgart 21994, S. 43–64. Stanitzek: Essay – BRD, S. 18. Vgl. ebd. Kahre: Essay als glaubwürdige Form, S. 41.
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I. Einleitung
Der Analyseteil dieser Untersuchung besteht aus den Kapiteln II, III und IV. Kapitel II behandelt die Anfänge einer deutschsprachigen Essayistik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Vorbereitend werden zunächst die Selbsttechniken in den Essaysammlungen von Bacon und Montaigne dargestellt. Bacons therapeutische Selbsttechnik und Montaignes Selbstästhetik stellen gegenläufige Ansätze dar, deren Bedeutung für die frühe Aufklärung nachvollzogen werden muss. Ein Überblick macht deutlich, wie der Essay in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts – in Auseinandersetzung mit Bacon und Montaigne – von englischen und französischen Essayisten neu konzipiert wird. Anhand der Konzeptionen von Joseph Addison, Nicolas Charles Joseph Trublet und Shaftesbury kann gezeigt werden, dass der Aufklärungsessay als moralistischer Interdiskurs entworfen wird, der bei der Herausbildung einer bürgerlichen literarischen Öffentlichkeit die Funktion einer therapeutischen Selbsttechnik erfüllt. Unter dem Paradigma einer Wahrheit der „gesunden Vernunft“ entwickelt die Essayistik ein repräsentatives essayistisches Ich, durch das diese therapeutische Selbsttechnik vollzogen wird. Da die früheste deutschsprachige Essayistik in den Moralischen Wochenschriften in Erscheinung tritt, werden in Kapitel II exemplarisch die Wochenschriften Die Discourse der Mahlern und Der Gesellige untersucht. Im Vordergrund steht die Frage, welche Aspekte der neu eröffneten Gattungsdiskussion in diese Texte übernommen werden, aber auch wie die Selbsttechniken verändert und auf das deutschsprachige Publikum zugeschnitten werden. Zu klären ist dabei insbesondere das Verhältnis von Essayistik und Erbauungsliteratur. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer Untersuchung der Essayistik Christiana Mariana von Zieglers, einer Leipziger Autorin, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in zwei Textsammlungen Essays publiziert. Da die Essayistik einer Frau für diese Zeit sehr ungewöhnlich ist, kann eine Untersuchung ihrer Texte verdeutlichen, welche Möglicheiten und Grenzen den Essay als moralistischen Interdiskurs und sein repräsentatives essayistisches Ich in der frühen Aufklärung auszeichnen. Kapitel III befasst sich mit der Veränderung der deutschsprachigen Essayistik im Zuge der Entstehung eines ästhetischen Wahrheitsbegriffs ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Entstehung der Ästhetik hat eine Aufwertung der Selbstästhetik nach dem Vorbild Montaignes zur Folge, deren Auswirkungen in diesem Kapitel nachgegangen wird. Nach einer Besprechung der Paratexte, welche die erste deutschsprachige Montaigne-Übersetzung von 1753/54 begleiten, rückt ein frühes Beispiel der entstehenden anthropologischen Essayistik ins Blickfeld. Friedrich Carl Casimir von Creuz setzt sich in seinem Versuch über die Seele kritisch mit dem französischen Materialismus, vor allem mit La Mettrie, auseinander und übernimmt dabei das experimentelle essayistische Ich, das La Mettrie in seinen Schriften unter umgekehrten Vorzeichen einsetzt. Abschließend macht eine Rezension Herders deutlich, welchen Einfluss Creuz mit seiner Selbstästhetik auf die Essayistik der Genieästhetik ausübt.
4. Aufbau dieser Untersuchung
47
Um diese genieästhetisch geprägte Essayistik des deutschen Sturm und Drang geht es in Kapitel IV. Hier wird gezeigt, dass die Essayistik auf der Basis der Autonomieästhetik eine radikale ästhetische Subjektivität hervorbringt, die über ein exemplarisches essayistisches Ich vermittelt werden soll. Anhand von Essays dreier Protagonisten des Sturm und Drang, Goethe, Herder und Lenz, wird die konkrete Gestaltung dieser exemplarischen Subjektivität in ihrer individuellen Gebrochenheit nachvollzogen. Kapitel V beschließt die Untersuchung, indem es die Kontinuität einer anthropologischen Essayistik als experimenteller Selbstästhetik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts deutlich macht. Das experimentelle essayistische Ich, das nun in seiner gesellschaftlichen Dimension betrachtet und verstärkt durch ein kollektives Wir ersetzt wird, findet sich in Essays von Wieland und Georg Forster. Auch die zweite deutschsprachige Montaigne-Übersetzung von 1793–95 wird hinsichtlich ihrer Bindung an die zeitgenössische Essayistik befragt. Das wirkungsmächtige Konzept der Popularität oder der Popularphilosophie um 1800 steht am Ende der Untersuchung des Essays der Aufklärung. In welchem Verhältnis steht es zur Funktion des Aufklärungsessays als Selbsttechnik? Diese Frage kann anhand einer Analyse der Selbsttechnik Christian Garves in seinen Versuchen beantwortet werden. Garves Betonung der empirischen Basis seiner Essayistik schlägt den Bogen zurück zur Essay-Konzeption des frühen 18. Jahrhunderts bei Addison. Ein Ausblick geht schließlich der Frage nach, welche Faktoren den Niedergang der Aufklärungsessayistik in ihrer Funktion als Selbsttechnik beschleunigen und wie sich das Verhältnis von Essay, Essayist und literarischer Öffentlichkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der frühromantischen Essayistik und im Kontext der Politisierung des Journalismus beschreiben lässt.
II. Aufklärungsessayistik unter dem Paradigma der Wahrheit der „gesunden Vernunft“: das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik 1. Essayistik als selbstreflexive Praxis des frühbürgerlichen Moralsubjekts Zu Beginn des 18. Jahrhunderts besteht in Frankreich und England (und auch in Spanien und Italien) eine bereits mehr als hundertjährige Tradition essayistischer Reflexion, die mit den Essay-Sammlungen Montaignes und Bacons beginnt.1 Die deutschsprachige Literatur hat zu diesem Zeitpunkt nur wenig Vergleichbares aufzuweisen, denn die Reflexion über den Menschen und seine Lebenswelt fallen im 17. Jahrhundert in den Zuständigkeitsbereich der theologischen Ethik und der Erbauungsliteratur.2 Der Beginn der Herausbildung einer bürgerlichen Subjektkultur
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Zur Geschichte der nationalsprachlichen europäischen Essayistik in der Frühen Neuzeit vgl. zum Beispiel für England Scott Black: Of Essays and Reading in Early Modern Britain. Basingstoke, Hampshire u. New York 2006 oder Ted-Larry Pebworth: Not Being, But Passing: Defining the Early English Essay. In: Studies in the Literary Imagination 10/2 (1977), S. 17– 27. Die französische Entwicklung wird dargestellt von Pierre Glaudes u. Jean-François Louette: L’Essai. Paris 22011. Für Spanien vgl. die Anthologie von Jesús Gómez (Hg.): El ensayo español. Volumen 1. Los orígenes: Siglos XV a XVII. Barcelona 1996, die bereits spanische Essays vor Montaigne identifiziert, ohne deshalb Montaigne die Gattungsbegründung abzusprechen. Einige Hinweise für die italienische Entwicklung gibt Maria Ferrecchia: Il saggio come forma letteraria. Lecce 2000. Für England, Frankreich, Deutschland und Spanien sowie für Amerika und zahlreiche weitere europäische und asiatische Länder finden sich Artikel in: Chevalier, Encyclopedia of the Essay. Häufig irreführend ist leider: Jamil George Barcha: Der Essay und seine Entwicklung im deutschsprachigen Raum: Ein geistesgeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Überblick. In: Oxford German Studies 32 (2003), S. 185–213. Internationale Beispiele für die frühesten literarischen Erzeugnisse, die als Essay verstanden werden können – angefangen bei den Sumerern – gibt John D’Agata in seiner Anthologie: The Lost Origins of the Essay. Minnesota 2009. Auf die Vorläufer der Gattung in Antike und Renaissance verweist Peter M. Schon: Vorformen des Essays in Antike und Humanismus. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der Essais von Montaigne. Wiesbaden 1954. Zeugnis davon legt beispielsweise eine moraltheologische Ausdeutung der Essais Montaignes ab: Unter dem Titel Christ-Fürstlicher Rosen-Lilien- und Myrrhen-Strauß verfasst der Pfarrer Johann Christoph Salbach 1671 eine erbauliche Meditation über Sentenzen Montaignes und des 1656 verstorbenen Bischofs von Exeter, Joseph Hall. Von dem Ursprungstext der Essais bleibt dabei kaum noch etwas eindeutig identifizierbar. Vgl. Johann Christoph Salbach: Christ-Fürstlicher Rosen-Lilien- und Myrrhen-Strauß/Das ist: Allerley Geistreiche/tieffsinnige und herzliche Gedancken/teils in Frantzösischer Spraach durch de la Montaigne, theils in Englischer durch Joseph Hallen/Anfänglich beschrieben/und nun auß Hohem-Fürstl. Befehl verteutscher [!]/auch mit Summarien und einem Registerlein vermehret durch Joh. C. Salbachen. Zweybrücken: Quantz 1671. Beispiele deutschsprachiger Moralistik im 16. und 17. Jahrhundert belegen Sylvia Brockstieger und Cornelia Rémi: Vgl. Sylvia Brockstieger: Spielarten moralistischer Prosa im 16. Jahrhundert – Die Rezeption Antonio de Guevaras in München und Straßburg. In: Volker Kapp u. Dorothea Scholl (Hg.): Literatur und Moral. Berlin 2011, S. 123‒140; Cornelia Rémi: Moralis-
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
in der Frühaufklärung führt jedoch zu einer grundlegenden Neubestimmung der gesellschaftlichen Bedeutung des Essays und befördert auch die rasche Entstehung einer umfangreichen deutschsprachigen Essayistik in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Eine zentrale Grundlage für die Kultur der Selbstregierung, die das entstehende Bürgertum mit Teilen des Adels – besonders mit dem ebenfalls auf sparsames Wirtschaften bedachten niederen Landadel – teilt und an der es sich auch gerade in seinen essayistischen Schriften maßgeblich orientiert, ist der antike Stoizismus. Dieser erlebt nach Jochen Schmidt im 18. Jahrhundert als Neostoizismus besonders in Brandenburg-Preußen einen Höhepunkt.3 Schmidt spricht für das 18. Jahrhundert von einer an stoischen Mustern orientierten bürgerlichen „Tugendreaktion“ gegen die späthöfische Kultur,4 wobei das frühe 18. Jahrhundert besonders die stoische Moral rezipiere, während sich in den letzten Jahrzehnten die Aufmerksamkeit dem stoischen Pantheismus zuwende.5 Das naturrechtlich geprägte Menschenbild der Frühaufklärung, das die Grundlage der Subjektkultur in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts liefert, übernimmt aus der stoischen Philosophie den Glauben an die Vernünftigkeit und Perfektibilität des Menschen, die Gleichsetzung von Tugend und Glückseligkeit sowie die Vorstellung von der Philosophie als Arzneikunst der Seele. Die sittliche Verbesserung wird dabei immer primär als Selbstverbesserung und erst sekundär als didaktischer Auftrag verstanden. Das stoische Ideal des Weisen, wie es Seneca in seiner Schrift De Constantia Sapientis präsentiert, übt einen starken Einfluss auf das Philosophieverständnis der Frühaufklärung als „Weltweisheit“ aus und bestimmt deren christlich-rationale bis deistische Ausrichtung. Kern der stoischen Selbsttechnik, die für die frühaufklärerische Essayistik zentral wird, ist die Ausbildung der Fähigkeit des Einzelnen, auf der Basis ethischer Werte Dinge und Handlungen bewusst wählen oder abwählen zu können und sich auf diese Weise seiner Freiheit bewusst zu werden.6 Die deutschsprachige Essayistik als Praxis bürgerlicher Subjektivierung entsteht somit aus dem gelehrten Diskurs der Weltweisheit heraus, der „Wissenschaft der Glückseligkeit“,7 deren Schlüssel die Erkenntnis der Wahrheiten und ihre Verbrei-
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tische Lektürepotentiale in der deutschsprachigen Literatur der Frühen Neuzeit. Ebd., S. 157‒ 174. Vgl. Jochen Schmidt: Grundlagen, Kontinuität und geschichtlicher Wandel des Stoizismus. In Barbara Neymeyr u. Jochen Schmidt (Hg.): Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik. Eine Kulturgeschichte von der Antike bis zur Moderne. Berlin u. New York 2008, S. 3–133, hier S. 13. Wegbereiter des Neostoizismus ist der Renaissance-Humanist Justus Lipsius mit seiner Schrift De Constantia libri duo, Qui alloquium praecipuè continent in publicis malis, deutsch Von der Standhaftigkeit (1584). Vgl. Schmidt: Stoizismus, S. 108. Vgl. ebd., S. 127. So Maximilian Forschner: Oikeiosis. Die stoische Theorie der Selbstaneignung. In: Neymeyr u. Schmidt, Stoizismus 1, S. 169–191, hier S. 180. Diese Bestimmung geht von Gottfried Wilhelm Leibniz auf Christian Wolff über und wird von Johann Christoph Gottsched aufgegriffen. Vgl. Johann Christoph Gottsched: Erste Gründe der
1. Essayistik als selbstreflexive Praxis
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tung zu allgemeinem gesellschaftlichen Nutzen ist. Georg Friedrich Meier, seit 1748 selbst Inhaber eines Lehrstuhls der Weltweisheit in Halle, bezeichnet in seiner Abbildung eines wahren Weltweisen (1745) als Beschäftigungsgebiet des Philosophen allein die „edelsten“ und „fruchtbarsten“ Wahrheiten und stellt die Weltweisheit ins Zentrum der Wissenschaften: „Aus der Weltweisheit fliessen Ströme des Lichts, der Nahrung, Stärckung, und des Lebens, die sich bis in die entferntesten Gegenden des Reichs der Wahrheit ausbreiten.“8 Eine weitere Basis für die Entstehung der deutschsprachigen Essayistik als Selbsttechnik im frühen 18. Jahrhundert bildet der Sokratismus des 18. Jahrhunderts, also der transdisziplinäre Bezug auf die Gestalt des Athenischen Philosophen Sokrates als Leitbild einer lebenspraktischen Philosophie und auf seine Methode der vernünftigen Überführung eines Gegenübers im Gespräch. Benno Böhm, der auch Meiers Weltweisen als eine solche Sokrates-Figuration begreift, führt in seinen Studien zur Sokrates-Rezeption im 18. Jahrhundert aus, dass die Identifikation mit der Gestalt des Sokrates zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch eine direkte und bewusste Provokation der christlichen Orthodoxie bedeute, da Sokrates, der tugendhafte Heide, in Analogie zu Christus als Erlöser der Menschheit entworfen werde.9 Die intensive Auseinandersetzung mit Sokrates als Idealbild des vernünftigen Weisen gelange vor allem über die deistischen Schriften der englischen Freidenker wie Anthony Collins, John Toland und John Gilbert Cooper nach Deutschland und werde dort zum Beispiel von Christian Thomasius aufgenommen.10 Thomasius versteht Sokrates in Anlehnung an die von ihm übersetzte Schrift François Charpentiers La vie de Socrate (deutsch Das Ebenbild eines wahren und ohnpedantischen Philosophi, 1692) als Vertreter einer gesellschaftsnahen Hofphilosophie.11 In Sokrates verkörpert sich nach Gernot Böhme die Weltweis-
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gesammten Weltweisheit. 1. Teil. In: Christian Wolff. Gesammelte Werke. Materialien und Dokumente. Abt. 3, Bd. 20.1. Hg. v. J. Ecole, H. W. Arndt, R Theis, W. Schneiders u. S. Carboncini-Gavanelli. Hildesheim, Zürich u. New York 1983 [ND der Ausg. Leipzig: Breitkopf 7 1762 (1. Aufl. 1733)], S. 101. Georg Friedrich Meier: Abbildung eines wahren Weltweisen. In: Wolff: Gesammelte Werke, 3. Abt./Bd. 100. Hildesheim, Zürich u. New York 2007 [ND der Ausg. Halle: Hemmerde 1745], S. 43. Vgl. Benno Böhm: Sokrates im 18. Jahrhundert. Studien zum Werdegange des modernen Persönlichkeitsbewusstseins. Neumünster 21966. Vgl. Anthony Collins anonym publizierte Schrift A Discourse of free-thinking und seinen Bezug auf den Ausspruch des Erasmus von Rotterdam: „Sancte S O C R AT E S , ora pro nobis.“ Anthony Collins: A Discourse of free thinking. Hg. und eingeleitet v. Günter Gawlick. Mit einem Geleitwort von Julius Ebbinghaus. Stuttgart-Bad Cannstatt 1965 [ND der Ausg. London: (S.l.) 1713 mit deutschem Paralleltext], S. 125. Vgl. auch John Tolands Sokratische Gesellschaft in seinem Pantheisticon (1720) als Ideal einer vernünftigen menschlichen Gemeinschaft sowie John Gilbert Coopers panegyrische Biographie The Life of Socrates (1749). Diese Texthinweise finden sich bei Böhm: Sokrates, S. 77–80. Im zehnten Kapitel wird Sokrates als Verkörperung idealer (staatsbürgerlicher) Subjektivität beschrieben: „Er [Sokrates, N.H.] hat hauptsächlich sich auf die Betrachtung der menschlichen Tugenden geleget, und hat geglaubet, daß die wahre Gelahrtheit des Menschen in dem bestünde, daß er sich selbst erkennete, und sich seinen Freunden und seinem Vaterlande nütz-
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
heit als Suche nach der wahren, nicht über kirchliche Institutionen und Dogmen vermittelten Religion und als fortschreitende Formung des eigenen Selbst.12 Die systematische Philosophie Christian Wolffs bildet einen Gegenpol zu dieser sokratischen Philosophie des frühen 18. Jahrhunderts, doch gehen die Wolff’sche Philosophie und der Sokratismus in der Essayistik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch Verbindungen ein. Der sokratischen Weltweisheit, die den Ausgangspunkt der frühen deutschsprachigen Essayistik bildet, liegt ein christlich-rationaler Wahrheitsbegriff zugrunde, der in hierarchisch aufsteigender Folge die menschlichen Erkenntnismittel – sinnliche Wahrnehmung, Verstand, Vernunft (als Urteilskraft) und göttliche Offenbarung – in sich vereint. Wahrheit ist nach diesem Verständnis für das einzelne Subjekt und die Gesellschaft kein Abstraktum, sondern ein gemeinsamer Besitz konkreter, schriftlich fixierter Aussagewahrheiten, das – bereits in dem Zitat Meiers angesprochene – „Reich der Wahrheit“, das jeder Mensch durch seine Vernunft vergrößern kann. Wahrheit wird als immanent vorgestellt und in einer dezidiert ökonomischen Metaphorik als geistiges Kapital vorgestellt. Auf diese Weise wird das persönliche Wissen aufgewertet und der ‚Mehrwert‘, den der Einzelne aus der Arbeit an sich selbst zieht, dem finanziellen Besitz gleichgestellt. Unter den wirkungspsychologischen Strategien, die zur Verinnerlichung der vorgestellten Wahrheiten verhelfen sollen, lassen sich zwei Ansätze unterscheiden. Christian Wolffs moraldidaktisches Konzept der „lebendigen Erkenntnis“, das er in seinen Vernünfftigen Gedanken von der Menschen Thun und Lassen (1720) vorstellt, baut ausschließlich auf das Vergnügen, das die oberen Seelenvermögen aus der Erkenntnis der Wahrheit gewinnen könnten. Entscheidend sei, dass durch eine angemessene und ansprechende Ausschmückung der Texte mithilfe anschaulicher Exempel nicht nur der Verstand, sondern auch der Wille angesprochen werde, denn: „Die jenige Erkäntnis wird lebendig genennet, welche einen BewegungsGrund des Willens abgiebet, entweder das Gute zu vollbringen, oder das Böse zu lassen.“13 Dieser Auffassung steht die Wirkungsästhetik Jean-Baptiste Dubos’ (Re-
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lich machte. Diese Weißheit ist es, mit der er sich in der Welt hat sehen laßen. Sie ists, die ihn verhindert hat, daß er kein unnützlich Glied des Staats gewesen, und die in einer einigen Person zwey unterschiedene Qualitäten eines rechtschaffenen Philosophi und eines rechtschaffenen Unterthanen vereinigt. Ja sie ists endlich, die er sich bemühet hat mit seinen Freunden vertraut zu machen, indem er ihnen die wichtige Nothwendigkeit derselben zu erkennen gegeben, und ihnen die Verwegenheit und Thorheit dererjenigen gezeiget, die gar gerne von sich selbst nichts wissen wollen, damit sie nur andere Dinge, die außer und über ihnen seyn, suchen mögen.“ (François Charpentier: Das Ebenbild/Eines wahren und ohnpedantischen Philosophi,/Oder:/Das/Leben/Socratis,/Aus dem Frantzösischen/Des Herrn Charpentier/Ins Teutsche übersetzt/Von/Christian Thomas,/Jcto. Halle: Christoph Salfelds Witwe 21720, S. 24.) Vgl. Gernot Böhme: Der Typ Sokrates. Frankfurt a.M. 1992. Böhme geht auf die ethische Dimension der Lehre des Sokrates ein und setzt sie auch in Beziehung zum Thema der Selbstsorge bei Foucault. Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken Von der Menschen Thun und Lassen, Zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit, den Liebhabern der Wahrheit mitgetheilet. Halle: Renger 1720,
1. Essayistik als selbstreflexive Praxis
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flexions critiques sur la poësie et sur la peinture) gegenüber, deren erster Teil 1719 erscheint. Dubos geht davon aus, dass allein eine emotionale Affizierung des Lesers durch eine Ansprache der unteren Seelenvermögen, also der sinnlichen Empfindungen, möglich sei.14 Die progressive gelehrte Öffentlichkeit als Keimzelle der bürgerlichen literarischen Öffentlichkeit verbindet sich somit in ihrem Selbstverständnis als „Freunde der Wahrheit“.15 Ihr Handlungsideal einer aufgeklärten „gesunden“ Vernunft bezeichnet die Harmonie des Menschen mit dem natürlichen Gesetz. Es umfasst Glauben, Verstand und Gefühl, wobei die offenbarten Wahrheiten sowohl den Verstand in seinem Betätigungsfeld und den Methoden seiner Anwendung einschränken, als auch das Gefühl durch die Pflicht zur Mäßigung der Affekte kontrollieren. Dieses Subjektverständnis wird vor allem mithilfe der Moralischen Wochenschriften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts popularisiert. Im Folgenden soll nun diese erste Ausdifferenzierung der deutschsprachigen Essayistik in ihrer Funktion als Selbsttechnik vorgestellt werden. Dabei müssen zunächst die Neukonzeptionen des Essays durch Essayisten zu Beginn des 18. Jahrhunderts in der englischen und französischen Literatur betrachtet werden, da sie den Kontext auch für die deutschsprachige Essayistik darstellen, die als produktive Rezeption der fremdsprachigen Muster entsteht. In diesen Konzeptionen nimmt – gerade auch im Hinblick auf die Beschaffenheit der Selbsttechnik – die Auseinandersetzung mit den Essays Montaignes eine wichtige Rolle ein, da diese das Gegenbild, das Anti-Subjekt, der moralistischen Essayistik liefern. Vorbildhaft wirkt stattdessen die Essayistik Bacons, besonders sein programmatischer erster Essay Of Truth, der das gesamte 18. Jahrhundert hindurch zur Veranschaulichung – oder auch zur Bekämpfung – des moralischen Wahrheitssubjektes herangezogen wird. Dementsprechend sollen zunächst die unterschiedlichen Subjektrepräsentationen bei Montaigne und Bacon umrissen werden, um auf dieser Basis in einem nächsten Schritt die Neukonzeptionen der Essayistik in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zu erläutern.
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S. 100f. Bereits Christian Thomasius unterscheidet in seinem Kurzen Entwurf der Politischen Klugheit (lateinisch 1705, deutsch 1710) die „rathgebende Klugheit“ in eine „lebendige“ und eine „tote“: „Lebendig heißt sie / wenn sie sich auff eigene Erfahrung und Empfindung gründet.“ (Christian Thomasius: Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit. Vorwort von Werner Schneiders. Personen- und Sachregister von Kay Zenker. Hildesheim, Zürich u. New York 2002 [ND der Ausg. Frankfurt a.M.: Große 1707], S. 27f.) Vgl. Jean-Baptiste DuBos: Reflexions critiques sur la poësie et sur la peinture. Tl. 1. Paris: Mariette 1719. Die Widmung „den Freunden der Wahrheit“ findet sich – in leichten Abwandlungen – in zahlreichen populären philosophischen Schriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die sich an einer Vorstellung der Philosophie als vernünftiger Glückseligkeitslehre orientieren.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
2. Francis Bacons Essay Of Truth und der Rückgriff auf die stoische therapeutische Selbsttechnik Francis Bacons experimentelles Programm einer „großen Erneuerung der Gesellschaft durch Wissenschaft“,1 wie Wolfgang Krohn es bezeichnet hat, bezieht sich nicht nur auf die Etablierung einer scientific community und die Forcierung empirisch gewonnener, naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Es richtet sich in gleichem Maße an den Einzelnen, mit dem Ziel, die Modalität seiner Erfahrungen so zu verändern, dass er befähigt wird, die Wahrheit zu erkennen und in Handlung zu transformieren. Der menschliche Geist als unreiner Spiegel, der von seinen Vorurteilen befreit werden müsse, um die (göttliche) Wahrheit ungetrübt zu reflektieren, ist darum der zentrale Ansatzpunkt in Bacons Schriften. In seinen Essayes, die 1597, 1612 und 1625 in ständig erweiterter Form erscheinen, richtet sich die Absicht zur Erneuerung des menschlichen Geistes auf den konkreten Lebenszusammenhang des einzelnen Menschen. Bacon unterzieht das menschliche Leben mit dem Blick eines emotional nicht-affizierten und ohne Selektion Phänomene sammelnden induktiven Wissenschaftlers einer schonungslosen Inventur. Er verzichtet auf jegliche Idealisierung der behandelten Themenbereiche und geht stattdessen psychologisierend den tatsächlichen menschlichen Verhaltensmustern nach.2 Bacons Essay Of Truth, der zum ersten Mal 1625 publiziert wird, kann zu einem zentralen Referenztext der Essayistik der gesunden Vernunft werden, da er in der sentenziösen Präzision des Bacon’schen Stils das besondere und nicht unproblematische Verhältnis von Vernunft und Glauben in der Weltweisheit wie kein zweiter Essay auf den Punkt bringt.3 Der Text gliedert sich – wie man auch aus einem strukturierenden Kommentar innerhalb des Essays entnehmen kann – in zwei Teile: Der erste, drei Absätze umfassende Teil, beschäftigt sich mit der theologischen und der philosophischen Wahrheit, der zweite, einen Absatz umfassende Teil, mit der Wahrheit des gesellschaftlichen Handelns, des „civil business“.4 Die Konzeption der Selbsttechnik soll eine kurze Textanalyse verdeutlichen: Bereits die Eröffnung des Essays – auch im 18. Jahrhundert einer der bekanntesten Sätze aus Bacons Werk – weist durch ein Negativbeispiel auf seine Anlage 1
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Vgl. Wolfgang Krohn: Francis Bacons literarische Experimente zur Begründung der Experimentalwissenschaft. In: Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer (Hg.): „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I. 1580–1790. Göttingen 2009, S. 33–52, hier S. 37. Krohns Bezeichnung Bacons als „Gesellschaftsforscher“ (ebd., S. 52) ist auch auf dessen Essays übertragbar, in denen die (natur)wissenschaftliche Selbsterkenntnis des Einzelnen als Teil der Gesellschaft im Mittelpunkt steht. Einige Auskünfte über die sozialgeschichtlichen Dimension der Essays gibt Jörg Rublack: Widerspiegelung und Wirkung. Eine pragmatische Analyse der Essays von Francis Bacon. Heidelberg 1979. Francis Bacon: Of Truth. In: Brian Vickers (Hg.): Francis Bacon. The Major Works. Oxford u. New York 22008, S. 341–342. Vgl. ebd., S. 342.
2. Francis Bacons Essay Of Truth
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als therapeutische Selbsttechnik voraus: „‚What is Truth?‘ said jesting Pilate; and would not stay for an answer.“5 Dieser Bezug auf die Bibel (Joh. 18, 38), der in minimalistischer Verknappung die Verurteilung Jesu durch Pilatus in Szene setzt, führt personifizierend theologische Wahrheit und heidnischen Skeptizismus ein. Der folgende Satz kommentiert das Handeln des Pilatus und erläutert die Motivation, die diesem zugrunde liegt: „Certainly there be that delight in giddiness, and count it a bondage to fix a belief; affecting free-will in thinking, as well as in acting.“6 „Giddiness“, also „Leichtfertigkeit“, zeichnet Pilatus und mit ihm die antike Sekte der Skeptiker aus. Pilatus richtet seine Frage an Jesus nicht allein spöttisch oder verächtlich, sondern vor allem auch scherzend (Jester ist die zeitgenössische Bezeichnung für den Hofnarren). Diese Leichtfertigkeit, mit der Pilatus sich einer möglichen Antwort entzieht, erhebt die Freiheit des Denkens und Handelns über alle ethischen Einschränkungen und vermeidet jede Konfrontation mit der Selbstreflexion. Sie verkörpert das verantwortungslose Handeln und berührt damit die gesellschaftliche Dimension von Bacons Wahrheitsbegriff. Ex negativo verweist sie auf die Verantwortung des Weltweisen. Erscheinen christliche Wahrheit und Philosophie in der initialen Sequenz also zunächst als Antagonisten, so erweist sich direkt im Anschluss der produktive Beitrag des philosophischen – das heißt vernünftigen – Denkens zur Wahrheit der Offenbarung. Nicht der Skeptizismus sei der eigentliche Gegner christlicher Offenbarung (die Skeptiker werden als eine längst überlebte Sekte dargestellt), sondern die – als theologisches Apriori eingeführte – sündhafte Natur des Menschen, seine „natural though corrupt love of the lie itself“.7 Da der Mensch die Lüge selbst dann liebe, wenn sie ihm weder einen (finanziellen) Vorteil noch (poetisches) Vergnügen verschaffe, fragt der Essay, welche Mittel dennoch eine Verbesserung des Einzelnen ermöglichten. Zur Beantwortung dieser Frage greift das essayistische Ich auf die persönliche Erfahrung der Selbst- und Fremdbeobachtung zurück: „A mixture of a lie doth ever add pleasure.“8 Während die Wahrheit nur den Wert einer Perle erlangen könne, die im nackten Tageslicht am vorteilhaftesten erscheine, erreiche die mit der Wahrheit vermengte Lüge in der allgemeinen Wertschätzung den Preis eines Diamanten, der erst im Kerzenschein zur Geltung komme.9 In diesem Vergleich verbergen sich Bacons Ästhetik und ein Plädoyer für den Wert der Poesie: Während die Philosophie (hier symbolisiert durch die Perle) nur wenigen Menschen Vergnügen schenken kann, vermag es allein die Poesie, die Menschen durch die Lüge zu fesseln und sie auf diese Weise auch mit der Wahrheit in Kontakt zu bringen. Die Lüge ist in diesem Fall nach Bacon nicht schädlich, da sie den Geist des Menschen nur vorübergehend erfülle („the lie that passeth through the 5 6 7 8 9
Bacon: Of Truth, S. 341. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
mind“10), ihre Geltung also an die Dauer der Fiktion gebunden sei. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die kritische Feststellung des essayistischen Ichs, dass die Wahrheit, wenn sie einmal gefunden sei, die Gedanken fessele: „[W]hen it [truth, N.H.] is found it imposeth upon men’s thoughts.“11 Diese Aussage relativiert durch einen Perspektivenwechsel die voran gegangene Verurteilung des Skeptikers Pilatus: Wenn dieser sich vor der Festlegung auf eine endgültige Wahrheit scheue, so geschehe das nicht nur aus fehlender moralischer Festigkeit oder geistiger Tiefe. Die christliche Wahrheit ist in der Tat eine Fessel, da sie bestimmte Gedanken verbietet. Die Bereitschaft zur asketischen Beschränkung und Selbstkontrolle des Denkens ist somit eine notwendige Bedingung des christlichrationalen Wahrheitsverständnisses. Die Poesie hingegen gestattet es dem Denken, in Bewegung zu bleiben, da sie die Wahrheit aus immer neuen Perspektiven zeigen kann („in varied lights“12). Der Widerspruch zwischen Ideal und Erfahrungswirklichkeit bleibt auch im Folgenden erhalten: Zwar seien die Suche nach der Wahrheit, ihre Kenntnis und ihr Genuss das eigentliche Gut der menschlichen Natur, doch könne der größte Teil der Menschheit ohne psychologisch notwendige Täuschungen nicht existieren. Nähme man den Menschen ihre Illusionen, dann würde sich der Geist vieler in „poor shrunken things“ verwandeln.13 Hieraus folgt aber auch die Erkenntnis, dass die Fiktion entscheidenden Anteil an der menschlichen Identitätsbildung hat. Da der Mench somit eine natürliche Affinität zur Fiktion besitzt, muss das Vergnügen, das die Lüge bereitet, stets in Konkurrenz zu dem Vergnügen durch Wahrheit stehen. Die meisten Menschen sind nach Bacons Ästhetik für die poetisch vermittelte Wahrheit zugänglicher. Um das Vergnügen durch (reine) Wahrheit aufzuwerten, übernimmt Bacon aus Lukrez’ epikureischer Schrift De rerum natura Motive des Abschnitts „Die Wonne des Weisen” im zweiten Buch. Er beschreibt die Kenntnis der Wahrheit als einen Zustand überlegener Entfernung von menschlichen Schwächen und als einen Augenblick harmonischer Einheit mit der Ordnung des Kosmos: „,[N]o pleasure is comparable to the standing upon the vantage ground of Truth‘ (a hill not to be commanded, and where the air is always clear and serene), ‚and to see the errors, and wanderings, and mists, and tempests, in the vale below‘; so always that this prospect be with pity, and not with swelling or pride.“14 Die beiden in dieses Anzi10 11 12 13 14
Bacon: Of Truth, S. 341. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 342. Zwar bezieht sich Bacon hier auf die Figur des epikureischen Weisen, doch unterscheidet sich diese nach Hadot nicht wesentlich von der Figur des stoischen Weisen, dessen Einstellung Hadot folgendermaßen beschreibt: „Für die Stoiker ist das Glück, das heißt die sittliche Handlung, die Tugend, stets und in jedem Augenblick vollkommen, es mangelt ihm an nichts, so wie der Kreis ein Kreis bleibt, ob er klein ist oder groß. Wie ein günstiger und passender Augenblick, eine günstige Gelegenheit, einen Moment darstellt, dessen Vollkom-
2. Francis Bacons Essay Of Truth
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tat eingeschobenen Kommentare des essayistischen Ichs – die Ermahnung zur Bescheidenheit einerseits und die Erhebung des Ichs auf einen absoluten Gesichtspunkt andererseits –, verdeutlichen die Ambivalenz des Konzeptes. „A hill not to be commanded“ versinnbildlicht die höchste Stufe der Erkenntnis, auf welcher der Mensch keiner irdischen Instanz mehr unterworfen ist. Die Unterwerfung unter die göttliche Wahrheit und die freiwillige Fesselung der Gedanken bewirken nach Bacon somit letztendlich eine größere Befreiung, da sie den Menschen über die irdische Realität erheben und Vorbedingung der Weltweisheit sind: „Certainly, it is heaven upon earth, to have a man’s mind move in charity, rest in providence, and turn upon the poles of truth.“15 Wahrhaftigkeit oder „clear and round dealing“ wird abschließend als das Ideal individuellen Handelns vorgestellt.16 Erst in dieser Sphäre, die sich nicht mehr mit der allgemeinen menschlichen Natur, sondern dem konkreten Handlungsspielraum befasst, findet eine direkte Verurteilung amoralischen Verhaltens statt. Während die menschliche Natur aus der distanzierten Haltung des Weltweisen lediglich beschrieben wird, ist der Bereich menschlicher Interaktion dem unmittelbaren Urteil ausgesetzt. Falschheit sei die größte Schande, die der Mensch auf sich laden könne, das Aussprechen einer Lüge eine direkte Beleidigung Gottes. Zum Abschluss des Textes wird eine Rahmung des Essays durch einen weiteren Bezug auf die Bibel hergestellt: Jesu Frage nach der Glaubensfestigkeit der Menschheit (Luk. 18, 8) wird zu einer Prophezeiung ihres Scheiterns gewendet: „[I]t being foretold that when Christ cometh, ‚he shall not find faith upon the earth‘.“17 Durch diese Umwandlung der Frage in eine Vorhersage erscheint der Bezug auf das Jüngste Gericht nicht als Drohung oder Appell, sondern als lakonische Bestätigung eines Menschenbildes, das bei Bacon noch pessimistisch ist. Zentrale Aspekte des Bacon’schen Essays sind auch für die moralistische Essayistik des 18. Jahrhunderts gültig: Der Bereich didaktischer Einflussnahme ist nicht der Glaube, sondern die Ethik. Die menschliche Natur wird durch die Auslegung der persönlichen Erfahrung des eigenen und fremden Handelns erforscht und differenziert beschrieben. Menschliche Fehler wie die Liebe zur Lüge werden nicht nur verurteilt, sondern hinsichtlich ihrer konkreten Auswirkungen graduell abgestuft. Der Mensch soll als vernünftiges Wesen zu unendlicher Perfektibilität befähigt sein. Das geistige Vergnügen an der Wahrheit muss dazu das Vergnügen an der Lüge (oder sinnlichen Täuschung) überwinden. Im Idealfall befinden sich christliche Wahrheit und Vernunfttätigkeit in einem ständigen Prozess gegenseiti-
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menheit nicht von seiner Dauer, sondern von seiner Qualität abhängt, von der Übereinstimmung, die zwischen der äußeren Situation und den eigenen Möglichkeiten besteht, so ist das Glück eben der Augenblick, wo der Mensch sich in vollkommener Übereinstimmung mit der Natur befindet.“ (Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 114.) Bacon: Of Truth, S. 342. Ebd. Ebd.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
ger Prüfung. Das essayistische Ich des Essays Of Truth tritt nicht direkt in Erscheinung. Es verbirgt sich in generalisierenden und passivischen Formulierungen (z.B.: „Doth any man doubt […]“ oder „it will be acknowledged“18). In anderen Essays verwendet Bacon das Pronomen „I“ gelegentlich und abwechselnd mit dem gemeinschaftlichen „we“. Das Ich seiner Essays erteilt Ratschläge und erfüllt eine repräsentative Funktion, da es sich auf eine mustergültige Weise an den vernünftigen Erfahrungswahrheiten ausrichtet. Der Aufbau des Bacon’schen Essays mit einem ersten, erfahrungsbezogenen Teil, der wissenschaftlichen Anspruch erhebt, und einem zweiten, anwendungsbezogenen Teil, der die gewonnenen Erkenntnisse auf den Einzelnen und sein Handeln anwendet, stellt eine Adaption der stoischen therapeutischen Selbsttechnik dar, wie sie sich zum Beispiel bei Marc Aurel findet.19 Dieser zweischrittige Vorgang wird für die Essayistik der Aufklärung zentrale Bedeutung erlangen, gerade dadurch, dass er die Einbindung jeglicher Art von Naturbeobachtung in den Prozess der Konstituierung als moralisches Wahrheitssubjekt ermöglicht.20 Auch Taylor hat ausgeführt, dass für die Stoiker die Physik die Grundlage ihrer Ethik bildet.21 Marc Aurel gibt in seiner Schrift Wege zu sich selbst genaue Anweisungen zur Befolgung dieser Methode: Von jedem Gegenstand, welcher in den Kreis deiner Vorstellungen fällt, bilde dir einen genauen bestimmten Begriff, sodaß du denselben nach seiner wirklichen Beschaffenheit unverhüllt, ganz und nach allen seinen Bestandteilen anschaulich erkennen, und ihn selbst sowohl, als auch die einzelnen Merkmale, aus denen er zusammengesetzt ist und in die er sich wieder zerlegen läßt, mit ihren eigentümlichen Namen zu bezeichnen vermögest. Denn nichts ist für die Weckung eines hohen Sinnes so förderlich als die Geschicklichkeit, jeden nach einer richtigen Methode zu untersuchen und ihn stets von der Seite ins Auge zu fassen, wo es uns zugleich einfällt, in welchem Zusammenhange er stehe, welchen Nutzen er gewähre, welchen Wert er für das Ganze, welchen für den einzelnen Menschen habe, als Bürger jenes höchsten Staates, zu dem sich die übrigen Staaten nur wie die einzelnen Häuser zur ganzen Ortschaft verhalten. Sprich bei dir selbst: Was ist denn das, was jetzt diese Vorstellung in mir erregt? Aus welchen
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Vgl. Bacon: Of Truth, S. 341 u. 342. Bacon stellt den Zusammenhang zur stoischen Selbsttechnik selbst her, wenn er für seine Definition des Essays auf die Briefe Senecas an Lucilius verweist. So schreibt er in seiner Widmung der Essays von 1612 an den Prinzen Henry von Wales: „To write just treatises requireth leisure in the writer, and leisure in the reader, and therefore are not so fit, neither in regard of your Highnessʼ princely affairs, nor in regard of my continual services; which is the cause that hath made me choose to write certain brief notes, set down rather significantly than curiously, which I have called Essays. The word is late, but the thing is ancient. For Seneca’s epistles to Lucilius, if one mark them well, are but Essays, that is, dispersed meditations, though conveyed in the form of epistles.” (Francis Bacon: The Essays. Mit einer Einleitung hg. v. John Pitcher. London 1985. Anhang, S. 239.) Das Verhältnis von Naturerkenntnis und Selbsttechnik in Marc Aurels Wege zu sich selbst erläutert Hadot, Philosophie als Lebensform, S. 69–82. Aufgabe der Selbsttechnik sei es, „eine ‚physikalische‘ (= vom Standpunkt der Natur aus gesehene) Beschreibung der menschlichen Realität zu geben“ (ebd., S. 74) und aus der Darstellung den sonst üblichen „Anthropomorphismus auszumerzen“ (vgl. ebd., S. 76). Dieses Verfahren wendet Bacon in seinen Essays an. Vgl. Taylor: Sources of the Self, S. 126.
2. Francis Bacons Essay Of Truth
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Teilen ist es zusammengesetzt? Wie lange kann es seiner Natur nach bestehen? Welche Tugend muß ich ihm gegenüber geltend machen?22
Aus diesen Ausführungen wird auch deutlich, welches Gegenprogramm Descartes nach Foucault mit seinem Discours de la Methode (1637) initiiert, wenn er dort – und in seinen späteren Meditationes de Prima Philosophia (1641) – die Erkenntnis von der richtigen wissenschaftlichen Methode textstrategisch in Anlehnung an die antiken Selbsttechniken als Prozess einer schrittweisen Umwälzung des eigenen Denkens inszeniert,23 um dann jedoch in der Ausführung der Regeln der Methode eben jenen zweiten Schritt der Selbstprüfung konsequent auszusparen. Die Verbindung von Erkenntnis und Ethik wird hier zum Zweck der Maximierung des Wissensgewinns gekappt.24 Die Subjektrepräsentation des Bacon’schen Essays ist für das frühe 18. Jahrhundert jedoch auch deshalb attraktiv, weil sie nicht nur das moraldidaktische Moment und das spannungsvolle Verhältnis von Vernunft und Glauben berücksichtigt, sondern auch, weil sie das Streben des Menschen nach Vergnügen so stark macht und als Teil der menschlichen Natur für berechtigt erklärt. Genuss der Produkte der Imagination und Genuss der durch Wahrheit gewonnenen Autonomie vereinen sich in Bacons Subjektrepräsentation und werden musterbildend für die Essayistik der Weltweisheit zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Sowohl Montaignes als auch Bacons Essays werden in Deutschland bereits im 17. Jahrhundert im französischen und englischen Original oder – im Fall Bacons – bevorzugt auch in der lateinischen Version, den Sermones Fideles, ethici, politici, öconomici: Sive interiora rerum (1641) gelesen und gehören zu einem verbindlichen Kanon moralphilosophischer Werke. Bacons Sermones Fideles werden 1654 von Johann Wilhelm von Stubenberg (dem „Unglückseligen“), einem Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, als Francisci Baconis Grafens von Verulam Getreue Reden, Die Sitten-, Regiments- und Hauslehre betreffend erstmals ins Deutsche übersetzt.25 Der Kupfertitel dieser Ausgabe belegt, dass Bacons Essays ent22 23
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Marc Aurel: Wege zu sich selbst. Aus dem Griechischen übers. v. Carl Cleß (1. Ausgabe 1866). Frankfurt a.M. 22011, S. 31f. Vgl. zum Aspekt der „Seelenleitung“ bei Descartes: Ulrich Nolte: Philosophische Exerzitien bei Descartes. Aufklärung zwischen Privatmysterium und Gesellschaftsentwurf. Würzburg 1995. Foucault beschreibt den (von ihm so genannten) „cartesianischen Moment“ folgendermaßen: „Jener Punkt der Erleuchtung, jener Punkt der Vollendung, jener Moment der Läuterung des Subjekts durch die ‚Rückwirkung‘ der erkannten Wahrheit auf es selbst, die sein Sein ergreift, durchfährt und läutert, all das darf es nicht mehr geben. […] Die Erkenntnis öffnet sich einfach auf ein unbegrenztes Fortschreiten, dessen Ende man nicht kennt und dessen Gewinn sich im Laufe der Geschichte lediglich in der instituierten Kumulierung von Wissen oder im psychologischen oder sozialen Gewinn darstellt, der sich daraus ziehen läßt, daß man schließlich die Wahrheit erlangt hat, wo man sich doch so großer Mühen unterzogen hat.“ (Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 31 u. S. 36f.) Vgl.: Francisci Baconis Grafens von Verulam Getreue Reden, Die Sitten-, Regiments- und Hauslehre betreffend. Nürnberg: Endter 1654. Bei dem Kupfertitel handelt es sich um eine
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
sprechend der Bacon-Rezeption im 17. und frühen 18. Jahrhundert als Teil des Programms eines umfassenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts verstanden werden (vgl. Abb. 1): Der Kupfertitel zeigt den Verfasser an einem Tisch, auf dem sich Buch und Stundenglas, die traditionellen Insignien des Philosophen, befinden. In der rechten Hand hält er ein Blatt Papier, auf dem sich eine seiner „Reden“, also einer der Essays, befindet. Während er spricht, weist er mit der linken Hand aufwärts zu einer Darstellung der Glücksgöttin Fortuna. Fortuna, die auf einer Erdkugel steht, wird mit kahlem Hinterkopf und einer langen, durch den Rückenwind nach vorne wehenden Stirnlocke dargestellt und trägt auf diese Weise auch ein Attribut des griechischen Gottes der günstigen Gelegenheit, Kairos (beziehungsweise der römischen Göttin Occasio). In den Händen hält sie ein Tuch als Segel vor sich, das ebenfalls durch den Rückenwind stark gebläht wird. Der Wind vertreibt die dichten Wolken im Hintergrund und bewegt die gesamte Gestalt aufwärts in den wolkenlosen Himmel einer ‚aufgeklärten‘ Zukunft. Auf der anderen Seite des Tisches, an dem Bacon steht, sitzt ein aufmerksam zuhörender Gelehrter, der sich durch seine Bekleidung ausweist. Ebenfalls anhand ihrer Bekleidung erkennbar sind ein hinter ihm stehender, lauschender Hofmann und etwas weiter im Hintergrund ein einfach gekleideter Mann, möglicherweise ein Handwerker oder Bauer. Der popularisierende, das heißt ständeübergreifende Charakter der christlich-rationalen Essayistik kündigt sich bereits in dieser Abbildung an.26
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spiegelverkehrte Version des Kupfers, das auch der lateinischen Ausgabe der Essays, den Sermones Fideles von 1641 vorangestellt ist. Die zweite deutschsprachige Übersetzung von Bacons Essays erscheint 1762 durch einen anonymen Übersetzer als: Franz Bacons, Großkanzlers von England, moralische, politische und ökonomische Versuche: nebst einigen andern Abhandlungen von ähnlichem Innhalt. Breslau, Thorn und Leipzig: Horn 1762. Ende des 18. Jahrhunderts erscheint eine weitere Übertragung der lateinischen Version: Fr. Baco’s von Verulam Unterhaltungen über verschiedene Gegenstände aus der Moral, Politik und Ökonomie. Aus dem Lateinischen übersezt, nebst einem kleinen Anhang. Tübingen: Heerbrandt 1797. In der lateinischen Version der Essays, die dieses Kupfer verwendet, wirkt es jedoch deplatziert, da diese Texte nur dem Gelehrten verständlich sein konnten. Möglicherweise wurde das Kupfer ursprünglich auch in einer englischen Version verwendet. In einer weiteren deutschsprachigen Übersetzung von Werken Bacons durch Friedrich von Stubenberg von 1654 findet sich ein ähnliches Kupfer, das Bacon in einer Landschaft zeigt und um ihn herum drei Personen versammelt, die ebenfalls als Hofmann, als Gelehrter und als Mann aus dem einfachen Volk zu deuten sind. Bacon weist hier mit einem Stab auf die Reflexion der Sonne in einem Gewässer. In einer anschließenden Ausdeutung des Kupfers durch Georg Philipp Harsdörffer (den „Spielenden“) wird die popularisierende Intention der Texte explizit gemacht. Dort heißt es: „Der Hof- und der Bauersmann / stehen in den grünen Auen / diese Spiegelflut zu schauen / und in ihr der Sonnsaffran. / Der Gelehrte tritt herbey / und begehret noch zu lernen: / wie der Sonnenstral von fernen / deut der Warheit Mahlerey.“ Francisci Baconi, Grafens von Verulamio, fürtrefflicher Staats- Vernunfft- und Sitten-Lehr-Schrifften. I. Von der Alten Weißheit. II. Etliche Einrathungen/aus den Sprüchen Salomonis. III. Die Farben (oder Kennzeichen) des Guten und Bösen. Übersetzet durch/Ein Mitglied der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft/den/Unglückseligen. Nürnberg: Endter 1654, fol. )( vj.
2. Francis Bacons Essay Of Truth
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Im 18. Jahrhundert werden Bacons Essays ungebrochen positiv aufgenommen. Erst um 1800 beginnt eine Abwertung seiner Werke, die auch die Essays mit einschließt. In der Essay-Forschung des 20. Jahrhunderts besteht eine Tendenz, Montaigne gegen Bacon auszuspielen. Die Klugheitslehren des kalten Staatsmannes Bacon werden dabei gegenüber der sympathischen Konversation des Privatmannes Montaigne abgewertet. Ein besonders deutliches Beispiel dieser Umwertung Bacons findet sich in der Dissertation Ludwig Schulte-Braucks Zur Geschichte des englischen Essays von Montaigne bis Cowley (1917). Schulte-Braucks berichtet, dass er durch ein literaturwissenschaftliches Seminar zum Essay bei Karl Viëtor und eine anschließende Seminararbeit zu seinem Thema gelangt sei. Seine Studie, die auch Montaigne-Adaptionen vor Bacon in England nachweist, stellt die englische Essayistik des 17. Jahrhunderts detailliert vor. Sie forciert das negative Bild Bacons, indem Schulte-Braucks Montaigne und Bacon einen angeblichen Nationalcharakter zuordnet. Montaigne besitze ein „romanisch lebendiges Temperament“, Bacon hingegen zeichne sich durch „germanisch schwerfällige Ruhe“ aus.27 Montaignes Schreibweise wird durch diese nationalstereotype Bewertung absolut gesetzt und Bacons Essayistik aus dem Korpus der Gattung ausgeschlossen: Seiner ganzen Veranlagung nach ist Bacon viel weniger zum Essayschreiben bestimmt als Montaigne. Zeichnet diesen eine natürliche Liebenswürdigkeit und feine Bescheidenheit in seinen Behauptungen aus, ein Zug, der dem Essay als der Form des Versuchs selber eigen ist, so tritt uns in Bacons Essays ein kaltes, würdevolles, ja herrisches Wesen entgegen, mit einer selbstsicheren, eingebildeten Gebärde, die uns stets in einer gewissen Entfernung hält.28
Dieser abschließende Hinweis auf die Wandlung der Bacon-Rezeption kann dazu beitragen, auch die fortschreitenden Umwertungen der durch Bacon und Montaigne repräsentierten Selbsttechniken in der Essayistik der Aufklärung zu verdeutlichen.
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Vgl. Ludwig Schulte-Braucks: Zur Geschichte des englischen Essays von Montaigne bis Cowley. Marburg (Univ. Diss.) 1917, S. 38. Ebd., S. 20.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
Abb. 1: Francisci Baconis Grafens von Verulam Getreue Reden (1654).
3. Michel de Montaignes Essais
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3. Michel de Montaignes Essais: eine Ästhetik des Selbst Montaignes essayistische Selbsttechnik wird an dieser Stelle erst im Anschluss an diejenige Bacons, also chronologisch betrachtet nicht korrekt behandelt. Der Grund dafür ist, dass Montaigne und seine Essais für die deutschsprachige Essayistik des frühen 18. Jahrhunderts hinsichtlich ihres Subjektverständnisses geradezu eine Gegenkonzeption darstellen, während Bacons Essayistik den Status der Mustergültigkeit erfüllt. Daher wird die literatur- und gattungsgeschichtliche Hierarchie unter den beiden ‚Erfindern‘ der Gattung Essay an dieser Stelle umgekehrt, um zu zeigen, dass nicht Montaigne eine Textsorte entwirft, die Bacon dann nachahmt, sondern dass vielmehr Montaignes Selbsttechnik von Anfang an so andersartig ist, dass sie im 17. und frühen 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Bereich nicht anschlussfähig ist. Bacon stellt die Anschlussfähigkeit der Gattung an das 17. Jahrhundert her, indem er auf einem christlich-rationalen Wahrheitsverständnis beharrt und seine Essays in die Tradition der Fürstenspiegel und Klugheitslehren stellt, also dem Erwartungshorizont der Zeit entspricht. Zugleich eröffnet sein radikal induktives Vorgehen hinsichtlich der Erfassung und Beschreibung natürlicher und gesellschaftlicher Vorgänge die Möglichkeit der produktiven Rezeption seiner Essayistik in der vom Wissenschaftsoptimismus getragenen Zeit der Früh- und Hochaufklärung. Ob Montaignes textuelles Verfahren in seinen dreibändigen Essais, die 1580 (Band 1 und 2) sowie 1588 (Band 3) erscheinen, überhaupt als Selbsttechnik gewertet werden kann, ist in der Forschung strittig. Nach Moser sind Montaignes Texte nicht Teil einer „ethopoetischen Praxis“, da Montaigne nicht versuche, unter bestimmten Vorgaben verändernd auf sein Selbst einzuwirken.1 Stattdessen versuche Montaigne, die bereits existente und sich in beständigem Wandel befindende Form seines eigenen Selbst durch einen möglichst authentischen Bericht schriftlich zu erfassen. Montaigne gehe dabei – anders als später Locke – von der Existenz eines natürlichen, eigenständigen Selbst (der „forme maistresse“) aus, die das Ergebnis einer frühkindlichen Prägung sei: Unter forme maistresse versteht Montaigne all jene charakterlichen Prägungen, die das Individuum erfahren hat, noch ehe es im Besitz einer ausgebildeten Vernunft war. Sie ist teils ein Produkt der fortune, teils ein Produkt der Erziehung, entzieht sich aber in jedem Fall der Kontrolle des betroffenen Individuums.2
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Vgl. Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 736. Speziell zu Montaignes essayistischer Schreibweise vgl. auch die weiterführenden Hinweise in Hans Peter Balmer: Montaigne und die Kunst der Frage. Grundzüge der Essais. Tübingen 2008; Georg Negwer: Formen des Denkens. Über den Essay. Berlin 2003; Hugo Friedrich: Montaigne. Tübingen u. Basel 31993; Wolf Eberhard Traeger: Aufbau und Gedankenführung in Montaignes Essays. Heidelberg 1961. Ebd., S. 739.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
Das natürliche Selbst zeige sich jedoch nicht direkt, sondern stets nur vermittelt über die Inhalte des kulturellen Gedächtnisses, die in Form von Zitaten und historischen Anekdoten im Essay präsent seien. Die Aneignung des Selbst (Moser spricht von „Applikation“3) über das kulturelle Gedächtnis müsse jedoch scheitern, da Montaigne den „Geltungsverlust der tradierten Wissensinhalte“ erfahre und ihm die einverleibten Texte stets in ihrer Eigenschaft als historische Artefakte bewusst blieben.4 Sowohl das erworbene Wissen als auch das gesuchte natürliche und individuelle Selbst blieben dem Subjekt Montaigne somit letztlich fremd,5 und der Versuch der Aneignung und Identitätsbildung führe in einen unabschließbaren Prozess der Selbstverfremdung: Das Schreiben der Essais ist ein solches Exerzitium der Selbstenteignung […]. Die fragmentarischen Selbsterprobungen schließen sich in dem Maße zu einer Einheit zusammen, in dem sie voneinander abweichen. Wie im Falle der antiken Überlieferung begründet die universale Bewegung der Abweichung einen prekären Zusammenhalt. Indem der Essayist sich immer wieder neu seiner selbst entfremdet, sich immer wieder neu vom Eigenen abstößt, verweist er auf sein Selbst, das den abwesenden Ursprung dieser zentrifugal wirkenden Kräfte markiert.6
Die radikale Andersartigkeit dieses Verfahrens im Vergleich etwa zur vernunftbasierten stoischen Selbsttechnik lässt es nach Moser nicht zu, von einer ethopoetischen Praxis zu sprechen: Es handele sich um eine grundlegend neue Form der Selbstdarstellung, die nicht intentional auf eine Selbstbeeinflussung ausgerichtet sei.7 Markus Rieger kommt in seiner Anwendung von Foucaults Konzept der Technologien des Selbst auf die Essais Montaignes zu einem anderen Ergebnis: Er erkennt in den drei Essay-Büchern einen Entwicklungsprozess hin zu einer Ästhetik des Selbst, die nicht nur beschreibend vorgehe, sondern auch gestaltend auf das Subjekt einwirke. Als Ausgangspunkt für die Abfassung der Essais und als eigentliche Motivation des gesamten Werkes sieht Rieger den Tod von Montaignes Freund Etienne de la Boëtie und dessen Verarbeitung. In der Freundschaftsbezie3 4 5 6
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Vgl. Moser: Buchgestützte Subjektivität, S. 739. Vgl. ebd., S. 738. Vgl. ebd., S. 740. Ebd., S. 741f. Auch Helmut Pfeiffer verweist in seiner Untersuchung zu Montaignes Verständnis von Subjektivität auf die Tendenz der Essais, die grundlegende Differenz zwischen Eigenem und Fremden aufzuheben. Dies komme besonders in Montaignes ständigem Rekurs auf sein schlechtes Gedächtnis zum Ausdruck, das im Rückblick – auch beim erneuten Lesen der eigenen Texte – das zweifelsfreie Wiedererkennen des Eigenen nicht mehr zulasse. Auf diese Weise würden die Texte als Artefakte selbst zu einem Teil von Montaignes „Selbstkultur“, da die Erfahrung des vormals Eigenen als nun Fremdes auf den Verfasser verändernd zurückwirke. Vgl. Helmut Pfeiffer: Montaignes Enteignungen. In: Reto Luzius Fetz, Roland Hagenbüchle u. Peter Schulz [Hg.]: Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Bd. 1. Berlin u. New York 1998, S. 641–670, hier S. 664. Montaignes Privat-Bibliothek werde somit zu einem „Ort der Metamorphose, einer Durchstreichung der Eigentumsansprüche an den Ergebnissen der Selbstkultur.“ (Ebd., S. 667.) Vgl. ebd., S. 739.
3. Michel de Montaignes Essais
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hung habe Montaigne sich selbst als stabiles Ich erfahren; diese Stabilität sei ihm durch den Tod de la Boëties verloren gegangen.8 In den frühen Essays des ersten und zweiten Buches versuche Montaigne zunächst, die Stabilität des Ichs durch extensive Lektüre antiker Texte, also mithilfe der kulturellen Überlieferung, herzustellen. Durch Ausrichtung auf vorbildliche Gestalten und ihr Leben suche er neuen Halt.9 Da die Suche nach „Invarianten in der äußeren Welt“ jedoch scheitere, wende sich Montaigne im dritten Buch der Suche „nach einem allgemeinen menschlichen Urbild“ zu.10 Auch Rieger verweist dabei auf das „leere Zentrum“ in der Selbsttechnik Montaignes,11 das es dem Verfasser aber gerade erst ermögliche, sich thematisch völlig frei zu entfalten und im Wiederlesen der Texte „die Ergebnisse und die Eigenheiten der eigenen Einbildungskraft endlich ungestört [zu] studieren“.12 Im Gegensatz zu Moser erkennt Rieger in den späten Essays ein eindeutiges Bestreben zur „Selbsttransformation“, eine „identitätsstiftende Bewegung“, womit das entscheidende Charakteristikum einer Selbsttechnik gegeben sei.13 Ebenfalls im Gegensatz zu Moser sieht Rieger hier eine Loslösung Montaignes von der antiken Tradition und die Herausbildung eines neuen, komplexen Identitätsbegriffs. Dieser beruhe gerade auf der Erkenntnis, wie schwierig es sei, eine tatsächliche Selbsttransformation zu erreichen: Auf diese Weise eröffnen die ‚Essais‘ zweierlei Perspektiven auf die Praxis der Selbsttransformation. Zum einen werden Fortschritte und erste Ergebnisse im Prozeß der Selbstbearbeitung durch den dokumentarischen Protokollstil der ‚Essais‘ detailgetreu abgebildet. Zum anderen wird aber auch der Blick auf die Gefährdungen und Hindernisse gelenkt, die diesem Vorhaben entgegenstehen. Die ‚Essais‘ werden so zum selbstreflexiven Text, denn neben der Darstellung der Selbsttransformation enthalten sie eben auch den Ansatz zu einer Gegenlektüre, die zum ersten Argumentationsstrang noch einmal Stellung bezieht und dessen Möglichkeiten und Grenzen kritisch ausleuchtet und kommentiert.14
In dieser Form einer metareflexiven Selbsttechnik können die Essais nach Rieger durchaus als Anleitung für den Leser betrachtet werden, die Ästhetik des Selbst, die Montaigne in Abgrenzung zu den antiken Selbsttechniken betreibt, nachzuahmen.
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Vgl. Markus Rieger: Ästhetik der Existenz? Eine Interpretation von Michel Foucaults Konzept der ‚Technologien des Selbst‘ anhand der ‚Essais‘ von Michel de Montaigne. New York u. Berlin 1997, S. 101. Vgl. ebd., S. 92. Ebd., S. 100. Vgl. ebd., S. 111. Ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 114. Auch Olivier Guerrier begreift die Essais als Selbsttechnik, als eine Verbindung von askesis und skepsis im Sinne Foucaults. Vgl. Olivier Guerrier: Essai et exercice. In: Pierre Glaudes (Hg.): L’Essai. Métamorphoses d’un genre. Toulouse 2002, S. 187‒200, hier S. 199. Rieger: Ästhetik der Existenz, S. 119f.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
In seinem Essay Du Repentir schildert Montaigne die Intention, die seinem textuellen Verfahren zugrunde liegt, am deutlichsten und in Abgrenzung sowohl von der stoischen Selbstaneignung als auch von der christlichen Selbstprüfung. Er weist beide Arten des Selbstbezuges, die Reue darüber, nicht dem stoischen Ideal des Weisen zu genügen, sowie die Reue angesichts der eigenen Sündhaftigkeit, von sich.15 Seine Selbstwahrnehmung gründet vielmehr auf der Erfahrung einer doppelten Fremdbestimmtheit: Zum einen sei er auf eine bestimmte Weise „geschaffen“ worden, auf die er keinen Einfluss habe und die sein gesamtes Denken und Handeln bestimme.16 Hierin drückt sich eine Erfahrung des Ichs als absolut statisch aus. Zugleich änderten sich seine Meinungen und Wahrnehmungen jedoch beständig auf eine ebenfalls nicht kontrollierbare Weise, sodass er sein Ich zugleich als absolut dynamisch wahrnimmt.17 Diese beiden Gegensätze muss Montaigne in seinen Essais zusammenbringen, und er tut dies, indem er ein experimentelles Ich entwirft, das sich durch eine kontinuierliche Metamorphose auszeichnet. So schreibt er: „Or les traits de ma peinture ne foruoyent point, quoy qu’ils se changent & diuersifient“; oder etwas später: „Tant y a que ie me contredits bien à l’aduenture, mais la verité, comme disoit Demades, ie ne la contredy point.“18 Die experimentelle Subjektivität basiert auf der paradoxen Dialektik von Statik und Dynamik und ist nur als momentanes Verhältnis beschreibbar. Durch die konzentrierte Beobachtung dieses Verhältnisses versucht Montaigne, sich ein gewisses Maß an Freiheit zur Selbstgestaltung zu erarbeiten. Zugleich sammelt er anthropologisches Wissen, das seine Essays ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einem Gegenstand produktiver Rezeption macht. Abschließen lässt sich die Betrachtung der Selbsttechniken Bacons und Montaignes mit einer vergleichenden Betrachtung Graham Goods, welche die zentralen Punkte – besonders den Gegensatz von vernünftiger Selbstaneignung bei Bacon und ästhetischer Selbstentwicklung bei Montaigne – einander gegenüberstellt: Montaigne’s essays focus on self-reflection, Bacon’s on self-improvement. Both see the self as changeable, but for Montaigne the changes are a process of self-unfolding, for Bacon of selfadaptation. Montaigne assumes the autonomy of the self, Bacon its relativity.19
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Vgl. Michel de Montaigne: Les Essais. Nach dem Exemplar von Bordeaux hg. v. Fortunat Strowski u. François Gebelin. 5 Teile in 3 Bänden. Bd. 2. Hildesheim u. New York 1981 [ND der Ausg. Bordeaux 1919], S. 32. Ebd., S. 20: „Les autres forment l’homme; ie le recite & en represente vn particulier bien mal formé, & lequel, si i’auoy à façonner de nouueau, ie ferois vrayement bien autre qu’il n’est. Mes-huy c’est fait.“ Ebd., S. 623: „Il faut accomoder mon histoire à l‘heure. Ie pourray tantost changer, non de fortune seulement, mais aussi d’intention. C’est un contrerolle de diuers & muables accidens & d’imaginations irresoluës &, quand il y eschet, contraires : soit que ie sois autre moymesme, soit que ie saisisse les subiects par autres circonstances & considerations.“ Ebd., S. 20 und 21. Graham Good: The Observing Self. Rediscovering the Essay. London u. New York 1988, S. 48.
4. Die Neubestimmung des Essays um 1700
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4. Die Neubestimmung des Essays um 1700 im Kontext der Frühaufklärung 4.1. Wegbereiter eines moralistischen Interdiskurses Eine neue Funktionsbestimmung der Essayistik zu Beginn des 18. Jahrhunderts wird durch René Descartes’ Meditationes de Prima Philosophia (1641) und John Locke’s Essay Concerning Human Understanding (1689) vorbereitet. Auch wenn diese Texte formal oder stilistisch nicht als Referenz der Essayisten im frühen 18. Jahrhundert fungieren, so sind sie doch insoweit von Bedeutung, als ihre Autoren in der Folge Bacons den neuen Typus des Selbstdenkers verkörpern, der seine Texte so einrichtet, dass der Erkenntnisprozess durch den Leser schrittweise nachvollzogen werden kann. So hält Descartes in der Vorrede seiner Meditationen fest, er wünsche sich solche Leser, die bereit seien, ernsthaft gemeinsam mit ihm nachzudenken („iis qui seriò mecum meditari“1). Locke setzt in seinem „Brief an den Leser“ den Prozess des freien Umherschweifens der Ideen beim Schreiben mit dem selbstdenkenden Nachvollzug dieser Ideenfolge in der Lektüre gleich.2 Auf diese Weise etablieren Descartes und Locke in ihren Texten auch die dialogische Kommunikationsstruktur, die für den Essay der Aufklärung essentiell wird. McCarthy hat in seiner Untersuchung zur Geschichte des deutschen Essays deutlich gemacht, dass die Essayistik der Frühaufklärung nicht nur auf einer produktiven Rezeption englischer und französischer Muster beruht, sondern dass das politische Philosophieverständnis bei Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian Thomasius ebenfalls einen direkten Einfluss auf ihre Entstehung hat. McCarthy macht besonders auf Leibniz’ Schrift Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben (1683) aufmerksam, dessen kulturkritische und rhetorische Eigenschaften als „dialectic hybrid of scientific tract and artistic tour de force“ er in einer Untersuchung der Essayistik bei Leibniz und Kant dargestellt hat.3 McCarthy zeigt, dass Leibniz in diesem Text bereits vor 1700 in deutscher Sprache eine Theorie des essayistischen Stils entwirft, die ein assoziatives, antisys-
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René Descartes: Meditationes de Prima Philosophia. Meditationen über die Erste Philosophie. Lateinisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Gerhart Schmidt. Stuttgart 2008, S. 48. Locke führt über die Verfertigung und die Lektüre seines Essays aus: „This, reader, is the entertainment of those, who let loose their own thoughts, and follow them in writing; which thou oughtest not to envy them, since they afford thee an opportunity of the like diversion, if thou wilt make use of thy own thoughts in reading.“ (John Locke: An Essay concerning Human Understanding. Hg. v. Roger Woolhouse. London 2004, S. 7.) Vgl. John A. McCarthy: The Philosopher as Essayist: Leibniz and Kant. In: Robert Ginsberg (Hg.): The Philosopher as Writer: The Eighteenth Century. Selinsgrove u.a. 1987, S. 48–74, hier S. 63. Vgl. auch McCarthy: Crossing Boundaries, S. 189.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
tematisches Verfahren der Erkenntnisgewinnung in Kombination mit einer ästhetischen Gestaltung der Argumentation betont.4 Leibniz regt in seiner Ermahnung das nationale Projekt einer deutschen Gesellschaft an, die sich besonders mit dem Verfassen von „allerhand nachdrückliche[n], nüzliche[n], auch annehmliche[n] Kernschrifften“ beschäftigen und diese dann dem Publikum zur kritischen Prüfung und Bildung zur Verfügung stellen solle.5 Er fordert als Programm einer deutschen Gesellschaft diejenigen Bemühungen ein, die später von den Herausgebern der Moralischen Wochenschriften eingelöst werden. Zur Stärkung der nationalen Identität müsse die Nachahmung der französischen Sprache und Sitten aufgegeben und eine eigenständige literarische Leistung erbracht werden, die dem Nationalcharakter entspreche: „Besser ist ein Original von einem Teutschen, als eine Copey von einem Franzosen seyn.“6 Besonders hervorzuheben ist hier, dass diese Leistung ausdrücklich nicht nur in der Poesie, sondern auch in den geistreichen und populären philosophischen Schriften erbracht werden soll, deren Lektüre als ein Mittel zur geistigen und seelischen Stärkung begriffen wird: „[U]nser teutsche Garten mus nicht nur anlachende Lilien und Rosen, sondern auch süße Apfel und gesunde Kräuter haben.“7 Damit dieses Mittel seine stärkende Wirkung entfalten könne, sollten die Wissenschaften sich zuerst von der lateinischen Sprache lösen und der deutschen Sprache zu einer neuen Differenziertheit des Ausdrucks verhelfen, da eine „wohlausgeübte Muttersprach wie ein rein polirtes Glas gleichsam die Scharffsichtigkeit des Gemüths befördert, und dem Verstand eine durchleuchtende Clarheit giebt“.8 Das durch Leibniz angesprochene potentielle Publikum entspricht genau der Zielgruppe der späteren Moralischen Wochenschriften, dem verständigen Laien, der sich nicht durch sein Geschlecht oder die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand, sondern durch seine geistigen Fähigkeiten auszeichnet: Können wir nun dieser Leute Zahl vermehren; die Lust und Liebe zu Weisheit und Tugend bey den Teutschen hefftiger machen, die Schlaffenden erwecken, oder auch diesem reinen Feuer, so doch bereits in vielen treflichen Gemüthern, sowohl bey Standes-Personen als auch sogar bey niedrigen Leuten, und nicht weniger bey dem liebreichen Frauenzimmer als tapfern Männern entzündet, neue und annehmliche Nahrung verschaffen, so achten wir dem Vaterland einen der grösten Dienste gethan zu haben, deren Privatpersonen fähig seyen.9
Auch Thomasius’ berühmte Leipziger Vorlesungsankündigung Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend zu Leipzig in einem Discours Welcher Gestalt 4 5
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Vgl. McCarthy: Crossing Boundaries, S. 183–189. Gottfried Wilhelm Leibniz: Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache beßer zu üben, samt beigefügten Vorschlag einer Teutsch-gesinten Gesellschaft. Hg. v. Cr.C.L. Grotefend. Hannover 1846, S. 23. Ebd., S. 22. Ebd., S. 14. Ebd., S. 13. Ebd., S. 10.
4. Die Neubestimmung des Essays um 1700
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man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? Ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln/Vernünfftig/klug und artig zu leben (1687) legt das Programm einer pragmatischen Weltweisheit in deutscher Sprache dar. Mit der Einführung der deutschen Sprache in den akademischen Kontext und ihrer gleichzeitigen Verfeinerung durch Orientierung am Ideal galanter Konversation leistet Thomasius nach McCarthy Entscheidendes zur Ermöglichung einer deutschsprachigen Essayistik.10 Für die Schriften des gelehrten galant homme fordert Thomasius einen geschmackvollen – das heißt maßvollen und originellen – Stil, der auch den Selbstausdruck des Verfassers, also die Ich-Form, mit einschließt. Der gelehrte galant homme müsse beachten, [...] daß er seine Gedancken nicht plump und unangenehm, sondern mit guter manier und Anmuthigkeit fürzubringen wisse; daß er einen guten Vorrath habe von fürfallenden Sachen häuffig und doch nicht verschwenderisch zu raisonniren / und nicht seine locos communes auff einmal ausschütte / sondern denen jenigen sich vergleiche / die reich und propre gekleidet sind / aber niemals närrische Unkosten auff ihre Kleidung wenden; daß er seine eigene Geschicklichkeit zu Marckt bringe / und sich mit anderer Gelehrten Gute nicht bereichere / oder seine Sachen mit nichts als Sprüchelgen / die er aus denen alten und neuen Scribenten zusammen gesucht / ausschmücke; daß er in allen guten Wissenschafften bewandert sey; daß er seine Gedancken andern klar und deutlich an Tag geben könne / und nicht so zweydeutig oder dunckel rede / wie ehe dessen die Oracula, oder als wenn er wollte lauter Rätzel auffzurathen geben; endlich daß er bescheiden sey und weder zu viel von sich prahle / noch sich affectirter Weise verberge.11
Thomasius’ Verweltlichung der Philosophie führt auch zu einer Einordnung der Essais Montaignes in die Literatur der politischen Gelehrsamkeit. So lässt der Thomasius-Schüler Nicolaus Hieronymus Gundling 1715 im zweiten Band seiner vermischten Abhandlungen unter dem Titel Gundlingiana (1715–1741) Montaigne und Archimedes in einem Totengespräch gegeneinander antreten. Archimedes verkörpert hier eine pedantische und weltfremde Schulgelehrsamkeit, während Montaigne für ein diesseitsbejahendes Streben nach Glückseligkeit und eine weltoffene Philosophie eintritt. Während die tatsächlichen wissenschaftlichen Erfolge des Archimedes zweifelhaft erscheinen, hat Montaigne sich gerade durch die Beschränkung auf eine literarische Darstellung seines Selbst (er wird von Archimedes auch als „Poet“ bezeichnet) Unsterblichkeit verschafft: A. […] Habt ihr gehöret / wie ich die Schiffe der Römer auffgehoben und in die Lufft geschnellet / und nach meinem Belieben wieder herunter geworffen / daß sie zerschellten oder leck wurden? Hätte ich einen Platz gehabt / wo ich meine Machine ansetzen können / ich wolte die Erde beweget / und von ihrer Stelle gebracht haben.
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Vgl. auch die Analyse dieses Textes bei McCarthy: Crossing Boundaries, S. 177–183. Christian Thomasius: Christian Thomas eröffnet Der Studierenden Jugend zu Leipzig in einem Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? Ein Collegium über des Gratians Grund-Reguln/Vernünfftig/klug und artig zu leben. In: Christian Thomasius. Kleine Teutsche Schriften. Hg. v. Werner Schneiders. Hildesheim, Zürich u. New York [ND der Ausg. Halle: Salfeld 1701], S. 1–70, hier S. 11f.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik M. Und ich / wann ich Flügel und Federn überkommen können / so hätte ich fliegen wollen. Ich habe mir sie offt gewünschet und nicht erhalten. A. Ihr möget railtiren wie ihr wollet; die Sache ist in der Abstraction gewiß. M. Daß eine Kugel in æquilibrio auff einer Nadelspitze stehen könne / ist in abstracto gewiß; Aber wo ist denn die Kugel im æquilibrio? Wo ist die Nadelspitze? A. Ihr tadelt mich immer wegen meiner abstractionen / und die Römer haben doch davon die Würckung empfunden. Ich bin zufrieden / daß mich die Nachwelt fast nach zwey tausend Jahren kennet: und daß sie auff meinem Grab den Cylinder und Circkel erblicket. M. Und ich bin vergnüget / daß sie meine Essais lieset / und mich daraus kennen lernet. Wann ich so eitel gewesen wäre / als ihr / so hätte ich meinen Freunden befohlen / sie solten auff meinen Grabstein Essais schreiben.12
Zu den Wegbereitern einer deutschsprachigen Essayistik müssen auch solche Schriften gerechnet werden, die sich am Ideal politischer Gelehrsamkeit orientieren, jedoch noch so eng mit dem gelehrten Diskurs verbunden sind, dass sie nur in Ansätzen zur Äußerung von Subjektivität und Darstellung lebensweltlicher Erfahrung gelangen. Es handelt sich hierbei um verstreute Publikationen, in denen die Verfasser ihre Ansichten über historische Ereignisse, literarische Werke oder auch moralische Fragestellungen äußern und kritisch zu diesen Stellung nehmen. Hier sind beispielsweise die Freymüthigen Gedancken des Hof- und Kammerrates Johann Benedict Scheibe zu nennen, die erstmals 1732 in Köln erscheinen und 1741 und 1755 eine Fortsetzung finden.13 Die drei Bände dokumentieren ein sukzessives, zumindest stellenweises Durchbrechen der Textform der gelehrten Abhandlung, einen langsamen Rückgang des überbordenden Zitatenapparates und eine verstärkte Verwendung der Ich-Form. Sind die Reflexionen im ersten Band noch in Paragraphen untergliedert und folgen als Fließtext unmittelbar aufeinander, so werden sie in den folgenden Bänden unter der Bezeichnung „Anmerkungen“ als kurze Essays auch optisch (durch große Überschriften und graphische Elemente) voneinander getrennt. Die Beurteilungen sind jedoch so allgemein moralistisch gehalten, dass sie letztlich als bloße Reproduktion eines gelehrten moralphilosophischen Minimalkonsenses erscheinen, zu dem Scheibe nur wenige neuartige Ansichten hinzufügt.
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Nicolaus Hieronymus Gundling: Gundlingiana. Darinnen allerhand/Zur/Jurisprudentz, Philosophie,/Historie/Critic/Litteratur/und übrigen Gelehrsamkeit/gehörige Sachen abgehandelt werden. 2. Stück. Halle: (Renger) 1715, S. 155f. Vgl. Johann Benedict Scheibe: Freymüthige Gedancken aus der Historie, der Critic und zumahl der Litteratur. Köln: [S.l.] 1732. Die Folgeschriften erschienen unter den Titeln Fortsetzung der Freymüthigen Gedancken aus der Historie, Critick und Literatur (1741) sowie Zweyte Fortsetzung der Freymüthigen Gedancken aus der Historie, Critick und Literatur (1755).
4. Die Neubestimmung des Essays um 1700
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Ein weiteres Beispiel dieser Art bilden Joachim Christoph Nemeitz’ Vernünfftige Gedancken, die in sechs Bänden zwischen 1739 und 1745 erscheinen.14 Auch Nemeitz, der seinen Namen erst im Vorbericht des sechsten Bandes enthüllt, verfasst gelehrte Abhandlungen zu den verschiedensten Themen, die zum größten Teil aus Zitaten zusammengesetzt sind. Er bemüht sich jedoch stärker als Scheibe, subjektive Reflexionen einfließen zu lassen und auch sprachlich dem Ideal politischer Gelehrsamkeit nachzukommen. Im Vorbericht des dritten Bandes verweist er darauf, dass er kein eigentlicher Gelehrter sei, sondern den größten Teil seines Lebens auf Reisen, beim Militär oder an Höfen zugebracht habe. Seine Themenwahl ist dementsprechend breiter gefächert; die dargestellten Ansichten weichen jedoch wie bei Scheibe kaum von einem allgemeinen moralphilosophischen Konsens ab. Während Nemeitz’ eigene moralische Reflexionen nur einen kleinen Anteil an den Vernünfftigen Gedancken bilden, ist er über die Entwicklung des moralistischen Schreibens in Deutschland sehr gut informiert. So erkennt er zutreffend, dass die französische Literatur die Grundlage der Moralistik geschaffen habe, dass jedoch die moralistischen Schriften in Deutschland von dem englischen Vorbild der Wochenschriften und ihren Essays abhingen: Die moralische Schrifften haben zu unserer Zeit die Frantzosen zuerst angefangen. Zeugniß davon sind die Wercke des MONTAGNE, des LE NOBLE, des LA BRUYERE, des DE LA ROCHEFOUCAULT und anderer. Allein gewisse oder eintzele moralische Materien auszuführen, davon sind die Engelländer Meister, wie man dann unter andern siehet an dem Spectateur, dem Babillard, dem Mentor moderne, oder Guardian, etc. In Holland habens ihnen nachgemacht der Censeur, der Misantrope. Nunmehro sind wir auch hier in Teutschland auf moralische Schrifften gerathen, und sind darinnen sonderlich merckwürdig: der Patriot, die Matrone, beyde zu Hamburg; die vernünfftige Tadlerinnen zu Halle, der Leipziger Socrates und Biedermann; der freymüthige Tadler sein selbst zu Leipzig; die Discourse der Mahler zu Zürch; der vernünfftige Momus, etc. Der Frantzösische Spectateur ist von dem Englischen so weit unterschieden, als die Nacht vom Tage.15
Wie genau der Essay in der englischen Moralistik der Aufklärung konzipiert wird, zeigen die folgenden Ausführungen. Es muss dabei betont werden, dass zwischen der französischen und der englischen Moralistik ein wesentlicher Unterschied besteht, der sich auch in der Verwendung dieses Begriffes in der jeweiligen Forschungsliteratur abbildet. Während die klassische französische Moralistik des 17. Jahrhunderts in ihrer Beschreibung menschlicher Sitten und Gebräuche psychologisch demaskierend verfährt, ohne dabei zu moralisieren (also Verhaltensregeln aufzustellen), wirkt die englische Moralistik in der Nachfolge Bacons moralvermittelnd und ist stark religiös geprägt. Die deutschsprachigen Gelehrten des frühen 18. Jahrhunderts wiederum orientieren sich bei der Einordnung moralisti14
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Joachim Christoph Nemeitz: Vernünfftige Gedancken/Uber allerhand/Historische/Critische und/Moralische Materien,/Nebst/verschiedenen dahin gehörigen/Anmerckungen. 6 Bände. Frankfurt a.M.: Andreä 1739–1745 (Bd. 1/2: 1739, Bd. 3: 1740, Bd. 4: 1741, Bd. 5: 1744, Bd. 6: 1745). Ebd., Bd. 3, S. 178, Fußnote.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
scher Texte am englischen Vorbild. So heißt es etwa im Zedler lapidar: „Moralisten, heissen diejenigen, welche entweder durch mündlichen Vortrag, oder in Schriften, andere zur Tugend zu führen sich bemühen.“16 Um die Problematik der widersprüchlichen Begriffsverwendung aufzulösen, bieten sich verschiedene Lösungen an. Die erste Möglichkeit besteht darin, den Begriff Moralistik ausschließlich für nicht-moralisierende Essays in der Tradition Montaignes zu verwenden und die Essayistik des frühen 18. Jahrhunderts als „moralisierend“ oder – wertneutraler – als „moralvermittelnd“ zu bezeichnen.17 Die zweite Möglichkeit besteht darin, für das frühe 18. Jahrhundert einen „erweiterten“ Begriff von Moralistik anzusetzen, wie ihn Wilhelm Graeber in seiner Untersuchung Moralistik und Zeitschriftenliteratur im frühen 18. Jahrhundert (1986) bildet. Graeber geht von einer starken Transformation der moralistischen Schreibweise in der Frühaufklärung aus und erkennt in den Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts eine explizit „didaktische Moralistik“.18 Er betrachtet diese didaktische Moralistik als einen Sonderfall der moralistischen Schreibweise und führt sie nicht explizit auf die englische Tradition zurück. Graebers scharfe Trennung zwischen Moralistik und Moralismus führt jedoch zu einer Vernachlässigung des ethischen Gehaltes, den auch die französische Moralistik des 17. Jahrhunderts in ihrem Selbstverständnis als „Enthüllungspsychologie“ transportiert, wenn sie menschliches Verhalten in „Schein“ und „Sein“ unterteilt.19 Dieser ethische Gehalt bietet den Anknüpfungspunkt für die Wochenschriften, die in der Folge ihren Standpunkt zwischen dem Anspruch, menschliches Verhalten primär beschreiben zu wollen, und ihrem normensetzenden Verfahren immer wieder neu bestimmen müssen. Die Essayistik des frühen 18. Jahrhunderts verfährt weder ausschließlich moralisierend noch ausschließlich psychologisch beschreibend. Moralismus und Moralistik (im französischen Verständnis) bilden vielmehr die beiden Pole, zwischen denen essayistisches Argumentieren sich hin und her bewegt und zwischen denen die Wochenschriften ihr Selbstverständnis verhandeln. Es ist daher berechtigt, die dritte Möglichkeit zu wählen und von einer „moralistischen Essayistik“ in den Wochenschriften des frühen 18. Jahrhunderts zu
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Johann Heinrich Zedler (Hg.): Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste. Bd. 21. Halle u. Leipzig: Zedler 1739, Sp. 1481. Dieses Vorgehen entspräche der Bestimmung der Moralistik als einer „Phänomenologie des moralischen Bewußtseins“, wie sie Karlheinz Stierle im Anschluss an Friedrich Nietzsche und mit Rückgriff auf die französische Tradition herausgearbeitet hat. Vgl. Karheinz Stierle: Was heißt Moralistik? In: Rudolf Behrens u. Maria Moog-Grünewald: Moralistik. Explorationen und Perspektiven. München 2010, S. 1–22, hier S. 21. Vgl. Wilhelm Graeber: Moralistik und Zeitschriftenliteratur im frühen 18. Jahrhundert. Van Effens und Marivauxʼ Beitrag zur Entwicklung des frühaufklärerischen Menschenbildes. Frankfurt a.M., Bern u. New York 1986, S. 35–37. Vgl. dazu Jürgen von Stackelberg: Französische Moralisten im europäischen Kontext. Darmstadt 1982, S. 7f.
4. Die Neubestimmung des Essays um 1700
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sprechen, wobei jedoch die Eigenart der englischen moralistischen Tradition, in der diese Texte stehen, zu berücksichtigen ist.20
4.2. Gattungsreflexion durch Essayisten I: Joseph Addisons klassizistische Konzeption der Spectator-Essays als therapeutische Selbsttechnik Das Erkenntnisinteresse im Essay der Frühaufklärung ist nicht auf die inneren Seelenvorgänge und deren Bewertung gerichtet, sondern auf die Verinnerlichung allgemeiner Tugendwahrheiten und auf die Überprüfung des eigenen und fremden Handelns auf deren Einlösung. Von zentraler Bedeutung ist auch die Einübung eines solchen vernünftig-tugendhaften Denkens und Handelns. In den Essays werden Erinnerungsvermögen und Urteilsfähigkeit in gleichem Maße angesprochen, da der Einzelne durch Lektüre, Meditation und Schreibtätigkeit die vermittelten Wahrheiten verinnerlichen soll, um sie in der sozialen Interaktion im richtigen Augenblick parat zu haben. Verbunden damit ist ein gesellschaftlicher Anspruch auf intellektuelle Suprematie, da, wie Foucault ausgeführt hat, die Muße, die eine solche Selbsttechnik erfordert, nur für eine kleine Elite überhaupt möglich ist.21 Die seit 1700 neu eröffnete Gattungsreflexion bestimmt den Essay als eine innovative und zeitgemäße Gattung. Sie wird von Essayisten initiiert, die über ihr eigenes Schreiben reflektieren und dem Leser auf diese Weise den Umgang mit der Gattung erläutern. Ein größeres Korpus deutschsprachiger Essays, deren Autoren sich auch um gemeinsame Standards bemühen, entsteht mit den Moralischen Wochenschriften. Diese richten sich an ein erst noch zu konstituierendes bürgerliches Publikum, das sich, so Jürgen Habermas in seiner Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962), in den Wochenschriften selbst zum Gegenstand der Reflexion macht und auf diese Weise eine spezifische kollektive Identität herausbilde.22 Da die Herausgeber sich als Vertreter und Stimme dieses imaginären Publikums verstünden, etablierten sie in ihren Schriften eine „neue Gestalt der bürgerlichen Repräsentation“.23 Die textübergreifende Reflexion eines fiktiven Verfassers, das heißt eines idealtypisch gestalteten essayistischen Ichs, bildet – wie Wolfgang 20
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Einen Überblick über die jeweiligen Eigenarten der französischen und englischen Moralistik gibt Robert Zimmer: Die europäischen Moralisten zur Einführung. Hamburg 1999. Bei dem Versuch, in seiner Einleitung eine bruchlose Definition von Moralistik zu geben, die alle Traditionsstränge umfasst (und die nicht-moralisierende Spielart der Moralistik betont), verstrickt sich Zimmer jedoch in definitorische Widersprüche. Vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 105. Vgl. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frankfurt a.M. 21991, S. 105f. Habermas formuliert seine Thesen zu den Wochenschriften eindeutiger und pauschaler, als es die Rezeptionszeugnisse zulassen, doch nimmt die Beschäftigung mit diesem Medium auch nur einen sehr geringen Raum in seiner Studie ein. Ebd., S. 99.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
Martens in seiner immer noch grundlegenden Untersuchung dargelegt hat – die gattungsspezifische Struktur der Wochenschriften.24 Mittels dieses repräsentativen essayistischen Ichs führen die Wochenschriften das moralistische Programm ihrer jeweiligen Zeitschrift vor und präsentieren zugleich auch ihren Leserentwurf. Mustergültig für die deutschsprachige Essayistik wird die englische Wochenschrift The Spectator, die 1711–14 in London erscheint und hauptsächlich von Richard Steele und Joseph Addison bestritten wird. Es handelt sich beim Spectator im Gegensatz zu den deutschsprachigen Folgeschriften jedoch nicht um eine Wochenschrift im eigentlichen Sinne, da die Spectator-Essays von Montag bis Samstag täglich erscheinen. Daher wird in der internationalen Forschung auch häufig der neutralere Gattungsbegriff Spectators oder Spectator Press bevorzugt, der keinen bestimmten Publikationsrhythmus vorgibt.25 Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts werden sich Autoren und Herausgeber bei der Veröffentlichung von Essays auf die Schreibweise des Spectator berufen. Die deutschen Gelehrten und andere interessierte Leser haben die Möglichkeit, den Spectator in zwei Übersetzungen aus dem Englischen kennenzulernen: Auf Französisch erscheint ab 1714 Le Spectateur, ou le Socrate moderne, auf Deutsch ab 1739 Der Zuschauer, an dem Luise Adelgunde Victorie Gottsched maßgeblich mitwirkt. Alle Spectator-Texte, die sich speziell mit dem Essay beschäftigen, stammen von Joseph Addison. In Addisons Essay-Konzept verbinden sich der Diskurs der politischen Gelehrsamkeit, der platonisch-sokratischen und stoischen Ethik, der Rhetorik und der von Addison entwickelten Genieästhetik. Schon in dem essayistischen Ich, der Figur des schweigenden und beobachtenden Zuschauers, wird ein sittliches Ideal geschaffen, das sich auf Rationalisierung, Selbstdisziplinierung und Gesellschafts- anstelle von Ich-Bezogenheit gründet. Eine Praxis der therapeutischen Selbsterkenntnis als Basis moralischer Verbesserung wird vom Zuschauer im 215. Stück vom 6. November 1711 explizit benannt: Discourses of Morality, and Reflections upon human Nature, are the best Means we can make use of to improve our Minds, and gain a true Knowledge of our selves, and consequently to recover our Souls out of the Vice, Ignorance and Prejudice which naturally cleave to them. I have all along profest my self in this Paper a Promoter of these great Ends, and I flatter my self that I do from Day to Day contribute something to the polishing of Mens Minds; at least my Design is laudable, whatever the Execution may be.26
Der Zuschauer verkörpert die Gesellschaft und ihre Werte und hält ihrer Widersprüchlichkeit, die sich in unterschiedlichen vorgestellten Typen menschlichen Handelns manifestiert, den Spiegel zu therapeutischen Zwecken vor. Er wird als 24 25 26
Vgl. Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1968. I. Teil. Vgl. z.B. Klaus-Dieter Ertler (Hg.): Die Spectators in der Romania – eine transkulturelle Gattung? Frankfurt a.M. 2011. Vgl. Joseph Addison u. Richard Steele (Hg.): The Spectator. 5 Bände. Mit einer Einleitung hg. v. Donald F. Bond. Oxford 1965, Nr. 215 (Bd. 2), S. 341.
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eine skurrile Außenseiterfigur beschrieben, da er niemals spricht, doch verwandelt er seinen Fehler in eine Tugend, indem er mit der Gesellschaft schriftlich in Dialog tritt. Seine Identifikationsfigur Sokrates ist durch sein abweichendes Verhalten ebenfalls zugleich als Außenseiter und als philosophisches Herz der Gesellschaft in Erscheinung getreten. Daher wird die Schreibweise des Spectator im 18. Jahrhundert auch als „sokratische Schreibart“ bezeichnet, und die französische Übersetzung verwendet den Nebentitel „Le Socrate Moderne“. Der Zuschauer polemisiert gegen die Vereinnahmung des Essays durch “NewsWriters” und politische Parteien. Darstellung der Wahrheit und moralische Besserung seien die Funktion der Gattung: „[A]s if it were not more advantageous to Mankind, to be instructed in Wisdom and Virtue, than in Politicks; and to be made good Fathers, Husbands and Sons, than Counsellors and Statesmen.“27 Hier wird die Verlagerung des Essays von der höfischen Sphäre, wie sie sich bei Bacon findet, in ein bürgerliches Wertesystem besonders deutlich. Der Essay wird – unter Verwendung eines Zitates aus den Sprüchen Salomos (1, 20–25) – zum utopischen Medium der Aufklärung der städtischen Bevölkerung erhoben: When Knowledge, instead of being bound up in Books and kept in Libraries and Retirements, is thus obtruded upon the Publick; when it is canvassed in every Assembly, and exposed upon every Table, I cannot forbear reflecting upon that Passage in the Proverbs: Wisdom crieth without, she uttereth her Voice in the Streets: she crieth in the chief Place of Concourse, in the Openings of the Gates. In the City she uttereth her Words, saying, How long, ye simple ones, will ye love Simplicity? and the Scorners delight in their Scorning? and Fools hate Knowledge?28
Auch David Hume nimmt 1742 im zweiten Band seiner Essays, Moral, Political and Literary eine ähnliche Position ein und betont den interdiskursiven Status des Essays als Basis der gesellschaftlichen Wissensaneignung. Sein Essay Of EssayWiting greift dabei vor allem Argumente auf, die sich bereits bei Addison finden. Zunächst wird eine Unterscheidung der „gelehrten“ und der „eleganten“ Welt vorgenommen. Diese beiden Sphären hätten sich durch ihre vormals strenge Trennung selbst geschadet: Während die vernünftige Gesellschaft keine angemessenen Gesprächsthemen (wie Geschichte, Poesie, Politik oder vor allem Philosophie) habe wählen können, so lange sie nicht über den notwendigen Bildungsgrad verfügte, sei die Philosophie wertlos geworden, da ihr ohne Anbindung an das tägliche Leben die Erfahrungsbasis fehlte. Durch das Abfassen von Essays will Hume zum Ausbau der Verbindung von Gelehrsamkeit und Gesellschaft beitragen, wobei er explizit auch Frauen anspricht, die durch das Lesen seiner Schriften ihren Gesichtskreis erweitern sollen: Tis to be hop’d, that this League betwixt the learned and conversible Worlds, which is so happily begun, will be still farther improv’d to their mutual Advantage; and to that End, I know 27 28
Spectator: Nr. 124 (Bd. 1), S. 505–508, hier S. 507. Ebd.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik nothing more advantageous than such Essays as these with which I endeavour to entertain the Public. In this view, I cannot but consider myself as a Kind of Resident or Ambassador from the Dominions of Learning to those of Conversation; and shall think it my constant Duty to promote a good Correspondence betwixt these two States, which have so great a Dependence on each other.29
Während sich bei Hume jedoch nur diese kurze Auseinandersetzung mit dem Essay findet, entwirft der Spectator eine komplexe Konzeption des Essays. Besonders in zwei Texten wird über die essayistische Schreibweise ausführlich reflektiert. Das Stück Nr. 124 vom 23. Juli 1711 erörtert den Essay und seine Funktion im Kontext der politischen Gelehrsamkeit. Unter einem Motto aus dem Werk des Kallimachos – „Μέγα βίβλιον, μέγα κακόν“ („Ein großes Buch ist ein großes Übel“) – wird der Essay als prädestinierte Form einer gesellschaftlich engagierten Philosophie bestimmt, die sich gegen die in sich abgeschlossene akademische Gelehrsamkeit richtet. Er wird als diejenige literarische Form der Wissensvermittlung vorgestellt, die einer umfangreichen Abhandlung vorzuziehen sei. Ein Vorteil des Essays bestehe in der Intensität der Aufnahme des Wissens durch den Leser, die der Gedrängtheit seiner Darstellung entspreche. Der Autor müsse direkt in das Thema einsteigen, er könne aufgrund der Kürze nur Gegenstände wählen, die nah beieinander lägen. Ein lebhafter, humoristischer Tonfall in Kombination mit einer Neuheit der Thematik oder zumindest ihrer Darstellung hielten die Aufmerksamkeit des Lesers gespannt. Das Interesse des Lesers und die Kürze des Textes bewirkten ein genaueres Lesen. Der Leser bemerke daher Fehler der Argumentation öfter als in einem umfangreichen Werk. Jeder Essay biete die geistige Essenz seines Themas. Er wird dabei explizit als eine „Art von Abhandlung“ („a kind of Treatise“30) bezeichnet. Mit Bezug auf die Chemie und das Verständnis des Philosophen als Seelenarzt wird der Essayist als ein Arzt vorgestellt, dessen Texte dadurch zu einer besonders wirksamen Medizin würden, dass sie den Geist, das heißt die Essenz der nützlichen Wahrheiten, aus dem Archiv philosophischer Schriften quasi destillierten: The ordinary Writers of Morality prescribe to their Readers after the Galenick way; their Medicines are made up in large Quantities. An Essay-Writer must practise in the Chymical Method, and give the Virtue of a full Draught in a few Drops.31
Der Essayist soll ein Destillat der Tugendwahrheiten erzeugen, um die größtmögliche psychagogische Heilwirkung und geistige Stärkung zu erzielen. Seine therapeutische Wirkung wird metaphorisch als Reinigung und Energetisierung der psycho-physischen Einheit von Leib und Seele des Lesers vorgestellt.
29 30 31
David Hume: Of Essay-Writing. In: Ders.: Essays Moral, Political, and Literary. Hg. v. Eugene F. Miller. Indianapolis 1987, S. 533–537, hier S. 535. Vgl. Spectator: Nr. 124 (Bd. 1), S. 506. Ebd.
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Foucault hat darauf hingewiesen, dass die stoische Technik der Selbstbildung dem medizinischen Modell näher stehe als dem pädagogischen. Die Leidenschaften würden im Stoizismus als eine physische Krankheit begriffen, die geheilt werden müsse.32 Der Zuschauer erweist somit seinen Lesern einen „Seelendienst“ und leitet sie gleichzeitig dazu an, die Fähigkeit zu erwerben, diese Arbeit der rationalen Affektkontrolle an sich selbst eigenständig fortzuführen. Dabei wird dem freundschaftlichen Gespräch eine besondere Bedeutung zugemessen, da es allein die Basis für eine freimütige Offenlegung der eigenen Seele biete.33 Freundschaft ist dementsprechend „the medicine of Life“.34 Addisons Konzeption des Essays als „kleine Abhandlung“ mit therapeutischer Wirkung stellt für das frühe 18. Jahrhundert einen Grundtypus dar. So orientiert sich beispielsweise der Arzt Richard Blackmore in seinen Essays upon Several Subjects von 1716 am Spectator, wenn er den Essay in seiner Vorrede folgendermaßen definiert: „An Essay is an instructive Writing, either in Prose or Verse, distinguish’d from compleat Treatises and voluminous Works, by its shorter Extent and less accurate Method.“35 Blackmore bedient sich ebenfalls einer Metaphorik mit dem Diskurs der Chemie als Bildspendebereich, um die therapeutische Wirkung des Essays zu verdeutlichen: And as they [the essayists, N.H.] find, that not being fetter’d by Terms of Art and the Method and Rules of School-men, they are at liberty to write in a more polite and ornamental Stile, so they are able to infuse into a contracted Work more Life and Energy, while, like the Chymist, by evaporationg the superfluous and insipid Phlegm, they can draw into a little Room the pure and active Spirit.36
Das Essay-Schreiben wird hier mit dem chemischen Verfahren der Rektifikation verglichen, der Verbesserung eines verunreinigten Destillats durch wiederholte Destillation.37 Die metaphorische Übertragung des chemischen Vorganges auf den Bereich der Humoralpathologie – in dem Sinne, dass die Beschaffenheit des Textes sich unmittelbar rektifizierend auf das Gemüt seiner Leser auswirke – wird erst 32
33 34 35 36 37
Vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 131. Die Leidenschaft („pathos“) steht nach Foucault für “die irrationale Bewegung der Seele”, die Cicero als „perturbation“ und Seneca als „affectus“ bezeichne (vgl. ebd.). Vgl. Spectator: Nr. 68 (Bd. 1), S. 289. Vgl. ebd., S. 290. Richard Blackmore: Essays upon several Subjects. Hildesheim u. New York 1976 [ND der Ausg. London: Curll u. Pemberton 1716], S. iii. Blackmore: Essays, S. xii‒xi. Der Zedler beschreibt das zeitnössische Wissen über diese Methode folgendermaßen: „Rectification, Reinigung, Rectificatio, ist eine wiederholte Destillation oder Sublimation, damit man die destillirten oder sublimirten Materien subtiler und in ihrer Tugend und Würckung kräftiger bekomme, oder den Geist von seinem Phlegma und irrdischen Theilen gantz los mache. Denn da die erste Destillation bey den meisten Materien unordentliche und fremde Theilgen absondert und herfürbringet; Als muß man die Rectification zu Hülfe nehmen, die fremden Theilgen abzuscheiden.“ (Zedler: Universallexikon 30/1741, Sp. 1570‒1575, hier Sp. 1570.)
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durch die Konzeption und Zwischenschaltung der Essayistik als einer literarischen Praxis des Destillierens möglich. Dass Addisons Konzept der therapeutischen Selbsttechnik tatsächlich aufgeht, wird im Spectator durch eingerückte, mit größter Wahrscheinlichkeit fiktive Briefe belegt, in denen Leserinnen und Leser von der psychagogischen Heilwirkung berichten, die einzelne Essays zu bestimmten Themen auf sie ausgeübt haben. So findet sich beispielsweise in der Nr. 134 vom 3. August 1711 der Brief eines gewissen George Trusty, der sein habitualisiertes Lesen des täglichen SpectatorEssays und die daraus erwachsenden Wirkungen folgendermaßen beschreibt: […] I love and thank you for your daily Refreshments. I constantly peruse your Paper as I smoke my Mornings’s Pipe, (tho’ I can’t forbear reading the Motto before I fill and light) and really it gives a grateful Relish to every Whif, each Paragraph is freight either with useful or delightful Notions, and I never fail of being highly diverted or improv’d. The Variety of your Subjects surprizes me as much as a Box of Pictures did formerly, in which there was only one Face, that by pulling some Pieces of Isinglass over it, was chang’d into a grave Senator or a Merry Andrew, a Patch’d Lady or a Nun, a Beau or a Black-a-moor, a Prude or a Coquet, a Country ’Squire or a Conjurer, with many other different Representations very entertaining (as you are) tho’ still the same at the Bottom. This was a childish Amusement when I was carried away with outward Appearance, but you make a deeper Impression, and affect the secret Springs of the Mind; you charm the Fancy, sooth the Passions, and insensibly lead the Reader to that Sweetness of Temper that you so well describe; you rouse Generosity with that Spirit, and inculcate Humanity with that Ease, that he must be miserably Stupid that is not affected by you. I can’t say indeed that you have put Impertinence to Silence, or Vanity out of Countenance; but methinks you have bid as fair for it, as any Man that ever appear’d upon a Publick Stage; and offer an infallible Cure of Vice and Folly for the Price of One Penny. And since it is usual for those who receive Benefit by such famous Operators, to publish an Advertisement that others may reap the same Advantage, I think my self obliged to declare to all the World, that having for a long time been splenatick, ill-natur’d, forward, suspicious and insociable, by the Application of your Medicines, taken only with half an Ounce of right Virginia Tobacco for six successive Mornings, I am become open, obliging, officious, frank and hospitable.38
Die moralische Wirkung der Essays, das heißt die Verwandlung des Lesers in ein ausgeglichenes und soziales Wesen, tritt hier innerhalb von sechs Tagen der Behandlung des eigenen Selbst ein. Das morgendliche Pfeife-Rauchen wird dazu mit der Lektüre des aktuellen Essays und der Reflexion über das Gelesene verbunden, wobei das Motto jeweils als eine Art Appetizer vorab rezipiert wird. Darüber hinaus macht der Briefschreiber die wichtige Beobachtung, dass die in der Wochenschrift vorgestellten und satirisch kritisierten Typen menschlichen Fehlverhaltens letztlich allesamt Repräsentationen des Zuschauers seien, der wiederum die Gesellschaft repräsentiere, wodurch ein Verhältnis der Spiegelung zwischen dem Leser, dem essayistischen Ich und dem Gegenstand der Behandlung entsteht.39 Sowohl 38 39
Spectator: Nr. 134 (Bd. 2), S. 29f. Zur Metapher des Spiegels als eines bevorzugten (auch konflikthaften) Bildes neuzeitlicher Subjektivät, in der das dynamische Verhältnis von Welt- und Selbsterkenntnis zum Ausdruck komme, vgl. Ralf Konersmann: Lebendige Spiegel. Die Metapher des Subjekts. Frankfurt a.M. 2 1991. Für das 17. und frühe 18. Jahrhundert bestimmt Konersmann die Funktion der SpiegelMetapher als Instrument der Selbstaneignung: „Bis dahin übernimmt der Spiegel Entlastungs-
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der Enthusiasmus, mit dem der Wirkungsbericht vorgetragen wird, als auch die metareflexiven Aussagen des George Trusty machen es sehr wahrscheinlich, dass der Brief ein Werk der Herausgeber ist. Zugleich kommt durch die Tatsache, dass der Briefschreiber den Zuschauer in die Nähe der Scharlatanerie rückt (als einen selbsternannten Heilkünstler, der seine unfehlbare Medizin öffentlich für einen Penny anpreist) ein humoristischer Tonfall in den Text – im Sinne eines essayistischen comic relief. Auch wird die Selbstverbesserung nicht nur aus der Lektüre des Spectator, sondern vor allem aus der Verbindung mit dem täglichen Rauchen von „half an Ounce of right Virginia Tobacco“ hergeleitet, wodurch der Text zusätzlich als Tabak-Werbung gelesen werden kann. Das Interesse am sinnlichen Genuss beziehungsweise dessen ästhetische Darstellung verbindet sich mit der vorgestellten moraldidaktischen Praxis und ermöglicht diese erst, da es ein starkes Identifikationsmoment für den Leser bietet. Daher ist der Brief des George Trusty als eine Lektüreanweisung zu lesen, bei welcher der konkrete Leser den begleitenden und fördernden sinnlichen Genuss nach eigenem Belieben auswählen kann.40 Dass diese Verbindung einer rationalisierenden Selbsttechnik mit einer Anweisung zum Konsumverhalten keine Ironisierung der Selbsttechnik bewirken soll, kann ein Blick auf Christian Hucks Untersuchung der Konstitutierung einer literarischen Öffentlichkeit durch den Spectator zeigen. Nach Huck wird die Öffentlichkeit im Spectator maßgeblich durch die Eröffnung von Konsumoptionen – durch ihn dargestellt am Beispiel der Kleider-Mode – geleistet. In expliziter Opposition zu Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit versteht Huck den Spectator nicht als zentrales Medium in einem rationalen, öffentlichen Diskurs. Stattdessen betont er, dass der Spectator als Massenmedium das Wissen über einen hypo-
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funktionen – eine Aufgabe, die um so dringender wird, je unabweislicher sich der Eindruck mitteilt, daß übergreifende Sachverhalte, in die das Subjekt sich eingelassen weiß, seiner Verfügbarkeit entgleiten. Der Spiegel macht das undurchsichtige, befremdliche Gegenüber zum vielleicht entfernten, aber doch verbindlichen Element des Selbst. Zum anderen obliegt dem Spiegel die Aufgabe der Komplexitätsreduktion, denn die Spiegelrelation erscheint nicht nur als zuverlässig, sie verspricht auch Überschaubarkeit und hält so die Erwartung erfolgreicher Problembewältigung wach. Der Spiegel stellt ein Modell bereit, dessen Evidenzen spontan einleuchten und das Handlungsfähigkeit zu sichern verspricht. Er verbürgt dem Subjekt nicht nur seine Präsenz, sondern auch seine Potenz. Wie nirgends sonst findet Subjektivität im Spiegel ein ihr gemäßes Medium der Selbstbegründung.“ (Ebd., S. 35f.) Die Instrumentalisierung des Eigeninteresses (in Form von Konsumverhalten) als katalysatorisches Moment der Selbsttechnik findet sich auch an anderen Stellen, die mit den stilistischen Mitteln einer Werbeanzeige verfasst sind. So notiert in Nr. 547 vom 27. November 1712 eine Gesellschaft von acht Spectator-Leserinnen und -Lesern ihre Erfolge mit der Selbsttechnik. Unter anderem preist hier eine Martha Gloworm einen Essay über die Bescheidenheit als Mittel zur Erhöhung der äußeren Attraktivität an: „The Britannick Beautifier, being an Essay on Modesty Nº 231, which gives such a delightful Blushing Colour to the Cheeks of those that are White or Pale, that it is not to be distinguished from a natural fine Complection, nor perceived to be artificial by the nearest Friend. Is nothing of Paint, or in the least hurtful. It renders the Face delightfully handsome; is not subject to be rubb’d off, and cannot be parallel’d by either Wash, Powder, Cosmetick, etc. It is certainly the best Beautifier in the World.” (Spectator: Nr. 547, Bd. 4, S. 459f.)
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thetischen kulturellen Konsens liefere, „the knowledge that one expects others to expect oneself to have“.41 Besondere Bedeutung komme dabei den Werbeanzeigen zu: Advertisements especially, and the mass media in general, try to convince the consumer/reader that what s/he knows (and likes), or rather, should know (and like), is known (and liked) by everyone else already […]. Advertisements, once again, do not enable the observation of reality (which here would be the inherent qualities of the goods in question), but rather the (imaginary) observation of other observers […]. ‚Fashionable‘ is indeed just another word for the fact that something is liked by others, oven though one might not have heard about it. It is obvious that such an advertisement does not lead to rational-ciritical discourse in Habermas’s sense, but does it leave no other option but passive-regressive consumption?42
Huck beantwortet seine Frage damit, dass die Etablierung eines imaginären kulturellen Konsenses erst Handlungsspielräume zur Ausbildung einer individuellen kommunizierbaren Identität eröffne, da die Leserinnen und Leser sich affirmativ oder kritisch zu den präsentierten Verhaltensnormen positionieren könnten. Allerdings besteht der wirklich interessante Aspekt an dem vorgestellten 134. Stück des Spectator gerade darin, dass hier ein solches implizites kulturelles Wissen aus dem Bereich des Konsums mit der narrativen Darstellung expliziter rationaler Reflexion verbunden wird. Die Absicht des George Trusty, „to publish an Advertisement that others may reap the same Advantage“, bezieht sich in gleichem Maße auf die Reflexion und auf die beworbene Tabak-Sorte, die als gleichwertige Bestandteile der angepriesenen Medizin benannt werden. Selbstrationalisierung und Konsumverhalten schließen sich gegenseitig nicht aus, sonden werden hier untrennbar miteinander verbunden, sodass unentscheidbar wird, was Begleiterscheinung des jeweils anderen Phänomens ist. Ist das Pfeiferauchen die angemessene Weise, um über einen Spectator-Essay zu reflektieren? Oder ist die Reflexion über einen Spectator-Essay die angemessen Weise, eine Pfeife zu rauchen? Gerade diese Verankerung der Selbsttechnik im attraktiven Konsumverhalten ermöglicht die ungeheure Breitenwirkung des Spectator. Selbstoptimierung im rationalen Diskurs und emphatisches Konsumverhalten bilden hier zwei komplementäre Pole bei der Etablierung einer homogenen literarischen Öffentlichkeit. Das Verhältnis des Spectator zum Stoizismus ist nicht eindeutig. Einerseits wird auf die stoische Selbsttechnik zurückgegriffen, und Seneca und Cicero stellen als Autoritäten bedeutende Referenzautoren dar. Andererseits wird der Stoizismus jedoch auch als „the Pedantry of Virtue“ bezeichnet,43 eine schwere Anklage, da 41
42 43
Christian Huck: The Public Sphere, Mass Media, Fashion and the Identity of the Individual. In: Isabel Karremann u. Anja Müller (Hg.): Mediating Identities in Eighteenth-Century England. Public Negotiations, Literary Discourses, Topography. Farnham u. Burlington 2011, S. 121–133, S. 130. Ebd., S. 131. Spectator: Nr. 243 (Bd. 2), S. 444.
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der unnütz gelehrte Pedant in den Moralischen Wochenschriften eines der stärksten Anti-Subjekte darstellt. Die Wochenschrift distanziert sich insofern von der stoischen Ethik, als sie den Aspekt des gesellschaftlichen Nutzens und den Vorrang der Soziabilität des Einzelnen gegenüber Individualtugenden hervorhebt. Das tugendhafte Gemeinschaftswesen steht über dem tugendhaften Individuum. Der Stoizismus erscheint hier in seinem Anspruch auf Universalisierung des Tugendprinzips als nicht praktisch genug fokussiert. Leichtere individuelle Laster (wie das Tabak-Rauchen oder etwas Eitelkeit) sind gesellschaftlich gestattet, solange sie die Einordnung des Einzelnen in das Gemeinschaftswesen unterstützen und damit die Gesellschaftsordnung stabilisieren.44 Das zweite für die Definition des Essays entscheidende Stück Nr. 476 vom 5. September 1712 wendet sich dem Essay als einer literarischen Form zu und erörtert seine Verfasstheit durch Bezug auf die antike Rhetorik einerseits und die Genieästhetik andererseits. Vorangestellt ist das lateinische Motto „Lucidus ordo“ („Lichtvolle Ordnung“) aus der Ars Poetica des Horaz. Während in Nr. 124 der Essay als eine kleine Abhandlung bezeichnet wurde, charakterisiert ihn der Zuschauer nun als das genaue Gegenteil, nämlich als eine wilde, unmethodische Komposition: Among my Daily-Papers which I bestow on the Publick, there are some which are written with Regularity and Method, and others that run out into the Wildness of those Compositions which go by the Names of Essays. As for the first, I have the whole Scheme of the Discourse in my Mind before I set Pen to Paper. In the other kind of Writing, it is sufficient that I have several Thoughts on a Subject, without troubling my self to range them in such order, that they may seem to grow out of one another, and be disposed under the proper Heads.45
Dem wilden Essay wird der geordnete Text gegenübergestellt, und es werden jeweils zwei Autorenpaare als Beispiel genannt: Seneca und Montaigne für die unmethodische Schreibweise, Cicero und Aristoteles für die methodische. In der deutschen Übersetzung dieses Stückes im Zuschauer findet sich auch die möglich-
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Das gespaltene Verhältnis des 18. Jahrhunderts zum Stoizismus nach dem Vorbild Senecas hat Doris Fulda Merrifield untersucht. Sie konstatiert für das frühe 18. Jahrhundert einen starken Einfluss Senecas, der jedoch mit der Durchsetzung der Ästhetik in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts langsam schwinde. Außerdem verweist sie auf den engen Bezug von Senecas Briefen zur Essayistik der Wochenschriften: „Am deutlichsten tritt die Verwandtschaft des Essays mit den moralischen Schriften Senecas im frühen achtzehnten Jahrhundert zutage; denn der rationalistische Mensch, für den die Sünde aus Mangel an Erkenntnis und Wissen entsprang und der ihr durch vernünftige Aufklärung den Boden entziehen wollte, war hochempfänglich für die belehrende Art der Briefe Senecas. In ihnen fand er sowohl den angemessenen Gehalt als auch die Form, in der er bequem seinen aufklärerischen Gedanken Ausdruck verleihen konnte.“ (Doris Fulda Merrifield: Senecas moralische Schriften im Spiegel der deutschen Literatur des achtzehnten Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 41/4 (1967), S. 528–546, hier S. 539.) Spectator: Nr. 476 (Bd. 4), S. 185–188, hier S. 187.
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erweise früheste Übersetzung des Gattungsbegriffs Essay durch das Wort Versuch.46 Die unmethodische Schreibweise besteche dadurch, dass sie durch einen Verzicht auf Ordnung Vergnügen bereite. Der Zuschauer beschreibt die Lektüre solcher Texte mit dem Spaziergang durch einen Wald, in dem der Leser immer wieder vom Anblick prächtiger Gegenstände überrascht werde, ohne den Zusammenhang erkennen zu können, in dem diese sich befänden: When I read an Author of Genius, who writes without Method, I fancy my self in a Wood that abounds with a great many noble Objects, rising among one another in the greatest Confusion and Disorder. When I read a Methodical Discourse, I am in a regular Plantation, and can place my self in its several Centers, so as to take a view of all the Lines and Walks that are struck from them. You may ramble in the one a whole Day together, and every Moment discover something or other that is new to you, but when you have done you will have but a confused imperfect Notion of the Place; in the other, your Eye commands the whole Prospect, and gives you such an Idea of it, as is not easily worn out of the Memory.47
Die Metaphorik verweist auf Addisons Konzept der zwei Arten von Genie: des naturhaften, durch keine Regel eingeschränkten, dessen Texte mit einem Wald verglichen werden, und des an den Regeln der Kunst geübten Genies, dessen Texte mit einem nach mathematischen Gesetzen angelegten Garten verglichen werden. Rhetorik und Autonomieästhetik werden in dieser vegetabilen Metaphorik einander gegenübergestellt.48 Durch die fehlende Ordnung im Essay des naturhaften Genies Montaigne werde dem ungeübten Leser das deutliche Verstehen und Memorieren der Wahrheiten unmöglich gemacht. Daher favorisiert Stück Nr. 476 nicht den Essay, sondern das methodische – am Ciceronianismus orientierte – Denken und Schreiben und reserviert das unmethodische Schreiben für den genialen Autor, dessen Werke der durchschnittliche Leser und Schreiber zwar bewundern können müsse, die er jedoch nicht nachahmen dürfe:
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Die betreffende Stelle lautet: „Unter meinen Blättern, die ich der Welt mittheile, sind einige, die mit einer gewissen Ordnung und Methode geschrieben sind, andere aber, die in derjenigen wilden Schreibart fortlaufen, welche man mit dem Namen Versuch benennet. Die ersten betreffend, so habe ich dabey, ehe ich noch die Feder ansetze, schon den ganzen Grundriß des Stücks in meinem Kopfe. Die andern aber erfordern nichts, als einige Gedanken über die Materie, ohne daß ich mir die Mühe geben darf, sie in eine solche Ordnung zu bringen, daß sie auseinander entsprossen zu seyn scheinen, und ein jeder an seinem gehörigen Orte stehe.“ (Der Zuschauer. 7. Teil. Leipzig: Breitkopf 21749, S. 13.) Die Hervorhebung des Wortes (durch Kursivschrift im Original und durch Fettdruck in der Übersetzung) verweist darauf, dass es an dieser Stelle als ein Terminus und nicht als eine bloße Umschreibung verwendet wird. Spectator: Nr. 476 (Bd. 4), S. 185f. Die vegetabile Metaphorik, die hier zur Beschreibung des Essays verwendet wird, findet sich wesentlich ausführlicher in Addisons Ästhetik unter dem Titel „Essays on Imagination“ (Nr. 411–421), besonders in Essay Nr. 414, in dem Addison ein klares Votum für die Autonomieästhetik abgibt und diese eng an den Erhabenheitsdiskurs bindet. Allerdings sei das Werk des naturhaften Genies nicht regellos, sondern es verberge das Prinzip seines Schaffens nur besser. Vgl. Spectator: Nr. 414, Bd. 3, S 552.
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Irregularity and want of Method are only supportable in Men of great Learning or Genius, who are often too full to be exact, and therefore chuse to throw down their Pearls in Heaps before the Reader, rather than be at the Pains of stringing them.49
Das Festhalten an der rationalen Ordnung der Argumentation garantiert nach Addison die Umwandlung von logos in ethos, von erworbenem Wissen in Handlung. Was man sich darunter vorzustellen hat, wird aus einem Beispiel am Ende des Essays deutlich: Hier siegt der vernünftige Denker mit Namen „Will Dry“ aufgrund seiner besseren rhetorischen Qualifikation über seinen Gegenspieler, den gotteslästernden Freidenker „Tom Puzzle“. Will Dry erweist sich aufgrund seiner geistigen Übung gegenüber der Versuchung der verworrenen, jedoch beeindruckenden Argumente des Freidenkers als resistent und ist daher in der Lage, die christliche Wahrheit angemessen zu verteidigen. In den beiden Spectator-Texten Nr. 124 und Nr. 476 finden sich also zwei konträre Definitionen des Essays: als kleine, rhetorisch verdichtete Abhandlung einerseits und als poetischer Selbstausdruck des naturhaften Genies andererseits.50 Der rhetorischen Abhandlung kann man die Vernunft und dem poetischen Selbstausdruck die Imagination als Erkenntnismittel zuordnen. Indirekt stehen sich hier die Selbsttechniken nach Bacon und Montaigne gegenüber. Ausschlaggebend ist nun, wie der Zuschauer beide Konzeptionen zusammenbringt: Er erklärt, dass er selbst abwechselnd beide Schreibweisen verwende und stellt sich damit natürlich mit auf die Stufe des genialen Essayisten. Die unmethodische Schreibweise komme in der Invention zum Einsatz, also für die erstmalige Zusammenstellung der eigenen Gedanken zu einem Thema, über welches zuvor noch nichts geschrieben worden sei. Allerdings erschöpft sich die Nachahmung Montaignes auch schon in dem Verzicht auf Planung und Vorstrukturierung. Keinesfalls übernommen wird dessen ausschweifende Introspektion. Die unbescheidene Selbstdarstellung wird als egoistisch verurteilt. In Essay Nr. 562 vom 2. Juli 1714 heißt es dazu: [A]s perhaps the most eminent Egotist that ever appeared in the World, was Montagne the Author of the celebrated Essays. This lively old Gascon has woven all his bodily Infirmities into his Works, and after having spoken of the Faults or Virtues of any other Man, immediately publishes to the World how it stands with himself in that Particular. Had he kept his own Counsel he might have passed for a much better Man, though perhaps he would not have been so diverting an Author.51
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Spectator: Nr. 476 (Bd. 4), S. 186. Klaus führt in seiner Anthologie leider nur das Stück Nr. 476 auf und erkennt daher bei Addison ein uneingeschränktes Plädoyer für den Essay als „antithesis of systematic discours“. Vgl. Klaus: Essayists on the Essay, S. 11. Stellt man die Stücke 124 und 476 jedoch nebeneinander, ist die Lage nicht mehr eindeutig. Bereits in der vorangegangenen Wochenschrift Steeles, dem Tatler, hat der fiktive Herausgeber Isaac Bickerstaff sich am 20. Oktober 1709 mit ironischem Bezug auf Montaigne das Recht zugesprochen, als Essayist Persönliches – in diesem Fall erhaltenes Lob – preiszugeben:
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Durch den übertriebenen Eifer, mit dem der Zuschauer auf mehreren Seiten gegen Montaignes Selbstdarstellung zu Felde zieht, wird die Verurteilung dieser Schreibweise jedoch auch wieder humoristisch relativiert. Letztendlich ist in den einzelnen Essays der Unterschied zwischen einer methodischen und einer unmethodischen Schreibweise fließend und lässt sich – wenn überhaupt – höchstens an einer stärker assoziativen oder stringenteren Reihung der Gedanken ablesen. Methodisch bedeutet jedenfalls auch immer induktiv, ausgehend von Erinnerungen, Erzählungen, Briefen oder einfachen Erfahrungswahrheiten. Somit haben in der Essay-Konzeption des Spectator sowohl rhetorische Rationalität als auch die genieästhetische Kreativität ihren Platz. Der Essay im Sinne Montaignes bereitet ästhetisches Vergnügen durch die erhabene Wirkung, welche die Art der Behandlung seiner Gegenstände hervorruft. Diese Wirkung beschreibt der Zuschauer, wenn er das Lesen eines solchen Essays mit dem Spaziergang durch einen Wald vergleicht, in dem ihm hinter jeder Biegung unverhofft Gegenstände begegnen, deren Größe er nicht übersehen kann und denen gegenüber ihm lediglich das ehrfurchtsvolle Staunen verbleibt. Um die klassizistische Doppel-Konzeption des Essays durch Addison wirklich zu verstehen, ist es notwendig, einen genaueren Blick auf seine Wirkungsästhetik zu werfen. Besonders die Kategorie des Erhabenen im Spannungsfeld von Natur und Kunst ist hier von Bedeutung. Addison weist Montaignes Essais insofern eine erhabene Wirkung zu, als sie Gedanken enthielten, die über die Fassungskraft des durchschnittlichen menschlichen Verstandes hinausgingen. Dementsprechend wird auch nicht explizit ausgeführt, was genau es ist, das diese Gedanken zu „noble objects“ werden lässt. Vielmehr wird dieses Urteil intuitiv gefällt und ist ein Ergebnis von irrationalen Affekten wie Überraschung und Verwunderung. Addisons Erhabenheitsverständnis ist durch seine Rezeption von PseudoLonginos’ Schrift Vom Erhabenen geprägt, die bereits im 17. Jahrhundert über die Vermittlung der Longin-Rezeption Nicolas Boileaus in die klassizistische Poetik Eingang findet. Martin Fritz hat in seiner Analyse dieser Schrift und ihrer Rezeption im 18. Jahrhundert dargelegt, dass sich das Erhabene bei Longinos wirkungsästhetisch als eine „besondere affektive Erregung“ zeige, die das Urteilsvermögen außer Kraft setze.52 Fritz bezeichnet Longinos’ Erhabenheitskonzeption als eine „ethisch-metaphysisch-ästhetische“,53 da der Einzelne über die Erfahrung des Er-
52 53
„It is my frequent Practice to visit Places of Resort in this Town where I am least known, to observe what Reception my Works meet with in the World, and what good Effects I may promise my self from my Labours: And it being a Privilege asserted by Monsieur Montaigne and others, of vain-glorious Memory, That we Writers of Essays may talk of our selves, I take the Liberty to give an Account of the Remarks which I find are made by some of my gentle Readers upon these my Dissertations.“ (Richard Steele: The Tatler. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Donald F. Bond. 3 Bände. New York 1987, Nr. 83 (Bd. 2), S. 26.) Vgl. Martin Fritz: Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011, S. 36. Vgl. ebd., S. 152.
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habenen mit den göttlichen Anteilen seiner eigenen Seele bekannt gemacht werden könne. Das übermenschlich Große, das sich im erhabenen Stil äußere, werde somit zum Anstoß eines Prozesses der Selbstbildung: „Im Streben nach dem Großen ist also immer eine Selbstbewertung der Seele mitgesetzt, der eine dialektische Struktur eignet. Denn gerade im Vergleich mit einem Größeren gelangt die Seele zur Erkenntnis ihrer eigenen Größe. Im Über-sich hinaus-Kommen kommt sie zu sich selbst.“54 Addison lässt offen, was die Größe der Gedanken Montaignes ausmacht, ob es der Ideenreichtum, die überraschende Verknüpfung der Ideen oder ihre sprachliche Gestaltung ist. Er beschreibt lediglich die Wirkung der Essais, und er tut dies mithilfe der Kategorie des Naturerhabenen. Wie Carsten Zelle an seiner Analyse von John Dennis’ „Mont-Cenis-Epistel“ vom 24. Oktober 1688 gezeigt hat, entsteht die erhabene Naturerfahrung im späten 17. Jahrhundert über eine Vermittlung rhetorischer Kategorien. John Dennis beschreibe die Alpenlandschaft, die er auf seiner Reise nach Italien durchwandere, erstmals als erhaben, indem er seine affektive Bewegtheit schildere. Diese entspricht nach Zelle der rhetorischen Persuasionsform des movere und werte die erhabene Alpenlandschaft gegenüber der rational erfassbaren Schönheit der italienischen Landschaft, der die Persuasionsform des delectare zugeordnet werden müsse, auf: Die unwiderstehliche Gewalt erhabener Rede wird durch eine Anzahl wirkungspoetischer Oppositionen gegen eine ethische Redefunktion, die sich nur an den Verstand wendet, ausgespielt: Ekstase steht gegen Überzeugung, Erstaunen und Erschüttern gegen Überreden und Gefallen, überwältigende Vergegenwärtigung gegen Überzeugung durch logischen Beweis.55
Diese Gegenüberstellung findet sich in der Metaphorik des Stückes Nr. 476 wieder, wenn hier Wald und Garten in kleinerem Maßstab für die Opposition von movere und delectare stehen. Die Konzeption des Naturerhabenen mithilfe der Rhetorik wird in der Beurteilung Montaignes im Spectator umgewendet, um mithilfe der Kategorie des Naturerhabenen die besondere Wirkung der Essais zu beschreiben.56 Bewunderung (wie sie der Spectator hinsichtlich der Essais Montaignes empfiehlt) gilt als angemessene Rezeptionsweise des Erhabenen.57 Die ethische Konzeption des Essays, die das Stück Nr. 124 entwirft, steht somit einer ästhetischen Konzeption des Essays in Nr. 476 gegenüber. Durch die Ermah54 55
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Fritz: Vom Erhabenen, S. 85. Carsten Zelle: Die Geburt der Natur aus dem Geiste der Rhetorik. Zur Schematisierung von Natur und Genie bei Dennis und Goethe. In: Michael Scheffel (Hg.): Erschriebene Natur. Internationale Perspektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts. Bern u.a. 2001, S. 145–167, hier S. 155. In den Essays on Imagination (Nr. 417) des Spectator werden Homers Ilias und Vergils Aeneis einander mithilfe einer ähnlichen Metaphorik gegenübergestellt. Homers Text wird im Modus des Naturerhabenen beschrieben („vast Desarts, wide uncultivated Marshes, huge Forests, misshapen Rocks and Precipices“), Vergils Text entspricht der kultivierten und damit schönen Natur („a well ordered Garden“). Vgl. ebd.
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nung an den Leser, Montaignes naturhaft unmethodische Schreibweise selbst nicht nachzuahmen, wird das Essay-Konzept Montaignes innerhalb des moralistischen Interdiskurses in der Wochenschrift isoliert. Anders als es auf den ersten Blick erscheinen könnte, wirken die Essais Montaignes in der Doppel-Konzeption Addisons allerdings nicht desintegrativ, sondern – wie die Interpretation des Erhabenen durch Fritz es nahe legt – komplementär: In der Praxis einer auf die Stabilität des Ichs ausgerichteten Selbsttechnik nehmen sie einen prekären Status ein, da sie nicht zur Rationalisierung beitragen. Sie vervollständigen die präsentierte Subjektform jedoch um den Aspekt der Transzendenz, indem sie wie das Naturerhabene und die erhabene Poesie die Imaginationsfähigkeit erweitern. Die Ausbildung einer Fähigkeit zum Genuss des ästhetischen Vergnügens bildet somit einen wichtigen Bestandteil der Selbsttechnik als Lektüre, doch in der praktischen Ausübung der Selbsttechnik – also dem angestrebten eigenständigen Verfassen und Diskutieren essayistischer Texte durch den Leser – muss die Ästhetik des Selbst zurückstehen, um das Ergebnis nicht zu gefährden. Aus der Bewertung der beiden Konzeptionen des Essays und ihrer Funktion im Spectator ergibt sich also eine Spannung zwischen Moraldidaxe und ästhetischer Bildung. Daher kann bereits für die Essayistik der Frühaufklärung von einer ungebrochen moraldidaktischen Konzeption keine Rede sein. Dass die doppelte Konzeption des Essays im Spectator mit der generellen Entwicklung einer modernen Subjektivität übereinstimmt, zeigt die Analyse Taylors, der ab dem 18. Jahrhundert die Verbindung zweier entsprechender Stränge des Selbstbezuges diagnostiziert: Thus, by the turn of the eigtheenth century, something recognizably like the modern self is in process of constitution, at least among the social and spiritual elites of northwestern Europe and its American offshoots. It holds together, both from the Augustinian heritage, forms of self-exploration and forms of self-control. These are the ground, respectively, of two important facets of the nascent modern individualism, that of self-responsible independence, on one hand, and that of recognized particularity, on the other.58
4.3. Gattungsreflexion durch Essayisten II: Nicolas Charles Joseph Trublets klassizistische Konzeption des Essays Joseph Addisons Konzeption des Essays, die dem Spectator zugrunde liegt, ist insofern als Muster einer frühbürgerlichen Selbsttechnik so wirksam und kann für die Essayistik der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entscheidende Impulse geben, weil sie die stoische therapeutische Selbstaneignung und die Selbstästhetik Montaignes miteinander zu einer frühen Konzeption eines ganzen (das heißt nicht einseitig ausgebildeten) Menschen verbindet. Sie nimmt damit unter weiteren zeitgenössischen Konzeptionen des Essays eine Mittlerposition ein, wie ein Blick auf die 58
Taylor: Sources of the Self, S. 185.
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Gattungsreflexionen zweier anderer Essayisten, Nicolas Charles Joseph Trublets und Anthony Ashley Coopers, des Third Earl of Shaftesbury, erweist. Der Abt Nicolas Charles Joseph Trublet leitet seine 1735 in zwei Bänden erschienenen Essais sur divers sujets de littérature et de morale mit einem Essay über das essayistische Schreiben ein: „Sur la maniere d’ecrire par pensées detachées“. Er entwirft eine klassizistische Konzeption des Essays als Selbsttechnik im Sinne der Poetik Boileaus, in der die Imagination in Verbindung mit dem Erhabenheitsdiskurs jedoch keine Rolle spielt. Bei Trublet steht die Memorier- und Habitualisierungsfunktion des Essays im Zentrum. In den formalen Charakteristika stimmen Addisons Konzeption des Essays als kleine Abhandlung und Trublets Konzeption miteinander überein. Zunächst bestimmt Trublet den Charakter einer gelungenen philosophischen Schrift. Diese zeichne sich durch neue Gedanken aus, die der Verfasser durch selbstständiges Denken gewonnen habe. Dem Leser erscheine eine Schrift vor allem dann gelungen, wenn sie „Licht gebe“, das heißt zum Denken anrege: Tantôt ce sera quelque principe lumineux; tantôt une nouvelle preuve d’une vérité; quelquefois un tour extrêmement heureux pour exprimer une chose, à la vérité assez commune, mais qui n’avoit jamais été aussi heureusement exprimée. Voilà ce qu’un homme d’esprit cherche dans les Livres, & ce qu’il aime à retenir. Mais souvent il ne rencontre dans de gros volumes qu’un petit nombre de traits de cette nature.59
Die großen Bände oder Abhandlungen werden damit – wie bei Addison – als ungeeignete Form für den zeitgenössischen Leser eingeführt. Da die Abhandlung durch ihre Länge notwendig seichte Stellen und eine matte Schreibart aufweisen müsse, erschwere sie das Memorieren des Inhalts. Daran anschließend kommt Trublet auf den Aphorismus als Alternativform zu sprechen. Dieser erleichtere das Memorieren von Wahrheiten durch seine verdichtende Kürze. Die Art, in pointierten Gedanken zu schreiben, hat dabei nach Trublet wirkungsästhetisch mit der Poesie gemeinsam, dass sie einen tiefen, dauerhaften Eindruck hinterlasse: „Une réflexion ingénieuse, écrite avec justesse & précision, se grave aussi aisément presque dans la mémoire, qu’un beau vers.“60 Die Schlüsselbegriffe justesse und precision der klassizistischen Poetik rücken den Aphorismus in die Nähe der Poesie. Angemessenheit und Genauigkeit des Ausdrucks bereiteten ein Vergnügen, das dem Genuss der Schönheit eines Verses gleichwertig sei. Da Aphorismen jedoch inhaltlich nicht verbunden seien, führe ihr fortdauerndes Lesen zur Ermüdung und überanstrenge die Konzentrationsfähigkeit des Lesers. Trublet führt hier 59
60
Nicolas Charles Joseph Trublet: Sur la maniere d’ecrire par pensées detachées. In: Ders.: Essais sur divers sujets de littérature et de morale. Genf 1968 [ND der Ausg. Paris: Briasson 5 1754 (1. Auflage 1735)], S. 1–29, hier S. 8f. Die Essais werden 1744 von Christiana Mariana von Steinwehr (vormals: von Ziegler) ins Deutsche übersetzt als Des Abtes Trublet Gedanken über verschiedene Sachen, welche zur Gelehrsamkeit und Sittenlehre gehören. Greifswald u. Leipzig: Weitbrecht 1744. Trublet: Essais, S. 15.
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als Negativbeispiel die Maximen François de La Rochefoucaults (Réflexions ou Sentences et Maximes morales, 1664) an. Eine dritte Schreibweise schließlich, die ideale Mittelform zwischen Aphorismus und Abhandlung, findet Trublet in der „kleinen Abhandlung“: Ceux-ci sont composés de plusieurs articles, qui contiennent une, ou plusieurs pensées sur un même sujet, sans digressions d’ordinaire, à moins qu’elles ne soient fort courtes; après l’Auteur finit, & passe dans un autre article à un autre matiere.61
Trublet bedauert, Montaignes Essais nicht zu dieser Praxis zählen zu können, da Montaigne ein Thema nicht bündig zu erfassen suche, sondern sich vielmehr permanent von diesem entferne, als „des digressions dans des digressions, des écarts continuels, mais agréable, & souvent insensibles, ausquels une proposition incidente, & même un seul mot a donné occasion.“62 Wie schon Addison gesteht Trublet eine solche assoziative Schreibart Montaigne allein aufgrund seines „Esprit“, „Bon sens“, seiner „Naïveté“ und „Finesse“ zu.63 Der durchschnittliche Autor müsse sich mit einem geringeren Maß an Freiheit bescheiden. Das Zukunftsweisende der essayistischen Schreibweise sieht Trublet in dem verdichtenden Potenzial und der Möglichkeit, ein Thema durch subjektive Reflexion aus einer ungewohnten Perspektive zu präsentieren. So könne der Leser zu erneuter und gründlicherer Reflexion scheinbar altbekannter Wahrheiten ermuntert werden: Des exposés abrégés de ces systêmes, des écrits dans lesquels, sans trop chercher le neuf, & sans l’éviter aussi, on tâcheroit de renfermer en peu de mots ce qui a été dit, & ce qu’on a pensé soi-même de meilleur sur chaque matiere, & de rapprocher ainsi un grand nombre de vérités éparses en divers endroits; des écrits, dis-je, de cette nature, pourroient être goûtés des personnes intelligentes, qui aiment la précision, qui se plaisent à voir plusieurs choses à la fois, &, pour ainsi dire, d’un coup d’œil. Les principes & les raisonnemens les plus connus, paroîtroient comme nouveaux par un assemblage heureux, qui leur donneroit à tous plus de force & de lumiere.64
Trublet hat also eine Leserschaft mit einer höheren Vorbildung vor Augen als Addison, vermutlich bürgerliche Gelehrte und Adlige. Dieses Publikum verlange nach einer kontinuierlichen Variation bekannter moralischer Wahrheiten, um deren Wirksamkeit auf das eigene Handeln zu erhalten und zu stärken. Der Essay erscheint hier als besonders geeignete Form zur Pflege eines elitären Selbstverständnisses, das sich aus der Möglichkeit herleitet, die Zeit und die Mittel zu besitzen, sich um das eigene Selbst sorgen zu können.
61 62 63 64
Trublet: Essais, S. 21. Ebd. Vgl. Ebd., S. 22. Ebd., S. 24.
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4.4. Gattungsreflexion durch Essayisten III: Shaftesburys „Business of Self-Dissection“ Stellt man dieser geradezu kulturkonservativen Konzeption des Essays nun Shaftesburys Gattungsreflexion im dritten Teil seiner Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times (1711) mit dem Untertitel Miscellaneous Reflections gegenüber, so wird deutlich, wie ambitioniert die Neubestimmung des Essays im England des frühen 18. Jahrhunderts ist. Bei Shaftesbury findet sich in seinem Soliloquy, or Advice to an Author im ersten Band der Characteristicks die expliziteste Ausformulierung des essayistischen Schreibens als Selbsttechnik. Seine Reflexionen über den Essay können als ergänzender Kommentar zu Addisons Ausführungen im Spectator gelesen werden, wobei es Addisons Leistung ist, das neue EssayKonzept zu popularisieren. Mit größerer Ausführlichkeit als jeder andere Text im frühen 18. Jahrhundert entwirft Shaftesburys Soliloquy den Essay als eine Selbsttechnik, die als ethische und ästhetische Grundlage jeglichen literarischen Schaffens überhaupt fungieren soll. Wie Günter Butzer ausgeführt hat, liegt Shaftesburys Reflexionen die neuplatonische Definition des Denkens als eines Selbstgesprächs der Seele zugrunde.65 Shaftesbury errichte seine Konzeption auf dem Topos der antiken Moralphilosophie, dass der Autor nicht seinen Leser, sondern zunächst sich selbst belehren solle. Vermittelt wird diese Ansicht wiederum in einer medizinischen Metaphorik: Der werdende Moralist sei ein Chirurg, der zunächst seine eigene Krankheit behandeln müsse und seine Fertigkeiten nicht durch Gefährdung anderer, sondern durch Selbstbehandlung erwerben solle: ACCORDINGLY, if it be objected against the above-mention’d Practice, and Art of Surgery, „That we can no where find such a meek Patient, with whom we can in reality make bold, and for whom nevertheless we are sure to preserve the greatest Tenderneß and Regard“: I assert the contrary; and say, for instance, That we have each of us OURSELVES to practise on.66
Im Folgenden führt Shaftesbury seine bekannte dialogische Erkenntnismethode der Aufspaltung des reflektierenden Subjekts in zwei Personen aus.67 Selbsterkenntnis 65 66
67
Vgl. Günter Butzer: Soliloquium. Theorie und Geschichte des Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. München 2008, S. 419. Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury Shaftesbury: Soliloquy: or Advice to an Author. In: Ders: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 1. Hildesheim u. New York 1978 [ND der Ausg. London: Darby 1711], S. 151–364, hier S. 157. Die dialogische Selbsttechnik Shaftesburys wird – auch mit Bezug auf Foucaults Konzept der Selbstästhetik – ausführlich erörtert von Barbara Schmidt-Haberkamp: „Go to the poets“: die Kunst des Selbstgesprächs bei Shaftesbury. In: Rainer Godel u. Insa Kringler (Hg.): Thema: Shaftesbury. Hamburg 2010, S. 17–40. Vgl. hierzu insbesondere Thomas Fries: Dialog der Aufklärung. Shaftesbury, Rousseau, Solger. Tübingen u. Basel 1993, S. 51–97. Zum therapeutischen Verständnis des Schreibens bei Shaftesbury hält Fries fest: „Der entwickelte Zusammenhang zeigt, dass der Kniff der Figur, den Fall des Autors als Fall des Heilkünstlers zu sehen, nicht nur der bildlichen Erklärung
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gemäß des Delphischen „Erkenne dich selbst“ müsse im Text als eine durch Frage und Antwort vollzogene Sektion des eigenen Selbst („Self-Dissection“) erfolgen,68 wobei gemäß der antiken platonisch-sokratischen Konzeption des Dialogs eine Partei als lehrend, die andere als lernend vorgestellt wird.69 Diese Methode der Selbsterkenntnis könne nur durch Disziplinierung der Einbildungskraft vollzogen werden. Shaftesbury beklagt besonders, dass die modernen Moralisten die Selbsterkenntnis vernachlässigten und plädiert für die Anwendung der antiken Selbsttechnik als Grundlage jeder moralistischen Praxis: „He who deals in Characters, must of necessity know his own; or he will know nothing.“70 Durch die Selbstanalyse soll letztlich die Konstitution einer selbstidentischen Subjektivität ermöglicht werden, die sich auf den Leser überträgt. Denn die Praxis essayistischen Schreibens sei „Mirrour-Writing“,71 der Text ein Spiegel, der den Leser zum Nachvollzug der Selbstanalyse anleite. Wie Shaftesbury feststellt, könne eine überzeugende Wirkung beim zeitgenössischen Publikum nur durch das Komische („the ancient Comick“) als stilistisches Prinzip erreicht werden, nicht durch didaktische Anweisungen oder einen methodisch-systematischen Aufbau des Textes.72 Mark-Georg Dehrmann hat in seiner Darstellung der Rezeption Shaftesburys in der deutschen Aufklärung dargelegt, dass Shaftesbury seine dialogische Methode der Selbsterkenntnis in Adaption der stoischen Philosophie Marc Aurels und Epiktets entwickelt und sie dezidiert als „Konkurrenz zu christlichen Formen der moralischen Übung“ versteht.73 Das Soliloquy ist, wie die anderen Essays in den Characteristicks, ein Essay nach dem Modell der kleinen Abhandlung. Addisons Konzeption des Essays im Spectator-Essay Nr. 124 kann als eine für die Publikationsform Wochenschrift komprimierte Version dieses Essay-Verständnisses betrachtet werden. Im letzten Band der Characteristics führt Shaftesbury unter dem Titel Of the Nature, Rise, and Establishment of Miscellanys jedoch eine zweite Essay-Konzeption im Modus der (Selbst-)satire ein, die als unmethodische Alternative zu den vorhergehenden Texten gedacht ist und die frühere Schreibweise humoristisch relativiert. Dazu bedient sich Shaftesbury einer Textstrategie, die bei Montaigne zentral ist: der Herabsetzung des eigenen Schreibens bzw. der essayistischen Praxis allgemein.74 Diese
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dient, sondern vielmehr selbst eine Figur für die Konstitution des Ichs und für dessen Beratung und (Selbst-)Behandlung abgibt. Schreiben als Kur: Wer sein Ich heilen will, muss sich zum Autor machen.“ (Ebd., S. 67.) Vgl. außerdem Alexandra Kleihues: Der Dialog als Form. Analysen zu Shaftesbury, Diderot, Madame d’Epinay und Voltaire. Würzburg 2002. Vgl., Shaftesbury: Soliloquy, S. 158. Vgl. ebd., S. 170 Ebd., S. 189. Vgl. ebd., S. 199. Vgl. ebd., S. 258. Vgl. Mark-Georg Dehrmann: Das „Orakel der Deisten“. Shaftesbury und die deutsche Aufklärung. Göttingen 2008, S. 142. Vgl. hierzu vor allem Pfeiffer, Montaignes Enteignungen. Pfeiffer zeigt, dass Montaigne sich durch die Herabsetzung der Geltung des eigenen Textes erst die notwendige Basis der Selbst-
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Herabsetzung erfolgt, indem Shaftesbury zunächst ein ironisches Lob ausspricht: Da die Form des Essays sich durch einen Verzicht auf Urteilsvermögen, Kohärenz und Originalität auszeichne, könne jedermann sich nun schriftstellerisch betätigen. Die ungeheure Vermehrung literarischer Schriften, die durch die Einführung des Essays hervorgerufen worden sei, habe zu einer Blüte des Witzes (das heißt der bloß geistreichen Kombinatorik) geführt, der nun durch keine Regelpoetik mehr unterdrückt werde. Die Fragwürdigkeit des Ergebnisses wird in einer metaphorischen Anspielung deutlich, welche die niedrige Qualität und den MassenwarenCharakter dieser Texte unterstreicht: Twas necessary, it seems, that the Bottom of Wit shou’d be enlarg’d. ‘Twas advisable that more Hands shou’d be taken into the Work. And nothing cou’d better serve this popular purpose, than the way of MISCELLANY, or common ESSAY; in which the most confus’d Head, if fraught with a little Invention, and provided with Common-place-Book-Learning, might exert it-self to as much advantage, as the most orderly and well-settled Judgment.75
Shaftesbury spricht dem Essay keinerlei Nutzen zu und bestimmt Unterhaltung und Zerstreuung als seinen einzigen Zweck. Es sei – im Gegensatz zu anderen literarischen Formen mit poetischem oder philosophischem Anspruch – das spezifische Charakteristikum der essayistischen Schreibweise, nicht mimetisch zu verfahren, sondern sich so weit wie möglich von der Natur zu entfernen: „‘Tis the Perfection of Grotesque-Painters, to keep as far from Nature as possible.“76 Shaftesbury bringt die Entwicklung einer solchen unmethodischen und fragmentarischen Form neben der Vorliebe für den Witz in direkte Verbindung mit der galanten Konversation, die durch den Essay nachgeahmt werde: „Justness and Accuracy of Thought
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technik schaffe: „Aber gerade die affichierte Niedrigkeit von Gegenstand und Stil erlaubt es, einen singulären Anspruch der Mimesis des Individuellen zu formulieren […].“ (Pfeiffer, Enteignungen, S. 665f.) Dies gilt ebenso für die Essay-Konzeption Shaftesburys. Und bei Butzer heißt es nahezu gleichlautend: „Über die Selbstverurteilung der Essais als minderwertige Literatur […] grenzt sich Montaigne ein literarisches Feld ab, in dem er eine deregulierte, assoziative Phantasie praktizieren kann, die das Selbstgespräch in den Dienst der Inszenierung devianter Subjektivität stellt.“ (Butzer: Soliloquium, S. 443.) Anthony Ashley Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Of the Nature, Rise, and Establishment of Miscellanys. In: Ders.: Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times. Volume III: Miscellaneous Reflections on the preceding Treatises, and other Critical Subjects. Hildesheim u. New York 1978 [ND der Ausg. London: Darby 1711], S. 1–8, hier S. 4. In der deutschsprachigen Übersetzung durch Johann Heinrich Voß und Ludwig Heinrich Völty von 1779, die das Wortspiel „Bottom of Wit“ unterschlägt, wird ebenfalls der Ausdruck „Versuch“ als offizielles deutschsprachiges Äquivalent der Gattungsbezeichnung „Essay“ verwendet: „Es war nothwendig, wie es scheint, das Feld des Witzes zu erweitern. Es war rathsam, mehr Hände zu Bearbeitung desselben aufzunehmen. Und nichts konnte zu Erreichung dieses popularen Zwecks dienlicher seyn, als die Manier der Miscellanien, oder der gewöhnlichen Versuche; worin der allerkonfuseste Kopf, wenn er nur ein wenig Erfindsamkeit und Kollektaneengelehrsamkeit besitzt, sich mit eben so grossem Vortheil zeigen kann, als der wohlgeordnetste und gründlichste Verstand.“ (Des Grafen von Shaftesbury philosophische Werke. Aus dem Englischen übersetzt. Dritter und letzter Band: Miscellanien oder Vermischte Betrachtungen über die vorhergehenden Abhandlungen und andre kritische Materien. Leipzig: Weygand 1779, S. 6.) Shaftesbury: Miscellanys, S. 6.
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are set aside, as too constraining, and of too painful an aspect to be endur’d in the agreeable and more easy Commerce of Gallantry, and modern Wit.”77 Hier wird durch die explizite Zurückweisung der klassizistischen Ideale justness und accuracy (Trublets justesse und precision) deutlich, dass Shaftesburys zweites EssayKonzept als „Miscellany“ dem unmethodischen Konzept Addisons in Spectator Nr. 476 entspricht. Shaftesburys ironisches Lob erfährt seine Klimax darin, dass Unwahrheit und Sinnlosigkeit zu den inhaltlichen Prinzipien der Gattung erhoben werden. Die Schlussfolgerung, dass dementsprechend gerade auch die Schriften vieler Geistlichen, Politiker und Gelehrten als Miszellen zu betrachten seien,78 offenbart als Angriffspunkt der Satire mit einem Schlag die politische und religiöse Autorität, da diese Texte in ihrem Anspruch auf unbedingte Wahrheit gerade das Gegenteil dessen verkörpern, was die essayistische Schreibweise nach Shaftesbury darstellt. Die humoristische Polemik gegen die Gattung erklärt sich nun, da sich der Essay gerade dadurch auszeichnet, dass er durch seine undogmatische Form die Unangemessenheit eines absoluten Wahrheitsanspruchs deutlich macht und somit letztlich mehr moralische Wahrheit besitzt. Diese Wendung in der Argumentation führt daher folgerichtig am Ende des Textes zu Shaftesburys Ankündigung, sich im Folgenden selbst dieser Form bedienen zu wollen.79 Von besonderer Bedeutung ist Shaftesburys Bezeichnung des Essays als Flickenwerk („Patch-work“).80 Diese Charakterisierung findet sich ebenfalls bei Montaigne.81 Zunächst scheint Shaftesburys Konzeption mit ihrer Favorisierung des Unnatürlichen und Monströsen jedoch einen direkten Gegenentwurf zu Montaigne darzustellen, dessen Schreibweise ja gerade auf Wahrhaftigkeit und Authentizität zielt. Doch führen beide Konzeptionen zu einer erstaunlich ähnlichen Wirkung im Endresultat des Textes: Der humoristische Tonfall und die dialogische Anlage bei Shaftesbury lassen den Text als Ausdruck authentischer Individualität erscheinen. Und Montaigne erscheint sein verschriftlichtes Selbst gerade in seiner widersprüchlichen Heterogenität ebenfalls als eine Monstrosität. Der Idee der Monstrosität als eines authentischen Naturausdrucks und als künstlich herbeigeführter Naturferne liegt also die gleiche Wirkungsästhetik zugrunde. Das Flickengewand, das der Text nach Shaftesbury durch die Kombination von heterogenem Bildungswissen, also durch seine Eigenschaft als moralistischer Interdiskurs, bildet, ist eine Verkleidung, die das Aussprechen auch kritischer Wahrheiten erst ermöglicht. Shaftesbury macht dies selbst explizit, wenn er den Essay mit dem „Litte Piece“ 77 78 79 80 81
Shaftesbury: Miscellanys, S. 5f. Vgl. ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 5. In Montaignes Essay De l’inconstance de nos actions heißt es: „Nous sommes tous de lopins, & d’vne contexture si informe & diuerse, que chaque piece, chaque momant, faict son ieu.“ (Montaigne: Essais, 2. Buch, S. 9.)
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vergleicht, das die Tragödie unterbricht oder beschließt und den Zuschauer durch comic relief von der Ernsthaftigkeit der Haupthandlung entlasten soll.82 Dieses „Little Piece“ wird in der Tragödie Shakespeares durch den Auftritt eines (weisen) Narren bestritten, dessen traditionelles Gewand eben ein Flickenwerk ist. Indem der Narr sich selbst der Lächerlichkeit preisgibt, eröffnet er sich die Möglichkeit, den Herrschenden die Wahrheit über sich selbst ungestraft vorzutragen. Shaftesbury entwirft somit den Essay hier als eine literarische Maske, ein Narrengewand, unter dem sich die Kritik verbirgt. Während das Motiv des Flickenwerks bei Montaigne als anthropologische Aussage zu verstehen ist, handelt es sich bei Shaftesbury darüber hinaus auch um eine rhetorische und wirkungspsychologische Textstrategie. Der Überblick über verschiedene Konzeptionen des Essays in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigt, wie erstaunlich komplex die neue Funktionalisierung des Essays als Selbsttechnik sich gestaltet. Während bei Trublet eine klassizistische Konzeption entworfen wird, in der durch den Essay vor allem das Memorieren und Einüben rhetorisch eingekleideter Wahrheiten ermöglicht werden soll, dominiert in den beiden englischen Konzeptionen die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Essay, Vernunft und Imagination. Addison und Shaftesbury legen jeweils zwei unterschiedliche Konzeptionen vor, die einander zu einer ganzheitlichen Selbsttechnik ergänzen: Der Essay als Abhandlung, in dem die therapeutische Selbsttechnik durch eine Kontrolle der Imagination bzw. eine Disziplinierung der Affekte allgemein erfolgen soll, und der Essay als eine regellose, metareflexive Alternativform, in welcher der Imagination freier Lauf gelassen wird. Bei Addison fungiert hier Montaigne als Vorbild, und der unmethodische Essay wird zum Ort des ästhetischen Vergnügens, speziell des Genusses des Erhabenen. Bei Shaftesbury wird der Essay als „Miscellany“ zum Organ der Kritik, indem der Essayist seine Intentionen in harmlos scheinender Komik verbirgt. Das Erhabene wird von Shaftesbury – ganz im Gegensatz zu Addison – explizit aus dieser Konzeption des Essays verwiesen, da Shaftesbury es der „didactick or preceptive manner“ zuordnet.83 Auf den ersten Blick erscheint Shaftesburys „Miscellany“ als dezidiertes Gegenkonzept zu den Essais Montaignes, da er es als möglichst naturferne und unoriginelle Kompilation von Wissensbruchstücken anlegt. Doch führt Montaignes auf authentische Selbstbeschreibung angelegte Technik gerade zur Erfahrung der Künstlichkeit und Fremdheit des eigenen Ichs. Shaftesburys Konzept setzt bei dieser Erkenntnis an und macht sie zur humoristischen Grundlage seiner Kritik. Der vorgebliche Verzicht auf Wahrheit ermöglicht über die Ironie erst die kritische Äußerung. Für die Entstehung einer deutschsprachigen Essayistik in den Moralischen Wochenschriften ist zunächst Addisons Konzeption der kleinen Abhandlung entschei82 83
Vgl. Shaftesbury: Miscellanys, S. 7. Vgl. ebd., S. 258.
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dend, wie im Folgenden gezeigt wird. Die literarische Form des Essays repräsentiert in dieser Konzeption immer den Zusammenhang von Denken, Schreiben und Lesen. Jeder Essay-Schreiber ist zugleich auch ein Mit- und Über-Denker seiner und fremder Essays und ein Gesprächspartner im Sinne der politischen Gelehrsamkeit. Jeder Leser ist ein zum Mitdenken Aufgeforderter und selbst ein potentieller Essay-Schreiber.
5. Deutschsprachige Essayistik als moralistischer Interdiskurs bis 1750 Die in den vorangehenden Konzeptionen dargestellten Inhalte und Strategien der Essayistik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weisen diese als einen moralistischen Interdiskurs aus. Sein Aussagesystem wird durch das Naturrecht, die Humoralpathologie, eine durch den Erhabenheitsdiskurs erweiterte klassizistische Poetik und schließlich durch die Funktion als therapeutische Selbsttechnik bestimmt, die alle Bestandteile miteinander verklammert und sinnvoll aufeinander bezieht. Im deutschsprachigen Raum stellen die Moralischen Wochenschriften mit ihrem umfangreichen Textsortenspektrum – wie dem moralischen Charakter, der Fabel, dem (Leser-)Brief oder dem allegorischen Traum – die erste umfangreichere essayistische Produktion dar. Als eigenständige Anverwandlung des Konzeptes englischer Wochenschriften, vor allem natürlich des Spectator, sind die deutschen Wochenschriften als Mittel zur Konstituierung bürgerlicher Subjektivität besonders geeignet, da sie in den englischen Wochenschriften bereits einen voll ausgeprägten bürgerlichen Konversationston vorfinden. Die Anthropologie und Ethik der Wochenschriften gründet auf dem Naturrecht Samuel Pufendorfs, das die gesellige Natur des Menschen betont und die vernünftige Selbstliebe des Einzelnen zur Beförderung seiner Gesellschaftsfähigkeit einsetzen will.1 Martens bezeichnet die Wochenschriften als Didaxe bürgerlicher Weltanschauung, „als ein Organ, das die allgemeine Orientierung des Lesers lenken, sein Bewusstsein, seine Lebensanschauung formen und verändern kann“.2 Ausgehend von dieser Bestimmung wird im Folgenden untersucht, auf welche Weise deutschsprachige Wochenschriften tatsächlich Selbsttechniken oder – im zeitgenössischen Sprachgebrauch – „Methoden des Denkens“ vermitteln. Dabei müssen die Essays 1
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Vgl. dazu auch Friedrich Vollhardt: Die Bildung des Bürgers. Wissensvermittlung im Medium der Moralischen Wochenschrift. In: Hans-Edwin Friedrich, Fotis Jannidis u. Marianne Willems (Hg.): Bürgerlichkeit im 18. Jahrhundert. Tübingen 2006, S. 135–147; ders.: Eigennutz – Selbstliebe – Individuelles Glück. In: Richard van Dülmen (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Weimar u. Wien 2001, S. 219–242, v.a. S. 236f.; ders.: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001, S. 257. Martens: Botschaft der Tugend, S. 169.
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stets mit den anderen Textsorten im Verbund betrachtet werden, da jeder Text das übergeordnete Programm in einem Ausschnitt widerspiegelt und reflektiert oder veranschaulicht. Schote hat in seiner Studie zur Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays im 18. Jahrhundert eine Analyse der Essayistik der Hamburger Wochenschrift Der Patriot (1724–26) unternommen und nachvollzogen, wie hier die gleichzeitige Verwendung von moralischen Imperativen und Anregungen zum selbstständigen Denken letztlich zu einer Inkohärenz des Leserentwurfs führe.3 Das Prinzip der fiktiven Herausgeberschaft in den Moralischen Wochenschriften nehme „eine Zwischen- und Übergangsstellung zwischen obrigkeitlichen, kirchlichen und gelehrten Autoritäten und der Freiheit und Ungebundenheit des Schrifttums späterer Zeiten ein“.4 Und in der Tat ist die Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und Heteronomie in der Selbsttechnik der Essayistik des frühen 18. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung. Bei Schote erscheinen die Wochenschriften nur als defizitäre Vorform der Essayistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, da ihren Verfassern in der Charakterschilderung die Fähigkeit zur „Darstellung des Individuellen“ fehle.5 Schotes Urteil verfehlt die Programmatik der Wochenschriften, die es gezielt vermeiden, individuelle Charaktere darzustellen.6 Demgegenüber betont zum Beispiel Schärf in seinem Artikel zum Essay im Handbuch literarischer Gattungen die eminente gattungsgeschichtliche Bedeutung der Einbindung von Essays in eine periodische Publikationsform zu Beginn des 18. Jahrhunders. Er verlagert so das Wertungskriterium von einem literatur- und gattungsgeschichtlichen auf einen mediengeschichtlichen Standpunkt: „Bis heute ist der Essay fester Bestandteil journalistischer Formate auf allen Ebenen.“7 Die deutschsprachige Wochenschriftenessayistik wird in dieser Studie anhand von zwei Titeln untersucht. Es handelt sich um Die Discourse der Mahlern von Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger, erschienen von 1721–1723 in Zürich in vier Bänden,8 sowie Der Gesellige, der 1748–50 von Georg Friedrich 3
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Schote kommentiert eine Textanalyse des 58. Stücks des Patrioten folgendermaßen: „Für das Selbstdenken, die eigene Reflexion, die im späteren 18. Jahrhundert den essayistischen Charakter so vieler Prosaschriften ausmachen, ist hier kein Platz. Dem Leser werden unzweideutige Richtlinien vermittelt, die er zu beachten hat, wenn er den Pfad der Tugend beschreiten will.“ (Joachim Schote: Die Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays im 18. Jahrhundert. Freiburg i.Br. 1988, S. 36f.) Ebd., S. 39. Vgl. ebd., S. 42. Dass die Wahl der Darstellungsmittel in den Wochenschriftenessays jedoch auch auf den Grad der intellektuellen Befähigung des anvisierten Publikums zurückzuführen sein könnte, deutet Schote durchaus an, wenn er feststellt: „Während in späterer Zeit der Essayist immer auf das vernünftige und selbständige Urteil seiner Leser vertraut, scheint dies zur Zeit der frühen Wochenschriften noch nicht genügend ausgereift.“ (Ebd., S. 36.) Christian Schärf: Essay. In: Dieter Lamping (Hg.): Handbuch der literarischen Gattungen. Stuttgart 2009, S. 224–233, hier S. 229. Der zweite und der dritte Band erscheinen 1722. Der vierte Band erscheint unter dem Titel: Die Mahler. Oder: Discourse Von den Sitten Der Menschen.
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Meier und Samuel Gotthold Lange als erste von vier gemeinsam verfassten Wochenschriften in Halle herausgegeben wird.9 Die frühe Wochenschrift der Schweizer ist sehr eng an das englische Vorbild angelehnt und kann daher anschaulich zeigen, wie die Konzeption des Essays als moralistischer Interdiskurs, die ja bereits auch im deutschsprachigen Raum vorbereitet wurde, eine produktive und weiterführende Rezeption erfährt. Die Hallesche Wochenschrift wiederum hat bereits Anteil an der Empfindsamkeit und entsteht in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Entwicklung der Ästhetik als Wissenschaft durch Alexander Gottlieb Baumgarten. Die Transformation der Essayistik als Selbsttechnik, die sich darin abzeichnet, gibt Aufschluss bei der Beantwortung der Frage, ob sich der Paradigmenwechsel in der Erkenntnistheorie, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzt, in der Essayistik als Bruch oder als konsistenter Übergang vollzieht.
5.1. Moralistische Essayistik und Erbauungsliteratur Um die in den Moralischen Wochenschriften vorgestellten Selbsttechniken untersuchen zu können, ist es vorab notwendig, die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis die Wochenschriften zur Erbauungsliteratur stehen. Immer wieder ist auf den Predigtton der moralistischen Essays hingewiesen und eine enge Verbindung gerade auch zur pietistischen Erbauungsliteratur konstatiert worden. In der Forschungsliteratur sind dabei zwei Tendenzen zu beobachten: Im einen Fall wird eine Verwandtschaft von Moralistik und Erbauungsliteratur sehr allgemein festgestellt, ohne auf die konkreten Gemeinsamkeiten beider Schreibweisen einzugehen. Im anderen Fall führt ein genauerer Vergleich zur Feststellung der inneren Widersprüchlichkeit einer naturrechtlich geprägten Moralistik mit religiöser Thematik, und es wird nach deren Ursachen geforscht. In ihrer Studie zu den Moralischen Wochenschriften zwischen 1748 und 1782 etwa betrachtet Elke Maar die vernunftbasierten Wochenschriften als eine Nachfolgeerscheinung zu geistlicher Literatur mit lebenspraktischer Ausrichtung. Sie geht von einer engen Verbindung zwischen der Erbauungsliteratur als Schreibweise und der Essayistik der frühen Aufklärung aus: Einen zweiten Grundpfeiler des deutschsprachigen Moraljournalismus bildeten die religiösen Erbauungsschriften. Sowohl im protestantischen als auch im katholischen Bereich boten diese Schriften ihren Lesern die ganzheitliche Lebensberatung, die sich später die Moralischen Wochenschriften zur zentralen Aufgabe machen sollten.10
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Es folgen Der Mensch (1751–1756), Das Reich der Natur und der Sitten (1757–1762) und Der Glückselige (1763–1768). Elke Maar: Bildung durch Unterhaltung: Die Entdeckung des Infotainment in der Aufklärung. Hallenser und Wiener Moralische Wochenschriften in der Blütezeit des Moraljournalismus, 1748–1782. Pfaffenweiler 1995, S. 223.
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Belegt wird die These der engen Verwandtschaft von Wochenschriften-Moralistik und Erbauungsliteratur, zumindest für den untersuchten Zeitraum ab 1748, mit der Annäherung von Pietismus und Rationalismus seit der Rückkehr Christian Wolffs nach Halle 1740, die den Moraljournalismus entscheidend geprägt habe. Besonders die Halleschen Moralischen Wochenschriften in der Herausgabe Georg Friedrich Meiers und Samuel Gotthold Langes seien vom „progressiven, nichtweltabgewandten Pietismus“11 beeinflusst. Auch Martens verweist auf eine enge Verbindung von Moraljournalismus, Pietismus und Ästhetik und betont für diese Konstellation die vermittelnde Rolle des Theologen Siegmund Jacob Baumgarten, der die Bibel als Musterschrift zur Schulung des guten Geschmacks eingesetzt und den Geschmack als Mittel moralischer Erkenntnis begründet habe.12 Diese sehr allgemeinen Feststellungen gründen sich hauptsächlich auf stilistischen und thematischen Übereinstimmungen zwischen Moralistik und Erbauungsliteratur. Die Frage, ob Texte in Moralischen Wochenschriften als Erbauungsliteratur bezeichnet werden können, erhält durch einen Bezug auf den Essay als Selbsttechnik eine neue Dimension. Wie schon die Analyse des Bacon’schen Essays Of Truth gezeigt hat, besteht ein kategorialer Unterschied zwischen dem Essay als vernunftbasierter Selbsttechnik und einer traditionellen Erbauungsschrift. Der christlichrationale Essay konstatiert zwar die Ungläubigkeit und moralische Gefährdung des Menschen und belegt seine Aussagen mit Beispielen aus der Selbst- und Fremdbeobachtung sowie aus der Lektüre, doch wird auf die Ansprache des einzelnen Lesers als zu Bekehrenden oder auf einen Aufruf zur Festigung des Glaubens grundsätzlich verzichtet. Auch der Perspektivenwechsel, der zu einer Distanzierung des essayistischen Ichs von seinen Aussagen führen kann (wie es Bacon mit Bezug auf das Vergnügen an der Lüge durchführt), ist mit einer Erbauungsschrift nicht vereinbar. Die große Ähnlichkeit mancher Erbauungsschriften mit essayistischen Texten in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist darauf zurückzuführen, dass auch diese Schreibweise sich – besonders befördert durch die Vorlesungen und Predigten Johann Lorenz von Mosheims – an den stilistischen Idealen der Aufklärung und der politischen Gelehrsamkeit orientiert. Friedrich Vollhardt begreift in seiner Untersuchung zu Mosheims Sitten-Lehre der Heiligen Schrifft (5 Bände, 1735–1752) die Moraltheologie des Kirchenhistorikers, der 1747 Kanzler der Universität Göttingen wurde, als eine regelrechte Konkurrenz zu den „weltlich orientierten“ Moralischen Wochenschriften.13 Mosheims Moralistik umfasse drei Bereiche: die bibli-
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Maar: Bildung durch Unterhaltung, S. 140. Vgl. Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, S. 159–167. Ort dieser Umwertung ist, wie Martens ausführt, das Vorwort Baumgartens zu Samuel Gotthold Langes Oden Davids (1745). Vgl. Friedrich Vollhardt: Christliche Moral und civiles Ethos. Mosheims Sitten-Lehre der Heiligen Schrifft. In: Martin Mulsow u.a.: (Hg.): Johann Lorenz Mosheim (1693–1755). Theolo-
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sche Hermeneutik, die Pflichtenlehre und die Anthropologie.14 Er verwende in der Sitten-Lehre sowohl die Satire als auch den moralischen Charakter;15 zwei zentrale – und einander bedingende – Merkmale der Moralistik der Wochenschriften. Auch Dehrmann verweist anhand von Mosheims Sitten-Lehre auf die scharfe Konkurrenz zwischen der protestantischen Ethik und der deistisch geprägten Moralistik: „Das Werk sollte den moralischen Alleinvertretungsanspruch des Christentums belegen und systematisch alles umfassen, was für die Lebensführung des Christen von praktischer Relevanz ist […].“16 Aufschlussreich ist in diesem Kontext auch, dass Dehrmann in Mosheims Kritik der stoischen Tugendphilosophie letztlich einen Schlag gegen die deistische Ethik des (von Mosheim namentlich nicht genannten) Shaftesbury erkennt.17 Unter dem Stichwort der „homiletischen Klugheit“ fordert Mosheim Deutlichkeit, gemäßigten Witz und Anschaulichkeit der Predigt ein.18 Zum ersten Band einer von 1737 bis 1764 jährlich erscheinenden Textsammlung mit dem Titel Gesammlete Moralisten-Bibliothec von auserlesenen kleinen Moralischen Schrifften hat Mosheim auf Wunsch des ungenannten Herausgebers eine Vorrede verfasst. Diese Vorrede diskutiert, ob das beständige Anwachsen geistlicher Sittenschriften als ein gutes oder schlechtes Zeichen hinsichtlich der moralischen Verfassung der Christenheit anzusehen sei und ob man diese Schriften ablehnen oder unterstützen solle. Mosheim lehnt die unüberschaubare Flut geistlicher Neuerscheinungen ab, stellt jedoch zugleich die unbedingte Notwendigkeit jeweils zeitgemäßer Sittenschriften heraus. Da der Mensch seiner Natur gemäß ständig nach Neuem verlange, könne ihn die religiöse Botschaft nur erreichen, wenn die geistlichen Autoren mit der literarischen Mode Schritt hielten: Das alte wird nicht in sich, sondern in der Meynung und Einbildung der Menschen, abgenützet. Die Seele ist so neugierig, wie das Auge, und bewundert eine neue Einbildung der göttlichen Weisheit eben so, wie die Sinnen einen ungewöhnlichen Aufzug. Es wird daher, wo man sie im Guten erhalten will, nöthig seyn, daß man sie stets auf eine andere Weise zur Furcht des Höchsten und zu einem gottseligen Wandel aufmuntere.19
Die Textsammlung enthält verschiedene Erbauungsschriften englischer, französischer und deutscher Theologen. Mosheim gibt zu erkennen, dass die Texte seinen
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gie im Spannungsfeld von Philosophie, Philologie und Geschichte. Wiesbaden 1997, S. 347– 372, hier S. 348. Vgl. Vollhardt: Mosheims Sitten-Lehre, S. 360. Vgl. ebd., S. 363 u. 369f. Dehrmann: Orakel der Deisten, S. 117. Vgl. ebd., S. 119. Vgl. Johann Lorenz von Mosheim: Anweisung erbaulich zu predigen. Aus den vielfältigen Vorlesungen des seeligen Herrn Kanzlers verfasset und zum Druck befördert von Christian Ernst von Windheim. Erlangen: Walther 1763, S. 109–130. Gesammlete Moralisten-Bibliothec von auserlesenen kleinen Moralischen Schrifften, mehrenteils aus dem Engl. übersetzet, Mit einer Vorrede Johann Lorenz Mosheims. Leipzig u. Görlitz: March 1737. Vorrede (o.S.).
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stilistischen Vorgaben zwar nicht vollständig, jedoch in Teilen entsprächen: „Zuweilen wird man Vorstellungen finden, denen es eben so wenig an Zierde und Annehmlichkeit, als an einer nöthigen Einsicht und Erkäntniß der Wege des menschlichen Hertzens fehlet.“20 Dennoch ist auch bei Mosheim die Erbauungsschrift durch ihre Intention, den Leser als Gläubigen (oder zu Bekehrenden) zu erreichen, eindeutig von essayistischen Texten unterschieden, die den Menschen zuerst als vernünftiges Wesen und dann als Gläubigen ansprechen. Deutlich wird dies auch in Mosheims Definition der Erbauungsschrift als „eine[r] Rede, worin nach Anleitung eines Stückes der heiligen Schrift, eine Versammlung solcher Christen, die schon in den Gründen der Religion unterwiesen ist, theils in der Erkenntniß soll befestiget, theils zum Fleisse in der Gottseligkeit erwecket und ermuntert werden.“21 Der Bezug der Wochenschriften auf die stoische therapeutische Selbsttechnik bedeutet letztlich die bewusste Wahl einer wirkungsmächtigen Tradition als ethisches Gegenprogramm zur traditionellen Erbauungsliteratur. Dass dieses Vorgehen von theologischer Seite aus als Anmaßung begriffen wird, hat Martens in seiner Rekonstruktion der polemischen Flugschriften gegen den Hamburger Patrioten dargestellt. Die Kritiker der Wochenschrift beharren auf der Vorstellung vom Menschen als einem erlösungsbedürftigen Wesen und sprechen ihm die Fähigkeit zu selbstständiger sittlicher Verbesserung ab. In der gesamten Auseinandersetzung erkennt Martens den Beginn einer Zeitenwende, die Ablösung des barocken Weltbildes durch den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung: Fortan wird der Bürger nach der irdischen Glückseligkeit trachten und das Fragen nach einer ewigen Seligkeit vernachlässigen, er wird sich intensiv um das gesellschaftliche Wohl, kaum aber mehr um sein Heil sorgen, lieber arbeiten, als beten. Das alte theonome Denken ist abgetan, das neue diesseitig-sozionome Denken etabliert sich.22
Dieser Sachverhalt muss in Bezug auf die einzelnen Wochenschriftenprojekte differenzierter betrachtet werden. Denn die Intention der Wochenschriften, sich ihren vernünftigen Leser durch die Vermittlung einer Selbsttechnik Schritt für Schritt aufzubauen, führt zu dem Bemühen der Autoren, auch religiöse Fragen stimmig in den moralistischen Interdiskurs zu integrieren. Zu diesen Wochenschriften zählen die Discourse der Mahlern und Der Gesellige. Zwar betonen sie die Notwendigkeit und Autorität der Offenbarung immer wieder, doch wird diese Autorität faktisch durch die parataktische Struktur der Wochenschriftenessayistik, die durch die naturrechtlich geprägte Pflichtenethik verklammert ist, beschränkt. Religion wird unter die vielfältigen Mittel zur vernünftigen Therapie der Seele eingereiht. Für die gläubigen Verfasser der Essays in Moralischen Wochenschriften stellt dies jedoch offensichtlich kein unlösbares Problem dar: Die Essays mit religiöser Thematik 20 21 22
Mosheim: Moralisten-Bibliothec, Vorrede (o.S.). Mosheim: Anweisung, S. 1. Martens: Literatur und Frömmigkeit, S. 260.
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sind für sie Teil ihrer religiösen Praxis. Daher kann man hier von einer alternativen, vernünftigen Erbauungsliteratur sprechen, die ihre inneren, logischen Widersprüche in der Glaubenspraxis des Einzelnen selbst austragen muss. Vollhardt stellt die These auf, dass den Verfassern von Wochenschriften offenbar nicht klar gewesen sei, dass ihre vernünftigen Reflexionen zur Tugendlehre die Autorität der Religion nicht erneuert, sondern untergraben hätten.23 Die Autoren seien „der religiösen Denkhaltung des breiten Publikums entgegen[gekommen], selbst auf Kosten der argumentativen Stringenz“.24 Diese Position berücksichtigt jedoch nicht die Eigenständigkeit der Essayistik als Teil einer religiösen Praxis und individuelle Alternative zur traditionellen Erbauungsliteratur. In vielen Fällen dürften innere Widersprüche auch durch das Eingreifen der Zensur bedingt sein, doch muss die Frage nach den Ursachen solcher Phänomene letztlich immer am Einzelfall geprüft werden. Es besteht kein Anlass zu der Annahme, dass die große Präsenz religiöser Reflexionen in den Wochenschriften ausschließlich eine Konzession an die anvisierten Leser oder an die Zensur darstellt. Die Discourse der Mahlern sind der rationalistisch geprägten Etablierungsphase der Moralischen Wochenschriften in den 1720er Jahren zuzuordnen. Der Gesellige steht im Kontext des Empirismus und der Empfindsamkeit und wird von Maar einer zweiten Phase von 1740 bis 1780 zugeordnet, in der die Wochenschriften ihre höchste Verbreitung erfahren.25 Im Folgenden wird dargestellt, welche Selbsttechniken diese beiden sehr unterschiedlichen Wochenschriften mithilfe essayistischer Reflexion als Grundlage bürgerlicher Subjektivität vermitteln wollen.
5.2. Therapeutische Selbsthermeneutik in Moralischen Wochenschriften 5.2.1. Die „sokratisch-katechetische Methode“ und Die Discourse der Mahlern (1721‒1723) Die für den Spectator herausgearbeiteten Eigenschaften des Essays werden auch von Bodmer und Breitinger in ihrem Projekt einer ersten komplett eigenständigen 23 24
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Vgl. Vollhardt: Selbstliebe, S. 257. Vgl. ebd., S. 254. Vollhardt führt seine Überlegung anhand von Lessings gleichlautender Kritik an den Wochenschriften in seinen Briefen, die neueste Literatur betreffend (1759/60) durch, bezieht zu dieser These jedoch nicht kritisch Stellung. Die Wochenschriften können nach Lessing „weder dem überlieferten Glauben noch der Vernunft gerecht werden“ (Vollhardt: Selbstliebe, S. 256). Da die kritisierten Autoren in Form vernünftiger Beweise argumentieren, wendet Lessing das Kriterium der inneren Widerspruchsfreiheit satirisch gegen sie und erweist die mangelnde Logik ihrer Ausführungen. Lessing misst damit die religiösen Überzeugungen der kritisierten Autoren am Maßstab der rationalen Aufklärung; ein Vorgehen, das auf der Ebene der gelehrten Polemik, jedoch nicht auf der Ebene der wissenschaftlichen Beurteilung einer religiösen und literarischen Praxis angemessen ist. Vgl. Maar: Bildung durch Unterhaltung, S. 21.
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deutschsprachigen Wochenschrift adaptiert und weiterentwickelt.26 Zwischen 1721 und 1723 erscheinen die Discourse der Mahlern in Zürich unter zunehmend erschwerten Publikationsbedingungen. Während die Blätter des ersten Jahrgangs noch wöchentlich an jedem Donnerstag durch den Drucker Joseph Lindinner ausgegeben werden, kann 1722 lediglich noch halbjährlich eine Sammlung von Texten erworben werden. 1723 schließlich wird nur noch ein letzter, vierter Teil in der Bodmerischen Druckerei von Hartmann Heidegger und Johann Heinrich Rahn publiziert.27 Helga Brandes hat in ihrer Untersuchung sowohl der Discourse der Mahlern als auch der Neuauflage dieser Wochenschrift unter dem Titel Der Mahler der Sitten (1746) die Übereinstimmungen beider Wochenschriften mit dem Spectator und die beabsichtigten Abweichungen von diesem Vorbild ausführlich dargestellt.28 Während Brandes dabei ihren Schwerpunkt auf die Adaption einzelner Stücke und die fortschreitende stilistische Annäherung der Discourse an die lebendige und anschauliche Schreibweise des Spectator legt, sind für die Darstellung der frühen Essayistik in den deutschsprachigen Wochenschriften gerade die Abweichungen vom Spectator interessant. Wie Addison und Steele bewerben die Schweizer ihr Projekt als ein nationales. Es soll der sittlichen Verbesserung der Schweizer Bürger und der Schaffung einer literarischen Öffentlichkeit dienen. Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse steht Bodmer und Breitinger für die Abfassung der Discourse nur die gekürzte französische Übersetzung der englischen Wochenschrift, Le Spectateur, ou le Socrate mo-
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Dass es sich bei den Discoursen tatsächlich um die erste eigenständige deutschsprachige Wochenschrift handelt, wird von Holger Böning in seiner Studie zu Johann Mattheson und dessen Wochenschrift Der Vernünfftler (Hamburg 1713/14) bestritten. Obgleich es sich beim Vernünfftler um eine Auswahlübersetzung aus dem Tatler und Spectator handelt, seien die Zusätze und Änderungen Matthesons so umfangreich, dass daraus ein eigenständiges Wochenschrift-Projekt entstehe und Mattheson als Initiator der Gattung in Deutschland angesehen werden müsse. Vgl. Holger Böning: Der Musiker und Komponist Johann Mattheson. Studien zu den Anfängen der Moralischen Wochenschriften und der deutschen Musikpublizistik. Bremen 2011, S. 13 u. 195. Böning stellt überzeugend heraus, dass Mattheson seine Wochenschrift als eigenständiges publizistisches Werk betrachtet, die Ideen Addisons und Steeles an die Hamburger Verhältnisse anpasst und durch das Abfassen fiktiver Gegenschriften die öffentliche Diskussion über seine wenig erfolgreiche Wochenschrift anzuregen versucht. Allerdings verzichtet Böning darauf, durch einen exakten Stellenvergleich von Original und Übersetzung Matthesons originäre Leistung deutlich zu machen. Daher erscheinen in seiner Darstellung häufig nahezu wortgetreue Übersetzungen aus dem englischen Original als Ideen Matthesons. Hier wäre eine genauere Differenzierung nötig, um die tatsächliche Bedeutung von Matthesons Vernünfftler für die deutschsprachige Gattungsentwicklung beurteilen zu können. Böning weist nach, dass bereits Ende des 17. Jahrhunderts in Hamburg periodische Publikationen zu Fragen der praktischen Moral erscheinen, die bereits zahlreiche Elemente der späteren Moralischen Wochenschriften aufweisen. Vgl. David Paisey: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701–1750. Wiesbaden 1988, S. 21. Vgl. Helga Brandes: Die „Gesellschaft der Mahler“ und ihr literarischer Beitrag zur Aufklärung. Eine Untersuchung zur Publizistik des 18. Jahrhunderts. Bremen 1974.
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derne (1714–50), zur Verfügung.29 Möglicherweise hatten sie auch Zugang zu der ersten deutschsprachigen Auswahlübersetzung unter dem Titel Der Spectateur, oder, Vernünftige Betrachtungen über die verderbten Sitten der heutigen Welt (1719–25).30 Als Äquivalent zum Spectator-Club ersinnen die Schweizer als fiktive Herausgeberschaft die „Gesellschaft der Mahlern“ und unterzeichnen ihre Essays pseudonym mit den Namen Alter Meister wie Hans Holbein, Albrecht Dürer, Peter Paul Rubens („Rubeen“) oder Annibale Carracci („Hannibal Carrache“). Dass die Discourse nicht nur von Bodmer und Breitinger bestritten werden, erweist sich zu Beginn des vierten Teils der Wochenschrift in einem Brief, der die Identität der anderen Beiträger – Daniel Rodolph, Johann Jacob Lauffer, Laurentius Zellweger und Daniel Cornelius Zollickhoffer – enthüllt.31 Bewundernd heben Bodmer und Breitinger an den Engländern diejenigen Eigenschaften hervor, zu denen auch das zukünftige Schweizer Publikum angeleitet werden soll: „[E]ure gesunde Vernunfft / eure lebhaffte Imagination / eure polite Gelehrtheit / eure lange Erfahrenheit / euer Stillschweigen / eure verständige Nation […].“32 Gesunde Vernunft und lebhafte Imagination stehen in diesem Bildungskonzept, wie in der Ästhetik Addisons, an erster Stelle und verweisen auch hier auf einen Zustand spannungsvoller Komplementarität innerhalb der Selbsttechnik. Dass diese Problematik den Schweizern sehr bewusst ist, zeigt sich bereits in einer Selbstpositionierung gegenüber dem Spectator vom 25. Oktober 1721, die sich in einem erhaltenen Original-Manuskript mit dem Titel „Chronick der Gesellschaft der Mahler“ findet, das Theodor Vetter 1887 publiziert hat. Hier heißt es in einem Brief an Johann Jacob Lauffer: Die Stärcke des Engelländers bestehet in seiner Imagination, und es scheinet aus vielen Stellen, daß er es selbst wol gewusst; Er ist geschickt sich dem goust der meisten zu accommodiren: Darum ist wol auch geschehen, daß er die plaisirs der Imagination für der discernements seine erhebet. Er machet nicht selten absprünge, wenn er anfängt raisonniren. Wir werden von Zeit zu Zeit einige von diesen Fehlern releviren, doch nicht anders, als daß wir Sorge haben, das Gegentheil seiner Meinungen zu persuadiren. Wir werden darinne sonderbar von ihm abweichen, daß wir die cultivirung des Verstandes mehr erheben, als er: daß wir die Raillerie, moquerie, Ironie besser distinguiren; daß wir den Satyren einen großen Nutzen zu-
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Anon.: Le spectateur, ou le Socrate moderne, où l'on voit un portrait naïf des moeurs de ce siècle. 8 Bände. Amsterdam: Wetstein 1714–55. Anon.: Der Spectateur, oder, Vernünftige Betrachtungen über die verderbten Sitten der heutigen Welt. 3 Bände. Frankfurt u. Leipzig: Riegel 1719–25. Die genaue Zuordnung der Verfasser jedes einzelnen Textes leistet Theodor Vetter: Der Spectator als Quelle der ‚Discourse der Maler‘. Frauenfeld 1887. Bodmer tritt unter den Namen „Rubeen“, „Holbein“ und „Dürer“ in Erscheinung, Breitinger schreibt als „Carrache“. Johann Jakob Bodmer u. Johann Jakob Breitinger: Die Discourse der Mahlern. Vier Teile in einem Band. Hildesheim 1969 [ND der Ausg. Zürich: Lindinner 1721–23], Vorrede, )( 2v.
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schreiben; daß wir die Imagination für etwas halten, das Niemand in einem höhern Grade, und lebhafter von der Natur empfangen hat, als der andere [...].33
Der Gefahr einer Verselbstständigung des ästhetischen Spiels wirken Bodmer und Breitinger somit intentional entgegen. Hinter der aus ihrer Sicht übermäßigen Aufwertung der Imagination gegenüber der Vernunft vermuten sie eine bloße Anpassung Addisons und Steeles an den Publikumsgeschmack. Daher ist es auch folgerichtig, dass Bodmer und Breitinger sich bei der Charakterisierung ihrer Schreibweise an denjenigen Aspekten orientieren, die im 124. Stück des Spectator (im Kontext der Bestimmung des Essays als kleine Abhandlung) benannt werden. Wie die Engländer betonen sie besonders den Vorteil inhaltlicher Verdichtung, den ihre „Blätter“ gegenüber umfangreichen Büchern böten. Bei der Beschreibung ihrer Schreibweise handelt es sich offensichtlich um eine Paraphrase des 124. Stücks des Spectator: Seine Methode / die Morale in fliegenden Blättern nach Art der Gazetten / zudebitieren / hat grosse Vortheile für den Leser / welchen sie stracks in die Materie hineinführt / daß er in einem einzigen Augenblick die Stärcke derselben absiehet; an statt daß er in einem grossen Band durch eine langweilige Vorrede / durch ein Complimenteur Exordium / durch manche Tautologie und Amplification passieren muß / bevor er zu dem Ziel gelanget. Mancher hat nicht Zeit gnug / und manchem mangelt es an Gedult ein grosses Werck zudurchlesen / der doch Curiositet gnug hat / zuwissen / was man über die oder diese Materie vernünfftiges sagen kann. 34
Indem die Verfasser der Discourse sich selbst als „Maler“ bezeichnen, verweisen sie nicht nur auf ihr mimetisches Kunstverständnis in Anlehnung an Dubos’ Reflexions critiques sur la poësie et sur la peinture von 1719. Durch ihre Adaption der Verbindung von Malerei und Poesie bei Dubos und ihre Übertragung auf den moralistischen Interdiskurs wird dieser zudem zu einer eigenständigen Form des künstlerischen Ausdrucks erhoben. Dementsprechend urteilen Bodmer und Breitinger über ihre Essays wie über ein poetisches Werk: Die Schreibweise der einzelnen Stücke solle „natürlich“ sein,35 das heißt die Wahrheit eines Gegenstandes möglichst vollständig abbilden. Der Schriftsteller könne auf diese Weise seine Vorstellung identisch in die Imagination seines Lesers übertragen: „Ein Object, das auf diese Weise mit der Feder und den Worten in der Imagination abgebildet worden, heißt eine Idee, Deutsch, ein Bildniß, ein Gemählde.“36 Das Objekt, von dem hier die Rede ist und das sich im einzelnen Discours wie ein Gemälde organisiert, ist die moralistische Reflexion, letztlich also das in die rhetorische Figur überführte Denken. Grundlegend ist dabei für Bodmer und Breitinger jedoch weder die his33
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Theodor Vetter (Hg.): Chronick der Gesellschaft der Mahler. 1721–1722. Hg. nach dem Manuskript der Züricher Stadtbibliothek. Frauenfeld 1887, S. 17. Nach Vetter hat Johannes Meister, der Sekretär der Gesellschaft, die Chronick verfasst. Discourse der Mahlern: 1. Teil, I. Discours, A 4r. Vgl. ebd., 1. Teil, XIX. Discours, Tr. Ebd., 3. Teil, XXI. Discours, S. 164.
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torische Wahrheit noch die Wahrheit des poetisch Möglichen: Stattdessen kennen die Discourse eine moralische Wahrheit, die durch Abstraktion von Einzelfällen produziert wird und sich in erster Linie in der Bildung von Typen menschlichen Verhaltens, den sogenannten „moralischen Charakteren“ niederschlägt. Bodmers und Breitingers an Horaz’ Ars Poetica und Martin Opitz’ Buch von der deutschen Poeterey (1624) orientiertes Verständnis von Literatur als Abschilderung, das erst durch Lessings Laokoon (1766) verabschiedet werden soll, betont für die moralische Darstellung das statische Element. Zudem finden sich in den Discoursen zwar bereits Hinweise auf das „Neue“ als Quelle ästhetischen Vergnügens, doch ist dieses Neue ein Produkt des „curieusen Sinns“,37 das heißt der genauen Beobachtungskraft und Erfahrung, nicht der individuellen Schöpfungskraft. Die Natürlichkeitsforderung ist auf der gesellschaftskritischen Ebene der Discourse zunächst mit einer Absage an die Galanterie verbunden. Unter Galanterie wird hierbei eine materialistische Oberflächlichkeit verstanden, durch welche die vernünftigen Fähigkeiten des Menschen verkümmerten. Diesem Negativbild wird die politische Gelehrsamkeit entgegen gesetzt.38 Diese zeichne sich durch geistreiche Konversationen aus, die sich nicht in Wortspielen und Komplimenten erschöpften, sondern sich mit Fragen der sittlichen Verbesserung beschäftigten. Ursache des von Bodmer und Breitinger konstatierten sittlichen Verfalls sei eine fehlgeleitete materialistische Erziehung, deren negative Konsequenzen rückgängig gemacht werden müssten. In der Gegenüberstellung von galant und polit kommt hier explizit eine Abgrenzung von der höfischen Sphäre zum Ausdruck, da der Gegenentwurf zur Galanterie sich an der bürgerlichen Öffentlichkeit der antiken griechischen Polis orientiert. Diese Form der Öffentlichkeit konstituiert sich vor allem im kritischen Gespräch oder (franz.) „discours“ gleichberechtigter Gesprächspartner.39 Der moralistische Interdiskurs der Discourse formiert sich aus seiner zentralen Funktion als Selbsttechnik heraus. Die in den einzelnen Essays der Wochenschrift skizzierte Rahmenhandlung erzählt zu diesem Zweck eine Erfolgsgeschichte: Bereits in der Vorrede, in der die „Gesellschaft der Mahlern“ ihre Schrift dem englischen Zuschauer widmet, wird eine scherzhafte Konkurrenzsituation geschaffen, die besonders den Bildungsauftrag gegenüber der weiblichen Leserschaft zum Gegenstand hat: Seien die englischen Frauen verständiger, so überträfen die Schweizerinnen sie an Schönheit.40 Dieses ironische Lob, das bereits die zentrale Kritik der Mahler am herrschenden Materialismus vorbereitet, wird zu Beginn des zwei37 38
39 40
Vgl. Discourse der Mahlern: 1. Teil, XIX. Discours, Tv. Selbstverständlich handelt es sich bei diesem Galanterie-Verständnis um ein bewusst konstruiertes, anti-höfisches Feindbild. Es unterschlägt, dass die hier der politischen Gelehrsamkeit zugeordneten Verhaltensideale mit denen der höfischen Galanterie im Wesentlichen übereinstimmen. Vgl. Daniel Fulda (Hg.): Galanterie und Frühaufklärung. Halle (Saale) 2009. Vgl. Habermas: Strukturwandel, S. 56 u. 94. Vgl. Discourse der Mahlern: 1. Teil, Vorrede, )( 4r.
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ten Bandes wiederum aufgegriffen, um den moralischen Fortschritt abzubilden, den die Zeitschrift zu befördern vorgibt: „Das ist gewiß / daß wir nunmehr Frauens-Personen haben / die sich interessieren unser Werck mit ihrem Geist zu beleben / und die mit euern Engelländerinnen die Ehre geistreich zu seyn theilen wollen […].“41 Im 4. Discours (im Folgenden: „Stück“) des dritten Bandes wird die „Gesellschaft der Mahlerinnen“ eingeführt, welche die Discourse kritisch beurteilt und an welche die Mahler am Ende des vierten Bandes schließlich ihr moralistisches Amt abtreten können, da sie nach eigener Aussage ihren Bildungsauftrag erfüllt haben. Eine bedeutende Abweichung der Discourse vom Spectator ergibt sich daraus, dass die Mahler ihr anvisiertes Publikum auf einer niedrigeren Reflexionsstufe verorten als das bürgerliche Publikum der Engländer. Aufgabe der Wochenschrift sei es daher zunächst, die Schweizerische Öffentlichkeit auf das Niveau der Englischen zu heben. Hieraus ergibt sich eine theoretischere und ernsthaftere Anlage der Discourse. Fragen des Konsums spielen keine Rolle. Der erste Teil der Wochenschrift beinhaltet ein philosophisches Erziehungsprogramm, das nur selten von unterhaltsamen Erzählungen unterbrochen wird.42 Die schrittweise vorgestellte Selbsttechnik teilt sich in eine erkenntnistheoretische und eine ethische Komponente. Im 9. Stück des ersten Bandes beginnt das Erziehungsprogramm: Dem Leser wird attestiert, er sei durch eine unvorteilhafte Erziehung um die Fähigkeit zu selbstständigem Urteilen gebracht worden. Um diese Entwicklung rückgängig zu machen, müsse er sich geistig in den Zustand vor seiner Fehlprägung versetzen, sein Gedächtnis vollständig ausleeren und wieder ein Kind werden.43 Diese Vorgehensweise verweist sowohl auf Descartes’ methodischen Zweifel als Ausgangspunkt rationaler Philosophie als auch auf Lockes Schrift Some Thoughts Concerning Education (1693) und die darin dargelegte Vorstellung der Kindheit als eines Zustandes, in dem der Geist noch nicht durch Sinneseindrücke gefüllt worden sei und daher einem weißen Blatt Papier oder einem Stück Wachs gleiche, das leicht zu gestalten sei.44 Der Leser müsse sein gesamtes Wissen verwerfen, da es durch Vorurteile bestimmt sei: Er muß ein billiges Misstrauen auf alle die Sachen sezen / welcher Gewissheit von der Vernunfft muß gesucht werden / und welche er von den ersten Jahren seines Lebens von allen Orten eingesammelt / und in sein Gedächtniß zusammengetrieben hat; Er muß dasselbe ausleeren / und dabey sich entschliessen / nichts weiter darinne Raum zugeben / als demjenigen / was er mit seiner eignen Vernunfft untersuchet / und von dem er die Deutlichkeit gefunden 41 42
43 44
Discourse der Mahlern, 2. Teil, Vorrede,. )( 2v Vgl. zur eigenständigen Profilbildung der Wochenschrift auch Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698‒1783). Berlin u. New York 2010, S. 91f. Vgl. Discourse der Mahlern: 1. Teil, IX. Discours, J2v. Auch Descartes benutzt in seiner zweiten Meditation das Wachs als Symbol für die unendliche Veränderlichkeit des Persönlichkeitsbewusstseins im Verbund mit dem Körper, aus deren Erkenntnis sich die unmittelbare Selbstgewissheit des unveränderlichen cogito herleite.
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hat; An statt daß er seine vorige Gedancken nur von andern geborget hat / so muß er in zukunfft seine eigene hervorsuchen.45
Nach der erfolgreichen Befreiung von allen Vorurteilen (der Täuschungskraft der Sinne, der Übereilung des Verstandes, den Ausschweifungen der Einbildungskraft und der Einschüchterung durch Autoritäten) könne sich der Leser derjenigen Vernunfttätigkeit widmen, die in den Discoursen den Kern der Selbsttechnik bildet: dem Meditieren, das heißt dem „Gespräche der Seelen mit sich selbsten“.46 Die Befähigung zur Meditation und die daraus resultierende Klärung der Begriffe werden als eine notwendige Vorbedingung für die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen dargestellt. Meditation erscheint als Basis der Selbsterkenntnis, der „Prüffung seiner selbst“,47 wie es in den Discoursen heißt. Selbsterkenntnis wird dabei nicht nur als eine Verpflichtung des vernünftigen Menschen gegenüber Gott vorgestellt, sondern auch als diejenige Eigenschaft, die den Menschen überhaupt erst vom Tier unterscheide. Neben dem Vergnügen, das der vernünftige Mensch aus der Meditation ziehen könne, wird auch die regelrechte Verpflichtung zum inneren Selbstgespräch betont und aus der Religion begründet. Gott, der „klügste Werkmeister“, habe dem Menschen die Vernunft verliehen, damit er sie zur Selbsterkenntnis anwende: Der eine kunstliche Uhr von einem sinnreichen Erfinder verehrt gekrieget hat / würde sich ohne zweifel seinen Zorn auffladen / wenn er gienge / und das schöne Wercke aus Dummheit den Rost liesse fressen / oder wol gar seine Räder aus einander stieß / und zu Stücken bräche; Also weiß ich nicht / wie einer dem Absehen des Schöpffers entsprochen habe / der die gantze Capacitet seiner Vernunfft sein Lebtag zu nichts anders angewendet hat / als seine Gliedmassen zubemühen / um ein Stück grobe Materie in eine gewisse Forme zuverstellen / welche dienen kann / seinen Cörper von der Gewalttähtigkeit der äusseren Objecten / welche drohen ihn anzufallen / gesund zubewahren […].48
Eine konsequent durchgeführte Selbsterkenntnis durch Meditation verschaffe dem Einzelnen innere Ruhe und verwandle ihn in ein Muster der Tugend für seine Mitmenschen. Das 17. Stück beschreibt diesen idealen Staatsbürger, das repräsentative Ich der Wochenschrift: Ein solcher Kenner von sich selbsten ist sich allezeit gleich / er bleibet unbewegt / wenn ihm das Glück schon den Rücken kehret / er misset seine Fortune nach nichts als seiner Freyheit; er liebet nicht was niedrig und unvernünfftig ist; er erzörnet sich nicht über eine Bagatelle; er hebet sich nicht / er wird von allem was er siehet oder höret mit glimpffe urtheilen / weil ihm seine Schwäche und Unvermögen nicht verborgen sind; weder Haß noch Favor können ihn über die Schrancken der Vernunfft verleiten.49
45 46 47 48 49
Discourse der Mahlern: 1. Teil, IX. Discours, J3r. Ebd., 2. Teil, VI. Discours, S. 45. Ebd., 1. Teil, XIII. Discours, N2r. Ebd., 1. Teil, X. Discours, K4r f. Ebd., 1. Teil, XVII. Discours, R3r.
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Selbsterkenntnis ist für die Mahler der einzige zuverlässige Weg zur Glückseligkeit. Affektkontrolle und die Hinnahme des göttlichen Willens bilden ihre Eckpfeiler. Auch Überlegungen der politischen Klugheit haben hier ihren Platz: Eine gründliche Kenntnis der eigenen Schwächen und Stärken biete dem Einzelnen ein „Bollwerk“, das es seinen „Feinden“ unmöglich mache, unbemerkt gegen ihn vorzugehen oder ihn seiner Selbstgewissheit zu berauben.50 Wie im Spectator wird auch in den Discoursen der enge Zusammenhang von Selbsttechnik und Medizin betont. Allerdings verweisen die Mahler weniger auf die gute Wirkung ihrer moralischen Arznei als auf die Schwierigkeiten, die bei der Anwendung des Medikamentes durch den Widerstand der Affekte entstünden: Die Philosophie und die Morale vertretten zwar die Stelle eines Artztes / sie schreiben die auserlesensten Medicamente gegen diese Kranckheit vor / allein die Passion / welche sich von unsrer Vernunfft meister gemachet hat / bezeuget einen Eckel davon und speyet sie aus.51
Im 21. Stück des ersten Bandes beschreibt das essayistische Ich seine eigenen Zweifel bei der Anwendung der stoischen therapeutischen Selbsttechnik und seinen Ärger über Rückschläge. Es stellt die skeptische Vermutung auf, dass ein solches Verfahren nur bei denjenigen erfolgreich sein könne, die ohnehin bereits „gesund“ seien, das heißt deren ausgeglichenes Temperament eine zusätzliche Affektkontrolle gar nicht notwendig mache: Elende Morale! Sage ich offt in meinen Gedancken / was nützet es mich daß ich philosphire / wenn ich der Tyrannie meiner austrettenden Begierden nicht wiederstehen kan! Die Philosophie ist ein Medicus wie alle die andre sind; wenn sich das Glück und der Hazard auf ihre Seiten rangiren / so helffen ihre Artzneyen; Also wenn ich ein glückliches Temperament besitze / so hat die Morale gut dasselbe secondiren.52
Es existiere jedoch eine Strategie, um diesem Problem zu begegnen: Da die Eigenliebe und die Ehrbegierde die stärksten Leidenschaften des Menschen seien, solle der Einzelne diese Leidenschaften zu seiner Selbstverbesserung instrumentalisieren. Durch die Beobachtung anderer könne er erkennen, dass tugendhaftes Handeln gesellschaftliches Ansehen erwerbe, während die Verachtung der Tugend einen Menschen letztlich selbst verächtlich mache und ihn der Lächerlichkeit preisgebe. Eine solche an Einzelbeispielen gewonnene Einsicht leite die Leidenschaften zu tugendhaftem Handeln an, sodass sie die moralische Selbstbildung förderten anstatt sie zu behindern. Die Furcht des durchschnittlichen Lesers vor der Meditation ist, den Discoursen zufolge, mit einem falschen Verständnis von Einsamkeit verbunden. Diese führe nicht zur Melancholie, sondern könne vielmehr Quelle des Vergnügens sein. Butzer hat dargelegt, dass das Selbstgespräch seit dem 17. Jahrhundert zunehmend als 50 51 52
Vgl. Discourse der Mahlern: 1. Teil, XVII. Discours, R4r. Ebd., 1. Teil, XXI. Discours, Xr. Ebd., 1. Teil, XXI. Discours, Xr., Xvf.
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exzentrisch gilt und die Einsamkeit als Quelle der Melancholie gemieden wird. Durch die Identifikation des stillen Nachdenkens mit dem Selbstgespräch im Begriff Meditieren werde das Selbstgespräch jedoch im 18. Jahrhundert rehabiliert. Es avanciere zum „Paradigma des aufklärerischen Selbstdenkens“.53 Aufgrund des Vorteils, dass das Selbstgespräch den Einzelnen – im Gegensatz zur Konversation – von gesellschaftlichen Zwängen befreie, wird es auch in den Discoursen als bevorzugter Modus der Erkenntnistätigkeit empfohlen: Der Meditierende folget keine andre Gesetze / als solche die vernünfftig sind / die Reguln der Wolständigkeit können ihn nicht beunruhigen; er geniesset der vollen Freyheit / eine Materie nach seinem Geschmack zu erwehlen; und so fern er keinen andern Zweck hat / als sich selbst von der Wahrheit zu versichern / so wird er sich für keine Meinung partheyen / sonder diejenige annehmen; welche mit den wichtigsten Gründen unterstützet ist.54
Das Ich der Meditation, das in der schriftlichen Niederlegung seiner Gedanken eben das essayistische Ich darstellt, repräsentiert das Ideal einer Harmonie des Geistes und der Affekte, die dem Subjekt die unparteiliche Ausrichtung auf die vernünftige Erkenntnis der Wahrheit erlaubt. Indem der Einzelne sich auf diese Weise aus den affektiven Beeinflussungen der Gesellschaft befreit, kann er die Erkenntnisse seiner Meditation wieder zurück in die Konversation tragen und auf diese Weise daran arbeiten, die Gesellschaft im Sinne des Tugendideals zu verbessern. Butzer hat herausgearbeitet, dass das antike Selbstgespräch, welches das Modell für die dialogisch strukturierte essayistische Reflexion im frühen 18. Jahrhundert – besonders bei Shaftesbury – abgebe, einer bestimmten Form der in der Antike ausgebildeten ethischen Ermahnung, der Paränese, entspreche. Die Ermahnung werde dabei an das eigene Selbst gerichtet. Diesen Vorgang beschreibt Butzer folgendermaßen: „Der Sprecher identifiziert sich weitgehend mit der autoritativen Instanz des Dritten und kommuniziert von dieser Position aus mit dem eigenen Ich als Du.“55 Dies bedeutet für den Essay der Frühaufklärung, dass das essayistische Ich eine Projektion der idealen bürgerlichen Gesellschaft darstellt, durch die alle potentiellen Leser und der Verfasser des Textes repräsentiert werden. Von dieser autoritativen Position aus „bespricht“ im Essay das repräsentative Ich sein eigenes Selbst (sowie das Selbst der Leser) und versucht, es nach dem Muster des Ichs zu formen.56 In der Beschreibung des Meditierens in den Discoursen als ein „sich selbst von der Wahrheit versichern“ kommt diese paränetische Spaltung des Subjekts in das (idealisierte) essayistische Ich und das konkrete Selbst (das einzelne Bewusstsein) zum Ausdruck.
53 54 55 56
Vgl. Butzer: Soliloquium, S. 420. Discourse der Mahlern: 2. Teil, VI. Discours, S. 42. Butzer: Soliloquium, S. 19. Vgl. zum Konzept der „Selbstbesprechung als Selbstformung“ bei Breitinger: Butzer: Soliloquium, S. 349.
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Hinsichtlich der geschichtlichen Entwicklung des Selbstgesprächs stellt Butzer für die Discourse der Mahlern fest: „Die Gesellschaft nimmt hier die Stelle ein, die ehedem Gott als Garant von Richtigkeit und Aufrichtigkeit für das Soliloquium innehatte.“57 Unter „Gesellschaft“ ist in diesem Fall eine zunächst noch fiktive literarische Öffentlichkeit zu verstehen, deren Werte die Wochenschrift selbst zu formen beabsichtigt. Bodmer und Breitinger beziehen sich in ihrer Konzeption der Selbsterkenntnis durch Meditation auf Thomasius’ Kurzen Entwurf der Politischen Klugheit und weichen zugleich von diesem ab. Während die Mahler von einer Abnahme der negativen Affekte wie Ehrbegierde oder Missgunst in der Einsamkeit ausgehen, geht Thomasius von deren Verstärkung aus, wenn die gesellschaftliche Kontrolle fehle. Er bezeichnet daher in expliziter Abgrenzung vom Stoizismus die Einsamkeit als „Weg zu einer unheilbaren Thorheit“.58 Dennoch hält auch Thomasius an der Notwendigkeit der einsamen Meditation zur Selbsterkenntnis fest und relativiert auf diese Weise sein eigenes Verdikt. Entscheidend ist für ihn die gesellschaftliche Einbindung der Meditationspraxis: Hingegen kommt alle Weißheit und Klugheit auff das einzige an / daß man sich selbst kenne und genau untersuche / weil nichts mehr / als unsere eigene Thorheit / vor unsern Augen verborgen ist. Dieses abzuwarten muß man einsam sein / aber nicht wie Einsiedler oder Mönche / sondern dergestalt / daß man sich kennen lernet / sich zugleich vorbereiten möge / die tägliche Conversation mit soviel mehrern Nutzen abzuwarten.59
Neben der Meditation, also dem reflektierenden Essay, bildet der moralische Charakter in der Tradition Theophrasts und La Bruyères eine weitere bedeutende Textform in den Discoursen. In der Terminologie der Wochenschrift wird er als „historische Morale“ bezeichnet, die sich – anders als die „raisonnirende Morale“ – auf Fallbeispiele stütze und daher von weitaus größerer Wirkung sei.60 Aufgrund seiner narrativen Struktur handelt es sich bei dem moralischen Charakter nicht um einen Essay im gattungstheoretischen Verständnis, doch werden moralische Charaktere häufig in Essays integriert. Beide Textformen stehen innerhalb der Wochenschriften in solch enger Verbindung, weil die Charakterschilderungen die Anwendung auf die gesellschaftliche Praxis darstellen, zu der die reflektierenden Essays die theoretische Grundlage liefern. In den Discoursen stellen die Fallbeispiele – oder in der Sprache der Wochenschrift: die „moralische[n] Zeitungen“61 – keine tatsächlichen Begebenheiten dar, sondern sie wollen die in der Schweiz allgemein verbreiteten Laster und Tugenden typisierend kenntlich machen. Gesellschaftliches Fehlverhalten ist daher nur insofern von Interesse, als es aus den Lan57 58 59 60 61
Butzer: Soliloquium, S. 419. Thomasius: Politische Klugheit, S. 110. Ebd., S. 116. Vgl. Discourse der Mahlern: 1. Teil, XXI. Discours. Vgl. ebd., 3. Teil, XII. Discours, S. 92.
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dessitten resultiert. Die Beteiligung der Leser durch Zuschriften an der Wochenschrift wird vorausgesetzt: Wir erwarten also von denen Philosophischen Zuschauern des Schweitzerlandes, so wol von denjenigen, welchen wir über das Capitel der Schweitzerischen Sitten Briefe mit uns zu wechseln ansinnen werden, als von alle den andern, welchen die Ehre diesen Titel zu führen in die Augen scheinet, besonderbare Nachrichten von den fremdsten Gewohnheiten und Moden des Schweitzerlandes, die ihrer Stadt, oder doch der Schweitz überhaupt singular sind […].62
Schilderung und Verlachung unnatürlicher Sitten mithilfe der Satire (oder „Raillerie“63) sind also das Thema der Zeitschrift. Durch ihre öffentliche Diskussion soll die Wochenschrift, auch hier nach dem Vorbild des Spectator, ein Abbild des Schweizerischen Nationalcharakters werden. Die Darstellung „historischer Charaktere“, also konkreter Individuen, ist dezidiert nicht das Ziel der Herausgeber. Diese eigneten sich nicht für die Moralistik und setzten darüber hinaus eine fortgeschrittene Erkenntnis des menschlichen Wesens voraus.64 Dass die Discourse bereits über das (dem konkreten Publikum) angemessene Verfahren zur Vermittlung anthropologischen Wissens reflektieren, ist eine wichtige Beobachtung. In Abweichung zum Spectator, der die ausführliche Darstellung der eigenen Individualität als Zeichen übermäßiger Selbstliebe verurteilt, wird Montaigne (zusammen mit Martin Opitz) von Bodmer und Breitinger für die Darstellung seines individuellen Charakters jedoch gelobt: 62 63
64
Discourse der Mahlern: 3. Teil, XII. Discours, S. 95. Vgl. ebd., 1. Teil, XVIII. Discours, Sv. Wie das Konzept der Raillerie, des satirischen Spottes als Wahrheitsprobe, das in der moralistischen Selbsttechnik Shaftesburys (Essay on the Freedom of Wit and Humour) eine zentrale Rolle spielt, zu gleicher Prominenz in den Discoursen gelangt, kann nur vermutet werden. Denkbar ist der Rezeptionsweg über die französische Übersetzung von Shaftesburys Essay durch Justus van Effen, die 1710 ohne Nennung der Namen von Verfasser und Übersetzer unter dem Titel Essai sur l’usage de la raillerie in Den Haag erscheint. Vgl. Anon.: Essai sur l’usage de la raillerie et de l’enjoument dans les conversations. Qui roulent sur les matieres les plus importantes. Den Haag: Scheurleer 1710. Vgl. Discourse der Mahlern: 3. Teil, XII. Discours, S. 92. Die vollständige Stellungnahme zur Frage der Charaktere lautet folgendermaßen: „Aber wenn man einen Menschen neben einen andern stellt, so nimmt man zwischen ihnen einen Unterscheid wahr, der von der ungleichen Vermengung der Passionen von denen sie regiert werden verursachet worden. Diese Vermischung der Passionen geschicht auf so viele und mannigfaltige Weisen, daß sich von einem jeden Menschen ein Caractere entwerffen läßt, der ihm allein und keiner andern Person ähnlich ist. Wir nennen diese Beschreibungen der Paßionen die einen Menschen regieren, und der Graden, in welchen sie sich bey ihm befinden, Historische, oder Personal-Caracteren, und es ist ein tieffsinniges Nachspühren vonnöthen, solche zu machen. Wir haben schon an andern Orten erwehnet, daß Caracteren von dieser Art einem Moralisten wenig dienen, und daß sie allein in historische und politische Werke gehören. Von dergleichen Caracteren ist hier die Rede nicht, unser Vorhaben ist dißmahlen nicht eine Historische Beschreibung der Schweitzerischen Cantons zu machen, und alle diejenigen Relationen zu bemercken, wordurch sie sich von andern Staaten und Kirchen unterscheiden. Wir behalten uns vor, mit der Zeit, wenn einige von unsern Gliedern, die von der Politiq ihre gröste Bemühung machen, in eine vortheilhafftere Situation kommen, und wir überhaupt mehr Liecht und Erfahrung hierüber empfangen werden, ein eigen Historisches Werck von der Politiq der Schweitzer zu schreiben, worinnen solche politische Caracteren ihren Platz finden werden.“
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Damit ich zum Ende noch eine Anmerckung berühre, so kann man diejenigen die von sich selbst mit Wahrheit reden, keiner Unbescheidenheit beschuldigen. Es zeiget sich vielmehr eine Großmüthigkeit, und eine wahre Kenntniß seiner selbst bey einer Person, die mit einer solchen Aufrichtigkeit, und einem solchen wol-gegründeten Vertrauen von sich redet, wie die Montagnen und die Opitzen gethan haben. Montagne hat von dem Menschen schreiben wollen, und er hat geglaubt, daß er es nicht besser thun könne, als wenn er in sich selbst gienge, und sein eigen Hertz durchblätterte […].65
Dennoch hat eine solche individualisierende Schreibweise auch in den Discoursen der Mahlern keinen Platz, da sie das vernünftige Bildungsprogramm der Schweizer unterliefe. Einen zentralen Bestandteil der Selbsttechnik bildet die Auseinandersetzung des Meditierenden mit vernünftig argumentierenden Büchern. Hier wird die sogenannte „katechetischen Methode“ eingeführt, die an anderer Stelle auch „Sokratische Methode“66 genannt wird und daher im Folgenden als „sokratisch-katechetische Methode“ bezeichnet werden soll. Sie strukturiert die Meditation in ein durch den Leser imaginiertes Gespräch zwischen sich selbst und dem Verfasser des Textes. Da diese dialogische Hermeneutik jedoch auch die Grundlage der Auseinandersetzung mit dem eigenen (und fremden) Gemüt bilden soll, fungiert die Hermeneutik des Textes als zentraler Bestandteil und maßgebliches Übungsfeld der therapeutischen Selbsttechnik. Die Mahler gehen dabei von einem nur rudimentär ausgebildeten Leseverständnis ihres Publikums aus. Wenn ein Autor zum Verfassen seines Werkes die Methode der Selbstbefragung verwende, müsse der Leser sich eben dieser Methode bedienen, um dessen Aufbau zu verstehen. Im Lesevorgang soll somit ein Perspektivenwechsel vollzogen werden: Der Leser müsse selbst zum Verfasser des Textes werden und die Frage beantworten, ob die Behandlung des Gegenstandes geglückt sei. Hiermit soll auch eine Grundfertigkeit literarischer Kritik vermittelt werden.67 Aus der christlichen Semantik, die bei der Beschreibung der Selbsttechnik verwendet wird („das Herz durchblättern“), wird jedoch auch eine Konkurrenzsituation zur Religion deutlich. Ort der Konversation, die auf der Basis einer therapeutischen Selbsthermeneutik erfolgen soll, ist nämlich der Kirchhof, auf dem sich die Gemeinde nach dem Gottesdienst versammelt. Damit begibt sich die Wochenschrift mit ihrer Selbsttechnik in direkte (auch räumliche) Nähe zur Kirche und
65
66 67
Discourse der Mahlern: 2. Teil, XI. Discours, S. 119. Brandes hat anhand eines Eintrages Bodmers in seinen Persönlichen Anekdoten darauf hingewiesen, dass Montaigne als Darsteller des menschlichen Wesens für Bodmer von gleicher Bedeutung sei wie die Lektüre des Spectator. Vgl. Brandes: Gesellschaft der Maler, S. 71. Vgl. Discourse der Mahlern: 2. Teil, XII. Discours, S. 92. Die Technik der Selbstbefragung wird auch und gerade an poetischen Beispielen vorgeführt. So befragt beispielsweise im 17. Stück des vierten Teils Rubeen in der Rolle des Lehrers seinen Freund Sonnet über ein Gedicht Benjamin Neukirchs. Indem Sonnet angeleitet wird, die einzelnen poetischen Bildet rational aufzulösen, will Rubeen die Unvernünftigkeit und Lächerlichkeit des galanten Stils erweisen. Hier zeigt sich, dass die rationale Selbsttechnik der Discourse auch eine ästhetische Bildung mit einschließt.
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etabliert zu dieser ein Verhältnis, das zwischen Komplementarität und Konkurrenz angesiedelt ist. Der Kirchhof wird zur Agora. Jesko Reiling vertritt in seiner Untersuchung zu Bodmers idealem Gesellschaftsmodell die These, dass Bodmer mit der Herleitung seiner Fragetechnik von Sokrates die Eigenart der sokratischen Dialoge verkenne, deren „offene Dialektik“ nicht mit der katechetischen Methode vereinbar sei, die lediglich „eine feststehende Überzeugung dialogisch darbietet“.68 Jedoch bezeichnet die sokratisch-katechetische Methode in den Discoursen zunächst keine literarische Darbietungsweise, sondern eine bestimmte Art von Selbst- und Texthermeneutik, deren Ablauf zwar durch die Regeln der Vernunft bestimmt wird, deren Ergebnisse jedoch in keiner Weise vorgegeben sind. Erst durch die fortschreitende Verwendung der sokratisch-katechetischen Methode als Präsentationsform von Ergebnissen der Reflexion in den Discoursen erhält die Methode den Anstrich des Dogmatischen. Die Problematik zeigt sich im 6. Stück des zweiten Bandes, in dem die texthermeneutische Lektüre eines vorhergehenden Stückes (des 18. im ersten Band) zu didaktischen Zwecken in Form einer Wechselrede zwischen Autor und Leser vorgeführt wird. Die Wahl des zu interpretierenden Textes ist keine zufällige, da in diesem Stück erörtert wird, welche Handlungen und Sitten der Menschen überhaupt zum Gegenstand der Satire gemacht werden dürften und somit eine Definition des Lächerlichen gegeben wird. Diese Definition entspricht der Wahrheitsprobe in der Satire der Aufklärung, die das Wahre und das Vernünftige gleichsetzt und das Unvernünftige als das Lächerliche auf der Gegenseite verortet. Man erfährt außerdem, dass sich einige Leser über die Unverständlichkeit dieses Essays beschwert hätten, weshalb die Mahler eine genaue Leseanleitung für notwendig erachten. Die Fragen des Lesers an den Autor folgen dem Prinzip einer logischen Textanalyse, der offenbar die Topik des Cicero zugrunde liegt. Einzelne Punkte des Dialoges wie die Bitte, das Thema des Textes durch eine Definition seiner zentralen Begrifflichkeiten (die Raillerie, das Lächerliche) zu bestimmen oder Ursachen der Problematik und konkrete Beispiele anzugeben, greifen unmittelbar auf Ciceros Auflistung möglicher Topoi zurück.69 Während die Topoi bei Cicero dem Auffinden von Argumenten dienen, werden sie hier zur Textinterpretation verwendet. Damit liegt der Leseanweisung ein Verständnis von Hermeneutik zugrunde, das die Textanalyse als eine Wiederholung der Schritte der Textproduktion in umgekehrter Reihenfolge begreift und für die frühe Aufklärung typisch ist.70 Durch die Frage nach der moralischen Relevanz der dargestellten Problematik (der falschen Raillerie) wird jedoch zusätzlich der stoischen Verpflichtung Rechnung ge68 69 70
Reiling: Ideale Gesellschaft, S. 90f. Vgl. Marcus Tullius Cicero: Topik. Lateinisch – Deutsch. Übers. u. mit einer Einleitung hg. v. Hans Günter Zekl. Hamburg 1983, bes. S. 49. Dieses Verständnis von Hermeneutik im frühen 18. Jahrhundert wird dargestellt von Klaus Petrus: Genese und Analyse. Logik, Rhetorik und Hermeneutik im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin u. New York 1997.
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tragen, die Erkenntnisfindung ethisch zu perspektivieren. Die einzelnen Schritte der Befragung sollen hier in Stichpunkten wiedergegeben werden: 1. Frage des Lesers nach dem Zweck des Textes. Der Autor benennt die echte Raillerie als Thema, das ausgeführt werden soll. 2. Frage des Lesers nach der allgemeinen Relevanz des Themas. Der Autor weist auf die falsche Anwendung der Raillerie hin. 3. Frage nach den Ursachen dieser falschen Anwendung. Der Autor benennt die Unwissenheit. 4. Frage nach der moralischen Relevanz der falschen Raillerie. Der Autor benennt die Lächerlichkeit, der sich der Unwissende preisgebe. 5. Frage nach dem Thema der echten Raillerie. Der Autor benennt das Unnötige und Unnatürliche als das Lächerliche. 6. Bitte um Beispiele. Der Autor benennt notwendige Handlungen wie Essen und Trinken. Er benennt unnötige Handlungen wie die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Zeremonien. Er gibt an, dass diese aufgrund ihrer Lächerlichkeit lasterhaft seien. 7. Frage nach dem Geltungsbereich dieser Definition. Der Autor weist auf vermischte Handlungen hin, die sowohl lächerlich als auch notwendig seien. 8. Bitte um eine Präzisierung der Antwort hinsichtlich des Themas der Raillerie. Der Autor benennt das Laster. 9. Bitte um eine abschließende und vollständige Definition der Raillerie. Der Autor benennt die „vollkommene Beschreibung aller Umständen die eine lasterhaffte That begleiten / welche zum Zweck hat / uns einen feindlichen Haß und Abscheu gegen das Laster einzujagen.“71
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Vgl. Discourse der Mahlern: 2. Teil, VI. Discours, S. 47f. Den Begriff der „Raillerie“ können Bodmer und Breitinger auch von Boileau übernommen haben. Das zentrale Merkmal des gerechten Spottes, sich nur auf das Unnatürliche im an sich Vernünftigen zu beziehen, findet sich jedoch auch in Shaftesburys Definition der „raillery“ beziehungsweise in deren französischer Übersetzung durch Justus van Effen: „Il y a beaucoup de différence entre chercher à tirer du ridicule dans chaque chose, & chercher dans chaque chose ce qui peut être justement tourné en ridicule. Car rien n’est ridicule que ce qui est difforme: & rien n’est à l’epreuve de la Raillerie, que ce qui est beau & raisonnable.“ (Shaftesbury [van Effen]: Raillerie, S. 133.) Hinsichtlich der grundsätzlichen Abhängigkeit der Discourse von Shaftesbury, gerade auch von seinem Konzept des Selbstgesprächs, herrscht in der Forschung Uneinigkeit. Dehrmann und Rebekka Horlacher schließen eine solche Abhängigkeit eher aus. Fries erkennt einen direkten Bezug, belegt diesen jedoch nicht. Vgl. Dehrmann: Orakel der Deisten, S. 278; Rebekka Horlacher: Bildungstheorie vor der Bildungstheorie. Die Shaftesbury-Rezeption in Deutschland und der Schweiz im 18. Jahrhundert. Würzburg 2004, S. 60–63; Fries: Dialog der Aufklärung, S. 26f. Allerdings ist die Übereinstimmung der dialogischen Methode bereits Zeitgenossen aufgefallen. So verweist der von Horlacher als Georg Venzky identifizierte Übersetzer von Shaftesburys Soliloquy im Jahre 1738 im Fließtext der Übersetzung auf das 13. Stück des ersten Teils der Discourse über die Selbsterkenntnis. Im Zusammenhang mit Shaftesburys Feststellung, dass es notwendig sei, richtig zu lesen (3. Teil, 3. Abschnitt), nennt er ebenfalls die Züricher Wochenschrift: „Die Kunst recht zu lesen findet man auch fein beschrieben von den Schweitzer-Mahlern im letzten Theil gegen das Ende.“ (Antons, Grafens von Schaftesbury, Unterredung mit sich selbst, Oder Unterricht für Schriftsteller, aus dem Englischen übersetzt.
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Diese Fragemethode zeichnet sich dadurch aus, dass die abschließende Definition die Raillerie (also die satirische Wahrheitsprobe) als eine beispielbezogene und lebenspraktisch relevante Schreibweise ausweist. Der Text kann die kritische Musterung nur aufgrund seiner rationalen Nachvollziehbarkeit und seiner praktischen Dimension bestehen, die durch die Rolle des Lesers eingefordert wird. Durch die Darstellung des Verstehensprozesses als Befragung des Textes wird die Position des Rezipienten gestärkt. Da der Rezipient die Rolle des Autors im Dialog jedoch auch einnehmen muss, um sich die selbst gestellten Fragen zu beantworten, tritt er bei der Anwendung der sokratisch-katechetischen Methode ebenfalls in die Perspektive des Verteidigers und wird auf diese Weise davon zurückgehalten, den Text übereilt zu verurteilen. Somit ist der Rezipient hier Ankläger und Verteidiger eines Textes zugleich. Durch die abschließende Aufforderung an den Leser, er solle die Stücke in den Discoursen auf die soeben vorgeführte Art und Weise lesen oder die Lektüre gänzlich unterlassen, wird dem Leser zusammen mit der Methode auch zugleich das Ergebnis der Reflexion diktiert – in diesem Fall das Urteil, dass der Discours über die Raillerie stimmig und gelungen sei. Diese literaturkritische Texthermeneutik ist methodisch eins zu eins auf die therapeutische Selbsthermeneutik übertragbar und bildet bereits einen bedeutsamen Anteil an letzterer. Die Schweizer weisen darauf hin, dass die sokratisch-katechetische Methode der Natur des menschlichen Erkenntnisvermögens am nächsten komme. Die Präsentation eines Themas in Form von Frage und Antwort enthebe den Leser von der Mühe der Deutung und Prüfung. Die Schweizer bedauern, dass diese Darstellungsweise für moralische Themen völlig ungebräuchlich geworden sei. Sie selbst verwenden in den späteren Stücken der Wochenschrift verstärkt eine dialogische Präsentation. Dieses Verfahren steht im Widerspruch zu ihrer Intention, ein vernünftiges bürgerliches Publikum zu schulen, da diesem die Mühe, sich mittels des hermeneutischen Verfahrens ein eigenes Urteil zu bilden, eigentlich nicht erspart werden kann. Die Form der essayistischen Präsentation entspricht der ursprünglich vorgestellten Selbsttechnik in stärkerem Maße, da sie den Leser vor die Aufgabe stellt, den vorliegenden Text selbst in einen Dialog zu transformieren. Die zunehmende Dialogisierung führt somit zu einer schrittweisen Vernachlässigung der therapeutischen Selbsttechnik. Eine mögliche Erklärung für diese Inkonsequenz findet sich in einer gewandelten Einstellung der Mahler zur Imagination nach dem ersten Teil der Discourse, die aus der Korrespondenz der Chronick ablesbar ist. Sowohl aufgrund ihrer eigenen Erfahrung mit der Praxis essayistischen Schreibens als auch aufgrund der eingegangenen Leserkritik (vgl. dazu ebenfalls die Chronick) fällen die Schweizer in einem weiteren Schreiben an Lauffer vom 11. Dezember 1721 bereits ein ganz anMagdeburg u. Leipzig: Seidel u. Scheidhauer 1738, S. 268.) Unabhängig davon, ob Shaftesburys dialogische Selbsttechnik Bodmer und Breitinger bekannt war, verdeutlichen die starken Parallelen die Homogenität des moralistischen Interdiskurses in der Frühaufklärung.
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deres Urteil über ihre Discourse als noch zwei Monate zuvor (s.o.). Da die Funktionalisierung der Imagination für den rhetorischen Zweck nicht zum erwünschten Erfolg geführt habe, solle die Imagination in den folgenden Teilen der Wochenschrift einen größeren Spielraum erhalten. Zu diesem Zweck müsse verstärkt auf die „sokratische Methode“ – hier nun verstanden als Präsentationsform des literarischen Dialogs – zurückgegriffen werden, welche die Imagination des Lesers in besonderem Maße anspreche: Diese Socratische Manier ist eine von denen, welche einen guten fond Imagination erfordert. Nun mangelt es denen Disc. die wir bisher edirt haben, noch an Lebhafftigkeit. Weil wir aber seit einigen Monaten wol erkandt, daß dem Engelländer allein die lebendige EinbildungsKrafft, die er hat, allen seinen Ruhm erworben, so haben wir uns befließen, ihm darinne nach zu ahmen, und zu diesem Ende zu gelangen, allerhand weisen erfunden. Ihr werdet urtheilen, mit welchem Glücke es geschehen, wenn Ihr die Disc. werdet gelesen haben, welche den könfftigen Jenner, und die folgenden Monate heraus kommen werden. Ihr werdet in eben diesen Disc. sehen, wie wir es angreiffen, dem Frauen-Zimmer unsere Arbeit geschmackt zu machen. Wir sehen es für einen Schlüßel an, durch welchen wir die Hertzen der Männer leicht gewünnen können.72
So ist es also die Praxis essayistischen Schreibens, die Bodmer und Breitinger im Verlauf ihres Wochenschriftenprojektes von der Eigenständigkeit und Notwendigkeit des Spieles der Imagination in literarischen Texten überzeugt. Daher muss die Aussage Helmut Holzheys, dass Bodmer und Breitinger die „produktive Phantasie“ in ihren Discoursen hauptsächlich negativ beurteilten, da sie die Vernunft durch eine unkontrollierte Imaginationstätigkeit bedroht sähen,73 zumindest dahingehend ergänzt werden, dass die Schweizer ab dem zweiten Teil bemüht sind, der Phantasie in ihren Essays den größtmöglichen Raum zuzugestehen.74 Durch die Meditation und das katechetische Lesen soll der Mensch schließlich ein „vernünfftige[r] Zuschauer[ ] der Wercken GOttes“ werden.75 Die amoralische Vernunft jedoch, die „Curiositet“, die über Fragen des Glaubens „mit GOtt […] disputiren“ wolle,76 müsse bekämpft werden. Auffällig ist, dass die Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben im 8. Stück des zweiten Bandes ausführlich thematisiert wird, nachdem die Anleitung zum Meditieren kurz zuvor, im 4. Stück, erfolgte. Auf diese Weise wird dem Leser eingeschärft, dass die vernünftige Texthermeneutik, die in den Discoursen ausschließlich für die persönliche Selbstbefragung und Selbstverbesserung des Laien eingerichtet ist, keineswegs auf die Bibel
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Vetter: Chronick, S. 35. Vgl. Helmut Holzhey: Befreiung und Bindung der Einbildungskraft im Prozess der Aufklärung. In: Anett Lütteken u. Barbara Mahlmann-Bauer (Hg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009, S. 42–59, hier S. 53. Auch Brandes betont die stärkere erzählerische Geschlossenheit der Wochenschrift im vierten Teil, die sich dann im Mahler der Sitten vollständig durchsetze. Vgl. Brandes: Gesellschaft der Maler, S. 55. Vgl. Discourse der Mahlern: 1. Teil, XIII. Discours, Nv. Vgl. ebd., 2. Teil, VIII. Discours, S. 63.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
anzuwenden sei. Diese sei als heiliger Text für die menschliche Vernunft grundsätzlich nicht zugänglich. Ob es sich bei der Unterwerfung der Vernunft unter die Religion um „eine Konzession Bodmers an die Zensur“ handelt, wie Helga Brandes vermutet,77 bleibt fraglich. Die gleichzeitige Absage an Autoritätsgläubigkeit und die Forderung nach einem wortwörtlichen Bibelverständnis können den Eindruck eines unvereinbaren Widerspruchs erwecken. Jedoch drückt sich darin letztlich nur das problematische Verhältnis der frühaufklärerischen Essayistik zur christlichen Ethik und zur Erbauungsliteratur aus. Dem – nach dem Entwurf Bodmers und Breitingers – an dieser Stelle bereits kritisch geschulten Leser steht es jedenfalls frei, zu entscheiden, wie er sich zu den Forderungen der Mahler stellen will. Ein besonderes Beispiel für die Meditation als tatsächliches Selbstgespräch findet sich im 22. Stück des ersten Bandes in Form einer Parodie der Selbsttechnik, die auch explizit mit dem Ausdruck „Parodie“ gekennzeichnet ist. Erst aus der Neuauflage der Discourse kann der Leser erfahren, dass es sich hierbei um eine Nachahmung der neunten Satire Nicolas Boileaus handelt, die als selbstkritischer Kommentar auf das Projekt der Wochenschrift angewendet wird.78 Hier tritt das essayistische Ich in Dialog mit seinem „Sinn“, einer zunächst nicht näher bestimmten Instanz, und klagt diesen aufs Schärfste an: Ich will dir diesen Discours wiedmen / mein Sinn / du hast Gebrechen die ich nicht verhehlen kan. Meine lachlässige Complaisance hat nur allzulange deine ungereimte Spiele geduldet. Aber / weil du es zugrob machest / so will ich dir jetz alles zusammen vorhalten.79
Es handelt sich insofern um eine Parodie der Meditation und damit auch des Essay-Konzeptes, als das Ich, das hier spricht, nicht das repräsentative ideale Ich ist, sondern das konkrete Lesepublikum vertritt, mit all seinen widersprüchlichen Ansichten und einer offenbar nicht allzu freundlichen Gesinnung gegenüber den Discoursen der Mahlern. Dieses Ich verurteilt das Projekt einer Moralischen Wochenschrift generell. Es spricht dem Sinn – einer deutschen Übersetzung des französischen esprit und damit einer Repräsentation der Verbindung von Verstand und Einbildungskraft – die Berechtigung und Fähigkeit ab, zu moralisieren. Außerdem erachtet es die Darstellung von niedrigen Lastern als unangemessen für eine literarische Bearbeitung und bezweifelt, dass der Mensch überhaupt verbesserungsfähig sei. Zum Schluss betont es das Recht des Menschen, dumm aber glücklich zu ster77 78 79
Brandes: Gesellschaft der Maler, S. 83. Vgl. Johann Jakob Bodmer u. Johann Jakob Breitinger: Der Mahler der Sitten. Bd. 1. Hildesheim u. New York 1972 [ND der Ausgabe Zürich: Orell 1746]. 57. Blatt, S. 54. Discourse der Mahlern: 1. Teil, XXII. Discours, Yr. Es handelt sich um eine nahezu wörtliche Prosa-Übersetzung des Beginns von Boileaus Satire. Dort heißt es: „C’est à vous, mon esprit, à qui je veux parler. / Vous avez des défauts que je ne puis celer: / Assez et trop longtemps ma lâche complaisance / De vos jeux criminels a nourri l’insolence; / Mais, puisque vous poussez ma patience à bout, / Une fois en ma vie il faut vous dire tout.“ (Nicolas Boileau-Despréaux: Satires, Épîtres, Art poétique. Hg. v. Jean-Pierre Collinet. Paris 22003, S. 107.)
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ben. Der Sinn hingegen beruft sich auf sein Recht, das Laster zu bestrafen. Nach und nach gerät er jedoch in die Defensive und zieht sich letztlich auf die Position zurück, seine Texte nur noch als Zeitvertreib zu betrachten: [M]eine Freude ist / daß ich das Gute und das Böse / das ich sehe / auf einen Bogen Papier zusammentrage / und dem Caprice des Glückes überlasse / ihn in der Welt belobt zu machen / oder in Lindinners Boutique vermodern zu lassen; gleich achtend / daß man wisse oder nicht / wann ich nicht mehr lebend bin / daß ich Discourse gemachet habe.80
Der Sinn bietet an, er könne die satirische Darstellung tugendlosen Verhaltens aufgeben und stattdessen dieselben Verhaltensweisen als überaus tugendhaft loben, wenn ihm dieses Vorgehen größere Zustimmung einbringe. Falls auch diese Strategie erfolglos sein sollte, wolle er sein Projekt abschließen und bekennen, „daß ich niemand als mich selbst und meine eigene Dummheit anzuklagen habe / und daß ich nichts besser thun kan als schweigen.“81 Der Argumentationsgang ist vollständig aus Boileaus Satire entlehnt, in der das lyrische Ich seinen esprit anklagt, um ihn für die vorhergehenden Satiren zur Rechenschaft zu ziehen und sich selbst im Sinne einer ausgleichenden Gerechtigkeit ebenfalls der satirischen Darstellung zu unterziehen. Bodmer und Breitinger verleiben dieses ironische Spiel ihrer sokratisch-katechetischen Selbsttechnik ein und verstärken dies im Mahler der Sitten noch, indem sie hier die beiden diskutierenden Parteien als „Kläger“ und „Advocat“ bezeichnen. Die selbstrelativierende Position dieser Parodie ist derjenigen, die Montaigne in seinen Essais einnimmt, sehr ähnlich – man denke an Montaignes Vorrede, in der er den Leser mit den Worten verabschiedet, seine Texte seien ein zu unwürdiger Gegenstand, um überhaupt gelesen zu werden. Entscheidend ist die Wirkung der Authentizität der beiden dialogisierenden Instanzen, die den Text unter allen anderen Stücken hervorhebt: Die Instanz, die als „Sinn“ bezeichnet wird, entspricht dem tatsächlichen Selbst der Gesellschaft der Mahler beziehungsweise deren kreativem Vermögen. Dieses ist insofern parodistisch gezeichnet, als es sich nicht durch einen uneingeschränkten Willen zur sittlichen Verbesserung auszeichnet, sondern von bloßem Opportunismus geprägt ist. Das Selbst wird durch die scharfe Kritik, die das kollektive Ich als Repräsentant der Leserschaft artikuliert, im Verlaufe des Textes zu einer Einstellungsänderung veranlasst, sodass es sich schließlich auf einen ästhetisierenden Standpunkt zurückzieht. Der Essay ist insofern spannend, als hier – versteckt unter dem Deckmantel einer Parodie – die Spannungen und Brüche deutlich werden, die der moralistische Interdiskurs als therapeutische Selbsttechnik erzeugt. Durch die Argumente, die das parodierte repräsentative Ich anführt – vor allem das Argument, dass Dummheit, nicht Wissen, glücklich mache (eine Aussage in der Tradition des ‚Lobes der Torheit‘) – wird der moralis80 81
Discourse der Mahlern: 1. Teil, XXII. Discours, Yr. Ebd., Y4v.
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tische Interdiskurs um eine Gegenposition erweitert. Er bezeichnet, wie Foucault in anderem Zusammenhang ausgeführt hat, in der stoischen Ethik den Zustand der stultitia, in dem das Subjekt sich nicht um sich selbst sorgt.82 Die therapeutische Selbsthermeneutik wird durch diese Erweiterung ad absurdum geführt und die Wochenschrift durch die (Selbst-)Parodie zugleich um den – durch die Anlehnung an den Spectator geforderten – Aspekt des freien Spieles der Imagination bereichert, dem die Mahler doch so reserviert gegenüberstehen. Allein in diesem Stück des ersten Bandes findet sich eine Selbsttechnik, die derjenigen Shaftesburys und der Essay-Konzeption Addisons im Spectator-Essay Nr. 476 mit ihrer jeweiligen Anlehnung an Montaignes Ästhetik des Selbst nahe kommt. Außerdem wird aus diesem Essay natürlich deutlich, dass die Wochenschrift – im Gegensatz zum Spectator – nicht wirklich von Erfolg gekrönt ist. Die Schwierigkeiten beim Verkauf der Discourse werden auch an anderen Stellen thematisiert, zum Beispiel im 2. Stück des zweiten Bandes, in dem sich die Mahler darüber beklagen, dass sie keine Leserbriefe erhielten. Auch die Tatsache, dass sich der Verleger Lindinner nach dem Abschluss des ersten Bandes weigert, die Discourse weiterhin wöchentlich auszugeben (es sei denn, der Käufer habe den gesamten Jahrgang abonniert),83 verweist auf Absatzprobleme. Hans Bodmer hat in seiner Studie zu den Discoursen zuerst darauf hingewiesen, dass diese Wochenschrift auch im Vergleich zu den anderen zeitgenössischen Titeln eine sehr schlechte Resonanz erfährt. Während Der Patriot eine Auflage von 5000 Exemplaren erziehlt und Gottscheds Die Vernünftigen Tadlerinnen (1725–26) immerhin 2000 Exemplare abgesetzt hätten, kämen die Discourse über eine Auflage von 400 Stück nicht hinaus (wobei 200 Exemplare für den deutschen Markt bestimmt gewesen seien).84 Da die Discourse 1722 nur noch als halbjährliche Textsammlung und 1723 als kompletter Jahrgang erscheinen, kann man hier von einer Wochenschrift eigentlich gar nicht mehr sprechen. Vor diesem Hintergrund muss der gesamte Entwicklungsprozess, der in der Wochenschrift als Erfolgsgeschichte dargestellt wird, als fiktiv betrachtet werden. Die durchgehende narrative Klammer lässt die Discourse als ein von Beginn an viel stärker literarisches denn journalistisches Projekt erscheinen.85 Der Versuch, die Idee eines nationalen Publikums nach dem Vorbild des Spectator auf diese Weise in Realität zu verwandeln, scheitert. Wie Brandes erläutert hat, stellen das Abstraktionsniveau und der literarische Anspruch der einzelnen Texte (besonders hinsichtlich der geforderten Lateinkenntnisse) für das 82 83 84 85
Vgl. Foucault: Hermeneutik des Subjekts, S. 171. Die Ankündigung Lindinners findet sich am Ende des Registers des ersten Bandes. Vgl. Hans Bodmer: Die Gesellschaft der Maler in Zürich und ihre Diskurse (1721–1723). Frauenfeld (Univ. Diss.) 1895. Man könnte auch sagen, dass die Discourse nicht einfach eine produktive Anverwandlung des Spectator-Konzeptes darstellen, sondern dass es sich dabei um die literarische Erzählung eines Wochenschriftenprojektes und seiner erwünschten Folgen handelt, wobei die Schweizer sich an den tatsächlichen Ereignissen um den englischen Spectator orientieren.
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Zielpublikum eine unüberwindliche Hürde dar. Die überarbeitete Neuauflage sei ebenso erfolglos gewesen.86 Dieser Mahler der Sitten, den Bodmer allein bestreitet und in dem die Gesellschaft der Mahler durch den alleinigen Herausgeber „Rubeen“ ersetzt wird, zeichnet sich besonders dadurch aus, dass hier der Versuch unternommen wird, noch einmal die literarische Qualität der Essays, die nun nicht mehr als „Discourse“, sondern als „Blätter“ bezeichnet werden, zu erhöhen sowie die Texte an die literaturtheoretischen Entwicklungen der vergangenen fünfundzwanzig Jahre anzupassen. Auch hinsichtlich der Präsentation der Selbsttechnik stellen sich dabei Veränderungen ein. So wird im 9. Stück des ersten Teils, der dem Essay über das Meditieren in der ursprünglichen Ausgabe entspricht, das Wort „Meditieren“ durch das Wort „Staunen“ ersetzt.87 Auch der Schriftsteller ist nun nicht einfach mehr ein Maler, sondern ein „magischer Mahler, der durch blosse Worte und Ziefern ein Gemählde verfertiget“.88 Mit solchen und anderen kleinen Veränderungen wird der nun umso stärker zur Geltung gekommenen Aufwertung der Einbildungskraft im Diskurs über das Erhabene und das Wunderbare Rechnung getragen. Das bloße Denken wird zum Staunen erhöht, und die produktive Kreativität des Schriftstellers gewürdigt. Diese begrifflichen Veränderungen wirken jedoch wenig überzeugend, da sie innerhalb der rationalistischen Selbsttechnik als Fremdkörper erscheinen. Ein erkenntnisgeleitetes Nachdenken hat mit der emotionalisierten und rein rezeptiven Haltung des Staunens nicht viel gemeinsam; es kann eher als deren Gegenpol betrachtet werden. Der Mahler der Sitten scheitert an dem Versuch, das neu enstehende Konzept der ästhetischen Erkenntnis stimmig mit der alten Wochenschrift zu verbinden. Insgesamt zeichnen sich die überarbeiteten Essays durch eine leichtere Verständlichkeit aus, da die Argumentationen klarer strukturiert und zahlreiche Formulierungen vereindeutigt sind. Durch diese Überarbeitung wirkt der Mahler der Sitten wie ein erklärender Kommentar zu den Discoursen; er hat jedoch gerade dadurch auch viel vom Witz des Originals eingebüßt. Trotz dieser Probleme stellen die Discourse für nachfolgende Wochenschriften einen überaus wichtigen Referenztext dar. Indem die Verfasser sich an ein letztlich diffus bleibendes LaienPublikum wenden, können sie sich – quasi aus der Außenperspektive heraus – selbst neu verorten. Die in den Essays dargebotene Belehrung in Form von Wissenspopularisierung ist somit zugleich auch Selbsttechnik für die Autoren, die in
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Vgl. Brandes: Gesellschaft der Maler, S. 33–47. Dementsprechend heißt es dort: „Der Staunende folget keinen andern Gesetzen, als der Vernunft; die Regeln des Wohlstandes binden ihn nicht; er hat volle Freyheit eine Materie, worüber er dencken will, nach seinem Geschmacke zu erwehlen; die lustigen sind ihm nicht verwehret, und er darf den ernsthaftesten Wahrheiten, und in ihrer innerlichsten Natur, nachspüren.“ (Mahler der Sitten: 1. Teil, 9. Blatt, S. 95.) Ebd., 1. Teil, 23. Blatt, S 256.
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der Erziehung ihres Publikums ein neues Selbstverständnis als Moralisten entwickeln.
5.2.2. Die „sittliche Universalhermeneutik“ und Der Gesellige (1748–1750) Zwei Jahre nach dem Erscheinen des Mahlers der Sitten beginnen Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange in Halle mit der Publikation ihrer ersten Wochenschrift Der Gesellige, deren nachträgliche Buchveröffentlichung in sechs Teile gegliedert ist. Die empfindsame Ausrichtung Meiers und die pietistische Prägung Langes gehen dabei eine stilistische Verbindung ein. In der Gegenüberstellung der Discourse und des Geselligen wird die langsame Transformation der Selbsttechnik von einer therapeutischen Selbsthermeneutik in eine Ästhetik des Selbst deutlich. Der Grund dafür ist, dass sowohl die Züricher als auch die Halleschen Autoren ihre progressiven psychologischen Ansichten primär über literaturtheoretische Überlegungen kommunizieren, die unmittelbar die Gestaltung ihrer Texte beeinflussen. Der moralistische Interdiskurs geht in diesen Wochenschriften somit in besonderem Maße eine Verbindung mit der zeitgenössischen Erkenntnistheorie und Rhetorik ein, wodurch die Verbindung von essayistischer Schreibweise und Selbsttechnik deutlicher wird als in anderen Wochenschriften, die einen geringeren Anteil an gattungstheoretischer Selbstreflexion beinhalten. Der Gesellige beschäftigt sich nahezu ausschließlich mit den Spielarten menschlicher Konversation und den sittlichen Pflichten ihrer Teilnehmer. Die Leitidee der empfindsamen Geselligkeit, in deren Modus alle anderen Themen – auch die Religion – erörtert werden, bezeichnet ein Aufgehen des Einzelnen in der Gruppe durch die Ausrichtung der Konversation auf ein Ideal gemeinschaftlicher Harmonie. Geselligkeit wird zum Schlagwort eines utopischen Gesellschaftsentwurfs erhoben.89 Wie Martens in seiner Studie zum Geselligen ausgeführt hat, stellt die Geselligkeit „ein natürliches Bedürfnis und ein sozialethisches Erfordernis zugleich“ dar.90 Geselligkeit sichert den Anteil des Menschen am göttlichen
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Am Ende der Wochenschrift, im 270. Stück, wird diese Utopie einer „geselligen Gesellschaft“ real in Form einer Traumerzählung dargestellt. Die utopische Gesellschaft wird hier in das Jahr 2850 – also 1100 Jahre in die Zukunft – verlegt. Damit erscheint sie als nahezu unrealisierbar. Vgl. Samuel Gotthold Lange u. Georg Friedrich Meier: Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift. 6 Teile in 3 Bänden. Hg. v. Wolfgang Martens. Hildesheim, Zürich u. New York 1987 [ND der Ausg. Halle: Gebauer 1748–50], 6. Teil, 270. Stück, S. 387. Es handelt sich bei diesem Wochenschriften-Stück um eine der ersten Zeit-Utopien überhaupt, noch vor LouisSébastien Merciers Roman L’an 2440 von 1771. Wolfgang Martens: Geselligkeit im ‚Geselligen‘ (1748–50). In: Ortrud Gutjahr, Wilhelm Kühlmann u. Wolf Wucherpfennig (Hg.): Gesellige Vernunft. Zur Kultur der literarischen Aufklärung. Würzburg 1993, S. 173–185, hier S. 173.
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Wesen, denn Gott sei – so der Gesellige – aufgrund seiner Dreieinigkeit selbst „das geselligste Wesen“:91 Die Ausdrücke der heiligen Bücher geben uns hinlängliche Nachricht von dem geselligen Verhalten der einen göttlichen Person gegen die andere, und von dem gemeinschaftlichen Bestreben, ihren Wohlgefallen an einander darzuthun, so, daß dieses die einzige wichtigste Beschäftigung ist, die im göttlichen Wesen vorgehet, und die uns gar leicht begreiflich macht, daß ihm in Ewigkeit nie die Einsamkeit und Unthätigkeit, und der Mangel des Gegenstandes, so zu reden, lange Weile verursachet.92
Diese eigenwillige Interpretation der Trinitätslehre rührt daher, dass die Religion im Geselligen nur insofern in den Blick rückt, als „sie zum geselligen Leben das nöthige beyträgt“.93 Innerhalb der therapeutischen Selbsttechnik wird sie somit zu einer Medizin der Seele von vielen, neben der Kunst und dem geselligen Umgang. Innerhalb des Konzeptes der Geselligkeit sind die Essays der Wochenschrift mit religiöser Thematik jedoch Teil einer religiösen Praxis und können eine erbauliche Wirkung haben, ohne der Erbauungsliteratur im eigentlichen Sinne anzugehören. Während Gott in den Discoursen als der „größte Werkmeister“ bezeichnet wurde, ist er nun nicht nur „das geselligste Wesen“, sondern auch der größte Künstler. So wird die Bibel ausführlich als vollkommenes Muster der unterschiedlichen Formen der Dichtung vorgeführt. Ihre Vollkommenheit beruhe auf der Tatsache, dass sie direkt von Gott diktiert worden sei: Überhaupt ist die Schreibart und der Ausdruck der Sache angemessen, und dem Zweck der Offenbarung gemäß. Es herschet in denen Dingen, die jeder wissen und verstehen soll, die möglichste Deutlichkeit in einer Herunterlassung zu dem Einfältigsten, ohne der Würde und Hoheit der Sachen etwas zu vergeben. In der rührenden Schreibart fühlt sich ein jeder, das Herz 91 92 93
Der Gesellige: 1. Teil, 41. Stück, S. 337. Ebd., 1. Teil, 41. Stück, S. 338. Ebd., 1. Teil, 10. Stück, S. 81f. Dass der Gesellige deistisches Gedankengut verbreitet, wird aus dem 131. Stück des dritten Teils („Des Geselligen Unterredung mit den starken Geistern“) deutlich. Zwar werden dort die Freigeister und Gottesleugner mittels der Satire lächerlich gemacht, doch wird zugleich eine Verteidigung des Atheismus gegeben, die sich primär auf Francis Bacons Essay Of Superstition beruft. In diesem wird der Atheismus aufgrund seiner politischen und moralischen Unschädlichkeit dem Aberglauben vorgezogen. So sagt der Gesellige: „Da aber der sinnliche Theil eine gewaltige Kraft über unser Gemüth hat: so halte ich den Atheisten für nicht so schädlich; denn er ist nicht nur mit Vernunft zu gewinnen, sondern seine Sätze sind ganz gegen die Natur, daher wird der Aberglaube jederzeit grössern Schaden thun, als die Atheisterey. Dazu komt noch, daß ein Atheist bürgerlich ehrbar leben kan, da im Gegentheil unter der Decke der Religion der Aberglaube nicht nur die schändlichsten Laster zu pflichtmässigen und heiligen Dingen macht, sondern auch mordet. Auch verdammet der Atheist, der keine Hölle glaubt, niemanden; da im Gegentheil der Aberglaube mit der Hölle sehr freygebig ist. Man wird finden, daß ein Atheist nicht so bemüht ist, Anhänger zu gewinnen; da im Gegentheil der Aberglaube durch alle Mittel sein Reich zu vermehren sucht. Die Geschichte unterrichten [sic!] uns, daß ein Fürst, der nichts geglaubt, seiner Unterthanen Glauben nicht gekränket hat; allein, ein abergläubischer Herr vergiesset in seinem Lande Blut, oder läst seine treuesten Unterthanen haufenweise auswandern.“ (Ebd., 3. Teil, 131. Stück, S. 297.) Diese Verteidigung inklusive des Bezuges auf Bacons Essay findet sich nahezu wortgleich in der sogenannten ,Bibel des Deismus‘, Matthew Tindals: Christianity as old as the Creation: or the Gospel, a Republication of the Religion of Nature. London: [S.l.] 1730, S. 100.
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empfindet, was es empfinden soll. Die Beschreibungen und Namen GOttes, selbst die poetischen Vorstellungen des höchsten Wesens sind so beschaffen, daß nichts dagegen eingewendet werden kan, wenn man die Sache verstehet, und einen guten Geschmack besitzet.94
Die Beispiele für Textformen und Stilmittel, die aus der Bibel entnommen sind, machen deutlich, dass keinerlei Unterschied zwischen der Dichtung als gebundener Rede und den Arten der ungebundenen Rede hinsichtlich des künstlerischen Wertes vorgenommen wird. Könne man die „sinnreiche und scharfsinnige Schreibart“95 aus den Sprüchen Salomos erlernen, so seien die Briefe des Johannes ein Muster der aphoristischen. Diese werden – entsprechend der Formulierung Boileaus in seiner LʼArt Poétique – mit der Ode in der Dichtkunst verglichen: „Eine feurige und schöne Unordnung, welche an sich nichts weniger als Unordnung ist“.96 Daher ist auch Ernst Stöckmann nicht uneingeschränkt zuzustimmen, der die These vertritt, dass in den Wochenschriften Meiers und Langes der sinnlichen Erfahrung kein emanzipatorischer Wert zugesprochen werde. Zwar ist die ästhetische Gestaltung des Geselligen in der Tat „als reine Funktionsgröße des moraldidaktischen Telos“ anzusehen,97 doch besteht die Pointe gerade darin, dass die ästhetische Bildung des Einzelnen und das moraldidaktische Telos hier zusammenfallen: Gemäß der Selbsttechnik des Geselligen, die auch als ästhetisch-therapeutisch bezeichnet werden könnte, bewirkt die Schulung der ästhetischen Kompetenz eine unmittelbare sittliche Verbesserung. Die fiktiven Herausgeber der Wochenschrift, die aus Männern und Frauen bestehende „Gesellschaft der Geselligen“, wollen ihre Leser auf deren gesellige menschliche Natur zurückführen und Hindernisse der Geselligkeit beseitigen. Eine umfassende Beschreibung der Geselligkeit – als Anpassung an gängige Umgangsformen, soweit sie dem guten Geschmack entsprechen, Offenherzigkeit in der Darstellung von Gefühlen, als Höflichkeit und wechselseitiger Respekt (gemäß den Regeln, die Stand und Geschlecht vorschreiben), Affektmäßigung sowie ästhetische Ausbildung durch gemeinsame Kunstkritik – hat Martens ausgearbeitet.98 Die erste Abweichung von der essayistischen Selbsttechnik in den Discoursen manifestiert sich in der Bestimmung des Verhältnisses des Einzelnen zur Gemeinschaft. Während die Discourse eine Schärfung der Urteilsfähigkeit durch einsame Meditation propagieren, wird der Rückzug des Einzelnen auf sich selbst im Gesel94 95 96 97
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Vgl. Der Gesellige: 2. Teil, 78. Stück, S. 644. Ebd., 2. Teil, 78. Stück, S. 646. Der Gesellige: 2. Teil, 78. Stück, S. 647. Vgl. Nicolas Boileau-Despréaux: Die Dichtkunst/ L’Art poétique. Deutsch/Französisch. Hg. v. Rita Schober. Halle (Saale) 1968, S. 32. Ernst Stöckmann: ‚Philosophie für die Welt‘ zwischen ästhetischer und sittlicher Programmatik. Zu einigen Aspekten popularphilosophischer Publizistik am Beispiel der Moralischen Wochenschriften G. F. Meiers und S. G. Langes. In: Franz Simmler (Hg.): Textsorten deutscher Prosa vom 12./13. bis 18. Jahrhundert und ihre Merkmale. Akten zum Internationalen Kongress in Berlin 20. bis 22. September 1999. Bern u.a. 2002, S. 603–630, hier S. 620. Vgl. Martens: Geselligkeit, S. 173.
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ligen suspekt. Der Vernunft des Einzelnen wird nicht mehr die Kapazität zugesprochen, ihm die Wahrheit über sich selbst vollständig zu enthüllen. Im Gegenteil erscheint das einsame Nachdenken nur noch als Zerstreuung, als eine ungesunde Bindung der Einbildungskraft, die den Menschen aus der Gesellschaft und damit von sich selbst entferne. Aufschlussreich ist, dass der Gesellige hier mit direkter Bezugnahme auf den Mahler der Sitten die geistige Abwesenheit in einer Gesellschaft mit dem „Staunen“ gleichsetzt und diesen Begriff ausschließlich negativ konnotiert verwendet, während er im Mahler der Sitten bei der Charakterisierung des Meditierens noch als Ausdruck besonderer Tugendhaftigkeit in Erscheinung tritt. Auch in den Discoursen wird bereits das Laster der Zerstreutheit behandelt, doch wird hier zwischen der Zerstreutheit des vernünftigen Weisen und der Zerstreutheit des unvernünftigen Narren ein qualitativer Unterschied behauptet, wodurch verhindert wird, dass auch die einsame Meditation als lächerlich erscheint.99 Im Geselligen existiert eine solche Differenzierung nicht mehr; jede Form der Zerstreuung erscheint als Ausdruck der Ungeselligkeit. Dennoch verzichtet auch der Gesellige nicht auf das Selbstgespräch als zentrale Technik der Selbsterkenntnis. Dieses erfolgt jedoch nicht über eine Verinnerlichung, sondern über eine Veräußerlichung des eigenen Selbst durch Interaktion. Daher gilt auch der moralisierende Schriftsteller trotz seiner zunächst ungeselligen, da einsamen Arbeitsweise als einer der geselligsten Menschen, denn er kann durch die Distribution seiner Werke einer großen Anzahl Menschen dienen. Das „gesellige Denken“, das die Verfasser der Wochenschrift so gut wie ihre Leser beherrschen müssen, wird im 107. Stück (3. Teil) unter dem Motto „Nosce te ipsum“, der lateinischen Variante des delphischen gnothi seauton, vorgestellt. Der „gesellige Umgang mit sich selbst“ wird hier als grundlegende Vorbedingung der Gesellschaftsfähigkeit des Einzelnen benannt und nimmt damit die entsprechende Stelle ein, die das Meditieren in den Discoursen innehat. Die Art der Präsentation des geselligen Denkens und damit die essayistische Schreibweise unterscheiden sich
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Discourse der Mahlern: 3. Teil, XV. und XVI. Discours. Allerdings scheinen die Verfasser der Discourse sich hierin nicht ganz einig zu sein: Während die von Bodmer (Rubeen) verfassten Stücke die Meditation ins Zentrum der vernünftigen Selbsttechnik rücken, wird sie von Breitinger (Carrache) so stark mit der Zerstreuung als einer übermäßigen Wirkung der Leidenschaften in Verbindung gebracht, dass es innerhalb der Discourse fast zu einem konzeptuellen Bruch kommt. So heißt es im XVI. Stück des dritten Bandes: „Die Distraction welche nichts anders ist weder ein passionirtes Nachsinnen ist für sich selbst betrachtet gut und nützlich; die erste Regul die man einem vorschreibet, der richtig und ungestöret dencken will, fordert, daß er die Seele von den aussern Sinnen trenne, und seine Aufmercksamkeit allein auf die Materie seiner Gedancken richte, worinnen die Natur der Distraction bestehet. Allein die Umstände machen öffters eine unschuldige Sache bös und tadelhafft […].“ Vgl. ebd., 3. Teil, XVI. Stück, S. 123. Dass die erhöhte Erkenntnisfähigkeit des Geistes mit einer Einbuße an Wahrnehmungsfähigkeit erkauft wird, ist eine Problematik, für welche die rationalistischen Discourse keine Lösung finden. Indem die Meditation zu einer Konzentration auf das eigene Selbst verhelfen soll, führt sie zugleich zu einem Selbstverlust, einer Aufhebung des notwendigen Zusammenhangs von innerem und äußerem Sinn.
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jedoch deutlich wahrnehmbar von der Darstellung in den Discoursen. So beschreibt das VI. Stück im zweiten Band der Discourse die sokratisch-katechetische Selbsthermeneutik und ihren Nutzen zunächst in einem ausführlichen Argumentationsgang, der seinen Ausgang von einer erfahrungsbasierten Definition des Meditierens nimmt und am Ende den bereits beschriebenen Dialog als Beispiel anfügt. Es bleibt damit der Definition des Essays als „kleiner Abhandlung“ treu. Das 107. Stück des dritten Teils des Geselligen jedoch weist einen durchgehenden Argumentationsgang gar nicht mehr auf, sondern installiert Schreibweisen aus dem engeren Bereich des Literarischen – den moralischen Charakter als narrative Kurzform sowie eine Parabel – als zentrale Elemente des reflexiven Gehalts. Dem Leser wird eine Definition des geselligen Denkens geradezu vorenthalten, da er sich ein Verständnis dieses Konzeptes aus der Folge der vorgestellten Einzelsituationen selbst erarbeiten soll. Dementsprechend wird das Thema zunächst nur anhand einiger erfahrungsbasierter und religiöser Überlegungen angerissen: Ein Mensch, der sich durch unrühmliche Handlungen schändet, wird allen denen Schande bringen, mit welchen er umgehet; und wenn jemand sich selbst feind ist, wie freundschaftlich wird er gegen einen Fremden seyn können? Es hat aus dieser Ursach der Schöpfer und Kenner der menschlichen Natur, die Liebe gegen den Nächsten, mit der Selbstliebe auf das genaueste verknüpfet, und jene zu einer Tochter derselben gemacht, in dem Befehl: Du solst deinen Nächsten lieben als dich selbst. Diese Selbstliebe bestehet in der rechten Geselligkeit gegen sich selbst, nach welcher ein Mensch sich und seine Kräfte und Neigungen selbst zu erkennen suchet, seinen Verstand mit Weisheit zu bereichern beflissen ist, und seinen Willen in den Ausübungen der Tugend anwendet, und also immer mehrere Vollkommenheiten erhält, indem er seine Gemüthsbewegungen recht gebrauchen und mässigen lernet.100
Das christliche Gebot der Nächstenliebe wird in der naturrechtlichen Konzeption der Geselligkeit umgekehrt und transformiert in das Gebot, „daß ein rechter Geselliger mit sich selber gesellig umgehen müsse“.101 Den Hauptteil des Essays macht eine rasche Aufeinanderfolge moralischer Charaktere aus, die das Ideal der Geselligkeit sowie das Laster der Ungeselligkeit veranschaulichen. Zunächst werden sechs vorbildhafte Charaktere dargestellt, die jeweils eine zentrale Eigenschaft der Geselligkeit verkörpern: der junge Martius (Wissbegierde), der Greis Nestor (Weisheit), Herr Tugendreich (Sittlichkeit), Herr Prudentius (Freundlichkeit), Clementin (Frömmigkeit und Nächstenliebe) und der Pfarrer Gotfried Güldenmund (Einheit von gelehrter und praktizierter Religion). Im Anschluss werden ebenfalls sechs Charaktere vorgestellt, die ein gegenteiliges Verhalten verkörpern: Herr Öde (Unwissenheit und Gleichgültigkeit), Hans Ungezogen (Unsittlichkeit und Grobheit), Claus Weidelaut (Indiskretion und Prahlerei), Zotenreich Dürr (Unverschämtheit), Herr Wüst (Unordentlichkeit und Geschrei) und schließlich Herr Langsam (Unpünktlichkeit und mangelnde Geistesgegenwart). Wenn hier das geschilderte Verhalten dieser Charaktere versuchsweise auf einen oder zwei zentrale 100 101
Der Gesellige: 3. Teil, 107. Stück, S. 90. Ebd., S. 89.
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Begriffe gebracht wird, so ist damit bereits eine Ausdeutungsleistung erbracht, welche die moralischen Charaktere mit ihren sprechenden Namen und der Schilderung einzelner Handlungen evozieren. Gerade dadurch, dass einzelne Verhaltensweisen sich in leichter Abänderung auch wiederholen, soll der Leser die tatsächliche psychologische Verhaltensursache begreifen. Die symmetrische Anordnung von sechs positiven und sechs negativen Beispielen unterstützt den rationalen Aufbau des Stückes und wirkt moraldidaktisch, ohne dass eine einzige Verhaltensregel benannt würde. Die symmetrische Gegenüberstellung der Typen lässt sich direkt auf den Katalog der christlichen Tugenden und Laster beziehen, aus denen die Verhaltensweisen sich herleiten.102 Der Gesellige interpretiert somit das gesellschaftliche Moralverhalten konsequent anhand des christlichen Moralcodes. Da den Verfassern des Geselligen (wie auch den Autoren der Discourse der Mahlern) letztlich die transkulturellen Vergleichsmöglichkeiten fehlen, um tatsächlich ihrem eigenen Anspruch gerecht zu werden und ethnographische Beschreibungen von Sitten und Gebräuchen zu liefern, scheint durch alle Beschreibungsbemühungen das Schema der Tugenden und Laster hindurch. Allerdings ist das Verfahren des Geselligen insofern auch innovativ, als hier erstmals selbst die kleinsten Feinheiten zwischenmenschlichen Verhaltens systematisch auf den Moralcode bezogen werden und dementsprechend psychologisch „ausgelesen“ und gedeutet werden können. Im 146. Stück des vierten Teils des Geselligen, das von der „Wissenschaft zu leben“ handelt und nach einer kurzen Einführung ebenfalls eine Reihe moralischer Charaktere präsentiert, geben die Herausgeber der Wochenschrift genauere Auskunft über ihr Verfahren: Es ist eine grosse, ja eine der grösten Pflichten, sich nach den Umständen derer zu richten, mit denen man in Gesellschaft leben muß. Ein Mensch, der diese Pflicht gehörig beobachtet, besitzet die seltene Wissenschaft zu leben. Ein Blat für diese Wissenschaft ist zu klein, indessen ist es groß genug, den Anfang von denen dahin gehörigen Lehren aufzufassen. Ich werde sie meinen Lesern nicht in einer systematischen Lehrart vortragen, sondern nur gewisse Begebenheiten, so wie sie mir vorkommen, aufsetzen, und damit so lange fortfahren, bis der Gesellige in diesem Stück seine Pflicht erfüllet habe.103
Wirkungspsychologisch baut die Wochenschrift somit auf das Prinzip von Reihung und Variation narrativer Elemente anstelle von rationaler Argumentation und illustrierendem Beispiel. Den Abschluss des 107. Stückes bildet eine – nach Angaben der Herausgeber von einem Mitglied ihrer Gesellschaft, Lucidor, beigesteuerte – Parabel, in der die Figur des Arabers Hai Ebn Abul als Vorbild der Geselligkeit ausgewiesen wird. 102
Auf der Seite der Tugenden stehen die originär christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe sowie die vier Kardinaltugenden Weisheit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Mäßigung Pate, auf der Seite der Laster die sieben Todsünden Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Trägheit. 103 Der Gesellige: 4. Teil, 146. Stück, S. 9.
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Mithilfe dieser Parabel wird die Darstellung des geselligen Denkens noch einmal auf eine höhere, erkenntnistheoretische Ebene verlagert: Hai Ebn Abul habe eine Schule gegründet, in der er ein „Zimmer der Erkenntnis sein selbst“ eingerichtet habe. In dieses Zimmer, das vollständig mit Spiegeln ausgekleidet sei, führe er seinen jeweiligen Schüler. Die vervielfältigte Widerspiegelung des eigenen Verhaltens soll dem Schüler sein eigenes – defizitäres – Selbst vorführen, das ihm wie eine Gesellschaft fremder Personen gegenübertritt. Durch diese Veräußerlichung des eigenen Selbst wird dem Schüler das Urteil über sich selbst erleichtert, und er soll lernen, „sich als eine Person anzusehen, die vor sich selbst niemals allein sey“.104 Der Schüler wird zum Augenzeugen seines eigenen Fehlverhaltens. Beschlossen wird die Parabel mit einer Übertragung der Selbsttechnik auf die Psychologie der Staatsführung: Ein Kalif besucht Hai Ebn Abul, um die Regierungskunst zu erlernen und wird in das „Zimmer der Regierungskunst“ geführt. Auch dort befinden sich Spiegel, die jedoch so bearbeitet sind, dass sie das Bild des Kalifen tausendfach vervielfältigt zurückwerfen. Jede Reflexion soll einen Untertan des Herrschers repräsentieren. In ihrer Gesamtheit führen sie diesem seine moralische Vorbildfunktion vor Augen. Zeichnet sich die einsame Meditation in den Discoursen dadurch aus, dass sie dem Einzelnen einen gewissen Freiraum eröffnet und ihn von gesellschaftlichen Zwängen befreit, so sind für den geselligen Menschen diese Konventionen immer präsent. In weitaus stärkerem Maße als in den Discoursen verkörpert das essayistische Ich des Geselligen die Gesellschaft, mit welcher der Einzelne sich intensiv auseinandersetzen muss, um sein besseres Selbst herauszubilden. Die paränetische Spaltung von Ich und Selbst, die in den Discoursen durch ein einfaches Abbildungsverhältnis veranschaulicht werden konnte (und die dort auch mit dem Blick durch ein Fernrohr verglichen wird105), bricht auf in eine Vielstimmigkeit, aus welcher der Einzelne jedoch ein einheitliches Anforderungsprofil an sein individuelles Handeln herauslesen soll. Die aufklärerische Lichtmetapher zur Beschreibung der Wahrheit, die schon in Bacons Essay beim Vergleich der optischen Wirkung von Perle und Diamant zum Einsatz kommt, wird hier für die Charakterisierung der essayistischen Schreibweise und die in ihr verkörperte Selbsttechnik relevant: Bruch, Zerstreuung und Perspektivierung charakterisieren die Repräsentation sowohl der Wahrheit als auch des eigenen Selbst. Daher kann der Einzelne letztlich nur in der geselligen Interaktion Anteil an der Repräsentation des gesellschaftlichen und individuellen Ideals haben. Die Perspektivierung und damit einhergehende Empirisierung des Wahrheitsbegriffs schlägt sich auch in dem vorgestellten Kunstverständnis nieder. Zwar bleibt der mimetische Anspruch an das Kunstwerk erhalten, doch könne die Wahrheit
104 105
Der Gesellige: 3. Teil, 107. Stück, S. 95. Vgl. Discourse der Mahlern: 3. Teil, XXI. Discours, S. 167f.
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durch den Einzelnen nur noch perspektivisch und damit unvollständig erkannt werden: Man stelle sich einen runden Tisch vor, um welchen lauter Mahler sitzen, in dessen Mitte ein Licht oder eine Bildseule stehet, welche abzuzeichnen die Künstler sich bemühen. Man wird finden, daß ein jeder den Gegenstand aus dem Augenpunkte, in welchem er sich darstellet, entwerfen wird; also wird ein und dieselbige Sache nach der Wahrheit auf so viel verschiedene Art abgemahlet werden, als viel Mahler sich damit beschäftigen.106
Die Schönheit des Kunstwerkes und somit seine sinnlich erfahrbare Wahrheit erschließen sich demgemäß erst aus der Kombination der Einzelperspektiven. Einzelne Betrachter können lediglich einen zweidimensionalen Eindruck des Erkenntnisgegenstandes erlangen. Der plastische Eindruck hingegen, der alle Perspektiven vereint, ist Gott beziehungsweise seinem irdischen Äquivalent – der geselligen Gesellschaft – vorbehalten. Im 15. Stück des ersten Teils, das sich mit der Bedeutung der „Kleinigkeiten“ für die Erkenntnis der Wahrheit und die Realisierung des gesellschaftlichen Ideals beschäftigt, wird das gesellige Gespräch im gleichen Sinne metaphorisch als musikalische Harmonie vorgestellt, in der jeder Stimme gemäß ihren jeweiligen Talenten ein bestimmter Platz zufalle. Durch die genaue Beobachtung der äußeren Zeichen von Gefühlsregungen bei den Teilnehmern der Gesellschaft erwerbe jeder Gesprächsteilnehmer eine Kenntnis der individuellen Charaktere und könne mittels geschickter Beeinflussung den Fortgang des Gesprächs sichern: Wie angenehm kann man sich nicht eine ganze Gesellschaft zu Nutze machen, wenn man einen jeden auf seinen Ton bringen, und durch geschickte Anwendung alles klüglich mässigen kan. Ich finde einen solchen Kenner weit über den größten Kapellmeister erhoben, und eine solche Gesellschaft vortreflicher als das beste Concert.107
Die moralischen Charaktere sind jedoch nicht nur ein zentraler Bestandteil der Veranschaulichung von Thesen im Essay, sondern der Leser soll sich die Methode ihres Entwurfs aneignen. 1757 stellt Meier unter dem Titel Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst in aphoristischer Form Grundlagen der Hermeneutik auf, deren gesellschaftliche Dimension bereits im Geselligen angelegt ist. Die Beobachtung und (wertende) Auslegung derjenigen Arten von Zeichen, die in der Konversation eine zentrale Rolle spielen – der mündlichen Rede sowie der individuellen Charakteristika –, fallen hier in den Bereich der „praktischen Auslegungskunst“. Entsprechend den Definitionen der „theoretischen Auslegungskunst“ handele es 106
Der Gesellige: 1. Teil, 28. Stück, S. 235. Der Ausdruck Augenpunkte bezieht sich auf den von Johann Martin Chladenius in seiner Hermeneutik unter dem Titel Einleitung zur richtigen Auslegung vernünftiger Reden und Schriften (1742) eingeführten Begriff des Sehepunktes, der die (auch historische) Perspektivierung von Erkenntnis verdeutlicht. Vgl. zu Chladenius und zur Perspektivierung der Wahrnehmung um 1750 Gunhild Berg: Erzählte Menschenkenntnis. Moralische Erzählungen und Verhaltensschriften der deutschsprachigen Spätaufklärung. Tübingen 2006, S. 83f. 107 Der Gesellige: 1. Teil, 15. Stück, S. 124.
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sich bei individuellen körperlichen Merkmalen und Angewohnheiten wie der Körpersprache um „natürliche“ Zeichen, die in den Bereich der „sittlichen Physiognomie“ fielen.108 Die moralische Auslegung der Rede oder „sittliche Charakteristik“ befähige den Einzelnen zur psychologischen Demaskierung seines Gegenübers: Die sittliche Charakteristik (characteristica moralis) lehrt die Zeichen, aus denen das Verborgene der menschlichen Gemüter, auch wider Willen desjenigen, der untersucht werden soll, erkannt werden kann; z.E. die Gedanken, Begierden, der Kopf, das Temperament, die Fertigkeiten, die Sitten, Maximen. Geschieht dieses aus der Rede, so kommen die Regeln dieser Auslegung in der sittlichen Auslegungskunst (hermeneutica moralis) vor.109
Das Gegengewicht oder Korrektiv dieser Enthüllungspsychologie ist bei Meier das oberste sittliche Prinzip der „Billigkeit“, das für die Auslegung aller Arten von Zeichen – von den natürlichen, durch Gott gestalteten, bis zu den künstlichen Zeichen literarischer Werke – Gültigkeit beansprucht: Sie bezeichnet einen auf der allgemeinen Menschenliebe beruhenden vorgängigen Entschluss, den Urheber willkürlicher Zeichen so lange als „klug und vernünftig“ anzusehen und seine Zeichen dementsprechend auf die Demonstration ihrer Vollkommenheit hin auszulegen, bis eine gegenteilige Beschaffenheit bewiesen werden könne.110 Somit liegt dem geselligen Denken eine sittliche Universalhermeneutik zugrunde, die sowohl für die Fremd- als auch für die Selbstbeobachtung bestimmt ist, denn: „Die Gedanken sind Zeichen des Kopfs [d.h. der Gemütsart, N.H.].“111 Das gesellige Gespräch, das entsprechend der sittlichen Universalhermeneutik bestritten wird, hat einen hohen intellektuellen Anforderungsgrad: Permanente Geistesgegenwart ist gefordert, um den angemessenen Gesprächsbeitrag im richtigen Augenblick einzubringen. Eigentliches Thema des Geselligen ist jedoch die Darstellung von unangemessenem Verhalten als Störung oder Verhinderung von Geselligkeit. Der Unterricht in geselligem Denken zielt daher vor allem darauf ab, ungeselliges Verhalten zu vermindern. Die moralischen Charaktere statten den Leser mit einem Repertoire wiederkehrender Typen aus, die er verinnerlichen soll. Betritt der Gesellige eine Gesellschaft, so kann er die Verhaltensweisen der Anwesenden mit den bekannten Typen identifizieren. Verstößt ein Gesprächsteilnehmer gegen die Grundregeln der Geselligkeit, so verständigt sich die Gruppe nonverbal darüber, dass er nicht der Gesellschaft der Geselligen angehört. Dies gibt der Gesellschaft einen elitären Charakter, wie aus dem folgenden Beispiel deutlich wird: Ich weiß was Scaevola sagen will, wenn jemand erzählt, daß er gefallen sey. Der ist unglücklich, der eines Gespenstes in seiner Gegenwart gedenket. Eine lange Folge von Gespensterhis108
Vgl. Georg Friedrich Meier: Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Mit einer Einleitung und Anmerkungen hg. v. Axel Bühler und Luigi Cataldi Madonna. Hamburg 1996, § 28, S. 14 und § 269, S. 97f. 109 Ebd., § 253, S. 94. 110 Vgl. ebd., § 84–102, S. 33–41. 111 Ebd., § 76, S. 31.
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torien erfüllet eine Zeit von 2 ½ Stunden. Ich habe mir oft das schalkhafte Vergnügen gemacht, und so bald eine Geschichte geendiget, die nächstfolgende ergriffen: denn sie hängen alle in einer und eben derselben Ordnung an einander. Ich habe oft die Gesellschaft in der lächerlichen Bemühung gesehen, das Lachen zu verbeissen, wenn die muntere Chloris flüsternd vorhersagte: nun kommt die oder die Historie, welche denn auch unausbleiblich unmittelbar darauf vorgebracht ward.112
Es ist auffällig, dass der Gesellige hinsichtlich der Reaktion auf ungeselliges Verhalten in verschiedenen Stücken unterschiedliche Antworten gibt, die nicht miteinander vereinbar sind. So wird das einzelne Laster generell nicht als Eigenschaft eines Individuums angesehen, sondern als Bestandteil des allgemeinen menschlichen Charakters, der zum Laster neige. Dies ist auch die Funktion des typisierenden Denkens: Indem eine bestimmte Verhaltensweise des Gesprächspartners nicht unmittelbar an diesen gebunden, sondern unter einen bestimmten Typus gefasst wird, rückt sie in eine reflexive Distanz und wird nicht als Angriff empfunden. Der Gesellige soll als „Menschenfreund“ das Laster dem fehlerhaften menschlichen Wesen zuordnen und sich stattdessen auf die positiven Eigenschaften seiner Gesprächspartner konzentrieren. Andererseits enthält der Gesellige jedoch auch Beispiele, in denen ungeselliges Verhalten nicht toleriert wird, sondern öffentliche Sanktionierung nach sich zieht: So wenn dieses Verhalten durch öffentliches Gelächter kommentiert oder der Gesprächspartner dadurch lächerlich gemacht wird, dass man ihm das gesellige Gespräch verweigert. Personen, die am geselligen Gespräch aufgrund fehlender intellektueller Befähigung nicht angemessen teilnehmen könnten (sogenannten „schwachen Seelen“),113 wird empfohlen, der Gesellschaft lieber gleich fern zu bleiben. Das Reaktionsspektrum reicht also von der Wertschätzung der Vielfalt menschlicher Charaktere und Meinungen, die im geselligen Streit das „primum mobile“ der gemeinsamen sittlichen Verbesserung bildeten,114 bis zu dem restriktiven Anspruch einer Vereinheitlichung von Verhaltensweisen, der selbst kleine Abweichungen vom Ideal des geselligen Gesprächs nicht akzeptiert. Letztlich umfasst das Konzept der Geselligkeit also nur einen begrenzten Variationsspielraum von Verhaltensweisen, die sich in das Ideal der gesellschaftlichen Harmonie integrieren lassen. Der moralistische Schriftsteller wird im Geselligen ebenfalls als Kunstkritiker, als „schöner Denker“, dargestellt.115 Die Geselligen bezeichnen sich selbst zum Abschluss des sechsten Teils als „gesellige Kunstrichter in kritischen Stücken“.116 Wie die Konversation, die in den Essays kritisch dargestellt wird, erscheint somit auch ihre literarische Darstellung als Kunstform. Der schöne Denker benötige Muße und Unabhängigkeit vom täglichen Broterwerb, um seine Wahrheiten angemes112 113 114 115 116
Der Gesellige: 1. Teil, 2. Stück, S. 19. Vgl. ebd., 2. Teil, 82. Stück, S. 692. Vgl. ebd., 1. Teil, 28. Stück, S. 236. Vgl. ebd., 5. Teil, 210. Stück, S. 218. Ebd.: 6. Teil, 271. Stück, S. 396.
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sen einzukleiden. Hier stehe Deutschland sowohl in der Zahl großer Vorbilder als auch hinsichtlich der Wertschätzung seiner Schriftsteller hinter Frankreich und England weit zurück. Die Wochenschrift kritisiert vor allem den deutschen Adel dafür, dass er die Tätigkeit des Kunstkritikers gering schätze und weder selbst kunstkritische Texte verfasse noch die Schriftsteller fördere, wie dies in Frankreich oder England üblich sei. Auf diese Weise können sich die bürgerlichen moralphilosophischen Schriftsteller – hier vor allem auch als Essayisten – selbst profilieren: Ich kann mit Zuversicht sagen, daß unter hundert Standespersonen kaum, und nicht einmal, zehen angetroffen werden, die einen guten Gedanken schätzen, und ein Gedicht nach seinem wahren Werth beurtheilen können: und findet sich unter hunderten wol einer, der einen dergleichen guten Aufsatz selbst zu verfertigen sich unterstehen würde?117
Sowohl Die Discourse der Mahlern als auch Der Gesellige verfolgen somit den Zweck, ein komplexes philosophisches Programm durch essayistische Bearbeitung auf ein allgemeinverständliches Niveau zu bringen und auf diese Weise zu popularisieren. Die Motivation des Lesers, sich auf die Vorgaben der Wochenschriften einzulassen, soll durch die Schaffung von Anreizen gewährleistet werden. Zu diesem Zweck sprechen die satirische Verlachung des Lasters und die Behauptung, dass eine Annahme der Selbsttechnik Vergnügen bewirke, die vernünftige Selbstliebe des Einzelnen an. Zwar bezeichnen zum Beispiel die Discourse ihre Stücke als „moralische Zeitungen“, doch erfüllen die Essays eben die wichtigste Eigenschaft der Zeitungen, Neuigkeiten zu liefern, nicht. Vielmehr soll der Leser die geschilderten Verhaltensweisen in seinem eigenen Umfeld oder an sich selbst wiedererkennen und auf diese Weise den Eindruck gewinnen, direkt in seinem täglichen Lebenswandel angesprochen zu sein. Während die Discourse auf diese Weise ein nationales Gemeinschaftsgefühl erzeugen wollen, geht es dem Geselligen um die Etablierung einer abgesonderten, durchaus elitären Gemeinschaft, die in ihrer Ausrichtung auf das Deuten verbaler und non-verbaler Zeichen in gewisser Weise die Eigenschaften einer Geheimgesellschaft mit eigenen Ritualen aufweist.118 Beide Wochenschriften setzen daher zunächst einen bildungswilligen Leser voraus, der bereit ist, sich mit den wöchentlichen Stücken intensiv auseinanderzusetzen und diese ebenfalls in der Gesellschaft zu diskutieren. Der zeitliche Abstand zwischen der Veröffentlichung der einzelnen Stücke, der zur Verinnerlichung oder kritischen Reflexion des Gelesenen bestimmt ist, ist für den Rezeptionsprozess mindestens genauso wichtig wie die Lektüre selbst.119 Der Leser ist aufgefordert, 117 118
Der Gesellige: 5. Teil, 210. Stück, S. 219f. Hierzu gehört auch die Tatsache, dass sich die Geselligen wie zu einer Tafel-Loge um einen eiförmigen Tisch versammeln. 119 Daher wird ein Leser, der eine nachträglich in Buchform publizierte Wochenschrift als zusammenhängenden Text liest, den Lektüreerfordernissen der Gattung nicht gerecht. Wesentliche Elemente der Rezeption – die intensive Reflexion über das einzelne Stück, die Konversation darüber sowie die schriftliche Niederlegung der eigenen Ansichten zum Thema – fallen hier
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durch das Verfassen von Briefen an die Herausgeber der Wochenschriften seinen Lernfortschritt auch im Gebiet des methodischen Schreibens zu demonstrieren. Allerdings werden in beiden Wochenschriften keine authentischen Leserbriefe von solchen Lesern abgedruckt, die erst durch die Lektüre der Wochenschrift zur Beschäftigung mit moralphilosophischen Themen gebracht worden wären. Während die Discourse das Ausbleiben von Leserbriefen bedauern, konstatiert der Gesellige in seiner Verabschiedung von den Lesern, die meisten der zahlreich eingegangenen Briefe hätten entweder nicht das nötige literarische Niveau besessen, um abgedruckt zu werden, oder sie wären thematisch unpassend gewesen.120 Beide Wochenschriften gründen ihre therapeutische Selbsttechnik auf einem hermeneutischen Erkenntnismodell, dem die Gestaltung ihrer Essayistik formal entspricht. Die sokratisch-katechetische Methode der Discourse bedingt – zumindest im ersten Band – ein Vorherrschen der Argumentation, die durch den Leser mittels der kritischen Befragung des Textes geleistet werden soll und als Transformation des Essays in einen Dialog vorgestellt wird. Der Aufbau der Essays ist zunächst als Wechsel von These/Definition und veranschaulichendem Exempel zu beschreiben, wobei die Definition auch durch einen Erfahrungsbericht ersetzt werden kann. Der Anteil an essayistischer Reflexion nimmt in den Discoursen jedoch nach und nach ab, und es kommt zu einer quantitativen Aufwertung lyrischer, narrativer oder dialogischer Textformen. Die sittliche Universalhermeneutik des Geselligen hingegen führt durch die Perspektivierung des Wahrheitsbegriffs und die Aufspaltung der gemeinsamen Wahrheit in unendlich viele Ausschnitte, die den Mitgliedern der Gesellschaft korrespondieren, zur Notwendigkeit des Austausches und der Berücksichtigung von Kontexten. Das Auslegen menschlicher Zeichen erfordert die Dezentralisierung des Denkens und das Erkennen von Zusammenhängen, die nicht logisch auseinander entwickelt werden können. Das gesellige Gespräch beruht auf der Beherrschung dieses Ursachenzusammenhangs und dem gezielten Hervorrufen erwünschter Wirkungen. Durch diese Form der Gesellschaftskunst wird die Fähigkeit des geselligen Menschen zur Beurteilung künstlerischer Werke ebenfalls geschult. Die Funktion des moralistischen Interdiskurses in den Wochenschriften ist es somit, die Kunst, die Philosophie und das gesellschaftliche Leben gegenseitig fruchtbar machen, sodass die ästhetische Betätigung die gesellschaftlichen Fähigkeiten fördert und umgekehrt gesellschaftlicher Umgang sich auf das ästhetische Erkenntnisvermögen auswirkt.
weg. Die Wiederholungselemente in den Wochenschriften-Stücken, die bei kontinuierlicher Lektüre störend und ermüdend wirken, erweisen sich bei einer stückweisen Lektüre über längere Zeiträume hinweg als sinnvoll, da sie der Einübung von Wahrheiten und der Festigung des Gedächtnisses dienen. 120 Der Gesellige: 6. Teil, 271. Stück, S. 397.
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5.3. Grenzen der Repräsentation: Die moralistische Essayistik Christiana Mariana von Zieglers (1731/1739) und die querelle des femmes Die Moralischen Wochenschriften sind in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der bevorzugte Publikationsort für Essays. Daneben gibt es selbstständige Publikationen wie die bereits angesprochenen Freymüthigen Gedanken Scheibes oder die Vernünfftigen Gedancken von Nemeitz, die jedoch hauptsächlich kompilierend vorgehen und nur ansatzweise Subjektivität darstellen. Einen ganz anderen Fall stellt die moralistische Essayistik der Leipziger Schriftstellerin Christiana Mariana von Ziegler dar, deren Untersuchung daher diesen Teil der Studie abschließen soll.121 Ziegler greift den durch die Wochenschriften bereits in der literarischen Öffentlichkeit verankerten moralistischen Interdiskurs auf und verwendet ihn zu emanzipatorischen Zwecken innerhalb der querelle des femmes. Ihre Texte werfen somit noch einmal ein anderes Licht auf das repräsentative Ich der moralistischen Essayistik, denn sie geben Auskunft über die Öffnung des Geschlechterdiskurses im Essay der frühen Aufklärung und über die Grenzen, an die Ziegler mit ihren Forderungen stößt. Ziegler hat zwei Bände mit essayistischen Texten publiziert, Moralische und vermischte Send-Schreiben, An einige Ihrer vertrauten und guten Freunde gestellet (1731; Abb. 2) und weitere Essays in dem Band Vermischete Schriften in gebundener und ungebundener Rede (1739). 1730 wird sie auf Betreiben Gottscheds in die Leipziger Deutsche Gesellschaft aufgenommen. Kurz darauf erscheinen die Send-Schreiben, eine Sammlung von einhundert Briefen. Es handelt sich hierbei um die ersten Essays, die Ziegler eigenständig publiziert, nachdem sie zuvor bereits anonym an Gottscheds Vernünftigen Tadlerinnen mitgearbeitet hat. Als Mitglied der Leipziger Deutschen Gesellschaft vertritt Ziegler mit ihren Texten vor allem das nationale Interesse der Sprachpflege und der Verbreitung der deutschen Hochsprache, das sie mit einer besonderen Aufforderung an Frauen, sich ebenfalls moralistisch zu bestätigen, verbindet. Als Vorbild dienen ihr moralistische Schriften von Frauen in französischer Sprache. Dieser Versuch der schriftstellerischen Aktivierung durch Proklamation eines internationalen Wettbewerbs ist auch bereits in den Discoursen der Mahlern (dort mit Bezug auf das Vorbild der Engländerinnen) zu finden. Dass sich durch den literarischen Wettbewerb mit Frankreich und England auch für schreibende Frauen Handlungsspielräume eröffnen, wird aus einer Ode Johann Joachim Schwabes deutlich, die dieser anlässlich der (ebenfalls von Gottsched ini121
Christiana Mariana von Ziegler (1695–1760) ist die Tochter des Leipziger Bürgermeisters Franz Conrad Romanus und eine Bürgerliche, die durch Heirat den Adelstitel erlangt. Nach dem Tod ihrer beiden ersten Ehemänner, Heinrich Levin von Könitz und Georg Friedrich von Ziegler, sowie nach dem Tod zweier Kinder führt sie im Leipziger Romanus-Haus im Witwenstand einen eigenen Haushalt und einen Salon. Zu ihrer Biographie vgl. auch Christine Wolter: Mariane oder Die Unsterblichkeit. Leipzig 2004.
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tiierten) Ernennung Zieglers zur poeta laureata durch die Philosophische Fakultät der Universität Wittenberg im Jahre 1733 veröffentlicht: Rühmt, Franzen eure Scudery, Daß sie den Preis der Redekunst errungen; Wißt, daß es in der Poesie Der Frau von Ziegler auch bei uns also gelungen. Hier liegt die Schrift; Da lest das Blatt, Sagt, ob es nicht Geist, Leben, Arbeit hat, Und wohlverdient, daß mans mit Cedernöle träncket. Nehmt ihre Brief und fügt sie bey; Wen stellt ihr nun mit ihr in eine Reyh, Da Dicht- und Redekunst ihr gleichen Vorzug schencket?122
Die erste universitäre Dichterkrönung einer Frau in Deutschland wird von einem Schmähschriftenprozess begleitet, den Cornelia Caroline Köhler rekonstruiert hat.123 Der Prozess wird nach Köhler gegen vier Studenten der Universität Wittenberg eröffnet, da diese Pasquille auf eine von Gottsched publizierte Ode anlässlich der Dichterkrönung verfassen und in Umlauf bringen. Das Verfahren findet 1733– 34 statt und wird mit einem Verweis der Studenten beigelegt. In der schnellen Abhandlung des Vorfalls zeigt sich nach Köhler jedoch keine Abwertung Zieglers oder eine Nicht-Anerkennung der Dichterkrönung, sondern eher der Versuch, die betroffenen Studenten zu schützen.124 Dieser Schmähschriftenprozess verdeutlicht, dass Ziegler sich als Schriftstellerin starken Aversionen ausgesetzt sieht, auf die sie auch in ihren Essays reagiert. Zieglers Send-Schreiben von 1731 orientieren sich stark an den Themenstellungen der Moralischen Wochenschriften. Die hier versammelten Briefe sind nicht mit Überschriften versehen, sondern unbetitelt hintereinander gestellt. Ziegler gibt in ihrer Vorrede an, dass es sich um eine Auswahl aus ihrer tatsächlichen Korrespondenz handele, wobei das Datum und der Name des Empfängers jedoch entfernt wurden. Durch eine allgemeine Anrede wird lediglich jeweils angezeigt, ob der Adressat männlich oder weiblich, bürgerlich oder adlig ist. Inhaltlich sind die Texte jeweils auf ein traditionelles Thema der Moralistik zugespitzt. Sie enthalten keine Alltagsinformationen, sodass man – wenn die Briefe nicht ohnehin größtenteils fikiv sind – von einer starken Überarbeitung der Briefe zu Essays sprechen muss. Bei der Themenwahl und im Umgangston der Texte zeigt sich kein Unterschied zwischen adligen und bürgerlichen Adressaten. Susanne Schneider hat in ihrer 122
Johann Joachim Schwabe: Ode. In: Jacob Friedrich Lamprecht (Hg.): Sammlung der Schriften und Gedichte welche auf die Poetische Krönung Der Hochwohlgebohrnen Frauen, Frauen Christianen Marianen von Ziegler gebohrnen Romanus, verfertiget worden. Leipzig: Breitkopf 1734, S. 68–78, hier S. 75. 123 Vgl. Cornelia Caroline Köhler: Frauengelehrsamkeit im Leipzig der Frühaufklärung. Möglichkeiten und Grenzen am Fallbeispiel des Schmähschriftenprozesses im Zusammenhang mit der Dichterkrönung Christiane Mariane von Zieglers. Leipzig 2007. 124 Vgl. ebd., S. 214.
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Examensarbeit zur Geschlechterfrage in Zieglers Werk festgestellt, dass sich Zieglers Brief-Essays – wie den standesspezifischen Anredeformeln zu entnehmen ist – zu nahezu gleichen Teilen an adelige und bürgerliche Freunde richten, wobei eine leichte Überzahl von Briefen an adelige Frauen feststellbar sei.125 Ziegler tritt in der Korrespondenz als sittliche Autorität innerhalb einer ständeübergreifenden Gemeinschaft auf, die sich an bürgerlichen Werten orientiert. Ihr Hinweis darauf, dass es sich um eine reale Korrespondenz handle, ist eher als Rechtfertigungstopos zu verstehen, da Ziegler sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, mehr als ihre „Nebenstunden“ für das literarische Schreiben zu verwenden. Zudem verwendet sie derartige Rechtfertigungs- und Bescheidenheitstopoi generell im Wechsel mit eindeutigen Geltungsansprüchen und unterläuft ihre eigene Argumentation auf diese Weise immer wieder ironisch. Als Beispiel für eine solche Verbindung von Bescheidenheitsformeln und Geltungsanspruch kann das Widmungsschreiben der Send-Schreiben an den polnischen Grafen Conrad Siegfried von Hoymb angeführt werden, in dem Ziegler die „gelehrte Welt“ als Adressat ihrer Schriften bestimmt und durch einen Verweis auf die kulturelle Vorbildfunktion Frankreichs und den Erfolg seiner moralistisch tätigen Schriftstellerinnen ihr eigenes Schreiben legitimiert: Zwar solt ich allerdings Bedencken tragen / Ew. Hoch-Reichs-Gräflichen Exzellentz nachstehende übel klingende und annoch gar unscheinbare Sendschreiben zu überreichen, in Erwegung / daß IHNEN / als einem gelehrten und erfahrnen Staats-Mann, diejenigen sinnreichen und nett abgefassten Blätter, wodurch sich eine und andere Frantzösische Dame / in dergleichen Schreib-Art / bei der gelehrten Welt hervor gethan, nicht unbekannt seyn können. Allein da Eure Hoch-Reichs-Gräfliche Excellentz / nach DERO vortrefflichen Verstande und herrlichen Einsicht / gar leicht schliessen werden / daß ich / bey Darstellung solcher Briefe / gar nicht gesonnen sey / mich mit jenen in eine Vergleichung zu setzen / vielweniger den Beyfall / dessen sie sich vor unsrer Welt rühmen können / gleichfalls zu erhalten / sondern vielmehr mein / obgleich freymüthiges / Unternehmen / bloß von einem innerlichen Trieb / einen Versuch in dergleichen Schrifften zu wagen / herrühre / angesehen unser Geschlechte sich schon lange Zeit daher begierig bestrebet / die Moden und Arten von der Frantzösischen Nation zuerborgen / und ihre uns in die Augen fallenden Eigenschaften und Artigkeiten zu erlernen; So verschwindet so gleich bey mir alle Furcht und Einwurff, den ich mir dabey anfangs zu machen schiene.126
Ziegler sieht sich in ihrer Rolle als Verfasserin moralistischer Texte in Deutschland als Pionierin. Vorbildhaft sind für sie vor allem die Briefe der Marquise de Lambert (Avis d’une mère à son fils, 1726, und Avis d’une mère à sa fille, 1728). Inhaltlich und formal ordnet Ziegler ihre Brief-Essays in die Tradition der Moralistik 125
50 Briefe richten sich an adelige, 42 Briefe an bürgerliche Personen. Vgl. Susanne Schneider: Lebensgeschichte und literarisches Werk als Wechselbeziehung. Zur Frage der Geschlechter in den Texten der Dichterin Christiane Mariane von Ziegler (1695–1760). Magistraarbeit im Fach Neuere und Mittlere Geschichte. Kassel 1997, S. 30. URL: http://kobra.bibliothek.uni-kassel.de/bitstream/urn:nbn:de:hebis:34-623/1/ abs0002_05.pdf [10.01.2013]. 126 Christiana Mariana von Ziegler: Moralische und vermischte Send-Schreiben, An einige Ihrer vertrauten und guten Freunde gestellet. Leipzig: Brauns 1731, Zuschrift (o. S.).
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nach dem Vorbild der Charaktertypologie ein, wie sie auch in den Moralischen Wochenschriften zu finden ist: Da ich auch in vieler gelehrter Männer Schriften wahrgenommen, worinnen sie die vermischten Sitten der Menschen überhaupt, und sonder ihr Auge auf eine gewisse Person zu lencken, nach den Grund-Sätzen der Moral betrachten, daß sie sich einiger erdichteten Namen darbey bedienen, u. selbige gleichsam Exempels-weise anführen, so habe ich diese Freyheit gleichfals gebraucht, um nicht immer bey weitläufftiger Abhandlung einer Tugend oder Lasters, auf einerley Schreib- oder Redens-Arten zu verbleiben, sondern dem Lesenden dadurch eine Abwechselung zu machen.127
Schneider weist darauf hin, dass sich Ziegler mit der Form der Sendschreiben an einer vor allem von Luther verwendeten Form der moralischen und religiösen Ermahnung orientiere, wobei dieser aus dem christlichen Kontext stammende Begriff von ihr verwendet werde, um eine rein säkulare Schreibweise zu bezeichnen.128 Die Gesprächssituation der einzelnen Texte ist so angelegt, dass das essaystische Ich dem jeweiligen Adressaten einen Rat erteilt oder einer Bitte nachkommt, die in einem vorangegangenen, nicht abgedruckten Schreiben geäußert wurde. Die Essays stellen somit jeweils eine Übung oder Einübung dar, da in ihnen eine Aufgabenstellung (Ermahnung oder Belehrung) unter Wahrung der Konventionen des gesellschaftlichen Umgangs gelöst werden muss. Das Ich der Send-Schreiben repräsentiert somit eine standesübergreifende sittliche Autorität, deren Rolle es ist, im Namen anderer (der Korrespondenzpartnerinnen und -partner) solche Ermahnungen oder Belehrungen zu erteilen. Dieses essayistische Ich hat somit als Verkörperung einer idealen bürgerlichen Subjektivität den gleichen repräsentativen Status wie das Ich der Moralischen Wochenschriften. Indem es sich an die Stelle anderer versetzt und diese belehrt, übt es zugleich das bürgerliche ethos für sein eigenes Leben ein und bereitet sich darauf vor, in ähnlichen Situationen angemessen zu handeln.129 Seine Autorität bezieht es vor allem aus der Ungewissheit des Lesers, der nicht weiß, in welchem Maße das essayistische Ich in seiner sozialen Rolle fingiert ist. Die Send-Schreiben sind textstrategisch (vor allem durch das erläuternde Vorwort) darauf angelegt, die Briefsituation als faktual erscheinen zu lassen. Die thematische und stilistische Homogenität der Texte lässt jedoch eher auf eine fiktive 127 128 129
Ziegler: Sendschreiben, Vorbericht (o. S.). Vgl. Schneider: Frage der Geschlechter, S. 27. Für den Brief als Medium der stoischen Selbsttechnik hebt Foucault gerade diese Funktion der Belehrung als praemeditatio hervor: „Der Brief, den man schickt, um dem Empfänger zu helfen – ihm einen Rat zu geben, ihn zu ermahnen, ihn zurechtzuweisen, ihn zu trösten – ist für den Schreiber selbst eine Form des Übens: Wie Soldaten in Friedenszeiten sich im Gebrauch der Waffen üben, ist der Rat, den man anderen in bedrängter Lage erteilt, gleichsam eine Übung für den Fall, dass man selbst in eine ähnliche Lage gerät.“ (Michel Foucault: Über sich selbst schreiben. In: Michel Foucault. Schriften zur Literatur. Hg. v. Daniel Defert u. François Ewald unter Mitarbeit v. Jacques Lagrange. Übers. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek u. Hermann Kocyba. Auswahl u. Nachwort v. Martin Stingelin. Frankfurt a.M. 2003, S. 350– 367, hier S. 360).
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
Briefsituation schließen. Es handelt sich daher um die gleiche Textstrategie, welche die Moralischen Wochenschriften verwenden, wenn sie ihre Leserinnen und Leser über den Status der abgedruckten Leserbriefe, die tatsächliche Anzahl oder das Geschlecht ihrer Mitarbeiter im Unklaren lassen. Nur ein geschulter Leser wird die Faktualität der dargestellten Briefsituation in Frage stellen. Wenn somit Renate Hof die These formuliert, die persona oder Maske eines Essays sei für den Leser immer sofort als Konstruktion erkennbar,130 so gilt dies nur bedingt für die Wochenschriften oder die Send-Schreiben. Im Gegenteil gründet sich die Autorität des essayistischen Ichs im moralistischen Essay – und vor allem in Zieglers SendSchreiben – gerade auf dem Anschein der Wahrhaftigkeit der skizzierten Kommunikationssituation. Ausgehend von einer resümierenden Darstellung des jeweiligen alltagspraktischen Problems zu Beginn eines Briefes beschäftigen sich Zieglers Essays kritisch und häufig auch satirisch mit den allgemeinen Sitten, um dann wiederum auf moralische Fragestellungen einzugehen. So erfüllt beispielsweise der Brief an einen „Hochwohlgebohrnen Herrn“ die durch dessen Ehefrau an das essayistische Ich herangetragene Bitte, ihren Ehemann vom übermäßigen Bücherkauf abzuhalten. Dabei gibt das essayistische Ich vor, sich im Besitz einer – ihm durch die Ehefrau verliehenen – „Vollmacht und Gewalt“ zu befinden,131 aufgrund derer es die moralische Ermahnung des Ehemanns leisten könne. Der Ehemann ist offenbar ein Landadeliger, dem als „Cavallier“ das BücherStudium zum Zeitvertreib gestattet ist. Ausgehend von diesem gesellschaftlichen Rollenbild wird nun ex negativo durch die Darstellung unmäßiger Verhaltensweisen das Ideal des „gelehrten Cavalliers“ entworfen. Richtungsweisend ist hierbei der erste aller genuin bürgerlichen Werte, die Tugend der Mäßigung: „Alles will seine Maasse haben, und man muß der Sache nicht zu viel thun.“132 Die PrivatGelehrsamkeit des Landadligen muss mit dessen gesellschaftlicher Rolle vereinbar seien, sonst wird er der Pedantismus-Kritik unterworfen. Entscheidend ist hierbei die Beachtung ökonomischer Aspekte, denn „[e]in allzu grosser Vorrath von Büchern ist würcklich ein todtes Capital.“133 Übermäßiges Lesen verletze die ehelichen und gesellschaftlichen Pflichten, denn der Studierende verliere die Fähigkeit zur Konversation. Auch die „erotische Bibliomanie“ – ein traditioneller Bestandteil der Gelehrtensatire134 – wird anzitiert, um die Konsequenzen unkontrollierten Lesens zu veranschaulichen. Denn „sobald sie [die übermäßig Lesenden, N.H.] von einem neuen Buche hören, so läst ihnen die unbändige Sehnsucht nicht eher Friede und Ruhe, als biß sie es bey dem Leibe haben, und sollten sie auch wegen 130 131 132 133 134
Vgl. Hof: Engendering Authority, S. 225. Ziegler: Sendschreiben, S. 36. Ebd., S. 37. Ebd. Vgl. Alexander Košenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire der Aufklärung. Göttingen 2003, S. 143f.
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Ermanglung eines hinlänglichen Bücher-Regals die Breter aus dem Ehe-Bette hohlen“.135 Viele Briefe stellen die Notwendigkeit des Kapitalerhaltes ins Zentrum der Argumentation. Bürgerliche dürften nicht über ihren Stand hinaus leben, Landadlige sollten nicht versuchen, die ausschweifenden Praktiken höfischer Repräsentation zu übernehmen. Stattdessen müsse die vernünftige Pflege des Eigentums Vorrang haben. Ziegler beobachtet eine ausgeprägte gesellschaftliche Dynamik, einen gesamtgesellschaftlichen Drang nach Standeserhöhung, der jedoch ihrer Ansicht nach mehr Schatzen als Nutzen verursache: Niemand will vorjetzo mehr mit seinem Stande zufrieden seyn. […] der Edelmann will ein Grafe, der Bürger ein Edelmann, und der Bauer mit Gewalt ein Bürger seyn. […]136 Der bürgerliche Stand beruffet sich, bey seiner übermäßigen Pracht und Erhöhung, auf das uralte und ehemalige Röm. Bürger-Recht, und vermeynet eben dergleichen zu seyn. Mercket einer aus ihrem Mittel, daß die vernünfftige Welt über seine unzuläßliche und belachens-würdige Aufführung ihre Glossen macht, so weiß man sich nicht besser zu vertheidigen, als daß man die schöne Antwort ertheilet: wer hat mir etwas zu befehlen? ich kan es ja bezahlen.137
Als Kompensation für den Verzicht auf Standeserhöhung bietet das essayistische Ich der Send-Schreiben seinen Adressatinnen und Adressaten und damit auch dem Lesepublikum eine bürgerliche Wertegemeinschaft, die auf Verbesserung und Konsolidierung der bestehenden Ordnung ausgerichtet ist. Ziegler problematisiert es in ihren Essays nicht, dass sie eine weibliche sittliche Autorität entwirft. Ihr genügt der Verweis auf das französische Vorbild. Allerdings geht sie mit ihren Send-Schreiben weit über die Erziehungsratschläge und den konservativen Geschlechterdiskurs der Madame de Lambert hinaus. Immer wieder bringt sie die Forderung nach besseren Bildungsmöglichkeiten für Frauen auf und schließt damit an die Reflexionen über weibliche Gelehrsamkeit an, die ihr bereits aus den Vernünftigen Tadlerinnen vertraut sind.138 Ihre Entscheidung, aus dem Schutz der anonymen Verfasserschaft in den Tadlerinnen herauszutreten und moralistische Texte zu publizieren, stellt für weibliche Autorschaft in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen außergewöhnlichen Schritt dar. Regina Nörtemann hat sich mit der fiktiven weiblichen Herausgeber- und Verfasserschaft in Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts auseinandergesetzt.139 Sie stellt die These auf, dass die Liberalisierung der literarischen Öffentlichkeit, die sich in der 135 136 137 138
Ziegler: Sendschreiben, S. 38. Ebd., S. 401. Ebd., S. 402. Vgl. z.B. das 49. Stück im zweiten Band (Johann Christoph Gottsched: Die vernünftigen Tadlerinnen. Neu hg. u. mit einem Nachwort, einer Themenübersicht und einem Inhaltsverzeichnis versehen v. Helga Brandes. 2. Bd. ND der Ausgaben Leipzig: Brauns 1727 u. Leipzig/Hamburg: Koenig 1738/48. Hildesheim/Zürich/New York 1993, S. 385–392). 139 Vgl. Regina Nörtemann: Schwache Werkzeuge als öffentliche Richterinnen. Zur fiktiven weiblichen Herausgeber- und Verfasserschaft in Moralischen Wochenschriften des 18. Jahrhunderts. In: Archiv für Kulturgeschichte 72 (1990), S. 381–403.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
direkten Ansprache eines zu gewinnenden und zu aktivierenden weiblichen Lesepublikums auszudrücken scheine, für das tatsächliche weibliche Rollenverständnis sehr problematisch sei. Die männlichen Herausgeber führten gezielt eine Unklarheit darüber herbei, ob die angeblichen weiblichen Mitverfasser der Wochenschriftenessays tatsächlich existierten oder ob sich hinter den Pseudonymen nicht doch der männliche Herausgeber verberge. Dieses Vorgehen biete den Herausgebern die Möglichkeit, die bürgerliche Vorstellung von einer Verpflichtung der Frauen auf eine intellektuelle Einschränkung innerhalb der bürgerlichen Kleinfamilie allererst zu konstituieren und mithilfe einer vorgetäuschten weiblichen Verfasserschaft zu verbreiten.140 Den Frauen werde allmählich die bürgerliche Intimfamilie als „Gegenöffentlichkeit“ zugewiesen, die ihre literarische Öffentlichkeit in den Moralischen Wochenschriften finde. Daher sei weibliches Schreiben thematisch auf die Tugendhaftigkeit beschränkt. Nörtemann fasst dieses Vorgehen folgendermaßen zusammen: „[D]ie bürgerlichen gelehrten Männer machen sich selbst zu Richterinnen, um die Frauen am Prozeß zu hindern, besser: sie führen den potentiellen Richterinnen vor, wie sie sich selbst zu(zu)richten haben.“141 Auch wenn diese Einschätzung einseitig erscheint und die Intention der Verfasser Moralischer Wochenschriften, tatsächlich eine stärkere Beteilung von Frauen an der intellektuellen Kommunikation im geselligen Kontext herbeizuführen, durchaus ernst genommen werden kann, verweist sie doch auf eine zentrale, ungelöste Frage: Wie weit sollte diese Beteiligung gehen, und in welchem Modus konnte sie stattfinden? Mit der Veröffentlichung ihrer Send-Schreiben macht Ziegler einen Schritt aus dieser verfänglichen Situation heraus und tritt eindeutig als Verfasserin essayistischer Texte auf. Sie verwirklicht damit zunächst die Programmatik der von den Moralischen Wochenschriften geforderten weiblichen Autorschaft und bleibt ganz in den von diesen Organen gesteckten Grenzen. Dabei schränkt sie sich jedoch selbst nicht thematisch auf tugendhaftes Verhalten ein, sondern äußert sich auch zu anderen gesellschaftlichen Themen (zum Beispiel zu der Frage, an welcher Universität der Sohn eines Korrespondenzpartners sein Studium aufnehmen solle; – selbstverständlich an der Leipziger Universität). Zieglers Vermischete Schriften von 1739 sind durch einen wesentlich konfrontativeren Tonfall gekennzeichnet. Die Zuspitzung in der thematischen Ausrichtung verdeutlicht beispielsweise die Abhandlung, ob es dem Frauenzimmer erlaubet sey, sich nach Wissenschaften zu bestreben? Dieser Essay wird von Ziegler zuerst als Rede in der Deutschen Gesellschaft vorgetragen. Der fünfseitige Text unterteilt sich in drei Abschnitte und Argumentationsschritte: Im ersten Teil beklagt Ziegler, dass sich nur wenige Frauen mit philosophischen Fragestellungen beschäftigten und verbindet diese Situationsbeschreibung mit dem Wunsch, hier eine Veränderung herbeiführen zu können. Sie weist darauf hin, dass sie aufgrund ihrer schrift140 141
Vgl. Nörtemann: Schwache Werkzeuge, S. 403. Ebd.
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stellerischen Tätigkeit von zahlreichen Frauen angegriffen worden sei und wendet sich diesen Kritikerinnen direkt zu: „Ihr könnet mich nicht beleidigen; es fehlet euch an der wahren Einsicht in den Werth vernünftiger und tugendhafter Handlungen, und also überwieget eure Schwäche die mir angedichteten Fehler.“142 Der zweite Abschnitt erörtert die Befähigung von Frauen zu wissenschaftlicher Betätigung vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Situation. Ziegler betrachtet die generelle geistige Befähigung als erwiesen und sieht eine solche Betätigung auch nicht im Konflikt mit den Pflichten der Haushaltsführung und Kindererziehung. Jedoch sehe sich eine schreibende Frau augenblicklich auch von Seiten der akademischen Gelehrten Angriffen ausgesetzt, die Ziegler mit den Schmähungen der unvernünftigen Frauen gleichsetzt, da die männlichen Kritiker keine vernünftige Begründung ihrer Aversionen gegen weibliche Gelehrte vorbringen könnten. Dass Ziegler die Gründe dieses Verhaltens jedoch erkannt zu haben meint, wird deutlich, wenn sie ihre Gedanken über die besondere Eignung der Frauen zur Philosophie ausführt: Das Frauenzimmer trachtet ja nicht mit ihrer Feder Ämter und Ehrenstellen zu erhalten: Sie schreiben aus keiner Gewinnsucht: Sie sind nicht von abgeschmacktem Ehrgeize verblendet, gelehrten und berühmten Männern den Vorzug streitig zu machen: Die Unschuld leget den Grund zu ihren Bemühungen; und die edle Absicht, weiser und gesetzter zu werden, ist ihr Endzweck.143
Mit dieser Aussage weist Ziegler zunächst darauf hin, dass gelehrte Schriftstellerinnen nicht als Konkurrenz zu akademischen Gelehrten aufträten und deren übertriebene Abwehrreaktion daher unnötig sei. Zugleich bezeichnet sie diese Art des nicht-professionellen Philosophierens, die sich aus der gesellschaftlichen Situation der Frauen ergebe, als den „Weg der wahren Weisheit“.144 Wie üblich ist die Bescheidenheitsbekundung also zugleich mit einem Geltungsanspruch verbunden. Die schreibende Frau erscheint als Dilettantin im Sinne einer „Liebhaberin“ der Wahrheit, für die Philosophieren keinem anderen Zweck als der Selbsterkenntnis und Selbstbildung diene. Gemäß dieser Argumentation entspricht ihre Haltung viel stärker dem stoisch geprägten – und damit auf dem Vorrang der Selbsterkenntnis vor dem Gütererwerb basierenden – politischen Philosophieverständnis der frühen Aufklärung als die Haltung des professionellen akademischen Gelehrten, der stets im Verdacht des Pedantismus steht. Ziegler nutzt also das naturrechtlich geprägte Philosophie- und Wahrheitsverständnis, um die Position der schreibenden Frau in der gelehrten Öffentlichkeit zu stärken. Im abschließenden Absatz wendet sie sich noch einmal direkt an ihre ur142
Christiana Mariana von Ziegler: Abhandlung, ob es dem Frauenzimmer erlaubet sey, sich nach Wissenschaften zu bestreben? in der Deutschen Gesellschaft abgelesen. In: Dies.: Vermischete Schriften in gebundener und ungebundener Rede. Göttingen: Univ.-Buchh. 1739, S. 394–399, hier S. 395. 143 Ebd., S. 397. 144 Vgl. ebd., S. 397.
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
sprünglichen Adressaten, die männlichen Mitglieder der Deutschen Gesellschaft. Sie stilisiert sich selbst und diese zum Beispiel des Gelingens einer toleranten gelehrten Kommunikation: „Sie haben keinen blinden Wahn von unsern Kräften des Verstandes gefasset; sie pflichten nicht den unüberlegten Einfällen bey, als wären wir nur halbe Menschen, und besässen nicht die geringste Fähigkeit einst in den Zusammenkünften der Gelehrten mit zu sprechen.“145 In den folgenden Sätzen inszeniert Ziegler das zuvor programmatisch entworfene gelehrte weibliche Kommunikationsverhalten in Opposition zum professionellen akademischen Kommunikationsverhalten, indem sie die Anwesenden zur Kritik ihres Textes auffordert: „Ihr Urtheil soll mir eine Unterweisung seyn, wonach ich mich künftig richten werde. Zeigen sie mir die Stärke und Schwäche der Gedanken, und beurtheilen den Ausdruck. Ich werde niemals aufhören, mich von vernünftigen Leuten belehren zu lassen.“146 Während es sich bei diesem Essay über die wissenschaftliche Betätigung der Frau zugleich um eine Selbstverteidigungsschrift und eine Programmatik handelt, versucht der Essay Erörterung der Frage ob die Väter mehr Ehrfurcht von ihren Kindern, als die Lehrmeister von ihren Schülern verdienen (Obertitel: Von der Ehrfurcht gegen Väter und Lehrer) ein Bildungsideal des ganzen Menschen zu entwerfen. Ausgehend von der Titelfrage, ob Kinder ihren Vätern oder ihren Lehrern gegenüber zu größerer Verbundenheit verpflichtet seien, plädiert Ziegler für den Vorzug der Blutsverwandtschaft gegenüber einer freiwilligen intellektuellen Bindung. Es geht ihr jedoch nicht um die eindeutige Beantwortung einer Entscheidungsfrage, sondern Ziegler verschafft sich durch diese Fragestellung die Möglichkeit, das Eltern-Kind- und das Lehrer-Schüler-Verhältnis miteinander zu vergleichen und ihre jeweilige gesellschaftliche Bedeutung darzulegen. Der Essay ist nach dem klassischen Schema einer dialektischen Erörterung mit Exposition, Hauptteil in zwei Argumentationsblöcken (Antithese und These) und einem Schluss aufgebaut. Er entspricht somit auch dem Konzept des Essays als einer „kleinen Abhandlung“. Auf der Basis des Naturrechts ordnet Ziegler zunächst die Hochachtung gegenüber Vätern und Lehrern in ein System der menschlichen Pflichten gegenüber den unterschiedlichen Instanzen der Gesellschaft („die Obern“, das „Vaterland“) ein.147 Ziegler stellt die Unmöglichkeit, dem Vater-SohnVerhältnis oder dem Lehrer-Schüler-Verhältnis größere Bedeutung beizumessen, als inneren Konflikt vor: Bald leuchtet mir das zwischen Vater und Sohn so feste geknüpfete Band, und die daraus erwachende billige Ehrerbiethung gegen jenen, dermaassen in die Augen, daß ich mich fast genöthiget sehe, es für stärker zu halten; bald rufet mich die ganz ausnehmende Hochachtung, so 145 146 147
Ziegler: Frauenzimmer, S. 398. Ebd., S. 399. Christiana Mariana von Ziegler: Erörterung der Frage ob die Väter mehr Ehrfurcht von ihren Kindern, als die Lehrmeister von ihren Schülern verdienen (Von der Erfurcht gegen Väter und Lehrer). In: Dies.:Vermischete Schriften, S. 399–407, hier S. 399.
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ein Lehrer mit Recht von seinem Schüler zu fordern hat, wiederum zurücke. Doch kann ich nicht läugnen, daß bey solchem Streite die genaue Betrachtung der letzern einen nicht geringen Eindruck in meinem Gemüthe machet, und daß es mir sehr schwer fallen wird, ihr ein grösseres Gewichte zu versagen.148
Der letzte Satz macht bereits deutlich, dass die höhere Verpflichtung gegenüber der Blutsverwandtschaft als eine durch das Naturrecht gegebene Tatsache angesehen wird und dass Ziegler mit ihrer Erörterung vielmehr darauf absieht, das Lehrer-Schüler-Verhältnis gegenüber dieser aufzuwerten. Besonderes Kennzeichen der Lehrer-Schüler-Bindung sei die Zwanglosigkeit: Der Lehrer verpflichte sich freiwillig zur Ausbildung seines Schülers, weshalb sein Einsatz für diesen höher zu achten sei. Bereits in dieser Darstellung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, die von jeglichen ökonomischen Notwendigkeiten absieht, wird eine idealisierende Absicht deutlich. Der Lehrer bilde „das innerliche Wesen und die wahre Schönheit“ des Schülers aus.149 Er sei mit einem Künstler und Schöpfergott zu vergleichen, der aus seinem Schüler „[...] als aus einem untereinander verworfenen Chaos diese kleine und vernünftige Welt gebauet und erschaffen [...]“.150 Ziegler kritisiert das schlechte Ansehen des Gelehrten und Lehrenden in der Gesellschaft und stellt dessen Leistungen für das Gemeinwohl heraus: Sind die Lehrer nicht in der That die aller nächsten nach den Regenten des gemeinen Wesens? Sie erziehen ja der Stadt kluge und gute Bürger, und ihre Anführung schaffet dem Vaterlande brauchbare Männer. Niemand kann sich um die Republik verdienter machen, als die Lehrenden. Durch ihre Bemühungen richten sie Pfeiler und Stützen zu, worauf sich das Heil der Länder gründet.151
Die Antike mit ihrer Verehrung des Lehrer-Philosophen erscheint als ein wieder zu errichtendes gesellschaftliches Ideal. Dem gegenüber wird die Verehrung der Eltern als „die erste Stuffe der Gottesfurcht“ vorgestellt.152 Der Vater schenke seinem Sohn nicht nur das Leben, sondern ebenfalls seinen gesellschaftlichen Stand: Von unseren Vätern erlangen wir das Leben, durch sie bekommen wir die Freyheit und das Bürgerrecht. Ihre Hand reichet die Nahrung und bedürftige Verpflegung. Ihre beständige Aufsicht und Wachsamkeit erziehet uns von Kindheit auf. Sie machen sich bey ihrer zärtlichen Vorsorge ihr Leben sauer, und die Nächte schlaflos. In jüngern Jahren begleiten sie uns mit Rath und That, und in dem männlichen Alter verdoppeln sie ihren Beystand.153
Diese existentielleren Verdienste des Vaters sicherten ihm eine größere Hochachtung zu als dem Lehrer. Bis zu dieser Stelle ist deutlich geworden, dass Ziegler in ihrem Essay Von der Ehrfurcht gegen Väter und Lehrer ebenfalls ein repräsentati148 149 150 151 152 153
Ziegler: Von der Ehrfurcht, S. 400. Ebd., S. 402. Ebd., S. 403. Ebd. Ebd., S. 405. Ebd., S. 406.
142
II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
ves Ich verwendet. Es ist auffällig, dass sie von dem geschlechtsneutralen ElternKind-Verhältnis zur eigentlich thematisierten Vater-Sohn-Beziehung sehr unvermittelt übergeht und außerdem bei der Beschreibung des Vater-Sohn-Verhältnisses das gemeinschaftliche Wir verwendet, obgleich sie als Frau der Geschlechtsvormundschaft untersteht und daher von ihrem Vater weder „Freyheit“ (im Sinne einer vollwertigen Geschäfts- und Rechtsfähigkeit) erhalten noch das aktive „Bürgerrecht“ erben kann.154 Dies verwundert umso mehr, als sich ihre Vermischeten Schriften sowohl an ein männliches als auch an ein weibliches Publikum richten. Selbstverständlich können Ausdrücke wie „Bürgerrecht“ und „männliches Alter“ auch geschlechtsneutral verwendet werden,155 doch ist es ungewöhnlich, dass Ziegler hier keine spezifisch weibliche Perspektivierung der Thematik vornimmt. Während der Essay über die Beteiligung von Frauen an der gelehrten Kommunikation als freimütige Selbstaussprache konzipiert und sein Ich an die Biographie der Verfasserin gebunden ist, verfährt der Essay über die Liebe von Kindern zu ihren Eltern in jedem Punkt generalisierend. Die Diskrepanz zwischen dem gesellschaftlichen Ort des repräsentativen essayistischen Ichs und dem der Verfasserin wird durch die Verwendung des Pronomens Wir deutlich. Die unhinterfragte Repräsentativität des essayistischen Ichs im moralistischen Interdiskurs der frühen Aufklärung wird hier zum Irritationsmoment. Was in den Send-Schreiben mit ihrer thematischen Ausrichtung an Fragen der gesellschaftlichen Interaktion noch relativ bruchlos möglich ist – die Einsetzung eines weiblichen Ichs als ein repräsentatives – erreicht in den Vermischeten Schriften und ihrem Bezug auf allgemeine Fragestellungen (hier: Fragen der Bürgerrechte) eine eindeutig wahrnehmbare Grenze. Eine Erklärung für Zieglers unkommentiertes Verwenden des repräsentativen Ichs kann darin bestehen, dass sie ihre Position als Gelehrte stärken will, indem sie die zeittypische Angewohnheit übernimmt, grundsätzliche gesellschaftliche Fragestellungen hinsichtlich Erziehung, Ausbildung oder sozialem Stand ausschließlich aus männlicher Perspektive zu schildern und es sich daher um eine bewusste oder unbewusste Adaption männlichen Schreibens handelt. Ebenfalls besteht jedoch die Möglichkeit, dass Ziegler hier die Funktion der Essayistik als Selbsttechnik beim Worte nimmt und nicht nur sich selbst, sondern auch der literarischen Öffentlichkeit ein Subjektivitätsideal vor Augen stellt, dessen Ich und Wir nicht länger geschlechtsspezifisch gebunden ist.
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Vgl. zum Verhältnis von Bürgerrechten und Geschlechtsvormundschaft im Leipzig des 18. Jahrhunderts: Susanne Schötz: Handelsfrauen im neuzeitlichen Leipzig: Gewerberecht und Lebenssituationen (16. bis 19. Jahrhundert). In: Ute Gerhard (Hg.): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997, S. 151–174, hier S. 153. 155 Vgl. den Artikel „Männliches Alter“ in Zedlers Universallexikon: „Männliches Alter ist dasjenige Alter, da man in das 30ste Jahr getreten ist oder solches überschritten hat.“ (Zedler: Universallexikon 19/1739, Sp. 173.)
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Zieglers Verwendung eines repräsentativen essayistischen Ichs macht dessen Geschlechtsgebundenheit mit einem Mal deutlich. Diese steht in Kontrast zur proklamierten Universalität des Naturrechts, auf das sich die Subjektform dieses essayistischen Ichs gründet. Ziegler publiziert ihre Reflexionen zu einem Zeitpunkt, an dem sich das männlich bestimmte Konzept der Staatsbürgerschaft erst langsam und auf der Basis naturrechtlicher Vorstellungen herauszubilden beginnt. Ihr naturrechtlich bestimmter Essay verdeutlicht die Ambivalenz dieses Vorgangs.156 Ziegler nimmt auf diese Weise bereits punktuell eine Entwicklung in der Geschichte essayistischen Schreibens vorweg, die Klaus erst für das 20. Jahrhundert ansetzt: die Ausbildung auch eines kritischen kulturellen Bewusstseins gegenüber der identifikatorischen Funktion eines durch Herrschaftsstrukturen bestimmten essayistischen Ichs: „For much of its history, the personal essay has been a domain of white male authors, so inattentive to the drastically different circumstances of women and minorities […].“157 Das essayistische Ich, unabhängig davon, ob es als ideale Subjektform innerhalb einer therapeutischen Selbsttechnik oder als Vertreter einer individualisierenden Ästhetik des Selbst erscheint, ist letztlich zunächst ein männliches. Daher muss man für den Essay der Aufklärung von einer grundsätzlichen Repräsentativität des essayistischen Ichs als Spiegel der Herrschaftsstrukturen ausgehen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es Ziegler gelingt, traditionelle Themen der Moralistik mit der Frage nach dem weiblichen Handlungsspielraum innerhalb der gelehrten literarischen Kommunikation in Verbindung zu bringen und auf diese Weise allgemein akzeptierte moralphilosophische Grundsätze zur Stärkung der weiblichen Position zu instrumentalisieren. Während sie sich hauptsächlich auf das Vorbild französischer Autorinnen beruft, ähnelt der Anspruch ihrer Texte jedoch wesentlich stärker progressiven Forderungen zur Frauenbildung, die beispielsweise in den Niederlanden Anna Maria van Schurman (Dissertatio de 156
Zur naturrechtlichen Begründung des Ausschlusses von Frauen aus dem Konzept der „Staatsbürgerschaft“ vgl. Erna Appelt: Geschlecht. Staatsbürgerschaft. Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt a.M. 1999, S. 57–72. 157 Klaus: The Made-Up Self, S. 89. Der Frage nach den Eigenschaften der Essayistik von Frauen – jedoch ausschließlich im späten 19. und 20 Jahrhundert und im spanischen, italienischen und angelsächsischen Bereich – geht der Band Razón de Mujer nach, der auf den Ergebnissen einer Tagung zum Thema „Mujer y Ensayo“ an der Universität von Huelva im Jahr 2000 basiert. Die Herausgeberinnen verweisen ebenfalls auf die Geschlechtsgebundenheit des essayistischen Ichs im klassischen Essay nach Montaigne und Bacon, die noch über die Frage nach der verwendeten Selbsttechnik hinausgeht: „[E]l ensayo, sin embargo, ha estado tradicionalmente vedado a la escritura feminina, pues, desde su conformación como género literario en autores como Montaigne o Bacon, se ha visto definido por una serie de atributos que entraban en contradicción con la imagen de la mujer, como la concepción del autor como sujeto independiente y dotado de una perspectiva y una opinión propia y legítima sobre la realidad, la capacidad del mismo para discurrir y racionalizar o finalmente (y como consecuencia de lo anterior), la posibilidad de persuadir y convencer a través del texto y de incidir por ello en la esfera de lo público.“ (María del Mar Gallego Durán/Eloy Navarro Domínguez: Razón de Mujer. Género y discurso en el ensayo femenino. Sevilla 2003, S. 9.)
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II. Das repräsentative Ich in der moralistischen Essayistik
ingenii muliebris ad doctrinam et meliores litteras aptitudine, 1641) oder in England die Essayistin Mary Astell (A Serious Proposal to the Ladies for the Advancement of their True and Greatest Interest, 2 Teile, 1694/97) erhoben haben.158 Zieglers Essayistik stellt für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts insofern eine Ausnahme dar, als sie überhaupt nur durch eine Reihe besonderer Umstände möglich wird: den Aufstieg der Autorin in den niederen Adel, ihre Witwenschaft, die Leitung eines Salons in Leipzig und schließlich die Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft. Die Tatsache, dass der moralistische Interdiskurs für jeden Teilnehmer offen steht, gibt ihr den Handlungsspielraum zu öffentlichem Räsonieren. Aufgrund zahlreicher Angriffe mündet Zieglers Schreiben jedoch in die Apologie. Im Gegensatz zur apologetischen Situation in den Discoursen der Mahlern kann sie sich nicht auf die Montaigne’sche Position einer Ästhetik des Selbst zurückziehen, sondern gelangt zu einer verstärkten Betonung der Pflichtenethik, zu einer intensivierten Einübung stoischer Vorstellungen wie der Ataraxie.159 Die moralistische Essayistik ermöglicht es Ziegler, die Rolle der schreibenden Frau theoretisch zu stärken. Praktisch führt ihre Adaption der therapeutischen Selbsttechnik jedoch nur in den Send-Schreiben zur Konstitution eines gesellschaftlich akzeptierten, selbstidentischen Subjekts, während dieser Vorgang in den Vermischeten Schriften brüchig wird. Zieglers Essays erscheinen im Rückblick somit als ein Experiment, das singulär in der deutschsprachigen Essayistik des frühen 18. Jahrhunderts steht.
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Besonders im zweiten Teil des Serious Proposal (Kapitel 3 und 4) entwirft Mary Astell eine stark religiös gebundene, therapeutische Selbsttechnik, die sich speziell an Frauen richtet. Sie orientiert sich bei der Präsentation ihrer Methode der Selbstverbesserung an Descartesʼ Discours de la Méthode, behält jedoch eine moralistische Ausrichtung des Erkenntnisinteresses bei. Die Anleitungen zur Meditation weisen starke Übereinstimmungen mit den Anweisungen zum richtigen Denken und Lesen auf, die später in den Discoursen der Mahlern gegeben werden. Die Selbsttechnik umfasst Anweisungen zur Meditation, zur Ernährung und zur stilistischen Gestaltung eigener reflexiver Texte. Astell beschreibt die therapeutische Selbsttechnik im Modus der paränetischen Selbstbelehrung: „And since Truth is so near at hand, since we are not oblig’d to tumble over many Authors, to hunt after a very celebrated Genius, but may have it for enquiring after in our own Breasts, are we not inexcusable if we don’t obtain it? And are we not unworthy of Compassion if we suffer our Understandings to be over-run with Error? Indeed it seems to me most Reasonable and most agreeable to the Wisdom and Equity of the Divine Operations, that every one shou’d have a Teacher in their own Bosoms, who will if they seriously apply themselves to him, immediately Enlighten them so far as that is necesary, and direct them to such Means as are sufficient for their Instruction both in Humane and Divine Truths; for as to the latter, Reason if it be Right and Solid, will not pretend to be our sole Instructor, but will send us to Divine Revelation when it may be had.“ (Mary Astell: A Serious Proposal to the Ladies. Parts I & II. Hg. v. Patricia Springborg. London 1997, S. 118.) 159 Vgl. zu dieser verstärkten Einübung stoischer Vorstellungen auch Christiana Mariana von Ziegler: XXXI. Ode. In: Dies.: Vermischete Schriften, S. 118f.
5. Deutschsprachige Essayistik als moralistischer Interdiskurs bis 1750
Abb. 2:
Christiana Mariana von Ziegler: Moralische und vermischte Send-Schreiben (1731).
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III. Aufklärungsessayistik unter dem Paradigma der „ästhetischen Wahrheit“: das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik Während sich die deutschsprachige Essayistik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als moralistischer Interdiskurs mit einem repräsentativen essayistischen Ich etabliert, löst sich der notwendige Zusammenhang von Essay und Moralistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach und nach auf. An seine Stelle tritt ein anthropologisch und kunstkritisch bestimmter Interdiskurs, der auf neue naturgeschichtliche und psychologische Erkenntnisse zurückgreift und ein solches Wissen auch selbst produziert. Im Zuge dieser Ausdifferenzierung essayistischen Schreibens erscheinen neue Subjektformen: Seit ca. 1750 entwickelt sich in der entstehenden anthropologischen Essayistik ein experimentelles essayistisches Ich, welches die Grundlage einer Selbstästhetik nach dem Vorbild Montaignes bildet. Anthropologisch wird die Essayistik insofern, als sie eine empirische, ergebnisoffene und ganzheitlich angelegte Beschäftigung mit dem Menschen entwickelt, für die Montaignes Essais das grundlegende Muster bilden. Die auf der Klugheitslehre und therapeutischen Selbsthermeneutik basierende Essayistik des frühen 18. Jahrhunderts ist hingegen in ihrer Deutung des Menschen oder des eigenen Selbst auf ein bestimmtes Interesse (die Heilung und Rückführung des Einzelnen auf seine vernünftige Natur) hin ausgerichtet. Ihre Textstrategien bei der Gewinnung von Erkenntnis sind niemals ergebnisoffen, sondern hochgradig selektiv.1 Beschreiben lässt sich diese Umwandlung der Essayistik von einer therapeutischen Selbsttechnik zu einer Selbstästhetik mit den Begriffsbildungen von Reckwitz als „kulturelle Inversion“ oder „Kippbewegung“:2 Im Prozess der sich herausbildenden bürgerlichen Subjektivität werden die bislang primären Eigenschaften (Rationalisierung und Selbstbeherrschung, funktionale Unterordnung des Ästhetischen unter die Moral) sekundär, das heißt diese Werte bleiben in der Essayistik erhalten, doch die bislang sekundären Elemente innerhalb der bürgerlichen Subjektform (Empfindsamkeit und bewusste Gestaltung des „inneren Erlebens“, die Betonung des Eigenwertes der ästhetischen Erfahrung) gewinnen primäre Bedeutung. Das Auftreten einer weiteren Subjektform in der Essayistik der Aufklärung zeichnet ein deutlich heterogeneres Bild hinsichtlich der Existenz idealer Subjektentwürfe in dieser Zeit, als es bei Reckwitz erscheint. Die experimentelle Subjektform entsteht in Auseinandersetzung mit den zentralen Diskursen der Hochaufklä-
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Selbstverständlich kann man auch über die Wende von einer typisierenden oder universalistischen zu einer individualistischen Anthropologie sprechen. Vgl. dazu Hans Robert Jauß: Vom plurale tantum der Charaktere zum singulare tantum des Individuums. In: Manfred Frank u. Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität. München 1988, S. 237–269, hier S. 247f. Vgl. Reckwitz: Hybrides Subjekt, S. 85f. und S. 640.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
rung und prägt ein Verständnis der Selbstbildung, das in der romantischen Subjektform seine ästhetische Radikalisierung erfahren wird.
1. „Schöne Erkenntnis“: Der Paradigmenwechsel in der Kunsttheorie bei Alexander Gottlieb Baumgarten und seine Bedeutung für die Essayistik Alexander Gottlieb Baumgartens 1750/58 erschienene zweibändige Theoretische Ästhetik bewirkt für die Praxis der essayistischen Reflexion einen entscheidenden Paradigmenwechsel, der in den Prozess der Subjektivierung eingebettet ist. Baumgarten erweitert das Wahrheitsverständnis um eine ästhetische Dimension, „die Wahrheit, soweit sie sinnlich erkennbar ist“.3 Er betreibt damit eine theoretische Fixierung und philosophische Legitimierung zeitgenössischer Entwicklungen: der Aufwertung der Sinnlichkeit und des Gefühls in der Literatur seit den 1740er Jahren, vor allem durch die Hallesche und Halberstädter Anakreontik.4 Baumgartens „ästhetische Wahrheit“ ist ein Produkt der „schönen Erkenntnis“, die ein der vernunftgemäßen deutlichen Erkenntnis gleichwertiges Erkenntnisvermögen darstelle und nach analogen Gesetzmäßigkeiten operieren soll. Daher stellt Baumgarten den Grundsatz auf, dass es „keine Vollkommenheit ohne Ordnung“ gebe.5 Er stellt die logische und die ästhetische Wahrheit als die beiden Spielarten der subjektiven Wahrheit, also der Vorstellung einer angenommenen absoluten metaphysischen Wahrheit in der Seele des Menschen, nebeneinander. Gemeinsam bilden sie die „ästhetikologische Wahrheit“. Beide Formen der Erkenntnis, die verstandesmäßige und die schöne Erkenntnis, seien den Regeln der Tugend und Angemessenheit unterworfen. Baumgarten erweitert also den Wahrheitsbegriff, und er relativiert ihn zugleich, indem er die durch den Menschen erkennbare Wahrheit stets als eine durch den geschichtlichen oder kulturellen Kontext bedingte darstellt. Da ästhetische Wahrheit in ihrer wesentlichen Bedeutung Wahrscheinlichkeit sei, ist es nach Baumgarten immer vom Publikum abhängig, was als ästhetisch wahr akzeptiert wird. Die ästhetische Dimension der Wahrheit wird also zugleich als historisch und als intersubjektiv bestimmt. Außerdem wertet Baumgarten die individuelle Erkenntnis des konkreten Einzelnen, die durch den Menschen im Zusammenspiel von Verstand und Gefühl erkannt werde, gegenüber den abstrakten Wahrheiten auf: Die ästhetikologische Wahrheit des Individuellen enthalte das größte Ausmaß an
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Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der „Aesthetica“ (1750/58). Übers. u. hg. von Hans Rudolf Schweizer. Hamburg 21988, S. 53. Vgl. Manfred Beetz u. Hans-Joachim Kertscher (Hg.): Anakreontische Aufklärung. Tübingen 2005. Vgl. Baumgarten: Ästhetik., S. 13.
1. Der Paradigmenwechsel in der Kunsttheorie bei A. G. Baumgarten
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Reichtum, Größe und ästhetischer Würde; sie sei „am wahrsten“.6 Baumgarten erklärt den gesamten Bereich künstlerischen Schaffens zur Philosophie, indem er zwischen den „strengen Freunden der Wahrheit“ und denjenigen unterscheidet, die ihre Erkenntnisse mithilfe der Ästhetik gewönnen. Im 35. Abschnitt der Ästhetik differenziert Baumgarten die unterschiedlichen Formen des „ästhetischen Strebens nach Wahrheit“. Die „kunstgerechte“ Darstellung von Allgemeinbegriffen bezeichnet er als „ästhetikodogmatische Denkart“, die schöne Beschreibung der „wirkliche[n] Dinge dieser Welt“ bezeichnet er als „ästhetikohistorisch“, und die Denkart, „die die Wirklichkeit einer anderen Welt erdenkt“, sei die „poetische“.7 Analysiert man die Beschreibung der ästhetikodogmatischen Schreibart, so wird deutlich, dass Baumgarten hier eine Form populären Philosophierens umreißt, die den Einzelnen durch die Eindringlichkeit der literarischen Darstellung überzeugen und zu einer Einstellungsänderung bewegen will. Baumgarten ist bemüht, die ästhetikodogmatische Schreibart von der strengen wissenschaftlichen Methode (der „ästhetikologischen Denkart“) zu unterscheiden.8 Sie erfordere ein prozessuales Vorgehen, um „sich denkend mit Grundsätzen zu befassen“ („dogmata cogitandi generis“).9 In ihrer praktischen Form gebe sie Handlungsanweisungen durch Empfehlungen oder Abraten.10 Nach Baumgarten handelt es sich bei der ästhetikodogmatischen Schreibart um die ästhetische Präsentation eines Denkprozesses. Dieser ist nach seinen Ausführungen Ergebnis einer Darstellung, die bewusst auf grundlegende Eigenschaften der wissenschaftlichen Methode zur Erzeugung logischer Gewissheit verzichten könne, da sie auf „dogmatische Wahrscheinlichkeit“ abziele und damit auf die Überzeugung des Publikums. Die ästhetikodogmatische Schreibart beschäftige sich mit Gegenständen, die in einen Mittelbereich zwischen analytischer Philosophie und naturwissenschaftlicher Empirie fielen, also in den Bereich einer durch begriffliche Unschärfe und durch anschaulichen Reichtum gekennzeichneten Erfahrungswirklichkeit. Der Ästhetiker darf daher nach Baumgarten auch logisch Falsches in seine Darstellung aufnehmen, solange es als ästhetisch wahr akzeptiert wird und damit die moralische Wirklichkeit der Leser widerspiegelt. Unter § 578 beschreibt Baumgarten die Verfahrensweisen der ästhetikodogmatischen Schreibart mit genau dem Begriffsinventar, das in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zur Charakterisierung des Essays verwendet wird: Denn wenn die Begriffsbestimmungen nicht nach strengen Regeln der Logik selbst ausgerichtet werden, lösen sie sich entweder wiederum kunstgerecht in schöne Darstellung auf, dann nämlich, wenn die allgemeinen Sätze unter Weglassung der intuitiven Urteile, aus denen sie 6 7 8 9 10
Vgl. Baumgarten: Ästhetik, S. 69f. Vgl. ebd., S. 151f. Vgl. ebd., S. 153f. Vgl. ebd., S. 164f. Vgl. ebd., S. 161‒163.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
gebildet sind ‒ wie es der verkürzten Schlußfolgerung entspricht ‒, dennoch als Gegenstände der Erfahrung dargestellt werden und wenn nicht nur Axiome und sekundäre Postulate mit den allerersten Grundsätzen vermischt werden, sondern auch allgemeine Lehrsätze und Probleme in großer Zahl als unbeweisbare Voraussetzungen herangezogen werden. Oder sie werden mit sprunghaften, in der Logik nicht erlaubten Argumenten glaubhaft gemacht, wenn auch in schönen, verhüllenden sprachlichen Formulierungen, von denen man nicht so überzeugt werden kann, daß man von vollständiger Gewißheit erfüllt ist, bisweilen auch mit fein gewählten und rednerisch geschickten, wenn die Kommentare frei schalten und walten und sehr viel Platz in Anspruch nehmen: Was geht aus diesem ganzen Denkprozeß ‒ wenn er auch eine noch so gewisse Erkenntnis zum Thema hat ‒ anderes hervor als die dogmatische Wahrscheinlichkeit?“11
Hinsichtlich Form und Inhalt fällt die Essayistik, wie sie sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als moralistischer Interdiskurs etabliert hat, ganz offensichtlich in Baumgartens Kategorie der ästhetikodogmatischen Schreibart. Jedoch führen Baumgartens Ausführungen für die Essayistik in ihrer Funktion als Selbsttechnik die entscheidende Konsequenz mit sich, dass durch die ungemeine Aufwertung der individuellen Darstellung des Konkreten die bloß wirkungspsychologische Funktion des Einzelfalls zur Veranschaulichung allgemeiner Wahrheiten aufgehoben wird. Auch für die Essayistik muss nun der (individuelle) Einzelfall zum Ausgangs- und Zielpunkt der Reflexion werden, da er die größte Erkenntnis der Wahrheit verspricht. Dieser Paradigmenwechsel von der Wahrheit der gesunden Vernunft zur ästhetischen Wahrheit ist eng mit der Entstehung der literarischen Anthropologie um die Jahrhundertmitte verbunden und bewirkt eine grundlegende Umwertung der Essayistik Montaignes. Montaignes Texte stehen mit ihrer Fülle an Detailbeschreibungen bereits in den frühen Wochenschriften für einen anthropologischen Ansatz, der jedoch hier noch keine Vorbildfunktion erfüllt.12 1753/54 nun erscheint die erste deutsche Übersetzung der Essais Montaignes durch Johann Daniel Tietz (1729– 1796), einen Naturwissenschaftler und späteren Rektor der Universität Wittenberg (1766–68).13 1752 hat er bereits seine Übersetzung der Abhandlung Jean-Jacques Rousseaus über die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste publiziert, die Ralf Konersmann als „Probestück“ für die Montaigne-Übersetzung bezeichnet.14 Durch Rousseau ist Tietz mit der Idee einer degenerierten Gesellschaft bekannt geworden, deren Dekadenz nur durch eine Rückkehr zu den natürlichen An11 12
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Baumgarten: Ästhetik, S. 164f. Vgl. zum Beispiel die bereits zitierte Stelle aus den Discoursen der Mahlern: „Montagne hat von dem Menschen schreiben wollen, und er hat geglaubt, daß er es nicht besser thun könne, als wenn er in sich selbst gienge, und sein eigen Hertz durchblätterte […].“ (Discourse der Mahlern: 2. Teil, XI. Discours, S. 119.) Die Informationen zu Tietzʼ Biographie finden sich bei Ralf Konersmann: Johann Daniel Tietz, erster deutscher Übersetzer Rousseaus. Nachwort zu Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung, Ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste etwas zur Läuterung der Sitten beygetragen hat? In der ersten deutschen Übersetzung v. Johann Daniel Tietz. Mit einem Nachwort hg. v. Ralf Konersmann u. Gesine Märtens. St. Ingbert 1997, S. 45–70. Vgl. ebd., S. 57.
1. Der Paradigmenwechsel in der Kunsttheorie bei A. G. Baumgarten
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lagen des Menschen überwunden werden könne. Daher spielt der Begriff Natur in seiner Bewertung der essayistischen Selbsttechnik Montaignes eine zentrale Rolle.
2. „Seine ganze Natur ist Gedanken.“ Die erste deutschsprachige Übersetzung der Essais Montaignes von Johann Daniel Tietz (1753/54) Tietz erstellt seine dreibändige Auswahl-Übersetzung der Essais anhand der französischen Ausgabe von Pierre Coste (1724/38).1 Ebenfalls daran beteiligt ist ein anonym bleibender „Freund“, der laut Tietz ungefähr die Hälfte der Übersetzung bestreitet.2 Michaels Herrn von Montagne Versuche enthalten neben einer Reihe von Zusatztexten (vor allem Rezeptionszeugnissen) auch zwei Essays, die sich kritisch mit Montaigne auseinandersetzen und sein Werk auf der Basis psychologischer und anthropologischer Fragestellungen untersuchen. Der erste Essay, der die Vorrede zum zweiten Band der Montaigne’schen Versuche bildet, stammt laut Tietz von seinem anonymen Mitarbeiter. Dieser Text zieht gegen zwei Thesen zu Felde, die in der zeitgenössischen Diskussion einen umstrittenen Bereich zwischen Metaphysik und Anthropologie markieren: gegen Montaignes Ansicht, die Tiere verfügten über eine Seele und über Vernunft (und die sich daraus ergebende Gleichstellung von Mensch und Tier) sowie gegen seine pyrrhonistische Ansicht, es könne keine Gewissheit in der Erkenntnis geben. Der anonyme Verfasser spricht den Tieren eine Seele ab und sichert damit die christliche Vorrangstellung des Menschen. Ebenso erklärt er sich gegen den als unglückselig empfundenen Zustand des ewig Zweifelnden: „Man muß einmal für allemal irgendwo im Denken stille stehen. Man muß gleich Anfangs annehmen, daß die menschliche Natur der Erkenntniß der Wahrheit fähig ist, und daß das, was sich nicht von uns denken läßt, auch in der That unmöglich ist.“3 Mit dieser einleitenden Stellungnahme beabsichtigt der Verfasser, „das Anstößige, was vielleicht einige Leser in dem gegenwärtigen Bande finden möchten, zu heben.“4 In Opposition zu dieser religiös motivierten Kritik formuliert Tietz jedoch in seiner Vorrede zum dritten Band der Versuche selbst eine Apologie Montaignes, die sich besonders mit dessen Schreibweise auseinandersetzt. Diese Apologie versteht sich auch als Versuch einer Revision der scharfen Kritik Nicolas Malebranches an Montaigne, die sich in Malebranches Schrift De la recherche de la vérité 1
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Michaels Herrn von Montagne Versuche: nebst des Verfassers Leben. Aus dem Französischen übers. v. Johann Daniel Tietz. 3 Bände. Zürich 1992 [ND der Ausgabe Leipzig: Lank 1753/ 54]. Vgl. Johann Daniel Tietz: Vorrede zur deutschen Übersetzung. In: Montaigne: Versuche (Tietz), Bd. 3, S. V–XX, hier S. XVII. Ebd., Bd. 2 (Vorrede), S. XXIII. Ebd., Bd. 2 (Vorrede), S. XXV.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
(1674/75) findet. Malebranches Aburteilung der Essais kann als Grundform der religiösen Montaigne-Kritik im 17. und frühen 18. Jahrhundert angesehen werden, deren Spuren noch in den bereits behandelten Stücken des Spectator zu finden sind. Malebranche wirft Montaigne Eitelkeit, Gotteslästerung und Pedantismus (verstanden als bloßen „Schein der Gelehrsamkeit“) vor.5 Die psychologische Selbstbetrachtung erscheint, insofern sie mit einer gewissen wissenschaftlichen Neutralität durchgeführt wird und nicht in eine Unterwerfung unter die göttliche Allmacht mündet, als verdammenswerte Hybris: Nur die Teufel und die, denen ein teuflischer Hochmuth anhänget, lassen sich gerne anbeten. Sie wollen angebetet seyn, doch nicht äußerlich und zum Scheine, sondern innerlich und wirklich; weil sie wollen, daß sich andere Leute mit ihnen beschäftigen sollen. Dieses heißt aber, sie wollen so wie Gott, im Geist und in der Wahrheit, angebetet seyn. […] Montagne hat sein Buch nur gemacht, um sich ab zu bilden, und uns ein Gemälde seiner Triebe und seiner Gemüthsart zu geben. Er gestehet es selbst in der Nachricht an den Leser, welche in allen Auflagen aufbehalten ist. Ich bilde, spricht er, mich selbst ab, ich bin selbst die Materie meines Buches. Man spüret auch beym Durchlesen diese Wahrheit nur gar zu sehr.6
Indem Malebranche Montaigne als Pedanten stigmatisiert, wendet er die Waffen der Essayisten, die sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert vor allem gegen weltfremde Schulgelehrsamkeit richten, gegen diese selbst. Die Unsystematik und rhetorische Ausschmückung der Essais werden bei Malebranche zum Inbegriff des Pedantismus: Die Pedanten sind also eitel und aufgeblasen von einer großen Gedächtnißkraft und geringen Überlegung, glücklich und stark in den Citationen, unglücklich und schwach an Überlegung, von einer weitläuftigen und muntern Einbildungskraft, die aber dabey flüchtig und unordentlich ist, und sich nicht in den Schranken halten kann.7
Tietz revidiert dieses Bild, indem er Montaigne zunächst als einen mustergültigen Vertreter des bürgerlichen Tugendkanons vorstellt, der seine öffentlichen und familiären Pflichten stets vorbildlich erfüllt habe. Montaignes Beispiel einer psychologischen Selbstdarstellung zum Zweck der Selbsterkenntnis und der moralischen Verbesserung des Lesers wird anderen Formen des philosophischen Schreibens vorgezogen. Dass Tietz dabei auf der Basis von Baumgartens „ästhetikologischer Wahrheit“ als Grundlage essayistischen Schreibens argumentiert, wird dadurch deutlich, dass er das anschauliche literarische Beispiel dem logischen Beweis als Erkenntnismittel gleichstellt, dabei jedoch auch die logische Beweiskraft der Reflexionen Montaignes betont: Daß Montagne nicht durch Gründe überredet, und niemals bündige Beweise anbringet sind Beschuldigungen, die nicht anders gelten können, als wenn man von der mathematischen Me5 6 7
Montaigne: Versuche (Tietz): Bd. 3: Le P. Malebranche Recherche de la verité liv. 2. part. 3. ch. 3“, S. 643–658, hier S. 647. Ebd., S. 649. Ebd., S. 647f.
2. Die erste deutschsprachige Übersetzung der Essais Montaignes
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thode redet: Denn, wenn der Moralist entweder ein dringendes Beyspiel aus dem Alterthume, oder einen Denkspruch eines berühmten Weisen anbringet, so ist dieses so gut, als wenn er etwas bewiese. Allein Montagne thut noch mehr. Er urtheilet über die mehresten Dinge selbst, und ist bemüht, seine Leser die meiste Zeit durch vorgetragene Gründe zu gewinnen. Die Sentenzen aus den alten Schriftstellern dienen ihm nur zur Bestätigung dessen, was er mit gehörigen Gründen vorgetragen hat.8
Die psychologische Analyse Montaignes und seine Beschreibung als anthropologischer Schriftsteller führt Tietz in seinem späteren Aufsatz mit dem Titel Ob Montagne ein großer Geist sey? (1756) noch genauer aus. Ebenfalls mit Bezug auf den Erhabenheitstopos wird Montaigne als ein Genie vorgestellt, dessen außerordentliche Selbstkenntnis aus der Fülle seiner Reflexionen entspringe. Der Reichtum der Detailbeschreibung und die sich daraus ergebende ausschweifende Schreibweise werden für Tietz zum Anlass uneingeschränkter Bewunderung. Sie seien Ergebnis einer gleichmäßigen Ausbildung des ästhetischen und des logischen Erkenntnisvermögens. Der Egoismus-Vorwurf hingegen ist spätestens hier vollständig außer Kraft gesetzt: Ein großer Geist äußert sich also durch einen großen Verstand. Er durchsieht die schwersten Wahrheiten, und die unergründlichsten Tiefen menschlicher Erkenntniß. Er übersieht sie mit einem Blicke, der ihm alles entdecket, was eine Sache an sich hat. Witz und Scharfsinn sind bey ihm gleich stark. Sie üben ihn stäts; und was der eine erfunden, über das breitet der andere seine Schönheiten aus. Daher ist ein großer Geist allemal ein großer Schriftsteller: Das heißt, er schreibt für alle Jahrhunderte. Seine ganze Natur ist Gedanken. Daher entwirft er lieber eigene Betrachtungen; und verschönert die entlehnten, wenn er sie gebrauchen muß, dergestalt, daß man sie auf seinem Boden für ursprünglich hält. Selten verfolgt er einen Gegenstand lange. Er schweift lieber mit einer edelen Freyheit aus, ehe als daß er systematisch würde. Der Blick, den er über den ganzen Umfang seiner Materie waget, zeiget ihm bald hier, bald dort eine Ähnlichkeit, die er mitnehmen muß. Er betrachtet sie einen Augenblick; sie vergrößert sich ihm; der Strom von Gedanken wächst an, und die Seele will weder diese vorbey lassen, noch jenen aufhalten. Die Ausschweifung kömmt also an einen Ort, wo sie gerade Niemand erwartet hätte.9
Montaigne erscheint hier als exzeptioneller Charakter und Repräsentant des menschlichen Wesens zugleich. Seine Selbstästhetik wird zur anthropologischen Wissenschaft und der Ausdruck einer individuellen Reflexionsweise zur Basis essayistischen Schreibens. Die anthropologische Dimension der Essais Montaignes thematisiert Tietz auch durch die Übersetzung einer Passage aus den Essais Trublets. Bei Trublet ist die Selbstästhetik – wie bei Addison – noch mit einem Vorbehalt belegt; vor ihrer Nachahmung wird dringend gewarnt.10 Tietz lässt bewusst diese einschränkenden
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Montaigne: Versuche (Tietz), Vorrede, S. XII. Johann Daniel Tietz: Ob Montagne ein großer Geist sey? In: Neue Erweiterungen der Erkenntnis und des Vergnügens 8 (1756), 43. Stück. Hildesheim 1997 [ND der Ausgabe Frankfurt u. Leipzig: Lank 1756], S. 420–443, hier S. 425f. Vgl. Trublet: Essais, S. 22f.: „Je ne conseillerois donc à personne de laisser courir sa plume avec le même libertinage que Montaigne; aussi me garderai-je bien de l’imiter en cela.“
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
Bemerkungen Trublets aus und zitiert lediglich den Abschnitt, in dem Trublet Montaigne lobt und seine Schreibweise als vorbildlich bezeichnet: „Montagne hat den Menschen studiret, […] und ihn gemalet, indem er sich studirte und sich selbst malte; und in der That, dieses ist eine gute Art ihn zustudiren, und ein gutes Mittel ihn nach der Natur zu schildern: wenigstens für einen der sich so gut kennen möchte, als sich Montagne kannte.“11 Michael Gamper hat festgestellt, „dass sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die paradigmatischen Bedingungen der Möglichkeit von Literatur verschieben und sich im Wissensdispositiv der Dichtung eine Anlage zum ‚Versuch‘ etabliert, die Literatur ganz allgemein in neuer Weise figuriert“.12 Analog wird auch in der Essayistik diese experimentelle Anlage seit den 1750er Jahren ausgebildet, sodass der moralistische Interdiskurs sich mit dem entstehenden psychologischen und anthropologischen Spezialdiskurs verbindet. Dies bedeutet konkret, dass die Essays in ihrer Funktion als Selbsttechnik verstärkt naturgeschichtliche und psychologische Erkenntnisse berücksichtigen, wobei sie die psychologischen Erkenntnisse häufig aus der individuellen Introspektion gewinnen. Montaignes Selbstästhetik mit ihrem experimentellen essayistischen Ich, welches das eigene Selbst probeweise erkundet, ohne jemals an einen Fixpunkt gelangen zu können, bildet den Prototyp für diese Ausdifferenzierung essayistischen Schreibens, die „Anthropologie aus der Innenlage“, wie Müller-Funk sie bezeichnet.13 Selbstverständlich stellen Montaignes dreibändige Essais in ihrem schieren Umfang und mit ihrer radikalen „kultur- und gesellschaftskritischen Perspektive“ ein einmaliges Ereignis dar,14 das sich in der Aufklärungsessayistik nicht in derselben Weise wiederholt. Montaignes spezifische Verwendungsweise des essayistischen Ichs wird jedoch als Vorlage einer experimentellen Subjektform adaptiert. Die Selbstästhetik enthüllt die Kontingenz des Subjekts als kulturelle Form und will den Leser befähigen, diese Kontingenz an sich selbst zu erforschen.15 Experimentell soll daher bedeuten, dass der Essay nicht von einem vorgegebenen IdealIch ausgeht, sondern dass die Subjektform im Modus einer Suchbewegung erst prozessual durch den Text hergestellt wird. Dabei spielt es keine entscheidende Rolle, ob die reflexive Suchbewegung tatsächlich simultan zur Abfassung des Tex11 12 13
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Tietz: Montagne, S. 435. Michael Gamper: Dichtung als ‚Versuch‘. Literatur zwischen Experiment und Essay. In: Zeitschrift für Germanistik NF XVII/1 (2007), S. 593–611, hier S. 605. Vgl. Wolfgang Müller-Funk: Neugierde und literarisches Selbstexperiment im Essayismus der frühen Neuzeit. In: Michael Gamper, Martina Wernli u. Jörg Zimmer (Hg.): „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I. 1580–1790. Göttingen 2009, S. 112– 130, hier S. 118. Ebd., S. 123. Müller-Funk beschreibt die experimentelle Selbsttechnik, welche die Essais vermitteln wollen, folgendermaßen: „Sprachlich exakte Selbst- und Fremdbetrachtung ist mit einer didaktischen, zuweilen explizit formulierten Rezeptionsstrategie verwoben; was dem Leser zugemutet wird, ist, den Prozess der Selbsterkundung am eigenen Selbst nachzuvollziehen. Was der Text ausspricht, ist eine Einladung in die eigene Innenwelt.“ (Ebd., S. 124.)
2. Die erste deutschsprachige Übersetzung der Essais Montaignes
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tes stattgefunden hat oder ob der Text eine solche vorgängige Suchbewegung nachträglich simuliert oder dokumentiert. Das experimentelle essayistische Ich als Basis einer Selbstästhetik tritt seit den 1750er Jahren in der Essayistik zunehmend in Erscheinung, wobei die Ausgestaltung der Selbstästhetik sehr idiosynkratische Formen annehmen kann. Diese Tatsache ist damit zu erklären, dass der Einsatz eines experimentellen essayistischen Ichs zu einem einzigartigen, nicht reproduzierbaren Ergebnis führt, während die Verwendung eines repräsentativen essayistischen Ichs sich dadurch auszeichnet, dass dieses beliebig oft übertragbar ist (was durch die Vielzahl Moralischer Wochenschriften nach ähnlichem Muster belegt wird). Introspektion erfolgt in der experimentellen Selbstästhetik, wie bei Montaigne, nicht im Sinne intimer Psychologie,16 sondern stets mit Blick auf die allgemeinmenschliche Dimension der eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen. Ein frühes und richtungsweisendes Beispiel stellt der Versuch über die Seele des Freiherrn Friedrich Carl Casimir von Creuz aus den Jahren 1753/54 dar. Die Besonderheit dieses Textes besteht darin, dass er in Auseinandersetzung mit dem französischen Materialismus der Jahrhundertmitte eine Selbstästhetik entwirft, die den Übergang von einer Essayistik der gesunden Vernunft zu einer ästhetisch begründeten anthropologischen Essayistik im Essay selbst als Suchbewegung nachvollzieht.
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Müller-Funk konstatiert ein solches selektives Vorgehen in der anthropologischen Selbsttechnik Montaignes: „Nicht intime Bekenntnisse, nicht psychologische Tiefenbefunde, sondern kategorische, induktive, vom Besonderen zum Allgemeinen fortschreitende Selbstanalysen stehen also im Mittelpunkt des Buches, eine Anthropologie in eigener Sache.“ (Müller-Funk: Neugierde und literarisches Selbstexperiment, S. 119.)
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
3. Ein „penelopisches Gewebe“: Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele (1754) antwortet auf La Mettries L’Homme Machine (1748) Auf! wagt in euren Geist nur einen tiefern Blick! Wie viel Gedanken sind nicht stets in ihm zurück, Und warum sollen sie hier nicht entwickelt werden, Sind sie nur für den Raum von dieser kleinen Erden? Je mehr ich forsch, je weiter muß ich gehn; Je mehr ich seh, je mehr verlang ich auch zu sehn. In unsres Geistes uns noch unbekannten Schranken, In seiner Tiefe, die nur der ihn schuff, ergründt, Sind Millionen dunkeler Gedanken, Die für die Ewigkeit nur sind: Gleich Saamen, welche Stürme weit verwehen, In einem andern Land bestimmet aufzugehen. Ich denke, bis mein Geist, der keine Ruhe hat, Fast still zu stehn beginnt, vom schweren Denken matt, Und doch wird mir stets etwas übrig bleiben, Und niemals hab ich ausgedacht.1
Julien Offray de La Mettries L’Homme Machine zählt zu den radikalsten Dokumenten des französischen monistischen Materialismus im 18. Jahrhundert. Der unter den deutschen Aufklärern gefürchtete Arzt und Philosoph La Mettrie plädiert in seinen Schriften für eine sensualistische Philosophie, die allein die Erfahrung – und hier vor allem die psychologische Selbstbeobachtung und die vergleichende Anatomie – zur Grundlage anthropologischer Erkenntnis macht. Der Mensch wird als eine Maschine vorgestellt, deren geistige Tätigkeiten und psychische Abweichungen in erster Line aus physischen Vorgängen und den Veränderungen des Gehirns zu erklären seien. In der zentralen Passage des Homme Machine verwirft La Mettrie jegliche metaphysische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wesen des Menschen als fruchtlos und bestimmt die Anthropologie als eine Erfahrungswissenschaft, die lediglich zu wahrscheinlichem Wissen gelangen könne: L’Homme est une Machine si composée, qu’il est impossible de s’en faire d’abord une ideé claire, et conséquemment de la définir. C’est pourquoi toutes les recherches que les plus grand Philosophes ont faites à priori, c’est à dire, en voulant se servir en quelque sorte des aîles de l’Esprit, ont été vaines. Ainsi ce n’est qu’à posteriori, ou en cherchant à demêler l’Ame, comme au travers des Organes du corps, qu’on peut, je ne dis pas, découvrir avec évidence la nature même de l’Homme, mais atteindre le plus grand degré de probabilité possible sur ce sujet.2
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Friedrich Carl Casimir von Creuz: Versuch über die Seele. 2. Teil. Frankfurt a.M u. Leipzig: Knoch u. Eßlinger 1754, S. 163. Julien Offray de la Mettrie: L’Homme Machine/Die Maschine Mensch. Französisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Claudia Becker. Hamburg 2009, S. 26. Der Text erschien 1747, vordatiert auf 1748. Vgl. dazu: Marlen Jank: Der homme machine des 21. Jahrhunderts. Von lebendigen
3. Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele
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Der Homme Machine verbindet philosophische Reflexionen mit zeitgenössischen medizinischen Erkenntnissen über die Bewegungs- und Empfindungsfähigkeit der Materie und gelangt auf diese Weise zu seiner grundlegenden These, dass Körper und Seele im Menschen eine materielle Einheit bildeten. La Mettrie präsentiert seine Thesen jedoch nicht in Form einer medizinischen oder philosophischen Abhandlung, sondern interdiskursiv in Form eines Essays. Ursula Pia Jauch hat in ihrer Monographie zur Schreibweise La Mettries dargelegt, dass dieser für den Homme Machine erstmals bewusst den Essay wähle und sich damit verstärkt an seinem Vorbild Montaigne orientiere.3 In der Fragmenten-Sammlung Le Systeme d’Epicure (1750) benennt La Mettrie mit direktem Bezug auf Montaigne die Darstellung seines individuellen Selbst als Intention seines Schreibens (Fragment LXXVII): J’ai entrepris de me peindre dans mes Ecrits, comme Montagne a fait dans ses Essais. Pourquoi ne pourroit-on pas se traiter soi même? Ce sujet en vaut bien un autre, où l’on voit moins clair: Et lorsqu’on a dit une fois que c’est de soi qu’on a voulu parler, l’excuse est faite, ou plutôt on n’en doit point.4
Den Homme Machine zeichnet als Essay eine antithetische Struktur aus, nach Jauch ein „Denken in ‚Spruch und (Selbst-)widerspruch‘“5, das durch eine existentielle Skepsis geprägt sei. Auch Birgit Christensen hat auf dieses dialektische Element in der Rhetorik La Mettries aufmerksam gemacht. La Mettrie wähle seinen „materialistischen“ Standpunkt nicht ontologisch, sondern als eine „atheistische Forschungsmaxime“,6 an der er sich dann anhand immer neuer Einwände abarbeite. Hieraus rühre seine Fähigkeit zur Selbstreflexion und Distanzierung vom eigenen Standpunkt, die ihm eine sachliche Auseinandersetzung mit der entgegengesetzten „spiritualistischen“ (das heißt auf dem Leib-Seele-Dualismus beharrenden) Position ermögliche. Aus seinen Selbstbeobachtungen leitet La Mettrie allgemeingültige Aussagen über das Zusammenspiel von Seele und Körper ab. So interpretiert er beispielsweise die Tatsache, dass sich die emotionale Erregung des Schrift-
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Maschinen im 18. Jahrhundert zur humanoiden Robotik der Gegenwart. Paderborn 2014, S. 47. Vgl. Ursula Pia Jauch: Jenseits der Maschine. Philosophie, Ironie und Ästhetik bei Julien Offray de La Mettrie (1709‒1751). München u. Wien 1998, S. 104. Julien Offray de La Mettrie: Systême d’Epicure. In: Ders.: Œuvres Philosophiques. London: Nourse 1751, S. 331‒364, hier S. 357. Ein weiterer Bezug auf die Schreibweise Montaignes findet sich im Discours Préliminaire: „[O]ui, j’oserai dire librement ce que je pense; & à l’exemple de Montagne, paroissant aux yeux de l’Univers, comme devant moi-même, les vrais Juges des choses me trouveront plus innocent que coupable dans mes opinions les plus hardies, & peut-être vertueux dans la confession même de mes vices.“ (La Mettrie: Dicours Préliminaire. In: Ders.: Œuvres Philosophiques, S. III‒LVI, hier S. LI.) Jauch: Jenseits der Maschine, S. 429. Vgl. Birgit Christensen: Ironie und Skepsis. Das offene Wissenschafts- und Weltverständnis bei Julien Offray de La Mettrie. Würzburg 1996, S. 46.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
stellers bei der Erfindung seines Werkes auch auf den Körper übertrage, als Beleg für die psychophyische Einheit von Seele und Körper: En effet si ce qui pense en mon Cerveau, n’est pas une partie de ce Viscère, et conséquemment de tout le Corps, pourquoi lorsque tranquille dans mon lit je forme le plan d’un Ouvrage, ou que je poursuis un raisonnement abstrait, pourquoi mon sang s’échaufe-t-il ? Pourquoi la fièvre de mon Esprit passe-t-elle dans mes Veines? Demandez-le aux Hommes d’Imagination, aux grands Poëtes, à ceux qu’un sentiment bien rendu ravit, qu’un goût exquis, que les charmes de la Nature, de la Vérité, ou de la Vertu, transportent!7
Das essayistische Ich bei La Mettrie formt seine experimentelle Subjektivität durch einen unabschließbaren dualistischen Antagonismus, ein fiktives Streitgespräch zwischen gegensätzlichen Positionen, die damit jedoch zu einem notwendigen Bestandteil der Subjektform werden. Jauch spricht von einer „gedoppelten“ Vernunft.8 Als Anti-Subjekt ist hierbei stets die Gefahr des sich dogmatisch auf eine Position festlegenden Gelehrten implizit präsent. Das experimentelle Ich umfasst These und Antithese und wird zum Durchgangsort für das unbeständige Selbst, das stets in Bewegung bleiben muss, um die experimentelle Subjektform einzulösen. Besonders deutlich wird diese Selbstästhetik in La Mettries Schrift Epitre a mon esprit ou l’anonime persiflé (1748), in der er – ganz im Sinne der Montaigne’schen Selbstherabsetzung und ihrer Wiederaufnahme in Boileaus neunter Satire – den eigenen Geist in einer dialogischen Selbstanklage für seine eigene Fehlerhaftigkeit verurteilt. Hier nimmt das essayistische Ich die Gegenposition zu einem mechanischen Materialismus ein und betont die Unmöglichkeit der Herstellung eines künstlichen Menschen, da die Seele des Menschen unverfügbar sei: Vous pensez qu’on peut relever, tendre, ou relacher a son gré une ame immortelle, comme des cordes de Violon! Vous seriez même tenté de croire qu’on pourroit faire une machine qui parlât; ce que l’art a fait, vous fait consevoir tout ce qu’il pourroit faire. Mon Ami, vous êtes dans l’erreur: on peut bien parler sans langue, mais non sans ame. Pour faire une Machine capable de parler & de penser, il faudroit donc être à l’affut d’une ame; Ame, lorsqu’en je ne sai quel tems, & je ne sai comment, elle vient se nicher incognitò dans nos veines; au moment même, la prendre au vol, comme un Oiseau, & l’introduire par quelque voye dans la machine dont il s’agit; Car n’est pas ainsi que les choses se passent dans l’homme, selon les savans Théologiens?9
Markus Wild hat in seiner Untersuchung der Essais Montaignes herausgestellt, dass dieses Verfahren der direkten Gegenüberstellung widersprechender Meinungen, das er als „dynamische Methode“ bezeichnet und das La Mettrie adaptiert, ein
7 8 9
La Mettrie: L’Homme Machine, S. 106. Vgl. Jauch: Jenseits der Maschine, S. 58. Julien Offray de la Mettrie: Epitre a mon esprit ou l’anonime persiflé. In: Ders. (anon.): Traité de la vie heureuse. Par Seneque avec un discours du traducteur sur le meme sujet. Potsdam: Voss 1748.
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genuines Merkmal der pyrrhonischen Skepsis ist.10 Die „dynamische Methode“ Montaignes bedeute keine skeptische Urteilsenthaltung, sondern stattdessen eine „Temporalisierung des Urteilens“, die zu einer kontinuierlichen Revision zuvor gefasster Meinungen führe.11 Auch Jauch stellt fest: „La Mettrie benutzt das philosophische Argument wie eine vorübergehende Identität.“12 Ein weiteres bedeutsames Detail zum Verständnis der experimentellen Subjektform in der Essayistik Montaignes liefert Jean Starobinski in seiner detaillierten Untersuchung der Essais. Starobinski zeigt, wie aus dem anfänglichen Dualismus der Selbstbeobachtung bei Montaigne eine pluralistische Haltung entstehe: Die zur Beobachtung erforderliche Spaltung läßt zwangsläufig die Dualität vorherrschen. Eine Dualität, die anfangs als Übergangsstadium hingenommen wird – in der Erwartung der bewußten Einheit, die sich einstellen wird, wenn das beobachtete Ich nicht mehr den Geboten des beobachtenden Ichs unterworfen ist, wenn der Ich-Zuschauer dem Ich-Schauspiel seine volle Zustimmung erteilt hat. In der Erfahrung aber, die Montaigne dabei macht, wird die Spaltung der Selbstbeobachtung, anstatt stabilisierend zu wirken, zum Prinzip einer raschen Pluralisierung. Die Verdopplung ebnet, anstatt die Wiederholung des Gleichen zu gewährleisten, der Differenz den Weg […].13
Diese Entwicklung von der Dualität zur Pluralität, aufbauend auf der Selbstästhetik Montaignes, kennzeichnet die deutschsprachige Essayistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. Ende 1753, zwei Jahre nach dem Tod La Mettries, erscheint in Frankfurt und Leipzig der erste Teil des Versuchs über die Seele des Freiherrn und hessenhomburgischen Staatsrates Friedrich Carl Casimir von Creuz (vgl. Abb. 3; vordatiert auf 1754).14 Anfang 1754 folgt der zweite Teil. Bei dem heute nahezu verges10
11 12 13 14
Vgl. Markus Wild: Montaigne als pyrrhonischer Skeptiker. In: Carlos Spoerhase, Dirk Werle u. Markus Wild (Hg.): Unsicheres Wissen. Skeptizismus und Wahrscheinlichkeit 1550‒1850. Berlin u. New York 2009, S. 109‒133, hier S. 121. Vgl. ebd., S. 119f. Jauch: Jenseits der Maschine, S. 428. Jean Starobinski: Montaigne. Denken und Existenz. Aus dem Französischen übers. v. HansHorst Henschen. Frankfurt a.M. 1989, S. 40f. Friedrich Carl Casimir von Creuz (1724‒1770) heißt eigentlich „Creutz“, schreibt sich in seinen Publikationen jedoch stets ohne „t“. Seit 1751 ist er Oberster Staatsrat im Dienst des Landgrafen Friedrich IV. von Hessen-Homburg und seit dem 23. Dezember 1751 Ehrenmitglied (auswärtiges Mitglied) der Berliner Akademie der Wissenschaften. Vgl. Werner Hartkopf (Hg.): Die Berliner Akademie der Wissenschaften. Ihre Mitglieder und Preisträger 1700‒1990. Berlin 1992, S. 66f. Genauere biographische Angaben finden sich bei Carl Hartmann: Friederich Carl Casimir Freiherr von Creuz und seine Dichtungen. Heidelberg 1890; Ursula Bürgel: Die geistesgeschichtliche Stellung des Dichters Friedrich Carl Casimir von Creutz in der Literatur der deutschen Aufklärung. Marburg 1949. Creuz hat ein umfangreiches Werk aus philosophischen und poetischen Texten hinterlassen. Zu den poetischen Werken zählen das philosophische Lehrgedicht Die Gräber in sechs Oden, dessen vierter Teil zusammen mit dem Versuch über die Seele publiziert wird, das jedoch erst 1760 vollständig und separat erscheint. Weiterhin die Oden und Lieder, die 1750 ohne Namensangabe erstmals erscheinen (die zweite Auflage mit dem Namen des Autors folgt 1752, die dritte 1753), das Trauerspiel Der sterbende Seneca (1754) und die Considerationes metaphysicae (1760). Die zweibändige vierte Aus-
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
senen Werk handelt es sich um eine der zahlreichen Auseinandersetzungen mit La Mettries Homme Machine, genauer um den Versuch einer Widerlegung des mechanischen Materialismus. Scheint es sich bei diesem Text auf den ersten Blick um eine metaphysische Abhandlung zu handeln, die sich vor allem an Leibniz und seiner Monadologie (1714) orientiert, so erweist sich das Verhältnis zwischen dem Versuch und dem Homme Machine auf den zweiten Blick als wesentlich komplexer. Denn der Versuch über die Seele ist ein Essay, in dem Creuz über seine Auseinandersetzung mit La Mettrie eine Selbsttechnik entwickelt, die dem Prinzip der experimentellen Subjektivität bei La Mettrie (und damit bei Montaigne) entspricht. Er steht deshalb mit am Beginn der deutschsprachigen anthropologischen Essayistik um 1750 und nimmt bei der Entstehung sowohl der anthropologischen als auch der genieästhetischen Essayistik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts geradezu die Rolle eines literaturgeschichtlichen missing link ein. Der Versuch setzt sich aus sehr heterogenen Bestandteilen zusammen. Er scheint zunächst in den Diskurs der mathematisch-demonstrativen Metaphysik zu gehören, da seine Argumentation anhand logischer Beweisketten voranschreitet und Creuz sich vor allem auf Leibniz und Wolff stützt. Ebenso auffällig ist jedoch die Verwendung einer Semantik aus dem Kontext der christlichen Mystik. Hinzu kommen eine sehr große Anzahl von Zitaten aus der griechisch-römischen Dichtung, eine geringere Anzahl von Zitaten aus Werken der zeitgenössischen Naturgeschichte sowie empirische Selbst- und Fremdbeobachtungen. Diese Auflistung macht bereits den interdiskursiven Charakter des Textes deutlich. Er lässt sich weder eindeutig der Metaphysik noch der Mystik noch einer entstehenden philosophischen Anthropologie oder Psychologie zuordnen. Die Kohärenz des Essays entsteht allein aus der experimentellen Selbstästhetik, in der alle diese Elemente sich sinnvoll verbinden und damit aus der spezifischen Subjektform des experimentellen essayistischen Ichs. In einem dem Versuch vorangestellten Brief „an Herrn von S.“ (Alexander Adam von Sinclair15), der das Vorwort ersetzt, gibt Creuz an, eine erste Version des Textes bereits 1742, also einige Jahre vor dem Erscheinen des Homme Machine, fertiggestellt zu haben.16 Die endgültige Fassung des Versuchs ist jedoch zentral durch dieses Lektüreerlebnis beeinflusst. Im Folgenden wird die Selbstästhetik des Essays in ihrem Verhältnis zum Homme Machine rekonstruiert. Es zeigt sich dabei, dass Creuz eine essayistische Schreibweise entwickelt, die so eigenständig ist, dass man ihn nicht zu den vielen heimlichen Nachahmern La Mettries rechnen kann, auf die Jauch hinweist,17 dass er jedoch zu den wenigen Zeitgenossen gehört,
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gabe der Oden und Lieder von 1769 stellt als letzte autorisierte Ausgabe den maßgeblichen Referenztext für die kleineren Werke. Es handelt sich um den Vater Isaac von Sinclairs, des späteren Freundes Friedrich Hölderlins. Vgl. Friedrich Carl Casimir von Creuz: Versuch über die Seele. 1. Teil. Frankfurt a.M u. Leipzig: Knoch u. Eßlinger 1754, S. 22. Vgl. Jauch: Jenseits der Maschine, S. 34.
3. Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele
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die sich in der literarischen Öffentlichkeit sachlich mit La Mettrie auseinandersetzen. Gerade weil Creuz nicht zu den prominenten und kanonisierten Autoren der deutschsprachigen Essayistik nach 1750 zählt, lässt sich mit seinem Versuch darauf hinweisen, dass der anthropologische Paradigmenwechsel im essayistischen Schreiben von einem breiteren Kreis von Akteuren getragen wird. Creuz hat kein Studium absolviert und schreibt sich daher als akademischer Laie und Autodidakt in eine komplexe gelehrte Kommunikation hinein. Dass er den Versuch erst 1753 veröffentlicht, ist dem Umstand geschuldet, dass er es zuvor nicht gewagt hat, sich öffentlich an der Diskussion metaphysischer Fragestellungen zu beteiligen.18 Der Versuch erörtert die drei zentralen Fragestellungen, die HansPeter Nowitzki für die Anthropologie bis zur Hälfte des 18. Jahrhunderts benennt: Die Frage nach der Selbstbewegung der Materie beziehungsweise menschlicher Organe wie zum Beispiel des Herzens, die Frage nach der Empfindungsfähigkeit des Organismus und die Frage nach der Selbstreproduktion der Materie.19 Die Rezeption zeitgenössischer Autoren wie Johann Gottlob Krügers oder Johann August Unzers, welche die medizinisch-anthropologische Diskussion in den 1750er Jahren prägen, lässt sich nicht nachweisen. Stattdessen hält Creuz sich bevorzugt an Georg Friedrich Meier, zum Beispiel an dessen Versuch eines neuen Lehrgebäudes von den Seelen der Thiere (1749), in dem Meier gegen Descartes die Beseeltheit und Vernunft der Tiere empirisch erweist, oder an Meiers metaphysische Schrift Beweis Daß die Menschliche Seele ewig lebt (1751), die seinem dualistischen Menschenbild entspricht. Die Analyse des Essays lässt zwei Schlüsse zu: Erstens wird deutlich, dass Creuz die experimentelle Subjektform der Selbstästhetik La Mettries in seinem Projekt einer „metaphysischen Selbsterkenntnis“ adaptiert. Die Argumentation des Versuchs organisiert sich als ein kontinuierlicher Wechsel von der spiritualistischen zur materialistischen Position, von der Gewissheit einer unsterblichen Seele zum skeptischen Zweifel. Dies führt zu einer fortwährenden Konstruktion und Destruktion von Wahrheit mithilfe logisch hergeleiteter, empirischer und poetischer Textelemente. Creuz findet dafür das Bild von der Seele als „penelopischem Gewebe“. Er bezieht sich hier mit großer Wahrscheinlichkeit auf La Mettries dreibändiges Ouvrage de Pénélope ou Machiavel en médecine (1748‒50), eine satirische Abrechnung mit der zeitgenössischen Medizin und den Ärzten. La Mettrie verwendet in seiner Pénélope den Stoff aus dem 19. Gesang der Odyssee Homers, um sein „Credo absoluter denkerischer Parteilosigkeit“ metaphorisch zu bezeichnen.20 Die List Penelopes, der Gattin des irrfahrenden Odysseus, die eine Auswahl aus der Menge ihrer Freier hinauszögert, indem sie am Webstuhl ein Leichentuch
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Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 22. Vgl. Hans-Peter Nowitzki: Der wohltemperierte Mensch. Aufklärungsanthropologien im Wiederstreit. Berlin u. New York 2003, S. 11. Jauch: Jenseits der Maschine, S. 196.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
für Laertes webt und dieses nachts wiederum auftrennt, wird namengebend für die Urteilsenthaltung und das entsprechende textuelle Verfahren. So kündigt La Mettrie im zweiten Teil der Pénélope den Wechsel von einer satirischen Abrechnung mit der Medizin zu ihrer Verteidigung vom entgegengesetzten Standpunkt aus mit den Worten an: „Vôtre surprise n’est pas sur mon Compte, le titre vous en avoit averti: oüi, encore une fois, c’est ici l’Ouvrage de Pénelope, et je vais défaire sérieusement ma propre Toile.“21 Der reflexive Prozess in Creuz’ Versuch über die Seele konstituiert das experimentelle Ich als ein prozessual hergestelltes argumentatives Gleichgewicht zwischen zwei entgegengesetzten Polen. Um dieses Gleichgewicht zu erhalten, ist in allen Wissensbereichen eine Maximierung der Erkenntnis notwendig, was im Text zu einer Akkumulation allen verfügbaren Wissens, auch aus der Naturgeschichte, führt. Das angesammelte Wissen wird jedoch stets auf seine metaphysische Dimension hin befragt. Zweitens lässt sich zeigen, dass im Versuch selbst eine fortschreitende Poetisierung der Schreibweise stattfindet, sodass sich die Selbstästhetik auch im Wechsel der Schreibweisen abbildet: Während der Beginn des Textes die Selbsttechnik im systematischen Spezialdiskurs der Wolff’schen Philosophie ansetzt, werden im nächsten Schritt hauptsächlich empirische Belege und introspektive Beweise der „inneren Erfahrung“ zur Unterstützung der Thesen herangezogen. Dieser Entwicklung entspricht eine Auflösung und Fragmentarisierung des Argumentationsverlaufes. Am Ende des ersten Teils des Versuchs werden die Erkenntnisse und das Projekt der „metaphysischen Selbsterkenntnis“ in einer Reihe kürzerer Essays noch einmal zusammengefasst. Diese drei Texte zeichnen sich dadurch aus, dass sie die zuvor entwickelten Gedanken zur Selbstästhetik verdichten und pointieren. Der zweite Teil des Versuchs schließlich befasst sich mit dem Zustand der Seele nach dem Tod und tritt damit vollständig in den Bereich des Imaginären ein. Die Selbsttechnik spielt sich nun im literarischen Interdiskurs und in der subjektiven metaphysischen Spekulation ab. Der Essay endet mit dem vierten Teil des Lehrgedichts Die Gräber, sodass der Übergang von der Philosophie in die Dichtung hier seinen konsequenten Abschluss findet. Creuz’ Selbstästhetik durchläuft und verbindet somit drei große Diskurse als alternative Zugänge zu metaphysischen Fragestellungen: die ‚mathematische‘ Philosophie nach Leibniz und Wolff, die empirische Psychologie und Naturgeschichte und die Dichtung.22
21 22
Julien Offray de La Mettrie: Ouvrage de Pénélope ou Machiavel en médecine. Paris 2002, S. 339. Eine knappe Einordnung von Creuzʼ Versuch in die Identitätskonzepte des 18. Jahrhunderts, besonders in Bezug auf Leibniz und Wolff, gibt Thiel: Early Modern Subjekt, S. 321f. und S. 352‒354. Thiel geht jedoch auf die dialektische Struktur des Versuchs und die poetischen Elemente nicht ein.
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3.1. Die Seele, ein „Mittelding“, oder Monada Creuziana Creuz beginnt seinen als Vorwort angelegten Brief mit der andeutungsreichen Bemerkung, er beabsichtige seinem Freund Sinclair „einige Bogen vorzulegen, die Sie Sich in der besten Welt vielleicht nicht vermuthet haben dürften.“23 Seine Beschäftigung mit metaphysischen Fragestellungen rechtfertigt er mit dem Argument, dass es für einen Aristokraten standesgemäß sei, sich „des Tages einige Stunden dem Lombre oder der Weltweisheit zu widmen“.24 Creuz äußert die Befürchtung, seine Leser könnten ihn aufgrund seiner Absicht, die Seele im Folgenden als ein „Mittelding“ zwischen Geist und Materie zu bestimmen, ebenfalls als Materialisten vom Schlage La Mettries bezeichnen, fügt jedoch direkt hinzu, dass ihm dies letztendlich „gleichgültig“ sei.25 Besonders seit La Mettries Homme Machine habe man von den Materialisten eine sehr negative Meinung und beschuldige sie des Atheismus und der Amoralität, auch wenn – wie Creuz betont – „Vernünftige billiger denken“26. Im weiteren Verlauf des Briefes gibt Creuz eine vorsichtige Popularisierungsabsicht zu erkennen: Er habe versucht, sich auch Ungelehrten verständlich zu machen.27 Dies wird zu Beginn des Haupttextes jedoch bereits relativiert, wenn er bekennt, für „den im Nachdenken geübten Leser“ zu schreiben.28 Der ebenfalls abgedruckte Antwortbrief des Pietisten Sinclair beinhaltet zugleich ein Lob des Versuchs und eine Ermahnung, die beide auf die Selbstästhetik von Creuz verweisen: Zum einen unterstreicht Sinclair den Vorzug einer poetisierten Philosophie, wie Creuz sie verwende, gegenüber der mathematisch-demonstrativen Methode. Um den Paradigmenwechsel der vergangenen Jahre in der Philosophie deutlich zu machen, verweist er auf sein Universitätsstudium in Leipzig achtzehn Jahre zuvor (also ca. 1735) und die damalige Beliebtheit der Logik Christian Wolffs, „[o]bgleich Vorlesungen über die Fabeln des Phaedrus oder des la Fontaene die Vernunft ungemein mehr erleuchtet hätten.“29 Zum anderen befürchtet Sinclair jedoch, Creuz sei durch seinen Versuch von der „ächten Metaphysik“,30 der Ausübung des christlichen Glaubens, abgekommen. Er äußert den Eindruck, man könne in Creuz’ Text „eher den Namen e. Confuzius, als den Namen des Herzoges unserer Seligkeit“ finden und bezichtigt Creuz 23 24
25 26 27 28 29 30
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 4. Ebd., S. 6. Lombre bezeichnet ein zeitgenössisches Kartenspiel („Lomberspiel“). Creuz spielt hier möglicherweise auf La Mettries Homme Machine oder die Anthropologie im weiteren Sinne an, da die Bezeichnung Lombre von dem spanischen Wort hombre (Mann/Mensch) stammt. Vgl. ebd., S. 15. Ebd., S. 15. Vgl. ebd., S. 24. Ebd., S. 5. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 48.
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auf diese Weise indirekt des Skeptizismus und des Atheismus.31 Sinclair erkennt die Funktion des Versuchs, der eine textbasierte Form spiritueller Selbstsorge mit dem Ziel der Überwindung des Zweifels an der Unsterblichkeit der Seele darstellt, und er warnt Creuz vor der falschen Überzeugung, sich „pelagianisch“ „selbst helfen zu können“,32 also zu glauben, er könne zu spiritueller Selbsterlösung durch Philosophie fähig sein. Die ersten 13 Paragraphen des Versuchs führen in die Thematik ein. Die Seele wird hier als ein Rätsel vorgestellt, dessen moralische Betrachtung in erster Linie „Dunkelheiten, Zweydeutigkeiten, scheinbare Widersprüche, Ungewissheiten, und eine fast unglaubliche Veränderlichkeit und Ungleichheit in den Bewegungen des Willens“33 offenbare. Bereits der erste Absatz des Versuchs ist gleich in mehrfacher Hinsicht interessant, da er in nuce Creuz’ Konzeption einer experimentellen Selbstästhetik sowohl in ihrer Anlehnung an als auch in ihrer Abgrenzung von La Mettrie enthält. Die große Übereinstimmung in der sprachlichen Formulierung mit der Einleitung zu La Mettries Traité de l’Âme (1745) legt nahe, dass Creuz diesen Text ebenfalls kennt und hier eine direkte Erwiderung formulieren will. So heißt es bei La Mettrie: Ce n’est ni Aristote, ni Platon, ni Descartes, ni Malebranche, qui vous apprendront ce que c’est que votre Ame. En vain, vous vous tourmentez pour connoître sa nature: n’en déplaise à votre vanité et à votre indocilité, il faut que vous vous soumettiez à l’ignorance et à la foi. L’essence de l’Ame de l’homme et des animaux est et sera toujours aussi inconnuë, que l’essence de la matière et des corps. Je dis plus; l’Ame dégagée du corps par abstraction, ressemble à la matière considérée sans aucunes formes: on ne peut la concevoir.34
La Mettrie skizziert hier die Unmöglichkeit, ein gesichertes Wissen über das Wesen der Seele erwerben zu können und präsentiert seine monistische Anschauung von der Materialität der Seele im Verbund mit dem Körper. Keiner der zitierten philosophischen Autoritäten sei es gelungen, überzeugende Beweise hinsichtlich der Beschaffenheit der Seele vorzulegen. In Anlehnung an Locke formuliert La Mettrie das ethische Postulat, dass der Mensch sich mit demjenigen zufrieden geben müsse, was er wissen könne – also mit dem, was er aus der sinnlichen Wahrnehmung lernen könne – und die Metaphysik vollständig aufzugeben habe. Dieses Vorgehen begreift La Mettrie als einen Prozess der Selbstaufklärung, dem er sich in seinem Schreiben widmet. Creuz hingegen beginnt seinen Versuch folgendermaßen: Das rätselhafte Etwas, welches sich in uns seiner selbst, und anderer Dinge außer ihm bewußt ist, sich allgemeine Begriffe bildet, Überlegungen anstellet, verabscheuet und begehrt, im Homer die ewige Odyssee, und im Virgil die unsterbliche Aeneis herfürgebracht; im tiefsin31 32 33 34
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 49. Ebd., S. 53. Ebd., S. 4. Julien Offray de La Mettrie: Traité de l’Âme. In: Ders.: Œuvres Philosophiques, S. 121‒243, hier S. 125.
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nigsten Leibniz die prächtige Theodicee gebohren, und im großen Newton sich durch unermessliche Fernen geschwungen hat: Dieses dunkle Etwas ist in Ansehung seiner selbst und seines Wesens so ungewiß, daß es sich in die traurige Nothwendigkeit gesetzt sieht, hierüber noch erst eine mühsame Untersuchung vorzunehmen, sich selbst Einwürfe zu machen, solche zu heben zu suchen, sein eigner Gegner zu seyn, und sich bald nach seiner Meynung überzeugt, bald aber von sich selbst widerlegt zu sehen.35
Auch Creuz geht somit von der letztlichen Unerkennbarkeit des Wesens der Seele aus. Es gebe jedoch Beweise für die Immaterialität und Unsterblichkeit der Seele, die nicht durch eine mathematische Demonstration, sondern durch emotionale Affizierung und Intuition erfahren würden: Zum einen die großartigen Werke der poetischen Imagination und die Erkenntnisse der Naturgeschichte, zum anderen der existentielle Zweifel des Menschen an seiner eigenen Unsterblichkeit, der auf seine höhere Bestimmung verweise. Das stärkste Argument für den Leib-Seele-Dualismus bildet bei Creuz also die geistige Schöpfungskraft des Menschen, seine Kreativität. Diese Ansicht geht bei Creuz mit einer Aufwertung der Imagination gegenüber der Vernunft einher, die sich ebenfalls bei La Mettrie findet. Da die These von der Unsterblichkeit der Seele jedoch nur den Status der Wahrscheinlichkeit erlangen kann, wenn man sie auf diesem Erkenntnisvermögen gründet, will Creuz mit seinem Versuch den Grad der Wahrscheinlichkeit seiner Argumentation – entsprechend dem Konzept der Wahrscheinlichkeitsgrade bei Leibniz36 – durch das Aufbieten weiterer logischer Argumente, empirischer Belege und poetischer Beweisstellen erhöhen. Dass ein endgültiger Erfolg hierbei ausgeschlossen ist, wird durch den einleitenden Paragraphen bereits deutlich. Die Seele muss das „dunkle Etwas“ bleiben. Der tatsächliche Anlass für das Abfassen des Versuchs ist somit die persönliche spirituelle Krise, die sich für Creuz aus der Ungewissheit ergibt. Das krisenhafte Erleben der „Mittelsituation“ des Menschen begreift er grundsätzlich als eine anthropologische Konstante. Der Umgang mit dieser Krise und der Versuch ihrer Überwindung sind somit der eigentliche Gegenstand des Versuchs. Die experimentelle Subjektform tritt dabei gegenüber dem potenziellen Leser mit modellhaftem Anspruch auf. Zuerst entwickelt der Versuch jedoch eine sehr detaillierte Definition der Seele. Sie wird als ein „Mittelding“ zwischen Einfachem und Zusammengesetztem bestimmt. Diese These macht den zentralen philosophischen Anspruch des Textes aus und versteht sich als Alternative zum Begriff der einfachen, unteilbaren Seelen-Monade, wie sie Leibniz in seiner Monadologie beschreibt. Eine Rezension des Versuchs in den Nova Acta Eruditorum aus dem Jahr 1755 wählt dementspre-
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Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 1f. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Aus dem Französischen übers., mit Einleitung und Anmerkungen versehen v. Ernst Cassirer. Hamburg 1996 (Gottfried Wilhelm Leibniz. Philosophische Werke in vier Bänden; Bd. 3), S. 389‒ 391.
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chend auch für Creuz’ Konzeption der Seele die Bezeichnung Monada Creuziana in Abgrenzung zur Monada Leibnitiana.37 Für seine Bestimmung der Seele als „Mittelding“ muss Creuz zunächst die Unmöglichkeit einer denkenden Materie, wie sie La Mettrie behauptet, beweisen.38 In einem denkenden Körper müsse die Fähigkeit zu denken, materialistisch argumentiert, aus der Art seiner Zusammensetzung oder seiner Organisation herrühren. Hieraus zieht Creuz die Schlussfolgerung, dass auch leblose Körper – da es möglich sei, ihre Zusammensetzung zu verändern – potentiell denkende Wesen seien. Diese Herleitung sei jedoch „abgeschmackt“, da die Beschaffenheit der Wesen den göttlichen Zwecken entspreche: Was soll man nur sagen von einer denkenden Feder, einer denkenden Tinte, einem denkenden Buchstaben? Es ist also der Weisheit Gottes weit gemäßer, solche Dinge aus einem solchen Stoffe zuzubereiten, welcher mit ihrer Absicht am genauesten übereinstimmt; [...]. Man stelle sich einen Augenblick vor, die leblosen Körper seyn alle der Kraft zu denken fähig. Würde nicht die Welt alsdenn einem Reiche gleichen, welches aus lauter Sclaven bestünde, die alle fähig und würdig wären, Könige zu seyn, und von dem Eigensinn eines einigen Gebiethers abhangen müßten? Entweder sind also die leblosen Körper der Kraft zu denken fähig, gleich den organisierten; oder letztere haben diese Fähigkeit so wenig als die erstern. Und dieses letztere ist wenigstens das wahrscheinlichste, wenn keine Gewissheit hier statt finden kann.39
Der physiologische Ansatz La Mettries wird hier mit einer physikotheologischen (und anti-monarchistischen?) Argumentation entkräftet. Da die Natur nach genau bestimmten Zwecken eingerichtet sei, könne die Fähigkeit zu denken keine generelle Eigenschaft der Materie sein. Die rhetorische Überzeugungskraft des Argumentes ergibt sich dabei weniger aus dessen logischer Stringenz als aus der emotionalen Affizierung des Lesers durch das phantastische Gedankenexperiment einer Welt denkender unbelebter Körper. Überhaupt könne ein denkendes Wesen nicht zusammengesetzt sein, da das Bewusstsein eine Einheit bilde und andernfalls alle Teile des denkenden Wesens auch für sich des Denkens fähig sein müssten. Es sei jedoch erfahrungsgemäß „nichts einfacher und nichts untheilbarer, als unser Bewußtseyn“.40 Ein weiterer Beleg dafür, dass die Seele nicht Teil einer denkenden Maschine sein könne, ist nach Creuz gerade die Unberechenbarkeit ihrer Tätigkeit. Um dies zu veranschaulichen, verwendet er eine Selbstbeobachtung: Es ist wahr, die Gedanken der Seele hängen zusammen; aber es ist ein freyer und kein nothwendiger Zusammenhang. Wenn ich z. E. an die Schönheit der Morgenröthe gedenke, und unmittelbar darauf mir dasjenige Geschäfft vorstelle, welches ich gleich beym Erwachen vornehmen will: so ist zwar ein Zusammenhang da: aber ein freyer Zusammenhang, indem ich
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Vgl. Anon.: Rezension zu: Friedrich Carl Casimirs, Freyherrns von Creuz, Versuch über die Seele. In: Nova Acta Eruditorum. Leipzig: Gleditsch 1755, S. 692‒703, hier S. 694. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 14. Ebd., S. 22. Ebd., S. 29.
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auch an eine andere Sache, als z. E. an den Morgen meines Lebens, oder an die Ungewissheit, ob ich diese Morgenröthe annoch sehen oder erleben werde, hätte denken können. Die Seele fügt Gedanken zusammen, und trennet sie wieder; sie fasst Entschlüsse, und ändert sie wieder; kurz, ihr ganzes Denken und Wollen ist ein penelopisches Gewebe.41
Hinter diesem nur scheinbar zufällig gewählten Beispiel verbirgt sich eine Gegenüberstellung der Positionen des Leib-Seele-Dualismus und des monistischen Materialismus, ausgedrückt durch einen Akt der spontanen Assoziation. Während der Sonnenaufgang dem Materialisten lediglich den Beginn seiner Geschäftstätigkeit anzeigt, wird er dem Spiritualisten zu einem metaphysischen Symbol. Entscheidend ist jedoch, dass es dasselbe essayistische Ich ist, das beide Assoziationspotenziale in sich vereint. Materialist oder Spiritualist zu sein wird so zu einem Ereignis, das allein auf psychologische Notwendigkeit zurückzuführen ist und nicht auf ein mechanisches Verhältnis von Ursache und Wirkung (denn ein und dieselbe Wahrnehmung kann in unterschiedlichen Individuen zu völlig verschiedenen Reaktionen führen). Dieser „freye Zusammenhang“ der Vorstellungen des menschlichen Geistes verweist für Creuz auf eine höhere Bestimmung des Menschen, da ihn diese Unberechenbarkeit von der Maschine unterscheide. Abschließend zu diesem Argumentationsschritt vermerkt das essayistische Ich des Versuchs, dass seine Beweisführung nicht ausreichend sei, um einen Skeptiker zu überzeugen, da alle verwendeten Kategorien wie zum Beispiel „einfach“ und „zusammengesetzt“ letztlich sehr unbestimmt bleiben müssten. Es gibt an, es wolle diese Argumentation daher lieber beenden, da es fürchtet, es könne sich „sonst selbst des Scepticismi verdächtig machen“.42 Der direkt anschließende Absatz beginnt mit den Worten: „Es giebt Fälle, da man zwar nicht den Verstand; aber doch das Herz überzeugen kann.“43 Dieser Neuansatz, der einen starken Einfluss der Pensées Pascals auf den Versuch verrät, veranschaulicht, dass das essayistische Ich im Fortgang der Demonstration immer wieder in Aporien verstrickt wird. Die Beweisführung verliert (für das essayistische Ich) ihre Überzeugungskraft, und die Leistungsfähigkeit der demonstrativen Lehrart steht in Frage. Im Anschluss an den ersten Zweifel formuliert das essayistische Ich daher die Notwendigkeit, die adaptierten Kategorien der Beschreibung zu überschreiten und „sich selbst eine gewisse Sprache [zu] bilden [...]“.44 Im Anschluss an diese Bemühung, zu beweisen, dass die Materie nicht denken könne, gelangt der Versuch zu seiner Definition der Seele als eines „Mitteldinges“ oder „einfachähnlichen Dinges“, wobei das essayistische Ich einräumt, dass diese Beweisführung einzig auf der Evidenz seiner vorherigen Ausführungen beruhe: „Wo ich keinen Widerspruch finde, da kann ihn vielleicht ein anderer finden, und überdieses ist auch noch eine höhere Vernunft, als die menschliche, möglich. Doch 41 42 43 44
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 33f. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd., S. 34.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
ich fange schon wiederum an zu zweifeln, und muß also aufhören.“45 Die Paragraphen 23‒35 bestimmen dieses Mittelding in einer deduktiv fortschreitenden Kette von Begriffsdefinitionen. Dahinter steht die Absicht, die Begriffsopposition „einfach“ und „zusammengesetzt“ als künstlich zu erweisen und die Option anderer Erklärungsmöglichkeiten in den Blick zu rücken. Die Grundgedanken dieser Bestimmung lauten – grob zusammengefasst – wie folgt: Die einzige tatsächlich einfache Entität, die sich denken lässt, ist Gott. Die menschliche Seele kann nicht einfach sein, da sie sich selbst nicht vollkommen verständlich ist. Wäre die Seele eine einfache Substanz, wie Leibniz es proklamiert, so müsste sie sich über ihr eigenes Wesen jederzeit vollständig gewiss sein. Creuz spricht von „Schranken“ in der menschlichen Seele,46 hinter denen sich ein transzendentes Wissen verberge, an das der Mensch für gewöhnlich nicht gelangen könne. Damit beruft er sich einerseits auf Leibniz, der die Seelen-Monaden in ihrer Erkenntnisfähigkeit als eingeschränkt erachtet, da sie zwar einerseits die gesamte Wahrheit in sich trügen, andererseits jedoch diese Wahrheit aufgrund ihrer von Gott gegebenen jeweiligen Natur nur in perspektivischer Begrenzung zu erkennen vermöchten.47 Andererseits versteht Creuz die Beschränktheit der Seele jedoch in einem viel konkreteren Sinne als Leibniz, da er von tatsächlichen inneren Schranken in der Seele ausgeht und damit die Idee eines Unbewussten mit vorbereitet. Diese Vorstellung von der Unzugänglichkeit der menschlichen Seele wird für die Selbstästhetik und den Prozess der fortschreitenden Erweiterung des Wissens der Seele über sich selbst im weiteren Verlauf des Versuchs entscheidend. Aus der Unzugänglichkeit der Seele ergibt sich für Creuz die paradoxe Feststellung, dass diese aus Teilen bestehen müsse, ohne dabei jedoch teilbar (das heißt zusammengesetzt und damit materiell) zu sein. Die Teile der Seele sind nach Creuz unselbstständig. Der Verlust eines Teiles hätte die Zerstörung der gesamten Seele zur Folge: Wollen wir unserer Einbildungskraft erlauben, sich dieses Mittelding unter einem selbstbeliebigen Bilde vorzustellen: so könnten wir es mit den sogenannten Sympathievögeln vergleichen, die, wie die Fabel sagt, nicht ohne einander leben, noch von einander abgesondert werden können, ohne daß der Tod des einen auch der Tod des andern sey.48
Da eine solche Teilung und damit Zerstörung der Seele aber nur durch Gott bewirkt werden könnte – ein Vorgang, den Creuz aufgrund der angenommenen Güte 45 46
47 48
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 41. Vgl. ebd., S. 62. Creuz steht damit in der Tradition der räumlichen Seelen-Metaphorik der barocken Lyrik, die Misia Sophia Doms untersucht hat. Die räumliche „Einteilung“ der Seele in unterschiedliche Bereiche führt nach Doms zu ihrer „psychischen Pluralisierung“. Vgl. Misia Sophia Doms: Die Viel-Einheit des Seelenraums in der deutschsprachigen barocken Lyrik. Berlin u. New York 2010, S. 211‒284. Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie. Französisch – Deutsch. Übers. u. hg. von Hartmut Hecht. Stuttgart 2012, bes. S. 33 u. 37. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 50.
3. Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele
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Gottes für ausgeschlossen hält49 – bleibt die Seele trotz ihrer Teile eine einfache Substanz und der Leib-Seele-Dualismus erhalten. Aufgrund der Annahme, dass die Seele aus Teilen besteht, verfügt sie nach Creuz auch über eine Ausdehnung und eine Form. Sie sei im menschlichen Körper ausgedehnt und mit diesem verbunden, ohne dass jedoch der Körper direkt auf die Seele wirke. Nach Creuz bringt die Seele alle Gedanken selbstständig aus sich hervor und richtet sich dabei nach dem Körper, ohne direkt von ihm beeinflusst zu werden. Es handelt sich um eine leichte Variation des Gedankens der „prästabilierten Harmonie“ bei Leibniz. Der wechselseitige Einfluss zwischen Seele und Körper sei daher nicht direkt, sondern vielmehr „idealischer“ Natur.50 Ihre Kommunikation ist als eine Art nicht unproblematisches Übersetzungsverhältnis angelegt. Daher lehnt Creuz die Vorstellung der Seele als „Spiegel“ vehement ab, da diese einen Determinismus enthält, gegen den er sich mit seiner Vorstellung der Seele als einer frei wirkenden Kraft richtet: Allein es bleibt doch allemal ein unendlich großer Unterscheid zwischen den Vorstellungen der Seele und des Spiegels. So lang als das Object in seinem Stande gegen den Spiegel bleibt; so lange stellt es derselbe vor. Die Seele aber, die diese Vorstellung aus sich selbst herfürbringt, bestimmt derselben Dauer nach ihrem Belieben. In dem Spiegel ist jedes ihm vorgehaltenen Objects Vorstellung nothwendig. In der Seele nicht. Ich meditire z. E. scharf, und sehr starr in das Licht; ich bin aber nichts weniger, als des Lichts bewußt, oder ich denke vielmehr an ganz andere Sachen, als an das Licht.51
Die charakteristische Eigenschaft der Seele bestehe also darin, Vorstellungen frei wählen und abwählen zu können, ohne dabei direkt von der Sinnestätigkeit abzuhängen. Die Spiegel-Metapher ist für Creuz somit untrennbar an die Vorstellung des Maschinen-Menschen geknüpft. Creuz verwendet den Begriff „Seele“ daher folgerichtig, um die Verbindung von Geist und Körper zu bezeichnen, und den Begriff „Geist“, wenn er das Denken ohne Verbindung zum Körper beschreibt. Seine konkrete Definition der Seele als „Mittelding“ lautet folgendermaßen: Ein Ding, welches aus Wirklichkeiten außer Wirklichkeiten, die sich aber ohne einander nicht vorstellen lassen; oder aus Dingen, die zwar außer einander, aber nicht ohne einander existiren koennen, und folglich jederzeit nothwendig zugleich exsistiren [sic!], und zusammengenommen nur ein Ding ausmachen, bestehet: ist ein aus Theilen […], aber nicht vor sich bestehenden Theilen bestehendes Ding […].52
Diese Definition stellt den Versuch dar, die erfahrene Mittelsituation des Menschen mithilfe der Sprache der ‚mathematischen‘ Philosophie auszudrücken. Sie bildet die Basis der folgenden psychologischen Reflexionen, die das „doppelte
49 50 51 52
Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 88f. Vgl. ebd., S. 100. Ebd., S. 92f. Ebd., S. 46.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
Denken“ der Seele – ihr sinnliches und ihr geistiges Denken – zueinander ins Verhältnis setzen.53 Der erste Teil des Versuchs, der in der Definition der Seele als „Mittelding“ gipfelt, verläuft somit weitgehend in den logischen Bahnen eines Traktats. Die Argumentation wird jedoch wiederholt von einem regelmäßig wiederkehrenden Zweifel und einer Reflexion über das Ungenügen der zur Verfügung stehenden philosophischen Sprache durchbrochen. Die streng formale Definition der Seele stellt bereits einen Versuch dar, den Dogmatismus der Opposition „einfach“ und „zusammengesetzt“ aufzubrechen und etwas Nicht-Vorstellbares sprachlich darstellbar zu machen. Blaise Pascal hat in seinen postum veröffentlichten Pensées de M. Pascal sur la religion, et sur quelques autres sujets (1669) in einer spannungsreichen Auseinandersetzung mit Montaigne dessen Selbstästhetik in einen radikaleren (von Descartes beeinflussten) Dualismus überführt. Geist und Körper, Spiritualität und Sinnlichkeit bilden hier zwei Pole, zwischen denen das Selbst des Menschen gefangen ist. Die rhetorische Grundstruktur stellen, wie Peter L. Oesterreich gezeigt hat, die Meditationen Descartes’ bereit. In diesem „Gründungsdokument moderner Subjektivität“ (eine Zuschreibung, die selbstverständlich ebenso auf Montaignes Essais zutrifft) habe Descartes in seinem Ausspruch „Cogito, ergo sum“ die „rhetorische Wahrheit menschlicher Subjektivität“ entdeckt.54 Durch seine rhetorische Interpretation des cogitare im Sinne von persuadere sei die Konstitution von Subjektivität zu einer textbasierten Selbsttechnik geworden, in welcher der Antagonismus von Zweifel und Selbstversicherung die Grundlage des im Text inszenierten Prozesses bilde.55 Dass Descartes die Existenz des cogito im Anschluss jedoch mit der universellen Gültigkeit abstrakter mathematischer Prinzipien belegt, betrachtet Oesterreich nicht als philosophischen Fortschritt, sondern als Inkonsequenz: Anders als bei der Wahrheit eines mathematischen Sachverhalts ist die Selbstgewißheit des Ego nämlich bedingt durch den fortgesetzten Vollzug seiner Selbstüberzeugung. Nur so lange dieser persuasive Vollzug tatsächlich gelingt, kann sich das Ego seines Seins sicher sein. Seine kontingente rhetorische Vollzugsevidenz bleibt auch weiterhin durch Abbruch und Abschwächung gefährdet und bedarf deshalb der steten Erneuerung, um sich zu erhalten. Was die cartesianische Subreption, die unter der Hand die rhetorische Vollzugsevidenz des coagitativen Ichs mit der Wahrheit mathematischer Sachverhalte vertauscht, verbergen will, ist somit, daß es für das eigene Selbst des Menschen keine apodiktische Gewißheit geben kann. Es ist diese Kontingenz rhetorischer Selbsterfindung, die Descartes gleich, nachdem er sie entdeckt hat, wieder vor sich verhüllt, weil sie seinem rationalistischen Verlangen nach absoluter Selbstgesichertheit menschlicher Subjektivität nicht entspricht. Dagegen ist mit und gegen Descartes an sei-
53 54
55
Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 118. Peter L. Oesterreich: Selbsterfindung. Zur rhetorischen Entstehung des Subjekts. In: Stefan Metzger u. Wolfgang Rapp (Hg.): Homo inveniens. Heuristik und Anthropologie am Modell der Rhetorik. Tübingen 2003, S. 45‒57, hier S. 54. Vgl. ebd.
3. Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele
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ner entscheidenden Entdeckung seiner zweiten Meditation festzuhalten, in der sich das Subjekt als Wesen rhetorischer Autopoiesis zu Gesicht bekommen hat.56
Pascal hingegen bringt diesen Umstand durch die dualistische Anlage seiner Pensées radikal zum Ausdruck. Hugo Friedrich hat gezeigt, dass Pascal vor allem das Paradox als rhetorische Grundstruktur verwende, um die Situation ungesicherter Subjektivität darzustellen. Er weist in seiner Textanalyse nach, dass die sprachliche Ordnung der Pensées durch einen systematischen „Zweier-Rhythmus“ bestimmt sei, der die spirituelle Identität des sprechenden Ichs als eine unendliche und stark beschleunigte Bewegung von einem Pol zum anderen inszeniere: Das Paradox ist also die Formel, mit welcher die Vereinigung zweier Unvereinbarkeiten an einem einzigen Subjekt oder Objekt als in der Gleichzeitigkeit verwirklicht gedacht und ausgedrückt wird. Seiner stilistischen Erscheinung nach, als zweirhythmige Antithese, wächst es aus den stilistischen Gepflogenheiten des 17. Jahrhunderts heraus; seiner inhaltlichen Anwendung nach ist es eine Einmaligkeit des auch noch in vieler anderen Hinsicht einmaligen Pascalschen Stiles. Es reicht tiefer als nur ein rhetorisches Paradoxon zu reichen vermag, weil es die Situation des Menschen und die Situationen der Menschen so ausdrückt, wie sie gesehen werden: als eine kranke Gleichzeitigkeit von Widersprüchen, die man nicht vereint erwartet hat, und weil es die Vorstellungen des Glaubens so wiedergibt, wie sie die unzulängliche menschliche Erkenntniskraft erleben muß: wiederum als Gleichzeitigkeit von Widersprüchen, die man nicht vereint erwartet hatte; aber in dieser notwendigen Anwendung auf den Glauben ist das Paradox der Bürge für das wirkliche Dasein der höheren Wahrheit.57
Der Eindruck von der mittleren Situation des Menschen als einer Ruhelage, den die Verwendung des Paradoxes im Text erzeugt, sei, wie Friedrich weiter darlegt, lediglich eine beabsichtigte Täuschung. Pascal vergleiche die Wirkung des Textes mit der sehr schnellen Bewegung eines Lichtes zwischen zwei Punkten, woraus für das Auge der Eindruck einer unbewegten Linie entstehe.58 Die antithetische Struktur des Versuchs, die Konzeption der Seele als „Mittelding“ und die Idee eines „doppelten Denkens“ entsprechen dem Paradox bei Pascal und bilden die theoretische Grundlage einer praktischen Ausrichtung des Selbst auf die Erfahrung von Transzendenz. Alois Maria Haas hat ausgeführt, dass seit dem Mittelalter das Paradox in der Mystik auf textueller Ebene den zentralen Bestandteil einer Technik der Transzendierung des eigenen Selbst darstellt: Mystische Erfahrung ist so die Reintegration des Menschen in seinen antelapsarischen Zustand in Gott oder/und die gnadenhaft gewährte Vorausnahme seiner befreiend-erlösenden Einheit mit Gott noch und schon im Pilgerstand. Einheitserfahrung aber ist denkbar nur im Moment ihrer Widersetzlichkeit gegen die Vielheit der irdischen Existenz; der Ausdruck beider zusammen muß notwendigerweise paradox ausfallen, da darin die Gleichzeitigkeit von
56 57 58
Oesterreich: Selbsterfindung, S. 55. Hugo Friedrich: Pascals Paradox. Das Sprachbild einer Denkform. In: Ders.: Romanische Literaturen I/II. Aufsätze I. Frankreich. Frankfurt a.M. 1972, S. 84‒138, hier S. 98f. Vgl. ebd., S. 109. Vgl. auch das Zitat aus dem vierten Teil der Gräber von Creuz am Beginn des Kapitels III.3, das diesen Vorgang in Versform inszeniert.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
Immanenz und Transzendenz, Kontingenz und Absolutheit, Vielem und Einem behauptet werden muß.59
Dass die Bestimmung der Seele als „Mittelding“ paradox erscheinen kann, bekennt Creuz selbst in seiner brieflichen Vorrede.60 Er gibt hier jedoch noch an, dass eine genaue und eindeutige Bestimmung der Begriffe „einfach“ und „zusammengesetzt“ erweisen könne, dass seine Definition nicht paradox sei, während er im Haupttext – wie bereits dargestellt – die Möglichkeit einer solchen eindeutigen Bestimmung wieder verwirft und damit letztlich das Paradox bestätigt. Die Irritation, welche die Konzeption der Monada Creuziana unter Zeitgenossen auslöst, spiegelt sich in einer Rezension des Versuchs in Gottscheds Rezensionszeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit aus dem Jahr 1754, die ausschließlich auf den ersten Teil des Textes Bezug nimmt. Creuz’ Definition wird in ihrer deduktiven Struktur als anschlussfähig an die zeitgenössische Metaphysik wahrgenommen, wobei den gelehrten Rezensenten die Funktion der Definition als Bestandteil einer Selbsttechnik offensichtlich völlig entgeht. Das Befremden über Creuz’ Ansatz wird hier in der satirischen Widerlegung seines Ansatzes, die den Hauptteil der Rezension ausmacht, mehr als deutlich: Endlich wollen wir nun, auch den von dem Hrn. Verfasser begehrten Widerspruch noch anzeigen. Seine Seele soll nicht einfach, aber auch nicht zusammen gesetzt seyn; sondern ein Mittelding, das weder eins, noch das andre ist. Dieß ist, unsers Erachtens ein Widerspruch. Wir erklären uns näher. Einfach und zusammengesetzt, sind einander contradictorie, d. i. widersprechend entgegen gesetzet: nicht anders, wie Eins und Viele oder mehrere. Wie nun? Wenn jemand käme, und sagete, er hätte Äpfel in der Tasche, und man sollte rathen, wie es damit beschaffen wäre: soviel aber wäre gewiß, daß er weder einen, noch viele hätte. Was würde man sagen? Entweder man würde denken, der Spaßvogel wolle spotten, und hätte irgend einen halben, oder anderthalb Äpfel in der Tasche: Oder man würde sagen, er hätte gar nichts. Und unsers Erachtens hätte man ganz recht. […] Uns kömt es also, aufs gelindeste davon zu reden, nicht anders vor, als daß dieses geistige Mittelding, das nicht einfach, nicht zusammen gesetzt ist, zu der Classe des eingebildeten Raums, und der vor der Welt Schöpfung eingebildeten Zeit, als ein dritter Mann gehöre; und sowohl als sie, sein Daseyn nur der Phantasie zu danken habe.61 59
60 61
Alois Maria Haas: Das mystische Paradox. In Roland Hagenbüchle u. Paul Geyer (Hg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens. Würzburg 2002, S. 273‒294, hier S. 283. Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 14. Anon.: Rezension zu „Friedr. Carl Casimirs, Freyherrn von Creuz, der Kön. pr. Akad. der Wiss. Mitgl. Versuch über die Seele. I. Theil. Frf. und Leipzig, in der Knoch und Eßlinger. Buchhandlung. 1753. In gr. 8“. In: Johann Christoph Gottsched (Hg.): Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Leipzig: Breitkopf 1754, S. 173‒181, hier S. 180f. Creuz hat auf diese Rezension eine 132 Seiten umfassende Antwort publiziert, die direkt an Gottsched adressiert ist. Er wiederholt darin im Wesentlichen die Argumente des ersten Teils des Versuchs. Da er eine Beschädigung seines Amtes durch die offensichtlich satirisch zugespitzte Rezension befürchtet, verlangt er von Gottsched, ähnliche Rezensionen zukünftig nicht mehr abzudrucken. Vgl. Friedrich Carl Casimir von Creuz: Sendschreiben an Seine Hochedelgebohrne den Herrn Professor Gottsched zu Leipzig abgelassen von dem Verfasser des Versuchs über die Seele. Frankfurt a.M.: Knoch u. Eßlinger 1754, S. 14.
3. Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele
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Ein größeres Verständnis der essayistischen Schreibweise des Versuchs verrät Lessing, wenn er den Essay 1754 in der Berlinischen Privilegierten Zeitung als Werk eines Autors ankündigt, der dem Publikum bereits als „philosophischer Dichter“ bekannt geworden sei, und der nun als „dichtender Philosoph“ in Erscheinung trete.62 Dieses Lob muss im Kontext von Lessings und Moses Mendelssohns Reflexionen über das Verhältnis von Metaphysik und Poesie betrachtet werden, die sich in ihrem 1755 publizierten Essay Pope ein Metaphysiker! niederschlagen. In kritischer Auseinandersetzung mit der Preisaufgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften, ein philosophische System aus Alexender Popes Vers „Whatever is, is RIGHT“ in seinem Essay on Man (1733/34) zu extrahieren, legen die beiden Autoren die Unvereinbarkeit einer Dichtung, auch einer Lehrdichtung, mit philosophischer Systembildung dar. Pope errichte in seinem Essay on Man kein System, sondern er wähle aus verschiedenen metaphysischen Gedanken die wirkungsvollsten zum Zweck der Rührung aus und bringe sie in seiner Dichtung zusammen.63 Wenn Lessing Creuz im Hinblick auf den Versuch als „dichtenden Philosophen“ bezeichnet, verweist er somit auf die (gelungene) rhetorische Funktionalität des Poetischen im Versuch zum Zweck der Rührung. Doch auch diese Zuschreibung trifft nur bedingt zu. Zwar dient das Poetische im Versuch zunächst tatsächlich rein funktional der Erkenntnis einer metaphysischen Wahrheit. Da diese Wahrheit jedoch nicht erreicht wird – und nicht erreicht werden soll – liegt der Selbsttechnik als antithetischer Bewegung von der logischen Demonstration zur poetischen Intuition und wieder zurück eine eigenständige und nicht-funktionale Ästhetik zugrunde.
3.2. Experimentelle Selbstästhetik durch „innere Erfahrung“ Ab § 36 widmet sich der Versuch einer Betrachtung der Seele „als denkende[m] Wesen“.64 Von diesem Punkt an löst sich die Form des Traktates vollständig auf: 62
63
64
Lessing schreibt: „Es ist hier nicht der Ort, die Schlüsse des berühmten Verfassers anzuführen; wir begnügen uns bloß dieses anscheinende Paradoxon [die Definition der Seele als „Mittelding“, N.H.] genennt zu haben, welches wenigstens die Mühe es überdacht zu haben, belohnen muß. Wir trauen es ohnedem Lesern von Geschmack zu, daß sie den Herrn Baron, welchen sie schon als einen philosophischen Dichter kennen, auch hier als einen dichtenden Philosophen kennen zu lernen, begierig sein werden.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Rezension zu: Friedrich Carl Casimirs, Freyherrn von Creuz, der Königl. Preußischen Akademie der Wissenschaften Mitglieds, Versuch über die Seele. Erster Theil. Frankfurt und Leipzig, in der Knoch- und Eßlingerischen Buchhandlung. 1753 in 8. In: Berlinische Privilegierte Zeitung, 14. Februar 1754 (20. Stück). In: Lessing. Werke in 12 Bänden, Bd. 3: 1754‒1757. Hg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung v. Wilfried Barner u. Jürgen Stenzel. Frankfurt a.M. 2003, S. 25.) Gotthold Ephraim Lessing u. Moses Mendelssohn: Pope ein Metaphysiker!. In: Gotthold Ephraim Lessing. Werke in 8 Bänden. Bd. 3: Frühe kritische Schriften. Hg. v. Herbert G. Göpfert in Zusammenarbeit mit Karl Eibl u.a. München 1972, S. 633‒670, hier S. 639. Lessing und Mendelssohn erkennen damit die interdiskursive Anlage von Popes Vers-Essay. Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 89.
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Poetische Zitate, Vergleiche und Metaphern ersetzen den logischen Beweis. Nach Creuz sind die inneren Empfindungen die „stärkste Stütze der Gewissheit“ und haben daher erkenntnistheoretisch ein größeres Gewicht als der Beweis.65 Anders als im Falle der Wahrnehmung könnten der inneren Empfindung keine dunklen oder undeutlichen Vorstellungen entspringen. Das „doppelte Denken“ der Seele setze sich zusammen aus einem geistigen und reinen, dessen sie sich nicht bewusst sei, und einem sinnlichen, unreinen, das durch ihre Verbindung mit dem Körper zustande komme. Als Beleg wird wiederum eine Selbstbeobachtung angeführt: Die Erfahrung lehret uns gleichwol, daß wir zu gleicher Zeit uns gegenwärtiger Dinge bewußt seyn, und an abwesende Dinge denken können. Sehe ich z. E. aus dem Fenster bey hellem Tage und mit offenen und gesunden Augen; so ist es nicht möglich, daß der in meinem Auge sich abschildernden Dinge meine Seele nicht bewußt seyn sollte; ich beschäfftige mich aber zu der Zeit etwa mit einem Urtheile, welches ich in einer Rechtssache abfassen soll, und scheine mir der in meinem Auge sich abmahlenden Dinge gar nicht bewußt zu seyn. Folget nun daraus, daß ich mir ihrer wirklich nicht bewußt wäre? Keineswegs.66
Analog zu dem bereits angeführten Beispiel, das die Meditation mit einer Kerze schildert, verweist hier der physische Vorgang gleichnishaft auf eine transzendente Dimension. Wie das intensive Nachdenken das Bewusstsein daran hindere, die Gegenstände, die sehend wahrgenommen werden, tatsächlich zu bemerken, so behinderten die täglichen Geschäfte den Geist daran, das metaphysische Wissen, zu dem er Zugang habe, bewusst werden zu lassen. Zugleich ist es nach Creuz für die Seele aufgrund ihrer Beschaffenheit jedoch unmöglich, sich dieses Wissens nicht bewusst zu sein. Während also im ersten Beispiel das Nicht-Bewusstwerden der sinnlichen Wahrnehmung (einer Kerze) als Beweis für die Unabhängigkeit der Seele vom Körper dient, verweist das Nicht-Bewusstwerden der LandschaftsWahrnehmung hier auf ein potentielles metaphysisches Wissen. Beide Wissensformen, sinnliches und spirituelles, würden der Seele angeboten, und sie könne wählen, mit welchem Wissen sie sich bewusst befasse und welches sie zurückweise. Wenn Creuz das Denken somit als bewusste Wahl von Vorstellungen begreift, zeigt sich die Verbindung seiner Selbstästhetik mit dem Neostoizismus. Einen bedeutenden Aspekt dieser freien Wahl bildet die Intention, naturgeschichtliche Erkenntnisse metaphysisch zu deuten.67 Als Beispiel fungieren hier die zeugungslose Fortpflanzung und die spontane Regenerationsfähigkeit des Polypen, dessen Vervielfältigung durch die Zertrennung eines Individuums Maupertuis in seiner Schrift Vénus physique (1746) beschreibt und die von Abraham
65 66 67
Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 113. Ebd., S. 118f. Creuzʼ Auseinandersetzung mit den naturgeschichtlichen Theorien der Aufklärung nimmt in seinen Lukrezischen Gedanken (1763/64) einen wesentlich größeren Raum ein. In diesem Lehrgedicht werden ein naturwissenschaftliches und ein christliches Weltbild einander in noch stärkerer Polarität gegenübergestellt.
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Trembley erstmals unter dem Mikroskop beobachtet wird.68 Ist dieses Phänomen bei La Mettrie der ausschlaggebende Beweis für die Materialität der Seele, so steht es bei Creuz unverbunden im Argumentationsgang. Außer einer Spekulation über die denkbaren metaphysischen Ursachen enthält er sich – aufgrund eingestandener mangelnder Sachkenntnis – eines Urteils: Allein man kann entweder behaupten, daß solche Thiere gar keine Seelen haben, welches ich mir doch nicht gerne wollte nachsagen lassen, oder daß so viel Seelen, als neue Polypen aus der Zerschneidung eines Polypen entstehen können, in ihnen verborgen lägen; oder aber daß solche sich sogleich mit einem jeden Stück eines zergliederten Polypen von außen vereinigten; oder auch endlich von Gott in solchem Augenblicke neu erschaffen würden: wobey doch niemals zu vergessen ist, daß die Zertheilung eines Polypen eine freywillige Handlung sey.69
Creuz stellt hier das stärkste Argument eines monistischen Materialismus in seinen Text, ohne auch nur den Versuch einer überzeugenden Deutung in seinem Sinne zu liefern. Die Unvoreingenommenheit des Vorgehens und die Vertagung des Urteils verweisen auf den prozessualen Charakter der Selbsttechnik. Creuz geht davon aus, dass alle Wissensbereiche durch noch unbekannte Prinzipien mit einander verbunden sind und daher zum Projekt der „metaphysischen Selbsterkenntnis“ beitragen können: Das dunkle Geisterreich heiter zu machen, und die dicke Nacht desselben glücklich zu zerstreuen; zu diesem großen Unternehmen wird ein neuer und noch verwegnerer Prometheus erfodert, als derjenige, welcher sich durch den Raub des himmlischen Feuers so berühmt als strafbar gemacht hat.70
Der Bezug auf Prometheus ist an Voltaires Gedicht De la nature de’l homme (1737) angelehnt und wird auch von La Mettrie im Homme Machine übernommen. Er verweist in beiden Fällen auf die tier- und menschenähnlichen Automaten Jacques de Vaucansons, der von Voltaire aufgrund seiner schöpferischen Fähigkeiten als „rival de Prométhée“ bezeichnet wird.71 Vaucansons Leistungen stehen für das Potential des Menschen, in der Zukunft künstliche Maschinen-Menschen herstellen zu können. Creuz verwendet diese Allegorie des Fortschritts jedoch, um damit die Aufgabe der „metaphysischen Selbsterkenntnis“ zu beschreiben. Während La Mettrie in der Wahl seiner medizinischen Beispiele den Einfluss des (krankhaft veränderten) Körpers auf die Vernunft und die Imagination betont, macht Creuz den Einfluss der Psyche auf den Körper stark: Sie [die Seele] gewöhnt ihrem Körper einen besondern Gang, besondere Gebehrden, und was dergleichen mehr ist, an. Sie kann die Verdauung hindern, und kann sie befördern; sie kann, 68 69 70 71
Vgl. Pierre-Louis Moreau de Maupertuis: Vénus physique suivi de la Lettre sur le progrès des sciences. Eingeleitet mit einem Essay v. Patrick Tort: L’Ordre du corps. Paris 1980, S. 107f. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 157. Ebd., S. 158. Vgl. Voltaire: Discours en vers sur l’homme. Sixième discours: De la nature de l’homme. In: Les Œuvres Completes de Voltaire. Bd. 17. Hg. v. William Henry Barber u. Ulla Kölving. Oxford 1991, S. 453‒530, hier S. 521.
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wenn sie will, den Körper krank, und kann ihn gesund machen. Ein auf einen Zettel geschriebener unverständlicher Character kann einem Kranken die Gesundheit wieder geben, wenn er sich einbildet, daß solcher Character ein Mittel zur Wiedererlangung seiner Gesundheit sey. Eine Arztney wird nach vieler verständigen Ärzte Aussage, so gut und kräftig sie an sich ist, allemal eine bessere Wirkung haben, wenn der Kranke zugleich ein Vertrauen in diese Arztney, so wie in seinen Arzt setzt.72
Von besonderem Interesse ist hier die doppelte Bedeutung des Wortes „Character“, das neben einem (als heilend angesehenden) Schriftzeichen eben auch die introspektive Niederschrift der eigenen – unbegreiflichen – Individualität bezeichnen kann und damit auf die Selbstästhetik verweist. Dass die Darstellung der eigenen Individualität und nicht die Entzifferung – und Überwindung – der eigenen Pathologie hier als Therapeutikum vorgestellt wird, macht den Übergang von einer therapeutischen Selbsthermeneutik zu einer anthropologischen Selbstästhetik besonders deutlich. Der „unverständliche“ Charakter zeichnet sich durch Einzigartigkeit aus und bildet damit ein Gegenmodell zu den Charaktertypen der Moralischen Wochenschriften, die klar bestimmbare Kennzeichen aufweisen.73 Die Verbindung von Naturgeschichte, Psychologie und Metaphysik bei Creuz hat eine physikotheologische Basis. Allerdings fällt im Vergleich des Versuchs mit den Oden und anderen Gedichten von 1750 auf, dass hier ein Bruch stattfindet. Während sich die Oden noch primär an der Bibel orientieren, bezieht sich der Versuch ausschließlich auf die Autoritäten der antiken griechisch-römischen Philosophie und Dichtung. Ein direktes Gotteslob wird aus der Beschreibung der Natur nicht mehr abgeleitet. Besonders auffällig ist, dass Creuz im gesamten Text kein einziges Bibelzitat verwendet oder in irgendeiner anderen Form die „Wahrheiten der Offenbarung“ zum Zielpunkt seiner Beweisführung macht, während Sara Stebbins auf die „absolute[ ] Autorität der Bibel in der physikotheologischen Praxis“ hingewiesen hat.74 Auch zeichnet sich Creuz’ Verwendung der Empirie nicht durch die – für die Physikotheologie übliche – Versenkung in die Detailbeobachtung aus. Erfahrungen werden vielmehr lediglich skizziert und haben gleichnishaften Charakter. Creuz geht davon aus, dass das menschliche Denken aufgrund der Verbindung der Seele mit dem Körper stets figürlich, das heißt bildhaft – und damit genuin poetisch – sei; erst mit dem Tod könne sich die Seele von diesem figürlichen Denken lösen und Zugang zu deutlicher, rein geistiger Erkenntnis erlangen. Die Phantasie sei damit zugleich ein Symptom der Eingeschränktheit des menschlichen Geistes in seiner Verbindung mit dem Körper und als metaphysisches Erkenntnisvermögen das wichtigste Mittel zur Überwindung dieser Einschränkung. Sie bringe die Lei72 73 74
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 206. Vgl. zu dieser Neubestimmung des Charakters Jauss: Vom plurale tantum zum singulare tantum, S. 250. Sara Stebbins: Maxima in minimis. Zum Empirie- und Autoritätsverständnis in der physikotheologischen Literatur der Frühaufklärung. Frankfurt a.M. 1980, S. 101.
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denschaften hervor, die ihren Ursprung nicht im Körper, sondern in der Seele hätten und den Menschen von der bloß rational denkenden Maschine abgrenzten: „Die Einbildungskraft gleicht ungebauten Fluren, worauf wilde Blumen wachsen. Sie ist die Mutter unserer Leidenschaften. Sie findet ihr Vergnügen in der Dunkelheit, den Nachtvögeln gleich, die das Licht scheuen.“75 Creuz gilt das figürliche Denken – das sprachliche Denken überhaupt – als eine Übersetzung des unbewussten geistigen Denkens in das bewusste sinnliche. Beim Dichten, das er mit dem „wachend Träumen“ vergleicht, und bei der nächtlichen Meditation könne sich die Seele vom Körper lösen und Zugang zu tieferen Erkenntnissen erlangen. Durch die Eigenschaft, sich diese bewusst machen zu wollen, komme es zum Einfall: Unser Geist gleichet im tiefsinnigen Denken einem Meer, welches in eine heftige Bewegung geräth, ohne solcher Bewegung bewußt zu seyn, und ohne zu wissen, warum; auf diese stürmische Bewegung folgt eine tiefe Stille, und eine heitere Sonne steigt aus diesem empörten Meer mit einer gelassenen Majestät herfür. Woher kommt diese Dunkelheit in unserer Seele, und was entzündet in ihr so plötzlich ein Licht? Sie denkt außer der Gemeinschaft mit ihrem Körper, und sucht in der Gemeinschaft mit ihm zu wirken. Dieses ist der Grund des Wunderbaren, das wir in ihr wahrnehmen.76
Das zentrale Stilmittel innerhalb der experimentellen Selbstästhetik, das der „inneren Erfahrung“ als Antizipation von Transzendenz zum Ausdruck verhelfen soll, ist der Vergleich beziehungsweise das Simile. Metaphysische Erkenntnisse können nur unscharf im Modus der Analogie umrissen werden. Geistiges wird durch Körperliches zum Ausdruck gebracht, die unbelebte Materie wird belebt. In der Betonung dieser schöpferischen Kraft der Seele stimmen Creuz und La Mettrie überein. Beide gehen davon aus, dass die Selbsterkenntnis ein Produkt der Imagination ist, denn beide setzen letztlich die Seele mit der Imagination gleich. Creuz betrachtet die Produkte der Naturgeschichte und der Dichtung gleichermaßen als Seelenausdruck, La Mettrie identifiziert Seele und Imagination explizit im Homme Machine: „Je me sers toujours du mot imaginer, parce que je crois que tout s’imagine, et que toutes les parties de l’Ame peuvent être justement réduites à la seule imagination, qui les forme toutes [...].“77 Bei beiden Essayisten verkörpert die Imagination das Wunderbare (Creuz) beziehungsweise das Phantastische (La Mettrie) im menschlichen Geist;78 ein Vermögen, das den Menschen – auch bei La Mettrie – letztlich über den Status einer bloßen Maschine im Sinne eines mechanisch agierenden Automaten erhebt. So schreibt La Mettrie über die Imagination: Mais toujours est-il vrai que l’imagination seule aperçoit; que c’est elle qui se représente tous les objets, avec les mots et les figures qui les caractérisent; et qu’ainsi c’est elle encore une fois 75 76 77 78
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 126. Ebd., S. 139. La Mettrie: Homme Machine, S. 58. Genau heißt es über die Imagination, sie sei „cette partie fantastique du cerveau, dont la nature nous est aussi inconnue, que sa manière d’agir […]“. (La Mettrie: Homme Machine, S. 60.)
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qui est l’Ame, puisqu’elle en fait tous les Rôles. Par elle, par son pinceau flateur, le froid sqélette de la Raison prend des chairs vives et vermeilles; par elle les Sciences fleurissent, les Arts s’embellissent, les Bois parlent, les Echos soupirent, les Rochers pleurent, le Marbre respire, tout prend vie parmi les corps inanimés. C’est elle encore qui ajoute à la tendresse d’un cœur amoureux, le piquant attrait de la volupté.79
Creuz’ Bestreben, die Naturgeschichte und die Poesie über einen irrationalen Imaginationsbegriff in die Metaphysik zu integrieren, weist ihn einerseits als Aufklärungs-Kritiker aus, andererseits tragen seine profunde Kenntnis zeitgenössischer Debatten aus dem Kontext der Aufklärung und die Besprechung entsprechender Schriften – auch und gerade der Schrift La Mettries – zur Verbreitung aufklärerischen Wissens bei. Die Offenheit der Schlussfolgerungen, die ein zentraler Bestandteil von Creuz’ Projekt der metaphysischen Selbsterkenntnis sind, zeigt, dass sein Text eine Situation beschreibt, in der noch nicht entschieden ist, ob das neue Wissen ein primär metaphysisches oder naturwissenschaftlich-säkulares ist. Creuz’ Selbstästhetik beruht maßgeblich auf introspektiver Selbstbeobachtung und psychologischer Fremdbeobachtung. Sein Versuch ist daher in der Forschungsliteratur durchgängig als frühes Beispiel einer empirischen Psychologie betrachtet worden. Horst Gundlach hat sich in einem Aufsatz zum Verhältnis des Pietismus zur Psychologie mit der Frage auseinandergesetzt, ob pietistische Vorstellungen einen Einfluss auf die neu entstehende Wissenschaft Psychologie haben. In diesem Zusammenhang kommt er auch auf Robert Sommers Auseinandersetzung mit Creuz’ Versuch in dessen Grundzügen einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik (1892) zu sprechen: Sommer erkennt bei Creuz pietistische Elemente, vor allem die Betonung der „inneren Erfahrung“ als grundlegendes Prinzip der Erkenntnis wird hier genannt.80 Gundlach betrachtet den Versuch wie Sommer als pietistisch geprägt, nicht jedoch als psychologisch. Creuz verlasse sich in seinen Ausführungen „eher auf die Offenbarung als auf die Erfahrung, sei sie innere, sei sie äußere“.81 Diese These ist nicht zu halten, da der Bibel oder zeitgenössischen spirituellen Texten in der Argumentation des Versuchs keine benennbare Rolle zukommt. Allein die Existenz Gottes wird als nicht zu beweisende und unhintergehbare Wahrheit gesetzt. Creuz’ wichtigste Gewährsmänner sind im philosophischen Bereich Cicero und Seneca. Die im bereits zitierten ersten Paragraphen genannten drei Texte, die für Creuz ebenfalls paradigmatischen Charakter 79 80
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La Mettrie: Homme Machine, S. 60. Robert Sommer: Grundzüge einer Geschichte der deutschen Psychologie und Aesthetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller. Hildesheim u. New York 1975 [ND der Ausg. Würzburg 1892]. Sommer bemerkt sowohl die Prozesshaftigkeit des Versuchs als auch die strukturierende Bedeutung des essayistischen Ichs: „Die meisten seiner verstreuten psychologischen Bemerkungen gruppieren sich zwanglos um einen Punkt, um die mit Innigkeit gemachte Selbstwahrnehmung des Geistes.“ (Ebd., S. 60.) Horst Gundlach: Psychologie. In: Martin Brecht u.a. (Hg.): Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehrmann. Göttingen 2004, S. 309‒331, hier S. 316.
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besitzen, sollen mit ihrer künstlerischen Qualität als intuitiver Beweis der Göttlichkeit und Unsterblichkeit der menschlichen Seele fungieren: Homers „ewige Odyssee“, Leibniz’ „prächtige Theodizee“, und Vergils „unsterbliche Aeneis“.82 Außerdem unterwirft Creuz im Versuch und in späteren Werken wiederholt die besondere Metaphorik des Pietismus, die er als unvernünftig kritisiert, der Satire,83 sodass er trotz seiner Betonung der spirituellen Bedeutung des „Herzens“ und der „inneren Erfahrung“ nur bedingt als Pietist bezeichnet werden kann. Jedenfalls ist es sinnvoll, hinsichtlich einer Analyse der essayistischen Selbsttechnik bei Creuz den Zusammenhang des Versuchs mit La Mettries Dialektik, den Pensées von Pascal und letztlich Montaignes Essais stark zu machen, da hier – wie dargestellt – sehr konkrete Parallelen aufgezeigt werden können.84
3.3. Geglückte Aufklärung: Ironie versus Melancholie Dem ersten Teil des Versuchs folgen drei kürzere Essays mit den Titeln Einige Gedanken von der metaphysischen Selbsterkenntnis, Die Beantwortung einiger Einwürfe der Materialisten sowie Vermischte Gedanken von der Seele. Im ersten Essay gibt Creuz eine konkrete Beschreibung seiner Selbstästhetik und autorisiert sie, indem er sie durch eine mythisierende Erzählung der Wissensgeschichte des Menschen von Sokrates herleitet. Geschildert wird, wie der Mensch der Antike, angeregt durch die Faszination, die von natürlichen Phänomenen ausgehe, die Naturgeschichte als Wissenschaft hervorbringe. Die Erfindung der Sittenlehre durch Sokrates markiert hier einen entscheidenden erkenntnistheoretischen und ethischen Fortschritt.85 Die metaphysische Selbsterkenntnis entspricht also nach Creuz einer 82 83
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Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 1. Vgl. ebd., S. 155. Hier polemisiert Creuz gegen Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Konzeption der Seelen als weibliche „Seelinnen“. Der dunkle, undeutliche Ausdruck bedroht für Creuz die metaphysische Selbsterkenntnis, die sich in gleichem Maße auf der Vernunft und auf der poetischen Intuition gründen solle. Eine weitere Aburteilung pietistischer Vorstellungen und Ausdrucksweisen aus der Position eines aufgeklärten Vernunftglaubens findet sich in Creuzʼ Schrift Die Reliquien unter moralischer Quarantäne (1767). Es handelt sich um eine Polemik gegen die Fragmenten-Sammlung Die Reliquien (1766) des Pietisten Friedrich Carl Freiherr von Moser. Dass Creuzʼ Versuch mit der pietistischen Autobiographie und deren Konzentration auf die Darstellung des Bekehrungserlebnisses keine Übereinstimmungen aufweist, zeigt ein Vergleich mit der Analyse des Lebenslaufs August Hermann Franckes durch Anne Lagny. Allerdings nimmt sie in ihre Gegenüberstellung der Selbstdarstellungen in Pietismus, Quietismus und Jansenismus Pascals Pensées nicht auf, sondern untersucht Pascals Mémorial. Vgl. Anne Lagny: Francke, Madame Guyon, Pascal: drei Arten der ‚écriture du moi‘. In: Hartmut Lehmann, Heinz Schilling u. Hans-Jürgen Schrader (Hg.): Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Göttingen 2002, S. 119‒135. An dieser Stelle heißt es: „Endlich fand sich ein Weiser, welcher dasjenige, was er gelehret, mit dem Tode versiegelt und bekräftiget, der in so vielen Wochenschriften, und in so wenigen Handlungen der Menschen wieder lebende Socrat.“ (Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 169.) Hier wird deutlich, dass die Selbstästhetik bei Creuz auf dem durch die Moralischen Wochen-
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höheren Entwicklungsstufe des Menschen als der mechanische Materialismus. Creuz bekundet seine Faszination für die empirische Psychologie, verweist jedoch darauf, dass diese ohne eine vorgängige metaphysische Selbsterkenntnis dem Menschen mehr schädlich als nützlich sei: Die Widersprüchlichkeit des menschlichen Wesens, ausschließlich empirisch betrachtet, koste den Menschen seine innere Ruhe. Creuz stellt diese Gefahr literarisch dar, indem er den Prozess von Zweifel und Selbstbestärkung, der den gesamten Versuch durchzieht, an dieser Stelle durch Wiedergabe seines eigenen Gemütszustandes verdichtet zum Ausdruck bringt. Die Passage soll daher ausführlich zitiert werden. Der Umschlag von Ruhe in Zweifel findet zweimal hintereinander statt (hier jeweils verdeutlicht durch eine von der Verf. eingefügte vertikale Linie): Je genauer wir unsere Kräfte erforschen; je tiefer wir in den Ocean dringen, aus welchem unsere Gedanken ströhmen; desto deutlicher wird uns alles, was nur ein Vorwurf unserer Erkenntniß ist, und desto leichter wird es uns seyn, die Gränzen der Wissenschaften zu erweitern. Ich prophezeihe neue Wissenschaften, wie Seneca neue Länder. | Doch wo bin ich? Was wird mich aus dieser Verwirrung retten, als das gewöhnliche: Wo gerathe ich hin? Ein Gedanke drängt den andern; ich stehe an dem Rande des Unendlichen: In dem Unendlichen, wo Leibniz sich verloren, Wird man da seine Schüler sehn? | Aber so groß das Vergnügen ist, sich in sich selbst zu verlieren: so gefährlich ist der Versuch, den man damit anstellet. O nauis, referent in mare te noui Fluctus. O quid agis? Fortiter occupa Portum. HORAT. Carm. L. I. Od. XIV. Eine ruhige, das ist, eine seltne Stunde ist mir erschienen. Meine Seele gleichet einem reinen und stillen Bache, wie Arethusa war, ehe Doris ihr bitteres Wasser mit dem ihrigen vermischte. | Allein dieser stille Bach empört sich plötzlich gleich einem aufgeregten Meere. Was noch den Augenblick in uns ein stiller Gedanke war, ist den folgenden eine Leidenschaft. Wer wird uns die Natur der Leidenschaften erklären, und die Widersprüche in uns, wovon so viele Dichter, Redner und Weltweisen sprechen, vereinigen; kurz, wer wird eine vollkommene Sittenlehre liefern können, ohne eine metaphysische Selbsterkenntnis voraus zu setzen?86
Der Umschlag kündigt sich hier jeweils durch die – einen Gegensatz einleitenden – Konjunktionen doch, aber, allein an. Dieser rhythmische Wechsel von der Herstellung einer metaphysischen Wahrheit und der daraus folgenden seelischen Stärkung hin zur Zerstörung dieser Wahrheit durch einen hereinbrechenden skeptischen
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schriften etablierten moralistischen Interdiskurs basiert, diesen jedoch durch die dezidiert anthropologische Fragestellung neu bestimmt. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 178f. Das Horaz-Zitat lautet in der Übersetzung: „O Schiff, zurück werden reißen ins Meer dich neue / Fluten – o was tust du? Entschlossen strebe an / den Hafen!“ (Horaz: Oden I, XIV. In: Quintus Horatius Flaccus. Sämtliche Gedichte. Lateinisch/Deutsch. Mit den Holzschnitten d. Straßburger Ausgabe v. 1798. Mit einem Nachwort hg. v. Bernhard Kytzler. Stuttgart 1992, S. 36f.)
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Zweifel, der wiederum durch neue Beweisführungen bezwungen werden muss, strukturiert den gesamten Versuch. Das essayistische Ich benennt den experimentellen Charakter der Selbstästhetik an dieser Stelle explizit, wenn es von einem „Versuch“ spricht, den es mit dem eigenen Selbstverlust anstellt. Der Selbstverlust erscheint zugleich als lustvoll und als Gefahr. Diese Selbstaffektation mithilfe zweier widerstreitender philosophischer Positionen, die sich im Text durch das immer wieder selbst überbietende und nivellierende rhetorische Pathos abbildet, stellt die Grundlage und den Antrieb der experimentellen Selbstästhetik dar. Hier zeigt sich auch, dass Creuz’ Selbsttechnik nicht auf eine „unio mystica“ ausgerichtet ist, sondern den möglichen Selbstverlust lediglich als Motor der Erkenntnis ansieht.87 Die Selbsttechnik zielt vielmehr auf eine ästhetische Selbstbildung, indem das reflektierende Ich durch Introspektion und metaphysische Deutung wissenschaftlicher Erkenntnisse Zugang zu einem spirituellen Wissen erhält, das es unbewusst bereits besitzt. La Mettries Skeptizismus und seiner epikureischen Bejahung der sinnlichen Welt entspricht in der Darstellung der Widersprüchlichkeit des menschlichen Wesens als zentrales Stilmittel die Ironie. Für Creuz hingegen sind Körper und Seele nicht mit einander versöhnbar. Die Melancholie ist als existentielles Gefühl Ausdruck der Einsicht in das widersprüchliche Wesen des Menschen, und die starke Betonung der Imagination verweist auf das Bestreben der Seele, das Körperliche zu überwinden. Creuz und La Mettrie stimmen jedoch darin überein, dass sie zum Ziele ihrer eigenen Aufklärung und der Aufklärung ihrer Leser ein möglichst authentisches Zeugnis ihrer eigenen Gedanken- und Gefühlsprozesse ablegen. So wie die Ironie in der Subjektform La Mettries Ausdruck einer geglückten Aufklärung ist, ist es bei Creuz die Melancholie, da diese beiden Grundhaltungen das jeweils durch die Selbstästhetik erworbene Wissen adäquat zum Ausdruck bringen.88 Jauch hat dargestellt, wie La Mettrie seine eigene Position nicht nur innerhalb des Homme Machine, sondern auch in der Reihe seines Gesamtwerkes immer wieder ironisch wiederruft und ad absurdum führt. Sehr aufschlussreich ist hier auch die Folgeschrift L’Homme plus que machine (1748), für welche die Autorschaft la Mettries jedoch nicht gesichert ist. In diesem Text werden ein christlicher LeibSeele-Dualismus und ein atheistischer monistischer Materialismus noch expliziter 87
88
Der gavierende Unterschied zur mystischen Selbstaufgabe wird beispielsweise durch einen Vergleich mit der Mystik Meister Eckharts deutlich. Vgl. dazu Alois M. Haas: … Das Persönliche und Eigene verleugnen. Mystische vernichtigkeit und verworffenheit sein selbs im Geiste Meister Eckharts. In: Manfred Frank u. Anselm Haverkamp (Hg.): Individualität. München 1988, S. 106‒122. Eine solche Auf- und Umwertung der Melancholie unter anthropologischen Vorzeichen weist Hans-Jürgen Schings für das späte 18. Jahrhundert in Karl Philipp Moritzʼ Andreas Hartknopf (1785) nach und interpretiert sie als eine aufgeklärte „Form der humanen Autonomie“, welche die romantische Subjektform präfiguriere. Vgl. Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 254f.
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dialogisch gegenübergestellt, als dies im Homme Machine der Fall ist. Die argumentativen und stilistischen Parallelen zum Versuch über die Seele sind erstaunlich. Creuz hat La Mettries experimentelle Selbstästhetik nachvollzogen und auf sein eigenes Werk appliziert. La Mettries Selbstironisierung ist ihm jedoch offenbar nicht verständlich. Dies wird besonders in dem Text deutlich, der sich direkt auf La Mettrie bezieht: in der Beantwortung einiger Einwürfe der Materialisten. Hier führt Creuz zunächst Autoritäten an, welche die Immaterialität der Seele vertreten haben, um dann polemisch auf La Mettrie zu sprechen zu kommen: Es schiene sich ein plötzlicher Sturm zu erheben, als la Mettrie, die Fackel in der Hand, im Begriffe war, die Welt unter dem Vorwande, sie zu erleuchten, in Brand zu stecken. Er wollte, wie ein anderer Hercul, die Welt von Ungeheuern befreyen; allein verschlingt auch wohl ein Ungeheuer das andere?89
Die Aufklärungs-Kritik, die hier deutlich wird, richtet sich gegen eine – nach Creuz’ Vorstellung – unethisch werdende, zu weit getriebene Vernunft. Dass La Mettrie mit seinem Homme Machine ebenfalls die mechanische Vernunft – vor allem am Beispiel der Praxis der Vivisektion von Tieren durch Albrecht von Haller – angreift,90 erschließt sich Creuz offensichtlich nicht. Er stellt den durchaus wahrgenommenen ethischen Anspruch der Philosophie La Mettries in Frage. Die Krise, in die Creuz durch die Lektüre La Mettries gestürzt wird und die zu einer stärkeren Präsenz materialistischer Vorstellungen im Versuch führt als Creuz dies zugeben möchte (oder im Hinblick auf seine Reputation auch zugeben kann), wendet er jedoch produktiv und weist La Mettrie in der philosophiegeschichtlichen Entwicklung der Aufklärung eine katalysatorische Bedeutung zu: „Es gleichet also der beruffene L.M. einem Feuer, welches die schönsten Saaten wegfrißt, und sie zu Aschen macht, dadurch aber das Feld nur besser dünget, und zu Herfürbringung einer reichern Erndte geschickter macht.“91 Der eigentliche Punkt, um den es Creuz in seiner Auseinandersetzung mit den Ideen La Mettries geht, ist jedoch nicht die Frage, ob die Seele nun tatsächlich materiell oder immateriell ist. Ihn interessieren die ethischen Konsequenzen, die sich aus der Wahl eines Menschenbildes ergeben: Der Materialist weiß nichts gründliches wider die richtige Folge der ungezwungenen Vernunftschlüsse einzuwenden, woraus der Spiritualist die Unmöglichkeit einer denkenden Materie darthut. Er will allein die Erfahrung entgegen setzen, und diese soll den Traum in Erfüllung bringen, den er von der Seele gehabt, daß sie ein wesentlicher Theil seines Körpers, ein Geflechte der zartesten Fibern, das feinste Mark in dem Gehirne, und, wer weiß, was noch mehr sey. Er zergliedert in dieser Hoffnung seinen Körper mit größtem Fleiß, und da, wo er die Seele sucht, findet er nichts, wie la Metrie sagt, als Blut, Nerven, Gehirn. In diesem Schlamm besieht er sein Bildniß. Der Spiritualist hingegen zieht ganz andere Schlüsse aus den nämlichen 89 90 91
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 186f. Vgl. hierzu Jauch: Jenseits der Maschine, S.266‒278. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 187.
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Erfahrungen, und hat das vor sich, daß er mit Vernunftschlüssen die Unmöglichkeit einer denkenden Materie dargethan, da kein Materialist sich noch unterstanden hat, nur auf wahrscheinliche Weise die Möglichkeit des Gegentheils darzuthun, oder, wie eine Materie denken könne, nur einigermaßen begreiflich zu machen. Der Spiritualist besieht sich also in einem viel reineren Spiegel; in einem stillen, klaren und himmelheiteren Wasser. Er sieht also auch eine ganz andere und schönere Gestalt der Seele [...].92
Die Beschreibung des Wesens der Seele, die ontologisch nicht erfolgen kann, wird also als eine Konstruktionsleistung mit Folgen für das Selbstverständnis und die ethische Grundhaltung dargestellt. Creuz gesteht mehrfach ein, dass ein Materialist aus dem Erfahrungsmaterial, das er selbst verwendet, gegensätzliche Schlüsse ziehen könne und dass seine Beweisführungen einen Materialisten nicht überzeugen. Die Ausgangsposition der Reflexionen – sei es die materialistische oder die spiritualistische oder eine andere – ist für beide Essayisten letztlich ein zufälliger Faktor. La Mettrie und Creuz präsentieren in ihren Texten gleichermaßen eine Darstellung der Tätigkeit der Seele, die sie als dialektischen Prozess auffassen: Bei La Mettrie kommt dies in der Selbstironie zum Ausdruck, bei Creuz im Spiel von Zweifel erregender Demonstration und poetischem Korrektiv. Creuz erörtert die Bedeutung des dialektischen Verfahrens zu einem späteren Zeitpunkt auch in einem seiner poetologischen Briefe, der in den Oden und anderen Gedichten von 1769 abgedruckt ist. Der Brief vom 6. Juni 1768 preist die Vorteile der dialektischen „französischen“ gegenüber der „deutschen“ logischen Schreibweise: Mit der Freiheit, zu denken, hat es bei uns ein noch schlechteres Ansehen. Die Religion habe ich hier ganz und gar nicht im Gesichte: sondern die Freiheit, die Gegenstände auf mehr als einer Seite zu betrachten. Dieses ist den Franzosen natürlich, und giebt ihren Schriften jene grosse Annehmlichkeit. [...] Es ist nemlich der Geschmak an dem Schulsystematischen, welcher unsern Schriften jene Annehmlichkeiten raubet. Es wird nur eine Seite genommen, und dann unser Hals unbeweglich gemacht, daß der Kopf sich nicht herum drehen, und das Auge nur diese Seite sehen kann. Unter dem Vorwande, die Begriffe genau zu bestimmen, definiret man so barbarisch, daß man über Nacht nicht sicher ist, ob man beim Erwachen noch ein Mensch, oder ein Thier sey. Ich verachte die Schulgelehrsamkeit gewis nicht, und so wenig, daß ich vielmehr bedaure, daß auch hierinnen Teutschland nicht mehr ist, was es war, Allein ohne alle Schulgelehrsamkeit können Personen vom Stande die wichtigsten Anmerkungen machen, und würden sich nicht selten herunter lassen, das Publicum von viel wichtigern Dingen, als wovon insgemein geschrieben wird, zu unterrichten, wenn sie die Pedanten nicht scheuten. Es könnte sich eine Communication zwischen der grossen und gelehrten Welt glücklich eröffnen [...].93
Der erste Teil des Versuchs schließt mit der Fragmenten-Sammlung Vermischte Gedanken von der Seele, in der unter anderem der Traum als Zustand erweiterter Erkenntnisfähigkeit (der „wahrsagenden Kraft der Seele“) vorgestellt wird.94 Diesen Gedanken greift der zweite Teil des Versuchs auf und überschreitet den Be92 93 94
Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 199f. Creuz: Oden und andere Gedichte, Bd. 1, S. 270f. Vgl. Creuz: Versuch über die Seele 1, S. 240f.
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reich empirischer Erkenntnisse vollständig, da Creuz sich hier mit dem Zustand der Seele nach dem Tod beschäftigt. Er verwendet kein einziges philosophisches Zitat mehr, sondern bezieht stattdessen in großem Umfang Gedichtausschnitte in die Argumentationsführung mit ein. Aufgrund der spekulativen Thematik, die sich nun ausschließlich auf die innere Empfindung stützt, verzichtet Creuz vollständig auf Elemente der mathematisch-demonstrativen Lehrart. Der nur 144 Seiten umfassende Band ist in 111 Paragraphen untergliedert, die zu Kapiteln zusammengefasst sind: Von dem Zustande der Seele in diesem Leben, und dessen Beziehung auf einen künftigen Zustand, Betrachtungen über den Tod, Von der Unvernichtbarkeit unsrer Seele, Von dem Zustande der Seele nach dem Tode, Von dem wesentlichen Zustande der Seele nach dem Tode, Von dem zufälligen Zustande der Seele nach dem Tode, Von den Gespenstern. Bis auf die Orientierung am chronologischen Ablauf (vor und nach dem Tod) und die Unterteilung des Zustandes der Seele nach dem Tod in einen wesentlichen und einen zufälligen findet sich im zweiten Teil des Versuchs kein benennbares Ordnungsmuster der Gedanken mehr. Die zumeist assoziative Reflexion setzt vielmehr mit jedem Paragraphen neu an: Eine These, Frage oder eine dialogische Leseransprache strukturieren hier den Text. Creuz ist sich des nunmehr rein subjektiven Fundaments seiner Thesen bewusst und bezieht dieses selbstbewusst in das Programm der metaphysischen Selbsterkenntnis mit ein: Ich werde aber vornehmlich mich bemühen, zu zeigen, daß aus ganz richtigen metaphysischen Gründen die Unvernichtbarkeit der Seele folge. Ich werde mich jedoch damit nicht begnügen; ich werde auch zu zeigen suchen, wie Geister mit Geistern eine Gemeinschaft haben können. Wo mich, wann ich überzeugen will, die Kräfte verlassen; da werde ich, und sollte ich auch für einen Rebellen in dem Reiche der Gelahrtheit gehalten werden, kühne Vermuthungen wagen.95
Als Beleg für die Unsterblichkeit der Seele führt Creuz die „ungemessene[n] Triebe“ des Menschen an, die auf seine höhere Bestimmung verwiesen, sowie erneut die „Widersprüche in uns“, die den Menschen aus der geordneten mechanischen Welt heraushöben.96 Auch der heldenhafte Selbstmord aus tugendhaften Motiven wird als ein Anzeichen der höheren Bestimmung der Seele gewertet.97 Creuz räumt die Möglichkeit ein, dass die Seele nach ihrem Tode einen neuen (nicht-irdischen) Leib erhalten könne, dass Geister ihre Persönlichkeit behielten und es eine eigene „Geistersprache“ geben könne. Nicht zufällig schließt der vierte Gesang der Gräber den Versuch über die Seele ab. Von den sechs Lehrgedichten, aus denen die Gräber insgesamt bestehen, behandelt das vierte ebenfalls die metaphysische Selbsterkenntnis und deckt das gesamte Themenspektrum des Versuchs ab. Die dialektische Struktur und die Verwendung eines experimentellen – hier lyrischen – Ichs setzen sich in diesem Text 95 96 97
Creuz: Versuch über die Seele 2,Vorbericht (o.S.). Vgl. ebd., S. 11 und 23. Vgl. ebd., S. 42.
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fort und verweisen auf den starken Berührungspunkt von Essayistik und Lehrgedicht in der Aufklärung. Die Melancholie der Gräber weist eine gewisse Nähe zu Edward Youngs Night-Thoughts auf. Das eigentliche literarische Vorbild für Creuz sind jedoch Albrecht von Hallers metaphysische Gedichte, und hier vor allem die Oden Gedanken über Vernunft, Aberglauben und Unglauben (1729) sowie Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit (1736).98 Die erste, in Alexandrinern verfasste Ode proklamiert ebenfalls das Ideal stoischer Ataraxie und den Vorrang einer metaphysischen Selbsterkenntnis vor dem sinnlichen Glück und der wissenschaftlichen Betätigung. Während sich hier einige Gedanken finden, die Creuz – teilweise nahezu wortwörtlich – in die Gräber übernimmt, ist das Unvollkommene Gedicht über die Ewigkeit für die Selbsttechnik vorbildhaft. Hier schildert Haller drastisch seine eigene spirituelle Krise und verwendet dabei in freien Madrigalversen durchgängig die Ich-Form. In diesem kurzen, nur 125 Verse umfassenden Text findet sich die gleiche Koordinierung von Schreiben und psychischem Prozess oder eben die literarische Simulation dieser Koordinierung, die auch die Gräber und den Versuch kennzeichnet. Dies wird besonders deutlich am Ende der Ode, an dem der Text sein eigenes abruptes Abbrechen reflektiert: Mein Ekel, der sich mehrt, verstellt den Reiz des Lichts Und streuet auf die Welt den hoffnungslosen Schatten; Ich fühle meinen Geist in jeder Zeil ermatten Und keinen Trieb, als nach der Ruh!99
In einem Kommentar zum Titel der Ode merkt Haller selbst an, dass er sich nicht im Stande fühle, die Ode zu beenden. Creuz hat das konfessionelle Prinzip der Hallerschen Ode für seine Gräber adaptiert und noch gesteigert: Die Verse sind kürzer, die Strophen jedoch länger, sodass der Text die schnelle Folge abwechselnder Gedanken und Gefühle nachzeichnet und der Leser in den Sog der Gedanken gezogen wird. Die Sprache ist mit direkten dialogischen Aufforderungen an den Leser, Fragen und Interjektionen noch stärker am unmittelbaren Gefühlsausdruck orientiert. Creuz’ Leistung ist es, dass er die Inhalte und die Sprache seiner an Haller geschulten Dichtung in den Versuch über die Seele integriert und auf diese Weise einen interdiskursiven Text hervorbringt, der im Wechsel von rationaler Argumentation und poetischem Selbstausdruck den Prozess der metaphysischen Selbsterkenntnis darstellt. Indem Creuz Passagen in poetisierter (das heißt metaphorischer und emotional-exklamatorischer) Prosa in den Versuch integriert, lösen 98
99
Udo Bion hat im Detail nachgewiesen, dass Creuz in seinen Lehrgedichten zahlreiche Formulierungen sowohl von Young als auch von Haller und Klopstock übernimmt. Vgl. Udo Bion: Beiträge zur Kenntnis des Lebens und der Schriften des Dichters Fr. Carl Casimir von Creuz. Meiningen 1894. Albrecht von Haller: Unvollkommenes Gedicht über die Ewigkeit. In: Ders.: Die Alpen und andere Gedichte. Auswahl u. Nachwort v. Adalbert Elschenbroich. Stuttgart 1965, S. 75‒79, hier S. 79.
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sich die Grenzen zwischen dem Essay und dem Lehrgedicht auf. Gleichzeitig verwendet Creuz in den Gräbern neben dem Alexandriner ebenfalls den Madrigalvers, dessen freies Metrum der Sprachgestaltung der Prosa sehr nahe kommt. Auch Christoph Siegrist verweist in seiner Studie zu den unterschiedlichen Typen des Lehrgedichts zwischen 1730 und 1770 auf die thematische Nähe von Essayistik und Lehrgedicht in dieser Zeit und vertritt die These, dass der Essay als Äußerung moderner Subjektivität das Lehrgedicht (mit seinem Beharren auf objektiven Lehrinhalten) letztlich abgelöst habe.100 Eine sukzessive Annäherung beider Gattungen sieht er ebenfalls durch den Wechsel vom Alexandriner zum Madrigalvers in Hallers fragmentarischer Ode gegeben: „[D]amit nimmt er [Haller, N.H.] eine Entwicklung vorweg, die in der ‚Geschichte‘ des Lehrgedichts zu beobachten ist: die zunehmende Subjektivierung bewirkt eine Aufweichung des als zu starr empfundenen Alexandriners [...].“101 Somit ist der vierte Gesang der Gräber nicht einfach als ein Anhang an den Versuch über die Seele zu verstehen, sondern bildet einen wichtigen Bestandteil des Werkes, um dessen Wirkung noch einmal zu verstärken und die Selbstästhetik zu komplettieren. Creuz bittet seine Leser im Vorbericht zum vierten Gesang der Gräber nachdrücklich, „meine Zweifel nicht für meine wahren Gesinnungen zu halten.“102 Die Frage, ob die hiermit implizierte Behauptung, sein Zweifeln sei lediglich der methodische Zweifel des Weltweisen, tatsächlich überzeugen kann, muss letztendlich der Leser beantworten. Allerdings enthält der Versuch offensichtliche Irritationsmomente, innere Widersprüche, die eine Offenlegung von Creuz’ tatsächlichen Überzeugungen nicht gestatten. Die Gefahr des Reputationsverlusts, die sich für Creuz aus einer sachlichen Beschäftigung mit La Mettrie ergibt, ist mit großer Wahrscheinlichkeit dafür verantwortlich, dass nicht eindeutig bestimmbar ist, wie der Versuch zum Homme Machine steht und welche weiteren Texte La Mettries Creuz tatsächlich rezipiert hat. Nach seinem Tod 1771 wird Creuz’ Privat-Bibliothek in einem publizierten Katalog zum Verkauf angeboten.103 Dieser Katalog führt 2109 reguläre Titel plus 44 Titel in einem separaten Anhang auf. Darunter findet sich ein einziges Werk von La Mettrie, Die zu Boden gestürzte Maschine (1750),104 eine deutsche Übersetzung des Epitre à Mlle A.C.P. ou la machine terrassée (1749). Der Homme Machine ist hier nicht aufgeführt, allerdings fehlt auch eine Ausgabe von Creuz’ eigenem Versuch über die Seele, sodass dem Katalog nur eine begrenzte Aussagekraft zuzusprechen ist. Immerhin verrät er, dass Creuz sowohl eine Pariser Ausgabe der 100 101
Vgl. Christoph Siegrist: Das Lehrgedicht der Aufklärung. Stuttgart 1974, S. 52f. Ebd., S. 77. 102 Creuz: Versuch über die Seele 2, S. 152. 103 Vgl. das Verzeichnis der Bücher welche aus der Bibliothek des Hochsel. Herrn Reichs-HofRaths- und Fürstl. Hessen Homburgischen Geheimen Raths, Freyherrn von Creutz verkauft werden sollen. Homburg v.d.H.: [S.l.] 1771. 104 Vgl. ebd., S. 72 (Nr. 1439).
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Essais Montaignes von 1600 als auch die deutschsprachige Übersetzung von Tietz besessen hat.105 Neben Pascals Pensées finden sich zudem fünf Bände der siebenbändigen Dresdner Werkausgabe Voltaires von 1752.106 Ursula Bürgel hat in ihrer Studie zur geistesgeschichtlichen Stellung von Creuz die Dialektik seines Werkes herausgearbeitet und dabei treffend diejenigen widersprüchlichen Positionen benannt, die seine Essayistik bestimmen: Von den Schulphilosophen trennt ihn der Mangel an systematisierender Freude, von den Aufklärern reinsten Wassers die Abneigung gegen die Pädagogik. Durch und durch Deist zu werden, hindert ihn seine Beziehung zur spiritualistischen Religiosität, Empirist kann er nicht sein, weil ihn der Gedanke ans Jenseits fortwährend in metaphysische Bezirke weist. Er lebt im feudalen Bezirke und preist das Bürgertum, er zweifelt am absoluten Werte der Wissenschaft und legt doch kein eindeutiges Bekenntnis zum Gedanken christlicher Offenbarung ab, er will Christ und zugleich Stoiker sein, verweist die Dichtung in die Nebenstunden und nimmt doch die Spekulation ernster als die Arbeit des Tages – in einem Worte: er war ein Synkretist, deutsch im besten Wortsinne als eine Suchergestalt [...].107
Dass Creuz kein Schüler Gottscheds ist, wie in der Forschung wiederholt behauptet wurde, erschließt sich zum Beispiel aus der Vorrede zu den Gräbern (1760), in der Creuz sein Kunstverständnis erläutert. Hier zeigt sich, dass er stark an der entstehenden Genieästhetik partizipiert. In der Vorrede opponiert er gerade gegen die Gottsched’sche Definition der Kunst als Naturnachahmung und plädiert vielmehr dafür, Natur und Kunst einander entgegen zu setzen: Die Natur handelt nach ihren Absichten, und der Künstler nach den seinigen. Was die Kunst herfürbringt, ist in der Natur höchstens nur in den Theilen, die aus ihrem Vorrathe genommen worden, und weiter nicht befindlich; es muß auch das Geschöpf der Kunst der Natur nicht nothwendig ähnlich sein.108
Der Künstler, der seiner poetischen Begeisterung nachgebe, müsse sich nicht um die Regeln der Dichtkunst kümmern: „Er gehet seinem Triebe überlassen nicht irre.“109 Schließlich bestimmt Creuz die Kunst als eine „andere Natur“: „Sie [die Kunst] trennt, was die Natur verknüpft; verknüpft, was sie trennt, thut hinzu, nimmt weg, doch allemal, um etwas herfürzubringen, das an statt eines Dings seyn kann, welches in der Natur schon befindlich ist, oder welches in einer andern Welt natürlich wäre.“110 Mit dieser Betonung der schöpferischen Kraft des Dichters schließt Creuz nicht an Gottsched, sondern viel eher an wirkungsästhetische Überlegungen wie diejenigen Joseph Addisons in den Essays on Imagination (1712)
105 106 107
Vgl. Anon.: Verzeichnis der Bücher, S. 47 (Nr. 1018) und S. 81 (Nr. 1683‒1685). Vgl. ebd., S. 50 (Nr. 1092) und S. 48 (Nr. 1055‒1059). Bürgel: Creutz, S. 132. 108 Friedrich Carl Casimir von Creuz: Die Gräber, ein Philosophisches Gedicht, in Sechs Gesängen; nebst einem Anhange neuer Oden und philosophischer Gedanken. Frankfurt a.M. u. Mainz: Varrentrapp 1760, S. X. 109 Ebd., S. VIII. 110 Ebd., S. X.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
oder an Johann Jakob Breitingers Critische Dichtkunst (1740) an, die das „Wahre der Einbildung“ als Aufgabe und Leistung des Künstlers bestimmen.111 Dass zwischen der anthropologischen Essayistik als Selbsttechnik, wie Creuz sie entwirft, und der genieästhetisch bestimmten Essayistik des Sturm und Drang jedoch ein Bruch entsteht, zeigt sich ebenfalls in Creuz’ Ästhetik. In einem Brief vom 10. November 1767 stellt er sein Ideal einer deutlichen und verknappenden, das heißt „gedrungenen“ Prosa der neu entstehenden individualisierten Prosa der Genieästhetik gegenüber. Wenn er diese in ihrer Wirkung als „bestürzend“ charakterisiert, wird der ästhetische Bruch, der auch ein Bruch in der Subjektform ist, als individuelle Verständnisbarriere sichtbar: Sie fragen mich, ob ich unter der gedrungenen Schreibart auch die bestürzende mit begriffen hätte? Ich glaube, Sie scherzen: denn ich kenne keine bestürzende Schreibart, aber das weiß ich, daß manche Schriftsteller selbst den Gelehrten in kurzer Zeit kaum mehr verständlich seyn werden, und wenn Sie dieses die bestürzende Schreibart nennen, wo der Schriftsteller in jeder Zeile vom Himmel fällt, ganz gewöhnliche bekannte Dinge auf eine räthselhafte Art uns vorsaget, sonderbare Ausdrücke wählet, und Phrases, welche, als wenn sie electrisch wären, lauter Funken erkünstelten Witzes von sich sprühen; wenn dieses die bestürzende Schreibart heissen soll, habe ich sie freilich unter der gedrungenen nicht mit begriffen. Sie wollen meine Meinung von unsern modernen classischen Schriftstellern wissen; aber das Wort: Classisch, hat seine alte Bedeutung verlohren, und die neue habe ich noch nicht gründlich erfahren können.112
3.4. „Ein Blitzstral der Mitternacht“: Creuz, betrachtet durch die Brille der Genieästhetik Creuz’ Versuch über die Seele entwickelt eine experimentelle Subjektform, die Naturgeschichte, Dichtung und Introspektion miteinander verbindet. Damit weist sein Essay gleichermaßen auf die anthropologische Essayistik der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und auf die kunstkritische Essayistik des Sturm und Drang voraus, die eine Sonderform und ästhetische Radikalisierung dieser anthropologischen Essayistik darstellt. Besonders auf Herder scheint gerade Creuz’ reflexive Verbindung von Philosophie und Poesie mit dem Ziel einer „metaphysischen Selbsterkenntnis“ gewirkt zu haben. Bezeichnend ist jedoch die Tatsache, dass er Creuz entsprechend der Genieästhetik des Sturm und Drang als einen Autor liest, der an seinem Versuch der individuellen Selbstermächtigung des Denkens letztlich gescheitert sei. Herder publiziert 1772 eine Rezension über Creuz’ letzte Veröffentlichung Oden und andere Gedichte auch kleine prosaische Aufsätze (1769) in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek. Es handelt sich dabei um die Reaktion auf eine im
111 112
Vgl. Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst. Zürich: Orell 1740, S. 139. Creuz: Oden und andere Gedichte, S. 239.
3. Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele
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gleichen Jahr anonym publiziert Lobrede auf den 1771 Verstorbenen.113 Diese Lobrede beurteilt das Werk von Creuz anhand des Paradigmas der „gesunden Vernunft“ und präsentiert ihn als einen philosophischen Autodidakten, der seine wissenschaftlichen Überlegungen in allgemeinverständlicher, rhetorisch ansprechender Form und in Übereinstimmung mit den christlichen Glaubensvorstellungen vorgetragen habe. Herder und auch Goethe reagieren auf diese irreführende Lobrede mit starker Ablehnung,114 wobei besonders Herder seine Rezension zu einem eigenständigen Essay ausarbeitet, der einigen Aufschluss über die spezifisch genieästhetische Rezeption des Dichters und auch des Essayisten Creuz gibt. Herder adaptiert in diesem Essay die Dialektik der experimentellen Selbstästhetik von Creuz und nimmt auf dieses Vorgehen auch konkret Bezug. Creuz erscheint in Herders Rezension als der „Dichter über Seyn und Vernichtung“. Diese Bezeichnung bezieht sich nicht nur auf die Dominanz der metaphysischen Thematik bei Creuz, sondern verweist auch auf die enge Verbindung von Thematik und Schreibweise, die Konstruktion und Destruktion von Wahrheit im dialektischen Prozess. Und Herder führt diese Dialektik vor, indem er Creuz als Autor in seiner Rezension zuerst zerstört, dann wieder aufbaut und schließlich vernichtet. So benennt er im ersten Argumentationsschritt drei „Dichter von der traurigen Gestalt“, die das 18. Jahrhundert hervor gebracht habe: Zu ihnen zählt er den Initiator der „Nachtgedanken-Dichtung“, Edward Young (The complaint: or, night-thoughts : on life, death & immortality, 1742‒45), sowie zwei seiner Nachahmer: James Hervey (Meditations among the tombs. In a letter to a lady, 1746) und eben Friedrich Carl Casimir von Creuz.115 Sei Young ein philosophischer Dichter, „nicht blos der stärkste, sondern auch der Menschlichste dieser Art“,116 Hervey ein religiöser Nacht-Dichter „vielleicht erbaulicher, aber schlechter und
113
Vgl. Anon.: Lobrede auf den Herrn Friedrich Carl Casimir Freyherrn von Creuz. Frankfurt a.M.: Varrentrapp 1772, S. 9. 114 Goethe wirft dem anonymen Verfasser in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (1772) vor, dieser habe die individuellen Charakteristika des Autors ausgelöscht und durch allgemeine Bedeutungslosigkeiten ersetzt: „Ohne Gefühl, was so ein Mann gewesen, ohne Ahndung, was so ein Mann sein könne, schreibt hier Einer die schlechteste Parentation. Der Gang dieses sonderbaren Genies, das Durcharbeiten durch so viele Hindernisse, die düstre Unzufriedenheit bei allem Gelingen; wird in der Feder unseres Skribenten recht ordnungsgemäßer Cursus humaniorum & bonarum artium; und der sehr eigen charakteristische Kopf, wohlgefaltete honette Alletagsmaske“. (Johann Wolfgang Goethe: Rezension der „Lobrede auf den Herrn Friedrich Karl Kasimir von Kreutz etc. 1772. 68 S. gr. 8“. In: Johann Wolfgang von Goethe. Sämtliche Werke (Frankfurter Ausgabe). Hg. v. Friedmar Apel. Abt. 1, Bd. 18: Ästhetische Schriften 1771‒1805. Frankfurt a.M. 1998, S. 37.) 115 Vgl. Johann Gottfried Herder: Rezension zu „F.C.C. Freiherrn von Creuz, Oden und andere Gedichte auch kleine prosaische Aufsätze – Neue vermehrte und geänderte Auflage – Zwei Bände. Frankfurt am Mayn, 1769. bey Varrentrapp, groß 8“. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Bd. 5. Berlin 1891, S. 290‒303, hier S. 290‒292. 116 Ebd., S. 290.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
niedriger“,117 so gehöre Creuz, der „Metaphysische Nachtdichter“, zur „leersten Klasse“.118 Seine Darstellung der Natur sei zu abstrakt und sein sprachlicher Ausdruck unausgereift. Herder konstatiert bei Creuz eine Unfähigkeit, zur Welt und den Menschen einen positiven Zugang zu finden, sodass er schließlich zu dem Urteil kommt, Creuz käme ihm vor „wie Montesquieu sich den Zustand eines Engländers denkt, ehe dieser sich mordet“.119 In der Hierarchie der „Nacht-Dichter“ nimmt Creuz den letzten Platz ein, und seinem Werk wird ein nennenswerter Gehalt schlichtweg abgesprochen. Im zweiten Argumentationsschritt dient Herder jedoch gerade der metaphysische Ansatz bei Creuz als Ausgangspunkt eines Lobes, das sich sukzessive bis zur Begeisterung aufschwingt. Nirgends, in allen Zeitaltern und Nationen, ist vielleicht das Schreckliche der Vernichtung, des Nichtwerdens, des Aussenbleibens und Schwindens nicht eines Hauchs, sondern eines Gedankens, eines denkenden Wesens mit der Fülle aller seiner Gedanken, eines Geistes, der so ewig und selbständig wie Gott ist; nirgends ist das Verschwinden desselben in den Abgrund und die Zertrümmerung der edelsten und vielleicht einzig wahren Welt, die Welt der Gedanken! anziehender und schrecklicher geschildert worden, als bei ihm!120
Herder rekonstruiert die Beziehung von Anthropologie, Metaphysik und introspektiver Selbstdarstellung bei Creuz als Verwunderung erregenden „Bau einer Seele“,121 deren Reflexionen und Empfindungen ständig zwischen absoluten Extremen changierten: Was eine düstere Phantasie nur für Bilder der Vernichtung, von Meer und Erde, Himmel und Hölle, Nacht und Unendlichkeit nehmen kann, sind hier! bald ruhiger, bald stürmischer! hoffend, und zweifelnd, und erwartend und trotzend und gewiß! Kein Dichter, wie gesagt, der eine abstrakte Idee so interessant machen kann, wenn man Lust hat, sie sich so interessant machen zu lassen, und ihn mit Einem Wort zu zeichnen, fände ich fast Nichts in ihm, als „ein Dichter über Seyn und Vernichtung!“ Nur freilich ein Dichter, der das nicht Menschlich, wie Hamlet, nicht Bürgerlich, wie Addisons Cato fühlt! Ein Deutscher, der es Metaphysisch denkt und also zu fühlen vermag! [...] aber das dunkle Meer unsrer Begriffe, das Erwachen eines Gedankens und zum Gedanken, Ewiges Denken, Zukunft, Ungewißheit, Nichts! ― wie geschildert! ― Der Gedanke unsres Dichters ist immer ein Blitzstral der Mitternacht! Seine Seele ein Land mit Abgrund, und abgerißnen Felsenhöhen, die oben im röthenden Blitz und nicht in sanfter Morgenröthe tagen!122
Diese Ausführungen, deren Pathos stark an die Bildsprache des etwa zeitgleich entstandenen Essays Shakespeare (1771‒73) erinnert, zeigen den Autor Creuz als Prototypen des verhinderten Genies und damit als tragische Figur. Herder hebt die rührende Wirkung der Texte von Creuz hervor und rezipiert sie somit gemäß der 117 118 119 120 121 122
Herder: Rezension Oden und andere Gedichte, S. 291. Vgl. ebd., S. 292. Ebd., S. 298. Ebd., S. 299. Vgl. ebd., S. 292. Ebd., S. 299f.
3. Friedrich Carl Casimir von Creuz’ Versuch über die Seele
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empfindsamen Mitleidsästhetik: Nicht Creuz’ Verzweiflung übertrage sich auf den Leser, sondern die Verzweiflung als solche wird Auslöser des Mitleidens mit dem sich äußernden Ich. Herder zeigt sich fasziniert von Creuz’ Verfahren der Selbstaffektation, doch gleichzeitg lehnt er es ab, dass diese Selbstaffektation durch abstrakte philosophische Begriffe erfolgt und nicht durch konkrete sinnliche Phänomene. Creuz verstehe es, dem Leser seine Ideen „interessant“ zu machen, das heißt die Selbstaffektation auf den Leser zu übetragen; vorausgesetzt, dieser Leser sei bereit, sich auf die Selbstästhetik einzulassen. Der Begriff des „Interessanten“ wird für die Essayistik als Selbstästhetik bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sehr wichtig: Nur wenn die in einem Essay dargestellten Gedanken „interessant“ sind – also eine emotionale Reaktion hervorrufen –, kann der Prozess der ästhetischen Selbstbildung sich auch auf den Leser übertragen. Im Anschluss an diese in sich widersprüchliche Beurteilung wendet sich das essayistische Ich an den Leser: Einigen Lesern, dürfte unsre Rec. nach ihrer Einrichtung vielleicht zu Systematisch scheinen, und ob wir die gleich kurz versichern könnten, daß sie, auch so geordnet, von einer innigern, längern Kenntniß dieses Dichters zeugen könne, als wenn sie aus dem Register des Buchs ihre Ahnen herschriebe […].123
Die dialektische Präsentation als Ordnungsmuster der Rezension resultiert somit aus einer intensiven Beschäftigung mit dem Prinzip der Reflexion bei Creuz. Dementsprechend verkehrt sich im abschließenden dritten Abschnitt der Rezension das Lob wiederum in eine vernichtende Aburteilung. Einen Schwerpunkt bilden satirische Betrachtungen über Creuz’ metaphysische Schwere, die besonders in dem Trauerspiel Seneca deutlich werde. Der lesenswerte Teil des Creuz’schen Werkes setze sich eigentlich nur aus wenigen besonders gelungenen Gedanken zusammen, die in der Fülle des Mittelmäßigen untergingen. Der aufblitzende Gedanke in unverbundener Folge bilde die eigentliche poetische Qualität dieses Werkes. Daher müssten alle gelungenen Gedanken in Form von Fragmenten zusammengestellt werden, um die nachfolgende Rezeption des Autors zu sichern: „Ein guter Epitomator dieses Dichters, wäre jetzt nach seinem Tode der Freund, den er vermuthlich in seinem Leben als Autor, nicht gehabt hat.“124 Herder übernimmt somit in seiner Rezension das Prinzip der experimentellen Selbstästhetik für die Kunstkritik und beschreibt Creuz’ Schreibweise damit nicht nur, sondern stellt sie auch dar. Das hymnische Lob und die satirische Aburteilung verbinden sich zu einem eindringlichen Portrait des Autors, von dem sich in der Literaturgeschichte jedoch nur die negative Position als letztes Wort erhalten hat.
123 124
Herder: Rezension Oden und andere Gedichte, S. 300. Ebd., S. 303.
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III. Das experimentelle Ich in der anthropologischen Essayistik
Abb. 3:
Friedrich Carl Casimir von Creuz: Versuch über die Seele. 1. Theil (1754).
IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik 1.
Zum Verhältnis von Selbsttechnik und Gattungsreflexion über den Essay in der Konstituierungsphase der Genieästhetik
1.1. „The Stranger within thee“: Selbstermächtigung bei Edward Young (1759) Einer der frühen und zentralen Texte der Genieästhetik, Edward Youngs Essay Conjectures on Original Composition (1759), entwirft das Programm einer Neubegründung der Poesie und einer Überbietung der antiken Muster. Er stellt diese Programmatik jedoch auf die antike Technik der Selbsterkenntnis. Das originale Kunstwerk wird, gemäß einem organologischen Kunstverständnis, als eine natürliche Hervorbringung, ein Produkt der geistigen Fortpflanzung des Genies dargestellt: „An Original may be said to be of a vegetable nature; it rises spontaneously from the vital root of Genius; it grows, it is not made […].“1 Die Ablehnung der Regelpoetik, die aus diesem Kunstverständnis folgt, führt jedoch nicht zu einem Plädoyer für die absolute Regellosigkeit oder Autonomie der Kunst. Young sieht einen naturhaften Zusammenhang von Genie und Tugend gegeben und beharrt auf der Funktion der Kunst, das „public good“ zu befördern. Der Zusammenhang von Genie und Tugend könne jedoch ausschließlich dann gesichert werden, wenn der Dichter sich selbst als eigengesetzliches Individuum verstehen lerne und diese Eigengesetzlichkeit entschieden bejahe. Young, dessen Essay programmatisch moderne Originalwerke fordert, beschreibt den Vorgang der notwendigen Selbsterkenntnis genau: Therefore dive deep into thy bosom; learn the depth, extent, biass, and full sort of thy mind; contract full intimacy with the Stranger within thee; excite and cherish every spark of Intellectual light and heat, however smothered under former negligence, or scattered through the dull, dark mass of common thoughts; and collecting them into a body, let thy Genius rise (if a Genius thou hast) as the sun from Chaos; and if I should then say, like an Indian, worship it, (though too bold) yet should I say little more than my second rule enjoins, (viz.) Reverence thyself.2
Youngs Anleitung zur Befreiung des eigentlichen, verborgenen Selbst, das er als Genius bezeichnet, basiert somit auf zwei Grundregeln: „Kenne dich selbst“ und „Verehre dich selbst“. Diese Fundierung der Genieästhetik auf einer Selbstästhetik, die hier zunächst nur für die Poesie gedacht ist, wird auch für die genieästhetisch geprägte Essayistik grundlegend. Die Verwandlung des Einzelnen erfolgt über eine Aneignung seiner verborgenen, natürlichen Schöpfungskraft, deren bewusste und 1 2
Edward Young: Conjectures on Original Composition. In a Letter to the Author of Sir Charles Grandison. London: Millar u. Dodsley 1759, S. 12. Ebd., S. 53.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
zielgerichtete Verstärkung schließlich die Erschaffung des Werkes als selbstständigen Körper („body“) zur Folge hat. Der göttliche Anteil des Menschen ist also für Young zunächst in der normierten, alltäglichen Subjektivität des Einzelnen verborgen und äußert sich nur in Spuren. Durch intensive Selbstbetrachtung müsse der Einzelne diese Spuren seiner natürlichen Originalität auffinden, zusammentragen und im Werk veräußern. Die natürliche Schöpfungskraft steht dem zivilisierten Menschen nach Young nicht mehr von Natur aus zur Verfügung, sondern ist zu einem Fremden geworden, zu einem anderen Selbst, das als gefangen oder unterdrückt dargestellt wird. Nur im veräußerten Werk könne der Einzelne sein Genie erkennen. Er wird sich dadurch selbst zum Objekt einer quasi-religiösen Anbetung.
1.2. Die genieästhetische Bewertung Montaignes durch Alexander Gerard in seinem Essay on Genius (1774) Auskunft über das Verhältnis von Selbsttechnik, Essayistik und Genieästhetik gibt eine weitere programmatische Schrift, Alexander Gerards Essay on Genius (1774). Der Text wird 1776 als Versuch über das Genie von Christian Garve ins Deutsche übertragen. Gerards Absicht ist es, das Genie, das er wie Young als die Erfindungsgabe der Seele betrachtet, als Ausdruck einer naturhaften und damit gottgleichen Kraft aufzuwerten. Anhand der Werke Shakespeares und ihrer Wirkung zeigt er auf, dass sich das Genie sowohl in den Vollkommenheiten als auch in den Fehlern eines Werkes zeige. In der Wahrnehmung des Publikums äußere sich die geniale Phantasie sogar stärker in den zu wenig ausgearbeiteten, quasi „ungeschliffenen“ Stellen, weshalb Gerard die wirkungspsychologische Feststellung macht: We ascribe so great merit to invention, that on account of it, we allow the artist who excels in it, the privilege of transgressing established rules, and would scarce wish even the redundancies of his natural force and spirit to be lopt off by culture: this, we are afraid, might check the vigour of his invention, which we reckon so capital an excellence, that nothing could make amends for the want of it.3
Im weiteren Verlauf seiner Argumentation relativiert Gerard seine uneingeschränkte Bewunderung der regellosen Kraft des Originalgenies jedoch und unterscheidet stattdessen Vollkommenheitsgrade des Genies: Ein Originalwerk könne nur durch die kontrollierte Überführung der Imagination in einen vollkommenen Plan entstehen. Ein Genie, das seine Kraft nicht kontrollieren könne, sei daher in sich selbst fehlerhaft. Als Beispiel verweist Gerard auf Montaigne: A M AN is sometimes so entirely under the power of accidental associations, that he seems scarce to have proposed any end, but to have designed to begin with one idea, to go from that 3
Alexander Gerard: An Essay on Genius. London: Strahan u. Cadell 1774, S. 14.
1. Zum Verhältnis von Selbsttechnik und Gattungsreflexion
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to any other which it happened by any means to suggest, and so from this to others, yielding up the mind to follow passively whatever associations chance to affect it. This is in an eminent degree the case of Montaigne in many of his essays.4
Die Passivität des assoziativen Vorgehens, die in das sich darbietende Material nicht ordnend eingreift, wird von Gerard somit abgewertet; nach den Gründen für Montaignes Verfahren wird nicht gefragt. Gerard sieht in der Schreibweise Montaignes eine Gefährdung des zeitgenössischen literarischen Schaffens, da sich das Verfassen essayistischer Texte mittlerweile als Mode etabliert habe, wobei jedoch die Qualität der Erzeugnisse Schaden genommen habe: This style of composition, carried to the utmost degree of incoherence, has been lately introduced: novelty, along with a great degree of wit, humour, and fine feelings, procured the first attempt considerable success; and this success has raised a multitude of insipid imitators. It is only uncommon merit in the parts, that can gain indulgence to such writings: the total want of design is an essential defect, and shows a capital imperfection in the genius of the writer, an irregularity of imagination.5
Hier werden Elemente der frühaufklärerischen Montaigne-Kritik, wie sie sich bereits bei Addison finden, in die genieästhetische Kunsttheorie integriert: Wird die Musterhaftigkeit der Montaigne’schen Essais durch Addison aufgrund der Funktion des Essays als therapeutische Selbsttechnik verworfen, die eine regelhafte, am klassizistischen Beredsamkeitsideal ausgerichtete Struktur erfordert, so wird aus der Kritik Gerards ex negativo deutlich, dass die geforderte Kohärenz eines Originalwerkes ebenfalls ein mit sich selbst in jedem Moment identisches Subjekt voraussetzt, das sich bei Montaigne nicht finde. Die Irregularität des Montaigne’schen Schreibens wird jedoch nicht als eine bewusst eingesetzte Textstrategie erkannt, sondern als subjektive Schwäche verurteilt. Der prekäre Status Montaignes bei Addison kehrt also in Gerards Genieästhetik zurück: Auch hier ist das kunsttheoretische Paradigma der „schönen Ordnung“ so stark, dass Montaignes Essayistik als zu ausschweifend wahrgenommen wird. Nur wird die Ursache nun nicht mehr in einem Überschuss an Einbildungskraft, sondern in einer fehlenden Beherrschung der Einbildungskraft festgemacht, wodurch Montaignes Status als „genialer“ Autor ins Wanken gerät.
1.3. Eine Fundstelle: die Bezeichnung „Eßayist“ in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen (1772) Ein Großteil der theoretischen Reflexion der Genieästhetik wird in der Form des Essays formuliert, ohne dass die beteiligten Autoren diesen Umstand direkt thematisierten. Der Versuch als offene Form wird von den Protagonisten der Genieästhe4 5
Gerard: Essay on Genius, S. 52f. Ebd., S. 53.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
tik offensichtlich im Kampf gegen die Regelpoetik als angemessenes Medium für die gattungsäshetische Auseinandersetzung wahrgenommen. Der Fokus der Wahrnehmung liegt jedoch so stark auf der Neu- oder Erstbegründung einer nationalen Poesie, dass die Essayistik als Vehikel dieser Bemühungen zumeist als eine unbewusst verinnerlichte Reflexionspraxis in Erscheinung tritt. Das Potenzial des Essays zu freimütiger Aussprache und dialogischem Austausch wird von den genieästhetisch argumentierenden Autoren als natürlicher Modus ihres Selbstausdrucks ergriffen. Das tatsächliche Ausmaß der bereits erfolgten Einbürgerung der Textform Essay erweist sich über das stetig anwachsende Textkorpus hinaus eher implizit. Einen Hinweis bietet eine Fundstelle in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen des Jahres 1772, jenem Jahrgang, der durch die Beiträge von Goethe, Herder, Johann Heinrich Merck und Johann Georg Schlosser ein zentrales Gründungsdokument des durch die englische Genieästhetik und das Werk Shakespeares geprägten Sturm und Drang darstellt.6 Die anonym publizierte Rezension bespricht ein Werk Friedrichs II mit dem Titel Examen de l’Essai sur les préjugés von 1770, bei dem es sich selbst um eine Besprechung der Schrift Essai sur le préjugés, ou De l'influence des opinions sur les moeurs et sur le bonheur des hommes von César Chesneau Du Marsais handelt.7 Beiläufig wird Du Marsais durch den Rezensenten der Frankfurter gelehrten Anzeigen als „Eßayist“ bezeichnet. Die gesamte Stelle lautet: Überhaupt scheint das ganze Werk blos gegen den itzigen Zustand von Frankreich gerichtet zu seyn. Der erleuchtete Examinateur zeigt aber, daß es wahrer strafbarer Unsinn sey, wenn man die seit vielen Jahrhunderten vorbereiteten und eingewurzelten Übel der itzigen Regierung zur Last legen wollte. — Wir, als Particulier, erkühnen uns nie, über solche Sachen zu richten, und lassen uns mit dem guten Roger Coverley gerne das there is much too be said on both sides, gefallen. Um desto gerechter scheint uns die Züchtigung zu seyn, die dem Eßayisten in diesen Blättern in reicher Maase gegeben wird […].8
Eine erste Übernahme der englischen Bezeichnung für einen regelmäßigen Verfasser essayistischer Texte in die deutsche Sprache (erkennbar am verwendeten „ß“) findet also offensichtlich – zumindest im avancierten literarischen Milieu – bereits wesentlich früher statt, als in den einschlägigen Lexika angegeben.9 Auffällig ist zudem, dass der anonyme Rezensent die französische und englische Version der Gattungsbezeichnung miteinander vertauscht: So wird der Titel des Werkes von 6 7
8 9
Vgl. dazu auch Joachim Wohlleben: Goethe als Journalist und Essayist. Frankfurt a.M. 1981. Anon.: Examen de l’Essay sur les préjugés. Par le Philosophe de Sans-Souci. 4 ½ B. 8. 1772. In: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 4. Dezember 1772. Hildesheim 1995 [ND der Ausg. Frankfurt a.M.: Eichenbergische Erben 1772], S. 769‒772. Ebd., S. 771. Für gewöhnlich wird auf Georg Forster und Friedrich Schlegel als diejenigen Autoren verwiesen, welche die englische Gattungsbezeichnung zuerst im Deutschen verwendeten. Vgl. Schärf: Essay, Enzyklopädie der Neuzeit, Sp. 561; vgl. Schlaffer: Essay, Reallexikon der Literaturwissenschaft, S. 523.
1. Zum Verhältnis von Selbsttechnik und Gattungsreflexion
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Friedrich II. irrtümlich in der englischen Form, Examen de l’Essay sur les préjugés, angegeben, und die Verwendung der englischen Form setzt sich innerhalb der gesamten Rezension fort. Der Schluss liegt daher nahe, dass die schrittweise Übernahme der englischen Gattungsbezeichnung ins Deutsche ihren Ursprung in der Vorbildfunktion der englischen Literatur ab den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts hat, auch wenn erst 1859 Herman Grimm die Bezeichung zum Titel seines Werkes Essays machen wird.10 Max Morris ordnet diese Rezension in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen auf der Basis einer punktuellen Stilanalyse Goethe zu.11 Damit ist natürlich kein Beweis für die Verfasserschaft erbracht.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang Seit 1750 bildet sich in der deutschsprachigen Essayistik eine Tendenz zur Introspektion und Individualisierung aus. Die literarische Bewegung des Sturm und Drang radikalisiert diese Tendenz in den 1770er Jahren auf der Basis genieästhetischer Vorstellungen. Die Entstehung einer wissenschaftlichen Anthropologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wertet die Beschäftigung mit dem Menschen zu einem eigenwertigen Erkenntnisziel auf, und die Bewegung des Sturm und Drang entwickelt ihr Menschenbild vor allem anhand der Kunstkritik. Sie begreift den Künstler als Abbild des ganzen oder echten Menschen, der affektiv und rational voll ausgebildet sei und nicht durch gesellschaftliche Restriktionen eingeschränkt werde. Die Episteme der Repräsentation verliert in der Essayistik ihre Gültigkeit, und die therapeutische Selbsttechnik wird endgültig durch ein Konzept individueller ästhetischer Selbstbildung ersetzt. Die Essayistik steht dabei – wie die gesamte literarische Bewegung des Sturm und Drang – in einem Spannungsfeld: Einerseits kritisiert sie die Aufklärung mit den Mitteln einer durch Rousseau geprägten Rationalismus- und Zivilisationskritik, und andererseits führt sie die Aufklärung auf dem Gebiet der Psychologie entschieden voran. Hier wird der Konflikt zwischen der rationalen Einsicht des Einzelnen in seine psychische und gesellschaftliche Determiniertheit und seinem emphatischen Anspruch auf Autonomie ausgetragen. Aus der Essayistik selbst erfährt der Leser jedoch wenig Direktes über gesellschaftliche Hintergründe oder biographische Krisen. Die Essays konstituieren vielmehr eine alternative ästhetische Realität, einen Raum des ungehinderten Selbstausdrucks. Sie unterscheiden sich darin besonders von der Dramatik des Sturm und Drang, in der diese Konflikte im Mittelpunkt stehen.
10 11
Vgl. Herman Grimm: Essays. Hannover: Rümpler 1859. Vgl. Max Morris: Goethes und Herders Anteil an dem Jahrgang 1772 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen. Stuttgart u. Berlin 31915, S. 155.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
Daher ist es im Fall des Sturm und Drang nicht möglich, Inhalte aus unterschiedlichen Gattungen ohne weitere Prüfung miteinander zu überblenden, wie es in der Forschungsliteratur häufig geschieht, zum Beispiel wenn Aussagen aus Essays herangezogen werden, um Roman- oder Drameninterpretationen zu untermauern. Es muss berücksichtigt werden, dass diese Aussagen in einen eigenen ästhetischen Kontext eingebunden und somit selbst interpretationsbedürftig sind, da der Essay in seiner Funktion als Selbstästhetik eine eigenständige Aufgabe erfüllt. Die Protagonisten des Sturm und Drang wollen eine spezifisch moderne literarisch-künstlerische Identität ausleben und arbeiten sich dabei an den Restriktionen einer noch als eklatant vormodern erfahrenen Ständegesellschaft ab.1 Nur im Bereich der ästhetischen Erfahrung können sie ihre Vorstellungen von individueller Autonomie realisieren. Indem sie diese Vorstellungen durch ihre Schriften – und hier gerade auch über Essays – popularisieren, unternehmen sie den Versuch, die literarische Öffentlichkeit für alternative Lebensentwürfe zu sensiblisieren und eine radikal ästhetisch geprägte Subjektivität in die bürgerliche Subjektform zu integrieren. Die Sturm-und-Drang-Essayistik in ihrer Funktion als Selbsttechnik soll daher einen eigenständigen Beitrag zur gesellschaftlichen Verbreitung des Konzeptes moderner Individualität (verstanden als ein produktiver Bezug zur Welt) leisten. Damit steht sie mit am Beginn der Herausbildung des – von Reckwitz so bezeichneten – „Kreativitätsdispositivs“,2 das sich seit dem späten 18. Jahrhundert in einem langsamen „Prozess der Ästhetisierung“ in der Kultur der Moderne durchgesetzt habe.3 Matthias Luserke-Jaquis Bewertung des Sturm und Drang als „einziges nicht-repressives Korrektiv der Aufklärung und zur Aufklärung“ trägt auch zum Verständnis der Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang bei.4 Um ihre Ziele zu erreichen, entwickelt die Sturm-und-Drang-Essayistik eine eigenständige, auf ihrer produktionsästhetischen Anthropologie aufbauende Subjektform, die in der Verwendung eines exemplarischen essayistischen Ichs zum Ausdruck kommt. Der Ausdruck „exemplarisches Ich“ wird von Dorothea von Mücke in ihrer Analyse von Goethes Essay Von deutscher Baukunst eingeführt und soll für diese Untersuchung übernommen werden, da er die Eigenschaften des essayis1
2 3 4
Nicht geteilt werden kann hier die – geradezu entgegengesetzte – Ansicht Katja Mellmanns, die Literatur des Sturm und Drang sei „poetische Veranschaulichung des spezifischen Sozialisationsproblems in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft – bzw. der Situation einer bestimmten Generation, die zum ersten Mal mit dem Problem der Sozialisation in einer modernen Gesellschaft konfrontiert ist.“ (Katja Mellmann: ‚Ich fühle mich! Ich bin!‘ Zur literarischen Anthropologie des Sturm und Drang. In: Aufklärung 14 (2002), Themenschwerpunkt: Aufklärung und Anthropologie, S. 49‒74, hier S. 73.) Vgl. Reckwitz: Erfindung der Kreativität, S. 20‒53. Vgl. ebd., S. 21. Luserke-Jaqui fasst auch den Stand der Forschung zum Verhältnis von Aufklärung und Sturm und Drang zusammen: Vgl. Matthias Luserke-Jaqui: Sturm und Drang – Profil einer literaturgeschichtlichen Periode. In: Sturm und Drang. Epoche der Grenzüberschreitungen. Gefährdete Existenzen. Hg. v. der Ortsvereinigung Hamburg d. Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. Wettin-Löbejün OT Dößel (Saalekreis) 2011, S. 9‒21, hier S. 20.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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tischen Ichs in der Sturm-und-Drang-Essayistik treffend beschreibt.5 Zudem verweist die Eigenschaft des Exemplarischen auf Kants Bestimmung des Genies, dessen „Produkte zugleich Muster, d. i. e xe mp l a ri s c h sein müssen; mithin, selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, anderen doch dazu, d. i. zum Richtmaße oder Regel der Beurteilung, dienen müssen.“6 Diese Bestimmung lässt sich auf die Sturm-und-Drang Essayistik übertragen, da hier Selbstästhetik und Produktionsästhetik zusammenfallen und man somit von einer Produktionsästhetik des Selbst sprechen kann. Exemplarisch bedeutet daher, dass das essayistische Ich nicht eine bestimmte Kombination von positiv konnotierten Eigenschaften und Verhaltensweisen repräsentiert, welche die Leserinnen und Leser sich durch Nachahmung aneignen sollen. Stattdessen stellt es vielmehr die gelungene Durchführung eines Bildungsprinzips vor, wobei die entwickelten Eigenschaften von den Anlagen des Einzelnen abhängig sind und daher weder für ihre Ausbildung noch für das zu erreichende Bildungsziel konkrete Vorgaben gemacht werden können. Das genieästhetisch motivierte Individuum muss sich selbst – wiederum mit einer leichten Abwandlung von Kants Geniebegriff – die Regeln seiner Ausbildung geben.7 Kunstrezeption und vor allem auch Kunstproduktion bilden die entscheidenden Elemente dieser Selbstästhetik. Daher werden die Essays auch mit dem gleichen künstlerischen Anspruch gestaltet wie dramatische oder lyrische Texte. Die Frage nach der Möglichkeit von Autonomie beziehungsweise das Streben nach individueller Freiheit (im Sinne eines gesellschaftlich nicht eingeschränkten Handlungsspielraums) steht im Zentrum dieses Konzeptes exemplarischer Subjektivität.8 Was Autonomie bedeuten kann, wird von den hier untersuchten Protagonisten des Sturm und Drang – Herder, Goethe und Lenz – jedoch sehr unterschiedlich beantwortet. Eine einheitliche Bestimmung der Eigenschaften exemplarischer Subjektivität existiert somit nicht. Eine solche Einheitlichlichkeit wäre jedoch auch mit dem Konzept selbst gar nicht vereinbar. Ziel des Sturm-und-Drang-Essays ist es, dem Leser durch die Essayistik einen unmittelbaren, affektiv aufgeladenen und dabei auch theoretisch differenzierten Zugang zur Kunst zu verschaffen, der eine Alternative zur traktathaften oder en5
6 7
8
Vgl. Dorothea von Mücke: Architektur als Kunst und Fiktion. Baukunst und ästhetische Theorie bei Goethe. In: Jörg Steigerwald u. Rudolf Behrens (Hg.): Räume des Subjekts um 1800: zur imaginativen Selbstverortung des Individuums zwischen Spätaufklärung und Romantik. Wiesbaden 2010, S. 15‒35. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Stuttgart 2004, S. 236. Die ursprüngliche Bestimmung lautet: „Ge n i e ist das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel gibt.“ (Kant, Kritik der Urteilsikraft, S. 235.) Auf die Selbstästhetik und die als Individuum bezeichnete kulturelle Form übetragen, bedeutet dies, dass das Genie – verstanden als natürliches, ‚kernhaftes‘ Selbst des Einzelnen – die Selbstbildung hin zu einer Lebensform, die sich selbst als Kunstwerk versteht, anleiten soll. Voraussetzung dafür ist, dass der Einzelne imstande ist, die ‚Stimme‘ seines Genies zu hören und ihr zu folgen. Vgl. auch Christine Lubkoll: „Der ganze Mensch“. Anthropologische Konzepte des Sturm und Drang. In: Der Deutschunterricht 3 (2009), S. 2‒12.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
zyklopädischen Theorie der Kunst bietet. Die ästhetisierte Darstellung und Ausdeutung eines authentisch wirkenden Kunsterlebnisses, die zugleich Selbstdarstellung ist, bildet in einer Kombination von Reflexion und Narration das Muster der Selbstästhetik. In der stärksten Zuspitzung markiert das Kunsterlebnis einen einschneidenden autobiographischen Moment, der fiktional dargestellt wird, und die sinnhafte Ausdeutung dieses Momentes – das heißt die Ermittlung seiner Bedeutung für den eigenen Bildungsprozess – macht den Essay zur Selbsttechnik. Es entsteht hier für den deutschsprachigen Raum das, was in der angloamerikanischen Forschung als autobiographical essay bezeichnet und auf Montaigne zurückdatiert wird.9 Ein entsprechendes Programm formuliert beispielsweise Goethe explizit in seiner polemischen Auseinandersetzung mit Johann Georg Sulzers Schrift Die schönen Künste von 1772 in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen desselben Jahres. Der Künstler wird hier zur essayistischen Selbstdarstellung aufgefordert: Gott erhalt unsre Sinnen, und bewahr uns vor der Theorie der Sinnlichkeit, und gebe jedem Anfänger einen rechten Meister! Weil denn die nun nicht überall und immer zu haben sind, und es doch auch geschrieben seyn soll, so gebe uns Künstler und Liebhaber ein περι εαυτου seiner Bemühungen, der Schwürigkeiten, die ihn am meisten aufgehalten, der Kräfte, mit denen er überwunden, des Zufalls, der ihm geholfen, des Geists, der in gewissen Augenblicken über ihn gekommen und ihn auf sein Leben erleuchtet, bis er zuletzt, immer zunehmend, sich zum mächtigen Besitz hinauf geschwungen, und als König und Überwinder, die benachbarten Künste, ja die ganze Natur zum Tribute genöthigt.10
Das autobiographische Exempel soll somit zum Anlass der ästhetischen Bildung des Lesers werden. Statt eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses zwischen Verfasser und Leser wird das Verhältnis von Meister und Lehrling bevorzugt, das sich nicht durch autoritative Wissensvermittlung auszeichnet, sondern zur emphatischen
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Vgl. Lydia Fakundiny: Autobiographical Essay. In: Chevalier: Encyclopedia of the Essay, S. 41‒43. Fakundiny erläutert, dass Montaignes Essais nicht deshalb autobiographisch seien, weil sie Montaignes Leben nacherzählten, sondern weil sie den Akt der schriftlichen Selbstbildung darstellten: „Suppose, however, that the autobiographical mark of Montaigne’s essays is their recounting not of the writer’s ,life‘ as a past to be recollected but of the autobiographical act per se as self-inscriptive process; the autobiographical essay, in this view, opens the door to a kind of meta-story.“ (Ebd., S. 43.) Somit kann die Sturm-und-Drang-Essayistik nur dann als autobiographisch verstanden werden, wenn Autobiographie ebenfalls als eine Selbsttechnik bestimmt wird. Eine entsprechende Definition gibt beispielsweise Jochen Fritz: „Die Autobiographie ist eine Selbsttechnik, die dazu dient, das Subjekt in eine bestimmte Beziehung zu Diskursen zu setzen und es durch den Vorgang des Schreibens zu formen. Die mehr oder minder kohärente Geschichte des Ichs ist ein Effekt der sprachlichen Anordnung, nicht der Ausgangspunkt eines mimetischen Schreibens.“ (Jochen Fritz: Ruinen des Selbst. Autobiographisches Schreiben bei Augustinus, Rousseau und Proust. München 2007, S. 13.) Johann Wolfgang Goethe: Die schönen Künste in ihrem Ursprung, ihrer wahren Natur und besten Anwendung, betrachtet von J. G. Sulzer. 1772. 8. 85 S. In: Frankfurter gelehrte Anzeigen, 18. Dezember 1772, S. 801‒807, hier S. 807. Die Bezeichnung περι εαυτου („über sich selbst“) verweist entweder auf den Titel von Marc Aurels Selbstbetrachtungen oder auf das gleichnamige autobiographische Werk Peri heautou Zinzendorfs (1746).
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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Identifikation führen und beim Leser die geeignete Prädisposition herbeiführen soll, die eine bestimmte Auseinandersetzung mit Kunst erst ermöglicht. Das intuitive und präreflexive Kunsterlebnis wird im Sturm-und-Drang-Essay im zeitlichen Rückblick beschrieben und literarisch verarbeitet. Über die Darstellung des Kunsterlebnisses wird dieses in einen theoretisch-reflexiven Rahmen eingefügt und in der Retrospektive ausgedeutet. Der Sturm-und-Drang-Essay bleibt an die Aufklärungsessayistik gebunden, da er die genieästhetisch gesteigerte Affektkultur mit einer rationalen kunsttheoretischen Reflexion zu einem zweischrittigen Modell der Kunstrezeption und -produktion verbindet. Beispiele hierfür sind Herders Essays Über Thomas Abbts Schriften (1768) und Shakespear (1773), Goethes Essays Zum Schäkespears Tag (1771) und Von deutscher Baukunst (1773) sowie Lenz’ Anmerkungen übers Theater (1774) oder sein Essay Über die Veränderung des Theaters im Shakespear (1776).11 Moser hat in seiner Analyse der Selbsttechnik in Herders frühen autobiographischen Texten ebenfalls die zentralen Elemente der Subjektform herausgearbeitet, die sich auch in der Essayistik des Sturm und Drang findet und als exemplarisch bezeichnet werden kann. Er zeigt anhand von Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769 – also anhand eines essayistischen Reiseberichts – wie Herder im Prozess des Schreibens eine fiktive Ich-Instanz entwickle. Nur ein solches fiktives Ich erlaube es ihm, in seinem Journal sein Konzept individueller Autonomie zu realisieren, da eine empirische „genetisch“ beziehungsweise „kausal-psychologisch“ motivierte Selbstaneignung zum Scheitern verurteilt sei.12 Herder entwickelt in seinem Journal nach Moser eine Selbsttechnik, die „es dem Subjekt ermöglicht, die Illusion einer organischen Tiefendimension des Ich als Effekt der Schrift hervorzubringen.“13 Dieses ästhetische Verfahren sei unabdingbar an die „Retrospektive“ gebunden, da sich erst im sinnstiftenden Rückblick auf biographische Ereignisse ein autonomes Ich poetisch konstruieren lasse.14 Die folgenden Textanalysen verdeutlichen, wie das exemplarische Ich in Essays von Goethe, Herder und Lenz jeweils individuell ausgestaltet wird. Besonders wird gezeigt, dass diese Subjektform bei allen drei Autoren eine kritische Relativierung in unterschiedlichen Abstufungen erfährt. Goethes Essay Von deutscher Baukunst steht im Zentrum der Ausführungen, da er die exemplarische Subjektform am deut-
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Aufgrund der großen Anzahl von Essays, die dem literarischen Sturm und Drang zugeordnet werden können und eine eigenständige Ausdifferenzierung essayistischen Schreibens in der Epoche der Aufklärung konstituieren, wäre eine umfassende Untersuchung der Essayistik des Sturm und Drang notwendig, gerade auch im Vergleich zur Essayistik der Romantik. Vgl. Christian Moser: Der ‚Traum der schreibenden Person von ihr selbst‘. Autobiographie und Subjektkonzeption bei Johann Gottfried Herder. In: Herder-Jahrbuch 1996, S. 37‒56, hier S. 43 und 49. Ebd., S. 51. Vgl. ebd., S. 56.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
lichsten in Szene setzt.15 Dieser Essay ist nicht nur Goethes erste Publikation – wie Norbert Christian Wolf in seiner Analyse des Textes angemerkt hat16 – sondern wird für die als Interdiskurs organisierte Selbstästhetik des Sturm und Drang auch zu einem Knotenpunkt.17
2.1. Das exemplarische Ich in Goethes Essay Von deutscher Baukunst (1773) Goethes Essay Von deutscher Baukunst erscheint zuerst 1772 anonym in Frankfurt als Flugschrift (datiert auf 1773) und wird 1773 von Herder als Teil der EssaySammlung Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter in Hamburg herausgegeben. Goethe verfasst seinen Baukunst-Essay in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren (1770‒72) im Anschluss an seine Straßburger Studentenzeit.18 Auf kunsttheoretischer Ebene erbringt der Essay eine Rehabilitierung der gotischen Architektur durch eine satirische Polemik gegen den Geschmack des französischen Klassizismus. Das mittelalterliche Straßburger Münster und sein geistiger Schöpfer Erwin von Steinbach werden als vollendete Repräsentanten einer deutschen Nationalkunst gepriesen. Das Münster wird zum Symbol eines genialen Schaffens stilisiert. Der erste Abschnitt des Essays schildert im Rückblick die vergebliche Suche des essayistischen Ichs nach dem Grabstein Erwin von Steinbachs am Straßburger Münster. Er gipfelt in der Beschreibung eines Weihegeschenkes aus Naturalien, welches das Ich auf einer Waldlichtung anstelle eines dauerhaften Denkmals zu Ehren des Architekten an einer Buche befestigt. Im Vordergrund steht hier die Artikulation der Verehrung für den Erbauer des Münsters, die auch in zeitlicher Distanz zum Straßburger Aufenthalt nichts von ihrer Intensität eingebüßt hat. Im zweiten Abschnitt setzt sich das essayistische Ich im Modus eines fiktiven Dialogs mit den Positionen des italienischen und französischen Klassizismus auseinander. Die italienische Architektur habe die Verbindung zu ihren antiken Wurzeln verloren und sei in ihrer zeitgenössischen Ausprägung bloß epigonal. Die in Regelgläubigkeit erstarrte französische Architekturtheorie wiederum stelle rationalistische Spekulationen über die offensichtliche Erfahrung. Im Zentrum steht hier die Auseinandersetzung mit dem klassizistischen Essai sur l’architecture (1753) 15
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Detaillierte Informationen zu Goethes essayistischem Gesamtwerk finden sich beispielsweise bei Peter Burgard: Idioms of Uncertainty. Goethe and the Essay. Pennsylvania State University 1992; James M. van der Laan: Of Goethe, Essays, and Experiments. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64/1 (1990), S. 45‒53; Joachim Wohlleben: Goethe als Journalist und Essayist. Frankfurt a.M. 1981. Vgl. Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771‒1789. Tübingen 2001, S. 132. Vgl. ebd., S. 565. Vgl. Detlef Kremer: Von deutscher Baukunst. In: Bernd Witte u. Peter Schmidt (Hg.): GoetheHandbuch. Bd. 3: Prosaschriften. Stuttgart u.Weimar 1997, S. 564‒570, hier S. 564.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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des Abbé Marc-Antoine Laugier. Das Ich erweist in Opposition zu den Ausführungen Laugiers, dass die mitteleuropäische Architektur als eigenständiges Grundelement die Mauer und nicht – wie die südeuropäische römische und griechische Antike – die Säule verwende. Die aufgelockerte und naturhafte Gestaltung dieses Grundelements an der Fassade des Münsters mache die geniale Leistung Erwin von Steinbachs aus und erhebe ihn zum überzeitlichen Muster einer als genuin deutsch deklarierten gotischen Architektur. Im dritten Abschnitt werden die zentralen Momente des Kunsterlebnisses, die Betrachtung der Fassade des Münsters und die daraus resultierende Einsicht in den Kunst-Charakter von Architektur, szenisch ausgestaltet. Das essayistische Ich schildert im Rückblick, wie es sich dem Münster mit dem Vorurteil der Disproportion gotischer Architektur näherte: „[…] so graute mirs im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheuers“.19 Beim Betrachten der Fassade offenbart sich dem Ich der Genius des Erbauers und weiht es in die harmonische Anlage des Gebäudes ein, die das Vorurteil gänzlich beseitigt. Das Münster ist unvollendet, doch die Einsicht in den Plan des Gebäudes ermöglicht es dem essayistischen Ich, dieses in Gedanken zu vollenden. Im vierten Abschnitt wird aus ethnologischer Perspektive die Idee einer „charakteristischen Kunst“ entwickelt, welche die eigentliche und ursprüngliche Form des künstlerischen Ausdrucks ausmache und erst im höheren Entwicklungsstadium einer Kultur auch zur Schönheit des Kunstwerkes führe. Diese „charakteristische Kunst“, für die das Münster ein herausragendes Beispiel darstelle, wird gegenüber einem direkt adressierten „Jüngling“ verteidigt, dessen Zweifel am Wert der gotischen Architektur noch nicht wie die Zweifel des exemplarischen Ichs beseitigt sind. Der letzte Abschnitt schließt mit einem erneuten hymnischen Lob sowohl auf die gotische Architektur als auch auf einen – als „Knabe“ direkt adressierten – zukünftigen Nationalkünstler, dessen individuelle Entwicklung und künstlerische Laufbahn durch das essayistische Ich prophetisch antizipiert werden. Wolf hat gezeigt, dass die fünf separaten Teile des Baukunst-Essays einen „rhythmischen Wechsel von Hymnik und Polemik“ konstituieren.20 Während der erste und der letzte Abschnitt den Genius des Münster-Erbauers, Erwin von Steinbach, hymnisch priesen, beinhalteten die Abschnitte zwei und vier eine Polemik gegen die zeitgenössische Ästhetik des guten Geschmacks und ihr Verdikt gegen die gotische Architektur. Der dritte Abschnitt mit der Beschreibung der MünsterFassade schließlich stehe im Zentrum des Textes.21 So betrachtet, offenbart sich hinter der scheinbar genialischen Unordnung des Argumentationsverlaufs eine gut
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Johann Wolfgang Goethe: Von deutscher Baukunst. D.M. Ervini a Steinbach. [S.l.] 1773, S. 9. Vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 139. Vgl. ebd.
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durchdachte rhetorische Struktur, welche die primäre Bedeutung der Werkgestaltung für die genieästhetisch geprägte Essayistik des Sturm und Drang verdeutlicht. Auf diese Weise verbindet der Baukunst-Essay nach Detlef Kremer „die Subjektemphase der Geniezeit mit neoklassizistischen Regeln“.22 Denn der Text ist nicht anti-klassizistisch ausgerichtet, sondern richtet sich lediglich gegen einen epigonalen Klassizismus, der seine Erkenntnisse nicht aus der Beobachtung und Erfahrung, sondern aus der Reflexion beziehe und sich an äußerlichen Details orientiere. Die Befolgung von Kunstregeln und Prinzipien innerhalb eines Systems werden dabei strikt abgelehnt. Stattdessen vermittelt der Essay die Anschauung, dass es natürliche Gesetzmäßigkeiten der Kunst in Form bestimmter Verhältnisse gebe, die jedoch nur empfunden, nicht rational begriffen werden könnten. Diese klassizistische Grundlage wird im Essay in der dreifachen Verwendung des Adverbs „notwendig“ deutlich („nothwendig schön“;23 „nothwendig und wahr“;24 „das all war nothwendig, und ich bildete es schön“25). Die Vorstellung von der Notwendigkeit des Münster-Planes verweist auf die überzeitliche Gültigkeit der klassisch-antiken Proportionsgesetze, die nur durch das Kuntwerk selbst ausgedrückt werden könnten. Jens Bisky weist auf einen weiteren entscheidenden Unterschied im Proportionsdenken Goethes gegenüber der zeitgenössischen Architekturtheorie hin, wie sie beispielsweise in Sulzers Allgemeiner Theorie der Schönen Künste (1771) vertreten werde: [W]ährend Sulzer unter Ganzheit Vollständigkeit und Abgeschlossenheit verstand, sieht Goethe Ganzheit aus der spannungsvollen Beziehung einzelner Teile zueinander entstehen. Der Haupteingang [des Münsters, N.H.] beherrscht zwei kleinere, deren Kleinheit die Weite der Fensterrose widerspricht, die wiederum dem Hauptschiff „antwortet“, also auf das Innere verweist und es in der Fassade repräsentiert. Die Untergeschosse der Türme verweisen auf deren Höhe und erlauben es, die nicht ausgeführte Gestalt in Gedanken zu vollenden. Ein Teil fordert das andere, so dass die Gestalt des Münsters als Einheit durch und aus Mannigfaltigem erscheint.26
Die Notwendigkeit, einen bestimmten Plan zu entwerfen, ergibt sich aus der inneren Empfindung des Künstlers, nicht aus einem Regelwerk. Ein ebenso bedeutsames Schlagwort liefert der Begriff „Ruhe“, der im Text viermal in unterschiedlichen Abwandlungen verwendet wird („wenn ich zum ruhigen Genuß meiner Besitzthümer gelange“;27 „mit freundlicher Ruhe geletzt“;28 „der Wonneruh des Geistes“;29 „auszuruhen in dem Arme der Göttinn“30). Diese Ruhe bezeichnet den 22 23 24 25 26 27 28 29
Kremer: Baukunst, S. 569. Vgl. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 3. Vgl. ebd., S. 5. Ebd., S. 10. Jens Bisky: Poesie der Baukunst. Architekturästhetik von Winckelmann bis Boiserée. Weimar 2000, S. 40. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 3. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 11.
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idealen Endpunkt der Selbsttechnik, die sichere Beherrschung der eigenen Kreativität als Zusammenspiel von Empfindung, Handlung und Werk. Das Umkreisen der Zentralvorstellungen „Notwendigkeit“ und „Ruhe“ steht im Essay in einem diametralen Gegensatz zur affektiven Unruhe der Sprache, die in ihrer Rauheit eben die „charakteristische Kunst“ verkörpert und das (noch nicht fertig ausgebildete) Selbst des Verfassers widerspiegelt.31 Goethes Baukunst-Essay ist in jüngerer Zeit zweimal explizit als Essay untersucht worden: von Robert Krause, der die Frage nach dem Verhältnis von Kunsttheorie und Subjektivität in diesem Text stellt, und von Dorothea von Mücke, die den Essay als kontemplative Selbsttechnik interpretiert. Auch Wolf hat eine detaillierte Analyse des Essays vorgelegt, in der er ebenfalls – wenn auch eher am Rande – auf dessen Funktion als Selbsttechnik zu sprechen kommt. Krause legt dar, dass in Goethes Essay das Prinzip des allgemeinen Geschmacks in der Kunstkritik durch die psychologische Annahme ersetzt werde, dass der Einzelne über die individuelle Befähigung verfüge, ein geniales Kunstwerk als solches zu erkennen.32 Es handelt sich also – so könnte man Krauses Gedanken pointieren – um die individuelle Eigenschaft einer kongenialen Kreativität. Krause verweist besonders auf den Zusammenhang von individueller Perspektive und Interdiskursivität in Goethes Essay: Liest man ihn in diesem Sinne als Essay, so kann der Aufsatz Von deutscher Baukunst neu perspektiviert und als epochaler Versuch verstanden werden, sich mit zentralen Fragen der Kunstästhetik auf eine dezidiert subjektive Weise auseinanderzusetzen. Hierbei ist vor allem zu verdeutlichen, inwiefern Goethes Abhandlung neben genrebedingten formalen Beschränkungen die Grenzen verschiedener Disziplinen überschreitet und zwischen allgemeiner Ästhetik, Architekturlehre und Dichtungstheorie nachhaltig vermittelt […].33
Besonders weist Krause auf den Wechsel der Perspektiven in den unterschiedlichen Abschnitten des Textes hin und erklärt diesen aus dem „antiklassizistischen Programm einer offenen Ästhetik“,34 die für essayistische Texte des Sturm und Drang typisch sei: Tatsächlich ist die Argumentation vermeintlich sprunghaft und widersprüchlich, da der Fokus in jedem der fünf Textabschnitte variiert und so stetig wechselnde Perspektiven eröffnet wer-
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Vgl. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 16. Olaf Kramer hat gezeigt, dass Goethes Festhalten an der überzeitlichen Gültigkeit klassischer Proportionsgesetze in der Architektur sich im Essay spiegelt: Hier sind es die konventionellen – jedoch originell neu interpretierten – Figuren der antiken Rhetorik, die als ‚Baumaterial‘ dem Text seine individuellen Proportionen verleihen. Vgl. Olaf Kramer: Goethe und die Rhetorik. Berlin u. New York 2010, bes. S. 124‒128. Vgl. Robert Krause: Die Architektur des Genies. Zu Goethes Essay ‚Von deutscher Baukunst‘. In: Goethe-Jahrbuch 127 (2010), S. 95‒106, hier S. 97. Ebd., S. 95f. Vgl. ebd., S. 98.
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den. Diese Multiperspektivität in Verbindung mit einer diskontinuierlichen Gedankenführung kennzeichnet gerade essayistische Schreibweisen […].35
Der Ausdruck „Multiperspektivität“ ist in Bezug auf den Baukunst-Essay jedoch problematisch, da es hier keine tatsächlichen Perspektivenwechsel gibt (eine wechselnde thematische Fokussierung ist nicht gleichzusetzen mit dem Einsatz mehrerer Perspektiven). Der Eindruck der Multiperspektivität entsteht durch die Interdiskursivität des Essays in enger Verbindung mit dessen dialogischer Struktur, die einen analogischen Verweisungszusammenhang konstituieren. Jedes Textelement ist zugleich in die Diskurse von Individualpsychologie, Architekturtheorie und Poetik eingebunden, sodass diese Diskurse einander spiegeln und analogisch auf das exemplarische Ich verweisen, das im dargestellten Prozess der Selbstästhetik diesen Verweisungszusammenhang erst erzeugt. Innerhalb des interdiskursiven Verweisungszusammenhangs repräsentieren sowohl das Münster als Gebäude als auch der Essay als Text die Seele (das individuelle Selbst) des exemplarischen Ichs.36 Wolf verweist darauf, dass Goethe dieses Verfahren durch Herders Viertes Kritisches Wäldchen (1769) bekannt sei, das geradezu das thematische Programm zum Baukunst-Essay liefert. Hier stellt Herder die Baukunst als diejenige Kunstform vor, die am besten als Einstieg in die ästhetische Selbstbildung geeignet sei: Jüngling, in dessen Seele die Philosophie des Schönen schläft: der Genius der Künste wird dich mit diesen starken und großen Ideen erwecken, und indem er dich an sein Heiligtum führet: so wirst du zuerst ein Gebäude sehen, und fühlen und anstaunen lernen. Da sehe ich dich in der tiefen betrachtenden Stellung, wie du vom ersten Eindruck der Größe und Stärke und Erhabenheit dich sammlest, und in ihm, wie in einem Monument der Ewigkeit, was Jahrhunderte und Menschgeschlechter überleben wird, die Linien der Einheit und Mannichfaltigkeit, in der größesten Simplizität, in der erhabensten Wohlordnung, in der regelmäßigsten Symmetrie, und dem einfachsten Schicklichen des Geschmacks studierest.37
Was Herder hier theoretisch als Aufforderung formuliert, gestaltet Goethe in seinem Essay als individuelles und authentisches Kunsterlebnis. Dieser Umstand macht deutlich, dass gerade auch für die Sturm-und-Drang-Essayistik die Möglichkeit des Einbringens fiktiver Anteile in die Gestaltung des exemplarischen Ichs besteht. Indem Goethe das exemplarische Ich auf der Basis eigener Erfahrungen als 35 36
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Krause: Architektur des Genies, S. 98. Peter-Henning Haischer, der den Baukunst-Essay als autobiographisches Dokument liest, sieht beispielsweise in der Nennung der „Blumen, Blüten, Blätter […]“, die das essayistische Ich Erwin „zu Ehren der Verwesung“ opfere (vgl. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 4), einen Bezug auf Goethes Jugendwerk, das nun aufgrund der im Text dargestellten „ästhetischen Umkehr“ vernichtet werde. Vgl. Peter-Henning Haischer: Ruine oder Monument? Goethes Lebenswerk im Spiegel seiner Gotik-Studien. In: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), S. 215‒229, hier S. 217. Johann Gottfried Herder: Viertes Kritisches Wäldchen. In: Johann Gottfried Herder. Werke. Hg. v. Gunter E. Grimm. Bd. 2: Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767‒1781. Frankfurt a.M. 1993, S. 247‒442, hier S. 400.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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Kunstwerk gestaltet, werden Erfahrungswirklichkeit und Imagination ununterscheidbar. Das Einbringen fiktiver Anteile mithilfe der Imagination ist sogar notwendig, da das Selbst das Material für seine Selbstästhetik zu großen Teilen aus der Rezeption fremder Kunstwerke schöpft. Auch diesen Umstand benennt Herder im Vierten Kritischen Wäldchen, wenn er den direkt angesprochenen „Jüngling“ zur ästhetischen Selbstbildung auf der Basis seines Kunsterlebnisses im Sinne einer „Einprägung“ des Kunstwerkes in die Seele auffordert: Nun gehe hin, und nimm nicht bloß das Bild mit dir, und die simpeln Ideen, die du in ihm gefunden; es präge sich dir auch ein, um deine Seele selbst einzurichten: um ihr auf ewig die Größe und Stärke und Simplizität und Reichtum und Wohlordnung und Schicklichkeit zu geben; um sie, wie ein schönes Gebäude, zu erbauen.38
In diesem übertragenen Verständnis wird die Baukunst zur Selbsttechnik, und der Titel des Essays Von deutscher Baukunst kündigt neben einem Beitrag zum zeitgenössischen Architekturdiskurs vor allem auch das Programm einer neuen lektürebasierten Selbstästhetik an: im Sinne einer aedificatio als „Selbsterbauung“. Auf diesen Umstand geht von Mücke in ihrer Analyse des Baukunst-Essays näher ein. Dabei gründet sie ihre Argumentation zunächst auf der Feststellung, dass Goethe in seinem Essay Architektur zur Kunst aufwerte und das Straßburger Münster als „Exemplum nicht einer spezifischen Bauart oder eines bestimmten Stils, sondern eines genialischen Schaffens“ vorstelle.39 Goethes Beschäftigung mit dem Münster weiche vom zeitgenössischen Architekturdiskurs dahingehend ab, dass er es ausschließlich in seiner Wirkung auf den einzelnen Betrachter untersuche und darstelle, auf welche Weise es „seinen imaginierten, inneren Erfahrungsraum gestaltet“.40 Von Mücke versteht diese Programmatik als eine „gezielte Abwehrreaktion“ gegen die zeitgenössische Tendenz einer „rein medial vermittelten“ Kunstrezeption,41 wie sie beispielsweise durch Sulzers Theorie der Schönen Künste – ebenfalls zum Zwecke der ästhetischen Bildung des Lesers – durchgeführt werde.42 Selbstverständlich kann man dagegen einwenden, dass auch das architektonische Kunsterlebnis in Goethes Essay bloß medial (durch die Schrift) vermittelt ist. In dieser Lesart kommt der vergegenwärtigenden Inszenierung dieses Erlebnisses durch den Text lediglich eine kompensatorische Funktion zu. Andererseits kann man jedoch auch den Standpunkt vertreten, dass der Essay als literarischer Text 38 39 40 41 42
Herder: Viertes Kritisches Wäldchen, S. 401. Von Mücke: Architektur als Kunst und Fiktion, S. 15. Ebd., S. 16. Vgl. ebd. Vgl. zu Sulzers Methodik Elke Katharina Wittich: Im Ganzen betrachten. Die Textillustrationen zur Baukunst in Johann Georg Sulzers Theorie der Schönen Künste (1771/74). In: Förschler u. Hahne: Methoden der Aufklärung, S. 23‒41. Sulzers enzyklopädische und Goethes essayistische Methode der Wissensvermittlung lassen sich einander als konkurrierende Modelle direkt gegenüberstellen.
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selbst ein unmittelbares Kunsterlebnis bietet, bei dem die Baukunst-Thematik lediglich von sekundärer Bedeutung ist und in erster Linie eine Verweisungsfunktion innerhalb des Textes erfüllt. So wie nur das vollkommene Bauwerk die kongeniale Kreativität des Betrachters aufwecken kann, kann auch nur der Essay als vollkommenes literarisches Kunstwerk die ästhetische Selbstbildung des Lesers in Gang setzen und ihm diejenige psychische Disposition vermitteln, die ihn zu einem veränderten Umgang mit Kunst bewegt. Von Mücke hat entsprechend darauf hingewiesen, dass Goethes Beschreibung des Münsters allein dann – wie in der Forschung üblich – als Erlebnisbericht interpretiert werden könne, wenn im Zentrum des Erlebnisses nicht allein die Entdeckung der Schönheit der Fassade, sondern zugleich die Entdeckung und Verkündung einer kontemplativen Selbsttechnik erkannt wird: Das Ich der Erfahrung und der Beschreibung ist ein individualisiertes Ich und zugleich exemplarisch; es lädt zur Identifikation und Nachahmung ein.43
Die kontemplative Selbsttechnik greife auf das Register der religiösen Meditation zurück und inszeniere das Kunsterlebnis in Analogie zur Erbauungsliteratur als Gottesschau: In der Inszenierung des Straßburger Münstererlebnisses wird ein exemplarisches Kunsterlebnis vorgeführt, in dem das Kunstwerk den Betrachter in seinem Selbstverständnis entscheidend stärkt. Das Kunstwerk, das ihn zunächst in seiner komplexen Monumentalität überwältigt, ist dennoch so gefällig, dass er allmählich in der Kontemplation, im wiederholten Betrachtungsprozess zu einer Einsicht in Kompositionsprinzipien, Ordnung und Harmonie dieser Schöpfung kommt, einer Einsicht, die sich ihm gleich einem Zwiegespräch mit dem Schöpfergenius darbietet, sodass er sich am Ende dieses Prozesses in seiner Autonomie einem Gott gleich fühlt […].44
Allerdings sollte hier noch etwas stärker darauf hingewiesen werden, dass die Analogie zur christlichen Erbauungsliteratur in diesem Fall explizite Konkurrenz bedeutet, die Okkupation und völlige Umdeutung einer religiösen Semantik zu poetischen Zwecken. Bisky spricht sogar von einer „blasphemisch[n] Indienstnahme biblischer Metaphorik“.45 Dem entspricht die Tatsache, dass Goethe in seinem Essay auf den Innenraum des Münsters und damit auf dessen sakrale Bedeutung nicht zu sprechen kommt. Norbert Knopp hat treffend bemerkt, dass Goethe stattdessen im ersten Abschnitt des Essays den „heiligen Hain“, in dem er Erwin von Steinbach opfert, „zu einem poetischen Bild des sakralen Innenraums gestaltet“.46 Knopp setzt den Hain jedoch mit der christlichen Funktion des Münsters in Verbindung, während Goethe doch ganz offensichtlich einen dezidiert nicht-christ43 44 45 46
Von Mücke: Architektur als Kunst und Fiktion, S. 25. Ebd., S. 26f. Bisky: Poesie der Baukunst, S. 41. Vgl. Norbert Knopp: Zu Goethes Hymnus Von deutscher Baukunst. D.M. Ervini a Steinbach. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53/4 (1979), S. 617‒650, hier S. 629.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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lichen Sakralraum im Sinne einer pantheistischen Naturreligion an die Stelle des christlichen Altars setzt. Während die Essayistik der frühen Aufklärung das Verhältnis von vernünftiger Reflexion und religiöser Erbauung noch argumentativ – und dabei häufig widersprüchlich – zu legitimieren versucht, bleibt die Bedeutung des christlichen Glaubens für die Sturm-und-Drang-Essayistik ambivalent und wird interpretatorisch bewusst offen gelassen. Hans-Georg Kemper hat gezeigt, dass der frühe Herder das literarische Schaffen in seine Glaubenspraxis integriere, indem er seine Literaturtheorie im Modus der Predigt entwickle und dabei besonders die Kraft der biblischen Sprache für seine Poetik adaptiere.47 Im Gegensatz dazu attestiert Kemper der christlichen Semantik Goethes ebenfalls „blasphemischen“ Charakter, da Goethe Kunst nicht in die religiöse Praxis integriere, sondern eine Substitution der Religion durch die Kunst vornehme. Damit gewinne die Essayistik ihre literarische Sprengkraft gerade aus der bewusst provokant inszenierten Anmaßung des Künstlers gegenüber der christlichen Religion.48 Auch die ambivalente Rolle des einflüsternden Genius, der entweder auf ein inneres Potenzial des Individuums oder auf den Einfluss einer höheren Macht verweisen kann, ändert an diesem Umstand nichts Grundlegendes. Der mythologisierende Bezug auf eine solche Kraft ist nicht notwendig mit dem Glauben an die Existenz eines Schöpfergottes verbunden und bezeichnet vielmehr zunächst allgemein das psychische Moment der Unverfügbarkeit des Neuen im kreativen Akt. Dies wird auch aus der Vielzahl möglicher Bezüge deutlich, auf die Kemper verweist: Wie die Predigt führt die Rede bis zu jenem numinosen Moment, da der Geist oder Genius Erwins aus seinem Werk „spricht“. Der auslegende Prediger erfährt hier in unmittelbarer und damit authentischer Inspiration die Wahrheit. Im Sturm und Drang wird also […] der die biblische Wahrheit letztlich fundierende Inspirationstopos der zeugenden Seele des KünstlerGenies selbst als Wahrheitsmerkmal zugesprochen, und hier beerben Herder und Goethe, wie sich vielfach belegen lässt, die ganze Breite der Traditionen, die vom christlichen, im Pietismus neubelebten Inspirationsverständnis über literarisch-poetologische Topoi der antiken Tradition bis zu hermetischen Vorstellungen von der Partizipation am ‚Geist‘ (‚nous‘) reichen.49
Wenn die Aneignung des christlichen Vokabulars somit das Kunstwerk (in diesem Fall das Straßbürger Münster) „als präsenzstiftendes Original sakralisiert und auratisiert“,50 wie von Mücke festhält, so wird der Essay damit zum Medium einer vom christlichen Glauben abgelösten Kunstreligion. Die Indienstnahme eines rhetori47
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Vgl. Hans-Georg Kemper: Literaturtheorie als Predigt im Sturm und Drang. Theologische Implikationen eines literarischen Paradigmenwechsels. In: Hans-Edwin Friedrich, Wilhelm Haefs u. Christian Soboth (Hg.): Literatur und Theologie im 18. Jahrhundert. Konfrontationen – Kontroversen – Konkurrenzen. Berlin u. New York 2011, S. 243‒260. Vgl. Christina Juliane Fleck: Genie und Wahrheit. Der Geniegedanke im Sturm und Drang. Marburg 2006, S. 7. Vgl. ebd., S. 256f. Vgl. von Mücke: Architektur als Kunst und Fiktion, S. 27.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
schen Wirkungspotenzials artikuliert den uneingeschränkten Geltungsanspruch der Kunst für die exemplarische Subjektform, in der sie an die Stelle der Religion tritt. Zugleich lernt der Leser die exemplarische Subjektform im Modus einer Sprache kennen, deren Bedeutung ihm bereits vertraut ist.
2.2. „Standpunkt“ und Dialogizität: die souveräne Verfügungsgewalt des exemplarischen Ichs Goethes Baukunst-Essay ist in besonderem Maße durch Dialogizität gekennzeichnet.51 Das essayistische Ich reflektiert, indem es Personen(gruppen) anspricht, die bestimmte ästhetische Positionen verkörpern. Es spricht in ihrem Namen, richtet Fragen an sie, streitet mit ihnen oder fordert sie zu einem bestimmten Handeln auf. Die Adressaten wechseln teilweise so schnell, dass der Leser beim ersten Lesen den Überblick darüber verlieren kann, wer gerade angesprochen wird. Besonders der vierte Abschnitt des Essays ist hinsichtlich des Adressatenbezugs interpretatorisch offen, da hier zunächst Erwin von Steinbach angesprochen wird („heiliger Erwin“),52 dann der einzelne Leser als ideale Projektion („du, mein lieber Bruder im Geiste des Forschens nach Wahrheit und Schönheit“),53 kurz darauf der „theure[ ] Jüngling“,54 der ebenfalls als ideale Leserprojektion gedeutet werden kann, und schließlich am Ende des Abschnitts eine nicht näher bezeichnete Adressatengruppe („Hier steht sein Werk, tretet hin […]“),55 die als Gemeinschaft der idealen Leser figuriert. Der schnelle Wechsel des Adressatenbezugs hebt die Grenzen zwischen den einzelnen Personen(gruppen) auf und verdeutlicht, dass in ihnen allen jeweils dasselbe Schöpfungsprinzip angesprochen wird. Das dialogische Verfahren dient in der Selbstästhetik des Sturm und Drang dem Ziel, dem essayistischen Ich einen festen Standpunkt zu verschaffen, es als ein fühlendes und reflektierendes Zentrum seiner Welt (als eines Raumes ästhetischer Erfahrung) zu setzen, von wo aus es souverän über Positionen und Handlungsoptionen verfügt. Um dieses Zentrum der exemplarischen Subjektivität wird die Realität im Essay als Kunstwerk organisiert. Dementsprechend werden die Vertreter des Klassizismus in Goethes Baukunst-Essay auf- und wieder abgerufen wie die Figuren des Dramendichters auf einer Bühne („Es ist im kleinen Geschmack, sagt der Italiäner, und geht vorbey. Kindereyen lallt der Franzose nach, und schnellt trium-
51 52 53 54 55
Zur Dialogizität in Goethes Essayistik vgl. vor allem Burgard: Idioms of Uncertainty, S. 133‒140. Vgl. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 11. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 14.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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phirend auf seine Dose a la Greque.“).56 Der Dialog mit dem Genius Erwin von Steinbachs erfolgt hingegen auf gleichberechtigter Ebene. Eng an das dialogische Verfahren der Selbstsetzung geknüpft sind der hymnische und der polemische Tonfall, denn sie verdeutlichen die Bedeutung starker Affekte bei der Durchführung der Selbstästhetik: Sie bezeichnen jeweils den Einschluss (Hymnik) oder die Abgrenzung (Polemik) von Elementen der Subjektform. Das Gefühl ist in Goethes Essay der Maßstab sowohl der Kreativität als auch der Kunstkritik. Nicht das rationale Sehen und das daraus abgeleitete Messen und Berechnen der Proportionen eines Kunstwerkes liefert die Gesetze der Kunst, sondern die intuitive Empfindung. Die ästhetische Wahrheit gründet sich nicht auf der Reflexion, sondern auf dem Gefühl, wie Herder in seiner bereits 1768‒70 verfassten,57 aber erst einige Jahre später publizierten Schrift Plastik. Einige Wahrnehmungen aus Pygmalions bildendem Traume (1778) theoretisch ausführt: Wir glauben zu sehen, wo wir nur fühlen sollten; wir sehen endlich so viel und so schnell, daß wir nichts mehr fühlen, und fühlen können, da doch dieser Sinn unaufhörlich die Grundveste und der Gewährsmann des vorigen seyn muß. In allen diesen Fällen ist das Gesicht nur eine verkürzte Formel des Gefühls. Die volle Form ist Figur, die Bildsäule ein flacher Kupferstich worden. Im Gesicht ist Traum, im Gefühl Wahrheit.58
Herder baut hier auf Condillacs sensualistischem Traité des sensations (1754) auf, der das Gefühl zur alleinigen Quelle der Erfahrung macht.59 Dementsprechend inszeniert Goethe den ersten Eindruck des Straßburger Münsters als sowohl affektive wie intellektuelle Überwältigung: „Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonirenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte.“60 McCarthy kleidet das Verfahren der Setzung einer exemplarischen Subjektform bei Goethe durch die Zusammenführung von Gefühl und Verstand in eine treffende Metaphorik, wenn er sie als Gravitationszentrum eines dreidimensionalen Raumes beschreibt: „His [Goethes, N.H.] artistic personality forms the nucleus toward which his ideas and feelings gravitate.“61 Die dialogische Strukur des Essays konstituiert das exemplarische Ich somit als Knotenpunkt eines Netzes diskursiver Bezüge, die den Essay als einen Interdiskurs organisieren, dessen Anspruch es ist, introspektiv die individuelle Wahrheit des Selbst auszudrücken und in eine ästhetische Form zu überführen. Im Mittelpunkt steht dabei die Offenbarung des Genius Erwins, die den im Text dargestellten Entwicklungssprung des Selbst zu einem 56 57 58 59 60 61
Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 4f. Wolf weist darauf hin, dass Goethe die Grundthesen der Schrift bereits zum Zeitpunkt der Abfassung des Baukunst-Essays kennt. Vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 149. Johann Gottfried Herder: Plastik. Einige Wahrnehmungen aus Pygmalions bildendem Traume. Riga: Hartknoch 1778, S. 14. Der Hinweis findet sich bei Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 168. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 9. McCarthy: Crossing Boundaries, S. 266.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
exemplarischen Ich bewirkt. Dass jegliche Erkenntnis im Essay sich über Emotionen abspielt, zeigt sich darin, dass das essayistische Ich in „theilnehmende Traurigkeit“ versinkt,62 nachdem es begriffen hat, dass das Münster in wesentlichen Punkten unvollendet ist und seine beabsichtigte Wirkung nicht voll entfalten kann. Die nachfolgende Adressierung des Lesers im vierten Abschnitt bezweckt eine Selektion innerhalb der Leserschaft, die den elitären Charakter der Selbstästhetik deutlich macht. Diejenigen Leser, denen sich die Schönheit des Bauwerkes (und damit auch die Ästhetik des Textes) nicht erschließt, werden des Ortes beziehungsweise des Textes verwiesen („Macht es dir einen widrigen Eindruck, oder keinen, so gehab dich wohl, laß einspannen, und so weiter nach Paris.“63). Selbstverständlich kann man das Verweisen des Lesers aus dem Text auch als einen Topos verstehen, der – wie bereits in Montaignes Essais – eine stärkere Bindung des Lesers an den Text bewirken soll, da die behauptete Exklusivität der anvisierten Leserschaft ein letztlich stärkeres identifikatorisches Potential besitzt als die undifferenzierte Gemeinschaft der vernünftigen Leser. Der Leser kann sich mit dem „Jüngling“ identifizieren, der Kunst auch jenseits klassizistischer Schönheitsvorstellungen erkennt. Er ist der – nach rousseauistischen Vorstellungen – noch unverbildete ideale Adressat der Selbstästhetik, der bereits in Herders Ausführungen zur Baukunst eingeführt wird und der aufgrund seiner spezifischen Prädisposition für die Selbstästhetik des Sturm und Drang durchaus als Typus bezeichnet werden kann. Es handelt sich hierbei um eine Adaption des Typus des „vaterländisch begeisterten Jünglings“, der in der Literatur der 1770er Jahre besondere Verbreitung findet und von Rüdiger Steinlein beschrieben worden ist.64 Im letzten Abschnitt des Essays wird der Kunst-Pädagogik Einhalt geboten, da sie die natürliche Entwicklung des Einzelnen mehr behindere als fördere. Der Leser wird nun nicht mehr als Jüngling, sondern als Knabe angesprochen, und seine Entwicklung zum Künstler wird im Zeitraffer vorgeführt. Wenn abschließend die Schönheit angerufen wird: „[N]imm ihn auf, himmlische Schönheit, du Mittlerin zwischen Göttern und Menschen, und mehr als Prometheus leit er die Seeligkeit der Götter auf die Erde“,65 so handelt es sich hierbei auch um eine Selbstreferenz, ein Aussprechen der eigenen Entwicklungsabsicht. Wenn der Knabe und der Jüngling adressiert werden, spricht das exemplarische Ich somit immer auch über sich selbst in unterschiedlichen Stadien der Entwicklung. Genauere Auskünfte über die Idee des Standpunktes, die für die Essayistik des Sturm und Drang und ihr Konzept einer exemplarischen Subjektivität zentral ist, 62 63 64
65
Vgl. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 11. Ebd., S. 12. Vgl. Rüdiger Steinlein: Vom weltbürgerlich aufgeklärten Kind zum vaterländisch begeisterten Jüngling. Bilder eines psychohistorischen Typus in der deutschen (Kinder- und Jugend-)Literatur (1750‒1850). In: Günter Oesterle (Hg.): Jugend – Ein romantisches Konzept? Würzburg 1997, S. 297‒332. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 16.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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geben Lenz’ Anmerkungen übers Theater. Lenz entwirft in diesem Text, den Fritz Martini ebenfalls als Essay identifiziert hat und der zuerst in der „Société de Philosophie et Belles Lettres“ in Straßburg vorgetragen wird,66 seine grundlegenden Ansichten zur Errichtung eines nationalen Theaters nach dem Vorbild Shakespears und in polemischer Opposition zur Poetik des Artistoteles. Er bestimmt den Dichter eines solchen Theaters als ein Genie, das Gesichtspunkt und Standpunkt in sich vereinen müsse, um seiner künstlerischen und gesellschaftlichen Aufgabe gerecht zu werden. Gesichtspunkt und Standpunkt sind dabei komplementäre Begriffe, die nicht definiert werden, da der Leser – wie im Sturm-und-Drang-Essay üblich – sich die eigentliche Aussage des Textes selbst erarbeiten soll, um auf diese Weise seine kongeniale Fähigkeit auszubilden. Lenz fordert seine Leserinnen und Leser in den Anmerkungen zu dieser Vervollständigungsleistung direkt auf: Es giebt Personen, die eben so geneigt sind was Neues zu sagen und das einmal gesagte mit allen Kräften Leibes und der Seele zu vertheidigen, als der gröbere Theil des Publikums, der dazu geschaffen ist, ewig Auditorium zu seyn, geneigt ist, was Neues zu hören. Da ich hier aber kein solches Publikum — so untersteh ich mich nicht, Ihnen den letzten Entzweck [sic!] dieser Anmerkungen, das Ziel meiner Partheygänger anzuzeigen. Vielleicht werden Sie, wenn Sie mit mir fortgeritten sind, von selbst drauf stossen und alsdenn —67
Der Gesichtspunkt bezeichnet – wie aus Lenz’ andeutungsweisen Erläuterungen ersichtlich wird – die aus der Individualität des Einzelnen gewonnene Perspektive auf die Welt, die in erster Linie rational bestimmt ist. Das Genie verfüge in besonders ausgeprägtem Maße über einen solchen Gesichtspunkt. Dieser versetze es in eine souveräne Position, die Lenz durch ein Anzitat mit der Figur des Weisen in Lukrez’ De rerum natura in Verbindung bringt, die bereits in Bacons Essay Of Truth als ideale Subjektform in Erscheinung getreten ist. Lenz fordert die Fürsprecher des klassizistischen Dramas und der Beibehaltung der drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung auf, sich durch das Genie einen solchen absoluten Gesichtspunkt geben zu lassen, den er an anderer Stelle auch als „Blick der Gottheit in die Welt“68 bezeichnet: Welch ein grösser und göttlicher Vergnügen, die Bewegung einer Welt, als eines Hauses? und welche Wohlthat des Genies, Sie auf die Höhe zu führen, wo Sie einer Schlacht mit all ihrem Getümmel, Jammern und Grauen zusehen können, ohne Ihr eigen Leben, Gemüthsruhe, und Behagen hineinzuflechten, ohne auf dieser grausamen Scene Akteur zu seyn. Liebe Herren! was sollen wir mehr thun, daß ihr selig werdet? wie kann mans euch bequemer machen? Nur zuschauen, ruhen und zuschauen, mehr fodern wir nicht, warum wollt ihr denn nicht auf die-
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68
Vgl. Fritz Martini: Die Einheit der Konzeption in J.M.R. Lenz’ ‚Anmerkungen übers Theater‘. In: Manfred Wacker (Hg.): Sturm und Drang. Darmstadt 1985, S. 250‒278, hier S. 250‒251. Jakob Michael Reinhold Lenz: Anmerkungen übers Theater nebst angehängten übersetzten Stück Shakespears. In: Jacob Michael Reinhold Lenz. Werke in zwölf Bänden. Hg. v. Christoph Weiß. Bd. 5. St. Ingbert 2001 [ND der Ausg. Leipzig: Weygand 1774], S. 9. Ebd., S. 26.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
sem Stern stehen bleiben, und in die Welt ‘nabgucken, aus kindischer Furcht den Hals zu brechen?69
Während die Einnahme eines solchen Gesichtspunktes für den Leser und Literaturkritiker ausreichend sei, müsse der Dichter jedoch seinen Gesichtspunkt mit einem Standpunkt verbinden, das heißt seine Individualität in einem konkreten gesellschaftlichen Kontext realisieren. Nur diese selbstgewählte Einschränkung und Einbindung macht das Genie des Dichters nach Lenz letztlich produktiv, da der absolute Gesichtspunkt des Weisen sich auf eine Haltung beschränke, die dem Gegenstand der Literatur ein ausschließlich ästhetisches Interesse entgegen bringe, keinesfalls aber mit gesellschaftlichem Engagement verbunden sei. Der Zynismus, der aus Lenz’ Portrait des (stoischen) Weisen ablesbar ist (dem Jammern und Grauen der Menschen steht auf Seiten der Betrachter Gemüthsruhe, Behagen, Seligkeit und Bequemlichkeit entgegen) verdeutlicht die primär gesellschaftliche Rolle, die Lenz dem Dichter zumisst. Martin Kagel hat die militärische Terminologie in den Anmerkungen untersucht und den Blick des Dichters auf die Welt, wie Lenz ihn darstellt, mit dem Blick des Generals als „militärischem Genie“ über seine Truppen verglichen.70 Der General verfüge über eine „anschauende Erkenntnis“, deren Kennzeichen „Simultaneität, Transparenz und Sinnlichkeit“71 in der militärtaktischen Literatur des 18. Jahrhunderts die gleiche Bedeutung zukomme wie in Lenz’ Poetologie. Nach Kagel kehrt durch die militärische Rhetorik ein „Regiment der Vernunft“ in Lenz’ Poetologie zurück, das dieser gerade vermeiden wolle.72 Allerdings berücksichtigt Kagel nicht, dass Lenz Gesichtspunkt und Standpunkt voneinander unterscheidet und dem ausschließlichen Gesichtspunkt eine klare Absage erteilt. Lenz macht also in den Anmerkungen gerade auf die Problematik des „Regimentes der Vernunft“ aufmerksam. Indem der Dichter einen Standpunkt einnimmt, wird er also zugleich „mehr“ und „weniger“ als das Genie, das auf einen bloßen Gesichtspunkt festgelegt ist, da er an intellektuellem Überblick verliert und dafür an Einsicht in die Gegenwart, in
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70
71 72
Lenz: Anmerkungen übers Theater, S. 28f. Hadot beschreibt das stoische (und epikureische) Ideal der Weisheit, auf das Lenz hier Bezug nimmt, ebenfalls als „Blick von oben“: „Diese Bemühung um den Blick von oben führt also dazu, die menschliche Realität in ihrer Gänze und unter allen ihren sozialen, geographischen und gefühlsmäßigen Gesichtspunkten wie ein anonymes Gewimmel zu betrachten und in die Unermeßlichkeit des Kosmos einzuordnen. Aus der Perspektive der Allnatur gesehen, werden alle Dinge, die nicht von uns abhängen, also die Dinge, die die Stoiker die gleichgültigen Dinge (indifferentia) nennen, wie zum Beispiel Gesundheit, Ruhm, Reichtum, Tod, auf ihre wahren Proportionen zurückgeführt.“ (Hadot: Philosophie als Lebensform, S. 131.) Vgl. Martin Kagel: Bewaffnete Augen. Anschauende Erkenntnis und militärischer Standpunkt in J.M.R. Lenz’ Anmerkungen übers Theater. In: Colloquia Germanica 31 (1998), S. 3‒19, hier S. 7. Vgl. ebd. Vgl. ebd.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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der er lebt, gewinnt.73 Aus der emotionalen Beteiligung entstehen die Charaktere des Dramas, und der Dichter selbst realisiert in sich selbst eine exemplarische Subjektivität (die bei Lenz primär sozial- und zivilisationskritisch konnotiert ist, bei Goethe ästhetisch): „Er nimmt Standpunkt — und dann mu ß e r s o ve rb i n d e n .“74 Schwieriger gestaltet sich die Beantwortung der Frage, auf welche Weise die rhetorische Gestaltung der Anmerkungen mit der darin entwickelten exemplarischen Subjektform zusammenhängt. Am auffälligsten ist Lenz’ Verfahren, Sätze plötzlich abreißen und mit einem Gedankenstrich enden zu lassen. Martini sieht darin eine „Sprachnot“, eine Unfähigkeit des Verfassers, „das Eigene“, also seinen individuellen Gesichtspunkt oder Standpunkt angemessen zu artikulieren.75 Rudolf Käser formuliert in seiner Studie zur Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des Sturm und Drang eine ähnliche These, die er auf die besondere Radikalität der Autonomie-Konzeption bei Lenz zurückführt: Die charakteristische Färbung des Sturm und Drang erhält Lenz’ Text aber aus der grundsätzlichen Ichbezogenheit der Begriffsbildung. Noch in allgemeinsten anthropologischen Gedankengängen ist das eigene Ich Ausgangspunkt und Kardinalbeispiel der theoretischen Reflexion. Der begriffliche Gegensatz von Determinismus und Freiheit steht von Anfang an im Spannungsfeld von Wunsch und Zweifel des Sprechenden. Doch die Identität dieses Ich ist nicht gesichert, und gerade an dem, was an Selbsterfahrung zur Darstellung kommt, zerbricht […] die argumentative Stringenz des Textes.76
Wenn man die Anmerkungen als Selbstästhetik versteht und das sprechende Ich nicht mit Lenz identifiziert, sondern von einem Selbst ausgeht, das schreibend in der Verwendung eines exemplarischen Ichs diese Subjektform an sich selbst zu realisieren versucht, so kann man die in sich zusammenbrechende Argumentation als ein Krisensymptom lesen, einen Verweis auf die Unmöglichkeit der Realisierung dieser Subjektform. Das essayistische Ich macht zu Beginn auf seine besondere Verfassung aufmerksam, die es ihm nicht erlaube, den behandelten Gegenstand angemessen zu entfalten. Diese Verfassung, die mit einer Einschränkung des (selbst)reflexiven Potenzials einhergeht, ist aber nach Lenz’ eigener Konzeption gerade kennzeichnend für den Standpunkt und damit notwendiger Bestandteil der exemplarischen Subjektform. 73
74 75 76
Dass der „Gesichtspunkt“ als ausgebildete Individualität für einen Künstler nicht ausreichend sei, deutet das essayistische Ich im Zuge seiner Kritik an den drei Einheiten in Form von zwei – nur vorgeblich rhetorischen – Fragen an: „Und was heissen denn nun drey Einheiten, meine Lieben? Ist es nicht die eine, die wir bey allen Gegenständen der Erkenntniß suchen, die eine, die uns den Gesichtspunkt giebt, aus dem wir das Ganze umfangen und überschauen können? Was wollen wir mehr, oder was wollen wir weniger?“ (Lenz: Anmerkungen übers Theater, S. 28.) Kagel: Bewaffnete Augen, S. 16. Vgl. Martini: Anmerkungen übers Theater, S. 255. Rudolf Käser: Die Schwierigkeit, ich zu sagen. Rhetorik der Selbstdarstellung in Texten des „Sturm und Drang“. Herder – Goethe – Lenz. Bern u.a. 1987, S. 258.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
Martin Rector hat die anthropologischen Grundlagen der poetologischen Reflexion in den Anmerkungen rekonstruiert und mit der sprachlichen Gestaltung des Textes in Verbindung gebracht. Lenz gehe „von zwei als anthropologische Konstanten angenommenen Grundtrieben aus“:77 dem Trieb zur Nachahmung des schaffenden Prinzips der Natur und dem – diesem vorausgehenden – Trieb nach einer anschaulichen Erkenntnis, die „aller logischen Schlüsse und begrifflichen Definitionen enthoben[ ]“ sei.78 In den Anmerkungen nun sei der Trieb zur Anschauung nicht nur Gegenstand der Reflexion, sondern selbst „Subjekt des Denkens“ und damit das „diese Reflexion organisierende Verfahren“.79 Im Folgenden führt Rector aus, dass Lenz das anschauliche Denken als Korrektiv der logischen Systemphilosophie verstehe, da nur die Ansprache aller Seelenvermögen durch die Philosophie den Menschen zu tatsächlicher Erkenntnis befähige.80 Rector bewertet die Tatsache, dass Lenz „das Vermögen des Genies nicht antagonistisch zur logischen Erkenntnisfähigkeit des Philosophen, sondern als spannungsvoll aufeinander bezogene gleichwertige Entfaltung der sinnlichen wie der rationalen Erkenntniskräfte“ denke,81 als eine spezifisch individuelle Ausprägung der Genieästhetik bei Lenz. Man muss jedoch festhalten, dass gerade die von Rector für die Anmerkungen diagnostizierte „Spannung zwischen Begriff und Bild“,82 das Wechseln zwischen reflexiven und szenisch darstellenden Passagen ein Spezifikum der Sturm-und-DrangEssayistik generell ist und sich gerade auch an Goethes Baukunst-Essay nachweisen lässt. Anhand einer Analyse des Beginns der Anmerkungen, der den Zustand des zeitgenössischen deutschen Theaters szenisch darstellt, führt Rector vor, wie Lenz dem Leser das anschauliche Denken vermittle: Er liefert dem Vortragenden und den Zuhörern ein sinnliches Vorstellungstableau, auf das sich alles Räsonnieren zu beziehen hat, und er expliziert somit sein von der Anschauung ausgehendes und auf diese rückbezügliches Denken nicht in einer abstrakten methodischen Vorbemerkung, sondern in actu. Er offenbart seine Methode, indem er sie zu praktizieren beginnt.83
Besonders schlüssig leitet Rector die sprachliche Gestaltung der Anmerkungen aus dem Bestreben des Autors ab, die Kraft des Triebes zur anschaulichen Erkenntnis deutlich zu machen, und liefert dabei ein Beschreibungsinventar, das sich auch auf andere Essays des Sturm und Drang übertragen lässt: Er [der Trieb zur Anschauung, N.H.] drängt, als „glühende Kohle“ in der Hand, nach sofortigem Ausdruck und setzt damit das sich schrittweise entwickelnde Denken unter einen bestän77 78 79 80 81 82 83
Martin Rector: Anschauendes Denken. Zur Form von Lenzʼ ‚Anmerkungen übers Theater‘. In: Lenz-Jahrbuch. Sturm-und-Drang-Studien 1 (1991), S. 92‒105, hier S. 94. Ebd., S. 94. Vgl. ebd., S. 95. Vgl. ebd., S. 96f. Ebd., S. 98. Vgl. ebd., S. 99. Ebd., S. 100.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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digen Tempodruck. Der Anschauungstrieb hat sozusagen keine Geduld mit der schrittweisen Analyse, weil er um den Verlust der Frische und Ganzheit seiner Vorstellung fürchtet. Hier liegt die tiefere Ursache für die immer wieder beobachteten Oberflächenphänomene des Textes: die gehetzte Syntax, die Tendenz zu Ellipsen und Anakoluthen, aber auch zu kühnen Verkürzungen in Metaphern und Wortneuschöpfungen.84
Das Abbrechen, Auslassen und Andeuten von Gedanken soll somit den Drang zur Anschauung darstellen, der der Reflexion stets vorauseilt, sodass die Ausführung der Argumentation ständig den Ideen hinterherhinkt und ein bloßer Gedankenstrich sie beenden muss, wenn der Geist sich schon wieder einem neuen Gedanken zuwendet. Vielfach bezeichnen die Gedankenstriche bei Lenz allerdings auch tatsächliche Leerstellen, die durch den Leser ausgefüllt werden sollen, beispielsweise wenn die Konsequenz aus einer Überlegung verschwiegen wird. Autoreflexiv gewendet wird dies in einem Fall, in dem das essayistische Ich die Wirkung einer französischen Komödie beschreibt: — untersuchen Sie sich, meine Herren! wenn Sie aus dem Schauspielhause fortgehen, was ist das Residuum davon in Ihrer Brust? Dampf, der verraucht, sobald er an die Luft kommt. Sie merkten dem Dichter das Kunststück ab, Sie sahen ihm auf die Finger, es ist doch nur eine Komödie, sagen Sie und wer war die in der zweyten Loge? Was gilts, Sie greifen sich gar an den Kopf, wenn Sie aufmerksam zugesehen haben, und ich sage Ihnen im Vertrauen, daß ein solches Stück in vollem Ernst den Kopf des Zuschauers mehr angreift als den Kopf des Komödianten und Poeten zusammengenommen. Denn er muß das hinzudenken, was —85
Die Aufgabe der Vervollständigung wird somit an den Leser beziehungsweise das Publikum abgetreten, da das Einnehmen eines Standpunktes Interaktion fordert und damit nicht notwendig ein Scheitern dokumentiert. Alan C. Leidner hat darüber hinaus gezeigt, dass die Problematik des Standpunktes bei Lenz auch eng mit dem Fehlen einer deutschen nationalen Identität im späten 18. Jahrhundert verbunden ist: Standpunkt is an important – and elusive – concept in Lenz precisely because the mutual generation of self and community was failing in Germany, leading to a failure in the German writer’s ability to carry on mimetic activity. For not only do self and community institute one another; this reciprocal process grants the artist a capacity to understand and articulate his world.86
Zu einer Krise in der exemplarischen Subjektform kommt es bei Lenz also erst in dem Moment, in dem der Dichter von seinem Publikum keine Antwort mehr erhält. Dann kann er keinen Standpunkt einnehmen und wird auf den als unfruchtbar eingeschätzten, da emotional unbeteiligten Gesichtspunkt zurückverwiesen: „[…] und freylich, wenn man uns auf der Erde keinen Platz vergönnen will, müssen wir
84 85 86
Rector: Anschauendes Denken, S. 102. Lenz: Anmerkungen übers Theater, S. 43. Alan C. Leidner: The Dream of Identity: Lenz and the Problem of ‚Standpunkt‘. In: German Quarterly 95/3 (1986), S. 387‒400, hier S. 391.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
wohl in der Hölle spielen.“87 Das Erschaffen eines psychologisch überzeugenden Dramas ist in Lenz’ Essay somit auch untrennbar mit einer Selbsterkenntnis verbunden, die nur im gemeinschaftlichen Austausch entstehen kann. Daher bezeichnet Brigitta O’Regan Lenz’ Ethik auch als „an ethics of self-realization“.88 Was das mögliche gesellschaftliche Scheitern des Essayisten angeht, der sich bemüht, seinen Gesichtspunkt mit einem Standpunkt zu verbinden, betont MarieChristin Wilm die utopische Qualität des Sturm-und-Drang-Essays. Sie vertritt die These, dass die Subjektkonzeption der Stürmer und Dränger auf der Erkenntnis aufbaue, dass der Einzelne seine Freiheit nicht in den eng gesteckten Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft erlangen könne.89 Daher führten die Dramen und Romane des Sturm und Drang regelmäßig scheiternde Helden vor. In den theoretischen – und man müsste hier hinzufügen, essayistischen – Texten hingegen artikuliere sich ein Freiheitsgefühl, das jedoch ausschließlich dem Bereich der ästhetischen Erfahrung zugeschrieben werde. Wilm untersucht exemplarisch Goethes ShakespeareEssay und das sich darin artikulierende Ich, das sie (in Anlehnung an die Begriffsverwendung bei Wolf90) als „dithyrambisch“ bezeichnet und damit auf den „rauschhaften“, begeisterten Modus seiner Artikulation verweist.91 Das „dithyrambische“ Ich erlange ästhetische Freiheit durch eine Verbindung von erlebtem Affekt und einordnender Reflexion, ohne dabei der Gefahr des Scheiterns ausgesetzt zu sein: „Dem Shakespeare-preisenden Ich ist jene zugleich erkenntnistheoretischreflexive und körperlich-affektive Erfahrung ästhetischer Freiheit zuteil geworden – und zwar ohne dafür seine rechte Hand opfern zu müssen [im Gegensatz zur Dramenfigur Götz von Berlichingen, N.H.].“92 Der Essay des Sturm und Drang verbinde in seinem Konzept autonomer Subjektivität Denken und Fühlen zu einer jeweils individuell ausgestalteten, ganzheitlichen Anthropologie: Sowohl Goethe als auch Lenz weisen dieses Gefühl [menschlicher Freiheit, N.H.] als eine Empfindung des ganzen Menschen aus, indem sie es direkt an emotionale und intellektuelle Erkenntnisse binden. Für Goethe steht es in unmittelbarer Beziehung zu Selbsterweiterung und Welterkenntnis, für Lenz setzt es sich aus der Bewusstwerdung der eigenen Gefühle im Denken zusammen und stellt eine neue ‚selbstgewirkte‘ Qualität der Seele dar. Goethe und Lenz 87 88
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90 91 92
Lenz: Anmerkungen übers Theater, S. 35. Vgl. Brigitta O’Regan: Self and Existence. J.M.R. Lenzʼs Subjective Point of View. New York u.a. 1997, S. 112. O’Reagan sieht in ihrer Analyse des Konzeptes ästhetischer Bildung bei Lenz die Möglichkeit des freien Willens mit der Notwendigkeit zur Ausbildung einer (künstlerischen) Individualität verknüpft: „Lenz identifies the free will as a human potential which lies dormant until it is acknowledged by the individual. Only if the individual becomes subjective, does she realize her potential for freedom and ethical autonomy.“ (Ebd., S. 107.) Marie-Christin Wilm: Ästhetische Freiheit im Sturm und Drang. Zur Verschränkung von Freiheitsgefühl und ästhetischer Erfahrung bei Goethe und Lenz. In: Lenz-Jahrbuch 13/14. 2004/07 (2008), S. 29‒57, hier S. 40. Vgl. Wolf: Streitbare Ästhetik, S. 49‒55. Vgl. Dirk Kemper: Dithyrambe. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1, S. 382f. Wilm: Ästhetische Freiheit, S. 45.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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präsentieren damit jeweils eine von Lust begleitete Form ästhetischer Wahrnehmung der eigenen Gefühls- und Verstandestätigkeit, die als Freiheitsgefühl bestimmt wird und eben sowohl die emotionalen als auch die intellektuellen Fähigkeiten des Menschen umfasst.93
Allerdings zielt der Essay des Sturm und Drang gerade auf die Vermittlung dieses Freiheitsgefühls an das Lesepublikum ab. Daher leistet er einen maßgeblichen Beitrag zur Sensibilisierung der Leserinnen und Leser für eine radikal-ästhetische Subjektivität und für die Probleme, die sich aus einer solchen Selbstbildung ergeben. Eine Frage wurde jedoch bislang noch nicht beantwortet: Was genau ist der Auslöser, der das Kunsterlebnis zu einer Selbstästhetik macht? Kann jedes Kunstwerk diesen Prozess in Gang setzen? Der Baukunst-Essay gibt auf diese Frage die Antwort, dass das Kunstwerk ein Irritationsmoment aufweisen müsse (in diesem Fall die unvollständige Ausführung des Münsters), das die Selbsttätigkeit des Rezipienten herausfordert.
2.3. Der Fehler des Kunstwerks als Auslöser der Selbstästhetik Im Baukunst-Essay steht die überwältigende Perfektion des Münster-Planes im Zentrum der Kunstreflexion. Die wiederholte kontemplative Betrachtung des Gebäudes befähigt das essayistische Ich schließlich dazu, das unvollendete Münster, dem ein Turm und der Turmschmuck fehlen, im Geiste zu vervollständigen. Somit ermöglicht allein das Unvollendete des Münsters, das heißt der Fehler in der Ausführung des Gebäudes, das geschilderte einmalige Kunsterlebnis. Die sinnlich wahrnehmbare Diskrepanz zwischen dem Plan und seiner Ausführung regt die kongeniale Schöpfungskraft des Betrachters an, und die Vervollständigungsleistung macht dem Ich die Existenz seiner Kraft bewusst. Die Offenbarung des Bauplanes ist damit in erster Linie eine Selbstoffenbarung. Auf diese Weise entwickelt sich das exemplarische Ich durch die Kunstbetrachtung weiter. Diese konstitutive Bedeutung des Fehlers für die Selbsttechnik wird durch den Text jedoch überraschenderweise nicht reflektiert. Die „Huldigung des Fragmentarischen“,94 die Haischer dem Baukunst-Essay attestiert, lässt sich dort gerade nicht nachweisen. Alle narrativen und argumentativen Stränge (die intuitive Vervollständigung des Gebäudes, das Kreisen der affektiven Sprache um die Begriffe „Ruhe“ und „Notwendigkeit“) konstituieren eine Bewegung des Textes hin zur Überwindung des Fragmentarischen und zur Gestaltung einer abgeschlossenen exemplarischen Identität. Stattdessen finden sich im Essay ein explizites und ein implizit kommuniziertes Kunstverständnis: Einerseits ist Kunst hier das Ergebnis eines genialen, perfekt durchgeführten Plans: Nach diesem Verständnis ist das Fehlen des zweiten Turmes 93 94
Wilm: Ästhetische Freiheit, S. 54f. Vgl. Haischer: Ruine oder Monument, S. 218.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
am Münster unwesentlich und wird durch die kongeniale Fähigkeit des Betrachters mit einigem Aufwand an Reflexion und Einfühlung kompensiert. Andererseits wird das Kunstwerk (das Münster oder der Essay selbst) jedoch zum Medium einer Selbsttechnik, in der sein Fehler von zentraler ästhetischer Bedeutung ist, da die Störung des Gesamteindrucks die kongeniale Schöpfungsleistung erst initiiert. Wenn das essayistische Ich angibt, es habe zunächst befürchtet, ein monströses Bauwerk vorzufinden („so graute mirs im Gehen vorm Anblick eines mißgeformten krausborstigen Ungeheurs“),95 so bezieht sich dies selbstverständlich auf das Vorurteil gegenüber dem gotischen Stil, das durch die Betrachtung berichtigt wird. Zugleich verweist diese Aussage jedoch auch auf einen blinden Fleck des Textes, da das Münster in seinem unvollständigen, disproportionierten Zustand durchaus als monströs bezeichnet werden könnte. Das essayistische Ich überspringt diese Einsicht jedoch in der Reflexion und geht von der Schilderung seiner Erwartungshaltung direkt zur Beschreibung des vervollständigten Bauwerks über. Der ästhetische Eigenwert des Fehlers in der Selbstästhetik wird somit an dieser Stelle nicht bewusst reflektiert und bezeichnet geradezu analog zum Gebäude eine Leerstelle in der Ausführung des Essays.96 Der Text scheint geradezu die klassizistische Forderung nach einer ästhetisierenden, verschönernden Behandlung auch des Monströsen zu erfüllen, wie sie Boileau in seiner Art poétique fordert, wenn er schreibt: Il n’est point de Serpent, ni de Monstre odieux, Qui par l’art imité ne puisse plaire aux yeux. D’un pinceau delicat l’artifice agreable Du plus affreux objet fait un objet aimable.97
Das Monströse steht in der klassizistischen Poetik für den Verstoß gegen das vernünftige Regelwerk. Wie Urte Helduser herausgearbeitet hat, verbindet sich dieser poetologische Diskurs im späten 18. Jahrhundert mit dem anatomischen Diskurs über das Phänomen der „Missgeburten“.98 Dieser Bezug wird auch im BaukunstEssay hergestellt, da der Ausdruck „Ungeheuer“ durch die Eigenschaft „mißgeformt“ ergänzt wird. Helduser legt dar, dass in der zweiten Hälfte des 95 96
97 98
Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 9. Haischer weist in seiner Analyse zu den Gotik-Schriften Goethes darauf hin, dass Goethe in seinem überarbeiteten Essay Von deutscher Baukunst (1823) das Straßburger Münster durch den Kölner Dom ersetze. Das geniale Bauwerk erscheine nun primär als Ruine, die auf das unvollende Lebenswerk verweise und etwas „Ungeheures“ an sich habe. Vgl. Haischer: Ruine oder Monument, S. 223. Die intuitive Vervollständigungsleistung gelinge an diesem Bauwerk nicht. Haischer führt weiter aus, dass Goethe dieser Problematik im Folgenden begegne, indem er den Abschluss und die Weiterführung seines Werkes als kollektive Arbeitsleistung organisiere, um auf diese Weise am Gedanken einer exemplarischen Subjektivität festhalten zu können. Der anregenden Kraft des unvollendeten Werkes wird in diesem späten Essay eine zentrale und eigenständige Bedeutung zugesprochen (vgl. ebd., S. 227). Boileau: Art poétique, S. 42. Vgl. Urte Helduser: Poetische ‚Missgeburten‘ und die Ästhetik des Monströsen. In: Achim Geisenhanslüke u. Georg Mein (Hg.): Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Bielefeld 2009, S. 669‒688.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
221
18. Jahrhunderts in der Anatomie die Ablösung der Präformationslehre durch die Theorie der Epigenesis zu einem veränderten Blick auf Fehlbildungen führe. Da die Gestalt eines Individuums nicht bereits im Keim angelegt sei, sondern sich erst nach und nach entwickele, stelle die Fehlbildung kein scheinbar übernatürliches Phänomen dar, sondern folge selbst bestimmten Regeln, die sich als Abweichungen vom ursprünglichen Plan erschließen ließen.99 Ein solches Verständnis der anatomischen Abweichung legt Goethe zugrunde, wenn er das essayistische Ich den ursprünglichen Plan des Gebäudes durch ein vergleichendes Betrachten der einzelnen Teile des Bauwerkes ergründen lässt. Die unvollständige Ausführung des Münsters verweist auf die noch unvollständige Bildung des Selbst auf dem Weg zur exemplarischen Subjektivität. Selbstbildung erfolgt somit als ein schöpferischer Prozess, in dem das Selbst die eigene Vollständigkeit aus dem bereits (biographisch) Realisierten antizipieren muss. Die mit negativen Gefühlen behaftete Wahrnehmung des Fehlerhaften in der eigenen Subjektivität wird in diesem Perfektibilitätskonzept zur treibenden Kraft. Das Selbst ist ständig von der Gefahr bedroht, sich in seiner Fehlerhaftigkeit als monströs zu erscheinen. Das Münster als materielles Gebäude, das seine eigene Geschichtlichkeit hat und in dieser Geschichtlichkeit auch auf die Gefahr des Scheiterns eines Anspruches auf exemplarische Subjektivität verweist – und die Entwürfe gotischer Kathedralen implizieren die Gefahr des Scheiterns geradezu paradigmatisch –, tritt in den Hintergrund. Haischer hält zu diesem Punkt fest, dass die „analogiebedingte Unschärfe“ in der Beschreibung des Straßburger Münsters es Goethe erst ermögliche, dieses zum Symbol einer exemplarischen Subjektivität auszugestalten. Dieses Verfahren führe zu einem Verzicht auf die Historisierung des Gebäudes: „Die rezeptive Emphase entgrenzt das Kunstwerkt zeitlich und räumlich.“100 Es wird überlagert von der zeitlosen Idee seines Erbauers, deren Vollkommenheit sich dem Betrachter erschließt, und auf diese Weise entsteht im Essay ein utopischer Raum. Eine entsprechende Beobachtung macht Moser im Hinblick auf Herders Essay Über Thomas Abbts Schriften. Hier würden Abbts Texte aufgrund ihres fragmentarischen Charakters zum „Torso“ stilisiert, also zum Symbol des (noch) unvollendeten Individuums. Gerade die Unvollständigkeit (und damit Fehlerhaftigkeit) der Schriften garantiere die fortdauernde Wirksamkeit der Selbsttechnik: Die autobiographische Schrift ist der paradoxe Ort einer Selbstverfehlung, die das Ich konstituiert. Sie ist das Monument der stets nur fragmentarischen (Selbst-)Gegenwart des Subjekts –
99 100
Vgl. Helduser: Poetische Missgeburten, S. 680f. Haischer: Ruine oder Monument, S. 218. Auch Bisky stellt im Hinblick auf Goethes Genieästhetik im Baukunst-Essay fest: „Das Werk des Genius sistiert Geschichte. Es schafft, wie im Aufsatz mehrfach gesagt wird, nicht voraussetzungslos, aber sein Plan vernichtet die Spuren des Gewordenseins und der zeitlichen Bedingtheit. Damit steht das vom Genie geschaffene Kunstwerk außerhalb historischer Entwicklungen.“ (Bisky: Poesie der Baukunst, S. 41.)
222
IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
ein „Torso“, der zu totalisierender, ‚lebendiger‘ (Selbst-)Lektüre und somit zum Weiterschreiben antreibt.101
Diesem Konzept entspricht der spezifische Bezug Goethes auf den Erhabenheitsdiskurs. Wie Knopp herausgearbeitet hat, inszeniert Goethe das Erlebnis des Straßburger Münsters gemäß denjenigen Anforderungen, die Pseudo-Longinos in seinem Traktat Vom Erhabenen an die „als erhaben bezeichnete[ ] rethorische[ ] Form des tief erschütternden akuten Erlebnisses“ stellt.102 Die Erhabenheit des Stils, die nach Pseudo-Longinos die rhetorische Gestaltung des Textes unsichtbar macht und diesen damit als spontanen, authentischen Selbstausdruck erscheinen lässt,103 wird durch eben jene Stilmittel hervorgebracht, die den Ausdruck spontaner Leidenschaft imitieren, indem sie einen dynamischen Wechsel von Ordnung und Unordnung evozieren: Vergegenwärtigung, dialogische Passagen, Hyperbata, Häufung, Variation, Klimax, Umschreibungen und gehäufte und gewagte Metaphern;104 – alle Stilmittel der rhetorischen Affektsteigerung, die sich in Goethes Essay wiederfinden. Die Besonderheit liegt jedoch darin, dass das essayistische Ich auf die Erfahrung des Erhabenen nicht ausschließlich mit dem üblichen Schaudern reagiert, sondern dass seine Reaktion viel eher durch Freude gekennzeichnet ist („Freuden des Himmels“, „himmlisch-irrdische Freude“).105 Diese Freude ist Ausdruck der Ebenbürtigkeit, die das essayistische Ich durch die spontane Vervollständigung des Münster-Planes erfährt. Im Zentrum steht daher auch nicht die Objektwahrnehmung, sondern die Selbstwahrnehmung des essayistischen Ichs, der Moment, da – wie es ausführt – „meine Kraft sich wonnevoll entfaltete, zugleich zu genießen und zu erkennen!“106 Anstatt auf den Fehler des Gebäudes konzentriert sich die theoretische Ausführung völlig auf den Widerspruch zwischen dem als überwältigend und dennoch als stimmig empfundenen Detailreichtum der Münster-Fassade und dem sich dahinter abzeichnenden vollkommenen Bauplan, der einem klassischen Schönheitsverständnis vermittelbar ist. Um diesen Widerspruch zu beseitigen und den Beitrag des Münsters zu einer ästhetischen Bildung angemessen darstellen zu können, werden Schönheit und Kunst zunächst voneinander entkoppelt: Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist, und doch, so wahre, große Kunst, ja, oft wahrer und größer, als die Schöne selbst. Denn in dem Menschen ist eine bildende Natur, die gleich sich thätig beweist, wann seine Existenz gesichert ist. Sobald er nichts zu sorgen und zu fürchen hat, greift der Halbgott, wirksam in seiner Ruhe, umher nach Stoff ihm seinen Geist einzu-
101 102 103 104 105 106
Moser: Traum der schreibenden Person, S. 56. Knopp: Zu Goethes Hymnus, S. 649. Vgl. Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen, S. 71. Vgl. ebd., S. 61‒91. Vgl. Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 9. Ebd., S. 10.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
223
hauchen. Und so modelt der Wilde mit abenteuerlichen Zügen, gräßlichen Gestalten, hohen Farben, seine Cocos, seine Federn, und seinen Körper.107
Aus dieser Festellung wird der Begriff der charakteristischen Kunst entwickelt,108 die sich als Ausdruck künstlerischer Individualität durch die Einheit der Empfindung auszeichne. Im folgenden Argumentationsschritt werden Kunst und Schönheit dann jedoch in einer geschichtsphilosophischen Einordnung des Kunstverständnisses desto enger wieder miteinander verbunden: Schönheit erscheint nun als ein kulturell bestimmtes Akzidenz der Kunst, das jedoch einen höheren Entwicklungsstand verrate: „Da seht ihr bey Nationen und einzelnen Menschen dann unzählige Grade.“109 Als Beispiel eines solchen Kunstwerkes wird wiederum das Münster angeführt, das sich durch „Wahrheit und Schönheit der Verhältnisse“ auszeichne.110 Der affektive Widerspruch zwischen Anziehung und Abstoßung, den das Bauwerk im essayistischen Ich (und damit auch der Text beim Leser) auslöst oder auslösen kann, wird somit über den Begriff der charakteristischen Kunst nicht aufgehoben, sondern lediglich vermittelt. Die dynamische Vermittlung dieses Widerspruchs ist jedoch in der Rhetorik des Textes so dominant, dass der dritte entscheidende Faktor der Selbstästhetik, der spezifische Fehler des Bauwerkes, in seiner eigenständigen Bedeutung gar nicht mehr in den Blick rücken kann. Allerdings ist der ästhetische Eigenwert des Fehlers in dem Satz „Die Kunst ist lange bildend, eh sie schön ist […]“ implizit präsent. Denn das Münster kann einen Bildungsprozess auslösen, ohne „schön“, das heißt vollendet zu sein. Und ebenso kann der Essay einen solchen Bildungsprozess auslösen, obgleich auch er ‚nur‘ charakteristisch ist. Der Essay ist die Kokosnuss, die der Verfasser mit „hohen Farben“ gestaltet, während im Inneren der Nuss bereits das zukünftige Werk in nuce verborgen liegt.111 Der Baukunst-Essay etabliert sein Konzept exemplarischer Subjektivität mit einer rhetorischen Vehemenz, durch die der Text sich für die Essayistik selbst zum Paradigma zu erheben scheint. In der Tat wird besonders die ArchitekturMetaphorik für den genieästhetisch geprägten essayistischen Interdiskurs in seiner Funktion als Selbsttechnik zu einem wichtigen Referenzpunkt. Dass es sich dabei
107 108 109 110 111
Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 13. Vgl. ebd. Ebd., S. 14. Vgl. ebd., S. 14. Auch Herder verwendet das Bild eines ‚kernhaften‘ Selbst in seinem Shakespeare-Essay. Dort vergleicht er die Entwicklung eines Kindes (oder einer Nation) mit der Entwicklung eines Kerns in der Schale einer Frucht. Die Schale bilde die historische und gesellschaftliche Grundlage der Bildung (und damit des Selbst), die vom Kern nie vollständig zu trennen sei: „Der Kern würde ohne Schlaube nicht wachsen, und sie werden auch nie den Kern ohne Schlaube bekommen, selbst wenn sie von dieser ganz keinen Gebrauch machen könnten.“ (Johann Gottfried Herder: Shakespear. In: Ders. (Hg.): Von deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter. Hamburg: Bode 1773, S. 73‒113, hier S. 75f.)
224
IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
jedoch nicht um bruchlose Adaptionen, sondern um kritische Stellungnahmen handelt, sollen zwei direkte Bezugnahmen bei Herder und Lenz zeigen.
2.4. Geschichtsphilosophische Relativierung exemplarischer Subjektivität: Herders Essay Shakespear (1773) Herders frühe essayistische Schriften sind der wichtigste Impulsgeber eines Konzeptes exemplarischer Subjektivität für die Sturm-und-Drang-Essayistik. James M. van der Laan hat den Essay sogar als Herders „preferred medium“ bezeichnet.112 In seiner Studie zu Herders Essayistik führt er zahlreiche selbstreferenzielle Aussagen aus den unterschiedlichsten theoretischen Texten an, in denen Herder sein Selbstverständnis als Essayist verrät und stellt dazu fest: „His own remarks attest to the unsystematic and irregular, that is, essayistic aspect of his style.“113 Herders Essay Shakespear erscheint 1773 in Von deutscher Art und Kunst und ist dort zwischen Herders Essay Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker und Goethes Baukunst-Essay platziert. Wie in Goethes Zum Shakespears-Tag wird hier der englische Dramendichter zur Verkörperung einer genialen exemplarischen Subjektivität stilisiert. Die Begegnung mit den überlebensgroßen Figuren der Shakespear’schen Tragödien soll den Leser als potenziellen Künstler und Kunstkritiker nicht nur in der Darstellung natürlicher Charaktere schulen, sondern diese sollen ebenfalls der Bildung eines nationalen Selbstgefühls dienen („uns Deutschen herzustellen“).114 In einer Folge schnell angerissener Szenen werden die für das essayistische Ich am stärksten affektiv aufgeladenen Stellen aus King Lear, Othello, Macbeth und Hamlet vor das innere Auge des Lesers gebracht. Die deskriptive Reizüberflutung ist kalkuliert und soll den Leser emotional und intellektuell wie eine Naturgewalt überwältigen: „Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauschen, so tritt vor seine Bühne.“115 Wie Goethe verwendet auch Herder als zentrales Stilmittel die dramatische Vergegenwärtigung des individuellen Kunsterlebnisses, um die dithyrambische Begeisterung des essayistischen Ichs als ein genialisch inspiriertes zu inszenieren. Auf dem 112
Vgl. James M. van der Laan: Herder’s Essayistic Style. In: Wulf Koepke (Hg.): Johann Gottfried Herder. Language, History, and the Enlightenment. Columbia 1990, S. 108‒123, hier S. 108. Van der Laan analysiert Semantik und Syntax der frühen Essays Herders in den 1760er und 1770er Jahren. Er verallgemeinert jedoch zu sehr, wenn er die genieästhetisch geprägte Essayistik Herders zum einen als exemplarisch für Herders gesamtes essayistisches Werk erklärt und zum anderen die Eigenschaften dieser Essayistik (fehlende Systematik, Regellosigkeit, experimentelle Sprachverwendung) zu typischen Merkmalen des Essays an sich erklärt (vgl. ebd., S. 114). Die tatsächlich relevante Frage, welche dieser Eigenschaften der Essays nicht viel eher typisch für die Literatur des Sturm und Drang (und damit auch für die anderen literarischen Gattungen) sind, stellt er dementsprechend nicht. 113 Ebd., S. 110. 114 Vgl. Herder: Shakespear, S. 74. 115 Ebd., S. 93.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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höchsten Punkt der Steigerung, der den zeitlichen Verlauf der Ereignisse am stärksten rafft, werden nur noch einzelne Handlungsmomente und mit diesen verbundene sinnliche Wahrnehmungen rhetorisch evoziert und assoziativ aneinandergereiht. So heißt es beispielsweise zur Tragödie Macbeth, deren Handlungsverlauf durch das essayistische Ich selbst wie im Augenblick einer plötzlichen visionären Eingebung wiedergegeben wird: Das Haus in unruhiger, gastlicher Zubereitung, und Macbeth in Zubereitung zum Morde! Die bereitende Nachtszene Bankos mit Fackel und Schwerdt! Der Dolch! der schauerliche Dolch der Vision! Glocke – kaum ists geschehen und das Pochen an der Thür! – Die Entdeckung, Versammlung – man trabe alle Örter und Zeiten durch, wo das zu der Absicht, in der Schöpfung, anders als da und so geschehen könnte. Die Mordscene Bankos im Walde; das Nachtgastmahl und Bankos Geist – nun wieder die Hexenhaide (denn seine erschreckliche Schicksalsthat ist zu Ende!) Nun Zauberhöle, Beschwörung, Prophezeyung, Wuth und Verzweiflung!116
Herder verwendet die kraftgenialische Sprache des Sturm und Drang, doch kommt der exemplarischen Subjektivität in seinem Essay ein grundsätzlich anderer Stellenwert zu. Zwar wird auch hier der Original-Künstler gefeiert, doch werden dessen Werk und Leistung zugleich skeptisch relativiert. Dies verdeutlicht besonders ein Vergleich des Endes beider Essays, deren analoge Gestaltung einen intertextuellen kommunikativen Verweisungszusammenhang erzeugt. So spricht das essayistische Ich in Herders Shakespear-Essay am Ende des Textes einen „Freund“ an, dessen Verhältnis zu Shakespeare eben jenes Meister-Lehrlings-Verhältnis ist, das der Baukunst-Essay ausgestaltet. Adressiert wird Goethe als Verfasser sowohl des Baukunst-Essays als auch des Dramas Götz von Berlichingen, das sich zu diesem Zeitpunkt im Erscheinen befindet: Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte, und wo du, mein Freund, der du dich bei diesem Lesen erkennest und fühlst, und den ich vor seinem heiligen Bilde mehr als Einmal umarmet, wo du noch den süssen und deiner würdigen Traum haben kannst, sein Denkmal aus unsern Ritterzeiten in unsrer Sprache, unserm so weit abgearteten Vaterlande herzustellen. Ich beneide dir den Traum, und dein edles deutsches Würken laß nicht nach, bis der Kranz dort oben hange. Und solltest du als denn auch später sehen, wie unter deinem Gebäude der Boden wankt, und der Pöbel umher still steht und gafft, oder höhnt, und die daurende Pyramide nicht alten aegyptischen Geist wieder aufzuwecken vermag. – Dein Werk wird bleiben, und ein treuer Nachkomme dein Grab suchen, und mit andächtiger Hand dir schreiben, was das Leben fast aller Würdigen der Welt gewesen: voluit! quiescit!117
Während Goethe am Ende des Baukunst-Essays einen Jüngling als zukünftiges National-Genie anspricht und verklärt, stilisiert Herder Goethe in dieser Rolle als konkrete Person. Der Bezug auf einen Nachkommen, der das Grab des Dichters aufsuchen wird, bildet eine direkte Überleitung zu den ersten Sätzen des Baukunst-
116 117
Herder: Shakespear, S. 99f. Ebd., S. 112f.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
Essays, der mit den Worten beginnt: „Als ich auf deinem Grabe herumwandelte, edler Erwin […]“.118 Allerdings reicht die analoge Gestaltung der exemplarischen Subjektivität nicht bis in die Tiefenstruktur von Herders Essay. Auf die hymnische Verehrung Shakespeares folgt die Feststellung, dass auch die Geltung genialer Subjektivität historisch begrenzt sei und jedes Werk dem Publikum bei zu großem geschichtlichem Abstand irgendwann unverständlich werde. Das essayistische Ich des ShakespeareEssays verortet sich selbst an einem ganz bestimmten historischen Punkt, an dem Shakespeares Werk dem Leser gerade eben noch als Bestandteil eines gemeinsamen kulturellen Kontextes verständlich sei und nicht bloß als bewundernswürdiges historisches Artefakt (wie beispielsweise die Ägyptischen Pyramiden) erscheine. Damit erhält die Hymne auf Shakespeare in Herders Essay eine grundsätzlich andere Bedeutung als die Hymne auf das Genie Erwin von Steinbach in Goethes Essay. Herder hält den flüchtigen historischen Augenblick fest, die exemplarische Subjektivität als ein Konzept, das sich bereits im Augenblick seines Aussprechens selbst historisch wird. Daher spricht das essayistische Ich auch – paradox, jedoch folgerichtig – von sich selbst im Imperfekt („Glücklich, daß ich noch im Ablaufe der Zeit lebte, wo ich ihn begreifen konnte […]“; s.o.). Das historisch-genetische Verfahren der Interpretation, das Herder auf der Basis seiner Geschichtsphilosophie für literarische Texte entwickelt, wird in die Selbstästhetik integriert und dazu angewendet, das eigene Selbst in der (hier fiktiven) Retrospektive durch Kontextualisierung sinnhaft zu gestalten. Käser hat die literarische Ausgestaltung der Sprecherinstanz in unterschiedlichen Gattungen bei Herder, Goethe und Lenz untersucht und die Verfahrensweisen auch untereinander verglichen. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich in Herders frühen literarischen Selbstdarstellungen ein Dualismus erhalte, der die Konstitution und Überhöhung einer exemplarischen Subjektivität bewusst verhindere: In Herders frühen Selbstdarstellungen erscheint das Ich immer wieder als ein in sich gespaltenes, und auch in seinen frühen philosophischen Überlegungen zur Problematik des Subjekts ist Dualität ein wiederkehrendes Grundmuster, dessen begriffliche Ausprägung und metaphorische Einkleidung allerdings von mal zu mal wechselt.119
Nach Käser hebt Herder in seinem späteren Werk die Krisenhaftigkeit der IchErfahrung in seiner Geschichtsphilosophie auf, indem er das Leben des Einzelnen 118 119
Goethe: Von deutscher Baukunst, S. 3. Käser: Die Schwierigkeit, Ich zu sagen, S. 27. Käser beschreibt die krisenhafte Sebsterfahrung in Herders früher, religiös motivierter Lyrik, die zwischen dem Wunsch nach Selbstermächtigung und mystischem Selbstverlust changiere. Die von Käser interpretierten Texte weisen sehr starke inhaltliche und stilistische Parallelen zu Creuz und dessen experimenteller Selbstästhetik im Anschluss an La Mettrie auf. Herder bezeichnet die Aufgabe der Geschichtsphilosophie auch als „penelopische Arbeit“. Vgl. dazu Wolfgang Stellmacher: Herders Shakespeare-Bild. Shakespeare-Rezeption im Sturm und Drang: dynamisches Weltbild und bürgerliches Nationaldrama. Berlin 1978, S. 261.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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und auch dessen künstlerische Betätigung dem Ganzen der Gesellschaft und der historischen Entwicklung unterordne.120 Diese Beobachtung entspricht der Art und Weise, in der Herder den Baukunst-Essay kommentiert. Er relativiert die radikal durchgeführte exemplarische Subjektivität, die Goethe favorisiert, durch die Historisierung des individuellen Erlebnisses. Das experimentelle essayistische Ich des Shakespear-Essays weist den „Traum“ des essayistischen Ichs im Baukunst-Essay hinsichtlich einer überzeitlichen Wirksamkeit genialer Werke der Jugend als entsprechendem Entwicklungsstadium zu. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Tino Markworth in seiner Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Selbtthematisierung und Geschichtsphilosophie bei Herder. Herder habe sein Konzept der Bildung einer autonomen Subjektivität bereits 1771 aufgegeben und mit seiner (an der französischen Aufklärung, vor allem an Voltaire orientierten) Geschichtsphilosophie einen Ersatz gefunden,121 da die Problematik der „Sinnstiftung“ nun auf die Ebene des historischen Prozesses verlagert werde.122 Das exemplarische Ich wird aufgegeben, und die Erfahrungswirklichkeit dient nun zur Ausdeutung der Geschichte und des in ihr verborgenen göttlichen Planes: Aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Bedingungen als ein auf Materie, Raum und vor allen Dingen Zeit eingeschränktes Wesen hat der Mensch nicht die Möglichkeit, Umfang und Art der zukünftigen Wirkungen seiner Handlungen abzuschätzen. Mit dieser Erkenntnisrücknahme hinsichtlich des Zweckes des eigenen Lebens, der an die Vorsehung delegiert wird, verliert auch jede weitere Selbstthematisierung an Sinn. Die eigene Individualität kann akzeptiert werden, da sie schon immer im Ganzen geborgen ist und dadurch Sinn erhält; jede weitere Beschäftigung mit dem Ich würde nur zu einem Rückfall auf dessen, auf niedrigem Erkenntnisniveau gewonnenen Einsichten führen. Mit der Erkenntnis der Unmöglichkeit von Selbstkonstitution kommt er [Herder, N.H.] nun zu einem das Ich minimalisierenden Selbstentwurf, der sich an einer Totalität orientiert; Sinn und Handlungsanweisung können nur noch von diesem Ganzen erwartet werden.123
120
Vgl. Käser: Die Schwierigkeit, Ich zu sagen, besonders S. 374‒376. Käser weist auch darauf hin, dass Goethe bereits in seinen frühen Briefen (er untersucht ein Beispiel vom 10. November 1767) eine Schreibstrategie entwickele, die den Text zum Werk und zum Mittel der quasikünstlerischen Gestaltung des eigenen Selbst mache. Besondere Bedeutung komme dabei dem Wiederlesen des eigenen Textes zu, das den Text erst als Werk konstituiere und das sich darin äußernde Ich als eine frühere Entwicklungsstufe erscheinen lasse (vgl. ebd., S. 127‒130). 121 Vgl. zur Kontinuität der (französischen) Aufklärung in Herders Geschichtsphilosophie Werner Krauss: Zur Periodisierung Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik. In: Manfred Wacker (Hg.): Sturm und Drang. Darmstadt 1985, S. 67‒95. 122 Vgl. Tino Markworth: Das ‚Ich‘ und die Geschichte: Zum Zusammenhang von Selbstthematisierung und Geschichtsphilosophie bei J.G. Herder. In: Wulf Koepke (Hg.): Johann Gottfried Herder: Academic Disciplines and the Pursuit of Knowledge. Columbia 1996, S. 152‒167, hier S. 152f. 123 Ebd., S. 155. Markworth hat ermittelt, dass Herder in seiner Schrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit 99mal das Pronomen Ich verwendet (vgl. ebd., S. 161). Er erklärt diese auffallend häufige Verwendung des „Ich-Begriffs“ mit Herders Absicht, „ihn kritisch gegen traditionelle diskursive Interpretationsangebote zu wenden“ (ebd., S. 161). Zu Herders (essayistischem) Verfahren hält er fest: „Die eigenen Erfahrungen werden
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
Die dialektische Einschränkung am Ende des Shakespeare-Essays, die historisierende Oppositionsbewegung zeigt somit, dass dem Essay die experimentelle Subjektform der anthropologischen Essayistik zugrunde liegt, in der sich die geschichtsphilosophische und die autonomieästhetische Position im dualistischen Widerstreit befinden. Die Parallele zur experimentellen Selbstästhetik, wie sie für Creuz’ Versuch über die Seele beschrieben wurde, ist offensichtlich. Allerdings wird in Herders Essay die skeptische Relativierung der eigenen Position aus dem geschichtsphilosophischen Standpunkt begründet und nicht aus einer existentiellen metaphysischen Skepsis. Jost Schneider hat dargelegt, dass die Kritik an der Idee einer autonomen exemplarischen Subjektivität des genialen Künstlers bei Herder eng mit seiner Religionskritik verbunden sei und in Herders späteren Werken zu einer Konzeption Gottes als eines verantwortlichen Schöpfers führe.124 Die Relativierung der absoluten exemplarischen Dichter-Subjektivität im Shakespear-Essay hat somit nicht nur einen geschichtsphilosophischen, sondern auch einen religionskritischen Hintergrund, wie sich bereits latent aus Herders Darstellung Shakespears zu Beginn des Textes entnehmen lässt. Diese erinnert frappant an Lenz’ Kritik des auf den bloßen Gesichtspunkt fixierten Genies und ist zugleich Hymnus und Anklage: Wenn bey einem Manne mir jenes ungeheure Bild einfällt: „hoch auf einen Felsengipfel sitzend! zu seinen Füssen, Sturm, Ungewitter und Brausen des Meers; aber sein Haupt in den Strahlen des Himmels!“ so ists bey Shakespear! – Nur freylich auch mit dem Zusatz, wie unten am tiefsten Fusse seines Felsenthrones Haufen murmeln, die ihn – erklären, retten, verdammen, entschuldigen, anbeten, verläumden, übersetzen und lästern! – und die Er alle nicht höret!125
Über die Identifizierung von Gott und Genie stellt Herders Shakespeare auch ein ästhetisiertes Gottesbild vor, dessen Ambivalenz bereits auf dem Höhepunkt genieästhetischen Schaffens Widerspruch bei den Protagonisten Herder und Lenz erregt. Doch erweist sich die Auseinandersetzung mit dem Konzept der exemplarischen Subjektivität bei Lenz noch als weitaus radikaler.
in reflektierter Form als Grundlage und Verifikationsmoment von Welterkenntnis eingeführt und methodisch in Form des erkenntnistheoretischen Ansatzes der ‚Einfühlung‘ fruchtbar gemacht.“ (Ebd., S. 161.) 124 Vgl. Jost Schneider: Geniekritik und Glaubenszweifel. Das Problem der Aufrichtigkeit bei Herder. In: Herder-Jahrbuch 1994, S. 17‒28. Schneider macht allerdings auch deutlich, dass diese Konzeption nicht unbedingt Herders tatsächlicher religiöser Überzeugung entsprechen müsse, sondern sich auch aus seiner geistlichen Tätigkeit und den daraus folgenden Pflichten ableite (vgl. ebd., S. 26f.). 125 Herder: Shakespear, S. 73.
2. Die Selbstästhetik in der Essayistik des Sturm und Drang
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2.5. Ironische Subversion exemplarischer Subjektivität in Lenz’ Essay
Über die Veränderung des Theaters im Shakespear (1776) Der Essay Über die Veränderung des Theaters im Shakespear erscheint 1776 in Zürich in der Sammlung Flüchtige Aufsäzze von Lenz. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung des unpublizierten Essays Von Shakespeares Hamlet, der nach Sigrid Damm etwa zu Beginn des Jahres 1776 entsteht.126 Die publizierte Version weicht vom Ursprungstext in wesentlichen Aspekten ab, und ein Vergleich beider Versionen kann dazu dienen, Lenz’ Verfahrensweise in diesem rätselhaften Essay genauer zu bestimmen. Auffällig ist zunächst, dass Lenz den Essay für die Publikation stark kürzt und ihn in zwei Teile gliedert. Der erste, dramentheoretische Teil diskutiert die Vorteile der offenen Dramenform bei Shakespeare und bestimmt die Erweckung des Interesses beim Leser als Hauptzweck des Dramas.127 Damm führt aus, dass Lenz diesen ersten Teil am 25. Januar 1776 nachweislich in der Straßburger Deutschen Gesellschaft vorgetragen habe.128 Der zweite Teil des ursprünglichen Essays wird in der Druckfassung nur als „Anhang“ bezeichnet, ist jedoch etwas umfangreicher als der erste Teil. In ihm schildert das essayistische Ich seine Eindrücke bei der Aufführung des französischen Dramas Der tugendhafte Verbrecher (L'Honnête Criminel, 1767) von Charles-Georges Fenouillot de Falbaire de Quingey auf dem Straßburger Französischen Theater im Modus eines Erlebnisberichts. Thematisch scheint der Essay eine direkte Fortführung der Anmerkungen übers Theater zu sein und zwar eine nähere Explikation der bereits zitierten Ausführungen über die Wirkung des französischen Theaters, das den Zuschauer nötige, das betrachtete Stück im Nachhinein selbsttätig zu vervollständigen. Die Zweiteilung lässt den Essay sehr unproportioniert wirken. Da der Text ursprünglich eine Einheit bildete, erzeugt Lenz durch die Aufteilung den Eindruck des Undurchdachten und Flüchtigen bewusst. Er streicht für die Publikation die gesamte Exposition des Essays, in der sich verschiedene autobiographische Reflexionen finden. Das essayistische Ich beginnt hier seine Ausführungen unter anderem mit der Beobachtung, es geschehe im Leben eines Menschen oft, dass er sich 126
Vgl. Jakob Michael Reinhold Lenz. Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Bd. 2. Leipzig 1987, S. 932, Anmerkungen. Dieses Stück erscheint 1769 in anonymer deutscher Übersetzung unter dem Titel: Der Galeerensklave oder Belohnung der kindlichen Liebe. Ein rührendes Lustspiel in fünf Aufzügen, von Herrn Fenouillot von Falbaire. [S.l.] 1769. Eine neue Auflage erscheint unter dem Titel: Der Galeeren-Sklav. Ein rührendes Lustspiel in fünf Aufzügen. Münster: Perrenon 21777. 127 Lenz folgt hierin den Ausführungen von Louis-Sébastien Mercier in seinem Essay Du Théâtre ou Nouvel Essai sur l’Art Dramatique (1773), der 1776 in deutschsprachiger Übersetzung von Goethe herausgegeben wird (vgl. Louis-Sébastien Mercier: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen übers. v. Heinrich Leopold Wagner. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Hg. v. Arthur Henkel. Mit einem Nachwort v. Peter Pfaff. Heidelberg 1967 [ND der Ausg. Leipzig: Schwickert 1776], S. 186‒196). 128 Vgl. ebd., S. 933.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
gezwungen sehe, einmal gefasste Meinungen wieder zu revidieren. Entscheidend sei, wie der Einzelne mit seiner neuen Erkenntnis umgehe: Wir haben hernach nur zwei Auswege zu wählen, entweder zu widerrufen, welches eine höchst beschwerliche und unserm Ehrgeiz oft unmögliche Sache ist, oder in dieser Methode fortzufahren und ewig den reiferen Erfahrungen anderer, denen wir uns oft selbst nicht entziehen können mit kleinen Waffen des Witzes Trotz zu bieten, das heißt ewig uns in unsern Worten und Handlungen zu widersprechen und wider den Stachel zu lecken.129
Als Beispiel einer solchen folgenschweren Erkenntnis führt das essayistische Ich – wiederum mit deutlichem Bezug auf sich selbst – die Angewohnheit junger Menschen an, Dinge zu parodieren und der Satire auszusetzen, die sie aufgrund mangelnder Erfahrung nicht verstünden.130 Auf diese einleitenden Überlegungen folgen im ursprünglichen Text Reflexionen zu Shakespeare, die im publizierten Essay den Anfang bilden. Shakespeare verwende die oft notwendigen Szenenwechsel in seinen Stücken nur ausnahmsweise und dann, wenn sie für den weiteren Verlauf eines Dramas unerlässlich seien.131 Als Beleg für einen solchen gelungenen Szenenwechsel führt das essayistische Ich die Reise Hamlets von Dänemark nach England an. In England begegne Hamlet Soldaten, die im Begriff seien, für ein kleines, unbedeutendes Stück Land ihr Leben zu riskieren. Dies motiviere Hamlet, seine Zögerlichkeit aufzugeben, da er erkenne, wie viel in seinem eigenen Fall auf dem Spiel stehe und dass er seine eigene Ehre gefährde.132 Damm hat bereits darauf hingewiesen, dass in diesem Fall eine „Verwechslung von Lenz“ vorliegt.133 Denn Hamlet begegnet in der vierten Szene des vierten Akts noch in Dänemark den norwegischen Truppen des Fortinbras auf ihrem Weg nach Polen. Erst danach reist er nach England weiter, wird jedoch auf See von Piraten aufgegriffen und kehrt aus diesem Grund mittellos nach Dänemark zurück. Die Informationen über das Zusammentreffen mit den Piraten werden dem Zuschauer jedoch lediglich durch Briefe Hamlets mitgeteilt. Gerade das vorgelegte Beispiel kann also viel eher zeigen, wie Shakespeare die Einheit der Szene wahrt und die Reise Hamlets als einen Plan darstellt, der an einer zufälligen Begebenheit scheitert. Dass Lenz sich hier tatsächlich bloß geirrt haben sollte, ist nahezu ausgeschlossen, da im weiteren Verlauf des Hamlet noch mehrfach auf die fehlgeschlagene Reise hingewiesen wird. Das essayistische Ich scheint sich auch an dieser Stelle durch eine metareflexive Bemerkung die eigene Autorität in diesem Punkt abzusprechen und auf den kalku-
129
Jakob Michael Reinhold Lenz: Von Shakespeares Hamlet. In: Lenz, Werke und Briefe (1987), Bd. 2, S. 737‒744, hier S. 737f. 130 Vgl. ebd., S. 737f. 131 Vgl. ebd., S. 739. 132 Vgl. ebd., S. 740. 133 Vgl. Lenz: Werke und Briefe in drei Bänden (1987), Bd. 2, S. 932.
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lierten Selbstwiderspruch hinzuweisen, den es mit der unzulässigen Szenendeutung (der „Szenenverwechselung“) provoziert: [W]er aber in dieser Aufopferung [der Einheit des Ortes, N.H.] ohne eine Ursache dazu zu haben eine Schönheit suchen, das heißt den Leser m i t a l l e m k a l t e n B l u t d a s m a n i h m g e l a s s e n , zum Glauben an seine Szenenverwechselung zwingen wollte würde ebenso töricht handeln als ein Verkäufer eines schlechten versäuerten Landweins, der seinen Kunden beim ersten Glase das er an die Lippen setzte zwingen wollte zu schwören: die Stube drehe sich herum mit ihm.134
Der Selbstwiderspruch kulminiert im zweiten Teil des publizierten Essays Über die Veränderung des Theaters im Shakespear. Dieser Teil orientiert sich auffällig an dem rhetorischen Muster des poetischen Erweckungserlebnisses in Goethes Baukunst-Essay und greift noch einmal die Thematik der offenen Dramenform auf. Wie bei Goethe wird das essayistische Ich während der Aufführung des Lustspiels Der tugendhafte Verbrecher von einem Vorurteil befreit, hier von dem Vorurteil, dass eine Beibehaltung der Einheit des Ortes im Drama notwendig sei: „Ganz überzeugt von dem Vorzug derjenigen Stücke, in welchen die Einheit des Orts beybehalten worden, wenn sie sonst an Güte den unregelmäßigen gleich kämen, gieng ich hin, ich muß aber gestehen, daß ich mit ungemein veränderter Überzeugung zurück gekommen bin.“135 Der Tugendhafte Verbrecher verarbeitet die – nach Angaben des Verfassers auf einer wahren Begebenheit beruhende – Geschichte eines jungen Mannes, dessen Vater schuldlos auf eine Galeere verschleppt werden soll. André, so der Name des Protagonisten bei Falbaire, tritt die Strafe anstelle seines Vaters an und erbringt damit ein großmütiges Opfer. Nach sieben Jahren auf See wird er begnadigt und mit seiner treuen Geliebten Cecilie und seinem Vater wiedervereint. Cecilie sollte kurz zuvor bereits zum zweiten Mal verheiratet werden, und zwar mit dem Grafen Olban, der sie jedoch ebenfalls großmütig freigibt, sobald er von der Geschichte des Galeerensklaven erfährt. In Falbaires Stück ist der Schauplatz der gesamten Handlung die französische Hafenstadt Toulon. Zu Beginn der Aufführung des Tugendhaften Verbrechers wird das essayistische Ich bei Lenz zwar durch die Handlung gerührt, doch nach und nach entwi134
Lenz: Von Shakespeares Hamlet, S. 740. In der unpublizierten Version folgt auf diesen Abschnitt der bestimmt rätselhafteste Satz des gesamten Essays, der offenbar dessen selbstdekonstruktive Intention (nach Shaftesbury: das „business of self-dissection“) benennt: „Hier habe ich nur die Maschine auseinandergenommen und anatomiert, wo sie freilich nicht Stich hält, das berechtigt mich aber nicht nur das Gold zu der Maschine auszugraben, aber ihr keine griechische Form zu geben, sie nicht zu arbeiten.“ (Ebd., S. 740.) Es wird hier im Unklaren gelassen, ob mit der Maschine das „maschinenmäßige Denken“ gemeint ist, von dem beispielsweise Mercier im XXVII. Kapitel seines Essais du Théâtre, unter der Überschrift „Von den seynwollenden Kritikern“, spricht. Vgl. Mercier: Versuch über die Schauspielkunst, S. 409f., Fußnote. Weiterhin bleibt unklar, ob dieses Denken nun arbeitet (bzw. arbeiten darf) oder nicht. 135 Jakob Michael Reinhold Lenz: Über die Veränderung des Theaters im Shakespear. In: Lenz: Werke (2001), Bd. 10: Flüchtige Aufsäzze von Lenz. Herausgegeben von Kayser [ND der Ausg. Zürich: Füeßly 1776], S. 86‒95, hier S. 90.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
ckelt es einen inneren Widerstand, und seine Begeisterung schlägt in eine Polemik gegen die Zumutungen der dramatischen Illusion um: Aber, meine Herren, als ich weiter fortfuhr zuzusehen, ich kann mirs nicht läugnen, da war’s, als ob mir jemand zuflüsterte: du bist ein Kind, daß du über solche Ungereimtheiten weinen kannst! Es hinderte nichts, daß ich mir unaufhörlich in die Seele zurück rief: Die Geschichte ist wahr — sie war mir nicht wahrscheinlich, und wie groß war mein Erstaunen — soll ich sagen meine Schadenfreude, als ich dieß demüthigende Bekenntniß von dem Dichter selbst hörte, der es im lezten Akt Olbanen in den Mund legt: Cette Scene est trop vraie pour etre vraisemblable. Wie denn, wenn das nicht Armuth der Kunst ist, m. H. was soll es denn seyn?136
Wie im Baukunst-Essay erfährt das essayistische Ich somit eine „Einflüsterung“, die es in die Geheimnisse echter Kunst einweiht. Und wie im Baukunst-Essay ist es die Fehlerhaftigkeit des Kunstwerkes, die eine emotionale Reaktion hervorruft und einen Erkenntnisprozess in Gang setzt. Im Anschluss an die Aufführung beginnt das essayistische Ich, das Drama umzudichten und es in seinen Gedanken in eine überzeugende Handlung zu transformieren, die um der psychologischen Glaubwürdigkeit willen von Ortswechseln reichlichen Gebrauch macht. Das Theater ist ein Schauspiel der Sinne, nicht des Gedächtnißes, der Einbildungskraft. Wenn diesen nothwendigen vorbereitenden Handlungen und Situationen zehnmal lieber Zeit und Ort aufgeopfert, als meine Sinne durch ungereimte Erscheinungen, wie in einem Schattenspiel, mehr befremdet und betäubt als gerührt würden; wenn z. B. in gegenwärtigem Stück die Situation des Vaters, als er auf die Galeere geschleppt werden sollte, die großmüthige Aufopferung des Sohnes, die Bestürzung der Seinigen, mir vor die Augen gebracht worden wären, hiesse das mit dem Ey der Leda anfangen? Ich meine nicht. Um wie ein grosses würde die Wahrscheinlichkeit, und der Eindruck der Scene beym Hafen dabey gewinnen? Und wenn ich nur begreifen könnte, wie die Braut so eben zu recht nach Marseille gekommen wäre, wenn ich sie bey dem Tode ihres Mannes mit ihrem ganzen Vermögen aufsitzen gesehen, um ihren ersten Geliebten zu suchen, wenn sie dann, laß es seyn ein sympathetischer Zug, nach dem Hafen von Marseille gezogen — und ich nun diesen unglüklichen Liebhaber als Galeerensklaven auf sie zukommen — wie würde sinnlicher Betrug von sinnlichem Betrug unterstützt, den hohen Grad der Täuschung den gewaltigen Schlag der Rührung vermehren?137
Auch Lenz’ Essay endet mit einer hymnischen Beschwörung des genialen Künstlers, dessen natürliche Schöpfungskraft „wie ein Donnerschlag am Himmel“ sei.138 Auch hier wird eine mythologische Dimension eröffnet und der Künstler mit Zeus gleichgesetzt, also – wie im Baukunst-Essay – über Prometheus gestellt.139 136 137 138 139
Lenz: Theater im Shakespear, S. 91. Ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 95. Im letzten Satz des Baukunst-Essays heißt es über den genialen Künstler: „[…] und mehr als Prometheus leit er die Seeligkeit der Götter auf die Erde“ (S. 16). Zur mythologischen Dimension des Textendes vgl. Karl Eibl: ‚… mehr als Prometheus …‘ Anmerkung zu Goethes ‚Baukunst‘-Aufsatz. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 25 (1981), S. 238‒248. Eibl deutet den Bezug auf Prometheus als zivilisationskritischen Verweis auf den Sündenfall des Menschen und den Verlust des Naturzustandes (vgl. ebd., S. 243). Die Programmatik des Textes strebe eine Überwindung dieses Verlustes an. Daher soll der Künstler „mehr als Prometheus“ sein. Eine solche Überwindung sei jedoch letztlich nur in der „Je-Gegenwärtigkeit des
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Auf den ersten Blick scheint Lenz’ Essay die Konzeption der Selbstästhetik bei Goethe bis ins Detail nachzuahmen: Ein essayistisches Ich exemplarischen Charakters schildert im Rückblick, wie es durch die Konfrontation mit einem fehlerhaften Kunstwerk von seinen kunsttheoretischen Vorurteilen befreit und zur eigenständigen – zumindest geistigen – Kunstproduktion befähigt wird. Das Kunsterlebnis selbst wird mit sprachlichen Mitteln dramatisch vergegenwärtigt und erhält durch den – für den Sturm-und-Drang-Essay zentralen – Inspirationstopos eine metaphysische Dimension: Die Reihung der Sätze durch die einleitenden Konjunktionen „wenn“ und „wie“ bewirkt eine affektive Steigerung, die den Enthusiasmus des essayistischen Ichs im kreativen Akt veranschaulicht. Einer erneuten Lektüre des Essays hält diese Interpetation jedoch nicht stand; der Vorgang der Inspiration erweist sich als fragwürdiges Geschehen. Zunächst fällt auf, dass zentrale Vorstellungen einer genieästhetischen Anthropologie und Erkenntnistheorie auf eine Weise verwendet werden, die ihre Geltung negiert. So wird die unmittelbare emotionale Reaktion des essayistischen Ichs auf die Vorführung des Schauspiels (sein gerührtes Weinen) zunächst mit Bezug auf den Dichter Ossian als unverbildete, natürliche Reaktion vorgestellt.140 Es schaltet sich jedoch augenblicklich eine korrigierende Instanz – die einflüsternde Stimme – ein, die diese Emotionen als kindisch verurteilt und das essayistische Ich auf die fehlenden psychologischen Motivierungen im Stück aufmerksam macht. Besonders wird die metapoetische Aussage der Figur Olban kritisiert, durch die der Dramendichter seine Figur zur bloßen Marionette degradiere.141 Die einflüsternde Stimme fordert die Wahrscheinlichkeit der Handlung zur Erhaltung der Einheit der dramatischen Illusion, einen poetischen Realismus. Das „Vergnügen der Täuschung“ und die aus der Täuschung hervorgehende Rührung erscheinen als höchstes Erfordernis der Dichtung. Doch wird gerade diese Täuschung im Essay selbst fortwährend unterminiert. Denn das essayistische Ich dichtet das Drama im Modus enthusiasmierten Sprechens um, obgleich der Vorgang selbst eben nicht Produkt einer emotionalen Affizierung ist (wie im BaukunstEssay), sondern eine Kette vernünftiger Reflexionen darstellt. In Lenz’ Essay entsteht dadurch eine unmittelbare Diskrepanz zwischen dem Gegenstand des Textes
Ganzen im einzelnen Kunstwerk, die immer und immer wieder ergriffen werden kann“ möglich (ebd., S. 248). 140 Zugleich wird auch das Drama selbst zunächst als technisch gelungen beurteilt: „Das unaussprechlich Interessirende dieser Geschichte, die gut und meisterhaft angelegten Situationen von Anfang, die Ahndung der Cidelise bey ihrer vorhabenden zweyten Verheurathung ‚es ist also ob mir jemand zuflüsterte: er ist hier, er ist nicht weit von dir‘ die unvermuthete und doch höchst wahrscheinlich gemachte Erscheinung des Galeerensklaven, alles das überfüllte mein Herz mit der angenehmen Wollust der Schmerzen, wie sie Oßian nennt, die sich in Thränen Luft machen mußte.“ (S. 91.) 141 In der unpublizierten Version wird noch wesentlich deutlicher gesagt, dass es sich um die Stimme der „Vernunft“ handele, die hier Einspruch erhebe. Vgl. Lenz: Von Shakespeares Hamlet, S. 741.
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und der verwendeten Stilhöhe. Diese Diskrepanz wird noch dadurch verstärkt, dass im Essay mehrfach der mit dem Genie maßgeblich verbundene Enthusiasmus abgelehnt und als „Mode-Enthusiasmus“ abgeurteilt wird.142 Stattdessen reflektiert das essayistische Ich bereits im einleitenden Teil zu Shakespeare „mit der kältesten Überzeugung“ und ist besonders darauf bedacht, Shakespeare als Künstler aus einem vernünftigen und historisch vergleichenden Gesichtspunkt zu betrachten.143 Shakespeare als exemplarischer Künstler wird gleichsam entthront und neben Aristophanes und Voltaire gestellt. Eine unkritische und enthusiastische Identifikation mit dem Künstler oder seinem Schauspiel wird als „starrestumpfe Bewundrung“ abgewertet.144 Somit negiert der Essay die anthropologisch grundlegende Überzeugung der Genieästhetik, dass eine unmittelbare, nicht durch intellektuelle Reflexion vermittelte Einsicht des Einzelnen in die Gesetze der Kunst (und damit eine Erkenntnis des eigenen, göttlichen Selbst) möglich sei. Die korrigierende und ausdeutende Bewertung des eigenen Gefühls erfolgt nicht erst in einer retrospektiven Einordnung des Kunsterlebnisses, sondern ist unmittelbar notwendig. Ein unvermitteltes, nach rousseauistischen Vorstellungen unverbildetes Kunsterlebnis, wie es der Baukunst-Essay vorstellt, erscheint in dieser Darstellung als unmöglich. Die Inspiration selbst wird problematisiert: Wer ist es, der dort spricht? Wie verlässlich ist diese Quelle? In Lenz’ Darstellung muss die Vernunft die Leerstelle einnehmen, die aus der Erkenntnis entsteht, dass der Einzelne keinen unmittelbaren Zugang zu göttlicher Erkenntnis hat. Doch damit wird die Problematik nur verschoben. Denn woher kommt die Fähigkeit zu angemessener, vernünftiger Beurteilung des Kunstwerkes, wie kommen „Maaß, Ziel und Verhältnis“ – die Lenz Shakespeare attestiert – in die „Seele des Dichters“?145 Es scheint, dass Lenz die Anteile göttlicher Inspiration vom Gefühl auf die Vernunft des Künstlers rücküberträgt, indem er vernünftige Reflexion im Modus enthusiastischer Inspiration vorführt. Die Rhetorik der Inspiration wird verwendet, um das erhabene Gefühl der Autonomie zum Ausdruck zu bringen, das der Einzelne im freien Gebrauch seiner Vernunft erfährt. Doch auch diese Deutungsoption wird durch den Text ironisch unterlaufen: Die Zitate, die das essayistische Ich aus dem französischen Schauspiel anführt, etablieren eine weitere Ebene des subversiven Metakommentars. So heißt es zu Beginn: „Das unaussprechlich Interessierende dieser Geschichte, die gut und meisterhaft angelegten Situationen von Anfang, die Ahndung der Cidelise bey ihrer vorhabenden zweyten Verheurathung‚ es ist als ob mir jemand zuflüsterte: er ist hier, er ist nicht weit von dir‘ […].“146 Nur wenige Zeilen darunter berichtet das essayistische Ich: „Aber, meine Herren, als ich weiter fortfuhr zuzusehen, ich kann mirs nicht 142 143 144 145 146
Vgl. Lenz: Theater im Shakespear, S. 86. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 92. Vgl. ebd., S. 95. Ebd., S. 90f.
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läugnen, da war’s, als ob mir jemand zuflüsterte: du bist ein Kind […].“147 Durch die unmittelbare Nähe und die identische Formulierung beider Inspirationserlebnisse – des innerdramatischen und desjenigen auf der Ebene der sich autobiographisch gebenden Reflexion – wird das Erweckungserlebnis des essayistischen Ichs als rhetorischer Kunstgriff im Essay selbst offengelegt und verliert die Wirkung unmittelbarer Authentizität, durch die es bei Goethe gekennzeichnet ist.148 Die gleiche Wirkung hat das Zitat der Feststellung Olbans („Cette scene est trop vrais pour etre vraisemblable.“), das ebenfalls direkt als ironisierender Kommentar auf die autobiographische Schilderung des Kunsterlebnisses bezogen werden kann. Auch bei den Reflexionen über den Tugendhaften Verbrecher ergibt sich eine erneute Unterminierung der Autorität des essayistischen Ichs aus der Tatsache, dass es offensichtliche Verwechslungen und falsche Erinnerungen produziert, welche die Argumentation konterkarieren: So wird die weibliche Hauptfigur fälschlicherweise Cidelise genannt (in der unpublizierten Version verwendet Lenz die Namensvariante Cidalise), und das essayistische Ich erfindet einen handlungsinternen Ortswechsel nach Marseille, der im Stück nicht vorkommt. Während das essayistische Ich behauptet, dass Falbaire seine Protagonistin völlig unmotiviert an einem neuen Ort erscheinen lasse, an dem sie dann zufällig auf ihren Geliebten treffe, ist es im Gegenteil so, dass Cecilie bereits zu Beginn der Handlung zusammen mit ihrer Freundin Amalie nach Toulon anreist. Amalie will dort ihren Geliebten, den Grafen von Anplace, treffen, der Kommandant der Galeeren ist und zufällig André im Gefolge seiner Sträflinge hat. Der Graf von Olban folgt Cecilie und trifft ebenfalls kurz nach ihr in Toulon ein. Falbaire legt sein Stück also so an, dass alle Handlungsstränge notwendig in Toulon zusammenlaufen und daher ein Ortswechsel gar nicht nötig wird. Das Aufeinandertreffen der dramatis personae wird durch eine Nebenhandlung um Amalie und den Grafen von Anplace motiviert. Die komplizierte Figurenkonstellation dient bei Falbaire jedoch der Erzeugung von Spannung, da die Leser erst am Ende des Textes erfahren, dass André sich für seinen Vater geopfert hat. Im Zentrum des Stückes steht die Verzweiflung Andrés, der sich von der menschlichen Gesellschaft ausgestoßen sieht und beim Zusammentreffen mit Cecilie und Amalie aufgrund seiner abschreckenden Erscheinung von beiden gemieden und mehrmals nicht erkannt wird. Falbaire lässt die Leser darüber im Unklaren, ob André nicht vielleicht zu Recht auf die Galeere verbannt wurde und führt damit die Sichtweise der Gesellschaft und des Staates auf den Straftäter vor. Am Ende wird André durch den König begnadigt. Eine Ausbreitung 147 148
Lenz: Theater im Shakespear , S. 91. Dass Lenz diese parallele Formulierung ganz bewusst wählt und rhetorisch inszeniert, wird wiederum aus einem Vergleich mit der unpublizierten Version deutlich. Dort heißt es über die „Ahndung“ der Cidelise noch abweichend: „[E]s ist als ob eine geheime Ahndung einem sagte, er ist hier, er ist ganz nahe […]“, und die Inspiration des essayistischen Ichs wird auch wesentlich allgemeiner beschrieben: „[M]eine Vernunft sagte mir in jedem ruhigen Augenblick du bist ein Kind […].“ Lenz: Von Shakespeares Hamlet, S. 741.
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IV. Das exemplarische Ich in der Essayistik der Genieästhetik
der gesamten Vorgeschichte liefe Falbaires Intention zuwider, eine Auseinandersetzung mit den psychologischen Hintergründen von (echten oder vermeintlichen) Straftaten einzuleiten. Die Konstruiertheit der Selbstästhetik wird in Lenz’ Essay somit durch das Verfahren des ironischen Metakommentars transparent gemacht. Die Ironie verhindert gezielt das Bemühen des Lesers, den Standpunkt des sich äußernden Ichs zu bestimmen. Es zeigt sich, dass dem essayistischen Verfahren keine rekonstruierbare Vorstellung eines Selbst zugrunde liegt, auf das therapeutisch oder durch ästhetische Bildung eingewirkt werden soll. Das Ich im Text wird zu einem kontingenten Zeichen, das der Leser bei seinen in die Irre führenden Interpetationsbemühungen ständig neu mit Bedeutung besetzt. Damit hat der Essay – als Demonstration einer verunglückten Kunstkritik – diejenige Wirkung, die Lenz in den Anmerkungen dem verunglückten Schauspiel zuschreibt: Er sorgt dafür, dass der Leser „sich an den Kopf packt“ und im Zweifel bleibt, „das ärgste, was man aus einem Stück nach Hause tragen kann“.149 Von der exemplarischen Subjektform der Sturm-und-Drang-Essayistik bleiben in diesem Essay nur noch ein rhetorisches Schema an der Oberfläche des Textes und eine ironisch subvertierte genieästhetische Semantik. Im Gegensatz zu den Anmerkungen ist die Reflexion wesentlich hermetischer und bietet dem Leser kaum noch Leerstellen, in die er vervollständigend eingreifen könnte. Auch Brita Hempel hat in ihrer Untersuchung des Werkes von Lenz herausgestellt, dass dieser in seinen theoretischen Schriften durch Ironisierung seiner Prämissen eine „Autoritätsflucht“ betreibe, deren Motive nicht eindeutig bestimmbar seien. So diskutiert sie für die Anmerkungen die Optionen, dass etweder die interpretatorische Offenheit des Textes auf der anthropologischen Grundüberzeugung beruhe, dass der Mensch im Diesseits zu keiner definitiven Erkenntnis gelangen könne, oder aber dass sich dahinter eine kommunikative Strategie zur Aktivierung des Lesers verberge: Handelt es sich bei der Autoritätsflucht des Sprechers somit um eine Form mäeutischer Provokation? Daß Lenz sich hinter geschlossenem Vorhang heimlich der passenden Antworten auf offengebliebende Fragen gewiß zu sein glaubt, kann nicht einmal für seine religiösen Grundüberzeugungen behauptet werden, da er sie von vornherein auf offener Bühne als Grundwahrheiten vorzeigt.150
Während die Anmerkungen diese Fragen durch ihre offene Kommunikationssituation noch in der Schwebe halten, demonstriert der spätere Essay Über die Veränderung des Theaters im Shakespear das intellektuelle Vergnügen an der gezielten Destruktion von Wahrheit. Dies gelingt auf der Basis einer dekonstruktiven Produktionsästhetik. Da der Text darauf verzichtet, auf ein festes Konzept des Selbst 149 150
Vgl. Lenz: Anmerkungen übers Theater, S. 43. Brita Hempel: Der gerade Blick in einer schraubenförmigen Welt. Deutungsskepsis und Erlösungshoffnung bei J.M.R. Lenz. Heidelberg 2003, S. 163.
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zurückzugreifen, kann man bei diesem Essay von einer Selbsttechnik im Sinne der Essayistik der Aufklärung nicht mehr sprechen. Die Positionen, die der Interdiskurs durchläuft, heben sich durch ihre Ironisierung wechselseitig auf. Das essayistische Ich wird dadurch zu einem Verbindungspunkt und Durchgangsort zwischen inkommensurablen Subjektpositionen. Kemper betont in seiner Untersuchung der Lyrik von Lenz im Kontext des Sturm und Drang das Pathologische dieser vollständig unbestimmten Subjektposition und bringt es in direkte Verbindung mit der Schizophrenie-Erkrankung des Autors: Eben dies – das experimentelle, gezielte, aber im Ergebnis ziellose Durch-Denken und DurchSpielen epochaler literarischer Positionen – greift als Ziellosigkeit des ‚Kopfes‘ und Haltlosigkeit des ‚Herzens‘ auf die Person des Autors über. Sein psychophysischer Zusammenbruch ist so auch Folge und Ausdruck der von ihm vollführten literarischen Verstörungen. Und in dieser zunehmenden Tendenz zur Selbstaufhebung und Selbstzerstörung läge dann die einzig stimmige Kongruenz von Werk und Person.151
Während sich bei Herder und Goethe Gefühl und Reflexion – gemäß der empfindsamen, sensualistischen Anthropologie – im Essay stimmig verbinden, können sie bei Lenz nur im Modus der Spaltung und der wechselseitigen Relativierung vorgeführt werden, wodurch eine unendliche Bewegung der (Selbst)negation entsteht. Während sich die widerstreitenden Positionen in der experimentellen Selbstästhetik letztlich in ihrer Daseinsberechtigung und Gültigkeit gegenseitig bestätigen und auf diese Weise die Ausbildung von Identität ermöglichen, löscht das literarische Verfahren bei Lenz den Gültigkeitsanspruch jeder einzelnen Position aus. Eine vergleichende Analyse der Essays von Goethe, Herder und Lenz macht also deutlich, dass die exemplarische Subjektivität in der Essayistik des Sturm und Drang nicht bruchlos in Erscheinung tritt, sondern immer schon historisch relativiert oder gesellschaftlich problematisiert wird. Selbst in Goethes Baukunst-Essay entsteht ein Bruch, da das exemplarische Ich seine künstlerische Vervollkommnung anstrebt, gleichzeitig jedoch auf einen Fehler oder Mangel angewiesen ist, der die Selbstästhetik erst ermöglicht.
151
Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Bd. 6/III.: Sturm und Drang: Göttinger Hain und Grenzgänger. Tübingen 2002, S. 33.
V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung durch Essayisten im späten 18. Jahrhundert Das genieästhetische Konzept exemplarischer Subjektivität ist in den Jahren zwischen 1770 und 1775 ein zentraler Bezugspunkt für die Essayistik, sei es um emphatisch unterstützt oder um kritisch relativiert zu werden. In den späten 1770er Jahren setzt sich jedoch diejenige anthropologische Ausdifferenzierung essayistischen Schreibens, die von einem defizitären menschlichen Erkenntnisvermögen ausgeht, wieder durch, und die Essayisten kehren zum Stil der vernünftigen und allgemeinverständlichen Reflexion als Ausgangsbasis einer Kommunikation mit dem bürgerlichen Publikum zurück. Essayisten wie Christoph Martin Wieland und Georg Forster verfassen ihre Texte auf der Basis einer experimentellen Selbstästhetik und erreichen dabei sprachkünstlerisch klassische Qualität. Im Zentrum steht bei beiden die kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen der (vor allem rationalen) Aufklärung. So weist auch McCarthy auf die auffälligen stilistischen Parallen in der Essayistik Wielands und Forsters hin.1 Beide Autoren können in dieser Studie nur insofern untersucht werden, als sie sich allgemein zum Essay und zur Funktion der Essayistik als Selbsttechnik äußern. Sie sind jedoch bereits in (monographischer) Form untersucht worden, und diese Studien bestätigen die These einer Fortführung und Ausarbeitung der experimentellen Subjektform in den letzten beiden Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts. Die folgenden Ausführungen stützen sich daher auch auf diese Untersuchungen.2 1 2
Vgl. John A. McCarthy: Wieland as Essayist. In: Lessing Yearbook VIII (1976), S. 125‒139, hier S. 126. Friedrich Schillers Essayistik wird in einer Studie von Ulfried Schaefer aus dem Jahr 1996 behandelt, auf die hier zumindest hingewiesen werden soll: Ulfried Schaefer: Philosophie und Essayistik bei Friedrich Schiller. Subordination – Koordination – Synthese: Philosophische Begründung und begriffliche Praxis der philosophischen Essayistik Friedrich Schillers. Würzburg 1996. Schaefer vertritt die These, dass sich in Schillers philosophischen Schriften eine spezifisch essayistische Begriffsverwendung und Argumentationsführung nachweisen lasse. Er untersucht die Texte Über Anmut und Würde, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen sowie Über naive und sentimentalische Dichtung. Schaefer erkennt ein zentrales Charakteristikum des Essays bei Schiller in der Mehrdeutigkeit („Äquivokation“) ästhetischer und kulturkritischer Grundbegriffe (vgl. ebd., S. 205). Ausgehend von der Feststellung, dass sich Schillers Essayistik an einem als fundamental erfahrenen Dualismus von Ideal und sinnlicher Wirklichkeit abarbeite, identifiziert Schaefer verschiedene Strategien der Begriffsbildung, die mit den beschriebenen Verfahrensweisen der experimentellen Essayistik übereinstimmen. Besonderes Gewicht legt Schaefer auf die Verwendung der Paradoxie und des Perspektivismus: Verwende Schiller die inhaltliche Paradoxie als „ein heuristisches Mittel zur Annäherung an die Wahrheit der Wirklichkeit […], an den Kampf in der Realität auf dem Wege zu ihrem Ideal […]“ (ebd., S. 223), so trete die Verwendung unterschiedlicher Perspektiven „als grundsätzliche Möglichkeit des Reflexionszusammenhangs“ in Erscheinung (ebd., S. 230). In der engen Verbindung beider Elemente zeige sich die spezifische Qualität der Es-
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
1. Die Kontinuität der experimentellen Selbstästhetik 1.1. Christoph Martin Wielands Essay Fragmente von Beyträgen (1778): Kosmopolitische Selbstbildung zum Ideal der Humanität Die Kontinuität vernünftiger Reflexion in der Essayistik zeigt sich beispielsweise in Wielands Essay Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen in seinem Journal Der teutsche Merkur vom April 1778. Die allgemeine Forderung nach einer Popularität des Essays erhält hier durch die Auswirkungen der Genieästhetik neue Impulse. Bereits in früheren essayistischen Beiträgen seiner Zeitschrift hat Wieland gegen den essayistischen Stil des Sturm und Drang polemisch Position bezogen und darauf hingewiesen, dass sein „prophetischer“ Tonfall elitären Charakter habe und den größeren Teil des Lesepublikums aus der öffentlichen Diskussion ausschließe.3 Schon 1774 kritisiert Wieland besonders die inflationäre Verwendung der ersten Person Singular, durch die sich die Verfasser eine Autorität anmaßten, der sie aufgrund ihres jugendlichen Alters noch nicht gerecht werden könnten: Der vorerwähnte Egoismus ist einer von den Fehlern, wovor ich angehende Schriftsteller, besonders wenn sie für das eigentliche Publikum schreiben wollen, am meisten warnen möchte. Das ewige Ich, Ich, in dem Munde eines Ich, das erst kürzlich angefangen hat eine Person zu
3
sayistik Schillers, eine Diskontinuität in der Gedankenführung, die der Wirklichkeitserkenntnis angemessen sei. Schaefer macht ebenfalls deutlich, dass Schiller den Antagonismus von Denken und Sinnlichkeit im einzelnen Menschen „nur in der Tendenz der Vermögen“ realisiert sehe und von einem gleichen Anteil beider Vermögen an der Subjektkonstitution ausgehe (ebd., S. 224). Weitere Ausführungen zum Verhältnis von Essayistik und Subjektivität bei Schiller finden sich bei Iris Denneler: Schiller als Essayist – Unsichere Vernunft, deformierte Subjekte. In: Dies.: Ungesicherte Lektüren: Abhandlungen zu Bachmann, Pavese, Nossack, Haushofer und Schiller, zur Stadt Paris und zum Lesen in der Schule. München 2002, S. 186‒223. Wielands Rezension von Lenz’ Anmerkungen übers Theater bildet hierfür eines der bekanntesten Beispiele. Wieland legt in seiner Rezension dar, dass der individualistische Stil des Genies die Verständigung mit dem Publikum unterbinde und dem ästhetischen Urteilsvermögen der Leserschaft schade, da er seine Gesetzmäßigkeiten nicht auf eine vernünftige Weise offenlege: „Der Verfasser der A. ü Th. Mag heißen wie er will, traun: der Kerl ist’n Genie, und hat blos für Genien, wie er ist, gechrieben, wiewohl Genien nichts solches nöthig haben. Sollt ihm dies aber nicht erlaubt gewesen seyn? Durft er doch schreiben, was gar niemand, was er selbst nicht verstunde! Wer konnt’s ihm wehren? Fürs Publikum ist so was freylich nicht. Denn was soll dies damit machen? Wie soll es dem Genie seine Räthsel errathen? oder ergänzen, was der geheimnißreiche Mann nur halb sagt? Oder ihm in seinen Gemssprüngen von Klippe zu Klippe nachsetzen? — Sein Ton ist ein so fremder Ton, seine Sprache ein so wunderbares Rothwelsch, daß die Leute dastehn, und’s Maul aufsperren, und recken die Ohren, und wissen nicht ob sie süß oder sauer dazu sehen sollen: — sehen also Höflichkeits halben, und um sicher zu gehen, lieber süß, wie die meisten Zeitungsschreiber und Recensenten.“ (Christoph Martin Wieland: Rezension zu: Anmerkungen übers Theater, nebst angehängtem übersezten Stück Shakespears. Leipzig, in der Weygandischen Buchhandlung 1774. 160 S. in 8. In: Ders. (Hg.): Der Teutsche Merkur (1775), 1. Weimar: Hoffmann, S. 94‒96, hier S. 95f.)
1. Die Kontinuität der experimentellen Selbstästhetik
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werden, und dem größten Teil seiner Leser noch eine unbekannte Person ist, hat etwas widerliches, das diesem Ich selbsten großen Schaden thut.4
Anstatt jede Thematik auf sich selbst zu beziehen, solle der Schriftsteller seine Ansichten und Vorschläge unter Verwendung des neutralen Pronomens man formulieren. Robert Victor Smythe hat das kosmopolitische Selbstverständnis Wielands herausgearbeitet und die dialektische Argumentation und die rhetorische Frage als seine zentralen Stilmittel zur Bildung einer Allianz mit den Lesern bestimmt.5 Wieland will der individualistischen Ausbildung des Selbst ein universelles Humanitätsideal entgegensetzen. Diese Absicht wird auch aus einer Essay-Ausschreibung deutlich, die er im Teutschen Merkur von 1775 seinem Publikum vorlegt. Die Leserinnen und Leser werden dort unter anderem aufgefordert, folgende Frage zu beantworten: „Ist ein Mensch desto vollkommener, je mehr er individuelles hat, oder je mehr er sich dem Ideal des Menschen nähert, d. i. je mehr er ein Mensch für alle Zeiten, Orte und Umstände ist?“.6 Leider wird zu diesem Thema im Teutschen Merkur keine Einsendung veröffentlicht. Es kann der Eindruck entstehen, als habe Wieland letztendlich beschlossen, die Frage mit seinem Essay Fragmente von Beiträgen (1778) selbst zu beantworten. Dieser sowohl formal als auch thematisch sehr heterogen erscheinende Text ist offenbar in mehreren getrennten Arbeitsschritten entstanden und hat eine komplizierte Überarbeitungsgeschichte. Er besteht aus zwei Teilen, wobei der erste Teil eine Länge von 17 Seiten hat und in drei Abschnitte aufgeteilt ist, welche die Untertitel „Lehrgebäude. Fragmente. Beyträge“, „Wahrheit“ und „Bescheidenheit“ tragen. Der zweite Teil, der ca. 11 Seiten umfasst, trägt den Obertitel „Philosophie — Kunst zu leben — Heilkunst der Seele“. McCarthy hat bereits einen überarbeiteten Teilabschnitt dieses Essays mit dem Titel Was ist Wahrheit? untersucht, der sich auch in der Leipziger Werkausgabe Wielands findet, die ab 1794 erschienen ist.7 In dieser Werkausgabe setzt sich der Essay Was ist Wahrheit aus den Textabschnitten „Wahrheit“ und „Bescheidenheit“ aus dem Teutschen Merkur zusammen. Wieland 4 5
6 7
Christoph Martin Wieland: Anmerkungen zu vorstehendem Aufsatz. In: Der Teutsche Merkur (1774), 2, S. 214‒217, hier S. 215. Vgl. Robert Victor Smythe: Christoph Martin Wieland as Essayist. Ann Arbor 1982, S. 329. Smythe beschreibt, wie die rhetorischen Fragen in Wielands Essays zur Sympathie- und Affektsteuerung eingesetzt werden: “The rhetorical question is variously used to stimulate, to provoke, to conciliate, and pacify, to gain the reader’s confidence, to express incredulity (genuine or mock), to curtail or entirely avoid demurrals, and to convey sarcasm or irony.” (Smythe: Wieland as Essayist, S. 340.) Eine Einordnung Wielands in die Geschichte des Essays im 18. Jahrhundert, die sich als Supplement der Ausführungen von Smythe versteht, liefert James Raymond Wardell: The Essays of Christoph Martin Wieland: A Contribution to the Definition and History of the Genre in its European Context. Ann Arbor 1986. Christoph Martin Wieland: „Fragen und Aufgaben“. In: Der Teutsche Merkur (1775), 4, S. 83‒85, hier S. 85. Vgl. McCarthy: Wieland as Essayist. McCarthy zufolge erscheint die überarbeitete Version unter dem Titel Was ist Wahrheit? erstmals im ersten Band der Ausgabe Kleinere prosaische Schriften von 1785 (vgl. ebd., S. 126).
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
hat die beiden Textabschnitte miteinander verbunden und sprachlich leicht überarbeitet. Einige lateinische Phrasen sind ins Deutsche übersetzt oder mit einer Übersetzung in der Fußnote versehen worden. Während der Abschnitt „Lehrgebäude. Fragmente. Beyträge“ hier nicht mehr zu finden ist, hat Wieland den Abschnitt „Philosophie — Kunst zu leben — Heilkunst der Seele“ direkt im Anschluss ebenfalls als eigenständigen Essay abgedruckt und mit dem Titel Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet versehen.8 Für die Funktion der Essayistik als Selbsttechnik ist allerdings die erste, zusammenhängende Version von 1778 interessanter. Unter der Rubrik „Lehrgebäude“ richtet sich der erste Abschnitt des Essays nicht nur gegen das Errichten philosophischer Systeme, sondern auch gegen die Proklamation einer individualistischen exemplarischen Subjektivität. Das essayistische Ich berichtet von einer imaginären „Reise durch das Land der Philosophie“. Es beobachtet während dieser Reise die – zumeist dilettantischen – Bemühungen einzelner oder mehrerer Personen, ihre (Lehr)gebäude dauerhaft zu errichten, die schließlich doch der verstreichenden Zeit zum Opfer fielen.9 In Wielands geistiger Landschaft steht daher den Tempelruinen antiker Lehrgebäude das Flickwerk der Eklektiker gegenüber, die vergeblich versuchten, es ihren Vorgängern gleich zu tun. Dazwischen fänden sich die Hütten derjenigen, die auf das systematische Philosophieren verzichteten. Im Anschluss daran feiert das essayistische Ich jegliche Absage an das Errichten philosophischer Systeme als gesellschaftlichen Fortschritt. Ein fragmentarisches Philosophieren sei der Natur des Menschen angemesener. Es solle im Dienst einer allgemeinen, christlich geprägten Humanität stehen, die auf gemeinschaftliche Arbeit anstatt auf monumentale Einzelleistungen ausgerichtet sei: Wär’ es nicht besser, bescheidner, menschlicher, jeder baute sich allforderst eine Hütte für sich selbst, und wenn sie auch nur, wie des Propheten Jonas seine, von einem Kürbis beschattet würde; allenfalls eine Hütte für sich und seinen Freund; oder, wenn ers ja im Vermögen hat, und sein Herz ihn drängt auch für die zu sorgen die sich nichts um ihn bekümmern, irgend einen Ruhesaal oder ein Caravanserai an die Landstraße, wo ermüdete Wanderer einkehren und sich laben könnten?10
Ein solches fragmentarisches Philosophieren legitimiert keinen radikalen Skeptizismus, doch es gestattet dem Einzelnen, sich im Prozess der Wahrheitsfindung auch selbst zu widersprechen. Wieland bezieht sich ironisch auf die architektonische Seelenmetaphorik, welche die Sturm-und-Drang-Essayistik in ihrer Diskussi8
9 10
Vgl. Christoph Martin Wieland: Was ist Wahrheit? In: C.M. Wielands sämmtliche Werke. Vierundzwanzigster Band. Vermischte Aufsätze literarischen, filosofischen und historischen Inhalts. Leipzig: Göschen 1796, S. 37‒50; vgl. Christoph Martin Wieland: Filosofie als Kunst zu leben und Heilkunst der Seele betrachtet. In: Ders.: Werke (1796), Bd. 24, S. 51‒64. Vgl. Christoph Martin Wieland: Fragmente von Beyträgen zum Gebrauch derer, die sie brauchen können oder wollen. In: Der Teutsche Merkur (1778), 2, S. 3‒30, hier S. 4. Ebd., S. 8.
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on der exemplarischen Subjektivität verwendet hat. Er analogisiert über diesen Verweis das philosophische System und die exemplarische Subjektivität: Mit einem solchen Gebäude [einer Hütte, N.H.] kann ein Mann doch noch fertig werden und Freude daran haben, und läuft nicht Gefahr sein ganzes Leben an einem Bau zu bauen, über dem er vielleicht zu Grunde geht eh er ihn unter Dach gebracht hat, den seine Nachkommen unvollendet stehen lassen, und dessen Schicksal am Ende seyn wird, daß Eulen und Käuzlein ihre Nester darein haben, und etwa nach Jahrhunderten ein Vorüberreisender stille steht, und die prächtigen Ruinen mit gedankenvollen, oder gedankenlosen Blicken anstaunt. —11
Nach diesen Vorüberlegungen beginnt der zweite Abschnitt des Textes unter dem Begriff „Wahrheit“ dann mit einer direkten Anlehnung an Bacons Essay Of Truth: Was ist Wahrheit? ‒ Die Frage ist dadurch, daß sie schon so manchesmal durch den Mund eines Pilatus gieng, nicht desto schlechter worden. Wessen Augen blinzen nicht, wenn er mit dieser Frage überrascht wird? Schon tausend und zehntausendmal entschieden, wird sie immer wieder als ein Räthsel aufgeworfen werden, und in Millionen Fällen ein Unauflößbares bleiben.12
Diese Einleitung in die Wahrheitsthematik macht deutlich, dass Wieland seinen Essay geradezu als Gegenstück zu Bacons Text konzipiert. Während Bacon von einer einzigen, allgemeingültigen Wahrheit ausgeht, bestimmt Wieland die Wahrheit als eine radikal subjektive und – wie Jutta Heinz in ihrer Analyse dieses Abschnitts ausgeführt hat – damit auch als eine radikal relative.13 Das sicherste Kennzeichen der Wahrheit sei „das innige Bewußtseyn dessen was wir fühlen“14. Zu ihrer Erkenntnis sei demzufolge auch nichts weiter nötig als der „einfältigste Menschensinn“,15 während Gelehrsamkeit und Philosophie als Formen künstlichen und unnatürlichen Denkens ihre Erkenntnis gerade verhinderten. Am Ende dieses Abschnitts entwirft Wieland sein Bild des skeptischen Weltweisen in – auch sprachlich – direkter Opposition zu Bacons Porträt des Lukrezischen Weisen am Ende seines Essays Of Truth. Anstatt die Pole der Weisheit zu umkreisen, müsse der Weise vielmehr die Unerkennbarkeit der Wahrheit eingestehen: Wenn ein Mann auch so alt wäre wie Nestor, und so weise wie siebenmal Sieben Weise zusammengenommen, so müßt’ er doch — eben darum weil er so alt und so weise wäre — einsehen gelernt haben: daß man immer weniger von den Dingen begreift je mehr man davon weiß — daß, gegen Eine lichte Stelle die wir in der unermeßlichen Nacht der Natur erblicken, Zehentausend in Dämmerung, und zehnmal Zehntausend im Dunkeln vor uns liegen — und daß, wenn wir auch von diesem Erdklümpchen, das wie ein ungeheures Weltall vor uns liegt, uns bis zur Sonne aufschwingen, und in ihrem Lichte dies ganze Planetensystem, mit all seinem Inhalt und Zubehör, so deutlich übersehen könnten, wie ein Mann von der Spitze einer 11 12 13
14 15
Wieland: Fragmente, S. 8. Ebd., S. 9. Vgl. Jutta Heinz: Was ist Wahrheit? Skeptischer Zweifel und Gefühlsgewissheit bei Rousseau, Hume und Wieland. In: Jutta Heinz u. Cornelia Ilbrig (Hg.): Literatur und Skepsis in der Aufklärung. Wezel-Jahrbuch. Studien zur europäischen Aufklärung. Bd. 10/11 (2007/08), S. 57‒ 76, hier S. 73. Wieland: Fragmente, S. 12. Vgl. ebd., S. 15.
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Terrasse seinen Garten übersieht — dies nehmliche Planetensystem nun abermal nichts mehr für uns wäre als — eine lichte Stelle in der unermeßlichen Nacht der Natur.16
Wieland greift das Motiv des Lukrezischen Weisen auf und interpretiert es entsprechend der anthropologischen Essayistik um: Der rational geordnete Garten, der sich dem Gesichtspunkt des Weisen als Tableau erschließt, ist nicht mehr imstande, das Ganze der Natur im Sinne der Episteme der Repräsentation abzubilden. Die Erkenntnis ist stattdessen dunkel und fragmentarisch, und der einzelne Mensch wird sich selbst mit seinem Wahrheitsgefühl zum einzig verlässlichen Bezugspunkt. Wieland schreibt hier Bacons Essay im Montaigne’schen Verständnis um. Folgerichtig wird im letzten Abschnitt des Essays unter dem Titel Philosophie – Kunst zu leben – Heilkunst der Seele die philosophische Reflexion als therapeutische Selbsttechnik mit medizinischem Selbstverständnis rigoros verworfen. Der Mensch besitze eine „angebohrne Philosophie“17, er komme geistig gesund auf die Welt und benötige keine Regelwerke zu seiner Lebensführung. Scharfsinnig erkennt Wieland das manipulative Potenzial einer therapeutischen Selbsttechnik, die ihre Legitimität allein daraus beziehe, dass sie den Menschen als von Natur aus krank, das heißt sittlich verdorben und daher als der Heilung bedürftig darstelle. Der Essay soll dem Leser diese Abhängigkeit vor Augen führen und ihn zu kritischer Distanz befähigen.18 Wie schon der parodistische Essay in den Discoursen der Mahlern, reklamiert Wieland ein Recht des Menschen auf Unwissenheit und einen Verzicht auf die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst. Allein auf diese Weise könne die Glückseligkeit des Menschen gewährleistet werden. Was bei Bodmer und Breitinger noch durch die Anmerkung Parodie als prekäres Gedankengut markiert werden muss, wird bei Wieland zur Grundlage einer Anthropologie, die sich theoretisch überhaupt nur in der Form essayistisch-fragmentarischen Schreibens – verstanden als einer Form ursprünglichen oder naturnahen Denkens – äußern kann: Nennt es, wenn ihr wollt, fortdaurende Kindheit: aber betet an zur Erde vor der Natur, die diese ihre Kinder auf dem kürzesten Weg zu jenem Glücklichleben (beate vivere) führt, wohin wir aufgeklärten Leute, vor lauter Menge der Wege die dahin führen, so selten oder gar nie gelangen können.19
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Wieland: Fragmente, S. 17. Vgl. ebd., S. 24. So wird wenig später eine entsprechende Handlungsempfehlung gegeben: „Ich sagte vorhin: Die Philosophie könne als Arzneykunst für die Seele um so eher ihren Platz behaupten, weil die Gesunden dann wißten, daß sie nichts mit ihr zu schaffen hätten.“ Ebd., S. 29. Diese Kritik des therapeutischen Diskurses wird in aktuellen kultursoziologischen Untersuchungen im Anschluss an und in korrigierender Distanz zu Foucault fortgesetzt. Vgl. dazu etwa: Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Aus dem Englischen übers. v. Michael Adrian. Frankfurt a.M. 2009. Wieland: Fragmente, S. 24. In der überarbeiten Version von 1796 ist das genieästhetisch konnotierte anbeten durch das idalistisch konnotierte ehren ersetzt („Nennt es, wenn ihr wollt,
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Wielands Bezug auf Rousseaus erste Akademie-Abhandlung von 1750, den Discours sur les sciences et les arts, ist offensichtlich. Mit seiner Forderung nach einer „fortdaurenden Kindheit“ stimmt Wieland in Rousseaus Ausruf „O Tugend! Erhabene Wissenschaft einfältiger Seelen!“ ein.20 Wieland teilt mit Rousseau die Idealisierung einer unkorrumpierten Tugendnatur, jedoch geht er im Gegensatz zu Rousseau nicht davon aus, dass die Vergesellschaftung den Menschen grundsätzlich degeneriere.21 Im Gegenteil erscheinen in seinem Essay gerade der Glaube an eine zivilisationsbedingte Dekadenz und der therapeutische Ansatz der Essayistik, der sich daraus speise, als tatsächliche Ursachen einer Krankheit des Geistes und des Gemüts. Ohne sich explizit auf den Essay als Textform zu beziehen, fasst Wielands Essay im Teutschen Merkur somit die dreifache Funktionsveränderung der Gattung seit den 1750er Jahren zusammenen und setzt sich zugleich kritisch mit der Genieästhetik auseinander: Das Verfassen essayistischer Texte wird nicht mehr aufgrund seiner gesellschaftlichen Nützlichkeit gegenüber dem philosophischen System favorisiert, sondern aufgrund der Tatsache, dass es dem menschlichen Wesen angemessener sei. Die Wahrheit des Textes ergibt sich aus der psychologischen Folgerichtigkeit der Gefühle ihrer Verfasserinnen und Verfasser, und die Praxis des Schreibens und Lesens von Essays dient nicht mehr der moralischen Besserung, sondern einer relativistischen Selbstkritik. Die Ironie des Textes besteht darin, dass Wieland auf der Inhaltsebene jede gezielte Einwirkung auf das eigene Selbst als Deformation ablehnt. Zugleich ordnet er sich jedoch durch seine Formulierung „wir aufgeklärten Leute“ selbst derjenigen Personengruppe zu, die den Rousseau’schen Naturzustand bereits so weit hinter sich gelassen habe, dass sie der textbasierten Selbsttechnik bedürfe, um sich diesem durch eine aufklärungskritische literarische Praxis wieder anzunähern. Heinz weist darauf hin, dass Wieland in seinem Essay die Bestimmung der Wahrheit als „inneres Gefühl“ mit leichten Abwandlungen von Rousseau und aus Humes Enquiry Concerning Human Understanding (1758) gewinne.22 Er grenze sich dabei zugleich von einem „theoretisch-methodische[n] Zweifel“ im Sinne Humes und von „praktisch-empfindsamer Gefühlsgewissheit“ im Sinne Rousseaus ab.23 Stattdessen lege er in seinem Essay die Grundlage für ein Sprechen über das Selbst und die Welt, bei dem die Evidenz des Gefühls eine zwar bezweifelbare,
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f o r t d a u e r n d e Ki n d h e i t : aber ehret die Natur, die diese ihre Kinder auf dem k ü r z e s t e n W e g e zu jenem Gl ü c k l i c h l e b e n (beate vivere) führt […].“ (Wieland: Filosofie als Kunst zu leben, S. 58.) Rousseau: Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste, S. 38. Wielands Kritik an Rousseaus „Primitivismus“ in seiner Essayistik, vor allem in seinem Essay Betrachtungen über J.J. Rousseau’s ursprünglichen Zustand des Menschen (1770) in den Beiträgen zur Geheimen Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens, erläutert Smythe: Wieland as Essayist, S. 123‒127. Vgl. Heinz: Was ist Wahrheit, S. 72. Vgl. ebd., S. 73.
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jedoch für den Einzelnen unhintergehbare Voraussetzung jeder wahren Aussage bilde: Sowohl die Sinne als auch das innere Gefühl können ebenso wie die Vernunft getäuscht werden, eine logische Überprüfung des Wahrheitsgehaltes von Gefühlen ist aber per se ausgeschlossen. Deshalb ist es in letzter Instanz für das empfindende Individuum nur wichtig, dass es sich selbst als authentischer Urheber sinnlicher und möglichst weitgehend unverfälschter Empfindungen erfahren kann; im ‚ich fühle‘ liegt das ‚ich bin‘ begründet.24
Diese Position hat unmittelbare Auswirkungen auf den Essay, der nun ein Ich ins Zentrum der Argumentation stellt, das angesichts nurmehr fragmentarischer Erkenntnis nach Gefühlsgewissheit und universalisierbaren menschlichen Erfahrungen sucht. Dieses Selbstverständnis des Essayisten als eines gesellschaftlichen Schriftstellers mit anthropologischem Auftrag setzt sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts durch.
1.2. Irritationen des Wahrheitssinns in der Essayistik Georg Forsters In seiner 1993 erschienenen Studie zu Georg Forsters Essayistik analysiert Michael Ewert sowohl Forsters essayistische Schreibweise als auch dessen explizite Ausführungen zur Gattung des Essays. Nach Ewert hat Forster als Essayist ein experimentelles Selbstverständnis. Seine Texte konstituierten eine „Versuchsanordnung mit temporärer Geltung“,25 durch die ein bestimmtes Ideal von Selbstbildung realisiert werden solle. Auf eine bewusst antisystematische Weise richte sich Forster in seinen kulturkritischen Essays gegen einen als Bedrohung des Individuums erfahrenen Rationalismus, den er besonders in Kant und dessen Pflichtenethik realisiert sehe.26 In Opposition zur zunehmenden Verwissenschaftlichung der Philosophie bestehe Forster nach Ewert auf der Idee einer „subjektiven Vernunft“.27 Diese sei zweckgerichtet,28 und das bedeutet – so müsste man ergänzen –, dass ihr Ziel nicht der allgemeine wissenschaftliche Fortschritt, sondern die individuelle Selbstbildung ist. Auf der Basis einer Interpretation von Forsters Essays Über Leckereyen (1788) und Über allgemeine und lokale Bildung (1791) rekontruiert Ewert in Forsters Essayistik eine „dialektische Methode“,29 einen „bipolaren Denkstil“,30 der – wie auch bei Wieland – durch den Wechsel von Perspektiven absolute Werte rela-
24 25 26 27 28 29 30
Heinz: Was ist Wahrheit, S. 73. Vgl. Michael Ewert: „Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint“. Die Essayistik Georg Forsters. Würzburg 1993, S. 141. Vgl. Ewert: Forsters Essayistik, S. 121. Vgl. ebd., S. 123. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 90. Vgl. ebd., S. 100.
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tiviere.31 Van der Laan geht in seiner Besprechung des Essays Über Leckereyen (den er mit Justus Mösers Essay Harlekin oder Vertheidigung des GroteskeKomischen von 1761 vergleicht) sogar so weit, zu konstatieren, Forsters Essay sei darauf hin angelegt, soviele Perspektiven wie möglich in seinen Text zu integrieren.32 Dies sei Ausdruck des experimentellen Charakters des Textes.33 In seinen Interpretationen macht Ewert deutlich, dass Forster besonders die Widersprüche betone, die durch eine Konfrontation von generalisierenden philosophischen Reflexionen mit empirischen Daten entstünden, die aus der individuellen Beobachtung gewonnen worden seien: Wie jeder Essayist weiß Forster, daß sich das Besondere nicht durch noch so vieles Subsumieren unter Allgemeinheiten ausschöpfen läßt. Sein Interesse gilt daher der Erfahrung des Konkreten. Das Gegengewicht dazu bilden ins Allgemeine hin sich öffnende, philosophische Reflexionen. […] Was sich in der Konsequenz notwendigerweise ausschließen muß, sieht Forster […] durchaus in einem Verhältnis wechselseitiger Ergänzung. Der Essay bringt aus Widersprüchen neue Denkfiguren hervor, die an noch unbekannte Zusammenhänge oder Möglichkeiten eines Zusammendenkens heranreichen. Durch Widersprüche hindurch werden die Gegenstände im Essay dialektisch erhellt. Erschließen soll sich, was nur in Widersprüchen denkbar ist, ein Noch-nicht-Gedachtes.34
Dass diese experimentelle Schreibweise als Selbsttechnik konzipiert sei, die auch der Leser der Essays für sich selbst zur Anwendung bringen solle, benennt Ewert ebenfalls: Im Wechsel von Perspektiven, im Durchdenken von Widersprüchen vollzieht der Essayist einen auf ein utopisches Ziel bezogenen Bildungsakt, der im Schreibprozeß festgehalten wird. Dem Leser wird eine kritische, eigenes Nachdenken voraussetzende Überprüfung des Mitgeteilten abverlangt.35
Um diese Wirkung zu erreichen, setzt Forsters Essayistik – wie Schneider herausgearbeitet hat – auf die Aktivierung eines durch Bildung und die Einbindung in einen kulturellen Kontext erworbenen „Wahrheitssinnes“ des einzelnen Menschen, den Forster als Vorbedingung der Lektüre voraussetze.36 Es handelt sich hierbei offenbar um eine Variation der Bestimmung von Wahrheit als „innerem Gefühl“ bei Wieland (und selbstverständlich in der frühen Essayistik Herders und Goethes). 31
32 33 34 35 36
Auf S. 89 benennt Ewert den „Werterelativismus“ als notwendige Folge von Forsters Ideal individualistischer Subjektivität. In seinem Aufsatz zu Forsters Essay Über Leckereyen spricht Ewert noch expliziter von einer „multiperspektivischen“ Textstrategie. Vgl. Michael Ewert: Literarische Anthropologie. Georg Forsters Leckereyen. In: Jörn Garber (Hg.): Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Tübingen 2000, S. 20‒30, hier S. 27. Vgl. James Van der Laan: Forster’s ‚Leckereyen‘ and Möser’s ‚Harlekin‘: Medium and Message of the Essay. In: Lessing Yearbook 21 (1989), S. 157‒169, hier S. 167. Vgl. ebd. Ewert: Forsters Essayistik, S. 89f. Ebd., S. 146. Vgl. Jost Schneider: Wahrhaftigkeit und Nützlichkeit in Forsters Essay „Über historische Glaubwürdigkeit“. In: Georg Forster Studien 13 (2008), S. 45‒59, hier S. 49f.
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Der Wahrheitssinn löse nach Forster eine spontane und präreflexive Reaktion des Lesers auf den Text aus: Der Mensch entscheidet aufgrund seiner internalisierten Bewertungsmaßstäbe auf der Stelle und ohne Zögern über solche Fragen. Die nachgängige, das Für und Wider zergliedernde Reflexion kann dann weitere Argumente liefern und eventuell sogar zu einem Zwiespalt zwischen unmittelbar empfundener innerer Evidenz und nachträglichen äußerlichen Verstandesurteilen führen. Doch die intuitive, vom ‚Sinn für das Wahre‘ gefällte Entscheidung bleibt auch dann noch das Unmittelbare, das mit Körper, Geist und Seele Empfundene, also gleichsam die ganzheitlich erfahrene, ‚erlebte‘ Wahrheit.37
Ästhetische Wahrheit ist also bei Forster „erlebte“ Wahrheit, und der Essay muss konkret und phantasieanregend sein, um eine größtmögliche Leserschaft zu erreichen. Ein intuitiver gesellschaftlicher Konsens mit der Leserschaft bildet jedoch nur einen Teil der Wirkungsabsicht. Gerade die Perspektivenwechsel und die durch sie provozierten Paradoxien führen dazu, dass der Wahrheitssinn des Lesers immer wieder nachhaltig irritiert und in affektive Aporien getrieben wird. Forster unterstützt durch rhetorische Manipulation den Konsenswillen seiner Leser (besonders durch das enthusiasmierende Pathos seiner Texte) und lässt sie dann gezielt in die Falle gehen. Er setzt sein Publikum auf diese Weise bewusst auch negativen Emotionen aus, wenn er zum Beispiel gesellschaftspolitische Entwicklungen wie den Kolonialismus oder die Französische Revolution von unterschiedlichen Standpunkten her beleuchtet und zeigt, dass der kulturelle Konsens hinsichtlich einer ethischen Bewertung dieser Phänomene Zustimmung und Ablehnung in gleichem Maße gestattet. Der Wahrheitssinn des aufmerksamen Lesers kann daher dadurch modifiziert werden, dass die auch emotional erlebten Paradoxien ihn zwingen, den Ursprung und die Widersprüchlichkeit seiner kulturell erworbenen und verinnerlichten Prinzipien vernünftig zu hinterfragen. Ein Beispiel liefert Forsters Essay Über Leckereyen, der erstmals 1788 in Lichtenbergs Göttinger Taschen-Calender erscheint. Dieser entwirft in scherzhaftem, plauderndem Tonfall das Ideal eines harmonisch ausgebildeten europäischen Geschmackssinnes. Bei der Behandlung dieses Themas werden im Verlauf der Argumentation zwei Differenzkriterien entwickelt: Zum einen unterscheide sich der Mensch wesentlich vom Tier, da er in der Lage sei, ein breiteres Nahrungsangebot zu konsumieren und nicht auf einige wenige Genüsse besonders fixiert sei. Zum anderen unterscheide sich der Europäer darin von Menschen anderer Kulturkreise, dass er noch einmal über ein weiteres Nahrungsangebot verfüge und daher von einer noch stärkeren Vervielfältigung des Genusses profitieren könne. Handelsbeziehungen bis in die entlegendsten Länder gestatteten es selbst der einfachen europäischen Bevölkerung, auch exotische Nahrungsmittel zu konsumieren, sodass sie in der Lage sei, den am feinsten ausdifferenzierten Geschmackssinn zu entwickeln und damit in der Welt die höchste Stufe der Kultur zu erreichen. Dieser Prozess 37
Schneider: Wahrhaftigkeit und Nützlichkeit, S. 50.
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wird emphatisch als eine Form sensualistischer Aufklärung vorgestellt. Dem einzelnen Europäer scheint geradezu die Verpflichtung auferlegt, sich auch im kulinarischen Bereich zu bilden. Im enthusiasmierten Pathos idealistischer AufklärungsRhetorik integriert das essayistische Ich sogar die Volksaufklärung in seine Argumentation: Wo giebt es rohere Menschen als die bloß fleischfressenden Hirtenvölker im östlichen Asien; wo schwächere, als die Indier, die größtentheils nur vom Reis leben? Wie verschieden hingegen ist der Fall so manches handfesten und verständigen europäischen Bauers, der bey einer gemischten Diät, so oft er sich gütlich thut, die beiden Indien in Contribution setzt, um zu seinem Hirsebrey Zucker und Zimmt zu genießen!38
Diese Kontrastierung der indischen und der europäischen (Land-)Bevölkerung kann jedoch in der Reflexion des Lesers zu irritierenden Implikationen führen. Die Argumentation des Essays, die so harmlos mit einigen Beobachtungen aus dem Bereich des „Kochbuchs“ beginnt, eröffnet plötzlich eine kulturkritische Dimension. Denn der angepriesene Fortschritt wird allein durch die Indienstnahme eines auf Ausbeutung basierenden Herrschaftssystems ermöglicht. Das Gewürz Zimt – ein zentraler Bestandteil der komplexen indischen Küche – findet sich nun auf dem Teller des europäischen Landwirtes und nicht mehr in den Speisen seiner Erzeuger. Eine ähnliche Gedankenfolge, deren Implikationen das Ideal in sein Gegenteil umschlagen lassen können, eröffnet folgende Stelle: Der ganze Handel von Westindien und Afrika, und ein großer Theil des Handels im mittelländischen Meere beruht auf der ungeheuern Consumption von ausländischen Leckereyen im Norden; und es ist ein eben so zuverläßiges, als für die Zukunft bedenkliches Faktum, daß das Gold und Silber, welches die Bergwerke von Peru und Mexiko liefern, durch die dritte oder vierte Hand für Theeblätter nach China geht.39
Das für den Erwerb exotischer Genussmittel benötigte Kapital erwirbt sich der Europäer durch die Beraubung und Versklavung eines anderen Kulturkreises. Endgültig scheint der sukzessive Perspektivenwechsel vollzogen, wenn das essayistische Ich am Ende des Essays plötzlich wieder auf das Tierreich zu sprechen kommt. Dies geschieht im Anschluss an eine illustrierende Aufzählung süßer, exotischer Früchte, die schon durch die Klangqualität ihrer Namen ein – wie Ewert schreibt – „unvermitteltes Bewußtsein des Genusses“ vermitteln.40 In einer Art Klimax wird die Süße als besonders hohe Form des Genusses angepriesen, doch dann stellt das essayistische Ich fest, dass der Mensch diese Vorliebe mit den Tieren teile und
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39 40
Georg Forster: Über Leckereyen. In: Ders.: Kleine Schriften. Ein Beytrag zur Völker- und Länderkunde, Naturgeschichte und Philosophie des Lebens. Bd. 1. Berlin: Voß 21803, S. 355‒392, hier S. 369. Ebd., S. 378f. Vgl. Ewert: Forsters Leckereyen, S. 28.
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auch die „Ameisen, Zuckergäste, und gemeine[n] Fliegen“ dem Zucker als dem anziehendsten Genuss nicht widerstehen könnten.41 Dieser Abschluss negiert mit einem Mal die beiden zuvor getroffenen Differenzkriterien. Die Vorliebe für die Leckerey erscheint nun nicht mehr als Prärogativ des kultivierten Europäers, sondern als natürlicher Instinkt, ein tierhaftes Streben nach Genuss. Resümiert der Leser den Essay unter diesen Vorzeichen neu, so kann die Argumentation kippen, und das emphatische Aufklärungspathos erscheint plötzlich als reine Legitimationsrhetorik zur Durchsetzung kulturhegemonialer Interessen. Zwar lässt sich Forsters Essay auch im Sinne eines emphatischen Lobes kultivierter Geschmacksbildung lesen, doch sperren sich die Implikationen der Argumentation an vielen Stellen einer solchen bruchlosen Lektüre. Wiederholt scheinen die zentralen Begriffe „Leckerey“ oder „leckerhaft“ vielmehr eine Chiffre zu bezeichnen, die sich jeweils durch wesentlich konkretere Ausdrücke ersetzen lässt. Denn was bedeutet es, dass der Europäer „besonders lecker“, also begierig auf neue Genüsse sei? Erstreckt sich seine Gier nicht viel weiter? Und warum wird Friedrich II., Repräsentant eines aufgeklärten Absolutismus, als Opfer einer unmäßigen Völlerei portraitiert, die jedoch wiederum Ursache seines „Heldenmuth[s] und des „Adlerblick[s] seines Verstandes“ gewesen sei?42 Ein Blick in das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch hilft, diese Frage zu beantworten. Es zeigt sich, dass das Adjektiv lecker und seine zahlreichen Varianten und Ableitungen wie das Substantiv die Leckerey oder das Adjektiv leckerhaft bereits seit dem 15. Jahrhundert als lexikalisch ambig nachgewiesen sind: Einerseits bezeichnet die Leckerey eine Gaumenfreude, andererseits bedeutet das Wort jedoch: eine böse Tat, eine Schandtat. Der Leckerhafte ist in diesem zweiten Sinne ein sündhafter, vor allem gieriger Mensch, der zu Maßlosigkeit und aus diesem Grunde zu Hinterhältigkeit neigt.43 Auch das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm bezeichnet das Substantiv der Lecker als „gelindes Schimpfwort“, das jedoch auch „schurke, schuft“ bedeuten könne.44 Damit ist bereits im Titel des Essays Über Leckereyen eine doppelte Bedeutung angelegt, welche die Argumentation mithilfe von Ironie kunstvoll entfaltet. Forster 41 42 43
44
Vgl. Forster: Leckereyen, S. 392. Vgl. ebd., S. 371f. Das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch gibt für das Lemma Leckerei, die an: „1. Leckerei, wohlschmeckendes Gericht“ und „2. Gefräßigkeit; ütr.: Lasterhaftigkeit, Lüsternheit; Niedertracht; Betrügerei, Schelmerei“ (Frühneuhochdeutsches Wörterbuch. Hg. v. Ulrich Goebel, Anja Lobenstein-Reichmann u. Oskar Reichmann. Bd 9.1. Bearb. v. Anja Lobenstein-Reichmann u. Oskar Reichmann. Berlin u. Boston 2003, Sp. 562‒563). Das Adjektiv leckerhaftig wird erläutert mit „1. genußsüchtig; wollüstig“, „2. gerissen“ und „3. köstlich, lecker“ (ebd., Sp. 563). Das Substantiv leckerheit, die bedeute „Boshaftigkeit; Schandtat; Schmarotzertum, Schlechtigkeit; Lüsternheit“ und metonymisch „Verbrechen, Tat, die aus Boshaftigkeit begangen wird“ (ebd., Sp. 564). Des Weiteren existiert auch das Adjektiv leckerlich mit der Bedeutung „auf schlechte Weise, bösartig, betrügerisch; sittenlos“ (ebd., Sp. 564). Vgl. Jacob Grimm u. Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 6. Bearb. v. Dr. Moriz Heyne. Leipzig 1885, Sp. 482.
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korreliert psychologisch den Hang zur Maßlosigkeit mit einer besonderen intellektuellen Befähigung. Das ungehemmte Streben nach Genussbefriedigung und eine kalkulierende Rationalistät zeigen sich in seinem aufklärungskritischen Essay in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit.45 Die europäische Geschmacksbildung und kulturelle Verfeinerung werden dabei mithilfe einer Metaphorik beschrieben, die den Erwerb und die Aneignung neuen Wissens als Verdauungsprozess vorstellt. Die übersteigerte Genusssucht habe bei Friedrich II. zu einer Irritation der Verdauungsorgane geführt, die sich – übertragen auf den Prozess der Geschmacksbildung – auch als Überforderung angesichts der Unmengen neuer ethnologischer und naturgeschichtlicher Erkenntnisse verstehen lässt. Forster zieht daraus die Konsequenz, dass allein die schmerzhafte Verstimmung der (man könnte ergänzen: körperlichen oder geistigen) Verdauungsorgane den Menschen sensibel für fremdes Leiden – auch das selbstverschuldete – mache.46 Ein solcher Fortschritt in der empathischen Wahrnehmung des Anderen wird also paradoxerweise erst durch dessen rücksichtslose Ausbeutung möglich. Der folgende Abschnitt beginnt mit folgenden Worten: Unsere Leser werden uns hoffentlich bis hieher zu gut verstanden haben, um uns die Absicht beyzumessen, als ob wir ihnen ein Muster zur Nachahmung aufstecken, oder ihnen gar mit guter Manier zur Indigestion verhelfen wollten; da wir weiter nichts wünschen, als jedes Original in seinem Werthe gelassen zu wissen.47
Jedoch gerade diese Befähigung, den Eigenwert einzelner Kulturen nicht einer hegemonialen Perspektive zu subsumieren, wie Forster sie in seinem kulinarischen Essay selbst präsentiert, kann nur erworben werden, wenn der Essay dem Leser mithilfe von Ironie und Paradoxie zur intellektuellen „Indigestion“ verhilft. Einen Hinweis auf Forsters Verfahren in diesem Essay gibt der Anlass zur Abfassung des Textes, das zweibändige Kompendium Über die Leckereyen von Bengt Bergius, das Johann Reinhold Forster zusammen mit Kurt Sprengel 1792 als Übersetzung aus dem Schwedischen publiziert.48 Wie aus Forsters Briefwechsel hervorgeht, erhält er dieses Buch von Lichtenberg mit der Bitte, einen Kommentar dazu für den Taschen-Calender zu verfassen, aus welchem letztlich der Essay Über Leckereyen hervorgeht: Im Taschenkalender hab’ ich etwas über Leckereien geschrieben; Lichtenberg schickte mir nämlich das schwedische Buch des Bergius, om Läckerheter, mit Bitte etwas draus auszuzie45
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Forster verwendet im Zusammenhang mit Friedrich II. den Begriff lecker eindeutig negativ konnotiert, im Sinne eines moralischen Mangels: „Vielleicht konnte, vielleicht wollte die Natur die edlern Prädicate: Geistesgröße und Majestät, nicht ohne Versetzung mit einer niederen Eigenschaft ausstempeln, und der größte König mußte vielleicht ein wenig lecker seyn, so wie seine Goldmünze Kupfer enthält.“ (Forster: Leckereyen, S. 373.) Vgl. ebd., S. 372. Ebd., S. 372f. Bengt Bergius: Über die Leckereyen. Aus dem Schwedischen mit Anmerkungen von Dr. Joh. Reinh. Forster und D. Kurt Sprengel. 2 Teile. Halle: Buchhandlung des Waisenhauses 1792.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
hen; allein ich fand nichts was mir für den Kalender tauglich schien, daher schwadronirte ich etwas daher, und indulgebam genio meo, d. h., ich habe zum Scherz etwas paradoxes gesagt; nur ist es für den Kalender zu ernsthaft philosophisch, und die meisten werdens nicht verstehn.49
An zahlreichen Stellen in seinem Essay nimmt Forster dementsprechend auf das Buch von Bergius Bezug. Insbesondere die Namen der exotischen Früchte, die er gegen Ende auflistet, sind vollständig aus Bergius’ Werk entnommen, wobei allein die Schreibweise und die Reihenfolge der Aufzählung im Vergleich zu den Artikeln des schwedischen Werkes variiert. Ausführlich werden bei Bergius die Küchen der unterschiedlichen Kulturkreise beschrieben, die Verwendungsweisen von Gewürzen und die Zubereitungsarten von Früchten und Gemüsen. Ein einziger Blick in dieses Kompendium entlarvt die kulturhegemoniale Perspektive der Oberflächenstruktur des Essays Über Leckereyen als unhaltbar. Allerdings ist die hegemoniale Sichtweise in Bergius’ Buch bereits selbst angelegt. Hieraus ergibt sich ein werkinterner Widerspruch, der Forster möglicherweise zu seinem Essay veranlasst hat. Denn im ersten Teil des Kompendiums findet sich das kurze Unterkapitel „Wer am besten über Leckereyen urtheilen kann“. Dort führt Bergius aus, dass er hinsichtlich der Qualität von Leckereyen allein dem Urteil weitgereister Personen von hoher Geburt vertraue: Eine ungleiche Erziehung, eine verschiedene Erfahrung, die man mit etwas wirklich Leckerhaftem angestellt hat, bewirken öfters ein völlig verschiedenes Urtheil: und so kann jemand, der noch keine Gelegenheit gehabt hat, leckerhafte Dinge zu schmecken, unmöglich einen Begriff davon haben: dagegen ein anderer, der im Luxus auferzogen worden, und sich einen feinen Geschmack erworben hat, weit richtiger darüber urtheilen wird, und auch weit mehr Glauben verdient. Aus diesem Grunde könnte man die Leckereyen füglich in solche eintheilen, die von Leuten unter glücklichen Umständen für wahre Leckereyen gehalten wurden, und in solche, die die geringe Classe der Menschen, welche einer ärmlichen Erziehung genoß, dafür zu halten pflegt.50
Forster greift diese Differenzierung auf, überträgt jedoch den Gegensatz von hoher und niederer Geburt auf die Opposition Europäer – Nichteuropäer. Dies ermöglicht es ihm, seine paradoxe Argumentation auszuführen, ohne dass diese sofort als Kritik an Machtansprüchen kenntlich wird. Eng verbunden mit dem Anspruch auf Polyperspektivität in Forsters Essayistik ist auch eine Tendenz, die sich bereits in Wielands Fragmenten abzeichnet: Das essayistische Ich wird bei Forster zunehmend durch das gesellschaftliche Wir ersetzt. So entwickelt Friedrich Schlegel auch in seinem späteren Essay Georg Fors49
50
Georg Forster: Brief an Samuel Thomas Sömmering (7. August 1788). In: Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hg. v. d. Akademie d. Wissenschaften d. DDR. Bd. 15: Briefe Juli 1787‒1789. Bearbeitet v. Horst Fiedler. Berlin 1981. S. 173‒175, hier S. 173. Bergius: Über die Leckereyen. Bd. 1, S. 25.
1. Die Kontinuität der experimentellen Selbstästhetik
253
ter. Fragment einer Charakteristik der deutschen Klassiker (1797) nach Ansicht Gerhart Pickerodts an Forster den „Typus ‚gesellschaftlicher Schriftsteller‘“.51 Schlegel gehe es dabei nicht darum, mit dem gesellschaftlichen Schriftsteller bestimmte Themenstellungen oder ideologische Ansichten in Verbindung zu bringen, sondern er beziehe sich damit explizit auf Forsters (hier wäre einzufügen: essayistische) Schreibweise: Als Charakteristikum der Schriften meint der Begriff des Gesellschaftlichen primär die Vielfalt von Elementen und Aspekten, die intern dialogisch verbunden erscheinen. Hinzu kommt auf dieser Ebene der Begriff des Weltbürgerlichen. Auch er dürfte nämlich weniger auf die politische Haltung Forsters oder die inhaltliche Orientierung der Schriften bezogen sein als darauf, dass diese sich nicht in sich selber bornieren, dass sie vielmehr über sich hinausweisen, so dass sie mit anderen – auch anderer Sprache und Nationalität – zu kommunizieren vermögen.52
Den Polyperspektivismus der Forster’schen Essays erkläre Schlegel, so Pickerodt, mit Forsters Vermögen einer „dramatisierenden Einbildungskraft“, die sich als „Schreibkonstrukte“ im Text manifestiere.53 Forsters gesellschaftliches Selbstverständnis wird auch daraus ersichtlich, dass er der erste deutschsprachige Essayist des 18. Jahrhunderts ist, der den englischen Begriff Essay bei der Besprechung von Texten und für gattungstheoretische Reflexionen regelmäßig verwendet. Auch die Ableitung „Essayist“ (hier nicht mit „ß“) ist in seinen Schriften häufiger anzutreffen. Mit seiner Reise um die Welt (1778‒80) legt er einen essayistisch reflektierenden Reisebericht vor, der für die deutschsprachige Literatur entscheidende Impulse zur Verbindung essayistischer Schreibweisen mit anderen Gattungen gibt und damit die Entstehung der gattungsübergreifenden Haltung des kultur- und gesellschaftskritischen Essayismus maßgeblich befördert. Die wichtigsten Stellen, an denen Forster sich zum Essay äußert, hat Ewert zusammengestellt.54 Forster reflektiert explizit über die Vorzüge der Gattung gegenüber systematischen Schriften und greift dabei diejenigen (in sich widersprüchlichen) Argumente auf, die bereits aus Addisons Essays im Spectator bekannt sind. In der Geschichte der Englischen Litteratur vom Jahre 1789 wird die Essayistik – im Anschluss an eine Rezension systematischer Schriften – im typischen understatement der englischen Essayisten als literarische Form mit geringerem Geltungsanspruch vorgestellt: Aus dieser unkörperlichen Region, wo nur selten Meteore glänzen, senkt sich unser Blick zu den philosophischen Schriftstellern von der zweyten Klasse, und insbesondere den in England so häufigen Essayists, hinab. Lebhafte, unterhaltende, zuweilen auch gründliche Abhandlungen über einzelne Gegenstände aus dem weiten Umkreise der Philosophie, die wenigstens öfter die Resultate des eigenen Nachdenkens, als der mechanischen Aufsammlung fremder Meinun51 52 53 54
Vgl. Gerhart Pickerodt: Der ‚gesellschaftliche Schriftsteller‘. Friedrich Schlegels Blick auf Forsters intellektuelle Physiognomie. In: Georg Forster-Studien 6 (2001), S. 51‒65, hier S. 59. Ebd. Vgl. ebd., S. 61. Vgl. ebd., S. 60f.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
gen sind, behalten für die individuelle Ausbildung derer, die ihre Kräfte daran üben, einen entschiedenen Werth, so gering auch ihr übriger Nutzen in der Litteratur seyn mag.55
Die Klassifizierung der Essayisten ist hier bewusst paradox formuliert: Zum einen werden sie als Literaten zweiter Klasse vorgestellt, zum anderen wird ihnen jedoch auch derjenige Bereich philosophischer Tätigkeit zugewiesen, in welchem überhaupt nur „Meteore glänzen“, das heißt originelle literarische Einzelleistungen öffentlich hervortreten könnten.56 Einerseits sei die Tätigkeit der Essayisten nur von Nutzen für die individuelle Selbstbildung, andererseits zeichneten sich ihre Schriften jedoch in größerem Maße durch Originalität aus als die durch „mechanische Aufsammlung fremder Meinungen“ entstandenen Schriften. Dabei bleibt es wiederum unklar, ob das Kompilieren fremder Meinungen dem Bereich der systematischen Schriften oder dem der Essayistik zugeordnet wird. In der Geschichte der Englischen Litteratur vom Jahre 1791 wählt Forster eine nahezu parallel geführte Argumentation, um wiederum – und diesmal expliziter – die Eigenleistung der Essayistik hervorzuheben. Erneut werden systematische Schriften und Essays in der Rezension einander gegenübergestellt: Nach dieser Abschweifung in die schwindlichte Mondesnähe senken wir uns wieder zur ebenen Erde hinab, wo das Gewicht einer ganzen Luftsäule auf unser Hirn, unserer Vernunft die gehörige Beständigkeit und das rechte à plomb giebt. Das Gegenstück zu jenen ebengenannten Werken einer überspannten Einbildungskraft sind die vielen schöngeschriebenen und zum Theil so reif gedachten Essays (Versuche), welche noch beynahe gänzlich das ausschließende Eigenthum der Englischen Litteratur bleiben, und wovon wir dieses Jahr eine ziemlich starke Anzahl anzuzeigen haben.57
Hier erscheinen die Essays als wertvoller Bestandteil der (englischen) Literatur, und ihre lebensweltliche Beschränkung wird als notwendiges Korrektiv der Vernunft ausgewiesen, die ansonsten zur spekulativen Ausschweifung neige. Mit der Formulierung „à plomb“ („lotrecht“) bringt Forster zum Ausdruck, dass der Schriftsteller seine Vernunft nur dann angemessen einsetzen könne, wenn er ihr mit der Ausrichtung auf die Sphäre des menschlichen Lebens ein Gravitationszentum anweise, von welchem sie nicht abweichen dürfe.
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Georg Forster: Geschichte der Englischen Litteratur vom Jahre 1789. In: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 3. Berlin: Voß 1794, S. 159‒204, hier S. 162. Das Bild des Meteors wird seit den 1770er Jahren im genieästhetischen Kontext gebraucht, um bedeutende Individuen zu beschreiben, deren Leistungen für eine bestimmte Weile die allgemeine Wahrnehmung beherrschen. Georg Forster: Geschichte der Englischen Litteratur vom Jahre 1791. In: Ders.: Kleine Schriften, Bd. 5. Berlin: Voß 1796, S. 37‒124, hier S. 114.
2. Die zweite deutschsprachige Übersetzung der Essais Montaignes
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2. Yorick/Montaigne. Die zweite deutschsprachige Übersetzung der Essais von Johann Joachim Christoph Bode (1793‒95) Vierzig Jahre nach Johann Daniel Tietz publiziert Johann Joachim Christoph Bode seine letzte Übersetzungsarbeit, die zweite deutschsprachige Ausgabe der Essais Montaignes unter dem Titel Michael Montaigne’s Gedanken und Meynungen über allerley Gegenstände. Bodes siebenbändige Übersetzung – bestehend aus sechs Textbänden und einem Registerband – ist besonders um eine Wiedergabe des individuellen Stils von Montaigne bemüht und wird von den Zeitgenossen als kongeniale Leistung gefeiert. Die Übersetzung von Tietz, die stilistisch eher nüchtern wirkt, gilt nun als rationalistisch-trocken und unzeitgemäß. Eine ausführliche Rezension der ersten drei Bände in den Nummern 95 und 96 der Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 20. März 1794 empfiehlt den Lesern Bodes Übersetzung durch zwei Textvergleiche. Der erste Teil stellt Passagen aus dem französischen Original neben die Übersetzung, der zweite Teil druckt Passagen von Tietz und Bode nebeneinander ab. Die besondere Qualität der Übersetzung von Bode solle sich dem Leser auf diese Weise direkt erschließen. An Montaigne preist der anonyme Rezensent besonders, dass dessen Stil eine universelle Gültigkeit besitze, weil er jeden Menschen in gleichem Maß anspreche: Keinem Schriftsteller alter und neuer Zeit war die Gabe, aus Kopf und Herz mit voller Unbefangenheit zu schreiben, in so hohem Grade eigen; und wie immer Unbefangenheit des Kopfs und des Herzens, unabhängig von Sitten und Zeitgeschmack, schon im täglichen Leben Zutrauen und Zuneigung am geschwindesten, sichersten und allgemeinsten, gewinnt; so muss auch der Schriftsteller nicht bloss des Beyfalls, sondern selbst der Vorliebe und Anhänglichkeit seiner Leser, aller Zeiten und Länder, durch dieses Talent sich am leichtesten und dauerhaftesten bemächtigen. Aber zu diesem überwiegenden Talente gesellete sich bey M. noch eine grosse Gewandheit des Geistes, ein tief eindringender Scharfblick in das wahre Verhältnis der Dinge, unabhängig von herrschenden Formen, Grundsätzen und Meynungen, eine fruchtbare und kühne Phantasie, und die Gabe, seine Gedanken in eine leichte, allgemein fassliche, vertraute, naive, und doch nicht schlaffe oder kraftlose, Sprache zu kleiden.1
Bodes Leistung sei es, dass er „Eigenthümlichkeit und Originalgepräge“ Montaignes in der deutschen Sprache überzeugend reproduziert und dabei darauf verzichtet habe, die Sprache zu „modernisiren“, dass er mundartliche Ausdrücke verwendet, jedoch auch anstößige Stellen abgemildert habe.2 Montaignes Essais werden hier somit auch als Produkt einer naiven Volkskultur und -sprache wahrgenommen und nicht mehr primär als Meditationen eines Universalgelehrten. Carl August Böttiger charakterisiert in seiner Würdigung des verstorbenen Bode, die dem 6. Band von Montaigne’s Gedanken und Meinungen vorangestellt ist, 1
2
Anon.: Rezension zu: Berlin, b. Lagarde: Michael Montaigne’s Gedanken und Meynungen über allerley Gegenstände. Ins Deutsche übersetzt. Erster Band; 395 Seiten. Zweyter Band; 448 S. Dritter Band; 600 S. 1793. gr. 8. In: Allgemeine Literatur-Zeitung 95/2 (1794). Halle: Schwetschke, S. 754‒758, hier S. 754. Vgl. ebd., S. 755f.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
Montaigne als Humoristen im Sinne der Figur Yorick aus Laurence Sternes Romanen The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759‒67) und A Sentimental Journey through France and Italy (1768). Aus der Tatsache, dass Bode diese Romane ebenfalls ins Deutsche übersetzt hat, rekonstruiert er ein doppeltes System produktiver Rezeption: Sterne habe sich bei der Gestaltung seiner Figur Yorick (die den Namen des Narren aus Shakespeares Hamlet trägt3) stark an Montaignes Selbstdarstellung in den Essais orientiert. Bode wiederum habe sich bei der Übersetzung der Essais sehr stark am Stil der englischen Werke von Sterne orientiert. Böttiger attestiert Bode eine charakterliche Übereinstimmung mit Montaigne, die es ihm erlaubt habe, den humoristischen Tonfall aus dem französischen Original kongenial ins Deutsche zu übertragen: Mit keinem Schriftsteller hatte er [Bode, N.H.] inniger sympathisirt, und dessen Launen, Sonderbarkeiten, Überzeugungen und Grundsätze aus sich selbst so herausgelesen. Aber auch nur dadurch wurde es ihm möglich, diese fast in alle lebende Sprachen mehrmals übersetzte, aber ihrem Ton und Originalgepräge nach noch nirgends übertragene Versuche in Gang, Wendung und Worten so vollkommen wiederzugeben, daß von dem antiken, ehrwürdigen Rost der Urschrift fast nie etwas verwischt, und die Übersetzung dennoch nicht steif und altfränkisch geworden ist.4
Auf diese Weise sei ein besonders zeitgemäßes Werk entstanden, das Böttiger als Bodes Meisterleistung betrachtet, da es eine Synthese und damit Steigerung von Montaignes und Sternes Humor biete: „ächte Empfindsamkeit“ und „Yoriksche Laune“.5 Dadurch dass die einzelnen Essays in Bodes Übersetzung als „Kapitel“ bezeichnet werden, nähert sich das äußere Erscheinungsbild der Gedanken zudem auch äußerlich dem Genre des empfindsamen englischen Romans an. Montaigne ist Engländer geworden. Ferdinand Josef Schneider hat die These aufgestellt, dass es Sternes Leistung sei, Montaignes Skeptizismus ins Humoristische „übersetzt“ zu haben.6 Diese Aussage lässt sich so verstehen, dass der empfindsame Humor bei Sterne die Schärfe der Skepsis abmildert, indem er einen existentiellen Zweifel (auch in Glaubensfragen) in einem Gefühl allgemeinmenschlicher Verbundenheit, der Sentimentalität, aufgehen lässt.7 Die sentimentale Erfahrung kommt dem entstehenden literarischen
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Über die Verwendung des Namens Yorick wird ein Bezug zwischen Shaftesburys Bestimmung des Essays als Narrengewand und Bodes über Sterne vermitteltes Verständnis Montaignes deutlich. Carl August Böttiger: J.J.C. Bode’s literarisches Leben. In: Michael Montaigne’s Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände. Aus dem Französischen übers. v. Johann Joachim Christoph Bode. Bd. 6. Berlin: Lagarde 1795, S. III‒CXIIV, hier S. CXXXII. Vgl. Böttiger: Bode’s literarisches Leben, S. CLXI. Vgl. Ferdinand Josef Schneider: Montaigne und die Geniezeit. In: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 23 (1921), S. 369‒377, hier S. 377. Der Hinweis auf Schneider findet sich bei Ewert: Forsters Essayistik, S. 44. Diese Entwicklung kulminiert in Jean Pauls romantischem Humor-Konzept. Vgl. dazu die zweite Auflage seiner Vorschule der Ästhetik von 1813.
2. Die zweite deutschsprachige Übersetzung der Essais Montaignes
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Idealismus der Zeit um 1800 entgegen, sodass Montaigne mithilfe von Sterne den Lesern der Bode’schen Übersetzung als Zeitgenosse erscheinen kann.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
Abb. 4: Portrait Montaignes in: Michael Montaigne’s Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände. Bd. 1 (1793).
3. Essayistik als Selbsttechnik und populäres Philosophieren
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3. Essayistik als Selbsttechnik und populäres Philosophieren: eine Verhältnisbestimmung Im Zeitalter der Aufklärung erscheint die Essayistik als literarische Praxis so eng mit der Idee des populären Philosophierens verbunden, dass man im Rückblick versucht sein kann, das eine Phänomen mit dem anderen zu identifizieren. Die Forschungsliteratur spricht gerne von der Popularität eines Essays, von essayistischem Schreiben als Popularisierung von Philosophie und schließlich – im Hinblick auf die Realisierung bestimmter theoretischer Konzepte am Ende des 18. Jahrhunderts – von der Essayistik als Popularphilosophie.1 Allerdings ist es wiederum auffällig, dass historisch-systematische Darstellungen der Geschichte des deutschsprachigen Essays bei der Behandlung der Zeit um 1800 das Konzept und die zentralen Akteure der Popularphilosophie meist kaum oder gar nicht behandeln.2 Demgegenüber kommt eine umfassende historisch-systematische Darstellung der Geschichte der Popularphilosophie wie diejenige Christoph Böhrs von 2003 auch nicht auf natürlichem Wege und quasi wie von selbst auf den Essay als Textform und Medium popularphilosophischer Kommunikation zu sprechen, wie dies angesichts der engen Verbindung beider Phänomene zu erwarten wäre.3 Die Essayistik Herders wird hier nur gestreift, und Forster findet gar keine Berücksichtigung. Ist die Schnittmenge von Essayistik und Popularphilosophie also doch nicht so groß, wie es auf den ersten Blick erscheint? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, zu bestimmen, inwiefern der Essay der Aufklärungsepoche – auch mit Bezug auf die bereits untersuchten Beispiele – als populär bezeichnet werden kann und in welchem Verhältnis diese Popularität zu seiner Funktion als Selbsttechnik steht. Eine allgemeine Definition von Wissenspopularisierung als intentionalem Akt geben Gereon Blasei, Hedwig Pompe und Jens Ruchatz im Vorwort ihrer Untersuchung mit dem Titel Popularisierung und Popularität (2005). Popularisierung sei der „Versuch, bei einem im we1
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McCarthy zählt Herder als Essayisten unter die Popularphilosophen und bezeichnet umgekehrt auch die Autorengruppe Herder, Johann Jakob Engel und Christian Garve als „popularizers“ des Essayismus. Vgl. McCarthy: Crossing Boundaries, S. 240. Einen Zusammenfall von Essayistik und Popularphilosophie konstatiert auch Alexander Košenina bei Johann Jakob Engel. Vgl. Alexander Košenina (Hg.): Einführung: Johann Jakob Engel und die Berliner Aufklärung. In: Ders. (Hg.): Johann Jakob Engel (1741‒1802). Philosoph für die Welt, Ästhetiker und Dichter. Berlin 2005, S. 18. Schärf behandelt die Popularphilosophie in seiner Geschichte des Essays nicht. Auch Schote „springt“ in seiner Studie direkt von Herder und Forster zu Friedrich Schlegel und damit zur Essayistik der Romantik. Garves Prosa wird zwar untersucht, jedoch dann aus der Essayistik ausgeschlossen, da sie „dogmatisch“ sei. Vgl. Schote: Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays, S. 170‒176, bes. S. 172. Ewert bringt in seiner Forster-Studie ebenfalls die Essayistik Forsters nicht mit der zeitgleich wirkungsmächtigen Popularphilosophie in Verbindung. Vgl. Christoph Böhr: Philosophie für die Welt. Die Popularphilosophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants. Stuttgart-Bad Cannstatt 2003.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
sentlichen unspezifischen Publikum über besondere Formen der Darbietung eine möglichst breite Annahme von Aussagen zu erreichen.“4 Populär waren im 18. Jahrhundert nach Ruchatz daher „all jene Kommunikationsformen, die viele zugleich adressierten und potentiell der ganzen Bevölkerung, statt nur den Gebildeten zugänglich waren, gewissermaßen Massenkommunikation avant la lettre.“5 In dieser kurzen Begriffsbestimmung sind die drei entscheidenden Faktoren enthalten, die bei der Beschreibung und Beurteilung von Popularität kontrovers diskutiert werden: Die Frage nach der thematischen und formalen Beschaffenheit des populären Textes, der Intention seiner Verfasser sowie nach der Bestimmung der Zielgruppe und der Identifikation der tatsächlichen Rezipienten. Ordnet man die aktuellen Beurteilungen populären Philosophierens in der Aufklärung anhand dieser Gesichtspunkte, so ergeben sich zwei gegensätzliche Positionen: Gemäß der ersten Position wird populäres Philosophieren als eine ausschließlich akademische Praxis begriffen, die der eigentlichen – unpopulären – gelehrten Kommunikation untergeordnet ist und durch welche die akademische Trägerschicht bestimmte Absichten verfolgt (moralische Erziehung, ästhetische Bildung, Vermittlung von Allgemeinwissen). Gemäß der zweiten Position stellt populäres Philosophieren eine eigenständige Form der philosophischen (und literarischen) Erkenntnisgenerierung dar, die nicht unbedingt mit der akademischen Kommunikation in Verbindung stehen muss und durch ihre Textstrategien neues Wissen hervorbringen kann. Die erste Position vertritt Carsten Kretschmann, der in seinem 2003 herausgegebenen Band zur Wissenspopularisierung die These formuliert, Popularisierung sei im 18. Jahrhundert durch einen „Zwei-Phasen-Ablauf“ bestimmt. Dieses zweischrittige Vorgehen zeichne sich dadurch aus, dass Wissen zunächst akademisch produziert und dann in vereinfachter Form der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werde.6 Der von dem lateinischen Begriff populus hergeleitete Begriff populär habe seine Wurzeln wesentlich im 18. Jahrhundert und könne dort ein weites Feld von Bedeutungen umfassen, zu denen zum Beispiel die Eigenschaften „volksmäßig, gemeinnützig, volksverständlich, freundlich“ zählten.7 Allerdings weist Kretschmann auch darauf hin, dass durch die Popularisierung das präsentierte Wissen transformiert und neu konstituiert werde, sodass sich anhand populärer Texte Aussagen über das Verhältnis von Wissenskultur und gesellschaftlichem Wandel treffen ließen.8 Besonders betont Kretschmann das ambivalente gesell4 5 6 7 8
Gereon Blaseio, Hedwig Pompe u. Jens Ruchatz: Popularisierung und Popularität. Köln 2005, S. 9. Jens Ruchatz: Der Ort des Populären. In: Blaseio, Pompe u. Ruchatz: Popularisierung und Popularität, S. 139‒145, hier S. 139. Carsten Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung. Konzepte der Wissensverbreitung im Wandel. Berlin 2003, Einleitung, S. 9. Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 21. Diese Gedanken werden innerhalb des Bandes weiter ausgeführt von Angela Schwarz: Bilden, überzeugen, unterhalten: Wissenschaftspopularisierung und Wissenskultur im 19. Jahrhundert. In: Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung, S. 221‒234.
3. Essayistik als Selbsttechnik und populäres Philosophieren
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schaftspolitische Potential des Popularisierens: Dieses könne je nach Auswahl des vermittelten Wissens und der Art seiner Präsentation sowohl zur Sozialkontrolle eingesetzt werden als auch revolutionäre Kräfte freisetzen.9 Diese „gesamtgesellschaftliche Relevanz der Popularisierung“ sei in der Forschung stärker zu berücksichtigen.10 Kretschmann begreift die Popularphilosophie somit primär als Wissensvermittlung durch Komplexitätsreduktion und sieht ein didaktisches Gefälle zwischen Verfasser und Leser als unvermeidbar an. Die gesellschaftspolitische Funktion der populären Philosophie in der Aufklärung wird ebenfalls jeweils von Urs Stäheli, Holger Dainat und Helmut Holzhey in den Blick genommen, die wie Kretschmann von einer Unselbstständigkeit des Populären ausgehen. Stäheli untersucht den Vorgang der Wissenspopularisierung systemtheoretisch und betrachtet populäres Philosophieren als einen wesentlichen Bestandteil der funktionalen Ausdifferenzierung des Systems Philosophie. Jedes Funktionssystem benötige einen – von Stäheli als „parasitär“11 bezeichneten – „funktionsunspezifischen populären Kommunikationsmodus“, um sich selbst zu „universalisieren“ und auf diese Weise sein eigenes Bestehen zu sichern.12 Die Träger der philosophischen Kommunikation entwürfen sich daher ein Publikum als „imaginäres Konstrukt“13 nach bestimmten Gesichtspunkten und schlössen damit zugleich andere Gruppen von der Beteiligung aus: „Differenztheoretisch lässt sich das Populäre als das kommunikative Prozessieren der Unterscheidung zwischen dem Publikum und seiner Außenseite bestimmen.“14 Neben den angesprochenen Adressaten seien daher stets die zentralen Akteure des Systems als wichtigste Rezipienten mit einberechnet. Die Popularisierung stelle zudem eine gewisse Gefährdung des unpopulären Funktionssystems dar, da das Populäre als funktional nicht ausdifferenzierter Bereich die funktionale Ausdifferenzierung seines Systems quasi in Frage stelle und sich daraus „Grenzkonflikte“ ergäben.15 Auch Holger Dainat vertritt die These, dass Popularität allein von Gelehrten ausgehen könne. „Herablassung“ (im Sinne von Kondeszens) sei daher der Schlüsselbegriff populären Philosophierens zwischen 1750 und 1850.16 Es bildeten sich drei Gruppen, Gelehrte, Volk und „Pöbel“, wobei die letzte Gruppe von der populären Kommunikation ausgeschlossen werde. Dainat zieht somit eine klare Linie zwischen populärem Philosophieren und Volksaufklärung: „Auf der Ausgrenzung 9 10 11 12 13 14 15 16
Vgl. Kretschmann (Hg.): Wissenspopularisierung, Einleitung, S. 14. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. Urs Stäheli: „Das Populäre als Unterscheidung – Eine theoretische Skizze“. In: Blaseio, Pompe u. Ruchatz: Popularisierung und Popularität, S. 146‒167, hier S. 163. Vgl. ebd., S. 164. Vgl. ebd., S. 156f. Vgl. ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 164. Vgl. Holger Dainat: ‚Meine Göttin Popularität‘. Programme printmedialer Inklusion in Deutschland 1750‒1850. In: Blaseio, Pompe u. Ruchatz: Popularisierung und Popularität, S. 43‒62, hier S. 44.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
des Pöbels beruht die Einheit der Differenz von Gelehrten und ‚Volk‘. Dieser Ausschluss ist der Preis für die Annäherung der Entzweiten im Bereich des Populären.“17 Die radikalste Aburteilung populären Philosophierens findet sich bei Helmut Holzhey. In seiner Untersuchung der Philosophie nach dem „Weltbegriff“, deren Ursprünge ebenfalls in Christian Thomasius’ Hofphilosophie oder Philosophia aulica (1688) gesehen werden, kommt er zu dem Beschluss, es handele sich hierbei um eine bewusst inszenierte „Chimäre der deutschen Aufklärung“: „In der diffusen, ja verschleiernden Artikulation ihres Adressaten haftet der Philosophie für die Welt in der deutschen Aufklärung ein ideologisches Moment an.“18 Durch den Verzicht auf eine nähere gesellschaftliche Bestimmung des Publikums seien die tatsächlichen sozialen und politischen Probleme ausgeblendet worden. „Welt“ als Adressat, wie sie sich in Johann Jakob Engels populärer Zeitschrift Der Philosoph für die Welt (1775 und 1777) – nach Holzhey einem späten Nachfolger der Moralischen Wochenschriften – finde, beziehe sich gerade nicht auf ein konkretes Gegenüber, sondern sei vielmehr Ausdruck eines bestimmten Selbstverständnisses, das dem Philosophen seine Themen und Ausdrucksformen anzeige. Damit konstituiere sich die Philosophie durch die Praxis des Popularisierens intern und in Opposition zur philosophischen „Schule“, ohne jedoch in irgendeinen tatsächlichen geistigen Austausch mit ihrem hypothetischen Publikum kommen zu wollen: „Es mangelt am Begriff einer an und für sich selbst populären Philosophie.“19 In Kontrast zu diesen Einschätzungen steht die Position Hans Erich Bödekers. Bödeker sieht in der populären Philosophie „eine eigene, von der Fachphilosophie weitgehend unabhängige Form vernünftigen Räsonierens“,20 deren Bedeutung sich gerade aus der Tatsache ergebe, dass sie nicht institutionalisiert sei. Daher spricht sich Bödeker, genau wie Kretschmann, für eine stärkere Berücksichtigung des politischen, sozialen und kulturellen Umfeldes des Prozesses philosophischer Erkenntnisgewinnung aus, was auch zu einer stärkeren Berücksichtigung der Popularphilosophen – Bödeker nennt Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai, Johann Jakob Engel, Johann Heinrich Jacobi und Christian Garve – führen müsse.21 Bödeker versteht populäres Philosophieren nicht notwendigerweise als eine onedirection-Kommunikation und bezieht in sein Konzept die Möglichkeit mit ein, dass sich auch Laien an der populären Kommunikation beteiligen.
17 18
19 20
21
Dainat: Programme printmedialer Inklusion, S. 47. Vgl. Helmut Holzhey: Der Philosoph für die Welt – eine Chimäre der deutschen Aufklärung? In: Helmut Holzhey u. Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie. Basel u. Stuttgart 1977, S. 117‒138, hier S. 123. Ebd., S 130. Hans Erich Bödeker: Von der ‚Magd der Theologie‘ zur ‚Leitwissenschaft‘. Vorüberlegungen zu einer Geschichte der Philosophie des 18. Jahrhunderts. In: Das achtzehnte Jahrhundert 14/1 (1990): Popularphilosophie im 18. Jahrhundert, S. 19‒57, hier S. 27. Vgl. ebd., S. 21f.
3. Essayistik als Selbsttechnik und populäres Philosophieren
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Die Konzeptionen des Essays im Zeitalter der Aufklärung schließen die Verbreitung praktischen philosophischen Wissens als eine zentrale Aufgabe der Gattung mit ein. Wo die Essayisten eine solche Verbreitung aktiv befördern wollen (wie im Falle Addisons, Trublets, Humes und der Deutschen Moralischen Wochenschriften) setzen sie auf eine Involvierung der Leserinnen und Leser, die als potentielle Autoren angesprochen werden. Dass mit der Frühaufklärung überhaupt eine verstärkte Reflexion essayistischen Schreibens einsetzt, ist einerseits dem Umstand geschuldet, dass durch das Bestreben nach einer Aufarbeitung auch der Poetik und Rhetorik nach rationalen und wirkungspsychologischen Gesichtspunkten die Entwicklung präziser Gattungskonzepte befördert wird. Andererseits wird einer bereits bekannten Textform wie dem Essay ein neues gesellschaftliches Potential bei der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit zugeschrieben. Ein genauerer Blick sowohl auf die Konzepte wie auch auf die Essayistik selbst zeigt jedoch, dass diese sowohl hinsichtlich ihrer Bestimmung von Zielgruppen als auch hinsichtlich des Selbstverständnisses der Essayisten sehr heterogen sind. Daher muss man von unterschiedlichen Formen und Funktionen der Popularität innerhalb der Aufklärungsessayistik (und teilweise sogar bei einzelnen Autorinnen und Autoren) ausgehen, die sich innerhalb des einleitend skizzierten Möglichkeitsfeldes realisieren. Das Bestreben nach Popularität äußert sich in der Essayistik selbstverständlich zunächst in der grundlegenden Ablehnung eines logisch-systematischen Argumentierens, der „demonstrativischen Lehrart“ oder „mathematischen Methode“ nach Descartes und Wolff, die bereits von Thomasius und Leibniz abgelehnt wird. Wie Walter Tinner dargelegt hat, unterscheidet Leibniz zwischen akroamatischem und exoterischem Philosophieren. Systematisches, das heißt akroamatisches Philosophieren erzeuge Beweisführungen durch den „Aufweis der Herkunft“ aller in der Beweisführung verwendeten Elemente, die „Angabe der Verknüpfung“ und eine „vollständige Deduktion“.22 Das exoterische Philosophieren, unter das die Essayistik fällt, beschränke sich auf eine eingeschränkte Demonstration mittels erfahrungsgestützter Beispiele und könne so allein die Wahrscheinlichkeit seiner Thesen gewährleisten.23 Die Wahrscheinlichkeit der Thesen entspricht im Essay der subjektiven Perspektive des essayistischen Ichs, das sich und seine Behauptungen als angreifbar vorstellt, ohne damit den Wahrheitsanspruch seiner Reflexionen zu bestreiten. Auf der Basis dieser Bestimmungen des Populären kann ein Essay – ganz allgemein formuliert – dann als populär bezeichnet werden, wenn er allgemeinverständlich ist, das heißt, wenn er den Bezugsrahmen der gelehrten akademischen Kommunikation aufbricht und sich durch einen Verzicht auf Fachterminologie und
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Vgl. Walter Tinner: Leibniz: System und Exoterik. In: Helmut Holzhey u. Walther Ch. Zimmerli (Hg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie. Basel u. Stuttgart 1977, S. 101‒116, hier S. 106. Vgl. ebd., S. 110 u. 113.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
logische Geschlossenheit, durch die Verwendung eines dialogischen Konversationstones und durch die Berücksichtigung seines Unterhaltungswertes an ein entweder bereits vorhandenes oder erst zu schaffendes Publikum aus sogenannten ‚gebildeten Laien‘ richtet. Essays setzen in der Aufklärung schon aufgrund ihrer moralistischen oder anthropologischen Themenstellungen und ihres Bezugs auf kanonische Literatur in Form von Zitaten eine hohe Allgemeinbildung voraus. Sie sind daher in keinem Fall ein Medium der Volksaufklärung, die sich an die Landbevölkerung oder Mitglieder der bildungsfernen städtischen Klassen richtet. Allerdings zeigt sich gerade im Bezug auf die Frage, welches Wissen im Sinne einer Allgemeinbildung als bekannt voraus gesetzt werden darf, unter den Essayisten selbst eine große Uneinigkeit. Besonders deutlich zeigt sich diese Uneinigkeit in der Verwendung und dem Umgang mit den Mottos, die in der Regel am Anfang des Essays stehen und daher die erste Verständnisbarriere bilden, die über Annahme oder Ablehnung eines Essays durch den potentiellen Leser entscheiden kann. Mottos sind vor allem in den Wochenschriften weit verbreitet und bilden dort einen wichtigen, wenn auch nicht ganz klar definierten Bestandteil des Essays. Einerseits lässt sich sagen, dass das Motto den Essay kommentiert und anstelle eines Titels steht, andererseits kann aber auch der Essay als Kommentierung des Mottos gelesen werden. Der Spectator beispielsweise verwendet als Mottos seiner Essays ausschließlich lateinische Zitate. Auf welche Weise Addison der Gefahr begegnet, mit diesen Sentenzen Leserinnen und Leser abzuschrecken, erläutert Terence Bowers: In addition to indexes, the mottoes heading each essay were also translated in the book versions of The Spectator, thus removing Latin and Greek as potentially embarrasing obstacles to understanding for the classically untutored. Latin was not used by Addison and Steele as a marker to divide the learned from the unlearned or upstarts from gentlemen. In fact, while writing the essays, Addison was concerned that the mottoes might be seen as cultural and communicative barriers and assured his readers that every motto functioned merely as a ,Supernumerary Beauty to‘ each essay and that he always took ,care to‘ to explain their meaning ,in the Body‘ of the paper (Spectator 221, 2:359).24
Angesichts dieser Bemühungen Addisons, das Publikum des Spectator mit Übersetzungen und Interpretationen der Mottos zu versehen, ist es erstaunlich, dass deutschsprachige Wochenschriften wie Die Discourse der Mahlern und Der Gesellige in der Buchversion keine Übersetzungen ihrer Mottos mitliefern und damit wesentliche höhere Anforderungen an ihr Lesepublikum stellen. Ziegler verweist in den Essays ihrer Vermischeten Schriften häufig auf die antike Literatur, Geschichte und Mythologie, verwendet jedoch keine fremdsprachigen Zitate. Tietz 24
Terence Bowers: Universalizing Sociability: The Spectator, Civic Enfranchisement, and the Rule(s) of the Public Sphere. In: Donald J. Newman (Hg.): The Spectator. Emerging Discourses. Newark 2005, S. 150‒174, hier S. 162. Im Jahr 1735 erscheint eine Gesamtübersetzung aller Mottos des Spectator, Tatler und Guardian: The mottoes of the Spectators, Tatlers and Guardians. Translated into English. Dublin: Jones 1735.
3. Essayistik als Selbsttechnik und populäres Philosophieren
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gibt in seiner Montaigne-Übersetzung alle lateinischen Zitate mit Quellenangabe und deutscher Übersetzung an, wobei er diese Übersetzungen bereits aus seiner französischen Vorlage übernehmen kann. Bode gibt die Übersetzungen fremdsprachiger Zitate in seiner Montaigne-Übersetzung ebenfalls in einem angehängten Register an. Creuz hingegen zitiert in seinem Versuch über die Seele sehr uneinheitlich: Bei Zitaten aus klassischen lateinischen Schriften gibt er den Namen des Autors und die Quelle an, bei zeitgenössischen – und offenbar als bekannt vorausgesetzten – deutschen oder französischen Autoren nennt er nur den Namen, und manchmal macht er auch keinerlei Quellenangabe. Eine einheitliche Strategie bei der Bestimmung des Grades an voraussetzbarer Allgemeinbildung lässt sich somit aus den in dieser Studie untersuchten Essays nicht ablesen. Während die Sturm-und-Drang-Essayistik gezielt einen individualistischen und damit schwer verständlichen Stil pflegt (und damit innerhalb der Aufklärungsessayistik am wenigsten populär ist), zeichnet sich zumindest in der späteren Essayistik bis ins frühe 19. Jahrhundert die Tendenz ab, fremdsprachige Ausdrücke oder Zitate immer häufiger zu vermeiden. Das Ringen um Allgemeinverständlichkeit erreicht seinen Höhepunkt in Garves Versuchen. Den Verzicht auf das Motto in der späteren Aufklärungsessayistik kann man einerseits als Gewinn an Popularität, andererseits jedoch auch als Verlust ansehen, da es seit Montaigne als Wissensspeicher klassisch-antiker Bildung fungiert hat.25 Über das tatsächliche Ausmaß der Rezeption essayistischer Texte ist mit dem Begriff der Popularität jedoch noch keine Aussage getroffen, da er lediglich die thematische und sprachliche Gestaltung der Texte beschreibt. Gerade für die Discourse der Mahlern, deren Rahmenhandlung eine pädagogische Erfolgsgeschichte erzählt, hat die Textanalyse ergeben, dass durch das Spiel mit der fiktiven Herausgeber- und Verfasserschaft eine uneindeutige Situation entsteht, in welcher der tatsächliche Erfolg der Wochenschrift nicht mehr beurteilt werden kann. Allein aus verstreuten Indizien lässt sich auf einen Misserfolg beim Publikum schließen. Dass die Wochenschrift dennoch nicht als Misserfolg in die Literaturgeschichte eingegangen ist, sondern in anderen Wochenschriften immer wieder neben dem Spectator als zentraler Referenztext genannt werden, legt die Vermutung nahe, dass ihre größte Wirkung nicht darin bestanden hat, die didaktischen Absichten zu realisieren, sondern darin, die Gattung in deutscher Sprache zu begründen. Wie Holzhey in Bezug auf das populäre Philosophieren festgestellt hat, konstituiert sich in den essayistischen Texten der Frühaufklärung, die von akademisch Gebildeten verfasst werden, ein neues Philosophieverständnis. Indem die Autoren sich an ein letztlich diffus bleibendes Laien-Publikum wenden, können sie sich –
25
Jan Erik Antonsen bezeichnet das 18. Jahrhundert als „klassisches Zeitalter des Mottos“. Er untersucht dessen Verwendung auch bei Essayisten wie Lessing und Herder, geht jedoch nicht auf das Motto als Verständnisbarriere ein. Vgl. Jan Erik Antonsen: Text-Inseln. Studien zum Motto in der deutschen Literatur vom 17. bis 20. Jahrhundert. Würzburg 1998, S. 34.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
quasi aus der Außenperspektive heraus – selbst neu verorten. Der essayistische Text, der sich an die fachunspezifische Öffentlichkeit wendet, eröffnet als Interdiskurs einen Raum, in dem freier gesprochen werden kann, da der „Geltungsanspruch“ gegenüber der akademischen Rede herabgesetzt ist.26 Die Komplexitätsreduktion und der Konversationston ermöglichen eine plakativere Darstellung der eigenen Positionen und eine starke – satirische oder polemische – Bewertung abweichender Standpunkte. Die These, dass der Publikumsbezug der essayistischen Texte nur eine selbstbezügliche Funktion hat und eine tatsächliche Partizipation von Laien an der populären philosophischen Kommunikation gar nicht erwünscht oder beabsichtigt ist, erscheint jedoch unrealistisch. Vielmehr wird aus den Texten der Wochenschriften und auch aus den separat erschienenen Publikationen deutlich, dass diese sowohl eine selbstbezügliche als auch eine aktivierende Funktion erfüllen. Das hypothetische Publikum, an das sich die Essayistik richtet, konstituiert sich im Spectator, den Discoursen der Mahlern und dem Geselligen aus dem städtischen Bürgertum, dessen nationales und gesellschaftliches Engagement verstärkt und dem klassenspezifische Verhaltensnormen vermittelt werden sollen. Trublet und auch Ziegler hingegen sprechen gebildete (bürgerliche oder adlige) Privatpersonen an, die durch den essayistischen Text nichts grundlegend Neues vermittelt bekommen, sondern es als standesgemäße Beschäftigung betrachten, sich am Genuss literarisch anspruchsvoll präsentierter Gedanken zu erfreuen und bereits bekannte Wahrheiten aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Während sich in derjenigen Praxis essayistischen Schreibens, die auf die Durchsetzung einer bürgerlichen Subjektform ausgerichtet ist, somit das deklarierte pädagogische Gefälle findet, auf dessen Einebnung die Herausgeber der Wochenschriften jedoch hin arbeiten, etablieren gebildete Privatleute durch ihre Partizipation an der Essayistik als literarischer Praxis ein neues Bewusstsein, Teil einer aufgeklärten nationalen Elite zu sein. Der adlige Essayist ist hierbei offensichtlich der Notwendigkeit unterworfen, sich zu rechtfertigen. Creuz banalisiert seine schriftstellerische Tätigkeit, indem er sie auf eine Stufe neben das Kartenspielen stellt, um den Eindruck von unstandesgemäßer, mühevoller Arbeit zu vermeiden. Die Texte von Essayisten wie Creuz und Ziegler können dahingehend als populär bezeichnet werden, dass diese Autoren die aus den gelehrten Kreisen kommende Aufforderung zu essayistischer Betätigung tatsächlich erfüllen und in ihren Essays eine sehr individuelle Ausgestaltung der Selbsttechnik realisieren, die dem akademischen Diskurs nur bedingt vermittelbar ist. So verbindet Ziegler in ihren Essays synkretistisch den Diskurs der querelle des femmes mit der Moralistik, und Creuz verbindet Metaphysik, Naturgeschichte und Poesie. In beiden Fällen ist der inter26
Die „Absenkung von Geltungsansprüchen“ im Essay konstatiert Oliver Jahraus in seinem systemtheoretischen Vergleich von Wissenschaft und Essay: „Damit wird die Frage des Geltungsanspruchs weitgehend von der sachlichen Objektkonstitution abgelöst und stattdessen auf die soziale Dimension der Kommunikation verlegt.“ (Oliver Jahraus: Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literaturwissenschaft. Tübingen u. Basel 2004, S. 52.)
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diskursive Zusammenhang der Texte nur durch den Bezug auf ihre Funktion als Selbsttechnik herzustellen. Auffällig ist, dass sowohl Ziegler als auch Creuz zunächst Gelegenheitsgedichte verfassen, bevor sie sich an den Essay wagen. Offensichtlich ist hier die Schwelle zur Eigenaktivität sehr viel niedriger, und ein erster Erfolg bei der Veröffentlichung von Oden und Gedichten verleiht den Autoren das nötige Selbstvertrauen, um sich in den Bereich populärer philosophischer Prosa zu wagen. Da die Essayistik von Akademikern und Nicht-Akademikern die gleichen Themen behandelt und sich im gleichen moralistischen beziehungsweise anthropologischen Interdiskurs bewegt, leuchtet es nicht ein, warum nur Essayistik von Akademikern für Laien als populäres Philosophieren bezeichnet werden sollte und nicht auch die essayistische Beteiligung von Laien an der gelehrten Kommunikation. Texte wie die Moralischen Send-Schreiben oder der Versuch über die Seele stellen für den Bestand akademischer Gelehrsamkeit keine Gefährdung dar, da sie den Vorrang professionellen Philosophierens nicht in Frage stellen. Sie versuchen, existentielle individuelle und gesellschaftliche Fragen zu beantworten, in diesem Falle die, welche Auswirkung der naturrechtlich begründete Rationalismus auf das Rollenverständnis und den Handlungsspielraum der Frau haben kann, oder ob und wie die neuen medizinischen Erkenntnisse über die Funktion des menschlichen Körpers mit dem persönlichen Glauben an die Unsterblichkeit der Seele vereinbart werden können. Bei der Bestimmung des Verhältnisses von Essayistik und populärem Philosophieren zeigt sich der besondere Vorteil eines interdiskurstheoretischen Ansatzes im Sinne Parrs bei der Beschreibung der Texte. Stärker als der systemtheoretische Zugang kann der interdiskurstheoretische die eigenständige Relevanz der Aufklärungsessayistik als einer literarischen Praxis herausstellen, da die Texte ins Zentrum eines Netzes von diskursiven Bezügen gerückt werden. Dies ermöglicht erst eine angemessene Bestimmung ihrer kulturgeschichtlichen Bedeutung.
3.1. Popularphilosophie um 1800: Christian Garve und Johann Christoph Greiling Die Konzeptionen einer Popularphilosophie, die um 1800 entstehen, stellen in der Selbstreflexion populären Philosophierens im Hinblick auf die gesamte Aufklärung keinen Entwicklungssprung dar. Sie greifen vielmehr die bereits entwickelten Überlegungen zur Popularität auf und systematisieren diese in theoretischen Schriften. Eine Notwendigkeit zur differenzierten Reflexion und auch zur Verteidigung des Konzeptes der Popularität ergibt sich seit den 1770er Jahren zum einen in der Dichtung durch das Aufkommen der Genieästhetik und zum anderen – wie
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Böhr ausgeführt hat – in der Philosophie durch die alles bestimmende Transzendentalphilosophie: Vor allem die Auseinandersetzung mit der kritischen Philosophie Kants zwang dazu, Anspruch, Möglichkeiten und Grenzen popularer Philosophie zu überdenken. So wurde Popularität gleichermaßen Programm und Problem einer Philosophie, die sich der Beleuchtung ihres eigenen Selbstverständnisses als Aufklärung widmete.27
Während der Essay bis ca. 1770 eine anerkannte Form öffentlichen, populären Philosophierens darstellt, sind Essayisten seit den 1770er Jahren mit konkurrierenden poetischen und erkenntnistheoretischen Programmen konfrontiert. Der Begriff Popularphilosophie und die vor dem Hintergrund dieses Konzeptes verfassten Texte stellen daher bereits eine Verteidigungsreaktion dar. Daher sollte der Begriff Popularphilosophie auch nicht zur Beschreibung früherer essayistischer Texte angewendet werden. Die Popularphilosophie um 1800 ist ein Programm, das nicht an ein bestimmtes Genre gebunden ist. Neben zum Beispiel dem psychologischen Roman, der Autobiographie oder dem philosophischen Reisebericht schließt sie die Essayistik als eine von vielen möglichen Varianten des Ausdrucks mit ein. Böhr bewertet Garve als den bedeutendsten Theoretiker der Popularphilosophie, da er in direkter Auseinandersetzung mit Kant auf der Möglichkeit einer vollwertigen populären Philosophie beharre. Sei Kant bis 1781 selbst noch Popularphilosoph gewesen, so habe er sich in der Folge zu deren Gegner entwickelt.28 Kant kritisiere an der Popularphilosophie zum einen deren empirische (und damit vorkritische) Ausgangsbasis und zum anderen ihre Behauptung und Forderung, jeglicher philosophische Zusammenhang – auch Kants Kritik der reinen Vernunft – könne von Beginn an in einer allgemeinverständlichen und stilistisch ansprechenden Form entwickelt und adäquat dargestellt werden.29 Demgegenüber betone Kant, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in der Philosophie ausschließlich in einer nicht allgemeinveständlichen Diskursform deutlich gemacht werden könnten, da die kritische Methode bei ihrer Übertragung in eine populäre Darstellungsform an Genauigkeit und damit an wissenschaftlicher Gültigkeit verliere.30 Das Problem Kants mit der Popularphilosophie ist daher ein doppeltes: Zum einen erachtet er die unhinterfragte Akzeptanz der Erfahrungswirklichkeit als wissenschaftlich obsolet, zum anderen vertritt er die Ansicht, dass die Transzendentalphilosophie dem Publikum der „gebildeten Laien“ aufgrund ihrer Komplexität grundsätzlich nicht vermittelbar sei. Auf diese Kritik reagieren zwei Popularphilosophen, Christian Garve und Johann Christoph Greiling, mit unterschiedlichen Konzeptualisierungen von Popularphilosophie. Greiling will die Popularphiloso27 28 29 30
Böhr: Philosophie für die Welt, S. 15. Vgl. ebd., S. 174. Vgl. ebd., S. 95f. und S. 171‒202. Vgl. ebd., S. 96.
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phie der Transzendentalphilosophie unterordnen, während Garve eine eigenständige Popularphilosophie entwirft. In seinem Essay Von der Popularität des Vortrages (1793) behandelt Garve die Popularphilosophie als ein Problem der Darstellung von Erkenntnis. Er entwickelt den Begriff des populären Schreibens für ein Publikum aus Gelehrten und gebildeten Laien sowie eine Gruppe potentieller Leser aus den unteren Volksklassen, unter die er Bauern und Handwerker fasst. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der populäre Stil für beide Adressatenkreise im Grunde die gleichen Kriterien zu berücksichtigen habe und dass nur im Hinblick auf die unteren Volksklassen einige Einschränkungen und Besonderheiten zu berücksichtigen seien. Popularität und ein „guter Schreibstil“ sind für Garve Synonyme. Der Begriff bezeichnet für ihn eine Schreibweise, die das klar und deutlich Gedachte dem Leser ohne Bedeutungsverlust oder Missverständnis übermittele. Um dies zu erreichen, müsse der Popularphilosoph fähig sein, in seinen Schriften eine „höhere Deutlichkeit“ zu erzeugen.31 Zum populären Stil gehören nach Garve die genaue Beachtung der Grammatik, das Vermeiden von Zweideutigkeiten, die Anordnung der Wörter nach dem natürlichen Zusammenhang der Ideen, die Konzentration auf das Wesentliche des Gegenstandes und eine Gruppierung der Vorstellungen gemäß ihrer Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit.32 Hinsichtlich des Sprachgebrauchs soll somit ein möglichst hoher Grad von Sachlichkeit erreicht werden. Der Aufbau eines Textes wird dabei nicht primär als linear fortschreitende Argumentationskette gedacht, sondern die Gedanken sollen nach dem Prinzip der erfahrungsbasierten Analogie geordnet werden. Ein solcher Aufbau ermöglicht eine genaue Vorstrukturierung der einzelnen Aspekte, wirkt jedoch in der Rezeption frei und assoziativ. Nach Garve bilden die Einbildungskraft und die Leidenschaften zentrale Voraussetzungen für das populäre Schreiben. Sie bringen den populären Schriftsteller auf die passenden Bilder und Beispiele, mit denen er seine Argumentation verdeutlicht. Garve betrachtet fiktive Beispiele als eine „Art von Poesie“,33 ordnet sie jedoch wie auch die populären Schriftsteller der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts funktional der Argumentation unter: Also: diejenige philosophische Schrift ist gemacht, auf das größre gesittete Publicum zu wirken, die, mit der Vollkommenheit des lehrenden Vortrags, einen natürlich leichten Fluß der Gedanken verbindet; und in deren Schlußreihen so viel Geschichte, oder Poesie eingewebt ist, als zur Aufhellung der abgezognen Begriffe, oder zur Bestätigung der allgemeinen Sätze erfordert wird.34
31
32 33 34
Vgl. Christian Garve: Von der Popularität des Vortrages. In: Christian Garve. Gesammelte Werke. Hg. v. Kurt Wölfel. Abt. 1, Bd. IV: Vermischte Aufsätze, welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind. Teil 1 u. 2. Hildesheim, Zürich u. New York 1985 [ND der Ausg. Breslau: Korn 1796], S. 331‒358, hier S. 335. Vgl. ebd., S. 336. Vgl. ebd., S. 340. Ebd., S. 341.
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Der populäre Stil befindet sich für Garve somit genau in der Mitte zwischen Wissenschaft und Dichtung.35 Fachterminologie und eine starke poetische Überformung der Sprache bilden für ihn gleichermaßen unzulässige Abweichungen von diesem goldenen Mittelweg und seien Symptome eines unzulässigen Elitarismus. Garve gesteht jedoch ein, dass die eigentliche philosophische Erfindungskunst dem Gebiet der Mathematik zuzuordnen sei und wirklich neue Erkenntnis lediglich mithilfe der logisch-mathematischen Methode gewonnen werden könne. Der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung sei daher notwendig immer unpopulär, und erst die literarische Verbreitung des neuen Wissens unterliege der Pflicht zur populären Darstellung.36 Theoretisch sei der populäre Stil an kein bestimmtes Themenfeld gebunden, und Garve verpflichtet jeden Schriftsteller darauf, ihn in größtmöglichem Umfang anzuwenden. Praktisch sollen in populären Texten für das allgemeine Publikum jedoch vor allem Themen behandelt werden, die einen Bezug zur konkreten Erfahrungswelt des Einzelnen haben: „Ein abgerißnes Stück aus der Moral, oder der Lehre vom Menschen, ist jedermann verständlich.“37 Populäre Texte für die unteren Volksklassen schließlich dürften keinesfalls die besondere Sprache der Adressaten imitieren, da der sogenannte „Volks-Ton“ häufig unfreiwillig komisch wirke und die Leser verärgere, da sie sich degradiert fühlten.38 Zu beachten sei lediglich, dass die Behandlung der Gegenstände keine besonderen Vorkenntnisse erfordere und die gewählten Bilder und Beispiele dem Erfahrungshorizont der Adressaten entsprächen. Garve formuliert hier das Ideal des selbsterklärenden Textes: „Ein Buch, für den Bauern und Handwerksmann geschrieben, ist kein anders, als ein Buch, welches, für sich und durch sich selbst allein, zu verstehen ist.“39 Der populäre Text muss nach Garve also eine unproblematische werkimmanente Interpretation ermöglichen. Dass Garve sich den Leser popularphilosophischer Texte jedoch nicht ausschließlich als passiven Rezipienten, sondern ebenfalls als potentiellen Essayisten denkt, wird aus einem seiner frühen Zeitschriftenbeiträge deutlich. McCarthy hat in seiner Studie diesen Essay Garves in Engels Philosoph für die Welt entdeckt und im Hinblick auf Garves essayistischen Stil analysiert. Man findet in diesem Text jedoch auch einen frühen Hinweis auf die Selbsttechnik in Garves Essayistik. Der Essay trägt den Titel Das Weihnachtsgeschenk und findet sich im zweiten Teil des Philosophen für die Welt von 1777. Es handelt sich um einen Brief-Essay, in dem Garve die Vorteile der produktiven Rezeption literarischer und philosophischer Texte beschwört. Eine kleine narrative Einführung schildert, wie der Ich-Erzähler
35 36 37 38 39
Vgl. Garve: Popularität des Vortrages, S. 342. Vgl. ebd., S. 345‒351. Ebd. S. 347. Vgl. ebd., S. 343. Ebd., S. 342.
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auf der „Toilette eines jungen Frauenzimmers“ ein Notizbuch entdeckt,40 das sich als Weihnachtsgeschenk des Vaters entpuppt. Die Besitzerin lässt den Erzähler nicht hinein sehen, überlässt ihm jedoch auf seine Bitte hin die schriftliche Widmung des Vaters, eine Reflexion über das Selbstdenken, die der Erzähler nun als fiktiver Herausgeber wiedergibt. Gemäß Garves Konzeption popularphilosophischen Schreibens dient die kurze Exposition der Skizzierung einer nachvollziehbaren Situation aus dem Erfahrungsbereich der bürgerlichen Leserinnen und Leser. Die an einen Roman erinnernde Gestaltung der einführenden Sätze, die zu Spekulationen über den möglichen Inhalt des Buches Anlass geben, das die junge Frau „so eilfertig wegriß“,41 soll das Interesse erregen und den Unterhaltungswert des Textes garantieren. Durch die Einbettung des didaktischen Gehalts in eine fiktive Rahmenhandlung ist der Leser – vermeintlich – nur indirekt Adressat der Belehrung, und das didaktische Gefälle zwischen Verfasser und Leser wird durch die Übertragung auf das Vater-Tochter-Verhältnis in der Fiktion verborgen. McCarthy verweist in seiner Textanalyse auf den engen Zusammenhang zwischen der populären Gestaltung des Essays und Garves Absicht, den Leser zur Selbsttätigkeit zu animieren: With an impressive economy of words Garve has drawn his anonymous reader fully into his text. But even though the narrator disappears after the brief exordium, the reader is not left to wallow in the text; ultimately s/he is led out again, not by any guiding narrator, but by the thought processes themselves. The text, in other words, encourages the peruser of the pages to apply the individual experience to her/himself.42
Der Vater will mit seinem Geschenk der Tochter eine bestimmte Methode des Lesens und Schreibens näher bringen. Zunächst stellt er das Sprechen und noch darüber das Schreiben als höchste Stufen der geistigen Vervollkommnung vor: Die Zunge und der Griffel machten endlich den Menschen zu dem, was er werden sollte. Seine Begriffe wurden helle, indem er sie mitzutheilen suchte; sie wurden methodisch, indem er ihnen eine gewisse Fortdauer gab, die sie der Verbesserung und Ausbildung fähig machte. Und dieser Weg, den das ganze menschliche Geschlechte nahm, um klüger zu werden, ist auch immer noch der einzige für den einzelnen Menschen.43
Der Vater konstatiert unter der weiblichen Leserschaft eine Mode, gelehrt erscheinen zu wollen, wodurch die tatsächliche Bedeutung des Lesens jedoch verfehlt werde. Anstelle einer möglichst extensiven Lektüre müsse der „Weg des Lesens“ ins Zentrum rücken,44 also die langsame und intensive Lektüre und besondere Ana-
40 41 42 43 44
Vgl. Christian Garve: Das Weihnachtsgeschenk. In Johann Jakob Engel (Hg.): Der Philosoph für die Welt 2 (1777), Leipzig: Dyck, S. 18‒23, hier S. 18. Vgl. ebd. McCarthy: Crossing Boundaries, S. 251. Garve: Weihnachtsgeschenk, S. 19f. Vgl. ebd., S. 20.
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V. Experimentelles Ich und gesellschaftliches Wir: Selbstkritik der Aufklärung
lyse einzelner Gedanken. Dem Entwickeln eigener Gedanken solle jedoch das „Nachdenken“ fremder Gedanken vorausgehen: Das ist also der zweyte Schritt, den du zwar auch schon versucht hast, den du aber nun noch beherzter thun musst: Werde aus einer Leserinn zu einer Schriftstellerinn! Wenn du liesest, so sondre den Gedanken vom Ausdrucke ab; nimm ihm seinen Putz, und unterbrich zuweilen das Vergnügen, womit bey jedem Menschen die Neugierde das Weitergehen verknüpft, so lange, bis du dir mit ein paar Worten das denken kannst, was der Verfasser vielleicht auf Seiten gesagt hat. Diese paar Worte schreibe nieder; sie sind alsdann dein, so wie der Gedanke, den sie ausdrücken. Große Bücher können auf diese Art in Blätter verwandelt werden, die für uns mehr werth sind, als die Bücher, und die uns schon der Fähigkeit, selbst etwas Lesenswerthes zu schreiben, einen Schritt näher bringen.45
Hier wird noch einmal der Gegensatz zwischen den „großen Büchern“ und den „Blättern“ aufgegriffen, der bereits die Konzeption des Essays im Spectator prägt. Über die Qualität der eigenen essayistischen Produktion entscheiden vor allem die Übung und die Kenntnis der gelehrten Autoritäten. Zu diesen Faktoren müssen jedoch die Leidenschaft und Einbildungskraft des Denkenden hinzukommen: Die Ideen entzünden einander, wie die elektrischen Funken. Wenn die Seele einmal in Arbeit und in Bewegung ist; wenn sie einmal den Faden des Denkens in der Hand hat; so geht sie geschwinde von der Nachbildung fremder Begriffe zur Hervorbringung eigener über. Ehe man sichs versieht, kommt aus dem eignen Schatz unsrer Empfindungen ein Gedanke hervor, der für sich selbst zu schwach war emporzukommen, jetzt aber, weil er dem Gedanken des Verfassers nahe liegt, von diesem aufgeweckt und gehoben wird. ― Versuch es, mein Kind; denn ich bin bey deinen Fähigkeiten gewiß, daß es dir glücken muß: und hat es dir nur einmal geglückt, so bin ich eben so gewiß, daß du fortfahren wirst.46
Aus diesem kurzen Text wird deutlich, dass Garve seine Praxis popularphilosophischer Essayistik bereits lange vor der Ausarbeitung eines theoretischen Konzeptes betreibt. Die Selbsttechnik wird hier sehr allgemein als eine Beurteilung und Aneignung fremder Gedanken beschrieben, die wiederum die intellektuellen Fähigkeiten schule. Erst in den Versuchen führt Garve seine Selbsttechnik detaillierter aus und bindet sie an die bereits bestehen Konzeptionen des Essays an. Durch dieses Vorgehen modifiziert er zugleich auch sein Verständnis von Popularphilosophie. Einen weiteren Aufschluss über das Verhältnis von Popularphilosophie, Journalismus und literarischer Öffentlichkeit um 1800 gibt eine Auseinandersetzung zwischen Garve und Johann Heinrich Campe im Braunschweigischen Journal von 1788. Campe veröffentlicht hier den Auszug eines Briefes, den er von Garve erhalten hat und den er mit dem Titel Ein Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften versieht. Garve greift in diesem Brief das soeben von Ernst Christian Trapp, Johann Stuve, Conrad Heusinger und Campe begonnene philantropische Braunschweigische Journal (1788‒91) an, da seine Anlage für das Ziel der allge45 46
Garve: Weihnachtsgeschenk, S. 21f. Ebd., S. 22f.
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meinen Aufklärung und moralischen Verbesserung des Menschen nicht zweckmäßig sei. In zwei Briefen an Christian Felix Weiße vom 1. und 12. März 1788 erklärt Garve sein Missfallen darüber, dass Campe diesen Brief in seinem Journal abgedruckt und zur Vorlage einer Gegendarstellung gemacht hat, da er erkennt, dass seine eigenen Argumente im Vergleich zu Campes Ausführungen wenig überzeugend erscheinen müssen und er sich daher von Campe „compromittirt“ fühlt.47 Garve bezweifelt in dem von Campe abgedruckten Brief, dass ein Zeitschriftenprojekt wie das geplante Braunschweigische Journal ein qualitativ hochwertiges Gesamtwerk ergeben könne.48 Er verweist auf den fehlenden inneren Zusammenhang der einzelnen Aufsätze untereinander in ähnlichen Zeitschriften. Außerdem äußert er den Verdacht, Autoren würden bei der Abfassung von kürzeren Texten für Zeitschriften grundsätzlich weniger sorgfältig arbeiten als bei Einzelpublikationen, da sie nicht alleine mit ihrem Namen für das Ergebnis verantwortlich zeichneten und daher weder das Lob noch den Tadel in gleichem Maße wie bei einem Einzelwerk zu erhoffen oder zu befürchten hätten. Der durch das Zeitschriftenwesen bereits entstandene Publikationsdruck erschöpfe letztlich die intellektuellen Kräfte und etabliere das oberflächliche Arbeiten als Normalfall. Aus diesen Gründen hält Garve die journalistische Kooperation für schädlich: „Je größer die Zahl der Mitarbeiter wird: desto unvollkommner, oder wenigstens desto ungewisser wird der Erfolg des Werks.“49 Campe beruft sich in der Verteidigung seines Journals vor allem auf den Status, den Zeitschriften in den 1780er Jahren bereits erlangt haben: Sie seien zum bedeutendsten Massenmedium der Aufklärung geworden, und der „moralische Arzt“ könne dieses Faktum nicht einfach ignorieren.50 Die Form werde dem moralischen Schriftsteller somit von seinem Publikum geradezu diktiert. Interessant ist hier, dass Campe zwar auf konventionelle Argumentationsmuster zurückgreift, indem er eine besondere Affinität des Essays zur psychischen Disposition des Lesepublikums betont, dass jedoch umgekehrt auch das Publikum nun als ein aktiv einforderndes dargestellt wird. Der heterogene Inhalt und Stil, den Garve bemängelt, wird gerade als besonders geeignet empfohlen, um ein möglichst gemischtes Publikum aus unterschiedlichen Ständen zu erreichen. Campe widerlegt Garve, indem er journalistisch tätige Autoren wie Wieland, Mendelssohn und sogar Kant aufzählt, deren qualitativ hochwertige Aufsätze teilweise auch später zu größeren 47
48
49 50
Vgl. Christian Garve: Briefe von Christian Garve an Christian Felix Weiße und einige andere Freunde. Erster Theil. In: Garve: Gesammelte Werke. Abt. 4: Briefsammlungen, Bd. XV, 1. Hg. v. Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich u. New York 1999 [ND der Ausgabe Breslau: (S.l.) 1803]. S. 314 und 316f. Vgl. Christian Garve: Ein Einwurf wider die Nützlichkeit periodischer Schriften. In: Braunschweigisches Journal philosophischen, philologischen und pädagogischen Inhalts 1 (1788). Braunschweig: Schulbuchhandlung, S. 16‒19. Ebd., S. 19. Vgl. Johann Heinrich Campe: Beantwortung dieses Einwurfs. In: Braunschweigisches Journal 1 (1788), S. 19‒44, hier S. 20.
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Werken zusammengefasst worden seien.51 Er weist darauf hin, dass natürlich auch Garve selbst zu diesen Autoren gehöre. Die öffentliche Wahrnehmung der Aufsätze und die daraus erwachsende Reputation des Autors seien im Gegensatz zu Garves Ansicht größer als die Wahrnehmung von Einzelpublikationen. Nachdem Campe Garves Einwände widerlegt hat, kommt er auf den Nutzen der periodischen Aufsätze für die öffentliche Aufklärung zu sprechen.52 In einer Analogisierung von gesellschaftlichem Status, finanzieller Situation und Bildungs-, beziehungsweise Erkenntnishorizont stellt er die durch periodische Aufsätze verbreiteten Wahrheiten als ein symbolisches Kapital vor, das den gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechend zu verteilen sei: Sie [die periodischen Schriften, N.H.] sind die Münze, wo die harten Thaler und Goldstücke aus den Schatzkammern der Wissenschaften, welche nie oder selten in die Hand der Armen kamen, zu Groschen und Dreiern geprägt werden, um als solche durchs ganze Land zu rouliren und zuletzt wol gar in den Hut des Bettlers zu fallen. Oder meinen Sie, reicher Mann! Sie, durch den das Kapital unserer wissenschaftlichen Nationalbank selbst vergrößert worden ist; meinen Sie, daß es gut seyn würde, wenn jenes Kapital immer und ewig nur in harten Thalern und Goldstücken bestände, nie zu Scheidemünze ausgeprägt würde? Für das Kapital selbst – vielleicht! Für Sie und andere Schatzmeister und Banquiers, besonders im Puncte der eigenen Bequemlichkeit – vielleicht! Aber auch fürs Publicum? Aber auch für uns andere, die wir oft nur ein Zweigroschenstück zu erwerben wissen, und gleichwol auch dieses Zweigroschenstück gar zu gern in die öffentlichen Fonds zum öffentlichen Nutzen legen mögten? Aber auch für Kreti und Pleti, welche nichts erwerben, und doch auch leben wollen, und doch auch an dem Nationalreichthum des Geistes, wäre es auch nur zur Leibes Nahrung und Nothdurft, Antheil nehmen mögten? Nimmermehr! Für alle diese wird es stets gut und wünschenswürdig bleiben, wenn das, was ein Ka n t , was ein Ga r v e u . s . w. für Vaterland und Menschheit lucrirten und in großen Stücken, also nur für Reiche, niederlegten, durch kleine Wechsler in kleinere Münzsorten umgesetzt, und so durchs ganze Publicum in wohlthätigen Umlauf gebracht wird.53
Campe wendet sich hier im Gestus revolutionärer Entrüstung und scherzhafter Solidarität mit der einfachen Bevölkerung gegen das letztlich wenig überzeugende Feinbild Garve, um in der weit ausgeführten Analogiebildung Wahrheit/Wissen – Geld/geistiges Kapital letztlich doch keine Umverteilung zu fordern, sondern nur eine ‚geistige Armenspeisung‘. An dieser Stelle wird besonders deutlich, wie die Wahrheit der „gesunden Vernunft“, die in der weit ausgeführten ökonomischen Metaphorik ihren Ausdruck findet, in der Essayistik auch noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ihre Gültigkeit beweist. Das Beispiel zeigt, wie sehr sie zur Etablierung und Stabilisierung bürgerlicher Herrschaftsansprüche beiträgt. 51 52
53
Vgl. Campe: Beantwortung, S. 26f. Campe betont dabei die Bedeutung von Zeitschriftenaufsätzen gegenüber poetischen Texten: „[I]ch bin versichert, daß die Journale, trotz ihrer ephemerischen Existenz, auch dadurch zur Erweiterung und Aufklärung des öffentlichen Ideenkreises mehr geleistet haben, als manches vortrefliche litterarische Kunstwerk, welches vielleicht noch dann in Bibliotheken prangen wird, wann die Journale schon längst den Weg alles Makulaturs werden gegangen seyn.“ (Ebd., S. 34.) Ebd., S. 32f.
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Noch etwas wird aus Campes wenig schmeichelhafter Darstellung des größeren Teils des Publikums der Popularphilosophie noch einmal deutlich: Während die Theorie der Popularphilosophie immer auch die Volksaufklärung als einen wichtigen Bestandteil mit einschließt, können (und sollen) Essayistik und Volksaufklärung nicht zur Deckung kommen. Der Essay ist die Form für eine „höhere“ (das heißt: speziell bürgerliche) Popularphilosophie, während sich die Volksaufklärung andere Gattungen suchen muss.54 Jedoch erfolgt die Klassenbildung durch Essayistik bei Campe nicht nur mittels einer Abgrenzung nach unten, sondern auch durch polemische Abgrenzung vom Adel. So werden die Idealfiguren der bürgerlichen Gesellschaft, der „schwerbelastete Hausvater“, der „starkbesetzte Geschäftsmann“ und die „edle Hausmutter“ als bevorzugte und würdige Rezipienten der Essayistik benannt,55 während der auf Vergnügung beschränkte Aristokrat eher durch Zufall auf einen Aufsatz stoße, „der zwar ernsthaften und belehrenden Inhalts, aber doch auch so kurz ist, daß man das Bischen Kraft, welches zum Durchlesen desselben erfordert wird, sich wol allenfalls noch zutrauen darf“.56 In dieser abschätzigen Beurteilung der intellektuellen Fähigkeiten des Adels kommt Campes Abneigung gegen die Aristokratie zum Ausdruck, die sich ein Jahr später in den Briefen aus Paris (1789), seinem Augenzeugenbericht der Französischen Revolution, im Braunschweigischen Journal Bahn brechen wird. Als wichtigste Funktion der periodischen Zeitschriften benennt Campe zuletzt die Gesellschaftskritik: Der Journalist dürfe nicht den „Modetorheiten“ unterworfen sein, sondern müsse eben genau diese analysieren und bewerten. Ziel sei die Ausbildung eines „öffentlichen Untersuchungsgeist[es]“57. Campes Forderung spiegelt die Politisierung des Journalismus kurz vor Ausbruch der Französischen Revolution, durch welche die Essayistik der Aufklärung in ihrer Funktion als Selbsttechnik relativiert wird und über die sich auch Dampmartin in seinen eingangs zitierten Fragmens moraux et littéraires von 1797 beklagt. Die umfassendste theoretische Beschäftigung mit dem Konzept der Popularität findet sich bei Johann Christoph Greiling, der 1805 seine Theorie der Popularität veröffentlicht. Greiling wendet sich in seiner – primär als Homiletik angelegten, jedoch auf alle literarischen Gattungen bezogenen – Schrift gegen Garves Konzept der Popularphilosophie und entwickelt eine ästhetisierte Vorstellung des Populären. Entscheidend ist, dass Greiling an keiner Stelle den Begriff Popularphilosophie verwendet, sondern das populäre Schreiben viel weiter fasst als Garve, dessen Überlegungen stets auf die Textform Versuch als eine reflektierende Form ausgerichtet sind. So spricht Greiling zum Beispiel auch von der „populären Biogra54
55 56 57
Die Bauernzeitungen zum Beispiel verwenden den Dialog, das Rätsel oder Abhandlungen zu praktischen Themen aus der Landwirtschaft, um Volksaufklärung zu leisten. Vgl. Werner Faulstich: Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700‒1730). Göttingen 2002, S. 35‒37. Vgl. Campe: Beantwortung, S. 38. Ebd., S. 38. Ebd., S. 40.
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phie“.58 Popularität werde nicht allein durch den Gebrauch einer allgemeinverständlichen Sprache erzielt; ein populäres Werk müsse darüber hinaus immer auch „ein Werk der schönen Kunst“ sein.59 Zu diesem Zweck solle der populäre Schriftsteller nicht Garves Mittelweg zwischen Wissenschaft und Kunst einschlagen, um sein Werk als ein „Neutralisirtes“ hervor zu bringen, sondern dieses müsse vielmehr gleichermaßen ein Produkt von wissenschaftlichem Geist und Kunst sein.60 Popularität stellt dennoch auch für Greiling die „Herablassung“ des Gelehrten zu den “Begriffen des Volkes“ dar.61 Die Erkenntnis des Volkes stütze sich auf die Erfahrung und sei ein Produkt des „gesunden Verstandes“.62 Der Gelehrte hingegen befasse sich mit dem „Feld des reinen Denkens und reiner, vom Zusatze der Empirie freyer, Begriffe a priori“,63 den reinen Vernunftbegriffen. Die Abkehr der Philosophie von der Empirie findet in der Umdeutung des Vernunftbegriffs ihren Ausdruck: Während vor Kant die „gesunde Vernunft“ als Naturanlage des Menschen gedacht wird, kommt ihm nun – im besten Falle – nur noch ein „gesunder Verstand“ zu. Die Vernunft als das abstrakte Denken müsse erst durch Schulung ausgebildet werden. De facto wird damit der größte Teil der Gesellschaft von der Teilhabe an der Vernunft ausgeschlossen, da nach Greiling die unteren Volksklassen keine Befähigung zum abstrakten Denken besitzen beziehungsweise dieses nach Greiling auch nicht beherrschen müssen. Daher unterscheidet er auch „Grade“ der Popularität, die in Rücksicht auf die jeweilige Bildungsstufe des Publikums zu wählen seien. Während die „niedere“ Popularität sich nur am gesunden Verstand orientiere und daher über den Bereich der unmittelbaren Erfahrung nicht hinausgelange, könne die eigentliche, „höhere“ Popularität Erkenntnisse der Wissenschaften vermitteln, wobei der Schwerpunkt – wie in der Popularphilosophie üblich – auch hier auf praxisbezogenen Erkenntnissen der Moral oder Religionsphilosophie liegen solle.64 Wichtigste Aufgabe des populären Schriftstellers ist nach Greiling die Versinnlichung der abstrakten Erkenntnis. Der Heuristik der Versinnlichung widmet er daher in seinem Werk auch den größten Raum. Genau wird beschrieben, wie die Versinnlichung durchzuführen sei: Grundsätze müssten durch Beispiele, Verstandesbegriffe durch Schemata und Ideen durch Analogien versinnlicht werden.65 Diese Form der logischen oder „popularen“ Form der Versinnlichung, bei der die Einbildungskraft durch den Verstand kontrolliert werde, müsse jedoch mit „poetischer“ Versinnlichung kombiniert werden, die ein „freythätiges“ Spiel der Phanta58 59 60 61 62 63 64 65
Vgl. Johann Christoph Greiling: Theorie der Popularität. Stuttgart u. Bad Cannstatt 2001 [ND der Ausg. Magdeburg: Keil 1805], S. 78. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. XI. Vgl. ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 35. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 113‒117. Vgl. ebd., S. 92.
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sie gestatte.66 Durch diese doppelte Versinnlichung werde der populäre Text zu einem Werk der schönen Kunst und könne die größtmögliche Wirkung entfalten. In diesem Punkt geht Greilings Konzept über Garves Überlegungen in seinem Essay Von der Popularität des Vortrags hinaus, da Garve die Einbildungskraft als poetischen Schmuck funktionalisiert, während Greiling im Rahmen seiner wirkungsästhetischen Konzeption des Populären der Ästhetik eine gewisse Autonomie zugesteht. Allerdings wird diese Forderung im Folgenden durch Greiling wieder eingeschränkt, indem er literarische Darstellungen, welche die Realität idealisierten und damit einen höheren Anspruch an den Leser stellten, aus der Popularität ausschließt: Vorstellungen, Bilder, Gleichnisse aus dem idealistischen Standpunkte haben daher für ihn [den gemeinen natürlichen Verstand, N.H.] keinen Sinn. Ob nun gleich die Idealität der Kunst die schönsten und edelsten Anschauungen liefert, wie die Werke Schillers, Goethes ec. beweisen: so müssen doch solche Bilder im Volksunterricht ganz vermieden werden, weil sie dem Horizont der Fähigkeiten nicht angemessen sind.67
Durch diese Einschränkung der poetischen Versinnlichung nähert sich Greiling jedoch wieder stärker dem von Garve geforderten popularphilosophischen Mittelweg an. Auf welcher Stufe zwischen funktionaler und autonomer Ästhetik seine poetische Versinnlichung angesiedelt werden soll, bleibt unklar. Es entsteht eine Spannung zwischen den geforderten didaktischen Eigenschaften und dem künstlerischen Anspruch des populären Textes. Dieser soll einfacher gestaltet sein als eine wissenschaftliche Abhandlung oder ein Kunstwerk und doch gleichzeitig in seinem Beitrag zur Aufklärung des Publikums Kunst und Wissenschaft überbieten. Diese Spannung wird auch in Kants Definition des Populären deutlich, die Greiling aus der von Gottlob Benjamin Jaesche 1800 herausgegebenen Logik Kants übernimmt, um sein eigenes Konzept zu verdeutlichen: Das Verhältnis zu treffen zwischen der Vorstellung in abstrakto und in konkreto in derselben Erkenntniß; also der Begriffe und ihrer Darstellung, wodurch das Maximum der Erkenntniß dem Umfange sowohl, als dem Inhalte nach, erreicht wird, darinn besteht die Ku n s t d e r P o p u l a r i t ä t .68
Zusätzlich zu diesen allgemeinen Anforderungen muss der populäre Schriftsteller nach Greiling sowohl wissenschaftlich als auch ästhetisch auf der Höhe seiner Zeit verfahren und damit auch einer veränderten Erwartungshaltung des Publikums an ein literarisches Werk Rechnung tragen. Die Untersuchung der beiden bekanntesten Konzepte von Popularität um 1800 bei Garve und Greiling legt zunächst den Schluss nahe, als könne Essayistik, wenn 66 67 68
Vgl. Greiling: Theorie der Popularität, S. 77. Ebd., S. 104. Ebd., S. 61. Greiling übernimmt das Zitat, in der Schreibweise leicht abgewandelt, aus: Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. Hg. v. Gottlob Benjamin Jaesche. Königsberg: Nicolovius 1800, S. 155.
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sie auf dieser Basis entsteht, ausschließlich Wissensvermittlung sein; – vielleicht mit einem einfachen literarischen Anspruch. Außerdem wird weder aus Garves Essay Von der Popularität des Vortrags noch aus Greilings Theorie der Popularität deutlich, ob es eine Verbindung zwischen den Popularitätskonzepten und der Funktion des Aufklärungsessays als Selbsttechnik gibt. Diese Verbindung stellt Garve in seinen späteren Essays in den Versuchen her. Hier zeigt er, dass sein Verständnis des Essays über eine bloße wissensvermittelnde Aufgabe hinausgeht, indem er eine eigene Inventionstheorie des Essayismus entwirft und das Verhältnis von Ästhetik und Popularität in der Praxis essayistischen Schreibens genauer fasst.
3.2. „Poesie, die sich in Philosophie auflöset“: Garves Verbindung von Selbstästhetik und therapeutischer Selbsthermeneutik in seinen Versuchen (1792‒1802) Christian Garves Essayistik ist nicht nur zu seinen Lebzeiten, sondern auch in der Forschungsliteratur immer wieder zum Gegenstand von Polemik geworden. Trotz der großen Wertschätzung, die sein Werk in der literarischen Öffentlichkeit seit den 1770er Jahren bis zu seinem Tod 1798 erfahren hat, haben sich in der Literaturgeschichte besonders die negativen Stimmen erhalten. Am nachhaltigsten hat wohl Friedrich Schlegels Diktum von 1798 gewirkt, das die zirkuläre Argumentationsstruktur in Garves Essays kritisiert: „Garve’s Essay ein Pfahl in d[er] Mitte, woran ein ziemlich langer Strick; er geht mit diesem so lange herum als d[er] Strick reicht und dann wieder rückwärts. —“69 Wölfel und Schote stellen beispielsweise in Frage, dass Garve die beabsichtigte Abgrenzung seiner Schreibweise von der systematischen Abhandlung tatsächlich gelungen sei. Wölfel bestreitet in seiner Vorrede zu der von ihm herausgegebenen Sammlung Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben (1792‒1802),70 dass Garve seinem eigenen popularphilosophischen Programm gerecht geworden sei. Er stellt fest, Garve verzichte in seinen Texten auf Beispiele aus der Dichtung, der Geschichte oder der Erfahrung, obgleich deren Verwendung ein entscheidender Bestandteil seiner Theorie sei. Der systematische Aufbaus der Essays veranlasst ihn dazu, ihrem Autor
69
70
Friedrich Schlegel: Philosophische Fragmente. Zweite Epoche. I. Zur Moral. In: Friedrich Schlegel. Philosophische Lehrjahre 1796‒1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796‒1828. Erster Teil. Mit Einleitung u. Kommentar hg. v. Ernst Behler. München, Paderborn u. Wien 1963 (Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Bd. 18. Hg. v. Ernst Behler. Unter Mitwirkung v. Jean-Jacques Anstett u. Hans Eichner. Zweite Abteilung. Schriften aus dem Nachlaß). S. 195‒247, hier S. 223 [Nr. 343]. Wölfel wählt diesen Übertitel für die fünf Bände, die 1792, 1796, 1797, 1800 und 1802 erscheinen. Allerdings tragen im Original nur die Bände von 1792, 1796 und 1802 den Titel Versuche.
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einen „formale[n] Rest vom ‚Geist des Systems‘“ zu attestieren, der sich als „pedantisches Verfahren“ zeige.71 Auch Schote versteht Garves Essay Von der Popularität des Vortrags weniger als ein Konzept essayistischen Schreibens, sondern als eine „mögliche[ ] Theorie der dogmatischen Abhandlung“72. Garve lehne alle Eigenschaften philosophischen Schreibens ab, die nach Schote für den Essay unerlässlich sind: „Originalität des Denkens, Individualität des Ausdrucks, Darstellung und Entwicklung eines Gedankengangs, etc.“73 Garves Essays verlangen dem Leser einiges an Arbeit ab. Sie sind im Schnitt 100 bis 200 Seiten lang (der in den Bänden von 1797 und 1800 publizierte Essay Über Gesellschaft und Einsamkeit umfasst insgesamt sogar beinahe 800 Seiten) und dürfen – ohne dass ein Anspruch auf objektive Beurteilung verletzt würde – passagenweise als langatmig bezeichnet werden. Dennoch sollen die folgenden Ausführungen zeigen, dass Garves Versuche für den Essay der Aufklärung in seiner Funktion als Selbsttechnik sehr bedeutend sind. Denn Garve, der auf den ersten Blick in seinen Texten eine Essayistik der „gesunden Vernunft“ fortschreibt, verbindet vielmehr die unterschiedlichen Ausdifferenzierungen der Essayistik seit dem frühen 18. Jahrhundert zu einem komplementären Modell. Er generiert eine Verbindung von Selbstästhetik und therapeutischer Selbsthermeneutik, über die er besonders in seinen späten Essays aus den Jahren 1796 und 1797 reflektiert. Hier erstellt er eine induktiv gewonnene Systematik des essayistischen Schreibens auf der Basis einer eigenständigen Erkenntnistheorie, die sich als anthropologische Alternative zur Transzendentalphilosophie Kants versteht. Garve ist der einzige deutschsprachige Essayist im 18. und frühen 19. Jahrhundert, der sich in seiner Rolle als Essayist mit deutlichen Anlehnungen an Montaigne stilisiert. Immer wieder beklagt er in den Versuchen die Weitläufigkeit seiner Argumentation und führt sie auf eine bloß durchschnittliche Intelligenz und vor allem auf seine chronische körperliche Schwäche zurück, die ihn in die gesellschaftliche Isolation gezwungen habe. In der Vorrede zum ersten Band der Versuche erläutert er in einem autobiographischen Rückblick seine Motivation zur Abfassung der Essays. Er stellt dabei seinen Wunsch, in der Gesellschaft durch seine Schriften als liebenswürdiger Mensch bekannt zu werden, über das eigentliche anthropologische Erkenntnisinteresse und lenkt damit wie Montaigne durch ein offenes Bekenntnis seiner Schwächen die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser vom Gegenstand der Texte auf seine Person: Der Wunsch in der Gesellschaft zu gefallen, und von derselben gesucht zu werden ist, zu allen Zeiten, weit stärker bey mir gewesen, als die Begierde nach litterarischem Ruhme. Wenn mir 71
72 73
Vgl. Kurt Wölfel: Über das essayistische Werk Christian Garves. In: Garve: Gesammelte Werke. Abt. 1: Die Aufsatzsammlungen. Bd. 1: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben. Teil 1 u. 2. Hildesheim, Zürich u. New York 1985 [ND der Ausgaben Breslau: (S.l.) 1792/1796], S. I‒XXX, hier S. XVIII. Schote: Entstehung und Entwicklung des deutschen Essays, S. 172. Ebd.
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dieser letztre ein wünschenswerthes Gut schien: so war es nur deßwegen, weil ich glaubte, daß er mir den Weg zu jenen Vortheilen bahnen würde. Mein Ehrgeiz lernte bald noch feinere Unterschiede machen. Ich wollte nicht nur, wie Montaigne, daß man mich selbst, nicht meine Bücher schätzen sollte: ich wurde auch gewahr, daß es etwas ganz anders wäre, wenn mich die Gesellschaft unter dem Titel eines mir zugeschriebnen, besondern Talents, als wenn sie mich unter dem, einer unbestimmten, aber allgemeinen Liebenswürdigkeit aufnähme; und nur dieß letztre war der Gegenstand meiner Wünsche.74
Gerade diejenigen Eigenschaften der Essayistik Garves, die angeführt worden sind, um das ‚Unessayistische‘ seiner Texte zu belegen – Langatmigkeit, Schwerfälligkeit und Zirkularität – müssen daher als bewusst einkalkulierter Ausdruck der individuellen Konstitution ihres Verfassers verstanden werden, besonders zu einer Zeit, in der Langatmigkeit in der Essayistik unweigerlich den Vorwurf der Schulgelehrsamkeit und des Pedantismus nach sich zieht.75 Garve entwirft im Paratext seiner Essays somit eine Schreibsituation des Rückzugs aus der Gesellschaft, die derjenigen Montaignes sehr ähnelt. Seine gescheiterten gesellschaftlichen Ambitionen zum Aufstieg in höhere Kreise und seine Gesundheitsprobleme machten ihn zu einem Außenseiter, der aus der Distanz heraus besonders geeignet sei, die Sitten der Menschen zu untersuchen. Darüber hinaus attestiert er sich eine gewisse Rückständigkeit hinsichtlich der wissenschaftlichen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts: „Der Fortgang aber sowohl der Meinungen als der Sitten, ist in meinem Zeitalter, so schnell gewesen, daß ein, von der Natur zu einem so langsamen Gange bestimmter, Mensch, als ich, leicht, mit seiner Philosophie hinter seinem Jahrhunderte hat zurückbleiben können.“76 Wie Montaigne kokettiert Garve mit dem Geltungsanspruch seiner Texte, die nur für einen kleineren Kreis Gleichgesinnter bestimmt seien. Während seine Es74 75
76
Garve: Versuche 1, Vorrede, S. VII. In der Vorrede zum ersten Band des Essays Über Gesellschaft und Einsamkeit, die an Johann Joachim Spalding adressiert ist, verweist Garve auf seine schwere Erkrankung und bemängelt die Länge seines Textes. Er erklärt sie einerseits aus dem Umstand, dass er den Text diktieren musste und andererseits aus seiner Unfähigkeit, die Gedanken zu konzentrieren und zu bündeln: „Ich werde aber jetzt vielleicht noch Ihrer besondern Nachsicht nöthig haben: theils, weil ich mit sehr ungleichen Kräften und bey sehr veränderlichem Zustande meiner Gesundheit dieß Buch ausgearbeitet habe, theils, weil ich genöthiget war, das Meiste davon Andern in die Feder zu dictiren, und der Stil jedes Menschen sehr verschieden ist, wenn er selbst schreibt und wenn er sich einer fremden Hand bedient. Im letzteren Falle können die Gedanken vielleicht origineller werden, weil der Geist, ganz concentriert auf die Sachen, durch keine mechanische Nebenarbeit zerstreut wird. Aber die Schreibart wird gewiß etwas weitschweifiger und weniger vollkommen, weil das Auge den Verstand nicht so gut leiten kann, und weil man sich vor seinem Schreiber scheut und, um ihn nicht zu lange warten zu lassen, sich mit einem mangelhaften Ausdrucke begnügt. Vielleicht finden Sie jene Weitschweifigkeit auch nicht bloß in der Schreibart, sondern selbst in den Gedanken. Jemand entschuldigte sich, daß er nicht kürzer in seinem Schreiben hätte seyn können, weil er zu wenig Zeit zum Schreiben gehabt hätte. Und ich möchte mich eben so gern damit entschuldigen, daß ich zu schwach war, meine Ideen mit wenigen simpeln Worten aufs Reine zu bringen, und daher lange daran künsteln mußte.“ (Christian Garve: Über Gesellschaft und Einsamkeit. In: Ders.: Versuche 2, 3./4. Teil [1797], Vorrede [o.S.]). Garve: Versuche 1, 1. Teil (1792), Vorrede, S. XV.
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says durch ihre systematische Gliederung den Eindruck erwecken, allgemeingültige anthropologische Aussagen zu machen, betont Garve in der Vorrede ausdrücklich ihren subjektiven und perspektivischen Charakter: Dessen ungeachtet habe ich geglaubt, daß das Interesse, welches ich an diesen Gegenständen, und den bey ihrer genauern Betrachtung in mir erregten Ideen fand, mir mit einer Anzahl Menschen, die eine der meinigen ähnliche Lage und Gemüthsart haben, gemein seyn könnte. — Was ich von den Menschen kenne, weiß ich hauptsächlich aus mir selbst: was ich von der Welt kenne, ist der kleine Kreis, den ich aus meinem Standorte übersehen habe. So weit als ich andern ähnlich bin, werde ich ihre Empfindungen getroffen und ihre Gedanken errathen haben: denn die meinigen habe ich getreu, und, so viel ich konnte, deutlich darzustellen gesucht.77
Was Schote dazu veranlasst, Garves Essays Individualität abzusprechen, ist sein Natürlichkeitsverständnis, das den authentischen Ausdruck von Individualität an der sprachlichen Idiosynkrasie festmacht. Dieses Verständnis sprachlicher Originalität als Ausdruck von Individualität, das die Essayistik des Sturm und Drang etabliert hat, wird von Garve aber gerade als „Manier“ und „Zwang“ abgelehnt.78 Da der zivilisierte Mensch für Garve immer schon Kulturwesen ist, sei eine „originale“ Ausdrucksweise im Sinne des Sturm und Drang gar nicht möglich. Diese gebe sich daher als Modeerscheinung zu erkennen, während Garve den klassischen mittleren Stil der antiken Rhetorik favorisiert, der seiner Meinung nach die Empfindungen des Menschen besser auszudrücken verstehe. Stilistisch orientiert sich Garve besonders an Cicero, wie er im Vorwort zu seiner Übersetzung von Ciceros Abhandlung über die menschlichen Pflichten (De officiis) ausführt. Auch hier kommt er auf sein Verständnis des Verhältnisses von Individualität und Stil zu sprechen: Daß kein Mensch ohne individuelle Charakterzüge sey, ist von mir nie geleugnet worden. Aber wahr bleibt es, wer ohne alle Affectation, natürlich, klar und fließend schreibt, wird immer Ciceronianisch schreiben. Wer schreiben will wie Tacitus, muß den Stil des Tacitus besonders studiren. Jener ist ein Maler der keine Manier, dieser einer der eine sehr stark in die Augen fallende hat. Es ist aber, glaube ich, unter den Kennern der Kunst ausgemacht, daß der Mahler ohne Manier, wenn er sonst gleiches Verdienst hat, der größere ist.79
Das Ciceronianische Stilideal, das Garve auch für seine Popularphilosophie reklamiert, ist Ausdruck der stoisch geprägten Ethik, für die er eintritt. Der gemäßigte 77
78
79
Garve: Versuche 1, 1. Teil (1792), Vorrede, S. IVf. Auch McCarthy verweist auf die Parallele der Vorreden Montaignes und Garves zu ihren Essay-Sammlungen. Vgl. McCarthy: Crossing Boundaries, S. 250. Dies zeigt sich besonders deutlich in Garves Beurteilung der Schrift Von deutscher Art und Kunst in einem Brief an Christian Felix Weiße vom 2. Oktober 1773. Hier verurteilt Garve den Stil des Sturm und Drang als sklavische Nachahmung: „Denn wer anders, als ein Sclave, kann sich so winden und drehen, wenn er spricht; bald in Räthseln sprechen, bald in dem stolzen Tone des Gebiethers, dem man dient.“ (Garve: Briefe 1, S. 25f.) Christian Garve: Abhandlung über die menschlichen Pflichten. Teil 1: Die Übersetzung. In: Garve: Gesammelte Werke, Abt. 3, Bd. IX. Hildesheim, Zürich u. New York 1987 [ND der Ausg. Breslau: Korn 1787], Vorrede zur neuen Ausgabe, S. XXVII.
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mittlere Stil stellt in Garves essayistischer Schreib- und Lektürepraxis neben der (didaktischen) Popularisierungsabsicht auch einen bedeutenden Faktor seiner auf anthropologische Universalisierung der Erkenntnisse hin ausgerichteten Selbsttechnik dar. Wie die Rationalisierung des sprachlichen Ausdrucks und der positive Bezug auf Montaigne zusammenzubringen sind, zeigen Garves Essays Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken (1796) und der thematisch daran anschließende Essay Über Gesellschaft und Einsamkeit (1797). In den Beobachtungen über die Kunst zu denken wird schrittweise eine Systematik des essayistischen Schreibens entwickelt. Dieser Essay setzt sich aus drei separaten Teilen zusammen: einer kurzen empirischen Exposition, einem ersten, allgemeinen Teil, der sich mit der Invention oder Erfindungskunst auseinandersetzt, und einem zweiten, besonderen Teil. Hier werden unterschiedliche Methoden des Denkens und ihre schriftliche Niederlegung miteinander verglichen, Garve gibt eine Definition des Essays als „philosophischer Versuch“ und legt sein Selbstverständnis als Essayist dar. Er entwickelt sein Konzept des essayistischen Schreibens jedoch nicht nur argumentativ, sondern demonstriert es zugleich anhand des Aufbaus und der Erkenntnismethode seines Textes. Thema und Ausgangspunkt des Essays ist die Meditation als stilles Selbstgespräch und Ursprung neuer Erkenntnis. Auf vier Seiten beschreibt das essayistische Ich auf der Basis individueller Erfahrung die Entstehung neuer Ideen und die dabei auftretenden Schwierigkeiten. Dabei findet jedoch mehrmals ein Wechsel von der Ich-Form in die Wir-Form statt, und stellenweise spricht das essayistische Ich über den Meditierenden – also über sich selbst – auch in der dritten Person („Er“). Garve verwendet die erste Person Singular, die erste Person Plural und die dritte Person Singular, um unterschiedliche Grade der Generalisierung seiner Aussagen zu markieren. Zwischen dem Individuum Garve und dem „Er“ im Sinne des „Menschen an sich“ findet in der Argumentation ein ständiger fließender Übergang statt. Die neue Erkenntnis verortet Garve weder in der reflektierenden Vernunft noch in der bloß angehäuften und reflektierten Erfahrung. Sowohl die Wahl des zu behandelnden Gegenstandes als auch die Ideen, die während der Meditation entstehen, unterliegen seiner Ansicht nach Ursachen, auf die der Mensch keinen (oder höchstens einen äußerst begrenzten) Einfluss hat. Ausgehend von der Beobachtung seiner eigenen Meditationen kommt das essayistische Ich zu dem Ergebnis, dass die plötzliche und nicht kontrollierbare Eingebung im Prozess des Denkens eine ebenso große Rolle spiele wie das planmäßige Vorgehen. Selbst die Gültigkeit der gefundenen Wahrheiten sei nicht sicher gestellt, da ihre Erscheinungsformen und ihre Evidenz in gleichem Maße der Wechselhaftigkeit unterworfen seien wie die Phasen der Kreativität. Das größte Hindernis der Erkenntnisfindung schließlich sei die Transformation des Gedankens durch die Versprachlichung. Das essayistische Ich betont, dass die Idee als subjektives, originales Ereignis und die verbalisierte
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Idee als Bestandteil der Ideengeschichte jeweils vollkommen unterschiedlich bewertet werden müssten. Alle diese Eigenschaften des Erkenntnisprozesses seien Erscheinungsformen desselben erkenntnistheoretischen Grundprinzips: „Diese Vereinigung der Selbstthätigkeit mit leidentlichen Veränderungen, der Wahl mit der Nothwendigkeit, freyer Handlungen mit fremden Einflüssen, macht, beym Denken, wie im ganzen System der menschlichen Natur, die unauflöslichste Schwierigkeit aus.“80 Hinter diesen Äußerungen verbirgt sich Garves grundlegende, durch den englischen Empirismus geprägte Überzeugung, dass der Mensch kein autonomes, sondern ein heteronomes Wesen sei, dessen Denken maßgeblich durch die Einflüsse der Umwelt geprägt werde. Dies bedeutet, dass der Mensch nach Garve erst durch seine Interaktion mit Personen und Dingen und durch die Reflexion der daraus entstehenden Ideen zu einem Menschen wird. Um dieses Ziel zu erreichen, sei ihm von Natur ein Perfektibilitätsdrang eingegeben. Die Wahl des Themas einer Meditation wird nach Garve durch das Interesse bestimmt, das der Denkende ihm entgegen bringe. Dieses Interesse bezeichnet jedoch kein aktives, zweckgeleitetes Vorgehen, sondern ist bereits Resultat einer Wirkung, die der Gegenstand auf den Denkenden ausübt. Garve bezeichnet diese Wirkung mit dem Begriff des „Interessierenden“. In seinem Essay Einige Gedanken über das Interessirende, der 1771 in der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste erscheint und 1802 postum noch einmal von Johann Kaspar Friedrich Manso zusammen mit weiteren Aufsätzen publiziert wird, führt er die Grundlagen seiner Erkenntnistheorie aus. Ausgangspunkt ist die an Locke und Hume angelehnte Überzeugung, dass allein die Erfahrung den Geist des Menschen forme und daher „der Gegenstand selbst erst der Seele ihre Gestalt gebe[ ]“.81 Dementsprechend seien es sinnliche Eindrücke oder bestimmte abstrakte Ideen, die das Interesse des Menschen dann auf sich zögen, wenn er in ihnen etwas Bekanntes entdecke oder aber etwas, das ihm zur Ausbildung einer größeren seelischen Vollkommenheit noch fehle: Nicht jede wahre, große, schöne Idee macht uns aufmerksam, sondern nur diejenige, die in die Reihe der in uns schon vorhandenen und von uns bemerkten Ideen noch hineinfehlt, die, welche eine von uns wahrgenommene Lücke unserer Kenntnisse ausfüllt, eine gewisse Unruhe stillt, die wir über unsere Unwissenheit in diesem Stücke empfanden.82
Doris Bachmann-Medick hat gezeigt, dass Garve seine Bestimmung des „Interessierenden“ einer Wirkungsästhetik der Dichtung zugrunde legt und dabei klar zwi80 81
82
Christian Garve: Einige Beobachtungen über die Kunst zu denken. In: Ders.: Versuche 1, 2. Teil (1797), S. 245‒430, hier S. 250. Christian Garve: Einige Gedanken über das Interessirende. In: Ders.: Gesammelte Werke, Abt. 1, Bd. V: Sammlung einiger Abhandlungen aus der Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste, 1. Teil [ND der Ausg. Leipzig: Dyk 1802], S. 210‒371, hier S. 225. Ebd., S. 223f.
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schen einem zweckgeleiteten Interesse des Subjekts und dem „Interessierenden“ als „Eindruck des Gegenstands“ unterscheide.83 Nur da, wo die Beschäftigung mit einem Gegenstand (z.B. einem Kunstwerk) nicht von konkreten Absichten geleitet sei, könne das „Interessierende“ zur Geltung kommen. Da die Aufmerksamkeit, die das Subjekt auf einen Gegenstand richte, durch diesen selbst motiviert sei, handele es sich bei dieser Art von Aufmerksamkeit auch nicht um Arbeit oder Anstrengung.84 Im Gegenteil versteht Bachmann-Medick diese Interaktion mit dem Gegenstand als ein ästhetisches Handeln, da es primär durch Vergnügen bestimmt sei.85 Bachmann-Medick erkennt in Garves Wirkungsästhetik die zentrale moralphilosophische Forderung, dass dichterische Gegenstände immer an bereits vorhandene Erfahrungen angebunden werden müssten, um handlungsverändernd wirken zu können.86 Dies kann einem Autor nach Garve jedoch nur gelingen, wenn er nicht mit Blick auf das Publikum schreibe, sondern auf sein eigenes Interesse vertraue, das sich aufgrund allgemeinmenschlicher Ähnlichkeiten auch auf das Publikum übertragen könne. Ein solches wirkungsästhetisch motiviertes Interesse legt Garve somit auch seiner Erkenntnistheorie zugrunde und hat damit die erste erkenntnistheoretische Vorbedingung essayistischen Schreibens benannt. Es fehlt jedoch noch eine weitere: das innovative Potential der Phantasie. Wenn Garve seinen Essay mit der Bemerkung beginnt, „ein undurchdringliches Dunkel“ verhülle dem Menschen die Entstehung eines neuen Gedankens,87 so betont er gleich im ersten Satz des Textes die vorrationalen Einflüsse auf das Erkenntnisvermögen. Besonderes Interesse habe der Mensch an dem Wunderbaren, denn in diesem offenbare sich ihm durch erhabene Gefühle das Göttliche, die höchste Stufe der Vollkommenheit. Wie Creuz sieht Garve in der Imagination das primäre Vermögen des Menschen zur Hervorbringung neuer Erkenntnisse. Sie verarbeite die Erfahrung, gehe über diese jedoch weit hinaus und antizipiere metaphysische Wahrheiten im Modus ästhetischer Erfahrung. Die durch den Menschen entworfenen symbolischen Ordnungen ermöglichten es dem Menschen, diese Wahrheiten zu erahnen. Dementsprechend müsse in der Meditation „[d]er Dichter […] dem Philosophen vorarbeiten“.88 Dies könne durch das Imaginieren von Bildern oder Begebenheiten geschehen und bringe eine Fülle von Einfällen hervor, die dann, in einem zweiten Schritt, rational bewertet, systematisiert und aufgeschrieben werden müssten. Wie schon Addison im Spectator ordnet also Garve in 83
84 85 86 87 88
Vgl. Doris Bachmann-Medick: Anziehungskraft statt Selbstinteresse. Christian Garves nichtutilitaristische Konzeption des ‚Interessierenden‘. Online-Publikation 2002, S. 3. URL: http://bachmann-medick.de/publikationen [25.11.2012]. Vgl. außerdem dies.: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ästhetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989. Vgl. ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 20 u. 22. Vgl. ebd., S. 28f. Vgl. Garve: Kunst zu denken, S. 247. Ebd., S. 252.
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seinem Essay-Konzept die geniale Inspiration in das System der antiken Rhetorik ein und weist sie dem Stadium der inventio zu. Allerdings betont Garve die Unumgänglichkeit der poetischen Inspiration für den Essay wesentlich stärker als Addison. Der Zustand des Tagtraums bilde den ersten Schritt der Erkenntnis im Essay und stelle einen zweckfreien, ästhetischen Selbstgenuss dar. So heißt es im Essay Über Gesellschaft und Einsamkeit über das einsame Meditieren, daß, unter den verschiedenen Fähigkeiten des Menschen, Einbildungs- und Dichtungskraft weit weniger Nahrung und Übung in der Gesellschaft, als Verstand und Scharffsinn, finden. Man kann in derselben nicht träumen: ich will sagen, man kann sich nicht innern Anschauungen, die noch nicht in Begriffe aufgelöset und daher nicht durch Worte mittheilbar sind, überlassen.89
Da Garve die Inhalte des ersten Teils der Meditation für nicht mitteilbar hält, ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Inhalte später auch auf dem Papier gar nicht oder nur andeutungsweise wiederfinden. Die Verschriftlichung der Ergebnisse dient bereits der rationalen Entwicklung gefundener Wahrheiten und der popularphilosophischen Mitteilung. Rhetorisch inszenierte Einfälle und Emotionen haben daher in Garves Essayistik keinen Platz. Daher kündigt dass essayistische Ich in den Beobachtungen über die Kunst zu denken an, im Folgenden „einige nützliche Regeln“ anzugeben, welche es dem Denkenden ermöglichen sollen, „diese seine Fähigkeit mehr in seine Gewalt [zu] bekommen“.90 Während Garve im ersten Abschnitt des Essays also die Ergebnisse seiner ersten Assoziationen zum Thema festhält, systematisiert er diese anschließend in einem allgemeinen Teil, der als Handlungsanweisung gedacht ist, und in einem speziellen Teil, der sich als literarische Kritik versteht. Der erste systematische Teil des Essays, der auch einen bemerkenswerten Beitrag zur Theorie der Erfindungskunst im 18. Jahrhundert leistet, versucht eine Beantwortung der beiden zentralen Fragen der Exposition: Wie ist eine Rationalisierung der irrationalen Elemente des Erkenntnisprozesses möglich? Auf welche Weise kann eine möglichst verlustfreie Verbalisierung der Einfälle gewährleistet werden? Dieser Teil ist in neun durchnummerierte Abschnitte gegliedert, die in grober Zusammenfassung folgende Themen behandeln 1.) Der günstigste Einstieg in die Meditation, 2.) Die Behebung negativer Einflüsse während der Meditation, 3.) der beste Weg, die Gedanken angemessen zu versprachlichen, 4.) der ganze Mensch muss sich geistig und körperlich auf die Meditation einstellen, 5.) Standhaftigkeit ist eine Schlüsseltugend der Meditation, 6.) die kontinuierliche Beschäftigung mit dem gleichen Thema erfordert Selbstdisziplinierung, 7.) Sorglosigkeit und Regellosigkeit dürfen den Beginn der Meditation bilden; die Ausarbeitung muss nach den Regeln der antiken Rhetorik erfolgen; das Gedächtnis liefert die Inhalte der Meditation, 8.) für die Meditation muss das gesamte zur Verfügung stehende Wissen herangezogen werden, 9.) 89 90
Garve: Gesellschaft und Einsamkeit, S. 186. Garve: Kunst zu denken, S. 250.
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die Eindrücke der Natur beleben die Meditation.91 Aus dieser Auflistung wird deutlich, dass trotz des äußerlichen Anscheins von Systematik die einzelnen Themen inhaltlich nicht in einer logisch notwendigen Folge erscheinen beziehungsweise Themen in verschiedenen Abschnitten in leichter Variation erneut behandelt werden. Die Stringenz in der Argumentation ergibt sich aus einer assoziativen Gedankenreihung, die das Thema immer wieder mit unterschiedlich akzentuierten Ansätzen umkreist. Die Effizienzsteigerung in der Meditation soll also nach Garve durch den gezielten Einsatz der unteren Erkenntnisvermögen erfolgen. Dieses Verfahren aktiviere die „denkende Kraft“,92 die nun mit dem vorgesetzten Plan in Übereinstimmung zu bringen sei. In der Befähigung zur harmonischen Verbindung von Plan und spontanem Einfall offenbare sich das Genie: Ohne Zweifel ist diese glückliche Übereinstimmung der, durch die Einbildungskraft und das Gedächtniß herbeigeführten, Gedanken, mit dem Plane, welchen der Verstand gleich anfangs vorgezeichnet hat, eine der Naturgaben, welche das wahre Genie auszeichnen. Daß sie aus einer größern Vollkommenheit, sowohl der körperlichen Werkzeuge, als der geistigen Anlagen, entspringe, erhellet daraus, daß, wer überhaupt zum Selbstdenken aufgelegt ist, diese besondre Fähigkeit, einen gemachten Plan, vermittelst einer Reihe gleichsam von selbst entspringender, ihm eigner Gedanken, mit Leichtigkeit zu verfolgen, und selbst seine Einfälle an die Kette seiner Vernunftschlüsse zu knüpfen, gerade in denjenigen Augenblicken bey sich findet, wo er sich der größten Heiterkeit seines Kopfs, der vollkommensten Gesundheit und des freyesten Spiels aller seiner Seelen- und Leibes-Kräfte, bewußt ist. Bey der geringsten Abnahme dieser Munterkeit, und mit dem ersten eintretenden Gefühle der Ermüdung, verliert sich auch dieses Zusammenstimmen der, als Eingebung sich plötzlich dem Gemüth darstellenden, Ideen, mit dem vorsätzlich gewählten Gange der Untersuchung.93
Die Fähigkeit zur angemessenen Versprachlichung sieht Garve in der gleichen Kraft verortet, die auch die Ideen hervorbringe. Meditation und Begriffsfindung seien letztlich zwei zusammenhängende Schritte der Invention. Daher solle auch die zeitliche Differenz zwischen dem Nachdenken und der Abfassung des Textes möglichst kurz gehalten werden.94 In diesem Zusammenhang verweist Garve darauf, dass jede Sprache nur über einen begrenzten Schatz an Ideen verfüge, es also „lateinische“ oder „französische“ Ideen gebe.95 Der Essayist darf daher nach Garve kein Nationalist sein. Er muss einen Sprach-Kosmopolitismus pflegen, um seine Erkenntnismöglichkeiten zu erweitern. Von zentraler Notwendigkeit sei besonders für den mittelmäßigen Philosophen – zu denen Garve sich selbst zählt – die Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung und Konzentration auf den einmal gewählten Gegenstand. Er wählt einen Vergleich aus 91
92 93 94 95
In der Ausgabe, die dieser Textanalyse zugrunde liegt, fehlt – wahrscheinlich aufgrund eines Versäumnisses beim Setzen des Textes – die Nummer 2 (der auf S. 253 beginnende Abschnitt müsste diese Nummer tragen), und die Nummer 7 taucht zweimal auf (vgl. S. 301 u. S. 315). Vgl. Garve: Kunst zu denken, S. 250. Ebd., S. 254f. Vgl. ebd., S. 265. Vgl. ebd., S. 259‒261.
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der Mechanik, um die wesentlichen philosophischen Temperamente zu erläutern: Bei den Genies gleiche der Erkenntnisprozess dem „Stoß“, bei den übrigen würde neue Erkenntnis nur nach dem Prinzip des langfristigen „Drucks“ hervorgebracht. Der ideale Philosoph muss nach Garve in der Lage sein, beide Arten der Produktion von Wissen miteinander zu verbinden, um die größte Effizienz zu erzielen. In seinen Essays spiegelt sich dieses Vorgehen in der sehr langsam fortschreitenden Argumentation, die sich jedoch an einigen Stellen zu sehr prägnanten Aussagen verdichtet. Dies kann in aphorismenhaft gestalteter Sprache geschehen, zum Beispiel im Essay Über die Moden, wo es heißt: „Der erste Schritt verfeinerter Sitten ist die Nachahmung dessen, was andre für schön halten: der letzte ist die eigne Wahl dessen, was man als schön erkennt.“96 Oder es geschieht, indem Beobachtungen im Modus wissenschaftlicher Sachlichkeit zu Gesetzmäßigkeiten erhoben werden, so im gleichen Essay: „Jeder Mensch zeigt die Classe, zu der er gehört, durch den Wohlstand an, welchen er beobachtet.“97 Der interdiskursive Charakter des Essays zeigt sich darin, dass beiden Registern der Erkenntnisvermittlung – dem literarischen und dem wissenschaftlichen (hier: soziologischen) – der gleiche Wahrheitsanspruch eingeräumt wird. Obgleich das essayistische Ich seine Beobachtungen über den Erkenntnisprozess in diesem ersten Abschnitt durchgängig als selbst erlebte vorstellt, kommt der Eindruck einer Wiedergabe tatsächlich individueller Phänomene nicht zustande. Garve versucht, seine subjektiven Erfahrungen zu repräsentativer Gültigkeit zu erheben, indem er sie anthropologisch verallgemeinert, und damit eine repräsentative Subjektform zu schaffen. Der Selbstverpflichtung auf den mittleren Stil des populären Schreibens in der Ausarbeitung kommt in dieser Übung eine zentrale therapeutische Funktion zu: Sie soll diejenige harmonische Gemütslage hervorrufen und einüben, in der alle Seelenkräfte des Menschen ungehindert zusammenwirken. Durch die permanente Anstrengung, die eigenen Erfahrungen anthropologisch zu generalisieren, wird eine Identität als Ent-Individualisierung eingübt. Ein ästhetischer Selbstgenuss im Sinne Montaignes bildet dabei die notwendige Voraussetzung jeglicher reflexiven Tätigkeit. Die Erfahrungen liefern das Material für die Meditation, und die Vernunft ordnet und bewertet die gefundenen Erkenntnisse. Erfahrung und Vernunft allein und für sich betrachtet sind nach Garve jedoch blind, wenn nicht die Phantasie hinzukommt. Dieser Aspekt ist in der Forschungsliteratur, die sich mit Garve als Popularphilosoph befasst, wenig berücksichtigt worden.98 Garve verleibt seine Theorie des populären Stils in den Versuchen seiner 96 97 98
Christian Garve: Über die Moden. In: Ders.: Versuche 1, 1. Teil (1792), S. 117‒294, hier S. 142. Ebd., S. 180. Claus Altmayer, der sich ausführlich mit den Inhalten von Garves Popularphilosophie auseinandersetzt, stellt keine Untersuchungen zur Schreibweise der Essays an. Er schließt seine Ausführungen jedoch mit dem Hinweis ab, dass „eine historische Aufarbeitung dieses Werkes [von Garve, N.H.] unter dem formal-ästhetischen Gesichtspunkt der spezifischen Schreibweise
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essayistischen Selbsttechnik ein. Popularität wird hier zu einem auch selbstbezüglichen Verfahren. Die Erkenntnis, dass der Abfassung des Essays eine Phase der Kontemplation und der bewussten Evozierung ästhetischer Erfahrungen vorausgeht, kann dazu beitragen, eine einseitige Beurteilung der Essayistik Garves zu korrigieren. Der zweite Teil der Beobachtungen über die Kunst zu denken, der sich in sechs Unterabschnitte gliedert, befasst sich mit sogenannten unterschiedlichen „Methoden des Denkens“. Garve unterscheidet hier zunächst allgemein zwischen zwei Arten von Methoden: denen, die sich aus der Beschaffenheit eines Gegenstandes notwendig ergäben und Grundlage der einzelnen Wissenschaften seien, und den frei wählbaren Methoden, deren sich der Philosoph bei seiner Tätigkeit des Selbstdenkens je nach persönlicher Vorliebe oder Intention bedienen könne. Garve interessiert sich nur für die letzte Art von Methoden, woraus deutlich wird, dass es ihm in seinem Essay nur um die Philosophie, insofern sie keine Wissenschaft ist, geht. In Bezug auf die frei wählbaren Methoden unterscheidet Garve wiederum zwei Arten, die systematische oder „Methode des Unterrichts“, die er auch als „mathematische Methode“ bezeichnet (und die somit der Wolff’schen Methode entspricht), und die „Sokratische“ oder „Methode des Erfindens“. Als Unterarten dieser „Sokratischen Methode“ benennt er die „historische“, die „widerlegende“, die „kommentierende“ und die „beobachtende Methode“.99 Was sich hier hinter Garves „Sokratischer Methode“ und ihren Untergruppen verbirgt, offenbart sich im weiteren Fortgang des Textes als eine Theorie des Essayismus, in die Garve den Essay unter der Bezeichnung „philosophischer Versuch“ als bedeutendste literarische Form einordnet. Die „Sokratische Methode“ bezeichnet Garve zunächst gemäß seinem Verständnis von Essayistik als eine „Poesie, die sich in Philosophie auflöset“.100 Charakteristisch sei für sie die Vorgehensweise, vom Besonderen auszugehen, um daraus allgemeine Wahrheiten zu folgern. Dabei lasse der Autor den Leser nachvollziehen, wie sich seine Gedanken entwickelten. Garve benennt als Muster der „Sokratischen Methode“ Lessing und Engel, den Herausgeber des Philosophen für die Welt. Garve betrachtet die „Sokratische Methode“ als eine Alternative zur Wissenschaft, die dem Charakter des Weltmannes angemessen ist: „Der bloß speculative Kopf nimmt immer gerne den Weg a priori: nur der, durch Kunst, Geschichte und Welterfahrung, mit sinnlichen und praktischen Gegenständen Bekannte wählt den Weg a posteriori und verfolgt ihn mit Glücke.“101 Nachdem Garve hier die „Sokratische Methode“ als eine aufgeschlossene Haltung zur Welt, ein paritätisches Kommunikationsverhalten gegenüber dem Leser
99 100 101
seiner Essays“ ein Desiderat bilde. Vgl. Claus Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie. Bürgerliches Individuum und Öffentlichkeit bei Christian Garve. St. Ingbert 1992, S. 713. Vgl. Garve: Kunst zu denken, S. 331f. Vgl. ebd., S. 344. Ebd., S. 345.
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und eine induktive Verfahrensweise beschrieben hat, geht er dazu über, Ausdifferenzierungen dieser Methode näher darzustellen. Die „historische“ Methode bezeichne das Abfassen einer philosophischen Erzählung, die entweder auf Fakten basieren (zum Beispiel im Fall einer Autobiographie) oder fiktiv sein könne (hier nennt Garve als Beispiel Rousseaus Roman Émile). Garve bewertet das Erdichten einer philosophischen Geschichte als wertvolle geistige Übung: Der Meditierende solle sich sein Thema als Einzelfall vorstellen, eine Romanhandlung daraus entwickeln und dann die allgemeinen Begriffe aus seiner eigenen Schöpfung ziehen.102 Die mit anthropologischen Reflexionen verbundene Dichtung stellt also nach Garve eine Methode dar, durch die der Autor seine Erkenntnisfähigkeiten schulen könne und durch die er tiefer gehende Einsichten erlange als aus der deduktiven Herleitung allgemeiner Aussagen aus Prinzipien. Die Einbildungskraft bringe das gesammelte Wissen und den Erfahrungsschatz des Philosophen in einer erdichteten Handlung zusammen und biete auf diese Weise der Vernunft das Material der Zergliederung. Garves Idee, dem essayistischen Text einen fiktionalen ‚Vorspann‘ vorausgehen zu lassen, stellt in der Geschichte der Konzeptionen des Essays im 18. Jahrhundert eine epistemologische Radikalisierung zugunsten der Phantasie dar. Als zweite Unterart der „Sokratischen Methode“ widmet sich Garve der „widerlegenden Methode“, worunter er letztlich die Kritik versteht. Als zentrale Technik benennt er hier die Dialektik, die es dem Autor im Selbstgespräch ermögliche, eine Streitfrage aus mehreren Perspektiven zu erörtern.103 Garve betont, dass die „widerlegende Methode“ nur dann adäquat angewendet werde, wenn der Philosoph stets auch die Option mitbedenke, dass er sich gegebenenfalls selbst widerlegen müsse. Ansonsten könne die „widerlegende Methode“ auch problematisch sein, da sie „von der Sache weg“ führe.104 Garve hat hier offenbar das Umschlagen der echten Kritik in die bloß vorgetäuschte Kritik, die Polemik, vor Augen. An die „widerlegende Methode“ schließt sich in Garves Ausführungen die „kommentierende“ an, womit er die Texthermeneutik (oder auch die Übersetzung) bezeichnet. Garve sieht die Auslegung lediglich als „Übergang vom Lernen zum Selbstdenken“ an.105 Als gravierende Fehler der „kommentierenden Methode“ betrachtet er eine unangemessene Autoritätsgläubigkeit, die Einschränkung der Auslegung auf den bloßen Wortverstand oder die Umschreibung des Textinhalts, die außer einer rhetorischen Fertigkeit keine Erkenntnisleistung erkennen lasse.106 Allein die identifikatorische Auslegung wird anerkannt: Der Leser müsse sich an die Stelle des Autors versetzen. Auf diese Weise verbindet er nach Garve automatisch
102 103 104 105 106
Vgl. Garve: Kunst zu denken, S. 359. Vgl. ebd., S. 380. Vgl. ebd., S. 372. Vgl. ebd., S. 384. Vgl. ebd., S. 391.
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Auslegung und Kritik und komme zu Erkenntnissen, die über diejenigen des untersuchten Autors hinausgingen.107 Als letzte Ausdifferenzierung der Methoden des Denkens führt Garve die „beobachtende“ ein, zu deren Vertretern er sich selbst zählt und die er ohne Zweifel höher als die zuvor benannten schätzt. Diese grenzt er jedoch sowohl von der induktiven sokratischen Methode als auch von der deduktiven Methode im Sinne Kants ab. Bei der beobachtenden Methode handele es sich um eine Mischung aus Philosophie, Geschichte und Literatur, die nur ein „mit dem schönen Geiste verbundne[s] philosophische[s] Genie“ hervorbringen könne.108 Zur Beschreibung der „beobachtenden“ Methode führt Garve hier auch erstmals den Begriff Gattung ein und betont, dass es für die beobachtende Meditation keine bestimmten Regeln gebe, da sie allein durch die individuelle „Manier“ des jeweiligen Schriftstellers geprägt werde.109 Daher ist für Garve eine Bestimmung der allgemeinen Charakteristika der Gattung nur induktiv durch einen Stilvergleich möglich, und er kündigt an, dem Leser diesen zu liefern: Ich glaube daher, diesen Aufsatz nicht besser, als mit einer Vergleichung der Denkart dreyer Männer […], die, nach meinem Urtheile, Meister in derjenigen Gattung der Meditation sind, von der ich zuletzt geredet habe und dabey doch so sehr von einander abweichen, daß das Allgemeine der Gattung, aus den Puncten worin sie übereinstimmen, und die Unterschiede der Arten, aus den Eigenthümlichkeiten wodurch sie sich auszeichnen, sehr bequem abgezogen werden können. ― Diese Männer sind Montaigne, Hume und Montesquieu.110
Und hier, auf der untersten Ebene der analytischen Aufgliederung und beim Vergleich der drei Autoren gelangt Garve zur Beschreibung des Essays als literarischer Form. Montaignes Selbstgespräche seien geistreich und sein Charakter – selbst im „Geschwätze“ beeindruckend; doch seine Schreibweise sei nur geeignet für „die, an Geist und Herz vorzüglichen, Menschen“.111 Besonders aufschlussreich ist Garves Einschätzung der Essais Montaignes als eines primär ästhetischen Werkes: Mit einem Worte, eine solche Meditation als Montaignes Versuchen zum Grunde liegt, ist nicht eine Ü b u n g des Geistes, wodurch er vollkommner wird; es ist nicht eine Ar b e i t des Geistes, wodurch er etwas, einem Ideal gemäß, hervorbringt; es ist bloß die Thätigkeit eines geistigen Selbstgenusses, wobey der Mensch sich ganz so zeigt wie er ist, und, ohne sich anzustrengen, seiner Natur gemäß wirkt.112
In der Charakteristik Montaignes führt Garve noch einmal alle Aspekte zusammen, die denjenigen Teil seiner eigenen Selbsttechnik bestimmen, der als Selbstästhetik gekennzeichnet ist. Dass er sich Montaigne hier dennoch nicht zum primären Vorbild wählt, obgleich die Vorrede der Versuche etwas anderes suggeriert, ist dem 107 108 109 110 111 112
Vgl. Garve: Kunst zu denken, S. 392. Vgl. ebd., S. 404. Vgl. ebd., S. 405. Ebd., S. 405. Vgl. ebd., S. 408f. Ebd., S. 410.
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Umstand geschuldet, dass Garve mit seinen Essays über den „geistigen Selbstgenuss“ hinausgehen will. Montesquieus „epigrammatisch“ kurze Schreibweise in kleinen Absätzen stellt für ihn einen stilistischen Gegenpol zu Montaigne dar. Sie setze einen gebildeten Leser voraus, der bereits bekanntes Wissen festigen und einige neue Impulse erhalten wolle. Garve sieht hier als Zielgruppe den – gegebenenfalls auch adligen – „Weltmann“ und resümiert somit diejenige Konzeption des essayistischen Schreibens, die bereits von Trublet ausformuliert wurde. Den fehlenden Zusammenhang der einzelnen Gedanken untereinander und die Tendenz, diese zu Sinnsprüchen zuzuspitzen, betrachtet Garve jedoch als einen Fehler Montesquieus, da diese Vorgehensweise Missverständnisse provoziere. Als Idealform des „philosophischen Versuches“ benennt Garve daher die Essays David Humes, die in deutlicher Sprache einen Mittelweg zwischen Montaigne und Montesquieu beschritten: Und eben diese glückliche Vereinigung des Genies, welches Begriffe erfindet, ohne sie zu suchen, mit der Vernunft, welche sie nach Regeln zergliedert, ordnet und verknüpft, macht das Ideal für die Meditation überhaupt, und für diese Gattung derselben ins besondre aus. Hume nähert sich demselben sehr oft: und ich gestehe daher, daß unter allen philosophischen Schriften keine sind, welchen ich meine eignen Versuche ähnlich zu sehen mehr wünschte, als die seinigen.113
Diese Ausdifferenzierung essayistischen Schreibens zeichnet sich also durch eine Verbindung eines ästhetischen Selbstgenusses im Sinne Montaignes aus, der den Inventionsprozess ermöglicht, und eine vernünftigen Auswertung der Ergebnisse in Verbindung mit ihrer popularphilosophischen Darstellung. Selbstvervollkommung sei das Ergebnis dieses komplementären Vorgangs, der Verbindung von ästhetischem Selbstgenuss und therapeutischer Mäßigung. Garve beschreibt ihn an anderer Stelle emphatisch: Doch, wer nur jemahls der Wollust des einsamen und stillen Nachdenkens genossen, — wer je erfahren hat, mit welcher Ruhe und Heiterkeit Meditationen das Gemüth erfüllen, in denen wir uns selbst unser Innerstes aufschließen, von Empfindungen zu Gedanken hin und her schwanken, und ohne irgend einen andern Trieb, als den nach Wahrheit, nach moralischer Veredlung und nach Beruhigung des Herzens, den Wegen der Natur und der Vorsehung nachspüren: der wird nicht ermuntert werden dürfen, diese einsame Beschäftigung allen glänzenden Vergnügungen in der Gesellschaft, allen Gewinn bringenden Geschäften und selbst gelehrten Arbeiten vorzuziehn.114
Garves Beobachtungen über die Kunst zu denken führen also dem Leser sein Programm des philosophischen Versuchs als einer „beobachtenden Methode“ vor, noch während der Autor es entwickelt. Ausgehend von einer Erkenntnistheorie, welche die ästhetische Erfahrung als einzig legitimen Ursprung neuer Erkenntnis bestimmt, entwickelt der Text die Konzeption eines in der Ausführung vernunftba113 114
Garve: Kunst zu denken, 426f. Garve: Gesellschaft und Einsamkeit, S. 184.
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sierten essayistischen Schreibens, in das Garve sein Verständnis von Popularphilosophie nahtlos integriert. Er gelangt auf diese Weise schließlich nicht nur zu einer Bestimmung des essayistischen Schreibens als einer gattungsübergreifenden geistigen Haltung (wie Schärf und Müller-Funk den Begriff Essayismus definieren), sondern auch zu einer Einordnung des Essays als literarischer Form in das System philosophischen Denkens. Altmayer hat in seiner Untersuchung der Popularphilosophie Garves festgestellt, dass Garve bei der Bestimmung der Methoden des Denkens eine unklare Systematik verwende, da er die Methoden immer wieder anders zusammenfasse oder voneinander abgrenze.115 Dieser Umstand erklärt sich bei einer genaueren Betrachtung der Veränderung in den Gruppierungen jedoch schnell: Es handelt sich um eine essayistisch offene Systematik, die im Prozess des Denkens immer wieder modifiziert und präzisiert wird, um ein Traktat in progress. So führt Garve zunächst alle sechs Methoden des Denkens auf, die ihm spontan einfallen. Er stellt dabei nur eine systematische „Methode des Unterrichts“ und eine „Sokratischen Methode“ der Erfindung einander gegenüber und fügt vier weitere Methoden hinzu (die „historische“, die „widerlegende“, die „kommentierende“ und die „beobachtende“), die jedoch nicht näher bestimmt werden. In einem weiteren Schritt gelangt Garve zu der Erkenntnis, dass sich alle vier zusätzlichen Methoden unter die „Sokratische“ subsumieren ließen. In einem folgenden Schritt hält er es dann für notwendig, die „beobachtende Methode“ besonders hervorzuheben und in ihr das Wirken von Vernunftgründen zu betonen. Er macht damit deutlich, dass die „beobachtende Methode“ im Hinblick auf die Wissenschaften nicht eigentlich erfindend sei, sondern Vorhandenes ergänze und interdiskursiv Verbindungen zwischen getrennten wissenschaftlichen Gebieten herstelle. Während der „beobachtenden Methode“ nach Garve hinsichtlich der essayistischen Erfindung unter den „Sokratischen Methoden“ der höchste Status zukommt (da in ihr das größte Maß an Poesie und selbsttätigem Denken erforderlich sei), wird ihre Geltung im Vergleich zu den Systemen der Philosophie abschließend wieder zurückgenommen. Die argumentativen Widersprüche, die sich aus dieser schwankenden Selbstpositionierung ergeben, erweisen auch Garves Essayistik als Fortsetzung der experimentellen Selbstästhetik. Auffällig ist die Übereinstimmung von Garves Essayistik-Verständnis mit demjenigen Forsters. Die absolute Aufwertung der Phantasie als Erkenntnismittel im Essay gegenüber der Vernunft wird auch von Forster betont. Es lässt sich hier eine Verbindungslinie von Creuz, über Herder und Forster bis hin zu Garve ziehen. Am Ende seines Essays Die Kunst und das Zeitalter (1789) formuliert Forster in einer längeren Fußnote seine Erkenntnistheorie des Essays: Die Unvollkommenheiten dieses flüchtigen Aufsatzes wird man vielleicht eher entschuldigen, wenn man erwägt, daß er nur die ersten Ansichten der Phantasie über einen Gegenstand ent115
Vgl. Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie, S. 629f.
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hält, dessen vollständige und bestimmte Ausführung metaphysischen Ernst erheischte. Billige Richter kennen die Verwickelungen, welche den Schriftsteller oft unwillkührlich für diese oder jene Art der Composition bestimmen, und wissen, daß im Augenblick der Begeisterung manche Idee nur angedeutet werden kann, daß ein Gefühl des vorübereilienden Augenblicks, womit man Wahrheit zu ahnden glaubt, um der Mittheilung fähig zu werden, nur als ein halbdunkles Bild erscheinen darf. Allein es sey ferne, daß diese Kleinigkeit auf eine Kritik Anspruch machte. Als Meditation über eine individuelle Empfindungsart mag sie bey den Lesern anfragen, ob sich jemand unter ihnen finde, dessen Gefühl sich in ihren Gesichtspunkt versetzen kann?116
Es fällt sofort ins Auge, dass Forster wie Garve die Bedeutung von Phantasie und Begeisterung als Quelle der Erkenntnis im Essay betont. Allerdings trennt Forster nicht – wie Garve – scharf zwischen einer imaginativen Phase der Erkenntnisfindung und der populären Präsentation der Ergebnisse. Stattdessen soll der Essay bei Forster ein möglichst authentisches Bild des imaginativen Prozesses als „halbdunkles Bild“ liefern. Was den philosophischen Geltungsanspruch der eigenen Konzeption betrifft, zeigt Garve eine gewisse Unschlüssigkeit: Zum einen scheint er die „Sokratische Methode“ durch ihre differenzierte Behandlung als Methode der Erfindung neuer Wahrheiten überhaupt gegenüber den Wissenschaften aufwerten zu wollen. Auch seine Aussage, die „Sokratische Methode“ entspreche der natürlichen Wahl des Weltmannes, der sich philosophisch betätigen wolle, unterstützt diesen Eindruck. Andererseits nimmt Garve in einer abschließenden Fußnote zu seinem eigenen Essay einiges von diesem Geltungsanspruch wieder zurück. Hier räumt er ein, die Beschäftigung mit philosophischen Systemen wie demjenigen Kants sei eine wesentlich bedeutendere Schulung der Denkkraft, und die Übung an essayistischen Texten diene lediglich der philosophischen Erziehung.117 In diesem Kommentar zu seinem eigenen Essay wird Garve der geforderten Fähigkeit zur Selbstwiderlegung gerecht. Allerdings kann die Tatsache, dass er dieses Gegenargument in einer Fußnote und nicht im Haupttext diskutiert, wiederum als Kommentar ihrer subjektiven Relevanz gelesen werden. Während Garve seine Versuche mit einer Selbststilisierung nach dem Vorbild Montaignes einrahmt, beendet er seine Ausführungen zur „beobachtenden Methode“ mit einem Verweis auf Bacon, den er als den „Vater und Stifter derselben in der neueren Philosophie“ bezeichnet.118 Ungewöhnlich ist, dass Garve an Bacons
116
Georg Forster: Die Kunst und das Zeitalter. In Ders: Kleine Schriften. Ein Beytrag zur Völkerund Länderkunde, Naturgeschichte und Philosophie des Lebens. 3. Teil. Berlin: Voß 1794. S. 283‒308, hier S. 308. Ewert hält in gleichem Sinne zu Forsters essayistischer Schreibweise fest: „In Opposition zu den aufkeimenden Denaturierungs- und Enthumanisierungstendenzen, die mit polemischer Kritik belegt werden, teilt sich im Medium des Essays eine von Empfindung und Phantasie bestimmte Art des Verstehens mit, die Anschaulichkeit zu vermitteln und die Sinneseindrücke des Lesers anzuregen sucht.“ (Ewert: Forsters Leckereyen, S. 22.) 117 Vgl. Garve: Kunst zu denken, S. 429f. 118 Vgl. ebd., S. 427.
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Werk De Augmentis Scientiarum vor allem dessen ästhetischen Wert und die daraus erzielte Wirkung lobt: [I]ch erinnere mich daher der Zeit, welche ich mit der Lesung desselben zubrachte, eben so wie der, worin ich die neue Heloise, die Clarissa, die Leiden des jungen Werthers, Nathan, Oberon oder irgend ein Werk des Genies, das zugleich auf Verstand, Einbildungskraft und Empfindung wirkt, las, als der Zeit eines höchst angenehmen Selbstgenusses.119
Diese Bewertung der Essayistik Bacons zeigt noch einmal, welche zentrale Bedeutung die ästhetische Erfahrung als Erkenntnismittel für Garves Verständnis des Essays und auch des Essayismus hat. Das Besondere an Garves Entwurf der Essayistik ist das komplementäre, zweistufige Modell, das er ihr zugrunde legt: Die erste Stufe bildet eine poetische Meditation, die einzig und allein dem ästhetischen Selbstgenuss dient und auf diese Weise zum Entstehungsort neuer Erkenntnisse wird, die nach Garves Ansicht weder durch empirische Beobachtung noch durch spekulative Verstandestätigkeit hervorgebracht werden können. Indem der Meditierende sein Bewusstsein zu einem Ort ästhetischer Erfahrung macht, erfährt er seine eigene geistige Autonomie. Die zweite Stufe der Praxis bildet die Abfassung des Essays durch Selektion und anthropologische Generalisierung der gefundenen Erkenntnisse. Von der poetischen Tätigkeit gelangen nur dann einige Elemente in den Text, wenn sie dem Anspruch auf Popularität genügen. Insgesamt hält Garve jedoch die individuelle ästhetische Erfahrung für sprachlich nicht vermittelbar. Daher kann er auf diese Stufe seiner essayistischen Selbsttechnik auch nur mittelbar, durch eine Beschreibung des Vorgangs, Bezug nehmen. Angesichts der Ausführlichkeit, in der Garve sich mit dem essayistischen Schreiben auseinandersetzt, ist es erstaunlich, dass gerade ihm die Eigenschaft, ein Essayist zu sein, vielfach abgesprochen worden ist. Dabei hat Garve selbst eines der treffendsten literarischen Portraits des Essayisten der Aufklärung verfasst: Geräuschlos, ruhig, von keinem Reitze der Sinne, von keinen Leidenschaften gestört, selbst von der Eitelkeit unversucht, die sich so leicht in alle Geistesübungen einmischt, sitzt der Mann, der nicht als Autor fürs Publicum, sondern als wißbegieriger Mensch zu seiner eignen Belehrung seine Gedanken niederschreibt, an seinem Pulte. Lebhaft und anhaltend genug beschäftiget, um von seinen Geistesfähigkeiten allen möglichen Gebrauch zu machen, ist er doch, in Absicht des Erfolgs seiner Arbeit, unbekümmert, und von allen Rücksichten des Ehrgeitzes und des Eigennutzes, welche seine Thätigkeit im gesellschaftlichen Leben mißleiten, auf das weiteste entfernt. Wenn, in irgend einem Zustande, reine Wahrheitsliebe den Menschen beleben, und ein unbefangner Blick auf die Dinge der Welt sie ihm in ihrer wahren Gestalt zeigen kann: so muß es bey Verfertigung solcher schriftlichen Aufsätze seyn, bey denen Entwickelung oder Aufbehaltung seiner eignen bessern Ideen, seine einzige Absicht sind.120
119 120
Garve: Kunst zu denken, S. 427. Garve: Gesellschaft und Einsamkeit, S. 164.
VI. Fazit und Ausblick Im Verlauf des 18. Jahrhunderts etabliert sich das Verfassen und Lesen von Essays als eine literarische Praxis, die unter immer wieder neuen Rahmenbedingungen gesellschaftliche Wertvorstellungen aushandelt und bürgerliche Subjektivität entwirft. Das essayistische Ich, das im Aufklärungsessay zum Identifikationsmoment bei der Darstellung musterhafter Selbstbildungen wird, durchläuft dabei eine Reihe von Metamorphosen. Diese werden in erster Linie von neuen Erkenntnissen in den Bereichen Philosophie, Naturgeschichte und Ästhetik veranlasst. Doch auch die Französische Revolution führt als einschneidendes Ereignis zu einer veränderten Sichtweise auf die Möglichkeiten und Aufgaben des Essays als Textform. Die Analyse einzelner aussagekräftiger Essays in dieser Studie hat gezeigt, dass sich die Funktion des Aufklärungsessays als Selbsttechnik anhand einer Typologie des essayistischen Ichs beschreiben lässt, das die Identitätsbildung im und durch den Essay vor allem als eine Aneignung und Erprobung bestimmter Denk- und Verhaltensmuster versteht. Die wichtigsten Ergebnisse der Untersuchung sind folgende: Die bürgerlichen Subjektformen, die sich in der Essayistik des 18. Jahrhunderts herausbilden, sind wesentlich heterogener, als man es auf der Basis von Reckwitz’ kultursoziologischer Darstellung der Subjektformen dieses Zeitraums erwarten würde. Zwar markieren das „moralisch-souveräne Allgemeinsubjekt“ und die radikalästhetische „romantische“ Subjektform die beiden Grenzen, zwischen denen sich essayistische Selbstreflexion entfaltet. Das Verhältnis von Rationalität und Ästhetik/Imagination wird jedoch seit dem frühen 18. Jahrhundert ständig neu bestimmt und kann dabei idiosynkratische Formen annehmen. Bis 1800 können in der deutschsprachigen Essayistik vier unterschiedliche Spielarten des essayistischen Ichs identifiziert werden: ein repräsentatives, ein experimentelles, ein exemplarisches und – dies wird im Folgenden zu zeigen sein – ein romantisches Ich. Die Gattungsdiskussion, die diese Entwicklungen begleitet, artikuliert sich selten in separaten theoretischen Schriften. Eigenständige Essays über den Essay bilden eine Ausnahme und erscheinen in der Regel in englischer oder französischer Sprache. Besonders im deutschsprachigen Raum erfolgt die gattungstheoretische Diskussion über ein engmaschiges interdiskursives Verweissystem, in dem Essays im Modus der Anspielung auf andere Essays Bezug nehmen, Motive adaptieren und umdeuten oder satirisch gegen bestimmte Aussagen zu Felde ziehen. Wichtige Beispiele dafür bilden der positive oder negative Bezug auf Francis Bacon und Michel de Montaigne und die mit ihnen assoziierten Selbsttechniken oder die architektonische Seelen-Metaphorik, die in der Essayistik des Sturm und Drang zirkuliert. Leichte Abwandlungen der Bildsprache können bereits den Widerruf oder die Transformation einer Subjektform bedeuten. Wie sehr den Essayisten daran
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VI. Fazit und Ausblick
gelegen ist, ein solches intertextuelles Verweissystem zu etablieren, ist eines der überraschendsten Ergebnisse der Untersuchung. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird die Essayistik durch die Episteme der Repräsentation bestimmt. Sie organisiert sich als ein moralistischer Interdiskurs mit einem repräsentativen Ich, über das sich sowohl die Verfasserinnen und Verfasser essayistischer Texte als auch ihr Lesepublikum die Fähigkeit zur rationalen Reflexion und zur Mäßigung der Affekte aneignen sollen. Besonders die Moralischen Wochenschriften vermitteln die Botschaft, dass der Einzelne seine Leidenschaften nicht unterdrücken, sondern sie zielgerichtet zu seinem Vorteil einsetzen solle. Damit diene er letztlich dem Allgemeinwohl. Die Selbsttechnik folgt hierzu einem therapeutischen Modell, das an das stoische Konzept der Selbstaneignung angelehnt ist und den Einzelnen zu seiner vernünftigen Natur zurückführen soll. Das Muster dieser Selbsttechnik liefert die Essayistik Bacons, welche die freiwillige Unterwerfung des Einzelnen unter das Gesetz der Vernunft propagiert. Die innovativen Impulse für den Entwurf einer Aufklärungsessayistik kommen aus England. An erster Stelle stehen dabei Joseph Addisons Reflexionen über den Essay im Spectator aus den Jahren 1711 und 1712. Es ist Addison, der den Essay in seiner Funktion als bürgerliche Selbsttechnik definiert und mithilfe seines Periodikums popularisiert. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bleiben die SpectatorEssays – auch für die französische und deutschsprachige Essayistik – ein zentraler Bezugspunkt in der gattungstheoretischen Diskussion. Schon hier zeigt sich, dass die repräsentative Subjektivität des Essays nicht bruchlos angelegt ist. Addison und Shaftesbury entwerfen eine klassizistische Doppelkonzeption des Essays, derzufolge der Essay entweder eine kleine, rhetorisch durchstrukturierte Abhandlung oder eine assoziative, regellose Komposition sein kann. Für das letztere EssayVerständnis stehen die Essais Montaignes Pate, die nicht als Therapie des Selbst, sondern als Selbstästhetik angelegt sind. Das ironische Spiel mit der Selbstbeschreibung und der Skeptizismus, der diesem Spiel zugrunde liegt, machen Montaignes Essayistik für die Aufklärung zu einem ästhetischen Faszinosum. Schon Addison sieht in Montaigne vor allem den genialen Künstler, dessen Texte jedoch lediglich zum Zweck des ästhetischen Genusses rezipiert werden dürften. Im Verhältnis zur therapeutischen Selbsttechnik nehmen sie einen prekären Status ein und sind mit Vorbehalten verknüpft, die sich noch aus der christlichen MontaignePolemik des 17. Jahrhunderts speisen. Denn psychologische Introspektion im Sinne Montaignes ist für die Essayistik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kein Thema. Sie zielt stattdessen darauf ab, Formen des egalitären gesellschaftlichen Austausches über Fragen lebenspraktischer Philosophie zu schaffen. Die essayistische Praxis schließt dabei das stille Lesen und Reflektieren von Essays, das Gespräch über solche Texte in Kaffeehäusern und Salons sowie das eigenständige Verfassen essayistischer Texte ein. Dieses Essay-Verständnis wird in die deutschsprachigen Moralischen Wochenschriften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts übernommen. In den beiden
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Wochenschriften, die hier behandelt wurden (Die Discourse der Mahlern von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger sowie Der Gesellige von Georg Friedrich Meier und Samuel Gotthold Lange), wird die therapeutische Selbsttechnik als eine Selbst- und Fremdhermeneutik präsentiert, die Einstellungs- und Verhaltensänderungen über das Identifizieren von Typen menschlichen Fehlverhaltens erreichen will. Auffällig ist dabei vor allem die enge interdiskursive Verbindung der Bereiche Text- und Kunstkritik mit der moralistischen Verhaltensbeobachtung, die den gleichen rationalen Verstehensregeln folgen. Außerdem weisen die vielfältigen Bezüge auf religiöse Überzeugungen in den Essays darauf hin, dass die moralistische Essayistik auch als christliche Erbauungsliteratur gelesen wird. Die Überschneidung solcher Praktiken führt teilweise zu logischen Widersprüchen innerhalb der Texte, die jedoch von ihren Verfassern und Lesern nicht unbedingt als solche wahrgenommen oder problematisiert werden müssen. Die rasche Entstehung einer naturrechtlich geprägten, moralistischen Essayistik, die sich zunächst an ein unspezifisches Publikum richtet, bewirkt eine sprunghafte Liberalisierung der öffentlichen Reflexion, deren Grenzen erst wieder festgesteckt werden müssen. Hieraus erklärt es sich, dass in den 1730er Jahren die Leipziger Autorin Christiana Mariana von Ziegler selbstständig Essays publizieren kann, die auf dem Modell der Moralischen Wochenschriften basieren. Ihre Adaption eines repräsentativen essayistischen Ichs macht deutlich, dass dieses an einen männlichen Sprecher gebunden ist. Indem Ziegler sich die Autorität eines solchen Ichs aneignet, ergreift sie die Möglichkeit, die der moralistische Interdiskurs ihr anbietet, sich gleichberechtigt am öffentlichen vernünftigen Diskurs zu beteiligen. Zu einer breiteren essayistischen Betätigung von Frauen kommt es im deutschsprachigen Raum jedoch erst seit dem späten 18. Jahrhundert in Form von Brief-Essays und Reiseberichten. Von den Discoursen der Mahlern in den 1720er Jahren zum Geselligen Ende der 1740er Jahre zeichnet sich bereits eine starke Aufwertung des Ästhetischen und der Imagination ab. Im Geselligen sind moralische Verbesserung und ästhetische Bildung bereits gleichwertig und bedingen sich wechselseitig. Die Aufwertung der unteren Erkenntnisvermögen ist Teil der „kulturellen Inversion“ (nach Reckwitz), die mit der Ablösung der Episteme der Repräsentation durch die Episteme des Menschen stattfindet. In der Essayistik treten moralische Fragestellungen in den Hintergrund und werden durch neue psychologische und anthropologische Reflexionen ersetzt. Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung und empirischer Selbstbeobachtung werden zur Basis neuer Erkenntnis. Da sich der Reflexionsprozess öffnet und nicht mehr auf das Erreichen eines festgesetzten Zieles ausgerichtet ist, entsteht in der Essayistik ein experimentelles Ich. Über den Einsatz von Perspektivenwechseln und die gezielte Produktion paradoxer Aussagen wird der Erkenntnisfortschritt der Leserinnen und Leser befördert. Identitätsbildung erscheint nun nicht mehr als Aneignung eines vernünftigen Prinzips, sondern als ein tendenziell unendlicher Prozess der Konstruktion und Destruktion von Wahrheit,
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der als ästhetische Erfahrung literarisch gestaltet wird. Montaignes anthropologische Essayistik mit ihrem Prinzip der Selbstbeschreibung durch kontinuierliche Selbstverfremdung wird nun stark aufgewertet. Als ein frühes Beispiel der Adaption einer Selbstästhetik im Sinne Montaignes konnte der Versuch über die Seele von Friedrich Carl Casimir von Creuz aus den frühen 1750er Jahren vorgestellt werden. Dieser Essay entwickelt in kritischer Auseinandersetzung mit dem französischen Materialismus eine experimentelle Subjektform und inszeniert den Widerstreit von skeptischem Zweifel und Glaubensgewissheit als ästhetische Erfahrung. Poetische Werke und naturgeschichtliche Erkenntnisse dienen dabei gleichermaßen zur Unterstützung der Argumentation und zur introspektiven Selbstaffektation. Die Aufwertung Montaignes macht sich auch darin bemerkbar, dass in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gleich zwei deutschsprachige Übersetzungen der Essais erscheinen. Diese Übersetzungen dienen nicht nur dazu, Montaignes Essais einem breiteren Publikum bekannt zu machen, sondern sind in erster Linie auch eine Selbsterprobung der deutschen Sprache und Kultur, die ihre Fortschritte in Auseinandersetzung mit diesem schwierigen Gegenstand unter Beweis stellen soll. Daher wird die frühere Übersetzung durch Johann Daniel Tietz aus den 1750er Jahren nach dem Erscheinen der späteren Übersetzung von Johann Joachim Christoph Bode in den 1790er Jahren stark abgewertet, auch wenn die in Rezensionen präsentierten Textvergleiche die Überlegenheit der Bode-Übersetzung eher suggerieren als tatsächlich nachweisen können. Zwischen den beiden Montaigne-Übersetzungen liegt die genieästhetisch geprägte Essayistik des Sturm und Drang, deren sprachschöpferische Leistungen die Möglichkeit aufzeigen, den Essay als literarisches Kunstwerk zu gestalten. Die Sturm-und-Drang-Essayistik, die in dieser Studie bei Goethe, Herder und Lenz untersucht wurde, entwirft ein Konzept exemplarischer Subjektivität, das in einem entsprechenden essayistischen Ich zum Ausdruck kommt. Galt das Selbst des Menschen bislang als ein relativ zufälliges Produkt der Erziehung und der frühkindlichen Prägung, so geht die Sturm-und-Drang-Essayistik von einem verborgenen, natürlichen Kern-Selbst aus, das sich von seinen zivilisatorischen Verbildungen befreien und seine individuelle Kreativität freisetzen müsse. Allerdings wird diese exemplarische Subjektivität bereits durch Herder historisch relativiert und durch Lenz ironisch und sozialkritisch gebrochen, sodass sie allein in Goethes Essayistik tatsächlich vollständig ausgeführt wird. Bis 1800 setzt sich die anthropologische Essayistik mit ihrem experimentellen Ich durch. Gleichwohl reflektieren Autoren wie Christoph Martin Wieland oder Georg Forster den Aufklärungsessay und die darin etablierten Aussagestrukturen in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zunehmend kritisch. Mithilfe von Ironie und gezielt herbeigeführten Paradoxien machen sie auf die Gefahren einer rational übersteigerten Aufklärung aufmerksam. Der Schwerpunkt verlagert sich zunehmend von der Untersuchung individualpsychologischer Zusammenhänge auf
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den Bereich des Gesellschaftlichen. Im Folgenden soll ein Ausblick darauf gegeben werden, welche Faktoren nach und nach zu einer Zersetzung des Genres Aufklärungsessay führen und in welche neuen Verwendungszusammenhänge der Essay nach 1800 eingebunden wird. Im ersten, einleitenden Kapitel dieser Untersuchung wurde bereits darauf verwiesen, dass Foucault sich in seinem Spätwerk die Untersuchung der möglichen Formen des „Wahrsprechens“ (der „Veridiktion“) zum Ziel gemacht hat. Foucault identifiziert vier grundlegende Formen des Wahrsprechens, deren Gegenüberstellung einen Aufschluss darüber geben kann, warum die Aufklärungsessayistik um 1800 ihre Funktion als Selbsttechnik verliert. Foucault bezeichnet diese Formen als die Veridiktion des „Propheten“, des „Weisen“, des „Lehrenden“ und des „Parrhesiasten“. Der Parrhesiast – also der freimütig Sprechende, der sich durch seine Offenheit selbst in Gefahr begebe – manifestiere sich in der Antike in der Gestalt des Sokrates.1 Foucault ordnet den unterschiedlichen Formen der Veridiktion bestimmte Zuständigkeitsbereiche zu: Zum Schicksal gehört eine Modalität der Veridiktion, die man in der Prophezeiung findet. Zum Sein gehört eine Modalität der Veridiktion, die man beim Weisen findet. Zur techne gehört eine Modalität der Veridiktion, die man beim Fachmann, Professor, Lehrer, Mann des Könnens findet. Und schließlich gehört zum ethos seine eigene Weise der Veridiktion in der Rede des Parrhesiasten und im Spiel der parrhesia. Prophezeiung, Weisheit, Lehre, parrhesia, das sind, glaube ich, vier Weisen der Veridiktion, die [erstens] verschiedene Persönlichkeiten bedingen, zweitens verschiedene Weisen des Sprechens erfordern und sich drittens auf verschiedene Gegenstände beziehen (Schicksal, Sein, techne, ethos).2
Die Aufklärungsessayistik beruft sich auf Sokrates als ihren Gewährsmann und bildet eine eigenständige Ausdifferenzierung des parrhesiastischen Sprechens im 18. Jahrhundert. Diejenige Form der Veridiktion, die Foucault als techne bezeichnet und die auch naturwissenschaftliche Kenntnisse mit einschließt, steht zur Essayistik als Selbsttechnik in einer produktiven Verbindung, da das empirisch erschlossene Wissen über die Welt und den Menschen dem Einzelnen zum Anlass und zum Gegenstand der Selbstreflexion wird. Diejenigen Modi der Veridiktion, die Foucault mit den Rolle des „Weisen“ und des „Propheten“ identifiziert, stellen jedoch eine Gefährdung des parrhesiastischen Sprechens dar, da sie die Kommunikationssituation des Aufklärungsessays zerstören, die auf lebenspraktischer Vernunft und egalitärem Austausch basiert. Dies zeigt sich schon in der Essayistik des Sturm und Drang, deren selbstüberhöhendes Pathos und individualistische Sprachgestaltung einen Grenzbereich des Aufklärungsessays markieren. Die andere Gefährdung findet sich in der Transzendentalphilosophie, die im Modus der Weisheit als eine gesetzgebende Instanz auftritt.
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Vgl. Foucault: Mut zur Wahrheit, S. 46. Ebd., S. 45.
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Die Konkurrenz dieser drei Modi der Veridiktion wird bereits im späten 18. Jahrhundert in der Aufklärungsessayistik reflektiert. So stellt Wieland sie in seinen Fragmenten im Teutschen Merkur nebeneinander und favorisiert das freimütige Formulieren relativer Wahrheiten als Mittelweg zwischen den Extremen: Und was haben wir also zu thun? Anstatt mit einander zu hadern, wo die Wahrheit sey? wer sie besitze? wer sie in ihrem schönsten Lichte gesehen? die meisten und deutlichsten Laute von ihr vernommen habe? — laßt uns im Frieden zusammengehen, oder, wenn wir des Gehens genug haben, unter den nächsten Schattengebenden Baum hinsitzen, und einander offenherzig und unbefangen erzählen, was jeder von ihr gesehen und gehört hat, oder glaubt gesehen und gehört zu haben; und ja nicht böse darüber werden, wenn sichs von ungefehr entdeckt, daß wir falsch gesehen oder gehört, oder gar (wie es brünstigen Liebhabern, die ihr zu nah kommen wollen, öfters begegnet) eine Wolke für die Göttin umarmt haben. […] Lasset uns den Himmel bitten, lieben Brüder, daß er uns vor der Krankheit bewahre, unsre Meynungen für Axiome und unumstößliche Wahrheiten anzusehen, und Andern als solche vorzutragen. Es ist ein widerlicher harter Ton um den Ton der Unfehlbarkeit; aber es giebt einen, der noch unaustehlicher ist — der Ton eines Energumenen, der, auf dem heiligen Dreyfuß sitzend, alle seine Reden als Orakelsprüche von sich giebt. — Bescheidenheit kann uns vor dem einen und vor dem andern sicher stellen.3
Um 1800 hat sich auch in der Essayistik ein elitäres und transzendentales Wahrheitsverständnis durchgesetzt, das sich bereits in Wielands Personifikation der Wahrheit als flüchtiger Göttin ankündigt. Das „Reich der Wahrheit“ als Ort eines gleichberechtigten, vernünftigen Austausches, in dem die „Freunde der Wahrheit“ sich versammeln können, verliert in allen Bereichen gesellschaftlicher Interaktion an Legitimität. Es findet ein Übergang von der empirischen Glückseligkeitslehre zur Kantischen Pflichtenethik statt. Christian Garve beschwört in seinen Versuchen die Kommunikationssituation der Aufklärungsessayistik noch einmal im großen Maßstab herauf und betreibt in seinen Essays die Einübung einer idealen vernünftigen Subjektivität. Dabei ist er sich durchaus bewusst, dass seine Selbsttechnik für die Zeitgenossen zunehmend als Anachronismus erscheint. So fasst Altmayer zusammen: Er [Garve] hält am Ideal des Schriftstellers als des Sachwalters von Vernunft und Humanität und am Ideal des Publikums als integrer, nur an der Wahrheit orientierter Instanz des moralischen und ästhetischen Urteils auch dann noch fest, als diese Ideale durch die Wirklichkeit, insbesondere durch die Durchsetzung kommerzieller Interessen auf dem literarischen Markt, einigermaßen diskreditiert und ihre reale Grundlage, nämlich die sich im Glauben an diese Ideale einig wissende aufgeklärte Öffentlichkeit in einzelne einander bekämpfende literarische Parteien zerfallen ist.4
Doch es gibt neben Garve auch andere Autoren um 1800, die um eine Erhaltung des Aufklärungsessays bemüht sind. So beginnt Johann Georg Heinzmann bereits 3 4
Wieland: Fragmente, S.16f. Altmayer: Aufklärung als Popularphilosophie, S. 707.
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1785 sein Projekt einer Anthologie unter dem Titel Litterarische Chronik und versammelt dort Texte der bedeutendsten Vertreter des deutschsprachigen Aufklärungsessays. Er erläutert sein Vorgehen damit, dass er gezielt ältere Aufsätze sammeln wolle, um den Veränderungen der Literatur im Zuge der Genieästhetik zu begegnen. Dementsprechend nimmt er auch keine Essays von Goethe auf.5 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts tritt insbesondere Herder mit seiner Zeitschrift Adrastea (1801‒03) noch einmal für die Aufklärungsessayistik in ihrer Funktion als Selbsttechnik ein. Sein Essay Gedanken (pensées), Maximen resümiert alle konventionellen Elemente, die den Essay zu einer „Übung an sich selbst“ machen.6 Im zweiten Stück des vierten Bandes der Adrastea von 1802 rückt Herder auch eine Übersetzung von Bacons Essay Von der Wahrheit ein, durch welche die Leserschaft auf einen gemeinsamen, vernünftigen Wahrheitsbegriff verpflichtet werden soll.7 Da Herder über gute Englischkenntnisse verfügt, handelt es sich bei diesem Text wahrscheinlich um die erste Übersetzung eines Essays von Bacon ins Deutsche, die aus dem englischen Original und nicht aus dem Lateinischen erfolgt.8 Zur gleichen Zeit finden bereits vollständige Neubestimmungen des Essays auf den Gebieten der Poetik und des (politischen) Journalismus statt. An erster Stelle steht dabei Friedrich Schlegel, der den Essay in sein Konzept einer progressiven Universalpoesie integrieren will und ihm eine wichtige Rolle innerhalb der frühromantischen Ästhetik zuschreibt. Dies geschieht auf zweierlei Weise: Im Jahre 1800 veröffentlicht Friedrich Schlegel seinen Essay Über die Unverständlichkeit in der Zeitschrift Athenäum, die er von 1798‒1800 zusammen mit August Wilhelm Schlegel herausgibt. Der Essay erscheint als letzter Text im dritten Band der Zeitschrift und markiert das Ende des Projektes, das sich zu einem wirtschaftlichen Misserfolg entwickelt hat. Er resümiert die Schwierigkeiten des Lesepublikums mit den Texten der Frühromantiker, die sich besonders im Vorwurf der Unverständlichkeit konzentrieren. Ausgehend von einer Bestimmung dieses Begriffs entwickelt Schlegel ein romantisches Konzept des Lesens, das auch zu einer grundlegend neuen Konzeption des Essays führt. Etwa zur gleichen Zeit verfasst er eine Reihe von Fragmenten, in denen er sich explizit mit dem Essay beschäftigt und versucht, dessen Eigenschaften zu bestimmen, indem er zu immer neuen Definitionen und Umschreibungen der Gattung ansetzt. Diese Fragmente bleiben allerdings unpubliziert. Sie können jedoch dazu dienen, den Essay Über die Unver-
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Vgl. Johann Georg Heinzmann (Hg.): Litterarische Chronik. 3 Bände (1785, 1786, 1788). Bd. 2. Bern: Haller 1786, S. 2. Vgl. Johann Gottfried Herder: Gedanken (pensées), Maximen. In: Ders. (Hg.): Adrastea 2 (1801). Leipzig: Hartknoch, S. 50‒63. Vgl. Francis Bacon: Von der Wahrheit. In: Herder: Adrastea 4 (1802). Leipzig: Hartknoch, S. 230‒233. Die veröffentlichten Briefe Herders aus den Jahren 1800‒1803 liefern leider keinen Aufschluss über Anlass und Umstände dieser Übersetzung.
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ständlichkeit zu ergänzen und auf diese Weise zu zeigen, wo Schlegels Konzept mit der Aufklärungsessayistik in ihrer Funktion als Selbsttechnik bricht und wo sich eine Kontinuität bereits entwickelter Verfahrensweisen zeigt. In seinem Essay zieht Schlegel einen programmatischen Schlussstrich unter die Aufklärungsessayistik, indem er den Vertrag mit dem Leser – das Versprechen freimütiger Selbstmitteilung – auflöst, auf dem die Essayistik des gesamten 18. Jahrhunderts basiert. Direkt zu Beginn stellt das essayistische Ich hinsichtlich der Etymologie des Wortes Unverständlichkeit die Vermutung auf, „der Grund des Unverständlichen liege im Unverstand“.9 Damit wird Unverständlichkeit nicht anhand einer Reihe von Eigenschaften definiert, die sich an einem Text nachweisen – und durch sprachliche Bearbeitung beseitigen – ließen, wie dies in einem Aufklärungsessay zu erwarten wäre. Stattdessen wird der Leser gleich anfangs auf sich selbst zurückgeworfen: Unverständlichkeit erscheint als eine Erfahrungsqualität des individuellen Bewusstseins, die auf dem Unverstand des Lesers, seinem „Nicht-Verstehen“ basiere. Dass diese Unverständlichkeit in ihrer Eigenwertigkeit ernst zu nehmen sei und zur Grundlage einer ästhetischen Erfahrung des „NichtVerstehens“ werden solle, macht der gesamte Essay deutlich.10 Indem Schlegel sich weigert, den Begriff erfahrungsbezogen zu analysieren und stattdessen im Folgenden durch immer neue Assoziationen und Analogiebildungen seinen Bedeutungsumfang erweitert, wird er bereits seiner Bestimmung gerecht, der Essay sei „die symbol.[ische] Etymologie eines paradoxen Begriffs“.11 Die frühromantische Ästhetik Schlegels basiert auf einem grundlegenden Zweifel an der Möglichkeit intersubjektiven Verstehens. Schlegel will die Erkenntnis vermitteln, dass sich Erkenntnis (im Sinne einer Selbstmitteilung) nicht vermitteln lässt.12 Er provoziert damit eine paradoxe Grundsituation, in der sich eine Argumentation entfaltet, deren Interpretation in einen unendlichen Progress der Erkenntnistätigkeit führen soll. Die gezielt herbeigeführte Unverständlichkeit des Essays hält diesen Zweifel ständig bewusst. Zugleich wird die Sprache des Essays
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Friedrich Schlegel: Über die Unverständlichkeit. In August Wilhelm Schlegel u. Friedrich Schlegel (Hg.): Athenäum. Eine Zeitschrift 3/2 (1800). Berlin: Fröhlich, S. 335‒352, hier 335. Zu Schlegels Konzept der Unverständlichkeit vgl. auch Peter Schnyder: Je populärer, desto paradoxer. Friedrich Schlegel über Popularität und Unverständlichkeit. In: Hans-Georg von Arburg, Michael Gamper u. Dominik Müller (Hg.): Popularität. Zum Problem von Esoterik und Exoterik in Literatur und Philosophie. Würzburg 1999, S. 51‒71; Thomas Althaus: Geistige Syntax. Einige Sätze zur Entwicklung des Essays im 18. Jahrhundert, zu einer möglichen Theorie der Gattung und zu Friedrich Schlegels Essay ‚Über die Unverständlichkeit‘. In: Eckehard Czucka, Thomas Althaus u. Burkhard Spinnen (Hg.): „Die in dem alten Haus der Sprache wohnen“. Beiträge zum Sprachdenken in der Literaturgeschichte. Münster 1991, S. 159‒171. Schlegel: Philosophische Fragmente, S. 204 [Nr. 93]. Daher kann Schlegel auch die Feststellung treffen, „wie unverständlich mir zum Beyspiel Garve sey“ (Schlegel: Unverständlichkeit, S. 336f.). Garve, der seine Essays als Selbstmitteilung anlegt, kann sich Schlegel im Modus seiner populären, vernünftigen Schreibweise nicht verständlich machen.
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aus ihrer instrumentellen Funktion als Übermittlerin von Erkenntnis befreit. Sie kann in der Kommunikationssituation zwischen Verfasser und Leser zu einem dritten, selbstständigen Akteur werden, oder, wie Eckhard Schumacher es formuliert: „Weder Leser noch Autor können den Text kontrollieren.“13 Die Kommunikationssituation des romantischen Essays im Sinne Schlegels unterscheidet sich somit wesentlich von der Kommunikationssituation des Aufklärungsessays: Zunächst wird Unverständlichkeit gezielt mithilfe von Ironie produziert. Nach Schumacher verhinderten die vielfachen ironischen Brechungen innerhalb der Argumentation, dass Verfasser oder Leser einen festen Standpunkt einnehmen könnten:14 In Schlegels Verdichtungs- und Verschiebungsverfahren entsteht ein Text, der einem Verstehen, das die Unterscheidungen von Zitat und zitierendem Text, von Geist und Buchstabe, von übertragener und wörtlicher Bedeutung, von Verstehen und Nichtverstehen oder auch von ernsthafter Rede und (Wort-)Spiel feststellen will, die Grundlage entzieht.15
Dieses Vorgehen entspricht Schlegels experimentellem Verständnis des Essays und stellt eine Radikalisierung bereits bestehender Techniken innerhalb der Essayistik dar.16 Während die Aufklärungsessayistik darauf abzielt, mithilfe rhetorischer Mittel einen Konsens mit dem Lesepublikum herzustellen (deutlich vor allem an der Verwendung des gesellschaftlichen Wir), setzt Schlegel in seiner Essayistik stattdessen auf die Polemik, den direkten Angriff auf das als „unverständig“ deklarierte Publikum. Der Essay versteht sich als eine Anleitung zum Lesenlernen. Anhand des bekannten Athenäum-Fragments, das die französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister als die“größten Tendenzen des Zeitalters“ bezeichnet,17 wird eine angemessene Lektüre vorgeführt. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Interpretation des Begriffs „Tendenzen“ in Ironie umschlägt, sodass die abschließende Beurteilung an die Leser übergeben wird und von diesen eine Vervollständigungsleistung fordert. Mit diesem Verfahren steht der Essay einerseits in der Tradition der Aufklärungsessayistik (vgl. schon die Anleitung zum richtigen Lesen in den Discoursen der Mahlern) und definiert das Konzept des Lesens andererseits völlig um. Lesen ist hier kein Akt der hermeneutischen Erschließung, sondern eine kreative Auseinandersetzung mit der Sprache, bei welcher der Text als Spiegel und Projektions13
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Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Frankfurt a.M. 2000, S. 226. Schumacher zeigt anhand von intertextuellen Verweisen in Schlegels Essay, wie dieser einzelne Aussagen oder Metaphern aus anderen Texten übernehme, ohne auch den Kontext zu übernehmen, in dem sie gebraucht werden. Die Versatzstücke würden auf diese Weise zu „Wortmaterial“, das eine – von der Argumentation völlig unabhängige – Eigendynamik entfalte. Vgl. Schumacher: Ironie der Unverständlichkeit, S. 198. Vgl. ebd., S. 226. Ebd., S. 217. So heißt es in einem unveröffentlichten Fragment: „Der Ess.[ay] nicht Ein Exp.[eriment] sondern ein beständiges Experimentiren. […]“ (Schlegel: Philosophische Fragmente, S. 215 [Nr. 248].) Vgl. Schlegel: Unverständlichkeit, S. 340.
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fläche des Lesenden fungiert. Zugleich verhindert die Ironie jedoch eine völlige Adaption des Dargestellten. Schlegel verwendet keine „rhetorische Ironie“, die sich auflösen lässt und der Verstärkung einer vernünftigen Erkenntnis dient,18 wie dies im Aufklärungsessay der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Fall ist. Seine Ironie bringt gezielt Dunkelheit in den Essay und überführt diesen in den Aussagemodus des prophetischen Sprechens.19 Die ironischen Brechungen und die fortlaufende Polemik gegen das unverständige Publikum sollen den Leser bis zum Äußersten reizen, doch er soll sich deshalb nicht vom Text abwenden. Im Gegenteil soll die Polemik den Leser energetisch aufladen und letztlich eine Transzendierung seines feststehenden Erkenntnishorizontes bewirken. So formuliert Schlegel unter anderem folgende Definition des Essays: Der Essay ist ein wechselseit.[iger] Galvanism d[es] Autors und d[es] Lesers und auch ein innrer für jeden allein; syst.[ematischer] Wechsel zwischen Lähmung und Zuckung. — Er soll Motion machen, gegen d.[ie] geistige Gicht ankämpfen, die Agilität befördern.20
Schlegel geht offensichtlich davon aus, dass sich die Essayistik der späten Aufklärung mit ihrem Ideal der populären Mitteilung in einem Prozess der Erstarrung befinde und es daher notwendig sei, mit besonderer rhetorischer Vehemenz gegen diese Erstarrung vorzugehen. Das gemeinsame Philosophieren von Verfasser und Lesepublikum, das Symphilosophieren, bildet das Kommunikations-Ideal des romantischen Essays und zielt durchaus auf Verständigung ab. Der Essay soll der Selbstbildung hin zu einer spezifisch romantischen Subjektform dienen, die jedoch dezidiert anti-bürgerlich ist und das ethische Wertesystem des Aufklärungsessays negiert. Im romantischen Essay soll die Grenzüberschreitung erprobt und habitualisiert werden. So konstatiert Reckwitz hinsichtlich der romantischen Subjektform: Während die bürgerliche Schreib- und Lesepraxis an den moralischen Code der tugendhaften Selbstverbesserung gekoppelt ist, sich diese Kopplung jedoch schon im Bürgertum selbst als fragil und die kognitiv-imaginative Reflexivität als riskant darstellt, betreiben die romanti18 19
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Zum Begriff der rhetorischen Ironie vgl. Schumacher: Ironie der Unverständlichkeit, S. 10. Vgl. ebd., S. 129. Schumacher erläutert die prophetische Dunkelheit der Rede als Motiv der Gegen-Aufklärung anhand von Johann Georg Hamanns Wolken (1761). Die mystische Dunkelheit der Sprache Hamanns hat auch starken Einfluss auf die Essayistik des Sturm und Drang. Schumacher konstatiert bei Hamann ein dialektisches Verfahren der Konstruktion und Destruktion von Wahrheit, welches sich bereits 1753/54 im Versuch über die Seele von Creuz zeigt: „Er [Hamann, N.H.] löscht den Gegner nicht aus, überwindet ihn nicht, sondern arbeitet mit ihm. Er benutzt, parasitär zitierend, den Gegner als Gegensatz, der für die eigene Position konstitutiv bleibt.“ (Ebd., S. 150.) Dieses essayistische Verfahren greift auch Schlegel wiederum auf. In einem Athenäum-Fragment beschreibt er es folgendermaßen: „W. sagte von einem jungen Philosophen: Er trage einen Theorien-Eyerstock im Gehirne, und lege täglich wie eine Henne seine Theorie; und das sey für ihn der einzig mögliche Ruhepunkt in seinem beständigen Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung, welches eine fatigante Manoeuvre sein möchte.“ (Friedrich Schlegel: Fragmente. In: Ders. u. A.W. Schlegel (Hg.): Athenäum [1798], 2, S. 3‒146, hier S. 74.) Schlegel: Philosophische Fragmente, S. 221 [Nr. 318].
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schen Schriftlichkeitspraktiken vollends eine Entmoralisierung und Ästhetisierung des Subjekts.21
Die frühromantische Essayistik Schlegels proklamiert – wie schon die Essayistik des Sturm und Drang – eine radikale Selbstästhetik, die sich jedoch keinen bürgerlichen Standpunkt aneignen will, sondern mit einem Anspruch auftritt, der sich – mit einer Begriffsprägung Peter L. Oesterreichs – als poetische Selbsterfindung bezeichnen lässt.22 Sie fußt auf der Grundannahme des Fichteschen Idealismus, dass sich das absolute Ich seine Welt selbst erschaffe. Dieses selbst- und welterschaffende Ich führt der romantische Essay vor. Oesterreich stellt in seiner Untersuchung der romantischen Subjektform die These auf, dass sich das romantische Denken durch einen „deviativen“ und „duplizitären“ Denkstil auszeichne, der sich „zwischen infiniter Ironie und synekdochischer Ernstsetzung“ bewege:23 Der durch diese rhetorische Selbst-Differenz hervorgerufene autoinventive Antagonismus zwischen dem ernsthaften produktiven Streben des philosophierenden Ich nach unbedingter Selbstpräsenz einerseits und der reflexiven ironiehaltigen Einsicht in die redevermittelte Bedingtheit jeder seiner philosophischen Selbst-Darstellungen andererseits, bildet das eigentliche Agens des romantischen Philosophierens.24
Dieser Vorgang, der zwischen einer unbegrenzten Öffnung des Denkens und einer umfassenden Systembildung oszilliert, erinnert stark an die experimentelle Selbstästhetik, die sich bereits in der Mitte des 18. Jahrhunderts in der Essayistik bei La Mettrie und Creuz findet. Die Unverständlichkeit des Essays trägt insofern zur romantischen Identitätsbildung bei, als Schlegel davon ausgeht, dass im Zentrum jeder Identität etwas Unverständliches stehe, ein „Punkt[ ], der im Dunkeln gelassen werden muß, dafür aber auch das Ganze trägt und hält, und diese Kraft in demselben Augenblicke verlieren würde, wo man ihn in Verstand auflösen wollte“.25 21
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Reckwitz: Hybrides Subjekt, S. 223. Allerdings betont Schlegel mehrfach die ethische Dimension des Essays. So heißt es in den unveröffentlichten Fragmenten: „ηη [Ethisch ethischer] Essay ist d[ie] Gattung selbst — Abhandl.[ung] Vers.[uch] und Darst.[ellung] ZUGLEICH. —.“ (Schlegel: Philosophische Fragmente, S. 216 [Nr. 254].) Oesterreich bestimmt das Romantische als eine radikal experimentelle Subjektform und den Kulminationspunkt „der Erfindung moderner Subjektivität“, welche durch die Aufklärung in Gang gesetzt worden sei. Vgl. Peter L. Oesterreich: Spielarten der Selbsterfindung. Die Kunst des romantischen Philosophierens bei Fichte, F. Schlegel und Schelling. Berlin u. New York 2011, S. 4f. Er definiert die romantische Selbstästhetik wie folgt: „Das Romantische, verstanden als ‚Romantisieren‘, bildet demnach ein innovatives (‚noch ganz unbekannt‘) und hochreflexiv-artifizielles (‚Operation‘) Experiment der Selbststeigerung (‚qualitative Potenzierung‘) menschlicher Subjektivität. Aus dieser heuristischen Perspektive erklärt sich das Romantische in seinen vielfältigen Spielarten als experimentelle Suchbewegung der Selbsterfindung und Selbststeigerung moderner Subjektivität.“ (Oesterreich: Selbsterfindung, S. 4.) Vgl. ebd., S. 9. Ebd., S. 11. Schlegel: Unverständlichkeit, S. 349. Die ästhetische Erfahrung der Unverständlichkeit bezeichnet für Schlegel die höchste bekannte Stufe der Selbstbildung, wie aus einem weiteren
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Die romantische Selbsterfindung soll jedoch nicht nur mithilfe des Essays im Sinne eines literarischen Versuchs betrieben werden, sondern sie soll sich auf alle philosophischen und literarischen Gattungen erstrecken. Daher tendiert Schlegel in seinen Fragmenten dazu, den Begriff Essay zu universalisieren und von seiner Bindung an eine bestimmte Textform abzulösen. Die experimentelle Haltung schlechthin wird für ihn zum Inbegriff des Essays, und damit seien auch Kants Schriften oder Fichtes Wissenschaftslehre Essays.26 Diese entdifferenzierende Betrachtungsweise löst ebenfalls die Bestimmung des Aufklärungsessays völlig auf, der ja auf eine scharfe Abgrenzung von wissenschaftlich-traktathaften Formen des philosophischen Ausdrucks angewiesen ist. Universalisierung und Entdifferenzierung leiten auch die politische Neubestimmung des Essays um 1800. Diese ist ebenfalls an die Vorstellung einer grundsätzlichen experimentellen Haltung gebunden, behandelt diese jedoch nicht transzendental, sondern orientiert sich an einem empirisch-naturwissenschaftlichen Denken. Die Französische Revolution führt zu einer durchgreifenden Politisierung des Journalismus und erschüttert das Vertrauen in die emphatische AufklärungsRhetorik. Der gewaltsame Umsturz der Verhältnisse in Frankreich wird als ein gewaltiges Experiment wahrgenommen, und der Bezug zum Essay stellt sich fast zwangsläufig ein. So eröffnet der preußische Volksaufklärer und Pädagoge Friedrich Eberhard von Rochow schon 1794 in der Deutschen Monatsschrift einen Text mit dem Titel Versuch über den Versuch mit folgenden Worten: In diesen Zeiten, da man alles versucht — ganze Staaten von mehr als 20 Millionen Menschen in kurzer Zeit von Grund aus umzuschaffen versucht: durch Umstürzung oder Untergrabung alles bisher für wahr gehaltenen, die Menschen besser zu machen versucht: das Unsichtbare zu sehen, das Unhörbare zu hören, das Unfühlbare zu fühlen versucht: und dem das nicht ist, noch seyn kann, zu gebieten daß es sey. — In diesen Zeiten, da man dieses alles versucht, und so viel Versuche über # # # schreibt, trete ich auf die Bühne, mit meinem Versuch über den Versuch.27
Ausgehend von einer Definition des Begriffspaares Versuch – Essay und der entsprechenden Verben versuchen – essayer als „probiren, die Probe machen, ob etwas angeht oder gelingen will“,28 beschreibt Rochow sein Zeitalter als probierend und experimentierend. Alle Bereiche des geistigen Lebens, die Politik, Naturwissenschaft, Literatur und Pädagogik zeichneten sich durch eine Neigung zum Ver-
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unveröffentlichten Fragment hervorgeht: „Es ist eine hohe und viell[eicht] die lezte Stufe d[er] Geistesbildung, sich die Sphäre d[er] Unverständlichkeit und Confusion selbst zu setzen. Das Verstehen des χα [Chaos] besteht im Anerkennen —.“ (Schlegel: Philosophische Fragmente, S. 227 [Nr. 396].) Vgl. die unveröffentlichten Fragmente Nr. 248 und 314 (Schlegel: Philosophische Fragmente, S. 215 und 220). Friedrich Eberhard von Rochow: Versuch über den Versuch. In: Deutsche Monatsschrift (1794), 3. Berlin: Vieweg, S. 3‒10, hier S. 3. Vgl. ebd., S. 4.
VI. Fazit und Ausblick
307
such aus. Da der Versuch neue Erkenntnisse hervorbringe und jeder gelungene Versuch daher als eine „Erfindung“ bezeichnet werden könne,29 kommt Rochow zu dem Schluss, dass eine solche Kultur auf einer hohen Stufe der Aufklärung stehen müsse.30 Daher rät er dazu, den Versuch zu einem wichtigen Hilfsmittel der Pädagogik zu machen und auf diese Weise die „Erziehung der Jugend auf die Genies“ zu befördern.31 Rochow spricht sich jedoch vehement gegen die „sogenannten Staatsversuche mit Menschen“,32 das heißt gegen den revolutionären, gewaltsamen Umsturz einer Staatsverfassung aus. Er plädiert staatdessen für eine Verbesserung der Gesellschaft durch „Versuche im Kleinen“,33 das heißt durch schrittweise Reformen in allen gesellschaftlichen Bereichen.34 Die Anstrengung des Einzelnen zur moralischen Verbesserung könne jedoch grundsätzlich nicht als Versuch (und damit nicht als Essay im experimentellen Verständnis) bezeichnet werden. Denn während der Einzelne in der Regel wisse, ob er eine Anlage zur Rechtschaffenheit besitze, beruhe das Experiment auf einer „mangelhafte[n] Erkenntniß a priori“, und sein Ausgang sei daher stets völlig ungewiss.35 Rochow pointiert diese Feststellung folgendermaßen: „Alles was man, wenn man es ist, entweder ganz oder gar nicht ist, kann man zu seyn, nicht versuchen. Denn es ist ein Unterschied unter etwas anfangen und etwas versuchen.“36 Mit dieser Gegenüberstellung von Anfang und Versuch (d.h. Essay) negiert Rochow die Möglichkeit einer ethischen Verbesserung des einzelnen Menschen durch eine experimentelle Selbstbildung, die sich auf die Textform Essay stützt. Essays können in diesem Verständnis nur auf diejenigen eine Wirkung ausüben, die das Wissen bereits besitzen, das die Texte experimentell zu gewinnen und einzuüben vorgeben. Rochow überträgt die Bezeichnung Essay daher von einer Textform und einer Arbeit des Einzelnen an sich selbst auf sein gesamtgesellschaftliches Reformprogramm. Die essayistische Verbesserung der Gesellschaft könne ausschließlich über eine experimentelle Manipulation institutioneller Rahmenbedingungen erfolgen, deren positive und negative Effekte langfristig beobachtet und dann ausgeglichen werden müssten. So plädiert Rochow für die Einsetzung eines
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Vgl. Rochow: Versuch über den Versuch, S. 6. Vgl. ebd., S. 9. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 5. Rochows Position entspricht dem Konsens der Popularphilosophen, die einen revolutionären Umsturz der Verhältnisse in den europäischen Ländern ablehnen und sich stattdessen mithilfe ihrer Essayistik für schrittweise Reformen der Monarchie einsetzen. Vgl. die Zusammenstellung politischer Texte der bekanntesten deutschsprachigen Popularphilosophen bei Zwi Batscha: „Despotismus von jeder Art reizt zur Widersetzlichkeit“. Die Französische Revolution in der deutschen Popularphilosophie. Frankfurt a.M. 1989. Vgl. Rochow: Versuch über den Versuch, S. 5. Ebd., S. 5.
308
VI. Fazit und Ausblick
amtlichen „General-Ober-Versuchers“,37 der den Zusammenhang aller kleinen Versuche im Staat zu koordinieren und zu überwachen hätte. Rochow versucht mit seinem Versuch über den Versuch gezielt, dem Begriff Essay eine neue Bedeutung zu geben und über dieses neue Essay-Verständnis, das die entsprechende literarische Form nur als eine von vielen Erscheinungsformen des Versuchs ansieht, ein Gegenprogramm zur Französischen Revolution zu entwerfen. Sein politisiertes Verständnis des Essays macht diesen zum Medium eines gesteuerten Reformprogramms und legt die Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Vervollkommnung, die der Aufklärungsessay des 18. Jahrhunderts ihm über die Selbsttechniken verliehen hat, in die Hände des Staates.38 Damit wird dem Essay für das 19. Jahrhundert die Aufgabe vorgezeichnet, Instrument kulturpolitischer (Bildungs-)Programmatiken zu sein.
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Vgl. Rochow: Versuch über den Versuch, S. 5. Rochow vertritt nach Daniel Tröhler ein lutherisch begründetes Konzept politischen Gehorsams. Vgl. Daniel Tröhler: Pädagogische Volksaufklärung, Ernst und Propaganda: Rochow, Iselin, Pestalozzi. In: Hanno Schmidt, Rebekka Horlacher u. Daniel Tröhler (Hg.): Pädagogische Volksaufklärung im 18. Jahrhundert im europäischen Kontext: Rochow und Pestalozzi im Vergleich. Bern, Stuttgart u. Wien 2007, S. 58‒75, hier S. 63.
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VIII. Abbildungsnachweis Abb. 1: Kupfertitel zu: Francisci Baconis Grafens von Verulam Getreue Reden, Die Sitten-, Regiments- und Hauslehre betreffend. Aus dem Lateinischen übers. v. Johann Wilhem von Stubenberg (dem „Unglückseligen“). Nürnberg: Endter 1654. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: [M: Ac 11]. Abb. 2: Titelblatt zu Christiana Mariana von Ziegler: Moralische und vermischte Send-Schreiben, An einige Ihrer vertrauten und guten Freunde gestellet. Leipzig: Brauns 1731. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel: [M: Lo 8317]. Abb. 3: Titelblatt zu Friedrich Carl Casimir von Creuz: Versuch über die Seele. 1. Theil. Frankfurt u. Leipzig: Knoch u. Eßlinger 1754. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen: [8 PHIL IV, 627: 1]. Abb. 4: Portrait Montaignes in: Michael Montaigne’s Gedanken und Meinungen über allerley Gegenstände. Aus dem Französischen übers. v. Johann Joachim Christoph Bode. Bd. 1. Berlin: Lagarde 1793. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle: [Dl 4336 (1)].